Kritische Studie Vittorio Hösles Eine Kurze Geschichte Der Deutschen Philosophie 1
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Tijdschrift voor Filosofie, 79/2017, p. 129-142 KRITISCHE STUDIE VITTORIO HÖSLES EINE KURZE GESCHICHTE DER DEUTSCHEN PHILOSOPHIE 1 von Harald Holz (Münster) 1. Darstellung der Hauptlinien Auf etwas über 300 Seiten entwirft Hösle, eine wahrscheinlich frühere Titulatur von Stephen Hawking aufnehmend2 ein Panorama deutscher, genauer: deutschspra- chiger Philosophie. An deren ausgewählten und für wichtig erklärten Vertretern soll so etwas wie ‘Deutscher Geist’ im Lauf des letzten Dreivierteljahrtausends demonstriert werden, genauer: von Eckhart (ca. 1260 – 1327/8) und Nikolaus Cusanus (1401 – 1464) bis zu Karl Otto Apel (1922), Jürgen Habermas (1929) und Hans Jonas (1903 – 1993). Die Zwischenstationen zählen einerseits zu den weltweit anerkannten philosophischen ‘Spitzengenies’ (Leibniz, Kant, Fichte-Schelling-Hegel, Husserl, Heidegger), über ‘Genies’ gewissermaßen zweiter Ordnung (Arthur Schopenhauer, Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Nietzsche) wie sodann auch zu philosophischen Hochbegabungen hin ‘unterhalb’ dieser beiden Gruppen (etwa Lessing, Herder, Wilhelm von Humboldt, Frege, Wittgenstein, Dilthey, den Harald Holz (1930) ist Professor emeritus (vorher: Ordinarius) an der Westfälischen Wil- helms-Universität Münster (seit 1995) und seit 2013 Korrespondierendes Mitglied der Academía national de ciencias de Argentina en Buenos Aires. Letzte Veröffentlichungen: Harald Holz, Werkausgabe (Berlin: Europäischer Universitätsverlag), derzeit 30 Bände erschienen — Bd. 20 (Reihe 4: Philosophiegeschichte): Philosophische Streiflichter: Idealismusstudien: Von Kant bis Höl- derlin (2017); Bände 38.1/2 (Reihe 7: Philosophische Tagebücher): Philosophisches Tagebuch 4.1/2 (2017); Bd. 43 (Reihe 8: Miscellanea/Vermischtes): Selbstdarstellung meiner Philosophie: Wie ich mein Denken sehe (2016). 1 Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie: Rückblick auf den deutschen Geist (München: C. H. Beck Verlag, 2013), 320 p., € 22,95. Englische Übersetzung: A Short History of German Philosophy, trans. Steven Rendall (Princeton: Princeton Univ. Press, 2016), 304 p., £ 27,95. 2 Stephen Hawking, A Brief History of Time (Toronto: Bantam, 1988); Deutsche Übersetzung: Eine kurze Geschichte der Zeit, übers. von Hainer Kober (Rowohlt: Reinbek bei Hamburg, 1991). doi: 10.2143/TVF.79.1.3217828 © 2017 by Tijdschrift voor Filosofie. All rights reserved. 130 Harald Holz Neukantianern, der sog. ‘Frankfurter Schule’, Max Scheler) bis hin zu den dann auch noch rangmäßig aufsummierten Paracelsus, Jakob Böhme, Arnold Gehlen, Carl Schmitt, Hans Georg Gadamer; dazu gesellen sich bei jeweiliger Gelegenheit weitere, im je speziellen Umfeld relevante Namen — so Luther, Goethe, Hölderlin, Düring, Lotze, Freud (um nur diese aus Vielen zu nennen) — die allerdings übli- cherweise den deutschsprachigen Rahmen nicht überschreiten; natürlich gibt es Ausnahmen. Man sieht, hier waltet eine grundlegend ‘qualitativ bewertende’ Sichtweise als Auswahlkriterium; dabei versteht Hösle es durchaus, einen insgesamt im genannten Zeitraum problemthematisch fortschreitenden Entwicklungsrahmen zu entwerfen. In methodisch gekonnter Weise verbinden bzw. durchdringen sich dabei denk geschichtliche und systematische Aspekte der Darstellung. — Dabei verfügt der Verfasser über einen stupenden Schatz an jeweiligem, nicht selten seine Fundiert- heit im besonderen Kontext indizierenden Wissensmaterial. Darüber gibt übrigens das sehr reichhaltige Namensverzeichnis andeutende Auskunft. Das entscheidende Kriterium ist nicht nur für die Auswahl der für seine Grund- frage relevanten Denker, sondern bezeichnet zugleich den Maßstab für seine Frage- stellung nach dem Besonderen deutscher Philosophie und ihre Beantwortung, mit seinen eigenen Worten: Warum “eine erneute Erzählung der Geschichte der deut- schen Philosophie sinnvoll ist, begründet sich durch die außerordentliche Qualität dieser philosophischen Tradition, die nur von derjenigen der Griechen übertroffen wird”.3 Und weiter: “Die Philosophie hat es mit der Wahrheit zu tun und unwei- gerlich schreiben wir einem Philosophen dann einen hohen Rang zu, wenn er erst- mals bestimmte Wahrheiten erkannt hat” (17 f.). Genau dies aber scheint nun für Hösle ein Kennzeichen der ‘deutschen Philosophie’ (gewesen) zu sein, jedenfalls in der Zeit zwischen Leibniz und Husserl verbunden mit gewissen Höhepunkten (für ihn) in Gestalt des Denkens von Kant und Hegel. Das bedeutet ferner, dass der heute freilich ziemlich außer Kurs geratene Begriff des ‘Geistes’ als ehema- liger Grundstock fast aller vergangenen philosophischen Problematik in deutschen Landen gedient hat: “Nachdenken über den Geistbegriff” gehört einfach unabding- bar dazu (12). Die Arbeitsweise der Darstellung folgt in der Regel der problem- und begriffs- geschichtlichen Erläuterung ausgewählter Hauptschriften des jeweiligen Zentral- philosophen. Dabei verweist Hösle schon bei der Exposition der jeweiligen Problemdarstellung, in gebündelter bzw. geballter Form, auf die aus seiner Sicht mangelhaften oder gar ganz fehlenden Theoreme oder auch ganze derartige Pro- blemfelder; so fehle z.B. bei Husserl (237) oder Heidegger (261, 266 f., 269, 270) eine eigentliche Ethik. Hösle bemüht sich dabei gleichwohl um eine möglichst objektive Einfühlung in den Gedankenduktus des je betreffenden Theorems; 3 Zumindest der interkulturellen Höflichkeit halber sollte man aber bei einem solchen Satz hin- zufügen, dass z.B. von der indischen wie überhaupt der ostasiatischen Philosophie gänzlich abgese- hen wird. kritische studie 131 weitere Beispiele sind etwa Kants Stellung zur Todesstrafe (95), bei Nietzsche die familiäre Ausgangssituation (186 ff.) oder die vitiöse Zirkularität des logischen Posi- tivismus (222-27); die Beispiele ließen sich fortsetzen. Hösle verfügt über einen begründungslogisch voll ausgewiesenen eigenen Stand- punkt und zögert nicht, seine jeweiligen Darstellungspartner von diesem aus ent- sprechend zu kritisieren: In der Form immer konziliant, hält er mit z.T. vernichten- den Bewertungen, auch und gerade die denkgeschichtliche Fortwirkung betreffend, nicht hinter dem Berge, so z.B. mit Bezug auf Nietzsche (185 ff.: gedanklicher “Terrorist”) oder Heidegger (261 ff., 266-70: “u.a. Logosvergessenheit”). Freilich spart er bei dieser Gelegenheit auch nicht mit hohem Lob, und nimmt dabei auch lebende Philosophen nicht aus (wenn auch zugegebenermaßen selten), denen er selbst viel verdankt (144). Hingegen schafft es der Verfasser, bei aller gebotenen Kürze doch in einer Über- fülle von Rück-, Quer- und Vorverweisen über die jeweils gerade aktuellen Interpretationskontexte hinaus auch die sozialkulturellen wie politischen oder auch religiösen Bedingungen und Umstände in ihrer Bedeutsamkeit für besondere Gegebenheiten der jeweiligen philosophischen Problematik in charakteristischer Weise zur Sprache zu bringen. Das verfügungsbereite Material lässt dabei auf ein ganz erstaunliches Gedächtnis für Einzelheiten schließen, wie ebenso auf einen großartigen Sinn für Zusammenhänge in ihrer je eigentümlichen Eigenart, wobei auch hier die historischen und sachsystematischen Bezüge mit leichter Hand in ihrer Wechselseitigkeit herausgearbeitet werden.4 Die Sprache ist bei aller Problemtreue doch zugleich gleichsam ‘leichtgängig’; das Ganze ist gut lesbar und verliert auch niemals an Spannung, bezüglich der Frage, wie sich diese ‘Große Erzählung’ denn nun weiterentwickeln wird, mit ihren teil- weise geradezu divinatorisch anmutenden Sternstunden — bei Hösle z.B. mit Bezug auf Hegel — mit ihren dramatischen, je gelegentlich dämonischen Abstür- zen — so z.B. im Blick Hösles auf Nietzsche: Insgesamt ein ‘Ideenpanorama in Entwicklung’, das in seinem Reichtum und seiner thematischen Dichtheit hier gar nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann. Stilistisch schreibt der Verfasser so gut wie immer auf dem Niveau des sog. silbernen Zeitalters deutscher Sprach- lichkeit, wie es sich vor und nach dem ersten Weltkrieg herausgebildet hat.5 4 Allerdings fragt man sich, ob in seiner Darstellung allem Anschein nach nicht doch an wenig- stens einer Stelle ein Widerspruch vorliegt: Wenn etwa auf Seite 134 gesagt wird, in den späten Vorlesungen zur Mythologie und Offenbarung lehne Schelling nunmehr “den ontologischen Beweis” (Gottes) ab, so entspricht dies nicht der hermeneutisch sicheren Auslegung einer Stelle in der Berli- ner ‘Achten Vorlesung’ (XIII, 168 f.; Ausgabe von K. F. A. Schelling, 1856-1861): Die Kantische Kritik am Beweis (Kritiker der reinen Vernunft B 633) wird im Blick auf den Begriff des ‘höchsten Wesens’ spezifisch modifiziert und sodann als Beweis akzeptiert. — Ob das dann ein tragfähiger Beweis ist, steht natürlich auf einem ganz anderen Blatt. 5 Freilich verrät sein Stil gelegentlich auch subjektiv Insinuierendes, z.B. 127, wo Hegels “ein- zigartiger Sinn für Systematizität” gelobt und festgestellt wird, Hegels “Überlegenheit in der Rechts- und Staatsphilosophie” hätten erst “den deutschen Idealismus vollendet”, oder auch noch dort, wo 132 Harald Holz Gleichwohl ist das Teilnehmerpanorama keineswegs vollständig, man vermisst z.B. entsprechende Thematisierungen von Eric Voegelin, Karl Mannheim, Robert Reininger, Hermann Schmitz oder auch von Vertretern einer sog. postneukantia- nischen Transzendentalphilosophie (Wolfgang Cramer, Hans Wagner, Hans-Dieter Klein, Kurt Walter Zeidler und dem Schreiber dieser Zeilen, ferner noch Peter Rohs und Lorenz Puntel, die beide eine systemische Synthesis zwischen Ansätzen analytischer und sog. ‘kontinental-transzendentaler’ Philosophie verfolgen6); aber das sind