Quick viewing(Text Mode)

Kritische Studie Vittorio Hösles Eine Kurze Geschichte Der Deutschen Philosophie 1

Kritische Studie Vittorio Hösles Eine Kurze Geschichte Der Deutschen Philosophie 1

Tijdschrift voor Filosofie, 79/2017, p. 129-142

kritische studie vittorio hösles eine kurze geschichte der deutschen philosophie 1

von Harald Holz (Münster)

1. Darstellung der Hauptlinien

Auf etwas über 300 Seiten entwirft Hösle, eine wahrscheinlich frühere Titulatur von Stephen Hawking aufnehmend2 ein Panorama deutscher, genauer: deutschspra- chiger Philosophie. An deren ausgewählten und für wichtig erklärten Vertretern soll so etwas wie ‘Deutscher Geist’ im Lauf des letzten Dreivierteljahrtausends demonstriert werden, genauer: von Eckhart (ca. 1260 – 1327/8) und Nikolaus ­Cusanus (1401 – 1464) bis zu Karl Otto Apel (1922), Jürgen Habermas (1929) und Hans Jonas (1903 – 1993). Die Zwischenstationen zählen einerseits zu den weltweit anerkannten philosophischen ‘Spitzengenies’ (Leibniz, Kant, Fichte-Schelling-Hegel, Husserl, Heidegger), über ‘Genies’ gewissermaßen zweiter Ordnung (Arthur Schopenhauer, Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Nietzsche) wie sodann auch zu philosophischen Hochbegabungen hin ‘unterhalb’ dieser beiden Gruppen (etwa Lessing, Herder, Wilhelm von Humboldt, Frege, Wittgenstein, Dilthey, den

Harald Holz (1930) ist Professor emeritus (vorher: Ordinarius) an der Westfälischen Wil- helms-Universität Münster (seit 1995) und seit 2013 Korrespondierendes Mitglied der Academía national de ciencias de Argentina en Buenos Aires. Letzte Veröffentlichungen: Harald Holz, Werkausgabe (Berlin: Europäischer Universitätsverlag), derzeit 30 Bände erschienen — Bd. 20 (Reihe 4: Philosophiegeschichte): Philosophische Streiflichter: Idealismusstudien: Von Kant bis Höl- derlin (2017); Bände 38.1/2 (Reihe 7: Philosophische Tagebücher): Philosophisches Tagebuch 4.1/2 (2017); Bd. 43 (Reihe 8: Miscellanea/Vermischtes): Selbstdarstellung meiner Philosophie: Wie ich mein Denken sehe (2016). 1 Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie: Rückblick auf den deutschen Geist (München: C. H. Beck Verlag, 2013), 320 p., € 22,95. Englische Übersetzung: A Short History of German Philosophy, trans. Steven Rendall (Princeton: Princeton Univ. Press, 2016), 304 p., £ 27,95. 2 Stephen Hawking, A Brief History of (Toronto: Bantam, 1988); Deutsche Übersetzung: Eine kurze Geschichte der Zeit, übers. von Hainer Kober (Rowohlt: Reinbek bei , 1991).

doi: 10.2143/TVF.79.1.3217828 © 2017 by Tijdschrift voor Filosofie. All rights reserved. 130 Harald Holz

Neukantianern, der sog. ‘Frankfurter Schule’, Max Scheler) bis hin zu den dann auch noch rangmäßig aufsummierten , Jakob Böhme, Arnold Gehlen, Carl Schmitt, Hans Georg Gadamer; dazu gesellen sich bei jeweiliger Gelegenheit weitere, im je speziellen Umfeld relevante Namen — so Luther, Goethe, Hölderlin, Düring, Lotze, Freud (um nur diese aus Vielen zu nennen) — die allerdings übli- cherweise den deutschsprachigen Rahmen nicht überschreiten; natürlich gibt es Ausnahmen. Man sieht, hier waltet eine grundlegend ‘qualitativ bewertende’ Sichtweise als Auswahlkriterium; dabei versteht Hösle es durchaus, einen insgesamt im genannten Zeitraum problemthematisch fortschreitenden Entwicklungsrahmen zu entwerfen. In methodisch gekonnter Weise verbinden bzw. durchdringen sich dabei denk­ geschichtliche und systematische Aspekte der Darstellung. — Dabei verfügt der Verfasser über einen stupenden Schatz an jeweiligem, nicht selten seine Fundiert- heit im besonderen Kontext indizierenden Wissensmaterial. Darüber gibt übrigens das sehr reichhaltige Namensverzeichnis andeutende Auskunft. Das entscheidende Kriterium ist nicht nur für die Auswahl der für seine Grund- frage relevanten Denker, sondern bezeichnet zugleich den Maßstab für seine Frage- stellung nach dem Besonderen deutscher Philosophie und ihre Beantwortung, mit seinen eigenen Worten: Warum “eine erneute Erzählung der Geschichte der deut- schen Philosophie sinnvoll ist, begründet sich durch die außerordentliche Qualität dieser philosophischen Tradition, die nur von derjenigen der Griechen übertroffen wird”.3 Und weiter: “Die Philosophie hat es mit der Wahrheit zu tun und unwei- gerlich schreiben wir einem Philosophen dann einen hohen Rang zu, wenn er erst- mals bestimmte Wahrheiten erkannt hat” (17 f.). Genau dies aber scheint nun für Hösle ein Kennzeichen der ‘deutschen Philosophie’ (gewesen) zu sein, jedenfalls in der Zeit zwischen Leibniz und Husserl verbunden mit gewissen Höhepunkten (für ihn) in Gestalt des Denkens von Kant und Hegel. Das bedeutet ferner, dass der heute freilich ziemlich außer Kurs geratene Begriff des ‘Geistes’ als ehema- liger Grundstock fast aller vergangenen philosophischen Problematik in deutschen Landen gedient hat: “Nachdenken über den Geistbegriff” gehört einfach unabding- bar dazu (12). Die Arbeitsweise der Darstellung folgt in der Regel der problem- und begriffs- geschichtlichen Erläuterung ausgewählter Hauptschriften des jeweiligen Zentral- philosophen. Dabei verweist Hösle schon bei der Exposition der jeweiligen Problem­darstellung, in gebündelter bzw. geballter Form, auf die aus seiner Sicht mangelhaften oder gar ganz fehlenden Theoreme oder auch ganze derartige Pro- blemfelder; so fehle z.B. bei Husserl (237) oder Heidegger (261, 266 f., 269, 270) eine eigentliche Ethik. Hösle bemüht sich dabei gleichwohl um eine möglichst objektive Einfühlung in den Gedankenduktus des je betreffenden Theorems;

3 Zumindest der interkulturellen Höflichkeit halber sollte man aber bei einem solchen Satz hin- zufügen, dass z.B. von der indischen wie überhaupt der ostasiatischen Philosophie gänzlich abgese- hen wird. kritische studie 131 weitere Beispiele sind etwa Kants Stellung zur Todesstrafe (95), bei Nietzsche die familiäre Ausgangssituation (186 ff.) oder die vitiöse Zirkularität des logischen Posi- tivismus (222-27); die Beispiele ließen sich fortsetzen. Hösle verfügt über einen begründungslogisch voll ausgewiesenen eigenen Stand- punkt und zögert nicht, seine jeweiligen Darstellungspartner von diesem aus ent- sprechend zu kritisieren: In der Form immer konziliant, hält er mit z.T. vernichten- den Bewertungen, auch und gerade die denkgeschichtliche Fortwirkung betreffend, nicht hinter dem Berge, so z.B. mit Bezug auf Nietzsche (185 ff.: gedanklicher “Terrorist”) oder Heidegger (261 ff., 266-70: “u.a. Logosvergessenheit”). Freilich spart er bei dieser Gelegenheit auch nicht mit hohem Lob, und nimmt dabei auch lebende Philosophen nicht aus (wenn auch zugegebenermaßen selten), denen er selbst viel verdankt (144). Hingegen schafft es der Verfasser, bei aller gebotenen Kürze doch in einer Über- fülle von Rück-, Quer- und Vorverweisen über die jeweils gerade aktuellen Interpretationskontexte hinaus auch die sozialkulturellen wie politischen oder auch religiösen Bedingungen und Umstände in ihrer Bedeutsamkeit für besondere Gegebenheiten der jeweiligen philosophischen Problematik in charakteristischer Weise zur Sprache zu bringen. Das verfügungsbereite Material lässt dabei auf ein ganz erstaunliches Gedächtnis für Einzelheiten schließen, wie ebenso auf einen großartigen Sinn für Zusammenhänge in ihrer je eigentümlichen Eigenart, wobei auch hier die historischen und sachsystematischen Bezüge mit leichter Hand in ihrer Wechselseitigkeit herausgearbeitet werden.4 Die Sprache ist bei aller Problemtreue doch zugleich gleichsam ‘leichtgängig’; das Ganze ist gut lesbar und verliert auch niemals an Spannung, bezüglich der Frage, wie sich diese ‘Große Erzählung’ denn nun weiterentwickeln wird, mit ihren teil- weise geradezu divinatorisch anmutenden Sternstunden — bei Hösle z.B. mit Bezug auf Hegel — mit ihren dramatischen, je gelegentlich dämonischen Abstür- zen — so z.B. im Blick Hösles auf Nietzsche: Insgesamt ein ‘Ideenpanorama in Entwicklung’, das in seinem Reichtum und seiner thematischen Dichtheit hier gar nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden kann. Stilistisch schreibt der Verfasser so gut wie immer auf dem Niveau des sog. silbernen Zeitalters deutscher Sprach- lichkeit, wie es sich vor und nach dem ersten Weltkrieg herausgebildet hat.5

4 Allerdings fragt man sich, ob in seiner Darstellung allem Anschein nach nicht doch an wenig- stens einer Stelle ein Widerspruch vorliegt: Wenn etwa auf Seite 134 gesagt wird, in den späten Vorlesungen zur Mythologie und Offenbarung lehne Schelling nunmehr “den ontologischen Beweis” (Gottes) ab, so entspricht dies nicht der hermeneutisch sicheren Auslegung einer Stelle in der Berli- ner ‘Achten Vorlesung’ (XIII, 168 f.; Ausgabe von K. F. A. Schelling, 1856-1861): Die Kantische Kritik am Beweis (Kritiker der reinen Vernunft B 633) wird im Blick auf den Begriff des ‘höchsten Wesens’ spezifisch modifiziert und sodannals Beweis akzeptiert. — Ob das dann ein tragfähiger Beweis ist, steht natürlich auf einem ganz anderen Blatt. 5 Freilich verrät sein Stil gelegentlich auch subjektiv Insinuierendes, z.B. 127, wo Hegels “ein- zigartiger Sinn für Systematizität” gelobt und festgestellt wird, Hegels “Überlegenheit in der Rechts- und Staatsphilosophie” hätten erst “den deutschen Idealismus vollendet”, oder auch noch dort, wo 132 Harald Holz

Gleichwohl ist das Teilnehmerpanorama keineswegs vollständig, man vermisst z.B. entsprechende Thematisierungen von Eric Voegelin, Karl Mannheim, Robert Reininger, Hermann Schmitz oder auch von Vertretern einer sog. postneukantia- nischen Transzendentalphilosophie (Wolfgang Cramer, Hans Wagner, Hans-Dieter Klein, Kurt Walter Zeidler und dem Schreiber dieser Zeilen, ferner noch Peter Rohs und Lorenz Puntel, die beide eine systemische Synthesis zwischen Ansätzen analytischer und sog. ‘kontinental-transzendentaler’ Philosophie verfolgen6); aber das sind für den Verfasser wohl Randerscheinungen. Vielleicht wäre auch neben manchen, dem weiten Umkreis des Neukantianismus entstammenden Sozialphilosophen der katholische Oswald von Nell-Breuning erwähnenswert gewesen, insofern er, nach Gustav Gundlach, die für ihre Zeit erstaunlich moderne Sozialphilosophie der spanischen Barockscholastik in Gestalt der ‘Sozialen Markt- wirtschaft’ für die deutsche Nachkriegspolitik fruchtbar machen konnte.7 Nochmals somit: Hösle stellt sich am Anfang die Frage (13 ff.): “Was denn” und wiederholt sie zum Schluss, was denn “die deutsche Philosophie von den anderen europäischen Traditionen unterscheidet” (310). Seine Antwort verweist im mehr inhaltlichen Detail auf gewisse Grundzüge, die sich durch die Jahrhunderte minde- stens nach Art einer Familienähnlichkeit (wie der Rezensent es bezeichnen möchte) durchzuhalten scheinen. So spricht Hösle davon, dass schon im Mittelalter eine “rationalistische Religionsphilosophie” in deutschen Landen hervorgetreten sei, die eine unmittelbare Beziehung zwischen der einzelnen Seele und Gott zentral thema- tisiert habe (310); siehe hierzu kritisch die folgenden Passagen (§ 2) 2., 4. und 5. Vorwegnehmend wird man dazu aber, nach Kenntnisnahme der soeben angege- benen nachfolgenden Abschnitte, weiter sagen können, dass insgesamt — und das gilt dann allerdings erstaunlicherweise schon für die deutsche Variante der mittelalterlichen Scholastik — hier nicht irgendeine vage kollektivpsychologische

(139) Hegel als “der größte Systematiker der Philosophiegeschichte” bezeichnet wird bzw. wo (133), die Rede von einem “verzweifelten Versuch” Schellings ist (u. ähnlich). Bei der Gesamtcharakterisie- rung Nietzches (185-88) ist der auch emotional aufgeladene Stil ganz bewusst so gestaltet, Sarkas- men werden nicht ausgespart (186): “Journalisten und Intellektuelle lesen ihn lieber als Leibniz oder Kant.” Dabei sei übrigens an dieser Stelle eines der wenigen ‘Journalisten und Intellektuellen’ ehrend gedacht, der sich ähnlich kritisch über Nietzsche geäußert hat: Otto Flake (1880 – 1963), in Nietsz- sche: Rückblick auf eine Philosophie (Baden-Baden: Keppler, 1946), in der 2. Aufl. mit einem Nach- wort 278-82 (in Freiheitsbaum und Guillotine: Essays aus sechs Jahrzehnten, hrsg. von Rolf Hochhuth und Peter Härtling (Gütersloh: Bertelsmann, o.J.); freilich stand Flake in seiner Zeit damit sehr allein. 6 Vielleicht hätte es beispielsweise ein kurzer Exkurs zu Letztgenannten getan, zumal Hösle ja selber, auf die heute üblich gewordene Praxis der gegenseitigen Vernetzwerkung zu Karrierezwecken hingewiesen hat (307 f.); immerhin dürften Genannte, zwar als kleine Minderheit, doch auch heute noch als Vertreter derjenigen Weise des Philosophierens fungieren, die ehemals das ‘Deutsche’ an der Philosophie im klassischen Sinne groß gemacht hat. 7 Für die große Masse der Soziologen firmierte das nur unter dem Siegel ‘Katholischer Gesell- schaftslehre’; die eigentlichen philosophischen Wurzeln (Molina, Suarez u.a.) blieben weithin unbe- kannt. kritische studie 133

Urprägung mitgewirkt hat oder sonst irgendetwas dergleichen, sondern vielmehr die Befruchtung durch eine Problemtradition. In dieser Problemtradition hat das nachdenkende Griechentum schlussendlich übergreifende wie zugleich in die Tiefen dringende Synthesen seiner ursprünglichsten Fragen hervorgebracht. Im Neuplatonismus hat der griechische Geist endlich ganz zu sich selbst gefunden, dem ja in seiner christlichen Variante die neue junge Religion das Kernstück ihrer Dogmatik, Trinität und Enkarnationstheologie, letztlich verdankt.8 Dies bedeutet, und dies ist dann allerdings die These des Rezensenten allein, dass die Begegnung mit einer solchen Tradition aufseiten von Denkern des ‘deutschen Idealismus’ dann auch entsprechende Antworten, und zwar systemphilosophische, hervorgerufen hat, so z.B. bei Hegel und Schelling.

2. Weiterführende kritische Würdigung

Hier eröffnen sich allerdings Fragen: 1. Schon die Rede von einem “Deutsche(n) Geist”, lediglich anhand der Philosophie, erscheint doch hochproblematisch. Zwar ist die Philosophie nach Hegels Wort weithin ein ‘Zeitalter, in Gedanken gefaßt’, aber um den ‘Geist’ einer Kultur, hier also der deutschen, über ein Jahrtausend hinweg zu kennzeichnen, bedarf es noch einer Mehrzahl anderer Maßstäbe, so beispielsweise der Architek- turgeschichte, von der Romanik (mit der Erfindung des Würfelkapitells) bis zur Neuen Sachlichkeit bzw. der jüngsten Gegenwart und ihrer neubarocken Nach- folge, der Plastik (wiederum von den romanischen Skulpturen in Naumburg und Bamberg an bis zu Kolbe und Hrdlicka), sodann (um abzukürzen) der Malerei, natürlich der Literatur9 sowie, für den deutschen Kulturraum ganz wesentlich, der Musik (die Begleitphase des Ausdruckstanzes nicht zu vergessen) und des Films. Aber auch ergäbe die Durchmusterung bahnbrechender Ergebnisse und Neue- rungen der Wissenschaften, die zwar definitionsgemäß transnational sind, ein jeweils ergänzendes Bild kulturnationaler (man verzeihe den Ausdruck) Aktivitäten für den deutschsprachigen Bereich. 2. Warum spricht Hösle nicht einfach im Zusammenhang mit Eckhart und Nikolaus Cusanus von neuplatonischem Einfluss, wie es in der Fachdiskussion seit

8 Dies ist ein sehr weites Feld; man vgl. dazu als eine Art von Quasi-Einführung den Band 19 von Harald Holz, Werkausgabe (Berlin: Europäischer Universitätsverlag, 2014), Neuaufl. von: Speku- lation und Faktizität: Zum Freiheitsbegriff des mittleren und späten Schelling (Bonn: Bouvier, 1970). 9 Unter diesem Stichwort böten sich, allerknappst formuliert, auch die philosophisch hochrele- vanten, um nicht zu sagen brisanten Dichtungen eines Wolfram von Eschenbach: Parzival: die Gralsbruderschaft als weltlich-heiliger Ersatz der Kirche an; Gottfried von Straßburg: Tristan und Isolde: irdisch-menschliche Liebe als Ersatz für ‘Gottesliebe’; Goethe: Faust: Autonome ‘Vorsehung’ als Ideal sowie Hölderlins letzte Hymnen und Oden: Kosmos als das ‘Heilige’. Natürlich sind diese Andeutungen mehr als fragmentarisch, aber wenn man schon vom ‘deutschen Geist’ redet, ist die Befassung mit solchen Schöpfungen unverzichtbar. 134 Harald Holz längerem anerkannt ist, und wo er doch neben Werner Beierwaltes, die Tübinger ‘Platoniker’ Kurt Gaiser und Hans Joachim Krämer, sowie noch Kurt Flasch in Bochum nach eigenem Zeugnis als Student gehört hat?10 Dieser Frage wird im Folgenden detaillierter nachgegangen werden. So beispielsweise mit Bezug auf ­Dietrich von Freiberg (1240/46 – 1318/20): Er wird zwar einmal, vorübergehend und wie nebenbei, vom Verfasser genannt (23). — Die außerordentliche Bedeutung dieses hochmittelalterlichen Denkers aus Freiberg in Sachsen ist bei Hösle aber nirgendwo gegenwärtig. Zwar sind die in Vielem an die Systemstruktur Immanuel Kants gemahnenden Darlegungen Dietrichs zur menschlichen Erkenntnis erst nach 2015 bzw. 2016 im Internet zugänglich geworden, doch gab es auch durchaus schon mehrere Jahre vor der Veröffentlichung von Hösles Buch entsprechende Forschungs- literatur;11 übrigens ist dieser strukturtheoretisch-analytische Vergleich in Hinsicht auf Eckhart oder auch Nikolaus Cusanus für Hösle durchaus ein Grund, wenn auch mit jeweils anderer Akzentuierung, beide in die Gemeinschaft ‘deutscher’ Philosophen einzureihen (30). — Um mich einmal des gelegentlich sehr scharfen Zensurstils Hösles, dort wo er sachlich legitim erscheint, zu bedienen: An dieser Stelle hat seine Darstellung eine sachlich wohl durch nichts zu rechtfertigende Lücke. (Freilich reicht Dietrichs wissenstheoretischer Einfluss bei weitem nicht an den des Kusaners heran; erst im 20. Jahrhundert ist man von berufener Seite dabei, den ihm gebührenden Rang im Gang der Begriffs- und Problemgeschichte wieder- herzustellen.) 3. Das bringt uns zu einer weiteren, noch sehr viel grundsätzlicheren Frage, der nach den Wesens- bzw. Abgrenzungskriterien des Begriffs (teutonisch) ‘deutsch’. — Hösle nimmt dazu gleich zu Anfang seiner Untersuchung Stellung (12 ff.), und zwar ausdrücklich mit Bezug auf die lateinische Scholastik. Sein Auswahlkriterium, das er übrigens mit guten Gründen für Nikolaus, und erst recht für Leibniz nicht gültig sein lässt, ist der Gebrauch der deutschen Sprache (13 f.) durch die Philo- sophen, die eben damit als typisch für das gelten können, was man als ‘Deutsch- heit’ bezeichnen könnte. Außer diesem bezeichnenden Sprachgebrauch kommt freilich noch anderes hinzu, nämlich gewisse kollektive, obgleich letztlich natürlich persönlich fundierte, Verhaltensweisen wie z.B. Vorlieben und Abneigungen gegenüber bestimmten Themenbereichen, vielleicht auch die Art und Weise,wie man sich, weiterhin, mit solchen Bereichen befasst. Und natürlich zählen zu solchen Verhaltensweisen auch

10 Vgl. dazu: “Vittorio Hösle: Lebenslauf/Selbstdarstellung,” Arhiv für systematische Philosophie, http://phaidon.philo.at/~zeidler/vhoesle.htm. 11 Der ganz hervorragende Wikipedia-Artikel “Dietrich von Freiberg” (von dem für die Qualität seiner Artikel bekannten Nwabueze): https://de.wikipedia.org/wiki/Dietrich_von_ Freiberg stammt aus den Jahren 2014-2016, mit Überarbeitung; zur Literatur: Loris Sturlese, Dokumente und For- schungen zu Leben und Werk Dietrichs von Freiberg (Hamburg: Meiner, 1984); Kurt Flasch, Dietrich von Freiberg: Philosophie, Theologie, Naturforschung um 1300 (Frankfurt a.M.: Klostermann, 2007); Karl-Hermann Kandler, Dietrich von Freiberg: Philosoph – Theologe – Naturforscher (Freiberg: TU Bergakademie, 2009). kritische studie 135 die Selbsteinschätzungen der Philosophen hinsichtlich ihrer ‘nationalen’ oder auch nur ‘volklichen’ oder, und dies freilich sachlich viel tiefergehend, kulturellen Mit- gliedschaft. Letzteres war für Hösle Grund genug, Nikolaus Cusanus wegen der “Originalität, [...] Qualität und [...] der Geistesverwandtschaft ... mit Hegel” (32) unter seinem Generalbuchtitel mit zu behandeln. Albertus (Magnus) von Lauingen (1206 - 1280) wird infolgedessen, weil aus- nahmslos der lateinischen Philosophen- und Theologengemeinschaft angehörend, nicht in die Gesellschaft der als spezifisch ‘deutsch’ zu bezeichnenden Denker auf- genommen, obwohl ihm von Zeitgenossen gelegentlich das Epítheton ‘teutonicus’ (23) zuerteilt wird. Und freilich, die von Albert in die Wege geleitete, für die mit- telalterliche Hochscholastik entscheidende Aristotelesrezeption ist nicht für Alberts Deutschsein bestimmend. Aber man könnte sich fragen, wenn für den Kusaner seine “Geistesverwandtschaft mit Hegel” für die Aufnahme in Hösles Canon maß- gebend war, ob sich dann nicht auch eine ähnliche Denkverwandtschaft mit ­Schellings Naturphilosophie für Albert hätte herstellen lassen? Für Dietrich hätte sich ganz entsprechend eine systemstrukturelle Assoziation mit Kant angeboten (vgl. hier Anm. 11). Immerhin betont der Verfasser selbst, dass “immer wieder auf andere Leistungen der deutschen Kultur, zumal der Literatur und Geisteswissen- schaften” hinzuweisen sei (13), eine “Kultur [...], die geistig ganz Einzigartiges gelei- stet hat” (257).12 4. Nennen wir nun das in solcher Auswahl Befremdliche bei dem ihm sachlich zukommenden Namen: Der zuvor schon gestreifte ‘Neuplatonismus’ findet bei Hösle denkgeschichtlich unter diesem Namen innerhalb seines Problemrahmens so gut wie gar nicht statt, es sei denn, der Begriff wird ein — oder zweimal wie beiläufig — man( weiß ohnehin, was es damit auf sich hat, so z.B. dass Eckhart ­neuplatonisch beeinflusst war) — erwähnt. Die hier in Frage kommenden Denker sind bekanntlich außer Eckhart, die schon genannten Dietrich von Freiberg und Nikolaus Cusanus. Um Eckharts Denken genauer zu kennzeichnen, wird nur sein

12 Eine gewisse Einschränkung wird man, mit Blick auf die Kehrseite der Medaille, betreffend der Bezeichnung der Naziverbrechen als superlativisch “wohl scheußlichsten politischen Verbrechen der Neuzeit” (257) zukommen lassen müssen; selbstredend wäre eine Art von Wettbewerb nationaler moralischer Scheußlichkeiten nicht nur absurd, sondern auch selber moralisches Hogout — man vgl. das Wort H. Lübbes vom “Deutschen Sündenstolz” —; doch es geht sogar hier um Gerechtig- keit, und den vielfältigsten Opfern des bolschewistischen, maoistischen (oder auch Polpotischen) Massenterrors würde eine solche nicht zuteil, wenn man ‘deutsch-fasziniert’ den moralisch abwerten- den Superlativ spezifizierend für eine deutsche Engführung und Einzigartigkeit, und sei es auch im Bösen (!), ständig im Munde führte. — Meine Ansicht ist, dass ‘Superlative’ hier gar keinen Ort haben, sondern dass es sich in allen derartigen Fällen um schlechthin und völlig außergewöhnliche, sozusagen extralimitative Bosheit handelt. 136 Harald Holz

“Rationalismus” (31 u.a.) erwähnt. Proklos,13 für Eckhart14 wie für den Kusaner15 eine entscheidende Anregungsgröße, findet bei Hösle weder im Kontext Eckharts noch in einem solchen bei Nikolaus noch bei Hegel oder bei Schelling Erwähnung. 5. Wenn der Eindruck nicht trügt, so erscheint hier ein sich durch das ganze Buch hindurchziehendes Charakteristikum. — Bei aller sonst zu beobachtenden Vielfältigkeit des problemerkennenden Blicks erscheint hier eine massive problem- thematische Lücke, welche Zeichen einer Nicht-Kenntnisnahme neuer bzw. neues- ter Forschungsentwicklungen aufweist. Dies betrifft zum einen die Stellung Hegels in der Philosophiegeschichte, zum anderen diejenige Schellings innerhalb des sog. ‘Deutschen Idealismus’. In diesem Zusammenhang spricht Hösle dann auch, einer modischen politologischen Strömung sich wohl anpassend, vom “Sonderweg” deut- scher Philosophie (13 u.ö.). — Zu den drei genannten wichtigsten scholastischen Denkern Deutschlands (Eckhart, Dietrich von Freiberg, Nikolaus Cusanus) wurde schon in diesem Rahmen Hinreichendes gesagt. Trotz bzw. sogar teilweise gegen den mit dem 13. Jahrhundert einsetzenden ‘orthodoxen’ Aristotelismus betonen die drei Genannten einen, zwar u.a. aristotelisch transformierten, genuinen Neuplato- nismus. Dabei stützen sie sich sehr viel weniger auf Augustinus als auf den neupla- tonischen (proklischen) Liber de Causis sowie die Theologie des Aristoteles (in Wahr- heit ebenfalls ein hauptsächlich proklisches Werk), wie natürlich auch auf die Schriften des (Pseudo-) Dionysius Areopagita.16 Dabei verwendeten sie allerdings weithin das durch den neu rezipierten Aristotelismus entstandene, nunmehr verfüg- bare methodologische Instrumentar.17

Exkurs: Im Folgenden kann man nicht umhin, kurz u.a. auf die Thematik einer schon soeben genannten sog. ‘Vollendung’ (vgl. Anm. 17) des Deutschen Idealis- mus wie auch des ‘Dualismus’ Hegel – Schelling einzugehen. a) Um es sofort zu sagen: Den Begriff der ‘Vollendung’ halte ich in diesem Zusammenhang für gegenstandslos, da er mehrere je für sich systematische Gesam-

13 Dieser Philosoph, ein für Eckhart, Dietrich, Nikolaus von Kues, Hegel und Schelling wichti- ger Denker, erscheint nur ein einziges Mal, und ganz nebensächlich (7). 14 Unter dem Namen des Liber de causis sowie der sog. Elementatio theologica für die Hochscho- lastik von sehr großem Einfluss. 15 Man erinnere sich der entdeckerischen Großtat Raimonds Klibanskys (1905 - 2005), der mit sei- nem Hinweis auf Proklosschriften in der kusanischen Bibliothek in Bernkastel-Kues seinerzeit die spezi- fischere Neuplatonismusforschung betreffend der Scholastik eigentlich erst auf den Weg gebracht hat. 16 Die betreffenden Schriften wurden ungefähr frühestens 528, wahrscheinlich aber etwas später, 536-45 an die Öffentlichkeit gebracht. 17 Noch wesentlich bedeutsamer wird die Frage eines Einflusses vonseiten neuplatonischer Schriftsteller, seien sie nun pagan oder christlich (‘patristisch’), im Zusammenhang mit der seiner- zeit diskutierten Frage nach der sog. ‘Vollendung’ des deutschen Idealismus — so die Formulierung von Walter Schulz; der genaue Titel lautet: Die Vollendung des Deutschen Idealismus in der Spätphilo- sophie Schellings (Stuttgart: Kohlhammer, 1955); natürlich handelte es sich damals um einen Kampf- begriff gegen eine gewisse Form von Hegel-Prestige-Epigonentum; damit hing, oder hängt dann auch eine gewisse Schul-‘Rangfrage’ der Relevanz zwischen Hegel und Schelling zusammen. kritische studie 137 tentwürfe als einem Ganzen von dann gleichsam supersystematischer Qualität ein- bzw. untergeordnet assoziieren lässt; dies auch, wo man zugesteht, dass ein jeder der Betroffenen ‘eigentlich’ für sich, ob auch im denksystematischen Dialog mit seinem Kontrahenten, seinen Gesamtentwurf zu einem ihm spezifisch gemäßen Ziel entgegenzuführen bemüht gewesen sein dürfte. b) Außerdem stehen hier bekanntermaßen seit Hegels Tod verschiedene Ausle- gungsschulen (sog. Links-, Rechtshegelianer) auf der hermeneutischen Bühne, wel- che die Entwicklung der Philosophie insgesamt aus der Sicht ihres wahren oder fiktiven Schuloberhauptes bestimmt sein lassen. Selbstverständlich bleibt dann für eine konkurrierende ‘Schule’ nur, wenn überhaupt, ein zweiter Platz übrig. — Hegels Philosophie hatte hier außerdem den Vorteil, dass sie in der Lage war, eine dem Zeitinteresse direkt entsprechende geisteswissenschaftliche Musterlehre anzu- bieten, nämlich seine Rechts- und Gesellschaftsphilosophie, dem der späte Konkur- rent Schelling nichts Gleichrangiges entgegenzusetzen hatte. c) Zum sog. ‘Dualismus’ Hegel – Schelling:18 — Inwiefern man die neuzeitliche Philosophie mit Descartes beginnen ließ, bot sich dann aus der Sicht von Hegelia- nern, die dessen Philosophie als ‘klassisch’ einstuften, für den Konkurrenten Schel- ling die Romantik mit ihrem Fragmentideal als hermeneutisches Schema an. Das, was man an seiner Spätphilosophie nicht verstand, wurde dann umstandslos von der betreffenden romantizistischen Hermeneutik vereinnahmt. — Gänzlich überse- hen wurde, dass Schelling im Bemühen um eine nach wie vor unerledigte Neube- gründung der Philosophie nunmehr auch in fundierter Weise auf die Ursprünge zurückfragte und dabei — erneut — auf den Ideenkomplex des Neuplatonismus gestoßen ist.19 Auch die neuere bzw. sogar z.T. noch die jüngste Hegelschule jedoch scheint sich immer noch an das veraltete Schema eines romantizistischen Schellings zu halten. — Ein wesentliches Anliegen von Schellings Spätphilosophie musste es dann werden, infolge seines durch neuplatonisches Ideengut geschärften und ver- tieften Frageblickes für ‘Gut’ und ‘Übel’ bzw. ‘Gut’ und ‘Böse’ ein dieser Dualität begründendes vorausgehendes und zugleich immanentes prinzipiales Drittes zu fin- den. Sein Hauptanliegen wurde dann, ein nochmals korrelationales Prinzipienge- samt von actu-potentia-Ursprüngen aufzuschließen; das spekulativ-neuplatonische Prinzipienpanorama bot ihm dabei breite Anhaltspunkte.20 — Eben dies gleiche

18 Dabei steht es außer Frage, wo die eigentlichen Sympathien Hösles liegen dürften: Man vgl. nur von ihm: Hegels System: Der Idealismus der Subjektivität und das Problem der Intersubjektivität, 2 Bde. (Hamburg: Meiner, 1987); Hösle, Hrsg., Die Rechtsphilosophie des Deutschen Idealismus, Schriften zur Transzendentalphilosophie 9 (Hamburg: Meiner, 1989); Hösle, Philosophiegeschichte und objektiver Idealismus (München: Beck, 1996). 19 Man kann vielleicht an dieser Stelle die Hypothese vertreten, dass Hegel, insofern und weil er die Fundamente seines Denkens nach Abfassung der Wissenschaft der Logik für definitiv zu Ende gebracht halten konnte, ein solches Anliegen für völlig überflüssig angesehen haben würde. 20 Es scheint, als ob dieser Thematik in der jüngeren Hegelforschung keine breitere Aufmerksam- keit gewidmet worden wäre. Dazu vgl. aber etwa: Peter Henrici, Hegel für Theologen (Fribourg: Academic Press, 2009) (behandelt in der Sache vor allem Hegels Verhältnis zu Kierkegaard, dann 138 Harald Holz

Ideengut aber bot ihm ferner auch ein Verstehensmuster für die Lösung der ihn seit der sog. Freiheitsschrift beschäftigenden Fragen nach dem Ursprung eines absolu- ten transzendenten ‘Seins’ (in älterer Terminologie: esse actu einer natura naturans) oder der sich ‘wirklichenden’ Wirklichkeit. d) Was aber über diese werkorientierte Engführung hinaus die wichtigste Ein- sicht dieser Spätphilosophie Schellings bedeutet, ist: Dass sie es vermochte, hier einen ganzen bis dahin ins Vergessen versunkenen ideellen Kontinent wieder zum Leben zu erwecken. Das entscheidende Ergebnis, der hier tätig gewesenen Schel- lingforscher21 war, die von Schelling selbst letztlich als zweitklassig eingestuften Ideensysteme sowohl von Jakob Böhme als auch von Franz Xaver von Baader brauchten nicht mehr als romantizistische Lückenbüßer fungieren, da eine inhalt- lich wesentlich tiefere, systematisch konzisere und autorenmäßig viel authentischere und umfangreichere Denkschule in Gestalt des Neuplatonismus hermeneutisch zur Verfügung stand bzw. steht. Insbesondere vor entsprechenden patristischen Gedan- kenentwürfen hatte Schelling keine Berührungsängste mehr, nachdem sich ihm die ‘Kirchlichkeit’ bzw. überhaupt die je zeitalterbedingte Sozialität dieses Denkens grundlegend relativiert hatte. Nicht also einen durch esoterische Ideenromantik ausgezeichneten Deutschen ‘Sonderweg’ wird man hier als problembeladene Vollendung des Deutschen Idealis- mus finden; vielmehr die Wiederaufnahme eines alten, großen und ideenmächtig gewesenen Denkkomplexes, in welchem eine ganze Ökumene ehemals ihr Abbild gefunden hatte, und die hier aufs Neue, nach dem neuesten Denkmuster umge- formt, zum Leben zu erwecken versucht wurde. Dass dies von einem mittlerweile sehr veränderten Epochenbewusstsein, und dies sogar bis heute noch, nicht mehr verstanden wurde, zumal das für die betreffende Gegenwart erforderliche formal- wissenschaftliche (modern wissenschaftsphilosophische) Instrumentalbewusstsein fehlte, dürfte heute, bei der heutigen, teilweise immer noch schulverengten For- schungslage, nicht mehr verwundern.

3. Schlusswort

Mit Blick auf Hösles Endergebnis (308-12) kann man zwar noch einmal die These (und Terminologie) eines ‘deutschen Sonderwegs’ (32) insoweit kritisieren, auch zu Luther); Markus Knapp, “Der trinitarische Gottesgedanke als Zentrum von Theologie jenseits der Metaphysik?,” in Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie – Kontext der Moderne/Postmo- derne, hrsg. von Markus Knapp und Theo Kobusch (Berlin: De Gruyter, 2000) (bezieht sich stark auf nachreformatorische Theologoumena). 21 Harald Holz, Der Begriff der Freiheit beim mittleren und späten Schelling, in Holz, Werk­ausgabe, Bd. 19, dort wichtig das Vorwort zur 2. Aufl., 9-24; Werner Beierwaltes, Platonismus und Idealismus (Frankfurt a.M.: Klostermann, 1972, 2., durchges. und erw. Auflage 2004); Jens Halfwassen,Auf den Spuren des Einen: Studien zur Metaphysik und ihrer Geschichte (Tübingen: Mohr Siebeck, 2015); und noch: Franz, Tübinger Platonismus (Tübingen: Francke, 2012). kritische studie 139 als — und wenn — dies als eine Aufforderung zum Verlassen der besten Leistun- gen in den mehr als eintausend vergangenen Jahren aufgefasst würde. Hösle ist zuzustimmen, wenn er darauf hinweist, dass das deutsche ‘Geschichtssyndrom’ (wenn man denn in Ermangelung eines Besseren diesen Terminus zu billigen gewillt ist) geistesgeschichtlich u.a. durch eine zwar von ihm selbst zum Teil etwas verkürzt dargestellte ‘rationalistische Religionsphilosophie’ ausgezeichnet sei. Aber in Wahrheit, wie schon einmal hier zuvor dargelegt, handelt es sich um die Auf- nahme eines der großartigsten Denkentwürfe Großeuropas, worin die griechische Philosophie (erst) ihren eigentlichen22 Höhepunkt erreicht hat, nämlich des Neu- platonismus, in die späte Neuzeit bzw. die Vormoderne. Die Wiederaufnahme unter systemrelevanten Fragepunkten durch die Denker des deutschen Idealismus, natürlich Hegel, besonders aber Schelling, wie hier zuvor kurz skizziert, bedeutet demnach — um es noch einmal zu wiederholen — keinen ‘Sonderweg’ (32), den man im Interesse eines ‘Anschlusses’ an das westeuropäische Durchschnittsideal verlassen möge;23 vielmehr würde es die Vielfalt der Sache selbst (der Philosophie) verlangen, dass an möglichst vielen Stellen auf dieser Erde, wo ernsthaft Philoso- phie getrieben wird, sich den geschichtlichen Umständen entsprechend eine mög- lichste Vielfalt der verschiedensten philosophischen Denkansätze und -entwürfe in vernunftgemäßen Dialog etabliert. Freilich ist dies keine Sache, die gleichsam wie vom Himmel gefallen ihre inner- geschichtliche Rolle gefunden hätte. Man kann spekulieren — und mehr dürfte derzeit wohl auch nicht möglich sein —, dass die besagte größere Nähe zur Reli- gion, Theologie, das meint zur damaligen grösst- bzw. höchstmöglichen Autorität überhaupt und als solcher, nämlich der göttlichen, und ein entsprechendes “Grü- beln” (310) seinen Anlass in der jeweiligen geschichtlichen Grosslage hatte: schon im Mittelalter der katastrophale Streit zwischen Kaisertum und Papsttum, dann zur Zeit von Leibniz, der schon stattgefundene Religionskrieg zwischen zwei Konfessionen der eigentlich einen Religion: Erst eine hundertjährige, damals schon zum Teil blutige Auseinandersetzung um die wahre Religiosität, dann der dreißig- jährige Krieg, an dessen Ende sich Deutschlands Bevölkerung ungefähr halbiert hatte und alle kulturschöpferischen Potenzen restlos verbraucht waren: Das schuf (um mit einem Prinzipienbegriff von Hermann Schmitz zu sprechen) eine ideen­ soziale ‘Atmosphäre’, die auf eine Lösung in nichtkriegerischer Weise geradezu zwingend hindrängte.

22 Zu Harald Holz, vgl. Anm. 21; außerdem vgl. Werner Beierwaltes, Denken des Einen: Studien zur neuplatonischen Philosophie und ihrer Wirkungsgeschichte (Frankfurt a.M.: Klostermann, 1985); Beierwaltes, Proklos: Grundzüge seiner Metaphysik, 3. Auflage (Frankfurt a.M.: Klostermann, 2014). — Beierwaltes weist in beiden Monographien darauf hin, dass Hegel völlig im Recht sei, wenn er im Blick etwa auf Proklos genau hier den eigentlichen und nirgendwo sonst übertroffenen Höhepunkt griechischen Denkens überhaupt festmache. 23 Das scheint, wenn auch mit Maßen, Ludwig Siep zu insinuieren in seinem Aufsatz: “Über den Sinn der Beschäftigung mit der deutschen Philosophie heute,” Information Philosophie 2 (2015): 8-25. 140 Harald Holz

Man wird also die spekulative These aufstellen können, dass demnach die Begeg- nung bzw. sogar der Zusammenfall einer ideengeschichtlichen Problematik (bru- dermörderischer Konfessionskrieg) mit der Begegnung einer alten, in abstrakter Form entsprechenden Lösungen zugewandten, Geistesströmung (paganer wie christlicher Neuplatonismus), ein allgemeineres Klima entstehen ließ, das, bei Gegebensein entsprechender Begabungen eine Entwicklung in Gang setzte, wie wir sie, sehr allgemein gesagt, in Form der deutschen Philosophiegeschichte, jedenfalls nach Leibniz und Christian Wolff, vor Augen haben. (Und so ist die denkgeschichtliche Zuweisung der sog. ‘deutschen’ Philosophie in eine Mittelstellung zwischen angelsächsisch analytischer und französisch konti- nentaler Philosophie (309) im Sinne einer zukünftigen Aufgabenstellungen sicher nicht zutreffend, keinesfalls optimal; vielmehr sollte im konstruktiven, schöpferisch dialogischen Blick auch die eigene Tradition als ein originär Drittes gepflegt wer- den.) Freilich, in seiner Analyse des augenblicklichen Tatsachenbefundes muss Hösle — leider — zugestimmt werden. Die Verfangenheit in der eigenen, für ein hin­ reichend großes Kollektiv wie eine Nation tragischen, wie ich es bezeichnen möchte, Vergangenheit scheint allerdings den unbefangenen Zugang zu eben dieser Ver- gangenheit in kollektiv-tiefenpsychologischer Weise blockiert zu haben. Gegenüber den allermodernsten Mythologien vom ‘Verbrechervolk’ schlechthin — wenn denn hier gegen jede moralische Vernunft quantifizierend der negative Superlativ für das eigene kollektive Selbst insistiert wird — herrscht derzeit eine Traumatisierung, die sich, mindestens mittelbar auch auf Wissenschaften und Künste, überhaupt auf den allgemeinen Sprachgebrauch auswirkt. Vor diesem Hintergrund wird man den eher pessimistischen Vermutungen Hösles in Bezug auf eine Zukunft des ‘Deutschen Geistes’ nicht anders als mit Schmerzen zustimmen müssen. Insgesamt also ein inhaltlich wie stilistisch gut geschriebenes Buch, auch dort, wo es, wie vorgetragen, Bedenken erregt, doch zugleich in der Regel auch eine sehr anregende Lektüre, ein Text, dem man wünschen möchte, vertiefte Diskussionen über das geistige Schicksal Deutschlands in der heutigen Welt anzustoßen, denn nur wo man die eigene Vergangenheit ‘richtig’ begriffen hätte, könnte man daraus auch, indem man die ‘richtigen’ Schlüsse für die Zukunft zöge, eben diese in ‘rich- tiger’ Weise bewältigen. Was aus der Sicht des Rezensenten unbedingt positiv zu bewerten ist, ist gerade die im Wesentlichen aus dem großen Denkherdentrieb aus- scherende Perspektive Hösles, die eine dergestalt so bisher noch nicht eingenom- mene Distanz ermöglicht (von da her erlaube man die leichte, aber rein sprachliche, Ironie des ‘Richtigen’). Weltanschaulich erscheint der darin implizierte Standpunkt religiös oder gar konfessionell nicht festgelegt. Er fasst allerdings allem Anschein nach Einiges vom Besten zusammen, was aus eben dieser deutschen Tradition, frei- lich nicht nur aus ihr, so etwas wie den vielleicht wichtigsten Teil des deutschen Geistes in seiner Hochphase hat hervorgehen lassen, bis zu seinem Zusammen- bruch in den beiden Weltkriegen, freilich nicht zuletzt auch in der deutschen Kata- strophen-Weltanschauung, die den zweiten hervorgebracht hat. kritische studie 141

Begreift man — dies also nochmals: meine eigene Geschichtshypothese — den Gang der Philosophiegeschichte als ein evolutives Dialoggeflecht einiger jeweils konzentrierter Traditionsstränge untereinander, so lassen sich vorschlagsweise einige als eigentümlich herauspräparieren: a) die ideenmathematische Linie (von Pythago- ras, Anaxagoras her), dann b) eine einheitstheoretische Linie, sei es ideeller-, sei es atomarerweise (Parmenides, Demokrit), sodann c) eine seins- bzw. gegebenheitsthe- oretische Linie (Aristoteles; Epikur u.a.) sowie d) noch ein koinzidentaltheoretischer Zweig (Heraklit, später Platon, Proklos); die Möglichkeiten sind damit keineswegs ausgeschöpft. Natürlich spiegelt sich der Gang mannigfachster Begegnungen, Syn- thetisierungen wie auch Verzweigungen und Scheidungen in den vielfältigen Kom- binationen im Lauf der Ideengeschichte wieder. Ein erstrebenswertes Ziel aber wäre eine möglichst umfangreiche, wechselseitig systematische Durchdringung, gleichsam eine Ideen-Empathie dieser bzw. noch weiterer evolutiver Traditionen, sodass am Ende sich doch noch ein möglichst umfassender Friede der Ideen ergeben könnte.

Keywords: German spirit, Neoplatonism, German idealism, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich von Schelling, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger. Schlüsselbegriffe: Deutscher Geist, Neuplatonismus, Deutscher Idealismus, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich von Schelling, Karl Marx, Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger.

Summary: Vittorio Hösle’s Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie

This article offers a critical review of Vittorio Hösle’sEine kurze Geschichte der deutschen Philosophie: Rückblick auf den deutschen Geist (München: C. H. Beck Verlag, 2013) (A Short History of German Philosophy: A Retrospective of the German Spirit). The first section of this review delineates the main themes Vittorio Hösle sees as representative of what he calls German spirit (Geist) in philosophy. Hösle’s criteria for inclusion in his survey of German are that they write in German (Nicholas Cusanus and Leibniz excepted) and that they have sufficient importance for the progress of philosophy in the German-speaking world. In part two, this review then surveys a few problems not sufficiently solved or not even considered in Hösle’s book. Hösle’s method is to lay out how each of the central figures considered (e.g. Leibniz, Kant, Hegel, Marx, Nietzsche, Husserl, Heidegger) approached philosophy, along with a commentary on their main works. The ­correlations between these main figures and their intellectual surroundings creates 142 Harald Holz a tight network of information. In part three, this review summarizes the central issues at play by setting out the questions surrounding both the rightful rise and lamented crash of this approach to philosophy, e.g. between Leibniz and Kant on the one side and Marx and Nietzsche on the other. Hösle’s book is well-written, readable, and — something rarely seen — explains its topic in a truly gripping manner.