Mitteilungen

Nr. 23 (2013)

Beiträge

G. Lattermann Vor- und frühgeschichtliche biopolymere (Werk-)Stoffe ...... 3 G. Görmar Jacob Waitz und Basilius Valentinus im Kloster Walkenried: Legende und Wirklichkeit ...... 31 K.D. Röker Die „Jedermann-Chemie“ des Friedlieb Ferdinand Runge ...... 52 G. Schwedt C. R. Fresenius’ Mineralwasseranalytik am Beispiel der historischen „Mineralquelle zu Niederselters“ ...... 71 H. Andreas Reinhold Hoffmann und sein Kommilitone August Kekulé ...... 86 D. Braun Marcelin Berthelot als erster Polymerforscher des neunzehnten Jahrhunderts ...... 96 A. Martin Döbereiner und das Platin ...... 107 S. Niese Die Entdeckung des Actiniums ...... 129 R. Kießling Die Chemische Gesellschaft der DDR: Teil I ...... 145 P. Hallpap Die Chemie an der Universität Jena in der Wende ...... 176

Dokumentation und Information

A. Kraft Alles aus Plaste – eine Ausstellung zum Kunststoffzeitalter ...... 198 Aus dem Fachgebiet ...... 201 Stipendien und Preise ...... 202 Eingesandte Neuerscheinungen ...... 204

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

Mitteilungen Nr. 23 (2013)

Herausgegeben von der Fachgruppe „Geschichte der Chemie“ in der Gesellschaft Deutscher Chemiker ISSN 0934-8506 Varrentrappstraße 40-42, D-60486 Frankfurt am Main Postfach 900440, D-60444 Frankfurt am Main

Vorstand: Prof. Dr. Christoph Meinel (Regensburg), Vorsitzender Prof. Dr. Dietmar Linke (), stellv. Vorsitzender

Ralf Hahn, M.A. (Berlin) Priv.-Doz. Dr. Peter Hallpap (Jena) Dipl.-Ing. Renate Kießling (Liederbach) Christine Nawa, M.A. (Tübingen) Dr. Heinrich Schönemann (Neukirchen-Vluyn)

Schriftleitung: Prof. Dr. Christoph Meinel, Universität Regensburg, Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte, D-93040 Regensburg Tel. (0941) 943-3661/3659, Fax (0941) 943-1985 E-Mail: [email protected]

unter Mitarbeit von Dr. Tanja Schedlbauer (Regensburg)

Die Mitteilungen der Fachgruppe „Geschichte der Chemie“ erscheinen in loser Folge etwa einmal im Jahr. Fachgruppenmitglieder erhalten die Mitteilungen im Rahmen ihres Mitgliedsbeitrags, Nichtmitglieder und Institutionen können sie gegen eine Unkostenbeteiligung (€ 10 für GDCh-Mitglieder, sonst € 20) von der Geschäftsstelle anfordern. Autoren der Mitteilungen erhalten Belegexemplare des jeweiligen Heftes, jedoch keine Sonderdrucke. Sie haben das Recht, ihren Beitrag für eigene Zwecke zu vervielfältigen, sofern dies unter Nennung der Quelle geschieht. Die Beiträge der Mitteilungen werden regelmäßig in Chemical Abstracts, der Isis Current Bibliography on the History of Science und der bibliographischen Datenbank History of Science, Technology & Medicine (EBSCO) referiert.

Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Vor- und frühgeschichtliche biopolymere (Werk)-Stoffe

Dr. Dr. h.c. Günter Lattermann, Grüner Baum 32, 95448 Bayreuth / Deutsche Gesellschaft für Kunststoff- geschichte dgkg

Die ältesten Zweige frühester ‚Chemie‘ sind verbunden mit Ledergerbung, Tex- tilherstellung und -färberei, Töpferei, Metallgewinnung und -verarbeitung, Glasherstellung und Bier- bzw. Weinbereitung. Die Anfänge weisen weit in die vorgeschichtliche Zeit hinein. Dasselbe gilt auch für die hierbei vielfach auftre- tenden polymeren Stoffe, die bis vor gut hundert Jahren alle natürlichen Ur- sprungs, also Biopolymere waren. Ohne solche frühen Polymere ist die Mensch- heitsentwicklung und ihre Materialgeschichte nicht denkbar. Hier werden zu- nächst biopolymere Stoffe besprochen, die auf natürliche Weise vor Millionen von Jahren entstanden, zwar nicht direkt als Werkstoffe dem Menschen dienten, aber als „Urahnen“ moderner Polymere gelten können. Danach wird eine Serie biopolymerer Werkstoffe beschrieben, ohne allerdings die große Gruppe der Tex- tilfasern zu berücksichtigen.

Das „Affenhaar“: fossiles cis-1,4-Polyisopren

Das sogenannte „Affenhaar“, ein fossiler Kautschuk, zählt hinsichtlich seiner Entstehungszeit zu den ältesten polymeren Materialen, die bislang bekannt wur- den (s. Abb. 1). Seit langem fand man in Schichten der älteren Braunkohle (Eo- zän, ca. 55-35 Mio. Jahre v.h.) des mitteldeutschen Braunkohlereviers um Köthen, Nachterstedt, Geiseltal und Oberröbling des Öfteren eine Art Fladen von gelblich-hellbraunem, fein-faserigem Material, dem die Bergleute den Namen „Affenhaar“ gegeben hatten.1 1848 wurde diese „Faserkohle“ erstmals von T. Hartig erwähnt und als Fäden fossiler Milchsaftgefäße beschrieben.2 Später wur- den sie aber als Bastfasern aus Pflanzenstängeln eingeordnet und als „Fascikuli- tenkohle“ (Bastbündelkohle) bezeichnet.3 Dieser neuen Einordnung widersprach aber zunächst schon die Farbe der Fasern. Als Bastfasern müssten sie aus Zellu- lose und verholzender Substanz bestehen und eine dunkelbraune bis schwarze Farbe angenommen haben. Erste analytische Untersuchungen wurden 1924 vor-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 JHQRPPHQ =XQlFKVW]HLJWHQHLQIDFKH%UHQQSUREHQGDVVGLH)DVHUQ±LP*H JHQVDW]]X=HOOXORVH±VHKUVFKQHOOXQGPLWDURPDWLVFKHP*HUXFKDEEUHQQHQLP *HUXFKHULQQHUQGDQ+DU]XQGYHUEUDQQWHV*XPPL&KHPLVFKH8QWHUVXFKXQJHQ GXUFK([WUDNWLRQHQPLW$FHWRQDONRKROLVFKHU1DWURQODXJHXQG%HQ]ROHUJDEHQ GDVV GLH HLQ]HOQHQ HQWKDU]WHQ )lGHQ VLFK QLFKW DXIJHO|VW KDWWHQ VRQGHUQ QDFK 7URFNQXQJHODVWLVFKJHZRUGHQZDUHQXQGVRPLWGQQHQ*XPPLIlGHQJOLFKHQ

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Siegburgit, Beckerit, Krantzit: fossiles, biopolymeres Polystyrol

Dieser fossile Harztyp stammt ebenfalls aus dem Eozän (ca. 55-35 Mio Jahre v.h.).9 Über Siegburgit wurde erstmals 1875 von Arnold von Lasaulx berichtet.10 In den Sanden über den eigentlichen Flözen der Siegburger und Troisdorfer Braunkohle fanden sich knollige, grauweiße Klumpen (s. Abb. 2). Sie waren den Arbeitern schon seit langem dadurch aufgefallen, dass sie beim Anzünden einen stark aromatischen Geruch abgaben. Als „Mergelmännchen“ und „brennbare Steine“ wurden sie zum profanen Kartoffelrösten und Kaffeewärmen gebraucht, aber auch zu heiligeren Zwecken in den Weihrauchkesseln benachbarter Kirchen verbrannt. Siegburgit fand sich weiterhin im Braunkohletagebau des Bitterfelder Raumes.11

1884 wurden in ersten chemischen Untersuchun- gen des Siegburgits nach trockener Destillation Sty- rol und Zimtsäure nach- gewiesen,12 Produkte, die z.B. im Baltischen Bern- stein nicht auftreten. Neue Untersuchungen, zusam- men mit Referenzproben von rezentem Storaxharz (Styrax) von liquidamber orientalis und einem ana- logen, fossilen, nordame- Abb. 2: Siegburgit, fossiles Polystyrol, Eozän (ca. 55-35 Mio rikanischen Harz (Squan- Jahre v.h.) (Foto: Naturkundliches Museum Mauritianum, kum) mit Gaschromato- Altenburg). graphie/Massenspektrome- trie (GC/MS, Py/GC/MS) und Gelchromatographie (SEC) ergaben, dass in Siegburgit noch ein gewisser Gehalt an niedermolekularen triterpenoiden Verbindung vorhanden ist. Die THF- lösliche Fraktion weist Polystyrole mit Molmassen von mindestens 1.000.000 Da auf. Ansonsten besteht das Material zu ca. 80% aus ataktischem, über verschie- dene Gruppen vernetztem Polystyrol.13

Der aus dem Tagebau Goitzsche stammende Beckerit14 wurde später ebenfalls als Siegburgit eingestuft.9 Das als Krantzit bezeichnete fossile Harz aus dem Braun- kohleabbau von Latorf bei Nienburg (Saale)15 ist gleichfalls dem Siegburgit in der Struktur äußerst ähnlich, weist aber verschiedene Vernetzungsgrade auf.16

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Alle drei werden der Klasse III fossiler Harze zugeordnet und unterscheiden sich als Polystyrolharze signifikant von Bernsteinarten oder Kopalen.17 Siegburgit, Beckerit und Krantzit bildeten sich aus dem Harz von Laubbäumen, die zu den Hamamelisgewächsen (Zaubernussgewächse, Hamamelidaceae) gehören.16

Baltischer Bernstein, Succinit: fossiler, biopolymerer Copolyester

Wie die zuvor besprochenen fossilen Biopolymere, stammt auch der Baltische Bernstein (Succinit) aus dem Eozän.18,19 Er ist das fossile Baumharz von Arauka- rien (Araucariaceae), die zu den Koniferen gehören.20 Früher wurde er im Ostsee- raum am Strand bzw. im seichten Wasser („Bernsteinfischen“) aufgesammelt oder in Ufernähe ausgegraben („Bernsteinstechen“). Die größte Fundstätte liegt in der ‚Blauen Erde‘ bei Palmnicken/Ostpreußen (russisch: Jantarny/Gebiet Kali- ningrad). Dort wird er in neuerer Zeit im Tagebau gewonnen.21 Der Baltische Bernstein (Succinit) gehört als Copolyester von Derivaten der diterpenoiden Abietinsäure (hauptsächlich Communinsäure) oder von Bernsteinsäure mit diter- penoiden Alkoholen wie Communol der Klasse Ia fossiler Harze an.17,22,23 Bern- stein wird von einigen organischen Lösungsmitteln, z.B. Terpentin angegriffen bzw. ist darin löslich. Er erweicht beim Erwärmen ab ça. 115 °C und verflüssigt sich ab 200°C bis 250°C unzersetzt.24 Das Heißpressen von Bernsteinabfällen zu Pressbernstein ist möglich. Bernstein ist also ein thermoplastisches Biopolymer. Im Gegensatz zu den vorher besprochenen fossilen, polymeren Materialien, fin- det sich Bernstein schon sehr früh als Fundobjekt in menschlichen Siedlungsstät- ten. Erste Verwendungsnachweise (z.B. durchlochte Scheiben, Spitznadeln) stammen aus der Endzeit des Jungpaläolithikums (12.000-10.000 v. Chr.).25-29 In diese Zeit fällt auch die erste figürliche Darstellung eines Elches aus Bernstein, gefunden in Weitsche/Lüchow-Dannenberg, datiert auf 12.000-11.000 v.Chr. (s. Abb. 3).30,31

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

Abb. 3: Bernsteinfigur „Der älteste Elch der Welt“, Ende Jungpa- läolithikum (ca. 12.000-11.000 v.Chr.) (Foto: Hannoversche All- gemeine).

Figürliche Darstellungen aus Bernstein sind dann schon etwas häufiger aus dem Mesolithikum (ca. 9.500-5.500 v. Chr.) bekannt, z.B. eine 1884 von Virchow beschriebene kleine Wildschweinfigur19 oder der 1887 aufgefundene „Stolper Bär“ (s. Abb. 4).32,33

Abb. 4: Bernsteinfigur „Stolper Bär“, Mesolithikum (ca. 9.500-5.500 v.Chr.) (Foto: Muzeum Narodowe, Stettin, Grzegorz Solecki).

Ab dem Neolithikum (ca. 5.500 – 2.200 v. Chr.) nehmen Bernstein-Verwendung und -Handel erheblich zu. Seit Ende der letzten Kaltzeit (ca. 12.000 v.Chr.) war der Meeresspiegel bis zum Beginn des Neolithikums langsam angestiegen. Um

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 5.000 v.Chr. bildete sich die heutige Ostsee durch eine Verbindung mit der Nord- see. Dadurch wurden die Bernsteinvorkommen an der Küste verstärkt ausgewa- schen34 und konnten aufgesammelt werden. Ein typischer Fund aus dieser Zeit (Datierung: ca. 3.000 v.Chr.) ist das „Woldenberger Bernsteinpferd“ (Wolden- berg/Neumark, polnisch Dobiegniew/Lebus). 1858 aufgefunden, 1881 veröffent- licht,35 kam es später in das Museum für Vor- und Frühgeschichte in Berlin (s. Abb. 5).36,37

Während der nachfolgenden Bronzezeit (2.200 – 800 v.Chr.) verstärkte sich das Ausmaß von Gewinnung, Gebrauch und Handel mit Bernstein beträcht- lich. Man könnte für diese Peri- ode geradezu von einer „Bern- steinmode“ sprechen.38 Die Verbreitung erfolgte im Westen über Frankreich bzw. die Alpen ins westliche Mittelmeergebiet oder in Mitteleuropa über Do- nau und Schwarzes Meer ins 39 Abb. 5: „Woldenberger Bernsteinpferd“, Neolithikum östliche Mittelmeer. In der (ca. 3.000 v.Chr.) (Foto: Museum für Vor- und Früh- Antike wurde das „Gold des geschichte, Inv.-Nr. I f 6646; Marburg, Aufnahme-Nr. Nordens“ noch begehrter, die 1.198.333). Handelswege von der Ostsee ans Mittelmeer erweiterten sich um die Ost-Route Weichsel/Dnjestr übers Schwarze Meer in den griechischen Raum. Insgesamt wurden die verschiedenen Strecken des Bernsteinhandels als „Heilige Straße“ oder „Bernsteinstraße“ be- zeichnet.34,39,40 Zu römischer Zeit war das an der Adria gelegene Aquiläa ein Ver- arbeitungszentrum für den Mittelmeerraum.40 Ein zunächst von Tacitus verwen- deter Begriff glaesum41 leitete dieser als Lehnwort von dem an der Ostseeküste gebrauchten, germanischen glezan, „glänzend“, „Glas“ ab, dem der transparente, polierte Bernstein ähnelte.42 Aufgrund der Beobachtung eingeschlossener Insek- ten schlossen jedoch Tacitus und Plinius d. Ältere, dass es sich um den festge- wordenen Saft (succus) eines Baumes handeln müsse und nannte ihn danach suc- cinum.34,41

Der heutige Begriff Bernstein entwickelte sich aus dem mittelniederdeutschen Börnsteen von börnen „brennen“ und bedeutet somit eigentlich „Brennstein“43 (s. Analogie zum Verhalten von Siegburgit).

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Horn: biopolymeres Protein α-Keratin

Horn besteht hauptsächlich aus dem biopolymeren Faserprotein α-Keratin.44 Nicht verwechselt werden darf Horn mit Geweih-„Horn“ (Hirsche, Rehe, Elche, Rentiere), das zu den Knochen-Materialien mit einem hohen anorganischen An- teil an Kalziumphosphat gehört.45 Horn ist relativ weich, faserig, flexibel und fähig zur Feuchtigkeitsaufnahme. In ganzen Stücken oder zerkleinert ist Horn in der Wärme ab 140 °C verformbar und verpressbar. Die Nutzung der thermopla- stischen Eigenschaften von Horn ist allerdings erst seit dem Mittelalter belegt.46 Aber bereits in prähistorischen Zeiten wurde Horn vielfach verwendet.45 Hier ist oft jedoch nur ein indirekter Nachweis möglich, da die unvernetzte, biopolymere Substanz dem mikrobiellen Abbau besonders schnell unterliegt.

Wildrinder (Wisente, Auerochsen,) waren in der Steinzeit das wichtigste Jagdwild (s. auch Malereien in stein- zeitlichen Höhlen, z.B. Chauvet, ca. 31.000 v.Chr.47). Ihre Abbilder symbo- lisierten männliche Kraft und Stärke und erfuhren kultische Verehrung48 bis weit in geschichtliche Epochen hinein. Dieses Prinzip wurde teilweise auch auf das Material übertragen. Die frühe- ste Darstellung eines Rinderhorns stammt aus der jüngeren Altsteinzeit (Jungpaläolithikum, Gravettien ca. 24.000 v.h.). Auf einem Kalksteinrelief hält die sog. „Venus von Laussel“ mit der rechten Hand ein Horn in die Höhe (s. Abb. 6).49 Zu den frühesten archäo- logischen Funden gehören verzierte Rinderhörner aus der Jungsteinzeit Abb. 6: Venus von Laussel, (Foto: Wikipedia) (Catalhöyük, Neolithikum, 7.400- 6.200 v.Chr.).48,50 Im Fundkomplex von ‚Ötzi‘, dem ‚Mann aus dem Eis‘, fanden sich Artefakte aus Horn (Ende Neo- lithikum/Kupferzeit, 3.359 - 3105 v.Chr.).51 Weiterhin ist eine intensive Verwen- dung von Hornmaterial bei den Kelten52 (z.B. goldverzierte Trinkhörner aus dem Grab des Fürsten von Hochdorf, ältere Eisenzeit Halstatt-Zeit, um 530 v.Chr.53,54; s. Abb. 7) und seit römischer55,56 Zeit nachweisbar.

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Abb. 7:Goldverzierungen an rekonstruierten Trinkhörnern, keltisches Grab des ‚Fürsten von Hochdorf‘ (530 v.Chr.; (Foto: Frankfurter Allgemeine, 20.09.2012))

Leder, Pergament: biopolymere Faserproteine und ihre Konservierungsprozesse Leder

Die Umwandlung von Haut in Leder ist heute eine Folge komplizierter, vielfälti- ger Prozessschritte. Dem Entfernen von Fell, bzw. Haaren (‚Enthaaren‘) folgt die Entfernung der Oberhaut (Epidermis) – das ‚Kälken‘– und die Entfernung der Fleischschicht (Subkutis) von unten (‚Entfleischen‘). Dann wird die Mittelhaut (Dermis, Lederhaut, Corium) gegerbt, gefärbt, getrocknet und nachgefettet.57,58 Die Mittel- oder Lederhaut besteht in ihrem oberen Teil aus feinen, langen Fasern des hochmolekularen Proteins Kollagen (griech. „Leimbildner“), das neben Cel- lulose und Lignin zu den drei mengenmäßig dominierenden Biopolymeren ge- hört.59 Im unteren Teil sind gröbere, elastische Fasern der Proteine Elastin und Fibrilin vorhanden. Beim eigentlichen Gerbprozess werden die Proteinfasern über ihre Amino- oder Carboxylgruppen durch den Gerbstoff entweder chemisch oder physikalisch vernetzt.59,60,61 Hierdurch und durch die verminderte Was- seraufnahme (Quellfähigkeit) kann Leder von Fäulnisbakterien unter den dafür notwendigen physiologischen, d.h. feuchten Bedingungen nicht mehr abgebaut werden. Die Haltbarmachung unter Beibehaltung von Flexibilität, Elastizität und Geschmeidigkeit ist der Hauptzweck der Gerbung.

Eine einfache Trocknung von Fellen und Häuten ohne Gerbung an Luft oder durch Salz senkt zunächst ebenfalls den Wassergehalt. Im trockenen Zustand sind

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 daher solche Häute und Felle eine Zeitlang stabil gegen mikrobiellen Angriff. Unter diesen Bedingungen packen sich die Kollagenfasern dichter und verkle- ben,59 das Material wird allerdings hart, brüchig und steif.62 Einfach getrocknete Häute haben jedoch im Gegensatz zu Leder ein beträchtliches Wasseraufnahme- vermögen und können dann wieder leicht Fäulnisreaktionen unterliegen.59 Häute und Felle zählen zu den frühesten ‚biopolymeren‘ Werkstoffen der Menschheit. Spätestens ab der ersten Eiszeit (Elster-Eiszeit, ab 400.000 v.h.63) und während der folgenden Kaltzeiten waren für die jeweiligen Homo-Spezies in Europa Feuer und Kleidung überlebensnotwendig. Als Rohmaterial für Bekleidung und Schuhe eigneten sich Felle, Häute und Bälge erlegter Wildtiere, zunächst in gereinigtem, lediglich getrocknetem Zustand.64 Sie waren wie erwähnt gegen Zersetzung nicht allzu stabil. Verbesserungen erbrachten sicherlich Vorstufen einer ‚echten‘ Ger- bung, wie Rauch- oder Fettbehandlung, die die Trocknung erleichterten und die Häute wasserabweisender und geschmeidiger machten. Irgendwann ließ man den Rauch mit seinen Bestandteilen Phenole und Formaldehyd länger einwirken und verwendete statt des Talgs von Landsäugetieren z.B. auch deren Hirnmasse oder den Tran von Fischen, die beide ungesättigte Fettsäuren mit an der Luft reaktiven Doppelbindungen enthalten.60,65 Hier vollzog sich der fließende Übergang zur wirklichen ‚Rauch-‘‚ und ‚Fettgerbung‘ (‚Sämischgerbung‘). Diese Verfahren zählen zu den ältesten (bio)chemischen Prozessen, die sich Menschen zu Nutze machten.66 In diesem Zusammenhang von einer frühen ‚Halb-‘ oder ‚Pseudoger- bung‘ zu sprechen,67 scheint daher wenig hilfreich, zumal diese Begriffe bereits Anfang des 20 Jhdts. vor Aufstellung des Konzepts der Makromoleküle (Stau- dinger) geprägt wurden,68 als von der Vernetzung von Polymerketten noch nichts bekannt sein konnte. Sehr viel später werden Pflanzensäfte und Rindenauszüge (‚pflanzliche Gerbung‘, ‚Lohgerbung‘, ‚Rotgerbung‘) oder Mineralsalze wie Alaun (‚Mineralgerbung‘) zum Gerben verwendet (s.u). Die Pflanzengerbung umfasst die Behandlung mit Pflanzensäften oder wässrigen Auszügen aus Rinden und Holz (z.B. von Eichen), Blättern, Wurzeln und Früchten, aber auch z.B. Galläpfeln. Die Alaungerbung ist im Vergleich zu den früheren Methoden we- sentlich aufwändiger, sie kann Tage bis zu Monate dauern. Dies und die notwen- dige Kenntnis von Alaun und seiner Gewinnung bedingte das Auftreten als jüng- ste unter den genannten Gerbungsarten.

Mit der Ankunft des Homo sapiens sapiens in Europa, (ab 40.000 v.h., Au- rignacien, Jungpaläolithikum), zusammenfallend mit dem Verschwinden der letz- ten Neandertaler,69 finden sich die ersten, fassbaren Hinweise eines Kleidungs- stücks. Auf einem figürlichen Halbrelief aus der Geißenklösterlehöhle (Alb- Donau-Kreis) lässt sich ein Lendenschurz erkennen.64 In Sungir (östlich von Moskau) fanden sich in einer Bestattung die frühesten Fragmente von Pelz- und Tierhautbekleidung (Hemd, lange Hose, Fellschuhe, Fellmütze). Die Funde wur-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 den auf ca. 23.000 v.h. datiert.70 In diese Zeit fallen auch die ältesten Methoden, Häute mit Fett (‚Fettgerbung‘) und Räuchern (‚Rauchgerbung‘) haltbar zu ma- chen. Der bislang älteste Fund eines Schuhs (Sandale aus Pflanzenfasern und Le- der) stammt aus der Arnold Research Höhle in Missouri (USA), Datierung auf ca. 5.000 v. Chr.71 In Gräbern der auf die lokale jungsteinzeitliche Periode folgenden oberägyptischen Kupferzeit (Naqada/Negade I, um 4.500-3.500 v.Chr.72) wurden Lederstreifen gefunden.73 Der älteste eurasische Lederschuh stammt aus der Höh- le Areni-1, Armenien, (Neolithikum, ca. 3.500 v.Chr.) (s. Abb. 7).69

Abb. 7: Bislang ältester eurasischer Lederschuh, aus der Höhle Areni-1, Armenien, Neolithikum (ca. 3.500 v.Chr.) (Foto: Welt online 10.06.2010; AFP)

Zur gleichen Zeit (ca. 3.500 v.Chr.) wird in Mesopotamien und Ägypten Pflan- zengerbung praktiziert.66,67,74,75 Die Alaungerbung war in Mesopotamien seit ca. 2.200 v.Chr. und in Ägypten seit dem 2. Jahrtsd. v.Chr. bekannt.76 In Ägypten wurde Alunit (Alaunstein, basisches Kaliumaluminiumsulfat) oder alunithaltige Erden in den Oasen gefunden, abgebaut77 und mit beträchtlichem Aufwand auf- bereitet. Durch Rösten und Auslaugen mit heißem Wasser blieb unlösliche Ton- erde zurück, der Alaun kristallisierte beim Erkalten der Lösungen aus. Plinius d. Ä. (23-79 n.Chr.) beschreibt später einen solchen Prozess in seiner Historia Na- turalis.76,78

Pergament

Obwohl Papyrus das überwiegend genutzte Schriftmaterial im alten Ägypten war, wurde in geringem Ausmaß auch schon auf Pergament geschrieben. Die ältesten

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Funde stammen aus dem Alten Reich (4. Dynastie, ca. 2.700 v. Chr.),79 aber auch aus der späten 21. Dynastie (Anfang des 1. Jahrtsd. v. Chr.) sind Perga- mentschriften bekannt.80

Ferner fanden sich die Perga- mentrollen aus Qumran am Toten Meer (s. Abb. 8). Die frühesten Exemplare wurden mit der Radiokarbonmethode auf einen Zeitraum ab ca. 272 v.Chr. (Mittelwert der metho- dischen Fehlerbereiche) da- tiert.81 Der heutige Name stammt von der griechischen Stadt Pergamon, die ab dem 2. Jhdt. v. Chr. das bedeutendste Abb. 8: Teil der Großen Jesaja-Schriftrolle aus Qum- Zentrum der Herstellung, mit ran, (ca. 125 v.Chr.), Pergament (Foto: The Israel Mu- seum Jerusalem, http://dss.collections.imj.org.il/isaiah) wesentlicher Verbesserung der Erzeugung und zeitweise marktbeherrschendem Handel wurde.82,83 Zur Herstellung werden Schweins-, vor allem aber Kalbs- Ziegen- und Lämmerhäute mit Kalklauge behandelt (gebeizt), enthaart, gespalten, geglättet und sodann unter starker Spannung getrocknet.84 Pergament unterliegt also keinem einfachen Trocknungsprozess, wird aber auch keinem der üblichen Gerbungsverfahren unterworfen. Die Kalklauge dürfte nicht nur der Enthaarung und Spaltung der Lederschichten gedient haben. Auch eine thermoreversible Vernetzung der durch starke Spannung ausgerichteten Kol- lagenfasern über Calciumionen sollte – analog der Bildung von Calciumcaseina- ten bei Kalk-Kaseinfarben85,86 – bewirkt worden sein. Das sehr haltbare, harte, glatte, helle, manchmal sogar durchscheinende Pergament nimmt nur wenig Feuchtigkeit auf. Es kann durch Hitze geglättet bzw. verformt werden, hat also im Gegensatz zu Leder noch gewisse thermoplastische Eigenschaften.87

Papyrus, Papyruskartonage: biopolymere Zellulosefasern Papyrus

Der griechische Name papyros stammt aus dem altägyptischen pa-en-per-aa, sinngemäß „Schreibmaterial aus der Verwaltung des Pharaos“.88 Zur Herstellung von Papyrusbögen wurde das entrindete, faserige Stängelmark der Papyrusstaude (Cyperus papyrus) verwendet. Es besteht hauptsächlich aus Cellulose-Fasern. Das Mark wurde in Streifen geschnitten, breit geschlagen und überlappend ne-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 beneinander gelegt. Darüber wurde eine gleiche, zweite Schicht aufgebracht, je- doch um 90 Grad gedreht. Durch Pressen verklebte der stärkehaltige Zellsaft die Lagen der Doppelschicht. Der so entstandene Papyrusbogen wurde dann mit ei- ner (biopolymeren) Leimlösung bestrichen und nach Glätten, Trocknen und Po- lieren nochmals zu Bahnen von in der Regel 6-10 Papyrusbögen zusammenge- leimt und aufgerollt. Danach konnte ‚der Papyrus‘ beschrieben werden.89 Heute würde man ein solches Material als Verbundwerkstoff in Form eines zweilagig biaxialen Geleges bezeichnen. Papyrus ist gebrauchsempfindlich, da porös und sehr feuchtigkeitsempfindlich. In der Folge wird er brüchig, zerfällt, sodass sich Papyri nur im trockenen Klima Ägyptens und kaum auf griechischem Boden er- halten haben.89 Die frühesten Papyrusfunde in Grabbeigaben werden auf ca. 3.000 v. Chr. datiert (1. Dynastie, Altes Reich).90

Abb. 9: Papyrus ‚Prisse‘ (um 1.800 v. Chr.) (Foto: Bibliothèque Nationale de France)

Erste Papyrusschriften in Buchform (Codices) statt Rollen tauchen um ca. 700 v. Chr. auf (25. Dynastie, Nubierzeit).90 Von Ägypten aus verbreitete sich der Papy- rus über die gesamte antike Welt. Haupthandelsplatz war die altsyrische Hafen- stadt Byblos, daher die griechische Bezeichnung für biblos „Buch“, und Bibel für das Buch der Bücher.90

Papyrus-Kartonage, Papyruskasché

Obwohl Papyrus-Kartonage in Ägypten schon seit dem Mittleren Reich bekannt war ging man in griechisch-ptolemäischer Zeit (323 v. Chr. – 30 n. Chr.) dazu über, gebrauchte Papyri zu rezyklieren. Die unzähligen Verwaltungsakten des alten Pharaonenreiches waren nutzlos geworden, da man zunehmend die demoti- sche Schrift benutzte und die ursprüngliche Schreibweise (hieroglyphisch und hieratisch) nicht mehr verstand. Sodann wurde teilweise Griechisch als Verwal- tungssprache benutzt. Zudem entwickelte sich in heidnisch-römischer Zeit (30 – 380 n. Chr.) das Demotische allmählich zu einer, aus dem Griechischen abgelei- teten, alphabetischen Verwaltungsschrift.91 In den Archiven der Verwaltungsbe- hörden lagerten demnach große Mengen nicht mehr benötigter Papyrushand-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 schriften, die von den Sargfabrikanten en gros als ‚Makulatur‘ („wertlos gewor- denes, beschriebenes‚ beschmutztes, ‚Altpapier‘“) eingekauft wurden.

Für Mumiensärge und -masken wurden zerrisse- ne, zerschnittene und in Wasser eingeweichte Papyrusstücke in sechs bis acht Lagen gepresst oder über einen Formkern zusammengeklebt, bemalt, evtl. blattvergoldet und mit Glas- und Fayence-Einlagen verziert (s. Abb. 10).92,93 Obwohl teilweise in Serie gefertigt, kosteten Masken immer noch den halben bis zweiein- halbfachen monatlichen Durchschnittslohn eines Arbeiters.94 Man kann Papyruskartonage als frü- hen Schicht-Verbundwerkstoff bezeichnen. Hier wurde vielleicht nicht gerade schon ‚Umwelt- schutz’ praktiziert, man betrieb aber in großem Ausmaß ein erstes, sinnvolles, wirtschaftliches Wiederverwertungsverfahren für den ursprüng- Abb.10: Mumienmaske aus Papy- lich kostbaren Papyrus der unzähligen Verwal- ruskartonage (Papyruskasché) (ptolemäisch, 3. Jhdt. v. Chr.) (Fo- tungsakten des alten Pharaonenreiches. to: mannaismayaadventure)

Birkenpech: biopolymeres Klebemittel

Der Ausdruck Pech kommt aus dem Griechischen píssa/pítta „allgemein: abtrop- fende Flüssigkeit, hier: flüssiger Teer“ bzw. pitos „festes Harz“,95 über römisch pix, althochdeutsch beh96 (englisch pitch und französisch poix). Pech wurde zu- meist durch sauerstofffreie Verschwelung harzhaltiger Hölzer (Fichten etc.) und Rinden (Birken) unter Luftausschluss bei 340-400 °C gewonnen. Beim Abkühlen verfestigt sich das Produkt zu Pech. Alternativ kann es auch aus Torf, Braun- bzw. Steinkohle als Destillationsrückstand, neben den entsprechenden, flüssigen, teerigen Fraktionen (Holzteer, Steinkohlenteer) gewonnen werden (‚Schwarzes Pech‘, ‚Schiffspech‘).97 Speziell Birkenpech wurde schon sehr früh hergestellt und war als Klebemittel besonders geeignet, da es gut erhärtet.

Birkenpech ist ein komplexes Gemisch aus nieder- und hochmolekularen Estern von hauptsächlich tripterpenoiden Diolen, z.B. Betulin (Markersubstanz) mit aliphatischen Säuren.98 Bereits vom Homo neanderthalensis wurde Birkenpech nach einem ‚bewusst‘ entwickelten Verfahren aus Birkenrinde hergestellt und für

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Steinwerkzeuge verwendet. Dabei wurden verschiedene Steinabschläge mitein- ander verklebt (s. Abb. 11). Entsprechende Funde wurden in Campitello/Bucine (Toscana, nordöstlich von Siena) ausgegraben, untersucht und in die Zeit um ca. 220.000 v.h.: (spätes Frühpaläolithikum) datiert.99

Birkenpech ist somit der älteste bis- lang aufgefundene, künstlich herge- stellte, biopolymere Werkstoff (‚Kunststoff‘) der Menschheitsge- schichte. Das Verfahren ist ohne die heute gebräuchlichen technischen Hilfsmittel sehr schwer zu beherr- schen, wie Versuche im Museumsdorf Düppel in Berlin gezeigt haben.100 Statt wie dort Keramikgefäße, könnten zuerst Gruben als ‚Retorten‘ verwen- det worden sein.101 Neben der Befähi- gung zu begrifflichem Denken und zielgerichtetem Handeln, ist auch die Fähigkeit, komplizierte Wissensinhalte weiterzugeben, notwendig. Da sich Abb. 11: Steinwerkzeuge, mit Birkenpech ver- dies mit Gesten allein nicht ausdrük- klebt, spätes Frühpaläolithikum,; Fundort: ken ließe, kann man daraus folgern, Campitello/Bucine, Valdarno-Tal bei Florenz (Foto99) dass die Neandertaler auch eine Spra- che besessen haben könnten.102,103

Weitere Funde von Steinwerkzeugen mit Birkenpechresten stammen aus Inden- Altdorf (Rheinland).104,105 Ihr Alter wird mit 120.000 v.h. angegeben (Mittelpaläo- lithikum, Moustérien). Bei Ausgrabungen in Königsaue (Mitteldeutschland) fand man Stücke ausschließlich aus Birkenpech. Sie wurden geologisch- stratigraphisch auf 80.000 v.h. datiert (die Radiokarbonmethode gibt in diesen Altersbereichen unkorrekte Werte).102,103,106,107 Auch hier sollte es sich bei den Herstellern um Neandertaler (evtl. eine frühe, zeitlich isolierte Homo sapiens- Population108) handeln. Die Pechstücke wurden zum Fixieren eines Gegenstandes (z.B. Steinspitze) an einen Holzschaft verwendet, dessen Abdruck in Abb. 12c zu sehen ist. Zudem sind auf einem der Birkenpechstücke (s. Abb.12b) in warmem, plastischem Zustand eingedrückte Haut-Papillarleisten erhalten, kein Fingerab- druck, sondern wahrscheinlich der des Handballens unter dem kleinen Finger.

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c

Abb. 12: Stücke aus Birkenpech, Fundort Königsaue, Homo neanderthalensis (Mittelpaläoli- thikum, 80.000 v.h.) (Foto: LDA Sachsen-Anhalt, Jural Liptàk; WDR)

Die ‚Technologie‘ der Birkenpech-Herstellung und -Verwendung wurde jeden- falls später von dem modernen Homo sapiens sapiens (in Europa ab 45.000 v.h.109) übernommen. Dies zeigen Funde von Steinwerkzeugen mit Birkenpech- Anhaftungen aus Les Vachons, Frankreich (Jungpaläolithikum, spätes Au- rignacien, ca. 31.000–28.000 v.h.).101

In Altscherbitz bei Schkeuditz/Sachsen fanden sich aus der frühen Jungsteinzeit Gefäße der Bandkeramik (5.100 v.Chr.), die mit Birkenpech verklebt, ummantelt und verziert sind (s. Abb. 13).110,111 Birkenteer und Birkenpech wurden in Schweizer Pfahlbau-Siedlungen (Jungneolithikum, 3.900-3.500 v.Chr.) zum Kle- ben, als Gerbstoff und als Desinfektionsmittel verwendet.112 Ötzi‘, der ‚Eismann‘ aus der späten Jungsteinzeit/Kupferzeit (Spätneolithikum, ca. 3.250 v.Chr.), be- saß mit Birkenpech an die Schäfte verklebte Pfeilspitzen und Kupferbeile (s. Abb. 14).113 In der älteren Frühbronzezeit (2.200-1.900 v.Chr.) findet sich eine braune Masse aus Birkenpech, Harz und evtl. Bernstein als Einlege-Verzierung von Knöpfen und Schwertern.114,115

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Abb. 13: Gefäß, Bandkeramik, mit Birkenpech Abb. 14: ‚Ötzis‘ Pfeile, mit Birken- verziert, Fundort Altscherbitz (Sachsen), (Früh- pech verklebt, (Spätneolithi- neolithikum, 5.100 v.Chr.) (Foto: Landesmuseum kum/Kupferzeit, ca. 3.250 v.Chr.) für Vorgeschichte, Dresden) (Foto: ARD)

Kautschuk, Kaugummi (Chicle): biopolymere cis-1,4-Polyisoprene Kautschuk

Der Name ‚Kautschuk‘ leitet sich von der indianischen Bezeichnung Kaa-ochoe oder cahuchu „weinender Baum“ ab.116,117 Der Ausdruck ‚Gummi‘ stammt aus dem Ägyptischen und ist über das Griechische und Latein in die europäischen Sprachen gelangt.118 Hiermit werden ursprünglich vielerlei Klebe- und Gelierstof- fe bezeichnet, wie z.B. Gummi arabicum, die aber nicht zu den ‚Elastomeren‘ gezählt werden. Die Bezeichnung ‚Gummi‘ ist zwar heute noch weit verbreitet, aber eigentlich nicht korrekt.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Erstmals wurde Kau- tschuk um ca. 1.600 v. Chr. in der mittelameri- kanischen La-Venta- Kultur von den ‚Olme- ken‘ (Nahuatl/Aztekisch: „Leute aus dem Kau- tschukland“) verwendet. Aus dieser Zeit fanden sich in der Ausgrabungs- stätte von Manatí (Mexi- ko) zwölf Bälle aus Voll- Kautschuk, die mit der Radiokarbonmethode Abb. 15: Voll-Kautschukball aus der Ausgrabungsstätte Ma- nati (Mexiko) (Olmeken, ca. 1.600 v. Chr.) (Foto: Kenneth datiert wurden (s. Abb. Garrett, National Geographic) 15). Der erste, einfache Ballspielplatz der Olme- ken wurde in Chiapas (Mexiko) gefunden und auf 1.400 v. Chr. datiert.119 Die Mayas (ca. 800 v. Chr. - 950 n. Chr.120,121) und andere Völker übernahmen die Herstellung und den Gebrauch von Kautschuk. Die ältesten Maya-Funde stam- men aus der Zeit um 300 v. – 250 n. Chr. (s. Abb. 16a). Neben Bällen wurden auch Kautschukbänder zum Umwickeln und Fixieren von Steinaxtköpfen an Holzstilen, Kautschuk-Figürchen, Flaschen, Schläuche und Kleidungsstücke her- gestellt.119,122 Ab dem 3. Jhdt. n. Chr. bauten die Mayas Ballspielplätze aus Stein. Solche regelrechten ‚Stadien‘ wurden zu Hunderten in vielen Orten der mittel- amerikanischen Halbinsel Yucatan archäologisch freigelegt (s. Abb. 16c). Es gab verschiedene Arten von präkolumbianischen Ballspielen: Schlagball, Handball und ‚Hüftball‘. ‚Hüftball‘(Mayasprache: pitzi oder pok-ta-pok) wurde mit dem Körpereinsatz von Arm, Schulter, Hüfte, oder Gesäß (Hand, Fuß oder Kopf wa- ren nicht erlaubt) gespielt.123 Das Tor war ein vertikaler Steinring, angebracht in beträchtlicher Höhe (s. Abb. 16 d), analog dem horizontalen Ring beim heutigen Basketball. Es kämpften Mannschaften verschiedener Städte, Fürstentümer bzw. Staaten miteinander.124 Alles wurde begleitet von Festspielen, Märkten, Musik, Wetten etc., wie in zahlreichen Darstellungen auf Reliefs, Wand- und Keramik- malereien (s. Abb. 16b),124 aber auch in erhaltenen Manuskriptcodices überliefert wurde.123,124 Für die präkolumbianischen Kulturen waren Ballspiele so etwas wie eine Mischung aus Olympischen Spielen im antiken Griechenland, römischen Gladiatorenkämpfen und heutigen Fußballmeisterschaften. Darüber hinaus gab es einen sehr wichtigen kultisch-religiösen, zeremoniellen Hintergrund, manchmal verbunden mit der Opferung unterlegener Spieler (Feinde, Sklaven).122,123,125

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 D E

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 hergestellten Kautschukobjekte ihre typische Elastizität. Unbehandelter, einge- trockneter Latex-Rückstand ist lediglich spröde und eher bröselig.119

Über die Azteken (ca. 1350-1521,127 Hüftballspiel in Nahuatl/Aztekisch: ulama) und die spanischen Entdecker bzw. Konquistadoren gelangte die erste Kenntnis des Materials Anfang 16. Jhdt. nach Europa.128 Der Historiker Antonio de Her- rera Tordesillas berichtet ab 1601,129 dass Kolumbus 1495 während seiner Zwei- ten Reise Einwohner Hispaniolas (Haiti) bei einem Wettkampf mit dunklen, ela- stischen Bällen beobachtete, die „besser sprangen als kastilianische Windbäl- le“.122 1522/23 sammelte Pietro Martire d’Anghiera (Petrus Martyr von Anghie- ra) mündliche und schriftliche Augenzeugenberichte über die Entdeckung der Neuen Welt130 und lieferte den ersten Bericht über den Gebrauch elastischer Kau- tschuk-Bälle bei den Azteken und anderen Einheimischen.131 Ein weiterer früher Bericht über die Spiele mit Kautschukbällen stammt aus dem Jahre 1535 von dem Historiker Gonzalo Férnandez de Oviedo y Valdés,132 der 14-jährig an der Ersten Reise des Kolumbus teilnahm und später noch mehrere Male selbst in der Neuen Welt war.122,133 Hinsichtlich der Materialgeschichte kann man insgesamt feststellen, dass im präkolumbianischen Amerika Kautschukelastizität durch Vernetzung bereits sehr lange vor der Erfindung der ‚Vulkanisation‘ (Goodyear, 1839134) genutzt wurde.

Kaugummi (Chicle)

Der Milchsaft (Latex) des ‚Breiapfelbaumes‘ (‚Sapodilla-Baum‘, Manilkara za- pote, Sapotaceae) enthält zu 20-40% einer gummiartigen Substanz. Sie wiederum besteht zu ca. 20% aus cis-1,4-Polyisopren mit einer durchschnittlichen Molmas- se von ca. 130.000 Da. Diese ist damit etwas größer als die Molmassen, die im Latex des klassischen Kautschukbaums Hevea brasiliensis gefunden werden (ca. 55.000-100.000 Da).135 Weiterhin sind noch zu 50-60% Harze und ca. 17% Zuk- ker und Stärke enthalten.136 Sapodilla-Latex wurde schon von den Mayas (ca. 800 v.Chr. – 950 n.Chr.120,121) genutzt.137 Durch Erhitzen gewannen sie die Kau- tschuk-Masse, die dann zerkleinert, mit Wasser gekocht und gereinigt wurde. Nach Hinzufügen von Aromastoffen und Harzen ließ sie sich als Kaugummi verwenden.136,138 Der dafür im Spanischen noch heute gebräuchliche Name ‚chic- le‘ stammt aus der Maya-Sprache: tzicte bzw. aus dem Nahuatl/Aztekischen: tzic- tli. Die Mayas kauten die Substanz aus mundhygienischen Gründen, schrieben ihr aber auch Durst und Hunger stillende Wirkung zu. Bei den Azteken (um 1350- 1521127) war die Verwendung sozial streng geregelt: meistens durften nur Frauen Kaugummi kauen, dann aber keinesfalls in der Öffentlichkeit.137 Das Kaugummi-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 kauen wurde zwar an die gesamte Welt weitergegeben, aber augenscheinlich nicht in solch strikt geregelter Form.

Zusammenfassung

Fossile natürliche Polymere sind bereits vor Millionen von Jahren entstanden. Verschiedene menschliche Spezies benutzten sehr früh biopolymere Materialien. Ohne sie wäre die Entwicklung menschlichen Lebens in seiner Vielfalt nicht möglich gewesen. Solche frühen, natürlichen bzw. aus der Natur gewonnenen Polymere wurden als Formmassen, Fasern und Klebstoffe für allerlei Dinge des täglichen Gebrauchs wie Bekleidung, Geräte, Werkzeuge, Schmuck etc. verwen- det. Bereits ab dem mittleren Abschnitt der Altsteinzeit (Mittelpaläolithikum) setzt der Gebrauch von z.B. Leder, Birkenpech, Bernstein ein. Später kamen Per- gament, Papyrus und Kautschuk hinzu. Mit diesen vor- und frühgeschichtlichen, polymeren Materialien entwickelten sich erstaunliche, frühe Techniken hinsicht- lich Gewinnung und Verarbeitung, gefolgt von Gebrauch und Handel. Dies bilde- te – zusammen mit der frühen Kunde über natürliche Farben, Binde- und Heilmit- tel – den allerersten menschlichen Erfahrungsschatz, auf dem sehr viel später dann auch die chemische Technologie und Wissenschaft aufbauen konnte.

Summary

Fossil polymers have been formed millions of years ago by nature. Different hu- man species used very early biopolymeric materials. Without them, developing of human life would not have been possible in its diversity. Such natural or naturally obtained polymers were used as rigid or ductile materials, fibres and adhesives for numerous items of daily life, such as clothing, tools, adornment etc. Already since the middle palaeolithic, the use of leather, birch pitch, amber etc. becomes evident. Later on, parchment, papyrus and caoutchouc were known. With these polymeric materials from pre- and early history, astonishing techniques emerged with respect to exploitation and production, followed by use and trade. This formed – together with the early knowledge of natural dyes, binding agents and elixirs – the first human treasure trove of experience, which was in principle the base of much later arising chemical technology and science.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Mein Dank gilt Herrn Dipl. Red. (FH) Dietmar Linke, Restaurierungsatelier Linke, Berlin und Herrn Andreas Kurzweil, Museumsdorf Düppel in der Stiftung Stadtmuseum Berlin, für ihre wertvollen Informationen, die letzendlich die Abfassung dieses Artikels initiierten.

1 W. Gothan, „Kautschuk in der Braunkohle“, Zeitschrift für Gewinnung und Verwertung der Braunkohle, 38 (1924), S. 713-715. 2 T. Hartig, „Beiträge zur Geschichte der Pflanzen und zur Kenntnis der norddeutschen Braunkohlenflora“, Botanische Zeitung, 6 (1848), S. 166-172. 3 H. Ziervogel, „Die Lagerungsverhältnisse des Tertiärs südwestlich von Cöthen im Herzog- tum Anhalt“, Jahrbuch der Königlich Preußischen Geologischen Landesanstalt 31, Teil 1, Heft 1 (1910), S. 37-103, hier auf S.58. 4 E. Kindscher, „Über ein Vorkommen von Kautschuk in mitteldeutschen Braunkohlela- gern“, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, 57 (1924), S. 1152-1157. 5 Carl Dietrich Harries, Untersuchungen über die natürlichen und künstlichen Kautschukar- ten (Berlin 1919), S. 48-101. 6 Hermann Staudinger, „Über die Autoxydation organischer Verbindungen, V) Über die Konstitution der Ozonide“, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, 58 (1925), S. 1088-1096. 7 Paul G. Mahlberg, Manfred Störr, „Fossil Rubber in Brown Coal Deposits: An Overview“, Zeitschrift für geologische Wissenschaften, 17 (1989), S. 475-488. 8 Volker Wilde, Walter Riegel, „”Affenhaar” revisited – Facies context of in situ preserved latex from the Middel eocene of Central “, International Journal of Coal Geology, 83 (2010), S. 182-194. 9 Günter Krumbiegel, Barbara Kosmowska-Ceranowicz, „Fossile Harze aus der Umgebung von Halle (Saale) in der Sammlung des Geiseltalmuseums der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg“, Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Halle, XXXXI (1992), S. 5-35. 10 Arnold von Lasaulx, „Mineralogisch-krystallographische Notizen. I. Siegburgit, ein neues fossiles Harz“, Neues Jahrbuch für Mineralogie, Geologie und Pälontologie (1875), S. 128- 133. 11 Norbert Vávra, Chemie des Baltischen und Bitterfelder Bernsteins: Methoden, Möglichkei- ten, Resultate, hrsg. von Jochen Rascher, in: Bitterfelder Bernstein versus Baltischer Bern- stein – Hypothesen, Fakten, Fragen – II. Bitterfelder Bernsteinkolloquium, Deutsche Ge- sellschaft für Geowissenschaften (Bitterfeld 2008), S. 69-76. 12 H. Klinger, R. Pitschki, "Ueber den Siegburgit", Berichte der Deutschen Chemischen Ge- sellschaft, 17 (1884), S. 2742-2746. 13 I. Pastorova, T. Weeding, J. J. Boon, „3-Phenylpropanylcinnamate, a copolymer unit in Siegburgit fossil resin: a proposed marker for the Hammamelidaceae“, Organic Geochemis- try, 29 (1998), S. 1381-1393. 14 Roland Fuhrmann, Rolf Borsdorf, „Die Bernsteinarten des Untermiozäns von Bitterfeld“, Zeitschrift für Angewandte Geologie, 32 (1986), S. 309-316.

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15 C. Bergemann, „Ueber ein fossiles Harz aus der Braunkohle (Krantzit)“, Journal für Prakti- sche Chemie, 76 (1859), S. 65-69. 16 Christoph Lühr, „Charakterisierung und Klassifikation von fossilen Harzen“, Dissertation Universität Duisburg-Essen (2004), S. 69-73. 17 Joseph B. Lambert, Jorge A. Santiago-Blay, Ken B. Anderson, „Chemischer Fingerabdruck von fossilen Harzen und rezenten Pflanzenexsudaten“, Angewandte Chemie, 120 (2008), S. 9750-9760. 18 Barbara Kosmowska-Ceranowicz, Tomasz Konart, Spuren des Bernsteins, Ausstellungska- talog des Naturkunde Museums (Bielefeld 1991). 19 Katarzyna Kwiatkowska, Die Bernsteinbearbeitung in der Danziger Region in der Vor- und Frühgeschichte (bis zum 13. Jahrhundert), hrsg. von Gilbert H. Gornig, in: Deutsch- polnische Begegnung zu Wissenschaft und Kultur, Societas Physicae Experimentalis, Schriftenreihe der Danziger Naturforschenden Gesellschaft, 8 (2005), S. 56-65. 20 Lühr, „Charakterisierung“, S. 181. 21 Ulf Erichson, Wolfgang Weitschat, Baltischer Bernstein. Entstehung – Lagerstätten – Ein- schlüsse, Ausstellungskatalog Deutsches Bernsteinmuseum (Ribnitz-Damgarten 2008). 22 Lühr, „Charakterisierung“, S. 4 23 Rudolf Hänsel, Konstantin Keller, Horst Rimpler, Georg Schneider (Hrsg.), Hagers Hand- buch der Pharmazeutischen Praxis (Berlin 1992), Bd 4, S. 128. 24 Ernst Ludwig Schubarth, Elemente der technischen Chemie, hrsg. von August Rücker, 2. Auflage (Berlin 1835), Bd 2, S. 362-364. 25 Christa Stahl, Mitteleuropäische Bernsteinfunde von der Frühbronze bis zur Frühlatènezeit (Dettelbach 2004), S. 14. 26 Ingo Clausen, „Neue Untersuchungen an späteiszeitlichen Fundplätzen der Hamburger Kultur bei Ahrenshöft, Kr. Nordfriesland (ein Vorbericht)“, Archäol. Nachrichten aus Schleswig-Holstein, 8 (1997), S. 8-49. 27 Ingo Clausen, „Pioniere in unendlicher Tundra. Stationen der Hamburger Kultur bei Ahrenhöft, Kreis Nordfriesland (Schleswig-Holstein, Deutschland)“, 46. Tagung der Hugo Obermaier-Gesellschaft (Greifswald 2004). 28 Marie-Julia Weber, Ingo Clausen, Rupert A. Housley, Christopher E. Miller, Felix Riede, Hartmut Usinger, „New information on the Havelte Group site Ahrenshöft LA 58D (Nord- friesland, Germany) – Preliminary results of the 2008 fieldwork“, Quartär, 57 (2010), S. 7- 24. 29 Zbigniew Bagniewski, Maglemose Kultureinflüsse in Mitteleuropa, hrsg. von Pierre M. Vermeersch, Philip Van Peer, Contributions to the Mesolithic in Europe: Papers Presented at the 4th Intern. Sympos. The Mesolithic Europe (Leuven 1990), S. 345-353. 30 Stephan Veil, Klaus Breest, „Figurenfragmente aus Bernstein vom Federmesser-Fundplatz Weitsche bei Lüchow, Ldkr. Lüchow-Dannenberg (Niedersachsen)“, Archäol. Korrespon- denzblatt, 25 (1995), S. 29-44.

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31 Simon Benne, „Der älteste Elch der Welt“, Hannoversche Allgemeine, 22.09.2012. URL: http://www.haz.de/Nachrichten/Kultur/Uebersicht/Der-aelteste-Elch-der-Welt 32 Esteban Álvarez-Fernández, „Die Schmuckgegenstände der jungpaläolithischen und meso- lithischen Fundplätze des kantabrischen Gebiets und des Ebro-Tals im europäischen Kon- text“, Archäologische Informationen, 30 (2007), S. 127-131. 33 „Stolper Bernsteinbär auf Reisen“, pommerschergreif (2003). URL: http://www.blog.pommerscher-greif.de/tag/bar 34 Stahl, Bernsteinfunde, S. 12 35 Franz Matthes, Willibald von Schulenburg, „Geschnitzte Thierfigur aus Bernstein“, Ver- handlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte, Sit- zung am 15. October 1881, Zeitschrift für Ethnologie, 13 (1881), S. 297-298. 36 Otto-Friedrich Gandert, Das Woldenberger Bernsteinpferd, Heimatkalender für den Kreis Friedeberg/Nm (1925), S. 17-26. 37 Bildindex der Kunst und Architektur, Museum für Vor- und Frühgeschichte, Inv.-Nr. I f 6646; Foto Marburg, Aufnahme-Nr. 1.198.333 URL: http://www.bildindex.de/obj20571725.html#|0 38 Stahl, Bernsteinfunde, S. 25. 39 Stahl, Bernsteinfunde, S. 32-35. 40 Richard Hennig, Terra incognitae, hrsg. von E. J. Brill (Leiden 1944), Bd 2, S. 363-372. 41 Publius Cornelius Tacitus, Aestier Sitonen (in Übersetzung), „Germania“, Caput XLV. 42 Karl Schneider, Zur Ethymologie von ae. eolhsand ‚Bernstein‘ und elehtre ‚Lupine‘ im Lichte bronzezeitlichen Handels, hrsg. von Günter Heintz, Peter Schmitter, Collectanea philologica: Festschrift für Helmut Gipper zum 65. Geburtstag (Baden-Baden 1985), S. 676-682. 43 Friedrich Konrad Beilstein, Friedrich Richter, Beilsteins Handbuch der Organischen Che- mie, Erstes Ergänzungswerk, 4. Auflage (Berlin 1928), Bd 6, S. 240. 44 Luca Tombolato, Ekaterina E. Novitskaya, Po-Yu Chen, Fred A. Sheppard, Joanna McKittrick, „Microstructure elastic properties and deformation mechanisms of horn kera- tin“, Acta Biomaterialia, 6 (2010), S. 319-330. 45 Elisabeth Schmid, Atlas of Animal Bones/Knochenatlas (Amsterdam 1972), S. 15-18. 46 Marianne Erath, Studien zum mittelalterlichen Knochenschnitzerhandwerk, Dissertation Philosophische Fakultät Universität Freiburg im Breisgau (1996), Bd 1, S. 49. 47 David S. Whitley (Hrsg.), Handbook of Rock Art Research (Walnut Creek, CA 2001), S. 464. 48 Carlos Calvet, Versunkene Kulturen der Welt – Das Kompendium., 1. Auflage (Norderstedt 2005), S. 59-60. 49 Götz Pochat, BildZeit – Eine Kunstgeschichte der vierten Dimension (Wien 1996), S. 30.

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50 Mihriban Özbaşaran, The Neolithic on the Plateau, hrsg. von Sharon R. Steadman, Gregory McMahon, The Oxford Handbook of Ancient Anatolia (Oxford 2011), S. 99–124, hier S. 114. 51 Südtiroler Archäologiemuseum, FAQs Ötzi, Nr. 9. URL: http://www.iceman.it/de/faqs-oetzi-de 52 Jörg Schibler, „Knochen, Zahn, Geweih und Horn: Werkstoffe der prähistorischen und historischen Epochen“, Nova Acta Leopoldina, NF 94 (2006), S. 45-63. 53 Bernhard Maier, Die Kelten: Ihre Geschichte von den Anfängen bis zur Gegenwart, 2. Auf- lage (München 2003), S. 36. 54 Dieter Bartetzko, „Großereignis in Stuttgart. Im Wunderland der Kelten“, Frankfurter All- gemeine 20. 09. 2012. 55 Sabine Deschler-Erb, „Biologische Rohstoffe und römisches Handwerk“, Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte, 65 (2008), S. 17-22. 56 Joris Peters, Römische Tierhaltung und Tierzucht (Rahden/Westf. 1998), S. 254. 57 Valerie Michael, Handbuch Lederarbeiten (Hannover 2004), S. 10-12. 58 Hans Günther Hirschberg, Handbuch Verfahrenstechnik und Anlagenbau: Chemie, Technik und Wirtschaftlichkeit (Berlin 1999), S. 460. 59 Turmunk Togmid, Über die Wirkung und das Wesen der Schwefelgerbung von Hautkol- lagen, Dissertation, Fakultät f. Maschinenwesen, TU Dresden (Dresden 2005), S. 8-19. 60 Wolff Graulich, Kaffee, Käse, Karies … Biochemie im Alltag, hrsg. von Jan Koolman, Hans Moeller, Klaus-Heinrich Röhm (Weinheim 2009), S. 330-347. 61 Jürgen-Hinrich Fuhrhop, Tianyu Wang, Sieben Moleküle (Weinheim 2009), S. 200. 62 Gerhard Schröder, Das Sammeln, Konservieren und Ausstellen von Wirbeltieren (Berlin 1936), S. 47. 63 Thomas Litt, Karl-Ernst Behre, Klaus-Dieter Meyer, Hans-Jürgen Stephan und Stefan Wansa, „Stratigraphische Begriffe für das Quartär des norddeutschen Vereisungsgebiete“, E&G Eiszeitalter und Gegenwart Quaternary Science Journal, 56 (2007), S. 7-65. 64 Ernst Probst, Rekorde der Urmenschen: Erfindungen, Kunst und Religion (Norderstedt 1992), S. 58-59. 65 Andreas Hahn und Alexander Ströhle, „Prävention degenerativer Erkrankungen: w-3 Fett- säuren“, Chemie in unserer Zeit, 38 (2004), S. 310-318. 66 Manfred Reitz, Auf der Fährte der Zeit. Mit naturwissenschaftlichen Methoden vergangene Rätsel entschlüsseln (Weinheim 2003), S. 188. 67 Klaus Volke, Chemie im Altertum: unter besonderer Berücksichtigung Mesopotamiens und der Mittelmeerländer (Freiberg 2009), S. 138-152. 68 R. Lauffmann, „Die neueren Gerbtheorien“, Kolloid-Zeitschrift, 17 (1915), S. 37-44.

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69 Olaf Jöris, Martin Street, Hartwig Löhr, Frank Sirocko, Das Aurignacien – erste anatomisch moderne Menschen in einer sich rasch wandelnden Umwelt, hrsg. von Frank Sirocko, Wet- ter, Klima, Menschheitsentwicklung. Von der Eiszeit bis ins 21. Jahrhundert (Darmstadt 2009), S. 71-76. 70 Emil Hoffmann, Lexikon der Steinzeit, Neue Auflage (Nordenstedt 2012), S. 412. 71 Ron Pinhasi, Boris Gasparian, Gregory Areshian, Diana Zardaryan, Alexia Smith, Guy Bar- Oz, Thomas Higham, „First Direct Evidence of Chalcolithic Footwear from the Near East- ern Highlands“, PLOS ONE, 5 (2010), S. e10984. 72 Hans Georg Gundel, Horst Callies, Der alte Vordere Orient, hrsg. von Reinhard Elze, Kon- rad Repgen, Studienbuch Geschichte – Eine europäische Weltgeschichte (Stuttgart 1974), Bd 1, S. 32. 73 Mladen Tomorad, „Evolution of ancient Egyptian funerary architecture from the Badarian culture until the end of the Old Kingdom“, Radovi, 38 (2006), S. 13-27. 74 Ullmanns Enzyklopädie der technischen Chemie (München 1960), Bd 11, S. 551. 75 Albert Neuburger, Die Technik des Altertums (Leipzig 1919), Neuauflage (Leipzig 1995), S. 79-80. 76 Georg Schwedt, Goethe als Chemiker (Heidelberg, Berlin 1998), S. 28. 77 Renate Germer, Die Textilfärberei und die Verwendung gefärbter Textilien im Alten Ägyp- ten, Ägyptologische Abhandlungen (Wiesbaden 1992), Bd 53, S. 69. 78 Harald Othmar Lenz, Mineralogie der alten Griechen und Römer (Gotha 1861), S. 132-133. 79 Michael L. Ryder, The and History of Parchment, hrsg. von Peter Rück, Perga- ment: Geschichte, Struktur, Restaurierung, Herstellung (Sigmaringen 1991), S. 25-35. 80 Karl Jansen-Winkeln, Inschriften der Spätzeit, Teil I: Die 21. Dynastie (Wiesbaden 2007), S. 261. 81 A. J. Timothy Jull, Douglas J. Donahue, Magen Broshi, Emanuel Tov, „Radiocarbon Da- ting of Scrolls and Linen Fragments from the Judean Desert“, Radiocarbon, 37 (1995), S. 11-19. 82 Johann Georg Krünitz, Oekonomisch-technologische Encyklopaedie oder allgemeines Sy- stem der Staats- Stadt- Haus- u. Landwirthschaft und der Kunst-Geschichte (Berlin 1808), Bd 108, S. 446-513. 83 Leo Santifaller, Beiträge zur Geschichte der Schreibstoffe im Mittelalter: mit besonderer Berücksichtigung der päpstlichen Kanzlei (Graz 1953), Bd. 1, S. 78. 84 Schubarth, Elemente, S. 642-644. 85 Alfred Töpel, Chemie und Physik der Milch, 1. Auflage ( 2004), S. 266-267. 86 Velson Horie, Materials for Conservation (London 2010), S. 234-240. 87 Otto Ludwig, Geschichte des Schreibens, Von der Antike bis zum Buchdruck (Berlin 2005), Bd 1, S. 91.

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88 Helmut Altenmüller, Einführung in die Hieroglyphenschrift, 2. Auflage (Hamburg 2010), S. 67. 89 Marion Janzin, Joachim Günter, Das Buch vom Buch: 5000 Jahre Buchgeschichte, 3. Auf- lage (Hannover 2007), S. 25-38. 90 Harald Haarmann, Geschichte der Schrift, 4. Auflage (München 2011), S. 62-69. 91 Friedhelm Hoffmann, Ägypten – Kultur und Lebenswelt in griechisch-römischer Zeit (Ber- lin 2000), S. 25-89. 92 Hannelore Kischkewitz, Mumienhülle der Djet-Mut-ius-Anch, hrsg. von Karl-Heinz Priese, Ägyptisches Museum (Mainz 1991), S. 212. Hannelore Kischkewitz, Mumienauflagen des Hor, hrsg. von Karl-Heinz Priese, Ägypti- sches Museum (Mainz 1991), S. 214-215. 93 Datenträger Mumienmasken. Die Rückgewinnung antiker Papyri, Begleitbuch zur Ausstel- lung im Ägyptischen Museum (München 2006). 94 Kischkewitz, Mumienmaske in Priese, Ägyptisches Museum, S. 199. 95 Johann Gottlob Schneider, Anmerkungen und Erläuterungen über die Eclogas Physicas (Jena, Leipzig 1801), S. 320-330. 96 Konrad Duden, Günther Drosdowski, Paul Grebe, Etymologie, Der Große Duden (Mann- heim 1963), Bd 7. 97 Schubarth, Elemente, S. 28-29. 98 Stephanie N. Dudd, Richard P. Evershed, „Unusual Triterpenoid Fatty Acyl Esters Compo- nents of Archaeological Birch Bark Tars“, Tetrahedron Letters, 40 (1999), S. 359-362. 99 Paul Peter Anthony Mazza, Fabio Martini, Benedetto Sala, Maurizio Magi, Maria Perla Colombini, Gianna Giachi, Francesco Landucci, Cristina Lemorini, Francesca Modugno, Erika Ribechini, „A new Palaeolithic discovery: tar-hafted stone tools in a European Mid- Pleistocene bone-bearing bed“, Journal of Archaeological Science, 33 (2006), S. 1310- 1318. 100 Andreas Kurzweil, Dieter Todtenhaupt, „Destillatio per Descensum“, Archeologia Polski, 37 (1992), S. 241-264. 101 Robert Dinnis, Alfred Pawlik, Claire Gaillard, „Bladelet cores as weapon tips? Hafting residue identification and micro-waer analysis of three carinated burins from the late Au- rignacian of Les Vachons, France“, Journal of Archaeological Science (2009), S. 1-13. 102 Johann Koller, Ursula Baumer, Dietrich Mania, „High-Tech in the Middle Palaeolithic: Neandertal-Manufactured Pitch Identified“, European Journal of Archaeology, 4 (2001), S. 385-397. 103 Dietrich Mania, „Der Neandertaler hatte Pech“, Uni-Journal (2002), URL: http://www2.uni-jena.de/journal/02jour05/forschung_1.htm. 104 Alfred F. Pawlik, Jürgen P. Thissen, „Hafted armatures and multi-component tool design at the Micoquian site of Inden-Altdorf, Germany“, Journal of Archaeological Science, 38 (2011), S. 1699-1708.

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105 Alfred F. Pawlik, Jürgen Thissen, „The ‚Palaeolithic Prospection in the Inde Valley‘ Pro- ject“, E&G Quarternary Science Journal, 60 (2011), S. 66-77. 106 Johann Koller, Ursula Baumer, Dietrich Mania, Pitch in the Palaeolithic – Investigations of the Middle Palaeolithic „resin remains“ from Königsaue, hrsg. von Günther A. Wagner, Dietrich Mania, Frühe Menschen in Mitteleuropa – Chronologie, Kultur, Umwelt (Aachen 2001), S. 99-112. 107 Judith M. Grünberg, „Middle Paleolithic birch-bark pitch“, Antiquity, 76 (2002), S. 15-16. 108 Spencer Wells, The Journey of Man – A Genetic Odyssey (New Jersey 2002), S. 98. 109 Stefano Benazzi, Katerina Douka, Cinzia Fornai, Catherine C. Bauer, Ottmar Kullmer, Jiři Svoboda, Idikó Pap, Francesco Mallegni, Priscilla Bayle, Michael Coquerelle, Silvana Condemni, Annamaria Ronchitelli, Katerina Harvati, Gerhard W. Weber, „Early dispersal of modern humans in Europe and implications for Neanderthal behaviour“, Nature, 479 (2011), S. 525-529. 110 Rengert Elburg, Dietrich Hakelberg, Harald Stäuble, Ulf Büntgen, “Early Neolithic Water Wells Reveal the World’s Oldest Wood Architecture”, PloS one, 7 (2012), S. e51374. 111 Harald Stäuble, Brunnen der Linienbandkeramik. Ein unerschöpfliches Wissensreservoir, hrsg. von Wilfried Menghin, Dieter Planck, Menschen, Zeiten, Räume – Archäologie in Deutschland (Stuttgart 2001), S. 139-141. 112 Renata Huber, Archäobotanische Untersuchungen an Proben der Tauchuntersuchungen von 1999, hrsg. von Kurt Altorfer, Die prähistorischen Feuchtbodensiedlungen am Südrand des Pfäffikersees, Monographien der Kantonsarchäologie Zürich 41 (Zürich, Egg 2010), S. 106- 115. 113 Fritz Sauter, Ulrich Jordis, Aloisia Graf, Wolfgang Werther, Kurt Varmuza, „Studies in organic archaeometry I: identification of the prehistoric adhesive used by the „Tyrolean Iceman“ to fix his weapons“, Arkivoc (2000), S. 735-747. 114 Georg Christian Friedrich Lisch, „Kegelgräber von Slate“, Jahrbücher des Vereins für Mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde, 33 (1868), S. 129-135. 115 Hemanfrid Schubart, Ein Hügelgrab der älteren Bronzezeit bei Slate, Kreis Parchim, hrsg. von E. Schuldt, Bodendenkmalpflege Mecklenburg Jahrbuch 1954 (Schwerin 1956), S. 61- 83. 116 Schubarth, Elemente, S. 421-427. 117 National Center for Biotechnology Information NCBI, PubChem Sunstance Data Source Information. URL: http://pubchem.ncbi.nlm.nih.gov/ 118 Duden, Drosdowski, Grebe, Etymologie. 119 Dorothee Hosler, Sandra L. Burkett, Michael J. Tarkanian, „Prehistoric Polymers: Rubber Processing in Ancient Mesoamerica“, Science, 284 (1999), S. 1988-1991. 120 Berthold Riese, Die Maya: Geschichte, Kultur, Religion, 6. Auflage (München 2006), S. 25.

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121 Klaus-Jörg Ruhl, Laura Ibarra Garcia, Kleine Geschichte Mexikos: Von der Frühzeit bis zur Gegenwart (München 2000), S. 30. 122 Wolfgang Jünger, Kampf um Kautschuk (Leipzig 1940), S. 12-17. 123 Heather McKillop, The Ancient Maya – New Perspectives (Santa Barbara 2004), S. 213- 217. 124 Marc Zender, „Sport, Spectacle and Political Theatre: New Views of the Classic Maya Ballgame“, The PARI Journal, 4 (2004), S. 10-12. 125 David Drew, The Lost Chronicles of the Maya Kings (Berkeley 1999), S. 235-238. 126 Alexander Parmington, Space and Sculpture in the Classic Maya City (Cambridge 2011), S. 12-13. 127 Anette Julia Ranz, Maya und Azteken: Zwei Kulturen, zwei Epochen – Ein Schicksal?, Bachelorarbeit Universität Mainz 2010 (Hamburg 2012), S. 10. 128 Henry J. Inman, Rubber Mirror, Reflections of the rubber divison’s first hundred years (Akron, Ohio 2009), S. 3-7. 129 Antonio de Herrera y Tordesillas, Historia general de los hechos de los Castellanos en las islas y tierra firme del Mar Oceano (Madrid 1601-1615). 130 Désirée Eckert, Von Wilden und wahrhaft Wilden: Wahrnehmungen der „Neuen Welt“ in ausgewählten europäischen Reiseberichten und Chroniken des 16. Jahrhunderts (Hamburg 2012), S. 47-51. 131 Petrus Martyr Anglerius, De orbe novo, decadis V, 1522/23; übersetzt von H. Klingelhöfer, Peter Martyr von Anghiera (Darmstadt 1973), S. 132-133 (Dekade V, Buch X), Bd 2, S. 337. 132 Gonzalo Fernández de Oviedo y Valdés, La historia general de las Indias (Sevilla 1535), Libro quinto, Capitulo secundo. 133 Kathleen Ann Myers, Fernández de Oviedo’s Chronicle of America – A New History for a New World (Austin 2007), S. 1-88. 134 Ludwig Darmstaedter, René Du Bois-Reymond, Carl Schaefer, Handbuch zur Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik, 2. Auflage (Berlin 1908), S. 438. 135 Yasuyuki Tanaka, „Structure and Biosynthesis Mechanism of Natural Polyisoprene“, Pro- gress in Polymer Science, 14 (1989), S. 339-371. 136 Otto Richard Frisch, Chiclet ), in: Amerika – Zur Entdeckung, Kulturpflanzen, Lebensraum Regenwald, hrsg. von Gerhard Aubrecht, Katalog des OÖ Landesmuseums, Neue Folge 61 (Linz 1993), S. 451-488. 137 Jennifer P. Mathews, Chicle: the chewing Gum of the Americas, from the ancient Maya to William Wrigley (Tucson 2009), S. 5-18. 138 Spanish Word Histories and Mysteries, hrsg. von American Heritage Dictionaries (Boston 2007), S. 61-63.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Jacob Waitz und Basilius Valentinus im Klo- ster Walkenried: Legende und Wirklichkeit

Dr. Gerhard Görmar, Wolfgang Heinze Str. 18, 04277 Leipzig

Am 28. Juni des Jahres 1599 begann der Siegeszug des Benediktinermönches Basilius Valentinus als Autor alchemistischer Schriften. An diesem Tage beende- te der aus Hessen stammende und zu diesem Zeitpunkt in Frankenhausen am Kyffhäuser lebende Ratskämmerer1 und Pfannherr Johann Thölde2 seine Vorrede zur ersten Ausgabe des kleinen Werkes mit dem Titel „Ein kurtz Summarischer Tractat, Fratris Basilij Valentini Benedicter Ordens.../“ Herausgegeben von Jo- hann Thoelde Hessum Leipzig 1599.3 In kurzen Abständen folgten drei weitere Schriften des Benediktinermönches, die mit der Herausgabe der ersten Monogra- phie über das Antimon „TriumphWagen ANTIMONII, FRATRIS BASILI VALENTINI Benedicter Ordens/ … / und an den Tag geben/ Durch Johann Thoelden /Hessum. Mit einer Vorrede/ Doctoris Joachimi Tanckij, Anatomes & Cheirurgiae Professoris in der Uni-Versitet Leipzig, 1604 In verlegung Jacob Apels“4 im Jahre 1604 ihren Höhepunkt hatten. Besonders diese letzte Schrift begründete den über Jahrhunderte andauernden Ruhm des legendären Mönches und seines Herausgebers Johann Thölde. Bis in die heutige Zeit dauert jedoch das Rätselraten an, ob es diesen Mönch überhaupt gab oder ob er eine pure Erfindung von Johann Thölde war.5,6,7

Mit der steigenden Popularität des Benediktinermönches Basilius Valentinus auch an den fürstlichen Höfen in Deutschland und Europa entstanden um seine Person im 17. und 18. Jh. zahlreiche Legenden, welche dann ab dem 19. Jh. ver- einzelt in die deutsche Sagenliteratur aufgenommen wurden.8,9 Besonders die Sage unter der Überschrift „Vom Zaubersaal“, die den Aufenthalt des Basilius Valentinus im Kloster Walkenried10,11 im Südharzer Gebiet zum Inhalt hatte, fand in unterschiedlicher Form immer wieder Erwähnung.

Da es sich bei einer Sage um Erzählungen von fantastischen Ereignissen mit rea- lem Hintergrund und vor allem mit realen Personen- und Ortsangaben handelt, ist aus dieser Sicht heraus die im Preußischen Sagenbuch veröffentlichte Version12 von besonderem Interesse. Erwähnt wird darin der „Herr Dr. Weitz, Hochfürstl.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Sächs. Rath, Leibmedicus und Bürgermeister von Gotha“, welcher im Jahre 1687 den sogenannten Zaubersaal des Klosters Walkenried besucht haben soll.

Erstmals wurde diese Sage im Jahre 1703 in der Schrift „Hercynia Curiosa oder Curiöser Hartz-Wald“ von dem Nordhäuser Physikus Doktor Georg Henning Behrens der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht, worin besagter Dr. Waitz13 aus Gotha bereits als Urheber der Legende genannt wurde.14 Behrens führte als Quelle seiner Ausführungen eine Schrift von Samuel Reyher an. „De mirabili Historia Walkenriethensi“15 von Samuel Reyher aus dem Jahre 1692.

Samuel Reyher17 (1635-1714), Professor der Mathematik an der Universität Kiel in Holstein, ver- öffentlichte eine für die Ge- schichte der Alchemie interessan- te Abhandlung mit dem Titel „DISSERTATIO DE NUMMIS quibusdam ex Chymico Metallo factis”18. In dieser Abhandlung schrieb er unter anderem über verschiedene Themen der Al- chemie, Astrologie und über Münzen mit alchemistischer Symbolik. Im vorletzten Kapitel 36 beschrieb er dann ausführlich die Erlebnisse des Dr. Waitz aus Gotha im Kloster Walkenried, die dieser in Form von Briefen19 an Reyher geschickt hatte. Danach ereignete sich das für die Sage so bedeutsame außergewöhnliche Ereignis mit dem Schüler und dem Schatzfund bereits vor dem Jahre 1656 und somit lange Zeit Abb. 1: Versteck des Schatzes im „Zaubersaal“ (Aufnahme aus dem Jahre 197716) vor dem Besuch des Dr. Waitz in Walkenried. Reyher führte dann frühere Erzählungen zu diesem Thema an. Der Schatz bestand nach den überlie- ferten Erzählungen des Lüneburger Buchhändlers Johannes Stern aus Geld- stücken20, die sich in einem Versteck unter einem Fenster zum Lichthof des Kreuzganges befunden haben sollen (Abb. 1). Der Fund wurde dann durch den Rektor nach Celle zum Herzog Christian Ludwig geschickt.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Von 1674 bis 1693 waren das Kloster Walkenried und die darum befindlichen Ortschaften und Ländereien für ungefähr 20 Jahre an den Herzog von Sachsen- Gotha-Altenburg verpfändet worden und hatten einen Sächsischen Verwalter.21 Aus diesem Grunde weilte auch Dr. Jacob Waitz mehrmals im Kloster und hatte dabei laut eigenen Aussagen „vielmahl den Schrank examinieret“.22 Herzog Friedrich I. unterstellte seinem herzoglichen Rat das gesamte Bergbauwesen des Walkenrieder Stiftsamtes.

Dr. Jacob Waitz berichtete in seinen Briefen ebenfalls über ein sonderbares Er- lebnis, das sich ereignete, als er mit einer Wünschelrute den Raum durchquerte. Er kam deshalb zu der Erkenntnis, dass Basilius Valentinus keine fiktive Erfin- dung sei, „sondern ein warer Geistlicher Ordensmann gewesen/ bürtig aus dem Unter-Elsaß“.23

Und weiter hieß es in den von Reyher zitierten Ausführungen von Waitz:

„§. 25 Die Universalia tractiret Er (gemeint ist Basilius Valentinus) gleich andern. Doch er hat eine Mineram gefunden/ so er Astrum ʘ(Sol)lis nennet; ist lucida, ru- bra und in der Schweitz und Siebenbürgen anzutreffen/ wie auch in Walckenrieth am Sonnenberg; Von welcher grosse Dinge zu hoffen und zu gewarten/ in und auß sich selbst/ und auch mit Zusatz ʘ(Gold)es.

§. 26 Zu der Via humida hat er in Walckenrieth gelegenheit bekommen/ bey da- maligen starcken Cinnober Bergwerck=Baw/ und wie ich von alten Curiosis gesi- chert worden/ sich eine geraume Zeit würcklich alda auf gehalten.“

Sowie in

„§. 27 Ich habe selbst bey Säuberung eines alten tieffen Cinnober-Schachtes eine Berg-Stube in die 30 Lachter (ca. 60 Meter) unter der Erden gefunden/ und alle zur Via humida nötige instrumenta. Darunter nebst vielen Oefen/ Steinen oder Backsteinen/ besondern ein gläßern Helm zu sehen war/ welcher gantz mit Lonto- re ponderoso ☿iali solubili in ▽a, Messerrücken=dick überzogen war/ und als das schönste Silber und Gold aussahe“.24

Waitz glaubte auch in den Figuren an den Kapitellen, auf den Rosetten in den Kreuzgewölbebögen und an den Wänden im Kreuzgang des Klosters Hinweise auf Basilius Valentinus gefunden zu haben, wie von Reyher wiedergegeben wur- de:

„§. 30 In diesem Walkenrieth/ im Creutzgang nach der Kirche/ ist der Meister der erstmahligen Tinctur mit allen figuris in kleinen Thieren/ als Tauben/ Lilien/ und dergleichen unter 5 Bögen zu sehen/ so sehr rar ist/ und weil es noch in seiner na-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 türlichen Farbe stehet/ da das andere fast alles ruinieret ist/ so ist es biß dato recht fatal.“25

Damit war die Legende des Aufenthaltes von Basilius Valentinus im Kloster Walkenried durch den Herrn Dr. Jacob Waitz aus Gotha geboren worden.

Zinnoberbergbau in Walkenried

Die in den Briefen wiedergegebenen Beobachtungen des Gothaer Bürgermeisters waren keinesfalls der von ihm vermutete Beweis für die Anwesenheit des Bene- diktinermönches Basilius Valentinus in Walkenried, sondern hatten einen viel realeren Hintergrund. Seit vielen Jahren wurde in der Gegend um das Kloster Walkenried Zinnober in einem Bergwerk gefunden und immer wieder, letztlich ohne nennenswerten Erfolg, danach gemutet. Die von Waitz beschriebene unter- irdische Probierstube diente eher zur Prüfung des Erzes auf seinen Metallgehalt, damit vermutlich die Abbauwürdigkeit vor Ort schnell festgestellt und die Rich- tung des weiteren Vortriebes festgelegt werden konnte. Laut Fritz Reinboth soll der Zinnoberbergbau in Wieda bei Walkenried ab dem Jahre 1560 erfolgt sein.26 Die gefundenen chemischen Geräte stammen somit mit großer Wahrscheinlich- keit von diesen bergbaulichen Aktivitäten. Überliefert sind bis heute teilweise gut erhaltene gebrauchte und ungebrauchte Destillierkolben sowie Vorlagen aus Ton zur Quecksilbergewinnung, die in den ehemaligen Halden der Zinnobererzgrube gefunden wurden und laut den datierten Begleitfunden aus dem Jahre 1569 stammen könnten (Abb. 2 bis 4).27

Abb. 2 bis 4: Tongefäß aus einer Zinnoberzeche von Wieda bei Walkenried.

In diesem genannten Jahr entdeckte ein Apotheker aus Sangerhausen neue Zin- nobergänge, „aus deren Proben [Erzen] im Probierfeuer mit leichter Mühe Quecksilber destilliert wurde.“28

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Der von Waitz in der unterirdischen Probierstube beschriebene Destillierhelm bewies, dass hier verschiedene chemische Umsetzungen durchgeführt wurden. Dieses Glasgerät (Abb. 5) war vermutlich in der Weinglashütte von Wieda herge- stellt worden, welche in unmittelbarer Nachbarschaft zur Zinnoberzeche existier- te. In dieser Glashütte stellte man sowohl farbige Gläser in Form von Pokalen und Vasen, Gebrauchsglas wie Flaschen und Trinkgläser sowie Butzenscheiben für Fenster als auch gläserne Gerätschaften zur Destillation und Flaschen in un- terschiedlichen Größen zum Aufbewahren von chemischen Substanzen und ande- ren Flüssigkeiten her.

Diese Funde sowie die Aus- führungen des Dr. Waitz im Reyher machen auch deut- lich, wie eng die Glas- macherkunst, die Metallur- gie und die Alchemie im 16. und 17. Jh. im Gebiet des Südharzes miteinander ver- bunden waren. Die im Mu- seum ausgestellten Vasen und Kelche in intensiven roten und blauen Farbtönen setzten eine enorme Kennt- nis über die Wirkung der Abb. 5: Fragmente eines gläsernen Destillierhelms und verschiedenen Mineralien 29 verschiedene Glasflaschen auf die Glasfärbung voraus.

Die Zinnoberzeche in Wieda trug zeitweise den Namen „Hilfe Gottes“ und wurde am Beginn des 17. Jahrhunderts erneut betrieben. Später wechselten die Namen für die Zeche. Ab dem Jahre 1666 tauchte erstmals der Name „Sonnenglanz“ auf, der vermutlich identisch mit dem in der Abhandlung von Waitz erwähnten Fund- ort für das Quecksilbererz, dem „Sonnenberg“, ist (Abb. 6). Auch während der sächsischen Regierungszeit am Ende des 17. Jh. wurde versucht, den Zinnober abzubauen und zur Quecksilbergewinnung zu nutzen. Der sächsische Verwalter Carl Friedrich Happe hatte in mehreren Briefen an die herzogliche Regierung in Gotha auf die Zinnoberfunde hingewiesen.

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Abb. 6: Grubenriss der Zinnoberzeche bei Walkenried um 1711; überlieferte Kopie vom Berg- meister Röder aus dem Jahre 1750.30 Aus den vor einigen Jahren veröffentlichten Tagebüchern des Herzogs Friedrich I. geht hervor, dass dieser und auch Dr. Jacob Waitz im Raum von Walkenried mehrere Bergwerke und Hüttenwerke betrieben und sich zwischen 1679 und 1692 sehr oft in dieser Region aufhielten.31 Neben dem Zinnoberbergbau betrie- ben Dr. Jacob Waitz und der Herzog vor allem Kupfer- und Eisenerzbergbau in der Region von Walkenried und verhütteten dieses Erz in eigens dafür angelegten Hüttenwerken.32,33

Dr. Jacob Waitz – Lebensweg34,35

Jacob Friedrich Waitz wurde am 03. August 1641 in Schmalkalden geboren. Sein Vater hieß Daniel Waitz 36 (geb.: 11. 12. 1608; gest.: 06. 11. 1683) und seine Mutter Catharina Zierfelde (geb. 16. 06. 1616). Daniel Waitz gehörte zu den be- güterten Bürgern der Stadt Schmalkalden und war dort Bürgermeister und Kir- chenältester.37

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 In Schmalkalden besuchte Jacob Waitz eine höhere Schule, deren Rektor Johann Schmidt hieß.38 Er muss bereits in jungen Jahren durch eine außergewöhnliche Gelehrsamkeit in seiner Heimatstadt hervorgetreten sein.39

Jacob Friedrich Waitz studierte nach dem Schulbesuch an den Universitäten in Leipzig, Jena, Wittenberg und dann wieder Leipzig Medizin und Philosophie. In Leipzig wurde er 166340 zum Magister der Philosophie promoviert, aus welchem Anlass eine Schrift mit Lobgedichten von drei Freunden im Jahre 1664 in Leipzig gedruckt worden war.41

Nachdem er die Magisterwürde erlangt hatte, hielt er sich für kurze Zeit wieder in Schmalkalden auf und begab sich danach auf Reisen durch Holland, England und Frankreich, um dort Sprache, Kultur und Leute kennen zu lernen, sowie weitere Studien zu machen.

Am Ende seiner Reise ging er nach Utrecht an die dortige Universität, wo er das Amt eines „Senior“ bekleidete.43 In Utrecht wurde er dann im Jahre 1665 zum Doktor der Medi- zin promoviert.44 Wieder zurück in Schmal- kalden heiratete er ein Jahr später Christina Jäger (geb. 8. 12. 1646–1723), die Tochter des Ratsverwandten seines Vaters und Han- delsmannes Johann Jäger (1606-1673).45

Gemeinsam hatten sie 16 Kinder, wovon 5 das Erwachsenenalter erreichten.46 Im glei- chen Jahr erhielt er am 1. März eine Anstel- lung in Gotha durch den Herzog von Sachsen Ernst I., „der Fromme“ genannt. In diesem

Jahr wütete die Ruhr in der Stadt und Waitz Abb. 7: Titelblatt der Dissertation von half bei der Bekämpfung der Seuche. Jacob Waitz in Utrecht im Jahre 42 1665 Im August 1666 ernannte ihn der Herzog zum “Medico extraordinario Aulico …“ und im Jahre 1667 zum „Leib- und Reise-Medico Ihro Hochfürstl. Durchl. Hertzog Fridrichen“.47 Gemeinsam mit dem jungen Prinzen, Herzog Friedrich I. von Sachsen-Gotha, brach er im Jahre 1667 zu einer Studienreise nach Frankreich und Italien auf.48 Diese Reise bildete die Grundlage für die lebenslange Vertrau- ensstellung, die Waitz bei seinen Landesherren hatte und aus der auch die ge- meinsame Vorliebe für die Alchemie resultierte.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Nachdem er im Jahre 1668 gemeinsam mit seinem Fürsten nach Gotha zurückge- kehrt war, wurde ihm im Alter von nur 27 Jahren das „Stadt-Physicat“ und ein Jahr später das Amt als Bürgermeister der Residenzstadt Gotha übertragen. Auf einer Reihe von Glocken in Gotha ist der Name Dr. Jacob Waitz zu lesen. Dies weist auf eine rege Bautätigkeit während seiner Amtszeiten hin. Außerdem war Jacob Waitz sein Leben lang bemüht, die Residenzstadt Gotha schöner und at- traktiver zu gestalten. Dazu zählte auch die Verbesserung der Wasserversorgung des gesamten Stadtgebietes. Um dies zu erreichen wurde der Leina-Kanal von ihm weiter ausgebaut, wobei die Mühle von Emleben bei Gotha eine zentrale Funktion hatte. Jacob Waitz erhielt im Jahre 1676 diese Mühle als Lehen.49 Sie gehörte zum Rittergut Wannigsroda, welches damals ein Lehen der Grafen von Hohenlohe war. Offensichtlich war Waitz sehr geschickt in Finanzsachen. Denn im Jahr 1687 kaufte er die Mühle und verwendete sie als Sicherheit für ein Dar- lehen in Höhe von 1000 Thalern vom Sächsischen Münzmeister für seine Berg- bauunternehmungen in Walkenried im Südharz. Später verkaufte er die Mühle an den Rat der Stadt Gotha, was deren Name als “Ratsmühle“ begründete.50, 51

Im Jahre 1671 wurde er auch zum Obersteuereinnehmer für die Landschaft des Herzogtums ernannt. Sein Kontor hatte er im Rathaus in der ersten Etage.52 Im Jahre 1716 feierte er gemeinsam mit seiner Frau Christina die Goldene Hochzeit, was in der damaligen Zeit ein sehr seltenes gesellschaftliches Ereignis war. Die- ses Ereignis und seine hohe gesellschaftliche Stellung in der Stadt Gotha und beim Herzog waren Grund genug, dass aus seiner Heimatstadt Schmalkalden und aus Gotha zahlreiche Ehrengedichte veröffentlicht und eine Vielzahl von Ehren- medaillen und Münzen heraus gegeben wurden. Diese Medaillen trugen meistens das Porträt von Jacob Waitz allein oder zusammen mit seiner Ehefrau.

Bereits zwei Jahre vorher entstand in Gotha eine Medaille, die auf der einen Seite das Porträt von Dr. Jacob Waitz zeigte, auf der Rückseite ein alchemistisches Motiv, „den Philalethanischen Nuclei“ (Abb. 8), wie die Erklärung des Herstel- lers dieses Stückes, Christian Wermuth aus Gotha, bezeugte.53 Diese Medaille würdigte die Arbeiten von Waitz auf den Gebieten der Chemie und Alchemie.

Ein Ausdruck für die Anerkennung seiner wissenschaftlichen Arbeiten auch über die damaligen Landesgrenzen des Fürstentums hinaus, war seine Aufnahme in die Deutsche Akademie der Naturforscher „Leopoldina“ wobei die zwei Jahres- zahlen 168254, 55 oder 168756 für dieses Ereignis in der Literatur zu finden sind.

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Abb. 8: Porträt Dr. Jacob Waitz und alchemistische Symbole auf einer Münze.57

Dr. Jacob Friedrich Waitz starb im Jahre 1723 mit einem für damalige Verhält- nisse hohen Alter von 82 Jahren. Seine Ehefrau Christina, geb. Jäger, muss eben- falls im gleichen Jahr verstorben sein. Er diente insgesamt 3 Herzögen von Sach- sen-Gotha-Altenburg als Rat, Leibarzt und Steuereinnehmer.

In Gotha verfügte er über mehrere Häuser. Im Jahre 1678 wohnte er laut einer Häuserliste in der Nähe des Hauptmarktes nicht weit vom Rathaus, Augusti- nerstrasse/Ecke Hützelsgasse.58 Das Haus soll den Beinamen „Zum Mohrenkopf“ gehabt haben. Nach einer Häuserliste von 1715 hat er außerdem in der Vorstadt vor dem Erfurter Tor drei nebeneinanderliegende Grundstücke mit einem neuen Haus besessen. Für den Bau dieser Häuser soll er von seinen Fürsten das Bauma- terial als Ausgleich für seine Zusammenarbeit bei den alchemistischen Versuchen im Labor des Herzogs bekommen haben.

Der Alchemist Dr. Jacob Waitz

Herzog Friedrich I. führte über viele Jahre ein Tagebuch über all seine Aktivitä- ten. Jacob Waitz war danach einer der wichtigsten und engsten Berater des Für- sten bei seinen alchemistischen Bestrebungen. Er hatte ihm sogar das Labor in Gotha eingerichtet.59 Im Jahre 1680 soll er dem Herzog zum Eröffnen einer Hof- apotheke mit einem Labor geraten haben, um so ohne großes Aufsehen im Schloss die alchemistischen Arbeiten durchführen zu können. Ein weiteres al- chemistisches Labor war im Schloss Friedrichswerth nahe Gotha eingerichtet worden. In beiden Laboratorien arbeitete ein Alchemist namens Gastorff. Durch sein Treiben soll er den Herzog um mehrere Tausend Thaler erleichtert haben. Waitz hatte, wie er selbst schrieb, „umb des Betrügers Gastorffs willen in allem Favor und Fortun bei hohen Collegiis und Ministris leiden müssen.“60 Nach dem

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 frühen Tod des Herzogs folgte dessen Sohn Friedrich II. von Sachsen-Gotha- Altenburg. Aus dieser Zeit ist ein Dokument erhalten geblieben, das beweist, dass Jacob Waitz in einer ehemaligen Rossmühle nahe dem Friedensstein ein eigenes Laboratorium für seine chemischen Experimente eingerichtet hatte.61 Möglicher- weise war dieses Laboratorium vorher die Wirkungsstätte des Herzogs Friedrich I. gewesen und Waitz hatte alles nur übernommen. In einer von ihm selbst verfas- sten Schrift hob Waitz besonders hervor, dass er selbst über viele Jahre hindurch chemische und alchemistische Experimente durchgeführt hatte und somit ein sehr eifriger Alchemist war.62

Seine alchemistischen Anschauungen und Erfahrungen sowie den Inhalt seiner Experimente veröffentlichte er zwischen 1683 und 1712 in mehreren Schriften. Vor allem seine erste Veröffentlichung „Aqvilae Thuringiae Redivivae, Oder Kurtzer Entwurff vom feuchten und trocknen Weg, Wie auch dem Alcahesto“63 weist ihn laut Karl Christoph Schmieder in „Die Geschichte der Alchemie“64 als einen älteren Basilianer aus. Gewidmet war diese erste Abhandlung seinem Lan- desfürsten Herzog Friedrich I.

Das Buch war als eine Art Einführung in die Bereitung des Steines der Weisen gedacht.

„Und dergleichen eignet sich auch absonderlich im Werck oder Arbeit zu dem ge- benedeiten Stein/ oder Stein der Weisen. Denn daß ich nicht berühre die Wirckung/ so er im menschlichen Leibe und Metallen verrichtet/ so ist über die Maße wundersam an ihm/ wenn man seine materialische Anfänge feuchten und trockenen Weges ansiehet; ja so gar unerforschlich ist die Ursach/ welche beide menstrua zu ihrer homogeneität bringet/ und die Weißheit selbst/ mittels welcher des Goldes Cörper erweichet wird.“65

Waitz führte in den ersten Kapiteln die „via humida“ und „via sicca“ zur Herstel- lung des „Mercurius Sophicus“ an.66 Weiter ging er auch auf das Philosophische Gold oder lebendige Gold ein. Zur Wirkung des Alkahest schrieb er:

„Er solviret gar geschwind Solis und andere corpora, und so man will/ läst er sich aus seiner vollbrachten Solution gar leicht wieder abscheiden/ die solvirte corpora in einem überaus herrlichen Zustande hinterlassende.“67

Das Alkahest sollte laut Waitz „besonder herliche Artzneyen“ ergeben.

Im Cap. VII seiner ersten Schrift beschrieb er die notwendigen Einrichtungsge- genstände in einem Laboratorium:

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 „Ingemein zwar werden erfordert crucibula oder Schmeltzriegel/ ein gutes und wol angelegtes Gebläß/ Digerier- und Destillir-Oefen/ allerhand Zangen/ Deckel/ Gieß-Puckel/ Retorten/ Kolben mit und ohne Helm/ Violen/ Ingueß/ Reibstein/ amalgamir= und digerir=Gefäse/ Mörser und Reib-Geschirr/ Vorleger groß und kleine und dergleichen. Schwer aber ist die unterschiedliche Philosophische Oefen/ und darzu gehörige Gläser zu finden/ darmit auch dißfals mit den Graden des Feuers in guter Gleichheit könne nachgesetzet/ und darbey die Gläser vor Be- schadung verwahret werden.“68

Waitz hatte somit eine Art Laborhandbuch geschrieben, dessen erster Adressat sein alchemistisch tätiger Landesherr war. Es folgten weitere Schriften, die ihn als Anhänger des Basilius Valentinus auswiesen.

Im Jahre 1708 veröffentlichte Waitz dann mit der Abhandlung „Analogica Veri- tas….“ sein alchemistisches Testament.69

Gleich im ersten Kapitel nannte er neben eigenen Schriften die für seine alchemi- stischen Arbeiten wichtigen früheren Autoren, wobei von ihm auch „Basilius Valentinus, und insonderheit de rebus naturalibus&supernaturalibus“ hervorge- hoben wurde. Es folgen wiederum die bereits in seiner ersten Schrift beschriebe- nen Wege „via humida“ und „via sicca“. Einen großen Platz nehmen Beschrei- bungen der Philaletanischen Schriften70 ein, deren Anhänger Waitz ebenfalls war. Auf der bereits erwähnten Medaille (Abb. 8), deren Vorderseite sein Abbild trägt, wurde durch den berühmten Hofmedailleur Christian Wermuth (1661-1739) aus Gotha auf der Rückseite der „Philalethanische Nucleus“ dargestellt.71 Waitz hat selbst eine Erklärung für die alchemistische Symbolik auf der Münze im Jahre 1714 verfasst, die im Grunde nichts weiter als eine Zusammenfassung des Inhal- tes der Schrift „Analogica Veritas….“ aus dem Jahre 1708 darstellte. Die auf der Münze dargestellten alchemistischen Symbole für Salz, Schwefel und Quecksil- ber zusammen mit einem Destillierkolben und der darüber befindlichen Sonne machen deutlich, dass Waitz wie viele seiner Zeitgenossen noch ein Anhänger der Lehre von diesen drei Elementen war. Er führte u.a. dazu aus:

“6. Solcher zusammen gesetzt aus dem Sale Martis, dem Sulphure Veneris, und dem Spiritu Mercurii, wovon Basilius handelt in Tractatu de rebus naturalibus & supernaturalibus Cap. 3 de Spiritu Mercurii,…“ 72

In der Literatur werden drei weitere alchemistische Bücher ihm zugeschrieben, die unter dem Kürzel D.I.W. aus Weimar erschienen sind.73,74,75 Möglicherweise basieren diese Texte auf seinen Arbeiten, wurden aber ohne sein Wissen heraus- gegeben, wie er selbst in seinem literarischen Testament beklagte.76

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Das Kürzel D.I.W. soll für Dorothea Juliane Wallich stehen, wie es Karl Chri- stoph Schmieder in seiner Geschichte der Alchemie auch übernommen hatte. Erstmals tauchte dieser Name bereits in der Gesamtausgabe der Schriften des Basilius Valentinus im Jahre 1717 in der neuen Vorrede auf:

“D.I.W. die das Mineral. Gluten, Perlen-B, von welcher auch das Büchlein Mercu- rius Metallicus Coronatus Erwehnung thut.“77

Laut der Aufstellung von Oliver Humberg gibt es tatsächlich im Staatsarchiv Go- tha einen Briefwechsel mit einer Wallichin, der noch nicht bearbeitet wurde und in diesem Zusammenhang von Interesse wäre.78

In einem dieser ihm zugeschriebenen Werke soll erstmals eine Geheimtinte auf Basis von Kobaltchlorid beschrieben worden sein, für die deshalb bis heute in der Literatur Dr. Jacob Waitz als Erfinder genannt wird.79

Schluss

Dr. Jacob Friedrich Waitz kann zweifelsfrei als der Urheber der Legende angese- hen werden, dass sich Basilius Valentinus im Kloster Walkenried aufgehalten haben soll. Seine alchemistischen Neigungen und seine bergbaulichen Aktivitäten vor allem im Südharzer Raum beeinflussten ihn in seiner Darstellung dieser Sage. Am Hofe von Sachsen-Gotha-Altenburg war er eine bedeutende Persönlichkeit, der mit einem seiner Landesherren, dem Herzog Friedrich I., die Leidenschaft für die Alchemie teilte. Zahlreiche alchemistische Bücher wurden von ihm verfasst. Er führte Bergbauunternehmungen vor allem im Südharzer Bergbaurevier im Ge- biet von Walkenried und Stolberg mit wechselndem Erfolg durch.

Dr. Jacob Friedrich Waitz war der Stammvater der berühmten bis heute wirken- den Dynastie von Bergbauunternehmern, Salinisten und Ministern, die später ge- adelt wurden und danach den Namen Freiherrn Waitz von Eschen führten.80,81

Summary

There is little doubt that Dr. Jacob Friedrich Waitz can be considered to be the originator of the legend that Basilius Valentinus might have dwelled on Walken- ried Abbey. His representation of this legend was influenced by his interest in alchemy and his mining activities which took place in the Southern Harz region. Waitz was an eminent figure at the court of Saxe-Gotha-Altenburg and wrote

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 numerous books about alchemy. His passion for alchemy was shared by Freder- ick I, Duke of Saxe-Gotha-Altenburg. Waitz’s mining activities, carried out in the Southern Harz mining sites around Walkenried and Stolberg in particular, were scarred by varying degrees of success. Jacob Friedrich Waitz was the progenitor of a famous and lasting dynasty of mining entrepreneurs, salt work specialists and ministers. They were later given peerage and had the title Baron Waitz von Eschen.

Danken möchte ich Herrn Fritz Reinboth aus , der mich durch seine Hinweise zur Zinnoberzeche in Wieda und zum Kloster Walkenried unterstützt hat. Außerdem hat er mir den Besuch im Glas- und Hüttenmuseum Wieda ermöglicht, dessen Ausstellung vor allem für Glas- und Bergbauinteressierte von besonderem Wert sein sollte. Für die ausführliche Führung be- danke ich mich beim Ehepaar Ursula und Dieter Rempel aus Wieda. 1 In einer im Jahre 1703 veröffentlichten Schrift des Rektors des Gymnasiums zu Franken- hausen, Johann Hoffman wird „Johann Tolde“ als Schenkkämmerer im aktiven Rath der Stadt für das Jahr 1600 genannt. Vgl. Johann Hoffman, “Commentatiuncula historica poste- rior De Curiis Inprimis De Curia Francohusana: Eiusque insignibus Actui Oratorio XXVI. Octob. huius anni M. D.CCXIII. in Schola nostra ...Stolbergae“ 1703 VD18 1152037X SLUB Dresden: Hist.Sax.H.219,misc.3. 2 Zu Leben und Wirken Johann Thöldes vgl. Johann Thölde um 1565 – um 1614, Alchemist, Salinist, Schriftsteller und Bergbeamter (Freiberg 2011) und dort aufgeführte Literatur. 3 Basilius Valentinus, Ein kurtz Summarischer Tractat, Fratris Basilij Valentini Benedicter Ordens.../, hrsg. von Johann Thoelde Hessum (Leipzig 1599), Neuauflage 1602 (in Sam- melband der Bibliotheka Albertina - Universitätsbibliothek Leipzig Sign. Phys. 1723). 4 Basilius Valentinus, „Triumph Wagen Antimonii fratris Basilii Valentini, Benedicter Or- dens / Allen/ so den Grund suchen der uhralten Medicin,Auch zu der Hermetischen Philo- sophy belebens tragen/ zu gut publicirt/ und an Tag geben/ Durch Johann Thoelden Hes- sum ... In Vorlegung Bartholomaei Voigts gedruckt bei Friedrich Lankisch im Jahr 1624“ (in Sammelband der Bibliotheka Albertina - Universitätsbibliothek Leipzig Sign. Phys. 1723) (unveränderte Nachauflage der Erstausgabe von 1604). 5 Claus Priesner, Geschichte der Alchemie (München 2011), S. 62-66. 6 Bereits die Abhandlung von Motschmann über das Gelehrte Erfurt aus dem Jahre 1729 beginnt mit den Worten: „ Ich habe anfangs bey mir angestanden, dieses Mannes in meinen gelehrten Erfurth Erwehnung zu thun, weilen verschiedene Autores glauben, er sei niemals in Erfurth, oder wohl gar in der Welt gewesen;...“. Just Christoph Motschmann, Erfordia Li- terata (Erfurt 1729), S. 396. 7 Claus Priesner, Über die Wirklichkeit des Okkulten, hrsg. von H. Jaumann, Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit – Ein Handbuch (Berlin/ New York 2011), S. 320- 326. 8 Ludwig Bechstein, Deutsches Sagenbuch (Leipzig 1853), S. 336.

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9 Dr. Johann Georg Theodor Grässe, Sagenbuch des Preußischen Staats, Erster Band (Glogau 1868). 10 Das Kloster Walkenried war im Jahre 1127 bzw. 1129 (Einzug der ersten Mönche in Wal- kenried) gegründet worden und gehörte zum Orden der Zisterzienser. Vgl. Konrad Maier, Maria Keibel-Maier, Kloster Walkenried, 4. Aufl. (München 2000). 11 Der Name „Zaubersaal“ erschien schon 1659 in den Schulakten. Er lag über dem zweischif- figen Nordflügel des Kreuzganges. Friedrich Wagnitz, Fritz Reinboth, Die Klosterschule in Walkenried 1557-1669, Schriftenreihe des Vereins für Heimatgeschichte Walkenried/Bad Sachsa und Umgebung e.V. Bd. 19 (Clausthal- Zellerfeld 2012), S. 54. 12 Grässe, Sagenbuch (Glogau 1868), S. 579. 13 Weitz und Waitz sind zwei Schreibweisen für den gleichen Namen. 14 Georg H. Behrens, Hercynia Curiosa oder Curiöser Hartz=Wald Das ist Sonderbahre Be- schreibung und Verzeichnis der Curiösen Hölen/Seen/Brunnen/Bergen und vielen andern an und auff dem Hartz vorhandenen denckwürdigen Sachen mit unterschiedenen Nützlichen und Ergetzlichen Medicinischen/Physikalischen und Historischen Anmerckungen denen Li- enhabern solcher Curiositäten, zur Lust, hrsg. von D. Georg Henning Behrens, Physico Or- din. Subordin. in Nordhausen (Nordhausen 1703), S. 191-196. 15 Samuel Reyher, DISSERTATIO DE NUMMIS quibusdam ex Chymico Metallo factis, De mirabili Historia Walkenriethensi, Cap. 36 (Kiel Holstein 1692), S. 132-138. 16 Friedrich Wagnitz, Fritz Reinboth, Die Klosterschule, Schriftenreihe des Vereins für Hei- matgeschichte Walkenried/Bad Sachsa und Umgebung e.V. Bd. 19 (Clausthal- Zellerfeld 2012), S. 54 (mit freundlicher Genehmigung des Autors). 17 Samuel Reyher war Sächsischer Rat und hatte gute Beziehungen auch zu Dr. Jacob Waitz, da er seine Kindheit in Gotha verbracht hatte. Er wurde in Schleusingen geboren und starb in Kiel. Ab 1641 war sein Vater Andreas Reyher (1601-1673) der Rektor des zu dieser Zeit berühmten Gymnasiums in Gotha und Besitzer einer über die Grenzen von Gotha bekannten Druckerei. Vgl. Jekaterina Vogel, Andreas Reyher 1601-1673, hrsg. Museen der Stadt Go- tha, Gothaer Persönlichkeiten – Schriftenreihe des Museums für Regionalgeschichte und Volkskunde Gotha (Gotha [1977]). 18 Samuel Reyher, DISSERTATIO DE NUMMIS quibusdam ex Chymico Metallo factis (Kiel Holstein 1692). 19 „§ 16 Mit der Zeit sind weitere eigentümlichere Briefe erschienen von dem Ehrenwertesten und Kundigsten Herrn Jacob Weitz, dem überaus berühmten Doktor und Praktiker der Me- dizin, durchlauchtigstem Leibarzt und besonders geschätztem Rat der Herzöge Sachsens, und überaus klugen Konsul der Stadt Gotha und der Chemischen Wissenschaft überaus kundiger Beförderer und meinem überaus geehrten Freund über dieses Kloster, […], in de- nen er dieselbe Geschichte in Erinnerung ruft, die hier nach seinem Wort angefügt ist.“ Sa- muel Reyher, DISSERTATIO, §16, Eigentliche Fassung in lateinischer Form (Übersetzung Maximilian Görmar März 2013) (Kiel 1692), S. 134. 20 Samuel Reyher, DISSERTATIO, § 8 - § 15 (Kiel 1692), S. 133-134.

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21 Fritz Reinboth, Die Zinnoberzeche bei Wieda - eine Geschichte bergbaulicher Fehlschläge, Verein für Heimatgeschichte Walkenried / Bad Sachsa und Umgebung e.V. Miszellen, (bis- her unveröffentlicht). 22 Samuel Reyher, DISSERTATIO, § 20 (Kiel 1692), S. 135. 23 Samuel Reyher, DISSERTATIO, § 22 (Kiel 1692), S. 136. – Samuel Reyher schrieb dazu am Anfang des § 22: “Aus demselben überaus willkommenen Brief des Herrn Weitz bin ich sicherer darüber unterrichtet, dass Basilius Valentinus, von dem manche meinen, dass er nie gelebt habe, in diesem Kloster lebte und über eine gewisse Zeit ein Werk über chemische Arbeiten verfasste:“ (Übersetzung Maximilian Görmar; März 2013). 24 Samuel Reyher, DISSERTATIO (Kiel 1692), S. 136-137. 25 Samuel Reyher, DISSERTATIO (Kiel 1692), S. 138. 26 Fritz Reinboth, Die Zinnoberzeche, unveröffentlicht, S. 5. 27 Für die Möglichkeit der Aufnahmen dieser Fundstücke sowie für die interessante Führung durch die Ausstellung bedanke ich mich bei Ursula und Dieter Rempel vom Glas- und Hüt- tenmuseum in Wieda bei Walkenried. Aufnahmen vom Autor im Februar 2013. 28 Fritz Reinboth, Die Zinnoberzeche, S. 6. 29 Funde vom Gelände der ehemaligen Weinglashütte von Wieda. Ausstellung im Glas- und Hüttenmuseum. Aufnahme vom Autor im Februar 2013. 30 StAWF K3950, siehe auch Fritz Reinboth, Die Zinnoberzeche, unveröffentlicht. 31 Friedrich I. von Sachsen-Gotha und Altenburg, Die Tagebücher 1667-1686, Dritter Band, Kommentar und Register, bearbeitet v. Roswitha Jacobsen unter Mitarbeit von Juliane Brandsch (Weimar 2003). „Das Stift Walkenrieth verfügte über einige Erz- u. Mineralvor- kommen, die für Jacob Friedrich Waitz u. Hz. Friedrich von alchemist. Interesse waren. Be- reits 1682/83 hatte der damalige Stiftsinspektor Karl Friedrich Happe Berichte über Zinno- berfund nach Gotha geschickt; Zinnober galt als Grundlage des goldschaffenden Mercurius sophicus“ ThStAG, GA, E.XI.63, bll. 187-194. 32 „Nach der Mahlzeit bin [ich] zu des Doctor Weitzen hutten Werck gefahren. Und bey dem Schmelzen gewesen, von dar bin Ich die Sorge auff Mein hutten Werck gewesen. Und einen Ofen gießen lassen. Von dar fuhr Ich wieder Gerade nach Walckenrieth.“ Friedrich I von Sachsen-Gotha und Altenburg, Bd. 3, S. 691, sowie Bd. 2, S. 479. 33 Über den Kupferbergbau des Dr. Waitz im Gebiet um Walkenried, in der Nähe von Hohe- geiß und anderen Orten im Harzraum sind im Staatsarchiv Wolfenbüttel noch unerschlosse- ne Archivbestände. (Freundlicher Hinweis von Fritz Reinboth) StAWF; Akte 113 Alt Nr. 3667. 34 Es gibt verschiedene Darstellungen zum Leben von Dr. Jacob Waitz. Eine etwas umfang- reichere Biographie wurde von Richard Kirchner verfaßt: Richard Kirchner, „Der Bürger- meister und Leibmedikus, fürstl. Rat Dr. Jacob Waitz in Gotha“, Sippengeschichtliche Blät- ter der Sippen Waitz, Waitz von Eschen, Weitz, Weiz, Folge 23, 9 (1939), S. 8-19.

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35 Weitere Daten zum Leben von Dr. Jacob Waitz in Form eines Gedichtes in: Friderich Ru- dolph, Dritter Theil Fürstlicher Sachsen=Gothaischen Historien Beschreibung, Entworffen von Friderich Rudolphi, in Christian Benschens Buchhandlung (Franckfurt am Mayn und Leipzig 1716), S. 298-300. 36 In der Literatur und auf zeitgenössischen Urkunden wird er auch Dr. Jacob Weitz geschrie- ben. 37 In der Stadtkirche von Schmalkalden sind heute noch die Namen seines Vaters Daniel Weitz sowie seines Schwiegervaters Johann Jaeger sowohl auf einem Schild im Kirchenin- nern als auch auf dem Klangdeckel der Kanzel als Initialen zu lesen. Siehe auch Paul We- ber (Hrsg.), Die Bau- und Kunstdenkmäler im Regierungsbezirk Cassel, Kreis Herrschaft Schmalkalden: Textband (Marburg 1913), Band 5. 38 Friderich Rudolph, Dritter Theil Fürstlicher Sachsen=Gothaischen Historien Beschreibung; Entworffen von Friderich Rudolphi, in Christian Benschens Buchhandlung (Franckfurt am Mayn und Leipzig 1716), S. 298-315. 39 „Der Herr Rath hielt dazumahl eine Orationem valedictoriam de origine Smalcalda oder dem Schmalen Kaldten/ das Gespring genannt/ unter dem Dorffe Weitern Brunn oder Fontenario ampliore vel longius a civitate sito & prorompente fonte“. Friderich Rudolph, Fürstlicher Sachsen=Gothaischen Historien Beschreibung (Frankfurt/M. u. Leipzig 1716), S. 299. 40 a) Friderich Rudolph, Fürstlicher Sachsen=Gothaischen Historien Beschreibung (Frank- furt/M. u. Leipzig 1716), S. 299. – b) Jacob Waitz steht nur in den Matrikeln der Universi- tät Leipzig für die Jahre 1656, 1660 und 1663: Weitz, Iac.. al. Weitzius o. Weiz; Smalcal- den, u. 16. gr. i. S. 1656 B26 iur. 16. gr. i. W. 1660 B6, b.a. u. m. W (1663). – c) In den Ma- trikeln der Universitäten Jena und Wittenberg war Jacob Waitz nicht nachweisbar. 41 Lob- und Ehren-Gedächtnüß: Als Auff der weitberühmten Universität zu Leipzig von einer Hochlöbl. Philosophischen Facultät daselbst Der Ehrenveste/ Vorachtbare und Wohlgelahr- te Herr Jacob Weitz/ Von Schmalkalden der Medicin Befliessener Am 28. Tag des Jenners mit dem Magister-Krantz beehret und beschencket ward / Zu Erfreulicher Glückwünschung aufgericht und überreichet von Dreyen wohlbekandten Freunden und Landsleuten [ Johan- nes Rau/ von Themar aus Francken, O. M. N. und I. C. H. S. F.]. Damit sollte er am 28. Ja- nuar 1663 zum Magister promoviert worden sein und disputierte als Kandidat der Medizin. 42 Forschungsbibliothek Gotha, Diss. Med. 8° 00011b (mit freundlicher Genehmigung der Bibliothek). 43 „In Utrecht wurde er Nahmens der Universität der Lutherischen Gemeinde Senior, in wel- chem Seniorat er Hrn. Hünerfängern als Lutherischen Prediger bestallen helffen.“ Friderich Rudolph, Fürstlicher Sachsen=Gothaischen Historien Beschreibung (Frankfurt/M. u. Leipzig 1716), S. 299. 44 Jacob Waitz, Disputatio Medica Inauguralis, De Passione Hysterica / Qvam ... Ex Authori- tate Magnifici D. Rectoris, D. Regneri à Mansveldt, Phil. Doctoris ... Pro Gradu Doctoratus, summisque in Medicina rirè consequendis Privilegiis & Honoribus, Publicè sine Præside

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defendet, M. Jacobus Weitz, Schmalcaldiâ Hassus. Ad diem 8. Maii, loco horisque solitis, Ultrajecti, Ex Officinâ Meinardi à Dreunen, Acad. Typogr. Ordinarii (1665). 45 Ortolphum Neunesium, „Christliche Leich-Predigt/…/ Als der weiland/ Wohl-Ehrenveste/ Vorachtbare und Wolweise Herr Johann Jäger/ Gewesener Vornehmer Raths-Verwandter/ Kirchen-Senior und Handelsmann allhier in Schmalkalden/ Im 67. Jahr seines Alters selig in Christo entschlafen/ und den 4. Novembr. Anno 1673. Auff den Gottesacker zu seiner Ruhestatt hinbegleitet und beygesetzt worden/… Gotha/ Gedruckt durch Christoph Reyhern.“ 46 In der Festschrift zur Goldenen Hochzeit am 3. März 1716 wurde von 16 Kindern und 43 Kindes- Kindern geschrieben. Friderich Rudolph, Fürstlicher Sachsen=Gothaischen Histo- rien Beschreibung (Frankfurt/M. u. Leipzig 1716), S. 299 (Einleitungstext). 47 Friderich Rudolph, Fürstlicher Sachsen=Gothaischen Historien Beschreibung (Frankfurt/M. u. Leipzig 1716), S. 299. 48 23. April 1667 francoische Reise, Die an diesem Tag angetretene Reise nach Frankreich und Italien endet am 23. Juni 1668 […] Vgl Tb April u. Mai 1667. Er reist incognito unter dem Namen Gf. von Wettin u. wird begleitet von Kam.-Jun. Johann Heinrich von Witzle- ben, dem Juristen Anton Finck, dem Sekretär Johann Friedrich Backoff v. Echt, dem Medi- ziner Jacob Waitz, dem Kam.-Dien. Kromeyer, dem Lakaien Hans Ring, dem Kutscher Ju- stinus Trümper, dem Reitknecht Hans Peter Schäfer, mitgeführt wurden fünf Reit- und zwei Kutschpferde. Außer den in Erl. Z. Jan. 1667 genannten Quellen, ThStAG, GA E.XI.1; E.IV 3a; E.IV. 8., sowie Beck, Ernst, I, S. 767 ff.; vgl. Friedrich I von Sachsen-Gotha und Altenburg, Bd. 3, S. 12. 49 Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein GL 35 Bü 243 - Archivalieneinheit, Kauf der zum Rittergut Wannigsroda gehörigen Mühle zu Emleben durch Bürgermeister Dr. Jacob Weitz (Waitz) zu Gotha von dem Stadtrat zu Gotha, Wiederverkauf der Mühle durch Dr. Waitz an den Rat, Auseinandersetzung mit Graf Johann Friedrich I. von H.-Oehringen über das Le- hen- und Auflaßgeld für die Mühle. 50 Vor dem Jahre 1618 gehörte die Mühle interessanterweise einem Hans Thölden: „Wir George Burgraf zu Kirchberg und Herr zu Farnroda hierbefehlichs haben, hans Gläser zu Sundhausen erschienen, und nur in unterthänigkeit zu vernehmen geben laßen, wie daß Er mit Hanßen Thölden, wegen der von Franz Heßen erkauften, u. nunmehr fast verfallenen Mühlen, so im Dorff Emmeleben gelegen, u. in unser Guth Waninnigsroda gehörig, auch gar mit Lehengerichten, u. Zinsen unterworffen,…“ Hohenlohe-Zentralarchiv Neuenstein GL 35 Bü 243. 51 Möglicherweise könnte Hans Thölden identisch mit Johann Thölde aus Frankenhausen sein. Johann Thölde war vor seinem Tode um 1614 im Dienst des Bamberger Bischofs von Gebsattel. Nach 1609 könnte er im Machtbereich der Grafen von Hohenlohe gelebt haben und dem Bruder des bischöflichen Nachfolgers mit Namen Heinrich von Aschhausen bei der Erschließung einer Saline am Neckar beraten haben. Heinrich von Aschhausen soll nach eigenen Angaben, im Jahre 1615 Besitzer eines Manuskriptes von Thölde gewesen sein. Vgl. Oliver Humberg, Johann Thölde als Händler und Vermittler technischer Erfindungen, in: Johann Thölde um 1565 – um 1614, Alchemist, Salinist, Schriftsteller und Bergbeamter

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(Freiberg 2011), S. 34 u. S. 39. Außerdem waren die Grafen von Hohenlohe ebenfalls al- chemistisch tätig; siehe auch Analecta Paracelsica-Studien zum Nachleben Theophrast von Hohenheim im deutschen Kulturgebiet der frühen Neuzeit, hrsg. von Joachim Telle (Stutt- gart 1994), Benedictus Figulus. 52 „Nebst vorher bemeldten Zimmer ist die Cämmerey und kleine Raths-Stube/ unter diesen befindet sich ein Gewölbe/ worinnen die alten Brieffe und Acten verwahret/ dieses Behäl- rniß wurde der Dreßden genannt/ wozu der Ober-Stadt-Schreiber/ Johann Heinrich König/ die Schlüssel und die Documenta in Ordnung zu halten/ angewiesen. In der erstern Etage dieses Hauses hat die Landschafft ihre Conferenz, wird auch daselbst alltäglich Session ge- halten/ und die Steuern eingenommen/ die Ober-Steuer-Einnehmer 1. nom. der Fürstl. Cammer/ 2. der Ritterschafft Herr General-Lieutenant von Wangenheim/ 3. der Städte hal- ber/ Herr Rath und Bürgermeister Jacob Waitz, Secr. Jacob Schuhart und Ober Cassierer Johann Gottfried Wachler.“ Friderich Rudolph, Fürstlicher Sachsen=Gothaischen Historien Beschreibung (Frankfurt/M. u. Leipzig 1716), S. 11. 53 Friderich Rudolph, Fürstlicher Sachsen=Gothaischen Historien Beschreibung (Frankfurt/M. u. Leipzig 1716), S. 313. 54 Johann Daniel Ferdinand Neigebauer, Jena Friedrich Fromman, Geschichte der Kaiserli- chen Leopoldina-Carolinischen Deutschen Akademie der Naturforscher während des zwei- ten Jahrhunderts ihres Bestehens (1860), S. 194. 55 Seine Schrift vom 26. September 1682: Jacob Waitz, MEDITATIO DE PESTE ET FEBRIBUS MALIGNIS, JACOB WEITZII, Archiatri Gothani Celeberrimi, S.R.I. Acad. Nat. Cur. D. Æson II.; NORIMBERGÆ ANNO MDCLXXXIII. 56 Hans Waitz, „Die wissenschaftliche Bedeutung des Dr. Jacob Waitz“, Sippengeschichtliche Blätter der Sippen Waitz, Waitz von Eschen, Weitz, Weiz, Folge 23, 9. Jahrgang (1939), S. 1-2. 57 Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Handschriftenabteilung, In- ventar-Nr. Portr. Slg / Slg Hansen / Mediziner / Bd. 11 / Nr. 39 (mit freundlicher Genehmi- gung). 58 Richard Kirchner, Der Bürgermeister und Leibmedikus (1939), S. 16. 59 Friedrich I. von Sachsen-Gotha und Altenburg, Die Tagebücher 1667-1686, 3, Bd., „03. 01. 1677 D. Weitzen“. Jacob Friedrich Waitz, einer der wichtigsten alchemistischen Berater Friedrichs. Aus seinen Briefen (z.B. 10. 01., 28. 02.: 14. 04. 1677) geht hervor, dass er be- reits lange Jahre mit der Kunst des Goldmachens befasst war. Er beriet Friedrich bei der Erstausstattung des Labors (Gläser, Phiolen, Ofen, Steinschrank), beim teuren Ankauf fremder Theorien u. Materialien, bei den prakt. Versuchen, führte auch selbst u. gelegent- lich auf eigene Kosten Experimente für ihn durch. Dabei erhielt Waitz aus Gründen der Geheimhaltung einen unaufwendigen Zugang zu Friedrich. Als Ausgleich bekam er u.a. Steuernachlässe und Bauholz für den Neubau seines Hauses, auch um ungestört an seinen alchemist. Studien zu arbeiten. ThStAG, GA E.XI.72a, Bll 10-15ff.” 60 Richard Kirchner, Der Bürgermeister und Leibmedikus (1939), S. 12.

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61 15. Juli 1698 Genehmigung Herzogs Friedrich II. von Sachsen-Gotha-Altenburg für den Gothaer Steuerobereinnehmer und Bürgermeister Jacob Friedrich Waitz (1641 - 1723) zur Einrichtung eines chemischen Laboratoriums im Gewölbe der Roßmühle, ThStAA, Thürin- gisches Staatsarchiv Altenburg, 1-97-2440 Familienarchiv Waitz / Wagner Nr. 1.: „Dem Durchlauchtigsten Fürsten und Herrn, Herrn Friedrichen, Hertzogen zu Sachßen, Jülich, Clewe und Berg, auch Beyern undt Westphalen etc. ist untethenigst vorgefragen worden, was der SteuerObereinnehmer undt Bürgermeistern D. Weitz wegen gnedigster Verstattung seines Laboratorium in dem Gewölbe wo die Roßmühlen beishero gestanden anzurichten unterthenigst gesucht"", Wie nun Sr. fürstl. Hoheit Ihme hierunter zu deferiren gnädigst gemeynet, daß besagtes Gewölb wenn Sie es künfftig zu andren Behuff selbst nöthig haben möchten Sie wiederumb geräumet werden. Also haben Sie Ihme solches zu zur resolution hierdurch zuverme wollenlden befohlen. Signatum Friedenstein den 15. July 1696 Friedrich H. Sachsen“. 62 „Welche kurtze und doch treumeynende Verfassung ich hiermit allen/ so nun lange Zeit her auff meine Antwort gewartet abgeben wollen/ mit Bitte/ ein mehrers/ das ich nicht bin noch habe/ von mir weiter nicht zu halten oder zu begehren/ weil ich hohen Alters/ und vielen andern Geschäfte wegen/ unmöglich weiter arbeiten oder antworten kann; vielmehr wessen sie sich hierdurch mit GOTT gebessert finden/ wie ich sie also dessen/ auch mich und die Meinige geniessen zu lassen. / Dann was ich auch dießfals vor Wissenschaft und Erfahrung erlanget/ habe ich dennoch/ als ein 66. Jähriger Mann/ alle meine Arbeiten schon längst eingestellet/ und suche nicht mehr den irdischen/(ich habe gefunden/ daß ferner was zu ar- beiten/ oder weiter zu gehen/ mich GOTT bishero gehalten habe/) sondern/ wie allezeit also jetzo/ noch mehr den ewigen Triangularem Lapidem Tincturalem Jesum, der meiner armen Seelen um seines Hochheiligen Leidens und Sterbens willen genaden wolle. Schrieb ei- ligst den 13. Martii 1708. Jacob Waitz/ Phil. & Med. . Fürstl. Sächs. Ober-Steur- Einnehmer/ Leib-Medicus und Bürgermeister in Gotha.“ Jacob Waitz, Analogica Veritas cum progressu ad Philalethae aliorum Adeptorum intimiorem Philosophiam oder Wahrheit und Grund der besondern und geheimen Phila, und hierbey zu Universalien und Particula- rien mit einlauffenden mehren Wegen/ Zur Antwort allen Liebhabern dieser hohen Wissen- schafft/ auf Dero bißhero mehrmals an mich abgelassene Schreiben/ Gotha, d. 13. Martii 1708 ausgefertiget von Jacob Waitzen/ Ph. & Med. Doct. Fürstl. Sächs. Ober-Steuer- Ein- nehmer/ Leib-Medico und Bürgermeister dasselbst., Berliner Schriften Staatsbibliothek zu Berlin – PK, 3 Mu 4561 digitalisiert, S. 38-39. 63 Jacob Waitz, Aqvilae Thuringiae Redivivae, Oder Kurtzer Entwurff vom feuchten und trocknen Weg, Wie auch dem Alcahesto (Gotha 1685). 64 Karl Christoph Schmieder, Geschichte der Alchemie, neu gesetzte und überarbeitete Aus- gabe der Erstausgabe von 1832 (Wiesbaden 2005), S. 197 (im Original S. 209). 65 Jacob Waitz, Aqvilae Thuringiae (Gotha 1685), Vorrede. 66 Jacob Waitz, Aqvilae Thuringiae (Gotha 1685), S. 1-9. 67 Jacob Waitz Aqvilae Thuringiae (Gotha 1685), S. 17. 68 Jacob Waitz, Aqvilae Thuringiae (Gotha 1685), S. 20. 69 Jacob Waitz, Analogica Veritas (Gotha 1708).

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70 Irenäus Philalethes (Pseudonym) für George Starkey (1628-1665), englischer Alchemist. 71 „Jacob Waitzens/Phil. & Med. Doct. Fürstl. Sächs. Raths/ Ober-Steuer-Einnehmers und Bürgermeisters daselbst/ Medaillen-Erklärung/ des im Revers seines hier beygefuegten Brust-Bildes, enthaltenen Philalethanischen Nuclei, […] communiciret durch Christian Wermuthen, Fürstl. Sächs. Medaillieur in Gotha. Friderich Rudolph, Fürstlicher Sach- sen=Gothaischen Historien Beschreibung (Frankfurt/M. u. Leipzig 1716), S. 313. 72 Friderich Rudolph, Fürstlicher Sachsen=Gothaischen Historien Beschreibung (Frankfurt/M. u. Leipzig 1716), S.314. 73 D.I.W., Das mineralische Gluten, doppelter Schlangen Stab, Mercurius Philosophorum langer und kurzer Weg zur UNIVERSAL-TINCTUR, von D.I.W. von Weimar aus Thürin- gen (1704) (Ausgabe 1763). 74 D.I.W., Der Philosophische Perl-Baum, Das Gewächs der drey Principien, Zu deutlicher Erklärung des Steins der Weisen, Wie er mit seinen Wurtzeln in der äußern und finstern Welt, mit seiner Blüthe aber in der Paradiesischen- und Licht-Welt, und mit seiner reiffen Frucht in der Englischen und Himmlischen Welt stehet und wächset., D.I.W. von Weimar in Thüringen, Weimar 1705, hrsg. von G. Ch. Wintzer (Franckfurt und Leipzig 1722). 75 D.I.W., III. Schlüssel zu dem Cabinet der geheimen Schatz-Cammer der Natur, Zur Such- und Findung des Steins der Weisen durch Fragen und Antworten gestellet, Verfertiget und der Welt gezeignet durch D.I.W. von Weimar Thüringen (Weimar 1705), hrsg. von G. Ch. Wintzer (Franckfurt und Leipzig 1722). 76 Jacob Waitz, Analogica Veritas (Gotha 1708), S. 4: „Ob ich oder andere aus meiner Cor- respondenz unter meinem Nahmen was mehres geschrieben/ darvon will ich nicht sagen/ und betaure vielmehr/ daß dasjenige/ was unter vertraulicher communication in Manuscrip- tis bestanden/ zur Unzeit mir entnommen/ theils mit ziemlichen errorobus publicieret wor- den. Deshalb ich auch kein Exemplar würdig achten wollen/ solches bey mir zu beherber- gen/ bis ich Gelegenheit haben möchte/ deren emendation vorzunehmen.“ 77 BASILIUS INNOVATUS. Das ist: Fr. BASILII VALENTINI, Ordin. Benedict. Chymische Schrifften/ Anjetzo Zum Vierdten mahl zusammen gedruckt/ […] Und in Drey Theile ver- fasset: nebst einer neuen Vorrede, Worinnen von Lesung und Critique der Alchymistischen Schrifften/ ihren Scribenten, neuen Projections-Historien, der Materia Prima Philosophica, dem Leben des Basilii, und was in dieser Edition besonders praestiret worden, einige Nach- richten mitgetheilet wird, Von BENED. NIC: PETRAEO; HAMBURG In Verlegung Sa- muel Heyls 1717, Blatt 78. 78 Oliver Humberg, Der alchemistische Nachlaß Friedrich I. von Sachsen-Gotha-Altenburg (Wuppertal 2005), Nr. 96; b) 47-113 „S.. Walchin betr.“ 79 Johann Christian Wiegleb, Geschichte des Wachsthums und der Erfindungen in der Chemie in der neuern Zeit, hrsg. von Friedrich Nicolai (Berlin und Stettin 1790), Bd. 1, S. 126-127. Wiegleb schrieb D.I.(ac.) W.(aitz) in der Literaturangabe auf S. 127 und begründete damit die Urheberschaft von Waitz für die Erfindung dieser Geheimtinte. 80 Einer der bedeutendsten Vertreter dieser Dynastie war sein Enkel, der spätere hessisch- preußische Minister, Obersalzgraf und Direktor mehrerer Salinen, Jacob Siegmund Freiherr

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Waitz von Eschen. Dieser wurde 1698 in Gotha geboren und gilt als einer der Gründerväter der wissenschaftlichen Salinenkunde. Siehe Waitz von Eschen, Jacob Siegmund Freiherr, in: Hessische Biographie . 81 Carl Eduard Vehse, Geschichte der deutschen Höfe seit der Reformation, Teil 5 (Hamburg 1853), Bd. 27, S. 193.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Die „Jedermann-Chemie“ des Friedlieb Ferdinand Runge

Dr. Klaus-D. Röker, Schuhmachersweg 11, 30826 Garbsen

Der in Billwerder bei Hamburg geborene Friedlieb Ferdinand Runge (1794 - 1867) gehörte sicher zu den pittoreskeren Persönlichkeiten der deutschen Chemie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Runge hatte entdeckt, dass bei der Durchführung von Tüpfelreaktionen auf unge- leimtem, weißem Fließpapier charakteristisch farbige, mehr oder weniger kon- zentrische Strukturen entstehen. Diese Rungeschen Bilder gelten als Vorläufer der Chromatographie und haben ihren Weg bis in den propädeutischen naturwis- senschaftlichen Unterricht der Grundschulen1 gefunden. In seinem, dem preußi- schen König Wilhelm IV. als „öffentliches Denkmal“ gewidmeten Buch „Mu- sterbilder für die Freunde des Schönen“2 waren Originalausfertigungen dieser „selbstmalenden Bilder“, eingeklebt. Runge fand für diese die selbstironische Bezeichnung „Professoren-Klexe“.

Abb.1:3 F.F. Runge, Abb. 2:4 Beispiel aus Lithophanie Staatl. Porzellanmanufaktur „Musterbilder für die Freunde des Schönen“ Berlin, ca. 1848

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Runge war von 1828 - 1832 Professor der Technischen Chemie in Breslau, da- nach Industriechemiker im brandenburgischen Oranienburg. Aus dem Steinkoh- lenteer isolierte er u.a. „Kyanol“ (Anilin) und „Carbolsäure“ (Phenol).

Zur Popularität Runges trug die berühmt gewordene Begegnung am 3. Oktober 1819 mit Goethe5 bei, wobei diesem die pupillenerweiternde Wirkung von Bilsenkraut-Extrakt demonstriert wurde. Von Goethe erhielt Runge bei seinem Besuch eine Schachtel mit Kaffeebohnen, hieraus gelang ihm die Isolierung des Coffeins. Runge schrieb von sich selbst, dass er „immer in Giftpflanzen wühlte“ und daher auch seinen Spitznamen „Dr. Gift“ als „Ehrentitel“ auffasse. Der Schwerpunkt des chemischen Schaffens von Runge war äußerst praxisorientiert. Das Rungesche Tätigkeitsspektrum war sehr breit, es reichte von medizinisch- biologischen Themen, z.B. dem seinerzeit lebhaft diskutierten „thierischen Magnetismus“ über Phythochemie6 sowie Arbeiten zur allgemeinen und techni- schen Chemie bis hin zu bemerkenswert kompetenten Ratschlägen für die Haus- wirtschaft.7,8

Die Anzahl von Runges Beiträgen in den be- kannten chemisch-wissenschaftlichen Zeit- schriften ist vergleichsweise gering, bemer- kenswert sind jedoch seine schriftstelleri- schen Aktivitäten, die sich weniger an die Wissenschaft, sondern vielmehr an „Jeder- mann“, den mit chemischen Prozessen befas- sten Praktiker wandten. Diesen wollte er da- bei „das Reinwissenschaftliche …[…]… durch Beziehung auf praktische Anwendung genießbar und schmackhafter machen“.11 Runges Ziel war es, eine

allgemein verständliche und doch den For- derungen der Wissenschaft streng genü- gende Chemie, besonders dem Gewerb- mann und Fabrikanten in die Hand [zu ge- Abb. 3: 9,10 Runge beim Verkosten sei- ben], die ihm bey seinen chemischen Ar- nes Kunstweins beiten als treuer Rathgeber zu Diensten stände.12

Das 1830 erschienene, erste Buch der „Jedermann“-Reihe mit dem Titel „Grund- lehren der Chemie für Jedermann“12 verzichtete konsequent auf ausführliche theoretische Betrachtungen. Der Umfang des Dargestellten war bewusst einge- schränkt:

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 [Meine] Erfahrungen bestimmen mich, eine Menge chemischer Tathsachen gar nicht zu erwähnen, die in allen Handbüchern stehen. Auch fand ich es für mein Publikum völlig unnöthig, ihnen weitläufig die physikalischen Eigenschaften der Körper zu beschreiben, weil sich das durch Sehen und Fühlen viel besser und schneller lernt als durch Schrift und Wort.12

Runge stellte seinem Buch ein Bibelzitat voran: „Aber Du hast alles geordnet mit Maaß, Zahl und Gewicht“,13 denn er sah die Hauptaufgabe seines Werkes in der Vermittlung der Stöchiometrie, der „Lehre von den bestimmten Mischungsver- hältnissen der Körper“:

Durch das immerwährende Hinweisen auf ganz bestimmte, unabänderliche Zah- lenverhältnisse bei der Erzeugung chemischer Verbindungen erreicht man bey dem Fabrikanten noch einen anderen sehr wichtigen Zweck, nehmlich den, dass sie die Notwendigkeit des Wägens und Rechnens einsehen.14

Das Gedankengebäude der anorganischen Chemie bewertete Runge als nahezu abgeschlossen:

Die mineralische Chemie kann jetzt als eine Wissenschaft betrachtet werden, die ihrer Vollendung nahe ist. Ihr Gebiet ist nach allen Seiten hin erforscht, die Gren- zen aufs Klarste erkannt und erwiesen, und der unendliche Reichthum an Thatsa- chen wird dadurch zu einem grossen organischen Ganzen verknüpft.15

Nach einem zunächst eher vorsichtig-tastenden Einstieg 1830 mit dem ersten Buch der „Jedermann-Chemie“, in welchem sich keine Abbildungen finden, folgten opulent-farbenfrohe Werke: 1836 die „Einleitung in die technische Che- mie für Jedermann“, 1838 und 1839 die „Technische Chemie der nützlichsten Metalle für Jedermann“16 in zwei Teilen und schließlich 1843 eine bebilderte Neuauflage der „Grundlehren der Chemie für Jedermann“.17 Auffälligstes Merkmal dieser Bücher sind die vielen eingeklebten farbigen Bildchen, die dem Leser ein „Führer in den reichen Bildersaal der Chemie“18 sein sollen. Runge war es gelungen, Proben der jeweiligen im Text angesprochenen chemischen Verbin- dungen in einer Auflösung von Kautschuk in Steinkohlenöl zu suspendieren und sie derart geschützt gegen Oxidation auf Papierblättchen aufzubringen. Runge hatte bereits zuvor 1834 in seine „Farbenchemie“19 Stoff-Färbemuster-Proben einkleben lassen und griff nun auf seine Erfahrungen zurück. 20,21

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Runges Bücher waren nun auch nicht mehr ausdrücklich für die Praktiker in Industrie und Handwerk sondern allgemein für „Jedermann bestimmt, d.h. es fordert vom Leser nichts wei- ter als gesunden Menschenver- stand und guten Willen.“18 In der „Einleitung in die techni- sche Chemie für Jedermann“ begründete er seine eingekleb- ten Substanzbildchen:

Abb. 4: Eingeklebte Substanzbildchen in Büchern von Hierdurch wird das Buch Runge gleichsam zu einem chemi- schen Vortrag mit Expe- rimenten, worin das Wort des Lehrers durch die Schrift und das chemische Ex- periment durch das Bild der Vergänglichkeit entrissen, und für künftige Zeiten aufbewahrt ist. 20

Runge war ein militanter Verfechter der Reinheit der deutschen Sprache, er lehn- te Fremdworte vehement ab.22 Dieses führte oftmals zu einer recht eigenständi- gen chemischen Terminologie. Die vereinzelte Kritik an seinem Stil nahm er ge- lassen. Sicher genüsslich zitierte er in seinen „Hauswirtschaftlichen Briefen“ den wohlwollenden Kommentar eines seiner Freunde:

Diese Zunftgelehrten sind wüthend, dass Sie [Runge] ganze Bücher schreiben, ohne ein einziges Fremdwort zu gebrauchen und daher von Jedermann verstanden werden.23

Runge verzichtete in seinen Jedermann-Büchern auf formelmäßige Darstellun- gen. Der Begriff des Atoms und die Vorstellung eines kleinsten, undurchdringba- ren Korpuskels treten in den „Jedermann-Chemien“ nicht auf. Runge war kein Atomist, sondern Vertreter der sog. dynamisch-chemischen Theorie, die von Berzelius 1828 abfällig als „speculative Philosophie gewisser deutscher Schulen“ bezeichnet wurde.24,25 Die dynamisch-chemische Theorie lehnte die Atome als kleinste, unteilbare Korpuskel ab und erklärte die Verbindungsbildung „durch die wechselseitige Durchdringung der verschiedenen Materien“. Dabei wurde „eine Theilbarkeit der Materie bis in’s Unendliche“ voraus gesetzt.26 Eine chemi- sche Verbindung sah Runge als Kombination von Stoffen (chemischen Elemen- ten) mit gegensätzlichen Eigenschaften. Diese gegensätzlichen Eigenschaften sollten die Triebkraft für die innige gegenseitige Durchdringung sein. Die Vor-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 stellung war, dass die Gegensätze im Reaktionsprodukt ausgeglichen waren und dadurch ein „neues Drittes“ mit eigenständigen Eigenschaften entsteht. Runge spricht von einer „gegenseitigen Umwandlung“ der beteiligten Ausgangsstoffe, bei der jedoch keine „Vernichtung“ der ursprünglichen Eigenschaften stattfände, denn diese

… sind noch in dem Produkt der chemischen Verbindung vorhanden, aber gleich- sam so mit einander beschäftigt und durch einander gebunden, dass die, der freien Aeusserung beraubt, für die äussere Erscheinung nicht wahrnehmbar sind. Trennt man die Verbindung, so erscheinen die Stoffe mit ihren früheren Eigenschaften wieder. So kann aus der …[…]… Kupferasche wieder Kupfer und Sauerstoff, aus der Mennige wieder Blei und Sauerstoff geschieden werden, begabt mit allen Ei- genschaften, die ihnen ursprünglich zukommen.27

Runge ordnete die 54 seinerzeit bekannten Elemente, die chemischen einfachen Stoffe, drei „Abtheilungen“ zu: Brennern, Metallen und Metalloïden. Als „Bren- ner“ (oder „Elemente der Sauerstoffreihe“) definierte er die chemischen Elemen- te,

deren Eigenschaften denen des Sauerstoffs ähnlich sind: Schwefel, Selen, Chlor, Jod, Brom, Fluor, Phosphor. Sie bilden den Gegensatz zu den Stoffen [Elementen] der Metallreihe oder den Metallen. Sie heben die Eigenschaften dieser eben so vollständig auf, wie es der Sauerstoff thut und werden umgekehrt auch von den Metallen eben so vollständig ihrer Eigenschaften beraubt, dass dadurch wirklich chemische Verbindungen zu Stande kommen…[…]…. Der Hauptgrund aber, wa- rum die Stoffe …[…]… unter eine Abtheilung zu stehen kommen, ist dass ein jeder den anderen ersetzen und seine Stelle vertreten kann. In der che- mischen Sprache bezeichnet man das als >>austreiben<< …[…]… In der Che- mie, wie überall, gilt also der Satz: das Ungleiche zieht sich an und das Aehnliche flieht sich. Daher die Brenner zu den ihnen sehr ungleichen Metal- len eine große Anziehung haben, sich dagegen unter einander als ähnliche Stoffe abstossen und daher austreiben. Diese Abstossung unter einander ist aber nur dann vollkommen, wenn gleichzeitig ein Metall gegenwärtig ist, um dessen Besitz es sich gleichsam handelt. Fehlt dieses …[…]…so verbinden sich die Brenner auch unter einander, z.B. der Sauerstoff mit dem Schwefel, Phosphor, Chlor etc.28

Die Bezeichnung Brenner für eine Gruppe von chemischen Elementen war nicht neu. Man findet den Begriff mit abweichender Bedeutung auch bei Karl Wilhelm Gottlob Kastner (1783 - 1857).29,30

Die Metalle selber stehen im strengen Gegensatz zu den Brennern und gleichen dadurch die entgegengesetzten chemischen Eigenschaften derselben so vollständig aus, dass wirkliche chemische Verbindungen entstehen …[…]… Die vor der Ver-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 einigung erkennbaren Eigenschaften sind nach derselben an beiden Seiten erlo- schen und neue sind dafür ins Dasein getreten.31

Der Beweis für die große Ähnlichkeit der Metalle untereinander sah Runge in der gegenseitigen Ersetzbarkeit der Metalle in Verbindungen.31

Die nach der Zuordnung zu Brennern und Metallen verbliebenen Elemente Was- serstoff, Kohlenstoff, Bor und Stickstoff bezeichnete Runge als „Metalloïde“, da sich diese Elemente zwar nicht eindeutig den Brennern oder Metallen zuordnen ließen, das chemische Verhalten aber dennoch am ehesten den Metallen ähnel- te.31 Damit definiert Runge den Begriff Metalloïd abweichend gegenüber dem seinerzeit üblichen Gebrauch. Jöns Jacob Berzelius (1779 - 1848) z.B. fasste un- ter dem Begriff Metalloide alle einfachen Stoffe zusammen, die „nicht zur Classe der Metalle gehören“.32

1797 war von Joseph Louis Proust (1754 - 1826) das Gesetz der konstanten und 1808 von John Dalton (1766 - 1844) das Gesetz der multiplen Proportio- nen für die Zusammensetzung von chemischen Verbindungen formuliert wor- den. Darin sah man ein wesentliches Argument für die Vorstellung des Auf- baus der Materie aus Atomen. Runge kam im Rahmen seiner chemisch- dynamischen Vorstellungen ebenfalls zu diesen Gesetzen, ohne dabei aber auf die Atomtheorie zurückgreifen zu müssen. Für Runge war wiederum der Aus- gleich der gegensätzlichen chemischen Eigenschaften die Erklärung: Chemi- sche Verbindungen sind danach eindeutig definiert, denn

man darf eine Verbindung, wo keine vollständige Ausgleichung oder Aufhebung der entgegengesetzten Eigenschaften der einfachen Stoffe erfolgt, …[…]… keine chemische nennen.27

Da den chemischen Elementen nach Runge unterschiedliche chemische Wirk- vermögen zukommen, bedarf es auch unterschiedlicher Mengen der jeweiligen Stoffe, um bei der wechselseitigen Durchdringung gegenseitig „vernichtet oder ausgeglichen zu werden“.33 Bei dieser Sichtweise musste Wasserstoff als leich- testes Element das „stärkste“ und Uran, das seinerzeit schwerste bekannte Ele- ment Uran, das „schwächste“ sein:

Die Stoffe verbinden sich …[…]… nach Zahlenverhältnissen, die mit der Stärke ihrer chemischen Wirksamkeit in Verhältnis stehen. Je kräftiger oder wirk- samer ein Stoff, desto kleiner, je schwächer, desto größer ist diese Zahl. Der che- misch kräftigste Stoff ist der Wasserstoff. Sein chemisches Wirkungsvermögen wird durch die Zahl = 1 ausgedrückt. Der chemisch schwächste Stoff ist das Uranmetall. Sein chemisches Wirkungsvermögen wird durch die Zahl = 217 aus- gedrückt. Das heißt: 1 Pfund Wasserstoff ist chemisch so viel werth, als 217

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Pfund Uranmetall, indem die letzteren nicht mehr zu leisten im Stande sind, als 1 Pfund Wasserstoff.33

Das „chemische Wirkungsvermögen“ des Sauerstoffs erhielt damit den Zahlen- wert 8, denn

um 8 Pfund Sauerstoffgas als solches zu vernichten und in den flüssigen oder fe- sten Zustand mit Aufhebung aller seiner Eigenschaften zu versetzen, bedarf es nur eines Pfundes Wasserstoffs. Es bildet damit 9 Pfund Wasser oder Eis.33

Runge ordnete die „einfachen Stoffe“, die chemischen Elemente, danach, in wel- chem Verhältnis sie sich mit Wasserstoff = 1 und Sauerstoff = 8 verbinden: Er erhielt so Zahlen, die er als „Entsprechung für das chemische Wirkungsvermö- gen“ oder den „chemischen Werth“ ansah.33 Er bezeichnete diese Zahlen als Mi- schungsgewichte (MG) der chemischen Elemente und definierte sie als die Ge- wichte, mit welchen die Stoffe in die „chemische Mischung oder Verbindung“33 eingehen. Eine Differenzierung zwischen Mischung und Verbindung kannte Runge nicht.

Bemerkenswerterweise ver- wendete er das Pfund als Maßeinheit, was nicht nur heute etwas irritierend wirkt, sondern bereits einem frühen Rezensenten seines Buches „Einleitung in die technische Chemie für Jedermann“ (1838) als nicht zweckmäßig erschien, „da dadurch Laien veranlasst werden können, zu glauben, dass die Verbindung wirklich nur in Pfundverhält- nissen Statt finde“.34

Der „chemische Werth“ ist identisch mit dem Äquivalent oder dem Mischungsgewicht, die Unterscheidung vom

33 Atomgewicht bzw. Moleku- Abb. 5: Die Rungeschen Mischungsgewichte (MG). largewicht war noch nicht Allgemeingut, hier sollte erst der Karlsruher Kongress einen Meilenstein für das allgemeine Verständnis setzen.35

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Die von den Wasserstoffverbindungen (H = 1) abgeleiteten „chemischen Werthe“ stimmten mit den heutigen Werten für die Atommassen der Elemente gut überein. Demgegenüber musste der Bezug auf O = 8 bei den Oxiden konse- quenterweise zur Halbierung der korrekten Atommassen führen (Abb. 5).

Runge formulierte auch das Massenerhaltungsgesetz vor dem Hintergrund der dynamisch-chemischen Theorie: Bei der „Entstehung der Mischungsgewichte der Stoffverbindungen“ herrscht aufgrund des Gleichgewichts der chemischen Wirksamkeiten strenge Additivität:

Die Verbindung zweier Stoffe mag noch so innig, die Umwandlung, welche sie gegenseitig durch einander erleiden, mag noch so gross sein, so erleidet doch ihr Mischungsgewicht, welches jeder einzeln hat, keine Veränderung. Es ist der Geist, der über der Verbindung schwebt.36

Runge teilte die chemischen Verbindungen in „Ordnungen“ ein: Verbindungen erster Ordnung sind aus nur zwei Stoffen zusammengesetzt. Runge nahm an, dass sich komplexere Verbindungen höherer Ordnungen, d.h. mit mehr als zwei chemischen Elementen stufenweise aufbauen, wobei am Beginn aber immer die Vereinigungen zweier „einfacher Stoffe“ steht:

Das Einfache vereinigt sich nur mit dem Einfachen und das Zusammengesetzte nur mit dem Zusammengesetzten ...[…]… Die Verbindungen erster Ordnung sind die, wo sich nur zwei Stoffe mit einander vereinigt haben. Sie bilden die Grundla- ge aller übrigen, der zweiten und dritten und folgenden Ordnungen, die nur Wie- derholungen derselben oder Verbindungen von Verbindungen sind.37

Wenn – wie z.B. bei den Stickoxiden – Verbindungen aus zwei Elementen in unterschiedlichen stöchiometrischen Verhältnissen vorliegen, so bezeichnete Runge diese als „Verbindungsstufen“, im Fall des Sauerstoffs als „Sauerstof- fungsstufen“. Als Beispiel führte er die Stickstoff-Sauerstoff-Verbindungen mit fünf „Verbindungsstufen“ an: ein Mischungsgewicht Stickstoff kann sich dem- nach nach Runge mit ein, zwei, drei, vier oder fünf Mischungsgewichten Sauer- stoff verbinden:

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

Abb. 6: 38 Verbindungsstufen der Stickstoff-Sauerstoff-Verbindungen.

Im ersten Schritt bildet sich nach Runge aus einem MG Stickstoff (MG = 14) und einem MG Sauerstoff (MG = 8) das Stickstoffoxydul (Lachgas). In seinem System kommt Runge letztlich mit der Sauerstoffungsstufe 5 zur Salpetersäure39 mit einem Mischungsgewicht-Verhältnis Stickstoff / Sauerstoff von 1 : 5. Dieses entspricht bei Verwendung der korrekten Atommassen (N = 14 und O = 16) dem vertrauten Gang der Oxide von N2O bis zum N2O5.

Mit Hilfe einer originellen graphischen Darstellungsmethode stellte Runge die Systematik der „Sauerstoffungsstufen“ dar: Für die chemischen Verbindungen stehen – in der Regel rechtwinklige – Vierecke, die zueinander im Winkel ange- ordnet sind und deren gegenüberliegende Seiten ein inneres Dreieck bilden. Die an die kürzeren Seiten des Dreiecks grenzenden Rechtecke stehen für die Aus- gangskomponenten, das gegenüberliegende größere Rechteck für das Reaktions- produkt, welches sich additiv aus den Zusammensetzungen der beiden Ausgangs- komponenten ergibt (Abb. 7).

Stickstoff-Sauerstoff-Verbindungen in der Rungeschen Systematik

Abb. 7: 40 N = 14, O = 8 Abb. 8: N=14, O = 16

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Aufgrund der verwendeten Mischungsgewichte musste Runge zwangsläufig zu falschen Zuordnungen kommen: Die Zuordnungen von untersalpetriger und sal- petriger Säure in Abb. 7 sind nicht zutreffend. Bei Verwendung des Wertes 16 für Sauerstoff hätte Runge an deren Stelle NO2 und N2O3 setzen müssen (Abb. 8).

In gleicher Weise erklärte Runge auch die „Sauerstoffungsstufen“ von Mangan (Abb. 9), Arsen41, Blei42, Chrom43, Eisen44, Kupfer45, Wismuth46 und Zinn47. Da sich hier die halbierten Atomgewichte des Metalle und des Sauerstoffs gegensei- tig kompensieren, geben die Rungeschen Grafiken (z.B. Mangan) die Systematik der Oxide korrekt wieder (Abb. 9 und 10).

Die Rungesche Systematik der Manganoxide

Abb. 9: 48 Abb. 10

Runge stellte auch die „Schwefelantimone“49 nach der gleichen Systematik dar.

Ebenso wie sich bei den einfachen Stoffen bei Brennern und Metallen, die Ver- bindungen der 1. Ordnung bilden, so erklärte Runge auch bei den Verbindungen der 2. Ordnung die Verbindungsbildung wieder mit einer Triebkraft, nämlich aus dem Gegensatz von Säuren und Basen:

Dieser chemische Gegensatz der einfachen Stoffe kehrt nun in ihren Zusammen- setzungen oder Verbindungen wieder. Auch diese theilen sich in zwei entgegenge- setze Reihen, deren eine der Sauerstoffreihe oder den Brennern, und deren andere der Metallreihe entspricht. Man nennt sie Säuren und Basen.50

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Eine verbreitete zeitgenössische Vorstellung war, dass in Wasser lösliche Sauer- stoff-Verbindungen Säurecharakter aufweisen. Da Chlor als Brenner dem Sauer- stoff im Reaktionsverhalten ähnelt, war für Runge damit auch der Säurecharakter von zwar sauerstofffreien, dafür aber chlorhaltigen Verbindungen plausibel.51 Bereits 1838 hatte Liebig in seiner Arbeit „Über die Konstitution der organi- schen Säuren“ auf die Rolle des Wasserstoffs hingewiesen: „Säuren sind hier- nach gewisse Wasserstoffverbindungen, in denen der Wasserstoff vertreten wer- den kann durch Metalle.“52 Man unterschied allgemein zwischen Sauerstoff- und Wasserstoffsäuren. In Lavoisierscher Tradition wurde der Sauerstoff bei den Sauerstoffsäuren als das „säuernde Prinzip“ angesehen. Dieses galt jedoch nicht für den Wasserstoff in den Wasserstoffsäuren, in denen zwar der Wasserstoff als elektropositiver Bestandteil erkannt, die Säureeigenschaft jedoch den „Vertretern des Sauerstoffs“ wie Chlor oder Brom zugeschrieben wurde.53 Runge sah diese Vorstellung bestätigt, da „Sauerstoffstickstoff“ (Salpetersäure) eine starke Säure, „Wasserstoffstickstoff“ (Ammoniak) hingegen eine starke „Basis“ ist.54

Die aus nur zwei einfachen Stoffen bestehenden Verbindungen 1. Ordnung kön- nen nach Runge sowohl Säure- als auch Basencharakter haben:

Die Brenner sind die Säurebildner und die Metalle die Basenbildner. Eine Metallverbindung, in welcher ein Brenner das Übergewicht hat, charakterisiert sich daher als eine Säure, und umgekehrt zeigt sie sich als Basis beim Überge- wicht des Metalls. So bildet der Sauerstoff mit demselben Metall oft eine Säure und eine Basis, je nachdem er zu mehreren oder nur zu einem Mischungsgewicht [Äquivalent] sich mit ihm verbindet. Die Sauerstoffverbindungen des Chroms, Mangans, Zinns u.s.w. sind z.B. von solcher Art. Ihre erste Sauerstoffungsstufe, die man Chrom-, Mangan- und Zinnoxydul nennt, ist basisch gegen Säuren. Die zweite oder dritte Sauerstoffungsstufe, die man Chromsäure, Mangansäure und Zinnsäure nennt, sind das, was ihr Name sagt, gegen Basen. Die stärksten Säuren entstehen aus der Verbindung von zwei Brennern, z.B. von Sauerstoff mit Schwe- fel: Schwefelsäure; von Sauerstoff mit Phosphor: Phosphorsäure; von Sauerstoff mit Chlor: Chlorsäure. Auch wenn ein Metall verhältnissmässig sehr viel Sauer- stoff aufnimmt, entsteht eine sehr starke Säure. Als Beispiele dienen die Chrom- säure, die Uebermangansäure und die Arseniksäure. Die Metalle: Kalium, Natri- um, Barium, Strontium und Calcium, bilden mit dem Sauerstoff nur Basen und keine Säuren, daher man sie Alkalimetalle und diese Basen Alkalien nennt. Die übrigen Metalle bilden, wie bereits angeführt, meistens beides: Säuren und Basen, wenn nämlich das Metall die Eigenschaften hat, sich mit einem Brenner, z.B. dem Sauerstoff, in zwei oder mehreren Verhältnissen zu verbinden.55

Runge beschreibt, dass Säure- und Baseneigenschaften von Stoffen relativ zu ihrer chemischen Umgebung bewertet werden müssen:

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 … der chemische Gegensatz, sauer oder basisch, [ist] das Produkt einer Wechsel- wirkung zweier Stoffe …[…]…, indem man nur den Stoff eine Säure nennen kann, der einer Basis entgegengesetzt ist und umgekehrt denjenigen eine Basis, der einer Säure entgegengesetzt ist …[…]… Die chemische Anforderung, welche er [der eine Stoff] an den anderen Stoff macht, bestimmt für diesen den anzuneh- menden Charakter.54

Kali, „die stärkste Basis, die man kennt“54, macht nach Runge alle Stoffe zu Säu- ren. Analog existieren gegenüber der stärksten Säure, der Schwefelsäure, nur Basen.

….Stoffe, die sich sowohl mit dem Kali als mit der Schwefelsäure chemisch ver- binden, …[…]… müssen …[…]… gleichsam eine chemische Doppelnatur besit- zen, und sich den chemischen Anforderungen beider nach Umständen bequemen.54

Runge unterschied drei Abteilungen zusammengesetzter Stoffe:54 1. Wirkliche Säuren, die sich ausschließlich als Säuren verhalten (z.B. Schwefelsäure, Salzsäure, Salpetersäure), 2. wirkliche Basen, die sich ausschließlich als Basen verhalten (z.B. Kali, Natron, Ammoniak) und 3. „Sauerbasen“, d.h. Stoffe, die sich gemäß der jeweiligen Umstände so- wohl sauer als auch basisch verhalten können (z.B. Tonerde, Zinkoxid, Zinnoxid, Bleioxid). Der Ausgleich der Gegensätze Säure und Base, d.h. den Verbindungen 1. Ord- nung, erfolgt in der Neutralisationsreaktion zum Neutralsalz, der Verbindung 2. Ordnung. Beim Neutralsalz verschwinden die Eigenschaften der Ausgangsstoffe, z.B. der saure Geschmack der Säure und die Schärfe der Base:

Das Produkt der vollständigen Sättigung einer Säure durch eine Basis oder einer Basis durch eine Säure, heißt das Neutralsalz ...[…]… Nimmt ein Neutralsalz noch einmal so viel Säure oder noch mehr auf, so entsteht eine Verbindung, die man ein saures Salz nennt. Das saure schwefelsaure Kali ist ein solches Salz …[…]… Nimmt ferner ein Neutralsalz noch einmal so viel oder noch mehr Basis auf, als es schon enthält, so entsteht eine Verbindung, die man ein basisches Salz nennt. Das basisch schwefelsaure Kupferoxyd ist ein solches.56

In der ersten Auflage der „Grundlehren der Chemie für Jedermann“ aus dem Jah- re 1830 rechnete es sich Runge im Vorwort zum Verdienst, dass das Wort „Ver- wandtschaft …[…]… unbeschadet der chemischen Theorie niemals vorkommt“, da es missverständlich sei und somit den Fortschritt der Chemie aufhielte.57 In den 1836 und 1838/39 erschienenen Büchern zur „Technischen Chemie für Je- dermann“ sprach Runge dann aber doch von Verwandtschaften. 1843 war in der

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 dritten Auflage der „Grundlehren der Chemie für Jedermann“ – bei sonst identi- schem Nachdruck des Vorworts zur ersten Ausgabe – die kritische Stellungnah- me zum Begriff Verwandtschaft still und kommentarlos verschwunden.58

Die grundsätzliche Erklärung für die Verdrängung der basischen und sauren Be- standteile in Salzen durch andere Basen oder Säuren sah Runge im bereits ange- sprochenen Prinzip „das Ungleiche zieht sich an und das Aehnliche flieht sich“.28

Runge griff dabei auf das auf Étienne François Geoffroy59 (1672 - 1731) zurück- gehende und u.a. von Carl Friedrich Wenzel60 (1740 - 1793) weiter entwickelte Konzept der chemischen Verwandtschaften auf.

Zur Erklärung des Verwandtschaftskonzepts beschrieb Runge die für Kali (Kali- um) geltende Verwandtschaftsreihe Schwefel-, Salpeter-, Chlorwasserstoff-, Es- sig-, Kohlen- und Schwefelwasserstoffsäure.61,62 1. Schwefelsäure zersetzt das salpetersaure Kali 2. Salpetersäure das chlorwasserstoffsaure Kali 3. Chlorwasserstoffsäure das essigsaure Kali 4. Essigsäure das kohlensaure Kali 5. Kohlensäure das schwefelwasserstoffsaure Kali Runge erklärte das Konzept wie folgt:

Um diese Anziehung kurz zu bezeichnen, bedient man sich des Wortes Ver- wandtschaft, und nennt solche Stoffe, die sich vor anderen leicht und gerne ver- binden, verwandt. In den Fällen, wo eine Basis die Wahl zwischen zwei Säuren, und einer Säure die Wahl zwischen zwei Basen bleibt, fügt man noch dieses Wort hinzu und sagt wahlverwandt und Wahlverwandtschaft.63

Bei der einfachen Wahlverwandtschaft hat eine Base die „Wahl“ zwischen zwei Säuren, die Base wird sich dann für die Säure mit der größten Verwandtschaft „entscheiden“: Die Base Kali im kohlensauren Kali wählt somit als Partner Schwefelsäure, wenn man ihr die Möglichkeit bietet. Die Kohlensäure wird dann freigesetzt.

Bei der Zersetzung durch doppelte Wahlverwandtschaft wirken zwei Salze auf- einander und tauschen ihre Säure- und Basen-Bestandteile quantitativ entspre- chend ihrer Mischungszahlen aus. Zur Darstellung dieser Reaktionen verwendete Runge kreuzförmige Graphiken, die – mit den angesprochenen Farbbildchen ver- sehen – Ausgangs-, Endprodukte und quantitative Beziehungen darstellten.64

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Mit den dargestellten theoretischen Erläute- rungen waren die Theorieteile der „Jeder- mann-Chemien“ weitgehend erschöpft. Runge vermittelte in diesen einen Wissen- stand, welcher eigentlich nicht mehr dem aktuellen Fortschritt der sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stürmisch ent- wickelnden Chemie entsprach, sondern auf ältere, eigentlich bereits überholte Vorstel- lungen und Runges naturphilosophische Sichtweise zurückging.66 Äußerst innovativ war allerdings die Art seiner Vermittlung: Runge füllte den „alten Wein“ der che- misch-dynamischen Theorie in die „neuen Schläuche“ seiner Terminologie und farben- frohen Darstellungen. Runge wollte, „dem Gewerbmann und Fabrikanten eine allge-

mein verständliche und doch den Forderun- Abb. 11: 65 Beispiel einer Zerlegung gen der Wissenschaft streng genügende durch doppelte Wahlverwandtschaft Chemie“12 an die Hand geben, dieses Ziel (Umsetzung von Bleicarbonat mit Man- dürfte er erreicht haben. Mit seinem bemer- gansulfid zu Bleisulfid und Mangancar- bonat) kenswert eigenständig unkomplizierten Stil in Verbindung mit seinen originellen gra- phischen Darstellungen sollte auch den „Jedermanns“ das für Fachfremde verwir- rende Gebiet der Anorganik zugänglicher geworden sein. Die Theorie war für Runge an dieser Stelle ohnehin von nachgeordneter Bedeutung, die Ausrichtung der „Jedermann-Bücher“ galt den Stoffen, ihren Eigenschaften und insbesondere ihren praktischen Anwendungen.

Die „Chemiebücher für Jedermann“ fanden freundliche Aufnahme. 1844 erhielt Runge den ehrenvollen Auftrag, nach dem „Jedermann-Konzept“ ein allgemein verständliches Chemiebuch als erste Schrift des „Vereins zur Verbreitung nützli- cher Erkenntnisse durch gemeinfaßliche Schriften“ zu schreiben. Kronprinz Ma- ximilian von Bayern hatte diesen Verein gegründet, um das Niveau der Bildung in Bayern zu heben. Es war vorgesehen, allen 7262 öffentlichen Schulen in Bay- ern kostenlos ein Exemplar des Buches „Grundriß der Chemie für Jedermann“ zur Verfügung zu stellen. Das Buch erschien 1846, dem Verein war leider nur kurze Lebensdauer beschieden.67

Der „Grundriß der Chemie“ führte das Konzept der bereits vorliegenden „Jeder- mann-Chemien“ weiter, die bunten Bildchen machen die Bücher noch heute zu

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Schmuckstücken jeder Bibliothek. Der „Grundriß der Chemie“ verzichtete wie die Vorgänger weitestgehend auf theoretische Erörterungen. Dennoch musste sich Runge der Entwicklung der Chemie anpassen: Auch wenn der Begriff Atom nach wie vor nicht auftaucht, so ist nun auch von der gegenseitigen Durchdrin- gung der Stoffe bei der Bildung von Verbindungen im Sinne der dynamisch- chemischen Theorie nicht mehr die Rede. Terminologisch erfolgten ebenfalls Angleichungen: Leider verschwand auch der Begriff „Brenner“ zugunsten von Stoffen, die „Sauerstoff ähnlich“68 sind und Wahlverwandtschaften wurden zu Wahlanziehungen.69 An die Stelle der Verwandtschaftsreihen treten nun die Be- grifflichkeiten elektropositiv und elektronegativ. Runge zögerte aber nicht, an- zumerken, dass „sauerstoff- oder wasserähnlich“ ebenso richtig wäre. Aber der Wasserstoff blieb nach wie vor „kräftig“! 70

Summary: Friedlieb Ferdinand Runge’s Chemistry for Everyone

Friedlieb Ferdinand Runge was one of the most remarkable German chemists in the first half of the 19th century. After several years as professor for technical chemistry at the University of Breslau he joined chemical industry at Oranienburg in . He isolated phenol and aniline from coal tar as well as caffeine from coffee beans. Nowadays he is broadly acknowledged as one of the predecessors of paper chromatography. His publications in scientific journals were relatively rare but he published some popular scientific books in which he wanted to ex- plain the chemistry to everyone. Runge was adherent to the romantic German Naturphilosophie and the chemical-dynamic theory which refused the atomic model. Runge focussed strongly on the visualization of chemical processes. Therefore he illustrated his books with real examples of chemical compounds which were suspended in a solution of rubber in mineral tar oil. He also devel- oped graphical methods for the demonstration of the interrelation of different ox- idation states for a given element.

1 Z.B.: http://www.chemiedidaktik.uni-wuppertal.de/material/fant/fant-tausch-experimente- cu.pdf (29.12.2012 11:45h) 2 Friedlieb Ferdinand Runge, Zur Farbenchemie: Musterbilder für Freunde des Schönen und zum Gebrauch für Zeichner, Maler, Verzierer und Zeugdrucker (Berlin 1850).

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3 Max Rehberg, Friedlieb Ferdinand Runge, der Entdecker der Teerfarben, sein Leben und sein Werk / sowie seine Bedeutung für die chemische Industrie in Oranienburg (Oranien- burg 1935), S. 39. 4 Runge, Musterbilder, Abb. 25-30. 5 Friedlieb Ferdinand Runge, Hauswirtschaftliche Briefe: Erstes bis Drittes Dutzend (Berlin 1866), Reprint (Weinheim 1988), S. 153-165. 6 Phytochemie = Pflanzenchemie, abgeleitet vom griechischen Wort für Pflanze: Phyton (φύτον) 7 Eine Aufstellung der Veröffentlichungen Runges findet sich in: Christa Niedobitek, Fred Niedobitek, Friedlieb Ferdinand Runge: Sein Leben, sein Werk und die Chemische Produk- ten-Fabrik in Oranienburg (Lage 2011). 8 Runge war zeitlebens Junggeselle und verfügte über umfangreiche hauswirtschaftliche Er- fahrungen. Er galt zudem als hervorragender Koch. 9 Rehberg, Runge, S. 21. 10 Der Kunstwein bestand aus Alkohol, Zitronensäure und weiteren, geheim gehaltenen Ingre- denzien. Das Foto mit dem Weinglas soll das einzige erhaltene Foto von F.F. Runge sein. – Ernst F. Schwenk, Sternstunden der frühen Chemie (München 1998), S. 197. – Runge war auch für seinen hervorragenden Stachelbeerwein bekannt. Möglicherweise enthielt das Glas auf dem Foto auch diesen. 11 Friedlieb Ferdinand Runge, Einleitung in die technische Chemie für Jedermann (Berlin 1836), S. IX. 12 Friedlieb Ferdinand Runge, Grundlehren der Chemie für Jedermann, 1. Auflage (Breslau 1830), S. V-VI. 13 Weisheit Salomos, 11, 21. 14 Runge, Grundlehren, S. VII. 15 Runge, Einleitung, S. VI. 16 Friedlieb Ferdinand Runge, Technische Chemie der nützlichsten Metalle für Jedermann, erste Abtheilung (Berlin 1838). – Friedlieb Ferdinand Runge, Technische Chemie der nütz- lichsten Metalle für Jedermann, zweite Abtheilung (Berlin 1839). 17 Darüber hinaus erschien 1839 auch noch Runges Übersetzung der berühmten Conversations on Chemistry von Jane Marcet: Jane Marcet, Unterhaltungen über die Chemie, in welchen die Anfangsgründe dieser nützlichen Wissenschaft allgemein verständlich erläutert werden, hrsg. von Friedlieb Ferdinand Runge, nach der 13ten englischen Auflage (Berlin 1839). 18 Runge, Einleitung, S. VII. 19 Friedlieb Ferdinand Runge, Farbenchemie erster Theil: Die Kunst zu färben (Berlin 1834). 20 Runge, Einleitung, S. VIII.

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21 Seine „Musterbilder für die Freunde des Schönen“ und das später erschienene Buch „Bil- dungstrieb der Stoffe, veranschaulicht in selbständig gewachsenen Bildern“ (1855) waren in vergleichbarer Weise mit Tüpfelreaktionbildern illustriert. 22 1857 gab Runge im Selbstverlag eine Schrift mit dem Titel Das Gift in der deutschen Spra- che (Oranienburg 1857) heraus. 23 Runge, Hauswirtschaftliche Briefe, zweites Dutzend, S. 168. 24 Jöns Jacob Berzelius, Lehrbuch der Chemie, Dritten Bandes erste Abtheilung (Reutlingen 1828), S. 32. 25 Zur Zeit Runges wurde die dynamische Theorie in chemischen Fachkreisen kaum noch beachtet. Ihre Blütezeit erlebte sie vor der Daltonschen Atomtheorie insbesondere unter dem Einfluss von Schelling. Bedeutende Vertreter waren Jakob Joseph Winterl (1732 - 1809), Johann Wilhelm Ritter (1776 - 1820), Hans Christian Ørstedt (1777 - 1851), Hein- rich Friedrich Link (1767 - 1850) und Friedrich Albrecht Carl Gren (1760 - 1798). – Her- mann Kopp, Geschichte der Chemie II (Braunschweig 1844), S. 324-326. 26 Kopp, Geschichte der Chemie II, S. 324. 27 Runge, Einleitung, S. 5. 28 Runge, Einleitung, S. 6-8. 29 a) Karl Wilhelm Gottlob Kastner, Theorie der Polytechnochemie, Band 2, hrsg. von Johann Friedrich Baerecke (Eisenach 1827), S. 102. b) Karl Wilhelm Gottlob Kastner, Grundzüge der Physik und Chemie zum Gebrauch für höhere Lehranstalten und zum Selbstunterrichte für Gewerbetreibende und Freunde der Na- turwissenschaft (Nürnberg 1832), S. 369. 30 Kastner benutzte ein am Linnéschen System angelehntes Ordnungskonzept für die chemi- schen Elemente: Er fasst Bor und Kohlenstoff zur Ordnung Brenner zusammen. Brenner sind Grundstoffe, die „nur verbrennlich u. säuerbar [sind] …[…]… aber die Zünder [Sauer- stoff, Fluor, Chlor, Iod] weder im Verbrennungs-, noch im Säurungsprocess …[…]… ver- treten“ können. – Karl Wilhelm Gottlob Kastner, Theorie der Polytechnochemie, Band 2, hrsg. von Johann Friedrich Baerecke (Eisenach 1827), S. 102. 31 Runge, Einleitung, S. 8-10. 32 Jöns Jacob Berzelius, Lehrbuch der Chemie, erster Band (Dresden und Leipzig 1843), S. 125. 33 Runge, Einleitung, S. 13-16. 34 Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung, Num. 94, Mai 1838, S. 266-272. 35 Klaus-Dieter Röker, Chemische Zeitreisen (Norderstedt 2012), S. 246-264. 36 Runge, Einleitung, S. 18-19. 37 Runge, Einleitung, S. 21-22. 38 Friedlieb Ferdinand Runge, Grundriß der Chemie, I. Theil (München 1846), S. 201.

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39 Säuren wurden zur Zeit Runges als in Wasser lösliche Oxide angesehen. 40 Runge, Einleitung, S. 338. 41 Runge, Technische Chemie, S. 290. 42 Runge, Technische Chemie, S. 510. 43 Friedlieb Ferdinand Runge, Grundriß der Chemie, II. Theil (München 1847), S. 38. 44 Runge, Technische Chemie, S. 412. 45 Runge, Technische Chemie, S. 615. 46 Runge, Technische Chemie, S. 185. 47 Runge, Technische Chemie, S. 589. 48 Runge, Einleitung, S. 24, 27. Runge, Grundriß, II. Theil, S. 23. 49 Runge, Technische Chemie, S. 244. 50 Runge, Einleitung, S. 32-33. 51 Runge, Grundriß, I. Theil, S. 24. 52 Justus Liebig, Über die Konstitution der organischen Säuren, Ostwald’s Klassiker der exak- ten Wissenschaften Nr. 26 (Leipzig 1891), S. 59. 53 Georg Christian Wittstein, Vollständiges etymologisch-chemisches Wörterbuch, Zweiter Band M-Z (München 1847), S. 435. 54 Runge, Einleitung, S. 34-37. 55 Runge, Einleitung, S. 33-34. 56 Runge, Einleitung, S. 40-41. 57 Runge, Grundlehren, S. VII. 58 Friedlieb Ferdinand Runge, Grundlehren der Chemie für Jedermann, 3. Auflage (Berlin 1843), S. VII. 59 Étienne François Geoffroy, “Table des différents rapports observés en chimie entre diffé- rentes substances“, Mémoires de l'Académie des sciences (1718), S. 202-212. 60 Carl Friedrich, Wenzels Lehre von der Verwandtschaft der Körper, hrsg. von David Hiero- nimus Grindel (Dresden, 1800). 61 Runge, Einleitung, S. 44. 62 Diese Verwandtschaftsreihe findet sich ansatzweise bereits bei Geoffroy (Anm. 59). 63 Runge, Einleitung, S. 42. 64 Derartige kreuzartige Darstellungen finden auch bereits bei Jeremias Benjamin Richter und werden später im Zusammenhang mit der Typentheorie in der Organischen Chemie ver- wendet. – Jeremias Benjamin Richter, Anfangsgründe der Stöchyometrie oder Meßkunst

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

chymischer Elemente, zweiter Theil (Breßlau und Hirschberg 1793), S. 56-68. – Heinrich Limpricht, Grundriss der organischen Chemie (Braunschweig 1855), S. 4. 65 Runge, Einleitung, S. 48. 66 Lothar Kuhnert, Uwe Niedersen, Zur Geschichte der Selbstorganisation chemischer Struk- turen, Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Band 272 (Thun und Frank- furt/Main 1999), S. 17-25. 67 Johann Michael Söltl, Max der Zweite, König von Bayern – ein Bild des Unvergeßlichen (Augsburg 1867), S. 110. 68 Runge, Grundriß, I. Theil, S. 9. 69 Runge, Grundriß, I. Theil, S. 4. 70 Runge, Grundriß, I. Theil, S. 21.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 C. R. Fresenius’ Mineralwasseranalytik am Beispiel der historischen „Mineralquelle zu Niederselters“

Prof. Dr. Georg Schwedt, Lärchenstr. 21, 53117 Bonn

Selters wurde bereits im 18. Jahrhundert zu einem Synonym für „wohlschmek- kende Mineralwässer“. In einer frühen Ausgabe des „Brockhaus-Lexikons“1 von 1841 ist zu lesen:

„Selters oder Niederselters ist ein Dorf im Herzogthum Nassau an der Straße zwi- schen Limburg und Frankfurt in einer wildromantischen Gegend, dessen Mineral- quelle das bekannte Selterser Wasser liefert. An der Quelle selbst wird dieses Wasser wenig getrunken, dafür aber in alle Welttheile verschickt. Man trinkt es nicht nur als Heilmittel (…), sondern auch seines Wohlgeschmacks wegen, oft mit Wein und Zucker als Tischtrunk. Das Wasser gehört zu den salzhaltigen Säuerlin- gen und wirkt gelind abführend, urintreibend und auf die Schleimhäute und Drü- sen auflösend. Die Quelle wurde in der ersten Hälfte des 16. Jahrh. entdeckt, aber im dreißigjährigen Krieg verschüttet. Erst seit der Mitte des 18. Jahrh. ist sie in Aufnahme gekommen…“

1536 wurde die Selters-Quelle bei einem Grundstücksgeschäft (Wiesen bei dem Sauerburn) erstmals genannt. 1581 wurde der Selterser Sauerbrunnen im „Was- serschatz“ von Jakob Theodor Tabernaemontanus erwähnt. Die erste eigenständi- ge Druckschrift über den Brunnen veröffentlichte 1669 der damalige Stadtarzt in Limburg, Dr. Johann Wilhelm Mogen. 1791 ist der Wasserversand bis nach Batavia in Ostindien belegt. Erste Analysen an den Quellen stammen u.a. von dem Hamelner Ratsapotheker Johann Westrumb 1793. Im Jahr 1850 wurden 3 Millionen Krüge mit Selterswasser versandt.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Fresenius über Ziele und Zweck seiner Mineralwasseranalysen

Carl Remigius Fresenius hatte sich bereits in seiner Zeit im Laboratorium von Justus Liebig in Gießen als Assistent bzw. Privat- dozent mit Mineralwasseranalysen – ge- meinsam mit Heinrich Will, dem späteren Nachfolger Liebigs – beschäftigt: 1843 mit dem Ludwigsbrunnen in Homburg v. d. Hö- he2 und mit den warmen Quellen zu Ass- mannshausen am Rhein3 sowie 1844 mit der Mineralquelle „Bonifaciusbrunnen“ in Salz- schlirf4.

Nachdem Fresenius 1848 in Wiesbaden sein Laboratorium in der Kapellenstraße eröffnet hatte (seit dem 18. Juli 2013 als „Histori- sche Stätte der Chemie“ am Haus Nr. 31 ausgezeichnet), veröffentliche er ab 1850 in Abb. 1: Porträt von C. Remigius den „Jahrbüchern des Vereins für Natur- Fresenius (1818-1897). kunde im Herzogthum Nassau“ eine Reihe von Abhandlungen unter dem Titel „Chemische Untersuchung der wichtigsten Mineralwasser des Herzogthums Nassau“. In der ersten Abhandlung5 berichtete er über Ziele und Zweck seiner Untersuchungen wie folgt:

„Die genaue Kenntniß der chemischen Beschaffenheit eines Mineralwassers ist in mehrfacher Hinsicht von wesentlichem Belang. Sie lehrt nämlich erstens den Arzt die Ursachen der Heilkräfte kennen, welche das Wasser erfahrungsmäßig besitzt, sie gibt ihm Aufschlüsse über die richtige Art der Anwendung desselben, und ge- währt ihm einen sicheren Haltpunkt bei Versuchen, das Wasser in neuen Krank- heitsformen als Heilmittel anzuwenden; – sie gibt zweitens dem Geologen die wichtigsten Aufschlüsse über Natur und Entstehung der Mineralwasser und über die Rolle, welche sie bei Gestaltung unserer Erdoberfläche gespielt haben; – und sie belehrt endlich – um auch die materiellen Gesichtspunkte nicht außer Betracht zu lassen – den Eigenthümer über den wahren Werth seines Besitzthums. –

Zur genauen Kenntniß der chemischen Beschaffenheit eines Mineralwassers ist aber die Beantwortung folgender Fragen unerläßlich:

Welche Bestandtheile enthält das Mineralwasser und in welchem Verhältniß sind sie darin enthalten?

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 a) Ist das Mineralwasser in Bezug auf Art, Menge und Verhältniß seiner Be- standtheile unveränderlich oder ist es veränderlich, und im letzteren Falle, wie bedeutend sind die Schwankungen?

b) Endlich kann es bei manchen Mineralwassern auch von großem Interesse sein, die Veränderungen kennen zu lernen, welche es bei kürzerer oder länge- rer Berührung mit atmosphärischer Luft erleidet.–“

Die Untersuchungen am Seltersbrunnen

In seiner 8. Abhandlung (veröffentlicht 1866)6 be- richtete Fresenius ausführ- lich über seine seit 1850 bis 1863 entwickelte Untersu- chungsmethodik. Insgesamt hatte er zwischen 1859 und 1863 in Niederselters zwölf verschiedenen Untersu- chungen durchgeführt.7 Die hier dargestellte sehr aus- führliche Untersuchung be- gann Fresenius am 24. Au- gust 1863 am Brunnen in Abb. 2: Die Brunnenanlage Selterswasser Museum 2013 (Foto: Schwedt) Niederselters. Die persönliche Anwesenheit bei der Probenahme sowie bei der Durchführung der ersten orientierenden sowohl sensorischen als auch qualitativen Analysen ist ein charakteristisches Merkmal aller Untersuchungen von Fresenius. Er beginnt alle Abhandlungen mit einer Beschreibung der allgemeinen und physikalischen Verhältnisse. In diesem Abschnitt beschreibt er den Zustand der Quelle, die Fas- sung (mit meist Angaben zu den Abmessungen). Daran schließen sich Beobach- tungen an – wie am Beispiel Niederselters6:

„Das Wasser der Quelle erscheint zwar äußerst klar, doch schwimmen darin, bei sehr aufmerksamer Betrachtung schon im Brunnenschachte sichtbare, beim Prüfen des Inhaltes einer frisch gefüllten, großen weißen Flasche leicht bemerkbare, klei- ne, ockerfarbige, der Hauptsache nach aus Eisenoxydhydrat bestehende Flöckchen umher. Der Wasserspiegel ist durch aufsteigende, große und ziemlich reichliche Gasblasen in steter Bewegung; daneben bemerkt man zahllose, sich aus dem Was- ser entbindende, kleine Gasbläschen.“

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Die sensorische (geschmack- und geruchliche) Bewertung lautet im Originaltext6:

„Der Geschmack des Wassers ist erfrischend, weich, ein wenig salzig, stark prik- kelnd, äußerst angenehm, – einen Geruch zeigt dasselbe nicht, wenn man nicht die Empfindung, welche die sich aus dem Wasser entbindende Kohlensäure in der Nase erregt, so nennen will. Beim Schütteln in halb gefüllter Flasche entbindet sich ziemlich viel Gas; ein anderer Geruch als der der Kohlensäure ist auch hierbei nicht wahrzunehmen.“

Die erste physikalische Messung ist die der Temperatur – am

„24. August 1863 betrug sie bei 22° C. = 17,6° R. Luftwärme, oben im Schacht 15,8° C. = 12,64° R., am Ablauf 16° C. = 12,8° R. – die Temperatur des Wassers der Wasserleitung, welches zum Spülen der Krüge dient, war an diesem Tage 13,2° C. und die des Pumpbrunnens am südlichen Ende von Niederselters, gegen- über dem Gasthause des Herrn Caspari, 11,7°C.“

Daran anschließend erfolgen stets die ebenso differenzierten Messungen der Ab- flussmenge bzw. des Abflussvolumens – „am 24. August 1863 in einer Minute 19,40 Liter“. Fresenius beschreibt genau, auf welche Weise er zu diesem Ergeb- nis kam – stets „im Mittel mehrerer Versuche“ und hier die „Wassermenge, wel- che am oberen Ablauf freiwillig abläuft“ und diejenige, welche an „den 12,5 Zoll tiefer liegenden Krahnen“ abfließt.

Er beobachtet, dass das Selterser Wasser, welches in vollständig gefüllten Fla- schen 12 Stunden lang steht, „ein wenig weißlich opalisirend“ erscheint.

„Stets bemerkt man am Boden der Flasche schon nach wenigen Stunden die abge- setzten Ockerflöckchen, welche als solche in dem Wasser der Quelle suspendirt sind. Bei Zusatz von Salzsäure wird das opalisirend gewordene Wasser unter star- ker Kohlensäureentwicklung wieder ganz klar.“

Die Erklärung von Fresenius zu dieser Erscheinung lautet6:

„Das Opalisiren rührt von dem ersten Einflusse des atmosphärischen Sauerstoffes her, welcher schon beim Füllen des Wassers von diesem aufgenommen wird. Er verbindet sich mit dem im Wasser gelösten Eisenoxydul [Eisen(II)oxid], dessen erstgebildete Portionen sich, vereinigt mit Phosphorsäure, Kieselsäure ec. Nieder- schlagen und die weißliche Trübung bedingen; später geht alles Eisenoxydul in Eisenoxyd [Eisen(III)oxid] über, welches sich nun als Hydrat in Gestalt ockerfar- biger Flocken absetzt. Der beschriebene Proceß vollzieht sich theilweise auch schon im Brunnenschachte, daher man denselben ganz mit Ockerflocken ausge- kleidet findet. – Länger in Krügen aufbewahrtes Wasser enthält kein Eisenoxydul mehr und erscheint, abgesehen von dem am Boden der Flaschen oder Krüge ziem- lich fest abgesetzten, geringen gelblichen Niederschlage, vollkommen klar.“

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Die wörtliche zitierten Texte machen deutlich, welch großen Wert Fresenius auf die exakten Beobachtungen am Ort gelegt hat. Am Ende dieses Abschnitts findet man dann noch den Hinweis, dass er das spezifische Gewicht des Wassers, „mit- telst der von mir neu angegebenen, für so gasreiche Wasser allein anwendbaren Methode, (Zeitschrift für analyt. Chem. Jahrg. I. S. 178) bei 21,5° C. bestimmt“ hat – mit 1,00332 (d.h. 1,00332 kg/Liter).

Chemische Untersuchungen – qualitative Analysen

Der Abschnitt „Chemische Untersuchung“ beginnt stets mit der qualitativen Ana- lyse am Ort der Probenahme.5 Mit wässrigem Ammoniak wird auf eine Fällung von Erdalkalien geprüft. Salzsäure veranlasst im Allgemeinen eine „starke Koh- lensäureentwicklung“ (Freisetzung von gelöstem Kohlenstoffdioxid und dessen Freisetzung aus Hydrogencarbonaten). „Chlorbaryum, zu dem mit Salzsäure an- gesäuerten Wasser gesetzt“, wird zum Nachweis von Sulfat, „salpetersaures Sil- beroxyd (…) in dem mit Salpetersäure angesäuerten Wasser“ zum Nachweis von Chlorid, „oxalsaures Ammon“ zum Nachweis von Calcium und die drei Reagen- zien „Ferridcyankali“ [Kaliumhexacyanoferrat(III)], „Gerbsäure“ sowie „Gallus- säure“ zum Nachweis von Eisen(II,III)ionen eingesetzt. Auf die Anwesenheit von Nitrit wird wie folgt geprüft: „Mit Jodkalium, Stärkekleister und verdünnter Schwefelsäure versetzt, tritt keine Blaufärbung ein (Abwesenheit von salpetrig- sauren Salzen).“5

Und schließlich wird noch durch Kochen festgestellt, ob eine Trübung oder ein Niederschlag (weiß durch Calciumcarbonat, gelblich bei Anwesenheit von Eisen- salzen) sowie eine alkalische Reaktion eintreten, welche die Zersetzung von Hy- drogencarbonaten zu alkalisch reagierenden Carbonaten (im Überschuss) anzeigt. 1863, als diese Untersuchungen in Niederselters von Fresenius durchgeführt wurden, war bereits die 11. Auflage seiner „Anleitung zur qualitativen Analyse“ (1. Auflage 1841)8 erschienen, auf die er stets in seinen Abhandlungen hinwies:

„Die ausführliche qualitative Analyse, nach der in meiner Anleitung zur qualitati- ven Analyse angegebenen Methode ausgeführt, gab folgende Bestandtheile des Wassers zu erkennen…“

In seinem Lehrbuch hatte er in jeder neuen Auflage seine eigenen Erfahrungen und die von ihm durchgeführten Verbesserungen und Weiterentwicklungen der Verfahren und Methoden berücksichtigt. Für die „Untersuchung der Mineralwas- ser“ existiert in allen Auflagen ein eigenes Kapitel – und darin weist er in einer Fußnote auch auf die „Chemische Untersuchung der wichtigsten Nassauischen

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Mineralwasser“ hin, die zwischen 1850 und 1868 erfolgten (erschienen auch in Separatdrucken im Verlag Kreidel in Wiesbaden). In dem genannten Kapitel un- terscheidet Fresenius zwischen den „Arbeiten an der Quelle“ und den „Arbeiten im Laboratorium“.

Die Ergebnisse der qualitativen Analyse werden in Form der „Basen“ sowie von „Säuren und Halogenen“ sowie „indifferenter Bestandtheile“ angegeben – so für Niederselters:

„Basen: Natron – Kali – (Cäsion) – (Rubidion) – Lithion – Ammon – Baryt – Strontian – Kalk – Magnesia – Thonerde – Eisenoxydul – Manganoxydul – (Ko- baltoxydul) Säuren und Halogene: Schwefelsäure – Kohlensäure – Phosphorsäure – Kieselsäu- re – (Borsäure) – Chlor – Brom – Jod. Indifferente Bestandtheile. Stickgas – (Sauerstoffgas) – (Leichtes Kohlenwasser- stoffgas).“

Fresenius weist dann daraufhin, dass die eingeklammerten Bestandteile wegen ihrer geringen Menge nicht mehr quantitativ bestimmbar seien.

Zu den in Klammern gesetzten Bestandteilen schrieb Fresenius, dass „zur Nach- weisung derselben (…) 150 Pfund Wasser verwandt“ worden seien.

„Fluor, Thallium und organische Substanzen ließen sich in dem so erhaltenen Ab- dampfrückstande nicht mit Bestimmtheit nachweisen, ebensowenig salpetrigsaure Salze in dem frischen Wasser (siehe oben).“

Die umfassende qualitative Analyse wurde somit offensichtlich erst im Wiesba- dener Laboratorium durchgeführt, wohin die großen Mengen an Wasser gebracht wurden. Aus den Ergebnissen der qualitativen Analyse ergab sich dann das Pro- gramm für die quantitativen Bestimmungen.

Quantitative Analysen

Zu der quantitativen Analyse schrieb Fresenius, dass sie „in allen wesentlichen Theilen mindestens doppelt ausgeführt“ wurde und dass er sowohl das Verfahren als auch die Originalzahlen nachstehend angebe.6 Weiter ist zu lesen:

„Das zu der Untersuchung verwandte Wasser ist am 24. August 1863 von mir der Quelle entnommen und in Flaschen mit eingeriebenen Stopfen in mein Laborato- rium nach Wiesbaden transportirt worden. Die Bestimmung der Kohlensäure wur- de selbstverständlich an der Quelle vorbereitet.“6

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Fresenius hat also persönlich die Probenahme durchgeführt bzw. überwacht.

In der darauf folgenden Darstellung der Ergebnisse („Originalzahlen in Gram- men“) werden entweder die einzelnen Bestimmungsverfahren genau beschrieben oder es wird auf Veröffentlichungen in der von Fresenius 1862 gegründeten „Zeitschrift für analytische Chemie“ bzw. sein Lehrbuch „Anleitung zur quanti- tativen chemischen Analyse“ (1. Auflage 1846)8 verwiesen.

Für die gravimetrische Bestimmung von Brom und Iod wurden beispielsweise „65296 Grm. Wasser (…) in einem eisernen Kessel zur Trockne gebracht…“ (Auswaage nach Trennschritten vom Chlorid als Silbersalze). Für die quantitative Analyse von „Schwefelsäure“ (Sulfat) wurden nur 2411 bzw. 1763 g Wasser be- nötigt (Fällung als Bariumsulfat). Die ausgewogenen Mengen an Bariumsulfat betrugen 0,1492 bzw. 0,1093 g an Bariumsulfat (= 149,2 bzw. 109,3 mg). Für die Bestimmung der „Kohlensäure“ (des Kohlenstoffdioxids) hatte Fresenius eine Apparatur entwickelt, die er sowohl in seiner Zeitschrift als auch in seinem Lehr- buch beschrieb.9

Bei der Bestimmung des Eisengehaltes wurde zwischen dem gelösten Eisen und dem suspendierten Anteil unterschieden.

Die Angaben der Ergebnisse erfolgten in Form von Verbindungen. Zu dieser Form der Darstellung schrieb Fresenius in seinem Lehrbuch „Anleitung zur quan- titativen chemischen Analyse“ unter der Überschrift „Berechnung der Mineral- wasseranalyse, Controlle und Zusammenstellung der Resultate“ wie folgt:

„Die (…) gefundenen Resultate sind, wie man leicht ersieht, unmittelbare Ergeb- nisse directer Versuche. Sie sind in keiner Art abhängig von theoretischen Ansich- ten, welche man über die Verbindungsweise der Bestandtheile unter einander ha- ben kann. – Da jene mit der Entwicklung der Chemie sich umgestalten können, so ist es absolut nothwendig, dass in dem Bericht über eine Mineralwasseranalyse vor Allem die directen Resultate sammt den Methoden, nach denen sie erhalten wurden, mitgetheilt werden. Alsdann hat die Analyse für alle Zeiten Werth [sic!], denn sie bietet mindestens Anhaltspunkte zur Entscheidung der Frage, ob die Zu- sammensetzung eines Mineralwassers constant ist oder nicht.

Was die Principien betrifft, nach denen man in der Regel die Säuren und Basen zusammenstellt, so geht man von der Ansicht aus, dass die Basen und Säuren nach ihren relativen Verwandtschaften verbunden sind, d. h. man denkt sich die stärkste Basis [= Base] mit der stärksten Säure verbunden u.sw., nimmt jedoch hierbei gleichzeitig Rücksicht auf die grössere oder geringere Löslichkeit der Salze, wel- che, wie bekannt, auf die Verwandtschaftsäusserungen von Einflusse ist. So denkt man sich, wenn im gekochten Wasser Kalk, Kali und Schwefelsäure enthalten

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 sind, zuerst die Schwefelsäure an Kalk gebunden etc. – Es lässt sich jedoch nicht läugnen, dass hierbei einige Willkür im Spiele ist, und dass somit, je nach der Art der Berechnung, aus denselben directen Ergebnissen verschiedene Berechnungsre- sultate erhalten werden können. –

Es läge nun zwar im Interesse der Sache, über die Art der Zusammenstellung sich zu verständigen, weil sonst die Vergleichung zweier Mineralwasser mit den grös- sten Schwierigkeiten verbunden ist; es lässt sich aber nicht erwarten, dass eine solche Vereinbarung bald erfolgen werde. Ehe dieses geschehen, kann eine Ver- gleichung nur mit den unmittelbaren Ergebnissen vorgenommen werden.

Darüber, glaube ich, könnte man sich jedoch sogleich vereinigen, dass man die Salze alle im wasserfreien Zustande aufführt…“10

Die angesprochene Einigung über die Darstellung der Analysenergebnisse erfolg- te erst im „Deutschen Bäderbuch“11 von 1907 – federführend von seinem Schwiegersohn und Mitinhaber des Chemischen Laboratoriums Ernst Hintz so- wie dem Mitarbeiter Leo Grünhut auf der Grundlage der Ionentheorie in Form von Ionenkonzentrationen. Für die Umrechnung der Analysenergebnisse konnten beide Autoren auf die Angaben in Form Auswaagen (s.o. Sulfat als Bariumsulfat) zurückgreifen, so wie es Fresenius vor-, ja wohl vorausgesehen hatte. Die Zu- sammenstellung der Ergebnisse erfolgte in der Originalarbeit von Fresenius6 so- wohl in Form von Carbonaten als auch „Bicarbonaten“ (Hydrogencarbonaten) in folgender Form – hier nun „in 1000 Theilen“ und nicht zusätzlich „im Pfund = 7680 Gran“ wiedergegeben:

„(…) b. Die kohlensauren Salze als wasserfreie Bicarbonate berechnet. α. In wägbarer Menge vorhandene Bestandtheile: Doppelt kohlensaures Natron 1,236613 „ „ Lithion 0,004990 „ „ Ammon 0,006840 Doppelt kohlensauren Baryt 0,000204 „ „ Strontian 0,002830 „ „ Kalk 0,443846 Doppelt kohlensaure Magnesia 0,308100 „ kohlensaures Eisenoxydul 0,004179 „ „ Manganoxydul 0,000700 Chlorkalium 0,017630

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Chlornatrium 2,334610 Bromnatrium 0,000909 Jodnatrium 0,000033 Schwefelsaures Kali 0,046300 Phosphorsaures Natron 0,000230 Salpetersaures Natron 0,006110 Phosphorsaure Thonerde 0,000430 Kieselsäure 0,021250 Suspendirte Ockerflöckchen 0,001561 Summe 4,437365 Kohlensäure, völlig freie 2,235428 Stickgas 0,004088 Summe aller Bestandtheile 6,676881“

Auf 1000 g = 1 kg bezogen bedeutet die letzte (sechste) Stelle nach dem Komma 1 Mikrogramm (1 Tausendsten Milligramm) je Kilogramm (1 ppb!). Um solche geringe Mengen (bei einer Genauigkeit der Auswaage ein 0,1 mg) bestimmen zu können, mussten wie bei der Bestimmung von Bromid und Iodid „65296 Grm. Wasser in einem eisernen Kessel zur Trockne gebracht“(mehr als 65 Liter!) wer- den. Nach dem beschriebenen Titrationsverfahren konnten darin „0,001845 Grm. Jod“ bestimmt werden – in einem Verfahren der frühen Spurenanalytik!

An die Untersuchung des Mineralwassers schloss sich dann die „Untersuchung des aus dem Niederselterser Mineralbrunnen abgesetzten Ockers“ an, in dem in verdünnter Salzsäure löslichen Anteil außer dem Hauptbestandteil „Eisenoxyd“ (46,19 %) auch Kupferoxid (0,03) und Zinkoxyd (0,04) bestimmt wurden – letz- tere mit der kritischen Fußnote: „In Betreff dieser beiden Bestandtheile bleibt der Zweifel, ob sie wirklich dem Wasser angehören, oder etwa dem messingenen Ablaufrohr ihre Anwesenheit verdanken.“6 Weiterhin wurden gefunden: Arsen- säure (0,02 %), Baryt (Bariumoxid 0,07 %), Kalk (Calciumoxid 0,86 %), Magne- sia (Magnesiumoxid 0,08 %), Phosphorsäure (0,36 %), Kohlensäure (1,22 %), Kieselsäure (0,83 %) und Wasser 10,15 %. Für den unlöslichen Anteil ergaben sich neben 35,54 % Kieselsäure noch 0,31 % Magnesia, 0,13 % Kalk, 0,47 % Eisenoxid und 3,54 % Thonerde (Aluminiumoxid) – Summe 99,84 % insgesamt.6

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Und schließlich wurden die Untersuchungen nicht ohne die „Untersuchung der Gase, welche aus dem Niederselterser Brunnen mit dem Wasser ausströmen“ ab- geschlossen. Das Ergebnis, nach einer ausführlichen Beschreibung der Vorge- hensweise, lautete:

„100 Volumina des der Quelle frei ausströmenden Gases bestehen somit aus 96,07 Kohlensäure, 3,03 Stickgas, mit Spuren von Sauerstoff und leichtem Kohlenwas- serstoff.“6

Vergleiche mit früheren Analysen

Zu den Charakteristika der Abhandlung von Fresenius zur Untersuchung der Mi- neralwässer gehört der Vergleich mit Daten aus früheren Untersuchungen. Bei diesen Vergleichen verfolgt er zwei Fragen – 1. Wie zuverlässig und somit ver- gleichbar sind die Daten und 2. ermöglichen sie bei genügender Zuverlässigkeit eine Aussage über Gehaltsänderungen?

Im Abschnitt „C. Vergleichung der neuen Analyse des Niederselterser Mineral- brunnens mit früheren“ schrieb Fresenius:

„Die erste chemische Untersuchung des Selterser Mineralwassers wurde 1770 von Torbern Bergmann vorgenommen. Die unvollkommenen Methoden, nach denen man zu jener Zeit die einzelnen Bestandtheile zu trennen suchte, lassen eine Ver- gleichung der damals ermittelten Zahlen mit den jetzt erhaltenen nicht als zulässig erscheinen. – Die erste umfassende und genauere Analyse wurde 1794 von Andreä in Hannover und J. Fr. Westrumb, Apotheker und Bergcommissär in Hameln, vorgenommen. Letzterer veröffentlichte 1813 ein die Analyse enthaltendes Schriftchen. 1826 führte Professor Gust. Bischof und nachher T. A. A. Struve die Analyse des Selterser Wasser aus. Später wurde, wenn man von den weniger voll- ständigen Analysen von Döbereiner und Caventou absieht, das Wasser 1838 von Professor Kastner untersucht.“12,13

Nach einem Vergleich der einzelnen Daten kommt Fresenius zu dem Schluss, dass sich nur die Hauptbestandteile in ihren Konzentrationen vergleichen lassen. Dafür würden schon „seit langer Zeit genügend genaue Bestimmungsmethoden im Gebrauch“ sein, so für „Schwefelsäure“ bzw. Sulfat, „Chlornatrium“ bzw. Chlorid, die „kohlensauren“ Salze vom Natrium, Calcium und Magnesium bzw. Hydrogencarbonat und die Gesamtmenge.6 Nach einem Vergleich kommt er dann zu folgendem Ergebnis (im Original auch kursiv gedruckt):

„1. daß sich das Selterser Wasser während 70 Jahren in seinem Gehalte im We- sentlichen durchaus nicht verändert hat, –

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 2. daß es jedoch in Betreff seiner Concentration wie auch des gegenseitigen Ver- hältnisses der gelösten Bestandtheile kleinen Schwankungen unterliegt.“6

Abb. 3: Der Abfüllraum um 1850 – kolorierte Lithografie von George Bernard11

Abschließend beschäftigte sich Fresenius auch mit der „Füllung des Selterser Wassers und Haltbarkeit derselben“. Er entwickelte eine Fülltechnik, die Verluste sowohl an Kohlenstoffdioxid als auch an Eisen sowie Mineralstoffen vermeiden hilft und veröffentlichte dazu auch die Analysendaten für „Kohlensäure“ im Ver- gleich seiner neuen Methode zu der bisherigen.

Wegweisende Charakteristika der Untersuchungsmethodik

Fresenius entwickelte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine grundle- gende Vorgehensweise für eine qualitätsbewusste Untersuchung von Mineral- wässern. Sie beginnt mit der persönlichen Begutachtung an der Quelle mit ersten qualitativen Analysen. In den Veröffentlichungen werden alle Details angegeben – von der Lufttemperatur bis zu den Personen, die vor Ort anwesend bzw. mitge- wirkt und informiert haben. Ebenso präzise sind die Angaben zur Probenahme, die er wie auch die Analysenverfahren im Verlauf seiner in den 1840er Jahren

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 begonnenen Untersuchungen verbessert und stets in den in rascher Folge erschei- nenden Lehrbüchern sowie ab 1862 in der von ihm gegründeten „Zeitschrift für analytische Chemie“ veröffentlicht hat. Die im Wiesbadener Laboratorium an- gewendeten Analysenverfahren sind ebenso präzise und somit reproduzierbar (als Doppelbestimmungen durchgeführt) beschrieben worden. Die Untersuchungsme- thodik schließt eine kritische Diskussion der Ergebnisse, vor allem auch im Hin- blick auf Fehler bei der Abfülltechnik und – nach weiteren zeitlich verschobenen Analysen – auf die Konstanz der Mineralstoff- und auch Spurenstoffgehalte ein. Aufgrund der präzisen Angaben ließen sich nach 1900 alle von ihm durchgeführ- ten Analysen auch in Ionenkonzentrationen wie heute üblich umrechnen.

Abb. 4: Das Brunnenhaus heute - mit dem Archivgebäude im Hintergrund (Foto: Schwedt)

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Schlusswort von Fresenius zu dem Selterser Wasser (1866)

Von historischem Interesse (auch mit einem Blick auf die Vielfalt an Mineral- wässern in den Getränkemärkten heute) ist der Schluss der zitierten Abhandlung, in dem Fresenius auch Stellung zum „künstlichen Mineralwasser“ (nach Friedrich Adolph August Struve14) nimmt:

„In dem Maße, in welchem sich der Luxus fast auf allen Theilen der Erde gestei- gert hat, steigerte sich auch der Absatz des Selterser Wassers, ungeachtet des Um- standes, daß seit den letzten Decennien zahlreiche Mineralwasserfabriken künstli- ches Selterser Wasser in großem Maßstabe darstellen und in den Handel bringen. Diese Fabrikate werden von Vielen dem ächten Selterser Wasser vorgezogen, of- fenbar deshalb, weil sie – ähnlich dem Champagner – eine bedeutende Menge eingepreßter Kohlensäure [heute Hinweis: „mit Kohlensäure versetzt“] enthalten und somit beim Oeffnen der Flasche und Ausgießen stark moussiren.

Die künstlichen Selterser Wasser sind von sehr ungleicher Güte, je nach der Sorg- falt, mit welcher das dazu verwandte Wasser gereinigt und von der atmosphäri- schen Luft befreit wurde, je nach der Reinheit der bei seiner Darstellung ver- brauchten Kohlensäure, den mehr oder minder richtigen Verhältnissen und dem Grad der Reinheit der zugesetzten Salze, wie endlich der Zweckmäßigkeit der bei der Darstellung benutzter Apparate. Bei manchen Fabrikaten beobachtet man in Folge mangelhafter Einrichtungen einen metallischen Nachgeschmack, bei nicht wenigen – in Folge des Umstandes, daß die atmosphärische Luft nicht, oder nicht genügend aus dem Wasser entfernt wurde – den fatalen Umstand, daß zwar das er- ste Glas stark schäumt, das Wasser in der Flasche aber seinen Gehalt an Kohlen- säure rasch entweichen läßt, was bei dem ächten Selterser Wasser nicht der Fall ist.

Ich kann meine Abhandlung nicht schließen, ohne darauf aufmerksam zu machen, daß – wenn doch einmal moussirendes Selterser Wasser getrunken werden soll – das einfachste Mittel zu seiner Darstellung darin bestünde, daß man die enorme Menge des Wassers, welche jetzt noch unbenutzt aus dem Selterser Brunnen ab- läuft, unter höherem Druck mit reiner Kohlensäure sättigte. Man würde so ein Präparat von vorzüglicher Beschaffenheit erhalten, dessen Herstellungskosten – richtige Anlage und richtige Betrieb vorausgesetzt – selbstredend weit geringer sein würden, als die aller Fabrikate, weil ja bei Benutzung des ächten Selterser Wassers alle Kosten für die schwierige Herstellung eines vollkommen reinen, ge- schmack- und geruchlosen, luftfreien und mit Kohlensäure gesättigten Wassers, wie die für die zuzusetzenden Salze erspart würden, während sich die Kosten der Uebersättigung mit Kohlensäure gleich blieben. – Die Käufer könnten dann je nach ihrem Belieben gewöhnliches natürliches, oder ächtes, mit Kohlensäure übersättigtes, stark moussirendes Wasser beziehen und das ausgezeichnete Natur- product käme voll zur Verwendung.“

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Summary

On the methodology of C. Remigius Fresenius’ analysis of mineral waters: the historical spa in Niederselters

In the second half of the 19th century Fresenius developed a method of investiga- tion for mineral waters, which in principle is used and valid until today. It is demonstrated by the investigations at the famous Selters mineral spring (Taunus) carried out in 1863. It includes sampling and first qualitative analysis at the min- eral spring as well as exact, reproducible dates about the quantitative analyses (including procedures and calculation of the results). The investigations also cov- er the spring gases and the sinter at the mineral spring as well as inspections of the filling technique. The analytical results created in the beginning of the 20th century the basis for conversion into ion concentrations.

1 Bilder-Conversations-Lexikon für das deutsche Volk. Ein Handbuch zur Verbreitung ge- meinnütziger Kenntnisse und zur Unterhaltung. In vier Bänden. Vierter Band S-Z. (Leipzig 1841). 2 Heinrich Will, Remigius Fresenius, “Chemische Untersuchung des Ludwigsbrunnens zu Homburg v. d. h.”, Ann. Chem. Pharm., 47 (1843), S. 341-349. 3 Remigius Fresenius, Heinrich Will, “Chemische Untersuchung der neugefassten, warmen Quelle zu Assmannshausen”, Ann. Chem. Pharm., 47 (1843), S. 198-211. 4 Remigius Fresenius, Heinrich Will, „Chemische Untersuchung der Mineralquelle ‚Bonifa- ciusbrunnen‘ zu Salzschlirf im Kr. Fulda, Gießen 1844“, Ann. Chem. Pharm., 52 (1846), S. 66-77. 5 Carl Remigius Fresenius, „Chemische Untersuchung der wichtigsten Mineralwasser des Herzogthums Nassau. Erste Abhandlung.“, Jb. des Vereins für Naturkunde im Herzogthum Nassau, 6 (1850), S. 145-196. 6 Carl Remigius Fresenius, „Chemische Untersuchung der wichtigsten Mineralwasser des Herzogthums Nassau. Die Mineralquelle zu Niederselters“, Jb. des Vereins für Naturkunde im Herzogthum Nassau, 19/20 (1866), S. 453-510. 7 Norbert Zabel, Die wichtigsten chemischen Analysen der Mineralquelle zu Niederselters: 1770-1931, hrsg. von Eugen Caspary, Robert Spitzlay, Franz Josef Stillger, Norbert Zabel, Geschichte von Niederselters, Selters (Taunus 1994), S. 416-430. 8 Georg Schwedt, „Carl Remigius Fresenius und seine analytischen Lehrbücher – ein Beitrag zur Lehrbuchcharakteristik in der analytischen Chemie“, Fresenius Z. Anal. Chem., 315 (1983), S. 395-401.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 9 Originalzitate in Anm. 3, S. 175, ferner in: Carl Remigius Fresenius, Anleitung zur quant. Analyse, 5. Aufl. (Braunschweig, 1863), S. 672. 10 Remigius Fresenius, Anleitung zur quantitativen chemischen Analyse, 6. Aufl. (1877- 1887), 2. Band, S. 231-232. 11 Ernst Hintz und Leo Grünhut, Deutsches Bäderbuch, bearb. unter Mitwirkung des Kaiserli- chen Gesundheitsamtes Berlin…, Einleitung. 2. Chemischer Teil. B. Besondere Grundsätze für die Darstellung der chemischen Analysenergebnisse (Leipzig 1907), S. L-LXIV. 12 s. ausführlich zu den genannten Analytikern und deren Untersuchungen in: Georg Schwedt, Berühmte Chemiker und Mediziner über den Selters Brunnen. Berichte zu Niederselters im Taunus aus fünf Jahrhunderten (Aachen 2013). 13 [Norbert Zabel,] Selters – ein Name erobert die Welt. Geschichte des Mineralbrunnens Niederselters. Dokumentation einer Ausstellung, hrsg. von Gemeinde Niederselters (Selters 2012). 14 zu Friedrich Adolph August Struve s. in: Georg Schwedt, Die vier Gesichter des Kohlenstoffdioxids (Augsburg 2010), S. 50-52.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Reinhold Hoffmann und sein Kommilitone August Kekulé

Dr. Holger Andreas, Mierendorffstraße 5, 64625 Bensheim

Friedrich August Kekulé von Stradonitz ist jedem Chemiker bekannt, aber sein zwei Jahre jüngerer Kommilitone Reinhold Hoffmann ist den meisten Chemikern unbekannt. Dabei war Hoffmann ein bedeutender Industriechemiker in der zwei- ten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Über seine beruflichen Leistungen habe ich im Rahmen der „Zeitzeugen“ 2006 berichtet.1 Hier soll auf sein Studium, seine Freundschaft mit August Kekulé und seinen Beitrag zur Substitutionstheorie ein- gegangen werden, sowie auf die besonderen Verhältnisse in ihrer gemeinsamen Zeit in Heidelberg im Fachbereich Chemie – wie man heute sagen würde - an der dortigen Universität.

Hoffmanns Chemie-Studium

Am 3.12.1831 wurde Reinhold Hoffmann in Großenlinden bei Gießen als 14. Kind (von insgesamt 15) des Pfarrers, Kirchenrats und Dekans Dr. theol. h.c. Christian August Hoffmann geboren.2 Er stammte aus der dritten Ehe, seine Mut- ter war eine geborene Rhode. In zweiter Ehe war Christian August Hoffmann mit Wilhelmine Kekulé, einer Tante von August Kekulé, verheiratet.3 Deswegen nannten sich Hoffmann und Kekulé „Vettern“, obwohl sie nicht blutsverwandt waren.

Reinhold Hoffmann begann 1849 zunächst ein Studium der Philosophie in Gie- ßen, um sich dann aber der Chemie im berühmten Laboratorium von Justus Lie- big zu zuwenden.4 Dort traf er seinen 2 Jahre älteren Kommilitonen und „Vetter“ August Kekulé, der eigentlich Architektur studieren sollte, aber auch wegen Lie- bigs Vorlesungen zur Chemie gewechselt hatte. Sie verbrachten ihre Freizeit und die Abende meistens gemeinsam und diskutierten über chemische Fragen, wobei der ältere Kekulé gern den „Professor“ und Hoffmann den „Studenten“ spielte.5 Dieses Rollenspiel haben sie wahrscheinlich während ihres Studiums beibehalten,

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 weil beide davon profitierten. Als Hoffmann im Winter 1850/51 schwer erkrankte, be- suchte Kekulé ihn abends „und nichts hielt ihn davon ab, nach schwerer Tagesarbeit ganze Nächte hindurch bei mir zu wachen und mit Heiterkeit mein Leiden zu mildern“, schrieb Hoffmann später an Richard An- schütz.6

Reinhold Hoffmann wurde 1851 Assistent bei Heinrich Will7, der seit 1845 a.o. Profes- sor für Experimentalchemie in Gießen war.8 Während dieser Zeit hat Hoffmann auf dem Gebiet des Leucins (2-Amino-iso-capron- säure) und Tyrosins (p-Oxyphenylalanin) gearbeitet, wie aus seiner ersten Veröffentli- chung hervorgeht.9 Qualitativ lassen sich die Abb. 1: Reinhold Hoffmann als Student; beiden Aminosäuren in wässriger Lösung aus: Richard Anschütz, Der Chemiker durch Zugabe von Quecksilbernitrat unter- August Kekulé, Bd. I, S.17.3 scheiden: Leucin wird in weißen Flocken gefällt ohne Rötung der überstehenden Flüs- sigkeit, bei Tyrosin erfolgt eine Rotfärbung.

August Kekulé verließ Gießen 1851, um nach Paris zu Jean-Baptiste Dumas, Gerhardt, Wurtz u.a. zu gehen. Nach einem Jahr kehrte er zurück nach Gießen, um bei Justus Liebig 1852 zu promovieren und im Anschluss durch Vermittlung von Liebig als Assistent zu Adolf von Planta nach Schloss Reichenau bei Chur in die Schweiz zu gehen, um dort vorwiegend Analysen von Mineralwässern durch- zuführen.10

Hoffmann ging 1853 nach Heidelberg zu Robert Wilhelm Bunsen, der als Nach- folger von Leopold Gmelin sein Labor im alten Dominikanerkloster hatte, das an der Stelle des heutigen Friedrichsbaus in der Hauptstraße 47 lag.11 Hier arbeitete Hoffmann neben Sir Henry Roscoe aus London, der ihn anläßlich eines Besuches von Alexander William Williamson 1853 mit diesem bekannt machte. Willi- amson war offenbar sehr von Hoffmann angetan, so dass er ihm eine Assistenten- stelle in seinem Labor am University College London anbot, die Hoffmann an- nahm und am 1. Jan. 1854 dort eintraf.

Eine Woche vorher war sein Freund und Kommilitone August Kekulé auch in London eingetroffen, um eine wiederum durch Liebig vermittelte Assistentenstel- le bei John Stenhouse am Bartholomäus-Hospital anzutreten. Hoffmann und Ke-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 kulé bezogen eine gemeinsame Wohnung in der Clapham Road im Stadtteil Lambeth im Süden Londons. So wie in den Gießener Tagen konnten sie so über chemische Probleme diskutieren. Für den hauptsächlich an theoretischen Fragen interessierte Kekulé hatte er in seinem Vetter stets einen kritischen Zuhörer, der wiederum von dem älteren Vetter profitierte. Kekulé holte abends oft seinen Freund Hoffmann im Labor von Williamson ab und wurde so mit Alexander Wil- liamson bekannt.12 Kekulé diskutierte gern mit Williamson Fragen der sich ent- wickelnden organischen Chemie. Dieser Diskussionskreis wurde noch erweitert durch William Odling, der zu dieser Zeit ebenfalls in Lambeth wohnte, sowie durch Sir Edward Frankland und Hugo Müller. Letzterer war ein Freund Kekulés und hatte bei Friedrich Wöhler in Göttingen studiert. Kekulé sprach viel von Jean-Baptiste Dumas neuer Substitutionstheorie und von Charles Gerhardts Vor- stellungen über die Konstitution der organischen Verbindungen. In diesem Kreis nahm Hoffmann regen Anteil an diesen neuen Theorien und empfing dort seine Anregung zur Darstellung der Monochloressigsäure als einen Beitrag zur Substi- tutionstheorie.13

Hoffmann kehrte 1855 zurück nach Deutschland und erkrankte schwer. Die Art der Erkrankung ist unbekannt, hielt ihn aber mehrere Monate von seinen Studien fern, wie er in seinem Lebenslauf angibt. Nach seiner Genesung ging er wieder nach Heidelberg, um dort zu promovieren, und traf dort wieder mit seinem Freund Kekulé zusammen. Dieser hatte sich von Februar bis März 1856 in Hei- delberg habilitiert und ein Labor eingerichtet, in dem Hoffmann sich mit der Her- stellung von Monochloressigsäure beschäftigte.14

Die Chloressigsäuren

Dumas hatte 1838 durch Reaktion von Chlor mit Essigsäure im Sonnenlicht die Trichloressigsäure hergestellt und darauf seine Substitutionstheorie gegründet.15 Dabei hatte er auch auf die Existenz einer weniger chlorierten Essigsäure hinge- wiesen. In seiner späteren Veröffentlichung zur Monochloressigsäure (1857) führte Hoffmann eingangs aus, dass die bisher bekannten chlorhaltigen Substitu- tionsprodukte jeweils 3 Chloratome besitzen: das Chloral (Liebig 1831), die Trichlor-essigsäure (Dumas 1838), und das daraus hergestellte Chloroform. Er schreibt: „So lag der Schluß nahe, daß die 3 Atome Wasserstoff im Radikal der Essigsäure gleich leicht, vielleicht gleichzeitig und als Ganzes durch Chlor ver- treten werden“.16 Er zeigt, dass das nicht der Fall ist und dass die „einfach ge- chlorte Essigsäure“ leichter dargestellt werden kann und die Substitution wahr- scheinlich Schritt für Schritt vor sich geht, wie es auch Dumas bereits vorherge- sagt hatte.17 Aber Dumas hatte keine Identifikation dieser Säuren und keine ge-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 zielte Darstellung angegeben. Dumas benutzte Flaschen von 5 – 6 Ltr. Inhalt, die mit Chlorgas gefüllt wurden. Dazu gab er „höchstens 9 decigr. Essigsäure pro Ltr. Chlor“, (also 0,9 g Essigsäure auf 3,21 g Chlor). Das entspricht einem Mol- verhältnis Essigsäure zu Chlor = 1:3. Die Flaschen wurden mit einem eingeschlif- fenen Stöpsel verschlossen und dem direkten Sonnenlicht ausgesetzt. Am näch- sten Tag hatte sich eine kristalline Substanz an der Wandung der Flaschen abge- setzt, die zum größten Teil Trichloressigsäure war, wie aus dem Molverhältnis auch zu erwarten war.

Hoffmanns Versuchsanordnung unterschied sich wesentlich von der, die Dumas gewählt hatte. Hoffmann benutzte eine Retorte von 1 Ltr. Inhalt mit Tubus als Reaktionsgefäß und befüllte die Retorte mit 250 bis 500 g Eisessig. Sie wurde in ein Bad mit siedender, konz. Natriumnitrat-Lösung gesetzt, wobei der Hals der Retorte nach oben gerichtet war und durch ein hinein gestecktes Glasrohr noch verlängert werden konnte. Das Bad hatte eine konstante Temperatur von 120 °C, lag also 2°C über dem Siedepunkt der Essigsäure. Durch den Tubus war ein Ein- leitungsrohr für Chlor so geführt, dass es oberhalb der Flüssigkeitsoberfläche mündete. Da Chlor sich nicht in siedender Essigsäure löst – wie Hoffmann schreibt -, lief die Reaktion nur im Dampfraum ab. Dort war das Molverhältnis Essigsäure(dampf) zu Chlor also etwa 1:1 nach Avogadros Regel. Hoffmanns Versuchsanordnung war aber noch aus einem weiteren Grund genial: da die Mo- nochloressigsäure mit einem Siedepunkt von 189 °C in dem erweiterten Retor- tenhals als Luftkühler kondensierte und in den Eisessig zurückfloss, wurde sie vor einer weiteren Chlorierung geschützt. Hoffmann rektifizierte das Reaktions- gemisch; die bei 185 bis 187° übergehende, dicke Flüssigkeit erstarrte sofort zu nadelförmigen Kristallen, die zwischen Filterpapier abgepresst wurden.

Monochloressigsäure Trichloressigsäure

berechnet Hoffmann gef. berechnet Dumas gef.

% C 25,4 25,27 14,7 15,3 % H 3,1 3,29 0,6 0,75 % Cl 37,6 37,8 65,17 63,7 Smp °C 61,2 * 60 57/58 * 48 Kp °C 189 * 187 196,5 * 195-200 * Werte aus Hans-Ulrich v. Vogel, Chemiker-Kalender, 1966.18

Dumas und Hoffmann führten von ihren Säuren Elementanalysen durch, wie es damals Stand der Technik war. Die Chlor-Analysen lassen für Hoffmanns Mo-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 nochloressigsäure eine Reinheit von 99,6% errechnen, für Dumas Trichloressig- säure eine solche von 85%.

Kekulés Habilitation und sein Laboratorium

Das Gesuch zur Erlangung der venia legendi richtete August Kekulé am 30. Ja- nuar 1856 an die Philosophische Fakultät. Er wurde darauf zu einem Kolloquium auf Freitag, den 8. Februar, abends um 6 Uhr eingeladen. Anwesend waren die Professoren Kortüm, v. Leonhard, Kirchhoff, Holtzmann, Robert W. Bunsen, Schlosser, Bottaerk und Röth (Dekan). Auf dem Protokoll vermerkte Bunsen: „Ich fand mich von den Antworten des Candidaten vollkommen befriedigt“ und Kirchhoff: „Ich fand mich ebenfalls befriedigt“.19

Der Dekan Röth schreibt darauf an den Großherzoglichen Senat am 12.Feb.1856:

Der Petent hat studiert..... „in den Jahren 1849/50 vier Semester lang in Gießen und dann zu Paris; hat darauf zu Gießen als Doktor promoviert mit dem Prädikat magna cum laude und hat seitdem während seines Aufenthaltes in Reichenau und London mehrere chemische Abhandlungen publiziert. Die Abhandlungen sind von den Fachmännern der Fakultät als genügend specima eruditionis anerkannt wor- den und die Fakultät hat demgemäß Petenten zum gesetzlichen Kolloquium zuge- lassen. Mit den Ergebnissen des Kolloquiums war die Fakultät zufrieden und ertheilte dem Petenten den zweiten Grad: hinreichend befähigt. Auf die eingezo- genen Erkundigungen über das sittliche Verhalten des Petenten ist der Fakultät durchaus nichts Nachteiliges bekannt geworden. Die Fakultät hat daher, da die durch die Statuten geforderten Bedingungen erfüllt sind, keine Bedenken, sein Gesuch um Habilitation als Privat-Dozent der Chemie dem hohen Ministerium empfehlend zu übergeben.“20

Mit Erlass vom 29. Feb. 1856 des Großherzoglichen Senats wird die venia legen- di erteilt, und eine Probevorlesung für den 11. März, abends um 6 Uhr anbe- raumt. Bunsen hatte dazu am 8. März folgende Themen vorgeschlagen: 1. Darstellung der wichtigsten Theorien über die Constitution der organi- schen Verbindungen mit kritischem Hinblick auf die leitenden Prinzi- pien, welche dieser Theorien zum Grunde liegen 2. Über Ammonium und Ammoniak und deren wichtigste Substitutions- produkte 3. Über den Weinalkohol und seine wichtigsten Derivate mit Beziehung auf die Äthertheorie

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Man erkennt, wie sehr Bunsen auf die speziellen Interessen des Kandidaten ein- gegangen ist, der ja z.B. die Äthersynthese von Williamson aus erster Hand kann- te.

Die Fakultät fand sich befriedigt und erteilte das Prädikat: „hinlänglich befähigt“. Für den 15. März, vormittags um 11 Uhr, wurde eine Disputation festgesetzt zur Verteidigung folgender Thesen: 1. Die dualistische Ansicht über die Constitution der Salze ist unbe- gründet. 2. Der Schwefelwasserstoff ist eine zweibasische Säure. 3. Die Formel H2O für Wasser verdient den Vorzug vor HO. 4. Die Annahme verschiedener Aequivalente für dasselbe Element – namentlich für einige Metalle – ist mit den Tatsachen in Überein- stimmung. 5. Die für die Aether, die wasserfreien (einbasischen) Säuren und die isolierten Alkoholradikale gebräuchlichen Formeln sind zu verdop- peln. 6. Die Bildung des Aethers aus Alkohol beruht nicht auf einfache Wasserentziehung, sondern auf zwei aufeinander folgenden wech- selseitigen Zersetzungen. 7. Die Definition der organischen Chemie als Chemie der Kohlen- stoffverbindungen ist die einzige die einer consequenten Durchfüh- rung fähig ist. Bei dieser Disputation waren die Professoren Reichlin-Meldegg, Häusser, Holtz- mann, Stark, Bunsen, Kirchhoff, Geheimrat Rau und der Dekan Röth anwesend. Alle waren mit der Disputation zufrieden und Dr. Kekulé wurde unter die Zahl der Privatdozenten aufgenommen.21

Privatdozenten durften nicht in dem 1855 bezogenen Neubau des Chemischen Instituts arbeiten, weil nach Ansicht des Direktors Robert Wilhelm Bunsen der Platz dafür nicht ausreichte. Kekulé hatte sich deshalb im März 1856 im Haus des Mehlhändlers Goos in der Hauptstrasse Nr.4 sein Laboratorium eingerichtet, wo er auch wohnte und seine Vorlesungen über organische Chemie hielt.22 Adolf von Bayer, der zweite Praktikant neben Hoffmann schreibt in seinen Lebenserinne- rungen23:

„das Kekulésche Laboratorium war äußerst primitiver Natur. Es bestand aus ei- nem einfenstrigen Zimmer mit zwei Arbeitstischen und ohne jeglichen Abzug, als Stinkzimmer diente eine daran anstoßende Küche, deren Kamin häufig sehr man- gelhaft zog, so daß das Arbeiten mit flüchtigen Kakodylverbindungen mit Gefah- ren für Gesundheit und Leben verbunden war.“

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Reinhold Hoffmann musste also seine experimentellen Arbeiten zur Monochlo- ressigsäure unter sehr bescheidenen Verhältnissen durchgeführt haben. Da Bun- sen keine Vorlesungen in organischer Chemie hielt, war das Haus in der Haupt- straße Nr.4 praktisch das Institut für organische Chemie. Hier entstanden die wichtigen Arbeiten Kekulés zur Struktur organischer Verbindungen: die Er- kenntnis, dass der Kohlenstoff „vieratomig“ (vierwertig) ist24 und dass sich Koh- lenstoffatome unter einander verbinden können.25 Eine Gedenktafel am Haus Hauptstraße Nr. 4 erinnert daran.

Hoffmanns Promotion

Wie aus den Unterlagen des Universitätsarchivs Heidelberg hervorgeht, stellte Hoffmann am 16. Sept.1856 einen Antrag an

„die hochlöbliche philosophische Fakultät der Universität zu Heidelberg, den Grad eines Doktors der Philosophie zu erlangen, und richtet daher auf Grund der beigelegten Zeugnisse26 an hochlöbliche Fakultät die ergebene Bitte um Zulassung zu der vorgeschriebenen Prüfung.“27

Trotz dieses devoten Stils scheut er nicht, die hochlöbliche Fakultät unter Zeit- druck zu setzen:

„da der Unterzeichnete in Folge einer Anstellung genöthigt ist, im Anfang Okto- ber von hier abzureisen und ein Zurückkommen während des nächsten Semesters nicht wohl ermöglicht werden kann, stellt derselbe die weitere Bitte, daß hochlöb- liche Fakultät die Abhaltung der Prüfung während der Ferien gestatten und die selbe auf einen der ersten Tage im Oktober anberaumen wolle.“27

Man muß sich das vor Augen halten: innerhalb von 14 Tagen soll alles über die Bühne gehen, und auch noch in den Ferien! Aber überraschender Weise läßt Bunsen die Prüfung am 17. September zu (einen Tag später!) mit den Worten:

„der Candidat ist mir als ein sehr achtbarer und fleißiger junger Mann bekannt. Ich finde daher keinen Anstand, die Prüfung zu dem Termin am Freitag, den 3. Okto- ber abzuhalten.“28

Hoffmann wurde in Latein bei Prof. Bähr, in Chemie von Bunsen, in Physik von Kirchhoff und in Geologie von Leonhard geprüft. Die Prüfer fanden sich voll- kommen befriedigt. Auf der Promotionsurkunde wird ihm ein „summa cum lau- de“ attestiert.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Aber was war mit seiner praktischen Arbeit? Sie wird in den Prüfungsunterlagen nicht erwähnt, sie wird aber dem Gesuch zur Promotion den Unterlagen beigefügt worden sein. Im Universitätsarchiv Heidelberg findet sich zwar keine Promoti- onsordnung von 1856, wohl aber ein Schriftwechsel der philosophischen Fakultät mit der anderen badischen Universität in Freiburg. Deren philosophische Fakultät bittet in einem Schreiben vom 17. Mai 1856 um Übersendung der Heidelberger Promotions- und Habilitationsordnung als Vorbild. Im November bedankt sich die philosophische Fakultät Freiburg und fügt ihre Promotionsordnung bei, die noch im Universitätsarchiv Heidelberg vorhanden ist. Es darf wohl angenommen werden, dass sie der Heidelberger Promotionsordnung entspricht.

Danach wird im §3 verlangt, dem Gesuch zur Promotion folgende Unterlagen beizufügen: 1. Zeugnisse ....einer gelehrten Schule (Lyceum oder Gymnasium) 2. Ein Sitten- oder Leumundszeugnis 3. Eine Lebensbeschreibung 4. Eine vom Candidaten selbständige Abhandlung über irgendeinen Gegenstand aus den zur philosophischen Fakultät gehörigen Dis- ziplinen… Im folgenden §4 wird nochmals ausdrücklich auf das Vorliegen einer wissen- schaftlichen Abhandlung nach §3 hingewiesen, ohne die der Doktorbrief nicht verliehen wird. Im §5 heißt es, dass die mündliche Prüfung auf die vorgelegte Arbeit ausgedehnt werden kann, um sich zu überzeugen, dass sie von dem Candidaten selbst ausgeführt wurde. Vor der Aushändigung des Diploms muß die Arbeit nach §10 in gedruckter Form vorliegen. Davon kann abgesehen werden, wenn der Candidat 40 fl hinterlegt und die gedruckten Exemplare innerhalb eines Jahres vorliegen. Von dieser Ausnahmeregelung hat Hoffmann sicher Gebrauch gemacht und seine Arbeit in handschriftlicher Form seinem Promotionsgesuch beigefügt. Innerhalb eines Jahres ist sie in gedruckter Form als Inauguraldisserta- tion „Über Monochloressigsäure“ in Heidelberg erschienen; ebenso wurde sie in Liebigs Annalen 1857 veröffentlicht.29

Es ist bemerkenswert, in welch kurzer Zeit in der Mitte des 19. Jahrhunderts an der Universität Heidelberg sowohl Promotionen als auch Habilitationen offenbar durchgeführt wurden. Reinhold Hoffmann begann noch im Oktober 1856 seine berufliche Laufbahn, die ihn vom Betriebschemiker in der Chemischen Fabrik Oedenwald (Blutlaugensalz, Phosphor) südlich von Loßburg/Schwarzwald zum Direktor des Blaufarbenwerks Marienberg (Ultramarin) im Odenwald bis in den Aufsichtsrat der Chemischen Fabrik Griesheim führte. Er ist 1919 in Wiesbaden gestorben.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Summary

It is quite unknown, that August Kekulé and Reinhold Hoffmann, two years younger, were close friends and so called „Cousins“. Both started the study of Chemistry in Giessen in 1849 and spent their leisure time mostly together dis- cussing chemical problems, which was for Kekulé very important. In 1854 they both became assistants in London, Kekulé of John Stenhouse and Hoffmann of Alexander Williamson. They shared a flat in Lambeth and formed a discussion group with Alexander Williamson, William Odling, Edward Frankland and Hugo Müller. Kekulé spoke much of the new theories of Dumas and Gerhardt, with which he became acquainted during his stay in Paris in 1851. Here Hoffmann was suggested to synthesize, as a contribution to Dumas’ theory of substitution, the mono-chloroacetic acid, which was accomplished in Kekulé’s laboratory in Heidelberg in 1856.

Erweiterte Fassung des Vortrages vom 22.März 2013 auf der Tagung der Fachgruppe Ge- schichte der Chemie der GDCh in Heidelberg. 1 Holger Andreas, „Marienberg – ein Chemiestandort im Odenwald“, Zeitzeugenberichte IX, GDCh-Monographie, Bd.40 (Frankfurt/Main 2009), S. H1-52. 2 Lebens- und Familiendaten sind den unveröffentlichten Mitteilungen des Instituts für Per- sonenforschung, Bensheim, entnommen, Angaben zum Studium aus seinem eigenen latei- nischen Lebenslauf, der im Universitätsarchiv Heidelberg vorliegt, Protokoll der philoso- phischen Fakultät für 1856. 3 Richard Anschütz, Der Chemiker August Kekulé, Nachdruck der Originalausgabe von 1929 (Hamburg 2011), Bd. 1, S. 16. 4 Joseph S. Fruton und Fréderic L. Holmes, „The Liebig Research Group - A Reappraisal“, Proceedings of the American Philosophical Society, Vol. 132, No.1 (1988), S. 1-66. – Georg Schwedt, Liebig und seine Schüler (Berlin 2002). 5 Anschütz, S. 16. 6 Anschütz, S. 17. 7 Akten der Philosophischen Fakultät 1856 der Universität Heidelberg, Sign. H-IV-102/52, S. 163. 8 Winfried R. Pötsch et al., Lexikon bedeutender Chemiker (Leipzig 1988), S. H54. 9 Reinhold Hoffmann, „Reaktion auf Leucin und Tyrosin“, Annalen der Chemie und Phar- mazie, 87 (1853), S. 123-125. 10 Peter Kurzmann, „August Kekulé in der Schweiz”, Mitteilungen Nr.22 der Fachgruppe Geschichte der Chemie (2012), S. 93-107.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

11 August Berenthsen, „Die Heidelberger chemischen Laboratorien für den Universitätsunter- richt in den letzten hundert Jahren”, Zeitschrift für angewandte Chemie, 42 (1929), S. 382- 384. 12 Anschütz, S. 42. 13 Anschütz, S. 64. 14 Reinhold Hoffmann, Über Monochloressigsäure, Schlussbemerkung (Heidelberg 1857). 15 Jean-Baptiste Dumas, „Über die Chloressigsäure, die Constitution einiger organischer Kör- per und über die Substitutionstheorie”, Annalen der Chemie und Pharmazie, 32 (1839), S. 101-110. 16 Reinhold Hoffmann, Über Monochloressigsäure (Heidelberg 1857), S. 4. 17 Jean-Baptiste Dumas, „Über das Gesetz der Substitution und die Theorie der Typen”, An- nalen der Chemie und Pharmazie, 33 (1840), S. 259-300. 18 Hans-Ulrich v. Vogel (Hrsg.), Chemiker-Kalender (Berlin 1966). 19 Akten der Philosophischen Fakultät 1856 der Universität Heidelberg, Sign. H-IV-102/52, S. 63. 20 Ebenda, S. 65. 21 Ebenda, S. 70-73. 22 Ähnlich erging es Emil Erlenmeyer, der 1850 bei Liebig promovierte, 1855 in Heidelberg habilitierte und sein Labor in Heidelberg in der Karpfengasse Nr.6 hatte. Er benutzte zu- sammen mit Kekulé den Vorlesungsraum in der Heidelbergerstr. 4. Nach dem Fortgang Kekulés nach Gent bezog Aug. Friedr. Horstmann nach seiner Habilitation die Räume in der Heidelbergerstr. 4. 23 Adolf von Bayer, „Erinnerungen aus meinem Leben“, Gesammelte Werke, Bd. I (Braun- schweig 1905), S. XII. 24 August Kekulé, „Über die s.g. gepaarten Verbindungen und die Theorie der mehratomigen Radikale”, Annalen der Chemie und Pharmazie, 104 (1857), S. 129-150, Fußnote auf S. 133. 25 August Kekulé, “Über die Constitution und die Metamorphosen der chemischen Verbin- dungen und über die chemische Natur des Kohlenstoffs”, Annalen der Chemie und Phar- mazie, 106 (1858), S. 129-159. 26 Die Zeugnisse sind im Universitätsarchiv nicht vorhanden. 27 Akten der Philosophischen Fakultät 1856 der Universität Heidelberg, Sign. H-IV-102/52, S. 162. 28 Ebenda, S. 163. 29 Reinhold Hoffmann, „Über die Monochloressigsäure”, Annalen der Chemie und Pharma- zie, 102 (1857), S. 1-20.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Marcelin Berthelot als erster Polymerforscher des neunzehnten Jahrhunderts

Prof. Dr. Dietrich Braun, Jakob-Jung-Str. 56, 64291 Darmstadt

Marcelin (auch Marcellin) Pierre Eugène Berthelot (1827 – 1907) war einer der vielseitigsten und bedeutendsten französischen Chemiker des 19. Jahrhunderts. Er veröffentlichte über 1500 Arbeiten zur synthetischen organischen und zur physiologischen Chemie, über Thermochemie und Explosivstoffe sowie zu den Ursprüngen der Alchemie und wirkte bis zu seinem Tode als akademischer Leh- rer und Forscher in Paris, war aber zeitweise auch französischer Unterrichts- und Außenminister. Heute weitgehend vergessen ist, dass Berthelot 1863 für das Ent- stehen von hochmolekularen Stoffen durch Polyreaktionen den Begriff „trans- formation polymérique“ einführte, aus dem später im Deutschen das Wort Poly- merisation wurde. Aus experimentellen Untersuchungen entwickelte er erste Vor- stellungen über den Ablauf von Polymerisationsreaktionen und wurde damit zum ersten Polymerforscher des neunzehnten Jahrhunderts und Vorgänger der um 1920 von Staudinger begründeten makromolekularen Chemie.

Jöns Jakob Berzelius prägte um 1831 den Begriff „Isomerie“ und bezeichnete als isomere Stoffe (damals Körper genannt) solche, die bei verschiedener Struktur gleiche Elementarzusammensetzung und gleiche Molmasse besitzen. Wenig spä- ter führte er das Wort „Polymerie“ in die Chemie ein1, konnte aber zu dieser Zeit nicht ahnen, dass er damit den Grundbegriff der erst viel später entstandenen Po- lymerchemie schuf. Berzelius bezeichnete Substanzen als polymer, die bei glei- cher Elementarzusammensetzung verschiedene Eigenschaften und damit unter- schiedliche Molekülgröße besitzen. Das Wort Polymerie bürgerte sich rasch ein; so heißt es in einem englischen Wörterbuch2 um 1863/68:

“Bodies are said to be polymeric when they have the same percentage composi- tion, but different molecular weights; the olefins CnH2n for example …”3

Der Begriff Polymerie wurde zunächst allerdings oft sehr formal benutzt, so dass z. B. sogar Milchsäure C3H6O3 gelegentlich als ein Polymeres des Formaldehyds 4 (CH2O) bezeichnet wurde. Erst Berthelot beschränkte den Begriff Polymerie auf solche „Körper, die durch die Vereinigung mehrerer gleichartiger Moleküle zu einem einzigen entstehen“. Er erkannte aber auch, „dass die gesättigten Verbin-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 dungen wie das Sumpfgas (Methan) zu keiner Polymerie fähig sind, sondern nur diejenigen, welche mit dem Wasserstoff, dem Chlorwasserstoff u.s.w. Additions- produkte bilden können“. Er nannte dafür als Beispiele Acetylen, Ethylen, aber auch Aldehyde und „überhaupt die unvollständigen (ungesättigten) Verbindun- gen“. Zunächst gab es aber keine Vorstellungen, wie die mit dem Begriff der Po- lymerie verbundene „Vereinigung mehrerer gleichartiger Moleküle“ zu Stoffen unterschiedlicher Molekülgröße ablaufen könnte. Zwar stammt die erste Be- schreibung einer (im heutigen Sinne) Polymerisationsreaktion schon aus dem Jahre 1839 von Eduard Simon, einem Berliner Apotheker. Er erhielt bei der De- stillation von Storax, dem Balsam eines in Kleinasien und in Mittelamerika be- heimateten Baumes, ein Öl, das er Styrol nannte,5 dessen Struktur aber erst 1866 von Emil Erlenmeyer6 aufgeklärt wurde. Simon beobachtete auch bereits den „Übergang“ des Styrols beim Aufbewahren an der Luft und beim Einwirken von Licht oder Wärme in eine gummiartige bis glasige Substanz, die er Styroloxyd nannte.

Diesen Befund bestätigten 1845 John Blyth und August Wilhelm Hofmann.7 Sie erkannten aber, dass die „Metamorphose“ des Styrols in ein Harz im Gegensatz zur Meinung von Simon ohne Aufnahme von Sauerstoff erfolgte, denn sie fanden die gleichen Elementarzusammensetzungen für das eingesetzte Styrol und das Simonsche Styroloxyd, weshalb sie dieses Metastyrol nannten. Sowohl Simon als auch Blyth und Hofmann beobachteten auch schon die Rückbildung von Styrol beim vorsichtigen Erhitzen des Metastyrols, im heutigen Sinne also dessen Depo- lymerisation. Etwa gleichzeitig entstanden weitere Arbeiten, in denen nach heuti- ger Terminologie Polymerisationsreaktionen beschrieben werden. So beschrieb Henri Victor Regnault 1838 Vinylidenchlorid als unstabile Flüssigkeit, die sich bei längerem Aufbewahren trübte und eine nicht-kristalline Substanz abschied, die er als isomere Modifikation bezeichnete.8

1860 machte A. W. Hofmann eine ähnliche Beobachtung mit Vinylbromid, wobei er vermutete, dass das Produkt dieser „Metamorphose“ ein Ether aus Al- lylalkohol und Bromwasserstoff sein könnte.9 1872 hielt Eugen Baumann10 die Polymerisation von Vinylchlorid und Vinylbromid durch Sonnenlicht als deren Überführung in „isomere Körper“. Wie sich aus diesen und weiteren ähnlichen Untersuchungen ergibt, wurden damals erst viel später als Polymerisationen be- zeichnete Reaktionen als Isomerisierungen, Modifikationen oder Metamorphosen bezeichnet, ohne dass damit eine Vorstellung von den ablaufenden Vorgängen verbunden war. Keiner der Autoren erkannte damals, dass es sich in allen diesen Fällen um die Umwandlung von Monomeren in höher- oder gar hochmolekulare Polymere handelte.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Der erste, der sich genauer mit dem Wesen und dem Ablauf solcher Reak- tionen beschäftigte, war Marcelin (manchmal auch Marcellin geschrie- ben) Berthelot, einer der vielseitigsten und produktivsten französischen Che- miker des 19. Jahrhunderts. Auf die Bedeutung von Berthelot für die Poly- merforschung finden sich nur wenige Hinweise in der Literatur: Hermann Staudinger erwähnt in seinen Schriften Berthelot nicht. Paul Flory11 und Yasu Furukawa12 nennen die „transformati- on polymérique“ nur als Quelle des Begriffs Polymerisation. Lediglich Herbert Morawetz13 würdigt in seiner bis heute unübertroffenen Polymerge- schichte die Arbeiten von Berthelot ausführlich. Abb. 1: Marcelin Berthelot (um 1895), aus: Jean Jacques, Berthelot: autopsie d’un mythe (Paris 1987), S. 228.

Marcelin Berthelot

Marcelin Berthelot wurde als Sohn eines Arztes am 25. Oktober 1827 in Paris geboren. Er schloss das Studium der Medizin und der Naturwissenschaften im Juli 1849 in Paris ab und legte im April 1854 seine Dissertation „Mémoire sur les combinaisons de la glycerin avec les acides et sur la synthese des principes im- médiats des graisses des animaux“ (Über die Verbindungen des Glycerins mit Säuren und zur Synthese der tierischen Fette) vor. Es folgte eine rasche akademi- sche Karriere: Von 1859 bis 1876 war er Professor für organische Chemie an der École Supérieure de Pharmacie und besaß außerdem seit 1865 einen Lehrstuhl am Collège de France. 1873 wurde er Mitglied der Französischen Akademie der Wissenschaften, seit 1889 war er deren ständiger Sekretär als Nachfolger von Louis Pasteur. Daneben bekleidete Berthelot auch bedeutende politische Ämter in Frankreich: 1876 erhielt er einen unbefristeten Sitz im französischen Senat, von 1886-1887 war er französischer Erziehungsminister und 1895-1896 Außenmini- ster. Er starb am 18. März 1907 in Paris. Das wissenschaftliche Werk von Ber-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 thelot ist in über 1500 Veröffentlichungen und etwa 20 Büchern niedergelegt. Eduard Färber14 hat die Hauptarbeitsgebiete und die dazu erschienenen zusam- menfassenden Bücher in fünf Kapitel gegliedert: 1. Synthesen organisch-chemischer Verbindung 2. Chemische Gleichgewichte und Reaktionsmechanismen 3. Thermochemie 4. Physiologische Chemie 5. Arbeiten zur Geschichte der Chemie, besonders der Alchemie

Berthelot und die Vis Vitalis

Vermutlich gab seine Dissertation den ersten Anstoß, dass Berthelot sich dem von Friedrich Wöhler eingeleiteten Paradigmenwechsel über das Entstehen orga- nischer Substanzen anschloss. Bekanntlich herrschte noch am Anfang des 19. Jahrhunderts die Meinung, dass in der Natur vorkommende organische Stoffe zu ihrem Entstehen der Mitwirkung einer sogenannten Lebenskraft (vis vitalis) be- dürfen. Erst mit der Synthese zahlreicher in der Natur vorkommender Substan- zen, so z. B. des Harnstoffs aus Ammoniumcyanat durch Friedrich Wöhler 1828

NH4CNO → NH2 - CO - NH2 wurde diese Lehrmeinung nach und nach aufgegeben, woran Berthelot mit seinen Arbeiten zur künstlichen Herstellung organischer Substanzen zweifellos erhebli- chen Anteil hat. Seine auch technisch zum Herstellen der Ameisensäure genutzte Synthese des Natriumsalzes der Ameisensäure (Natriumformiat) aus Kohlenoxid und Ätznatron

NaOH + CO → HCOONa

öffnete 1855 einen industriellen Weg zur Ameisensäure, die bis dahin nur aus Ameisen durch eine Art trockene Destillation zugänglich war. Berthelot bestritt in seinem Buch „Chimie Organique fondée sur la Synthese“ (Paris 1860) endgül- tig die Existenz einer vis vitalis: „La force vitale n´est point nécessaire pour for- mer les substances organiques.“

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Synthetische organische Chemie

Im Jahre 1877 veröffentliche Berthelot in der Reihe „Internationale wissenschaft- liche Bibliothek“ eine Zusammenfassung seiner Vorstellungen von der organi- schen Chemie, ihrer Entwicklungsgeschichte und über die Klassifikation organi- scher Stoffe, ohne hierbei allerdings systematisch auf seine Untersuchungen über die „transformation polymérique“ einzugehen.15 (s. dazu weiter unten).

Von seinen zahlreichen Arbeiten zur Synthese organischer Stoffe seien hier nur die erwähnt, die in Zusammenhang mit der Polymerforschung von besonderer Bedeutung sind: 1862: Herstellung von Acetylen im Kohlelichtbogen mit Wasserstoff: die Ver- suchsanordnung hat als Berthelotsches Ei Eingang in die Literatur gefun- den und befindet sich im Deutschen Museum in München (Abb. 2)

Abb. 2: Berthelots Apparat zur Synthese von Acetylen im Kohlelichtbogen.14

1867: Styrolsynthese aus Benzol und Ethylen in glühenden Röhren 1869: Styrol durch Pyrolyse von Ethylbenzol, was man als Vorgänger des heuti- gen technischen Prozesses ansehen kann Neben der schon erwähnten Direktsynthese von Ameisensäure sei an die Arbei- ten von Berthelot zum Herstellen von Ethanol aus Ethylen, von Methanol aus Methan und von Benzol aus Acetylen erinnert.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 M. Berthelot als erster Polymerchemiker

Wie bereits erwähnt, gehört Berthelot aus heutiger Sicht zu den weitgehend ver- gessenen Pionieren der makromolekularen Chemie. Er diskutierte am 27. April 1863 in einem später veröffentlichten Vortrag in Paris erstmals das Verknüpfen organischer Moleküle durch Polymerisationen, wobei er das „Verharzen“ von Styrol durch Hitze oder mit Schwefelsäure als „transformation polymérique“, bezeichnete.16 Später untersuchte er die aus heutiger Sicht kationische Polymeri- sation von Penten und von Pinen genauer und folgerte daraus, dass alle Substan- zen, die Wasserstoff, Chlor oder Wasser addieren können, auch in der Lage sein sollten, sich an ihre eigenen Moleküle anzulagern. Zugleich sagte er voraus, dass ungesättigte Alkohole oder Säuren (für die er keine Beispiele kannte) polymeri- sieren könnten. Er machte aber keine Angaben über die Zahl der möglichen An- lagerungsschritte, da die Addition von zwei (nach heutiger Nomenklatur) unge- sättigten Molekülen wieder zu ungesättigten Produkten und damit von zum wei- teren Polymerisieren fähigen Stoffen führen müsse. Bei der kationischen Polyme- risation von Ethylen erhielt er eine als Hexadecen bezeichnete Substanz, die er wohl als erster „Polyethylen“ nannte. Als erster erörterte Berthelot auch ver- schiedene Möglichkeiten zum Auslösen von Polymerisationen, z. B. durch Wär- me, aber auch durch die „Wirkung einer gleichzeitigen chemischen Reaktion“ (was man heute als Kettenstart mit Hilfe von Initiatoren oder Katalysatoren anse- hen könnte) oder unter dem Einfluss eines „nascent state“ (nach Joseph Priestley, der damit die erhöhte Reaktivität von Wasserstoff im Moment seiner Entste- hung/Freisetzung bezeichnet hatte); dafür könnte man heute bei (Berthelot natür- lich noch unbekannten) radikalisch verlaufenden Polymerisationen den Start durch aus Initiatoren wie Peroxiden, aliphatischen Azoverbindungen oder Redox- systemen entstehende Radikale ansehen.

Übrigens beobachtete Berthelot auch schon Möglichkeiten zum Beschleunigen oder Unterdrücken von Polymerisationsreaktionen, z. B. dass der thermische Übergang von Styrol in Metastyrol, das er ohne Begründung als Dimeres des Sty- rols ansah, durch Schwefelsäure oder Alkali beschleunigt und durch Jod oder Schwefel inhibiert wird. Bei der von Berthelot genauer untersuchten Polymerisa- tion von Penten oder von Pinen mit sehr kleinen Mengen Bortrifluorid reagiert nach seinen Vorstellungen die aus Bortrifluorid mit Feuchtigkeit entstandene Säure zuerst exotherm mit der ungesättigten Verbindung; die dabei freigesetzte Wärme löst dann unter weiterer Temperaturerhöhung das Anlagern von benach- barten Molekülen aus, so dass sich der Prozess durch die Masse „wie ein Feuer fortpflanzt“, was man heute als eine Kettenreaktion bezeichnen würde. Die Po- lymerisation von Propylen mit Phosphorsäure besteht nach Berthelot im ersten Schritt in der Bildung eines Phosphorsäuresters, der dann mit einem weiteren

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Propylenmolekül zum Dimeren reagiert. Da dieses Dimere wieder eine Doppel- bindung enthält, kann sich die Reaktion unter Kettenverlängerung fortsetzen. Berthelot macht hierzu keine weiteren Angaben. Er konnte damals aber auch noch nicht wissen, dass die wachsende Kette bei derartigen, in heutiger Nomen- klatur als kationisch bezeichneten Polymerisationen in der Regel durch Protonen- übertragung abgebrochen wird und sich die Reaktionskette (nicht die einzelne wachsende Kette) durch Start mit einem anderen Proton fortpflanzt, so dass es sich also nicht um eine „lebende“ Polymerisation handelt. Berthelot formuliert die Auslösung der Polymerisation von Propylen (in heutiger Schreibweise):

C3H6 + H3PO4 → C3H7-O-PO(OH)2 C3H6 + C3H7-O-PO(OH)2 → C6H12 OP(OH)3 Peter H. Plesch17 hat rund 100 Jahre später unter Bezug auf Berthelot ein allge- meines Schema dieser Reaktion (auch ohne Kettenabbruch bzw. Kettenübertra- gung) formuliert:

Pn + K → Pn-K Pn-K + P1 → Pn+1K (geschwindigkeitsbestimmend) Rückblickend kann man also mit den heutigen Kenntnissen die Vorstellungen von Berthelot zum Wesen der Polymerisation als Kettenreaktion mit Start und Wachstum interpretieren. Natürlich bleibt die Frage offen, warum Berthelot nicht dazu Stellung genommen hat, wie viele Anlagerungsschritte aufeinander folgen können, ehe die Reaktion zum Stillstand kommt. Allerdings muss man dabei be- rücksichtigen, dass nach damaligen Kenntnissen die Zahl der Anlagerungen (die wir heute den Polymerisationsgrad nennen würden) nicht sehr groß sein konnte, da direkte Molekulargewichtsbestimmungen zu Zeiten von Berthelot noch nicht möglich waren und destillativ nur die ersten Glieder von polymerhomologen Reihe getrennt werden konnten. Mit der fraktionierenden Destillation hat Ber- thelot aber auch schon die erst viel später von Staudinger postulierte und bewie- sene molekulare Uneinheitlichkeit von Polymeren beobachtet, ohne sich aller- dings der Tragweite dieses Befunds bewusst gewesen zu sein. Insofern hat Ber- thelot mit seinen Arbeiten aber schon gezeigt, dass polymere (nach Staudinger makromolekulare) Stoffe molekularuneinheitliche Gemische und nach der heuti- gen Definition keine chemisch einheitlichen „Verbindungen“ sind.

Später hat sich Berthelot auch mit thermochemischen Untersuchungen an Poly- meren befasst. Von ihm stammen die Begriffe „endotherm“ und „exotherm“. Er konstruierte ein Kalorimeter (Berthelotsche Bombe) (Abb. 3), dessen Prinzip noch heute angewandt wird. Aus dem Vergleich der Verbrennungswärmen von Penten und seinem Dimeren und Trimeren berechnete er das Inkrement für eine CH2-Einheit und folgerte daraus, dass Methylen nicht beständig sein könne.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

Abb. 3: Kalorimeter („Berthelotsche Bombe“)18

Zusammenfassend gehören die Arbeiten Berthelots auf dem Polymergebiet sicher zu den Meilensteinen auf dem Weg zum Makromolekül.19 Auf ihn geht nicht nur der Begriff der Polymerisation für das Verknüpfen mehrerer oder vieler gleichar- tiger ungesättigter Moleküle zu heute nach Staudinger als Makromoleküle be- zeichneten „Riesenmolekülen“ zurück, sondern er entwickelte bereits erste Vor- stellungen über das Auslösen von Polymerisationsreaktionen und beobachtete die Polymolekularität synthetischer hochmolekularer Stoffe. Berthelot war zu seiner Zeit wohl einer der angesehensten und auch ein international vielfach geehrter französischen Chemiker. Er wurde 1882 ausländisches Mitglied der Friedensklas- se des preußischen Ordens Pour le merite; 1883 erhielt er die Davy-Medaille der Royal Society. Bei der Feier zu seinem 50jährigen Doktorjubiläum war Deutsch- land durch Emil Fischer, Carl Engler und Carl Dietrich Harries vertreten.

Von den zu diesen Ehrungen veranstalteten Festlichkeiten sind keine Bilder be- kannt, doch findet sich in einer italienischen Geschichte der Chemie aus dem Jah- re 1984 eine Comic-Zeichnung, in der einige Leistungen Berthelots gewürdigt werden, allerdings fehlt auch hier ein Hinweis auf seine Bedeutung als Polymer- forscher.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

Abb. 4: Ehrung von M. Berthelot.20 Linker Kasten: In den folgenden Jahren synthetisierte ein französischer Chemiker im Labor Alkohol, Methan, Benzol, Acetylen und viele andere Sub- stanzen. Rechter Kasten: Dank Ihnen, Berthelot, ist der Übergang zwischen organischen und anorganischen Substanzen kein verbotenes Abenteuer mehr“ (gemeint ist seine Ablehnung der Annahme einer Lebenskraft (vis vitalis) in organischen Stoffen)

Berthelots letzte Lebensjahre waren über- schattet vom plötzlichen Tod seines Sohnes bei einem Eisenbahnunfall im Jahre 1904 und dem vermutlich dadurch verursachten Herzleiden seiner Frau, dem sie am 18. März 1907 erlag. Er folgte ihr nur wenige Stunden später am gleichen Tag. Die franzö- sische Regierung veranlasste durch ein Son- dergesetz, das zum ersten Mal die Beiset- zung einer Frau im Panthéon erlaubte, die gemeinsame Bestattung von Marcelin Ber- thelot und seiner Frau Sophie Niaudet (1837 - 1907). Eine Büste Berthelots von Auguste Rodin befindet sich in der Carlsberg Glypto- thek in Kopenhagen (Abb. 5).

Abb. 5: Marcelin Berthelot (Büste von Auguste Rodin)21

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Summary

Marcelin Berthelot (1827- 1907) was one of the most famous and creative French chemists of the 19th century. He published more than 1500 papers and about 20 books on synthetic organic und physiological chemistry, thermochemistry and explosives and on the early history of chemistry. Until his death he was an aca- demic teacher in Paris and served in two French governments as Minister of For- eign Affairs and Minister of Education. Nowadays it is mostly forgotten, that Berthelot was the first chemist who called the formation of polymers “transfor- mation polymérique”, which later-on became the origin of the term polymeriza- tion. On basis of experimental investigations he developed first ideas on initiation and growth of polymerization processes that can be considered as one of the early milestones in macromolecular chemistry.

1 Jöns Jakob Berzelius, Jahresbericht über die Fortschritte der physikalischen Wissenschaft, 12 (Tübingen 1833), S. 63. 2 Henry Watts, A Dictionary of Chemistry and Applied Branches of Other Sciences, Vol. 4 (London 1866). 3 Yasu Furukawa, Inventing Polymer Science – Staudinger, Carothers, and the Emergence of Macromolecular Chemistry (Philadelphia 1998), S. 12. 4 Marcelin Berthelot, Die chemische Synthese (Leipzig 1877), S. 62 f. 5 Eduard Simon, „Über den flüssigen Storax (Styrax liquidus)“, Liebigs Annalen, 31 (1839), S. 265. 6 Emil Erlenmeyer, „Studien über die s. g. aromatischen Säuren“, Liebigs Annalen, 137 (1866), S. 353. 7 John Blyth, Augsut Wilhelm Hofmann, „Über das Styrol“, Liebigs Annalen, 53 (1845), S. 289. 8 Henri Victor Regnault, “De l’Action du Chlore sur la Liqueur des Hollandais et sur le Chlorure d‘ Aldèhydène”, Annales de chimie et de physique, [2], 69 (1838), S. 152. 9 August Wilhelm Hofmann, „Metamorphose des einfach-bromürten Aethylens“, Liebigs Annalen, 115 (1860), S. 271. 10 Eugen Baumann, „Über einige Vinylverbindungen“, Liebigs Annalen, 163 (1872), S. 312. 11 Paul J. Flory, Principles of Polymer Chemistry (Ithaca London 1953), Chapter I., S. 3-28. 12 Furukawa, Inventing Polymer Science, S. 18. 13 Herbert Morawetz, Polymers – The Origins and Growth of a Science (New York 1985), S. 18-21.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 14 Eduard Färber, „Berthelot“, in: Das Buch der großen Chemiker, hrsg. von Günther Bugge (Berlin 1930), Band II, S. 190-199. 15 Marcelin Berthelot, Lecons de chimie professées en 1864 et 1865, Société chimique de Paris (Paris 1866), S. 18-65, S. 148-167. 16 Ebenda. 17 P[eter] H. Plesch, The Chemistry of Cationic Polymerisation (Oxford London New York Paris 1963), S. 213. 18 John Eggert, Lehrbuch der physikalischen Chemie in elementarer Darstellung, 7. Auflage (Leipzig 1948), S. 390. 19 Dietrich Braun, „Der lange Weg zum Makromolekül“, Chemie in unserer Zeit, 46 (1912), S. 310. 20 Cinzia Ghigliano, Luca Novelli, Storia della Chimica a fumetti (Geschichte der Chemie in Comic Strips) (Milano 1984). 21 http://en.wikipedia.org/w/index.php?title=Marcellin_Berthelot&oldid=616403717

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Döbereiner und das Platin

Dr. Arno Martin, Jena, Friedrich-Engels-Str. 20, 07749 Jena

Vor 190 Jahren hat Johann Wolfgang Döbereiner in Jena die katalytische Wir- kung des Platins gefunden. Zahlreiche Arbeiten haben sich seitdem mit Döberei- ner und dieser Entdeckung befasst.1 Die vorliegende Veröffentlichung versucht, die Frage zu beantworten, woher das Platin gekommen ist, mit dem Döbereiner gearbeitet hat.

Aus der Geschichte des Platins

Den spanischen Eroberern fielen auf ihren Beutezügen bei den Einwohnern von Mittel- und Südamerika große Mengen an Gold- und Silbergeräten in die Hände. Nachdem diese Quellen geplündert waren, bemühte man sich, die Edelmetalle auch aus ihren natürlichen Vorkommen zu gewinnen. Etwa 1690 fiel Goldsu- chern im spanischen Vizekönigreich Neugranada im heutigen Kolumbien auf, dass sich beim Waschen der Goldseifen einiger Flüsse zusammen mit dem be- gehrten Gold andere silbrig-weißliche Metallkörner von vergleichbar großer Dichte angereichert haben. Dieses neue Metall wurde nach dem spanischen Wort Plata für Silber geringschätzig „Platina“, so viel wie „Silberchen“ genannt. Man hielt es für wertlos, da es sich weder schmelzen noch schmieden ließ und weil man deshalb zunächst keine Verwendung dafür fand. Aber man bemerkte, dass es sich sehr gut mit Gold legieren lässt. Die Dichte dieser Legierungen unterschied sich nur unwesentlich von der Dichte reinen Goldes, sodass Betrüger daraus Münzen mit deutlich geringerem Goldgehalt prägen konnten. Die Spanische Re- gierung versuchte, das zu verhindern, indem sie die Gewinnung, die Verwendung und den Export von Platin verboten hat. Deshalb gelangte nur wenig Platin nach Europa. Charles Wood (1702-1774) aus einer englischen Familie von Hüttenleu- ten wanderte in die britische Kolonie Jamaika aus und baute dort eine Anlage zum Verhütten von Bleierzen auf. Er kam in den Besitz von Platin, das offen- sichtlich durch Schmuggel aus dem spanischen Neugranada nach Jamaika gelangt war. Er schickte das Platin nach England an William Watson. Dieser prüfte das Verhalten des Metalls in starkem Feuer und gegenüber Salz- und Salpetersäure. Seine Untersuchungsergebnisse und einige Proben des Metalls wurden im De-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 zember 1750 in London der Royal Society präsentiert.2 Platin wurde hier als Semi-Metall bezeichnet, da es spröde ist und sich auch trotz Zusatz von Borax und anderen Flussmitteln nicht schmelzen lässt, ihm daher als typisch angesehene Metalleigenschaften fehlen.

Kurze Zeit später veröffentlichte William Lewis (1708-1781) umfangreiche Un- tersuchungen an einer weißen metallischen Substanz, von der gesagt wird, sie stamme aus den Goldminen von Spanisch-Westindien. Er hatte festgestellt, dass das „Platina“ genannte Material aus einer Mischung verschiedener Partikel be- steht und nicht in natürlichem Zustand vorliegt. Es enthielt Quecksilber, woraus er geschlossen hat, dass man es amalgamiert hatte, um Gold abzutrennen. Neben der Einwirkung von Salz-, Salpeter- und Schwefelsäure und Königswasser stu- dierte er besonders die Fähigkeit zur Bildung von Legierungen mit anderen Me- tallen.3 Er kam zu dem Ergebnis, dass das Platin nicht ein „verunreinigtes“ Gold ist, wie gelegentlich angenommen worden war, sondern ein eigenes neues Metall. Er stellte eine Reihe von Legierungen aus einem Teil Platin und 1 bis zu 95 Tei- len Gold her und beurteilte diese hinsichtlich ihrer Dichte, Farbe, Schmiedbarkeit und Eignung zum Drahtziehen. Er verfolgte dabei das Ziel, schon durch Untersu- chung der mechanischen Eigenschaften reines Gold leichter von den häufig in betrügerischer Absicht hergestellten Legierungen unterscheiden zu können.4

Auch in Deutschland beschäftigte man sich mit dem neuen schwer zu beschaf- fenden Metall. Der Chemiker der Berliner Akademie, Andreas Sigismund Marggraf (1709-1782), hatte Mitte des 18. Jahrhunderts durch Vermittlung des Mathematikers Leonhard Euler (1707-1783) Platinerz aus London erhalten. Marggraf ermittelte, dass sich die Dichte des Platins zu der des Goldes wie 18½ zu 19 verhält. Er stellte fest, dass es durch starkes zweistündiges Feuer geringfü- gig verschweißt wird, aber nicht schmilzt. Durch Hämmern ließen sich die ver- schweißten Körner wieder voneinander trennen. Auch er konnte Quecksilber aus dem Rohmaterial herausdestillieren zum Zeichen, dass es sich um den Rückstand aus einer Amalgamation handelt.5 Er untersuchte die Einwirkung von Säuren, geschmolzenen Salzen und verschiedener Glasgemenge auf das Metall.

Marggrafs Schüler und späterer Nachfolger Franz Carl Achard (1753-1821) ist allgemein bekannt als Erfinder der Rübenzuckerfabrikation. Weitestgehend un- bekannt ist dagegen, dass er 1788 ein umfangreiches Werk „Recherches sur les propriétés des alliages métalliques“ veröffentlicht hat, in dem er 848 Legierun- gen aus 10 Metallen beschrieben hat.6 Er hat festgestellt, dass Platin mit Arsen eine bei niedriger Temperatur schmelzende außerordentlich spröde Legierung bildet, aus der man durch Erhitzen das Arsen wieder austreiben kann.7 Er nutzte diese Eigenschaften, indem er eine geeignete Tonform mit gepulverter Platin- Arsen-Legierung füllte. Er setzte diese

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 „unter eine Muffel und giebt schnelles starkes Feuer. Die arsenicalische Platina kommt in Fluß, und wenn der Arsenic verflogen ist, wird sie wieder fest, und nimmt die Gestalt des Raumes an. Nach der Erkaltung wird die Form zerschlagen, und das Gefäß, das man aus der Platina gemacht hat, über einen Dorn etwas ge- hämmert, so ist es fertig“.8

Zu dieser Zeit unterhielt in Paris der pfalzbairische Botschafter am Hof Ludwig XVI., Reichsgraf von Sickingen (1737-1791), ein gut ausgestattetes Labor und beschäftigte sich mit dem kostbaren Platin. Die Ergebnisse seiner Untersuchun- gen wurden in der Akademie in Paris vorgetragen, gesammelt und 1782 ins Deut- sche übersetzt veröffentlicht.9 Er berichtete, dass das Platin sich nach hinreichen- der Reinigung schweißen, schmieden und zu feinem Draht ausziehen lässt und sich im Brennpunkt [eines Spiegels] auch schmelzen lässt.10 Er ist der erste, der ermittelte, dass die Dichte des Platins größer ist als die von Gold. (20,530 : 19,785).11 Er bemerkte auch, dass das Platin von schmelzendem Salpeter ange- griffen wird.12

In England hat William Hyde Wollaston (1766-1828) ebenfalls Platinerz unter- sucht. Er entdeckte dabei 1804 die Elemente Palladium und Rhodium.13 Auch beschäftigte er sich mit der Darstellung von chemisch reinem Platin und der me- tallurgischen Verarbeitung desselben in großem Stil. Wollaston hielt das von ihm gefundene Verarbeitungsverfahren geheim. Er machte es erst im Jahre 1828, kurz vor seinem Tode bekannt. Döbereiner nannte ihn wohl deshalb den „in wissen- schaftlicher und merkantilischer Hinsicht, schlausten und spekulativsten Chemi- ker Englands“.14 Er lebte als Privatmann „… von dem reichen Ertrage seiner Er- findung der Schmiedbarmachung des Platins“.15 Zur gleichen Zeit hatte nach Vorarbeiten von Fourcroy und Vauquelin16,17 in Frankreich der Engländer Smit- hon Tennant (1761-1815) die beiden weiteren „Platinmetalle“ Osmium und Iridi- um eindeutig als zwei neue Elemente identifiziert.18

So waren 1804 fünf „Platinmetalle“ und ihre grundlegenden chemischen und physikalischen Eigenschaften bekannt. Das sechste Platinmetall, das Ruthenium, ist erst 40 Jahre später von Carl Ernst Claus (1796-1864) in Kasan entdeckt wor- den.19 Die schwierige Verarbeitung des Platins wurde – jedenfalls an einigen Or- ten – soweit beherrscht, dass Gefäße und Geräte aus Platin hergestellt und ver- kauft wurden. Sie fanden wegen ihrer bemerkenswerten Eigenschaften, der hohen Schmelztemperatur und der Beständigkeit gegen viele aggressive Chemikalien, schnell Eingang in die chemischen Laboratorien. Platingeräte gehörten deshalb zu dieser Zeit – Anfang des 19. Jahrhunderts – bereits zur Einrichtung modern ausgestatteter Laboratorien.20

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Platin kommt nach Jena

Im Jahre 1789 war Johann Friedrich August Göttling (1755-1809) als außeror- dentlicher Professor für Chemie nach Jena berufen worden. Als „Anschubfinan- zierung“ war ihm von der Regierung die Ausrüstung für ein chemisches Labor übergeben worden. Platingeräte gehörten mit Sicherheit nicht dazu. Als Göttling 1809 gestorben war, wurde ein Jahr später Johann Wolfgang Döbereiner (1780- 1849) auf diese außerordentliche Lehrstelle in der Philosophischen Fakultät beru- fen.21 Anders als bei der Berufung Göttlings beschränkte sich die Regierung nicht darauf, den neuen Professor beim Einrichten eines privaten chemischen Labors zu unterstützen, sondern begann 1811, ein Großherzogliches, das heißt staatliches chemisches Institut aufzubauen und es der „Oberaufsicht über die unmittelbaren Anstalten für Wissenschaft und Kunst“ zu unterstellen, die vom Minister Johann Wolfgang Goethe (1749-1832) geleitet wurde.22 Zunächst wurden in Nebenge- bäuden des Jenaer Schlosses Räume als Labor, Hörsaal und zum Aufstellen der Geräte- und der Präparatesammlung eingerichtet. Für die Erstausstattung des Großherzoglichen chemischen Instituts wurden die Geräte und die Bibliothek aus Göttlings Privatlabor gekauft. Döbereiner, der zwar glücklich war, endlich eine feste Anstellung als Professor zu haben, war mit der Ausstattung des Labors nicht zufrieden. Er äußerte später sogar, dass die von Göttling übernommenen Geräte mehr historischen als praktischen Wert gehabt hätten.23 Auch Goethe selbst war sich über die offensichtlichen Unzulänglichkeiten des chemischen Instituts im Klaren. Goethe bemühte sich deshalb, Geld für die Ergänzung der bescheidenen Ausrüstung zu beschaffen. Er erwirkte, dass die Erbherzogin Maria Pawlowna (1785-1859), die Schwiegertochter des Herzogs Carl August, 1000 Taler aus ih- rem Privatvermögen für dieses Vorhaben stiftete. Über die zweckmäßige Ver- wendung dieses Geldes beriet sich Goethe nicht nur mit Döbereiner, sondern auch mit einem anderen Fachmann, dem Physiker Thomas Seebeck.24 Weiterhin erörterte er mit den Hofmechanikern Körner und Otteny und dem Hofkupfer- schmied Pflug, welche von den benötigten Geräten in Jena hergestellt werden könnten.25 Goethe beschäftigte sich sogar mit dem Plan, Rohplatin zu kaufen, dieses zu reinigen und die als wünschenswert erachteten Gefäße daraus treiben zu lassen.26 Dieses Vorhaben wurde aber nicht verwirklicht. Döbereiner hatte davon dringend abgeraten, weil er fürchtete, „unsere deutschen nicht an Platinarbeiten gewöhnten Metallurgen möchten das Geräth nicht darstellen können“.27 Es wer- den deshalb noch im Jahr 1812 aus Paris für 113 Taler „Platina Geräthe“ bei der Firma Janety und außerdem für 74 Taler ein „gläserner Destillier Apparat“ im- portiert.28 Marc Etienne Janety stellte die Geräte nach dem von Marggraf erfun- denen Verfahren aus einer Platin-Arsen-Legierung her und belieferte damit die Interessenten in Europa.29,30 Bemerkenswert für uns heute ist es, dass sich Goethe als sparsamer Minister bei der mit dem Abwickeln des Imports beauftragten Fir-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 ma nach dem Grund fragt, warum bei Janety der Preis für das Platin von März bis Anfang May, von Angebot bis zur Lieferung, um 60% gestiegen ist.31

Auch der Herzog Carl August (1757-1828) selbst hat sich an Erwerbungen für das chemische Institut beteiligt. Er ließ durch Bernhard von Lindenau32 1812 in Paris Platinerz kaufen und übergab es Döbereiner.33 Es ist nicht bekannt, was den Herzog bewogen hat, seinem Chemiker zwei Pfund von dem teuren Platin zu- kommen zu lassen. Vielleicht wollte er Döbereiner Untersuchungen auf einem immer noch aktuellen Forschungsgebiet ermöglichen, das in Deutschland kaum oder nicht bearbeitet wurde. Eine Äußerung Döbereiners von 1823 deutet darauf hin. In diesem Jahr schrieb er in einer Veröffentlichung, dass ihm der Großherzog „… Behufs wissenschaftlicher Untersuchungen… eine große Menge des aller- schwersten Metalls verliehen habe“.34 Fest steht aber, dass diese großzügige Schenkung die Voraussetzung für Döbereiners folgenreichste und damit wichtig- ste Forschung bildete.

Es ist dem naturwissenschaftlichen Problemen aufgeschlossenen Herzog mög- licherweise nicht unbekannt gewesen, wie sich im benachbarten Erfurt Johann Bartholomäus Trommsdorf (1770-1837) – jener Apotheker, den Goethe 1809 gern als Göttlings Nachfolger in Jena gesehen hätte35 – mit einer umfangreichen Arbeit über das rohe Platinerz und die „darin neuentdeckten Metalle“ (Osmium, Iridium, Rhodium und Palladium) im wissenschaftlichen Meinungsstreit zwi- schen englischen und französischen Chemikern zu Wort gemeldet hatte. Er hatte in dieser Publikation einleitend geschrieben, dass er sich entschlossen hatte: „…, mehrere der neuern Untersuchungen zu prüfen, zumal da man bis jetzt in Deutschland dieses noch nicht gethan hat“. Er teilt bedauernd mit, seine Untersu- chungen

„wuerden erschöpfender ausgefallen seyn, wenn die Kostspieligkeit des Materials … nicht ein großes Hinderniß gewesen wäre. Allein dem deutschen Chemiker geht es oft so, daß wenn der englische und französische Chemiker, einen Stoff Pfund- und Unzenweise bearbeiten könnte, er froh seyn muß, wenn er das Materi- al nur Unzen- und Granweise zum Gegenstand seiner Untersuchungen machen kann“.

Er schloss diese Arbeit mit dem Satz ab: „Sobald ich wieder im Besitz einer et- was bedeutenden Menge Platina bin, werde ich diese Versuche fortsetzen“.36 Das zeigt, dass Platin zu dieser Zeit immer noch sehr teuer und schwer zu erhalten war. Trotz dieser Ankündigung hat Trommsdorf später keine weiteren Arbeiten zum Platin veröffentlicht.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Döbereiner beginnt, mit Platin zu arbeiten

Die 1812 erworbenen wertvollen Platingeräte benutzte Döbereiner sofort bei sei- nen Untersuchungen. Noch im gleichen Jahr berichtete er in Johann C.S. Schweiggers Journal für Chemie und Physik von einer Beobachtung, bei der das Material des Tiegels indirekt an der Reaktion beteiligt ist. Er schilderte, dass beim Lösen von Zinn in Salzsäure „ …die Säure tumultuarisch zu kochen scheint“, wenn er diese Reaktion in einem „Platinakesselchen“ ausführt, während die Reaktion in einem Glasgefäß nur sehr träge abläuft.37 Auch bei seiner Expe- rimentalvorlesung „schont“ er nicht etwa seine wertvollen Importgeräte, sondern benutzte diese bei seinen Versuchen.38 Die Freude über die guten Eigenschaften des Platintiegels währte nicht lange. Er stellte bereits kurze Zeit später fest, dass der Tiegelboden blasig und löchrig geworden war, nachdem er darin Kaliumnitrat geglüht hatte. Er kommt zu dem Schluss, dass Kalisalpeter „ … in einem hohen Grade die Eigenschaft hat, das metallische Platin zu oxydiren.“39 Zu dem Ergeb- nis, dass das Platin nicht gegen alle aggressiven Chemikalien so beständig ist, wie man angenommen hatte, waren bereits vorher andere Chemiker gekommen. Allerdings wurde dabei die Ansicht geäußert, dass das an dem Verfahren liegen würde, nach dem Janety in Paris das Platin behandelt. Man war der Meinung, dass hierbei das Metall nicht rein genug erhalten wird, wie man schon am spezifi- schen Gewicht erkennen kann. Es wird berichtet, dass das spezifische Gewicht des von Janety erworbenen Platins 20,01 beträgt, das von Wollaston aber 21,04.40 Ein anderer Autor äußerte in diesem Zusammenhang die Absicht, Platingeräte besser aus England zu beziehen, offensichtlich von Wollaston.41 Erst wesentlich später, 1832, hat Jöns Jakob Berzelius (1779-1848) die aus seinen umfangreichen Erfahrungen beim Untersuchen der Platinmetalle resultierenden ausführlichen Regeln publiziert, die beim Verwenden von Platingeräten zu beachten sind, damit diese nicht beschädigt werden.42

Döbereiners unzulänglichen Arbeitsbedingungen im Schloss wurden wesentlich verbessert, als der Großherzog Carl August 1816 durch Goethe das nach seinem Vorbesitzer benannte Hellfeldsche Haus kaufen ließ und es dem chemischen In- stitut zur Verfügung stellte. Döbereiner richtete im Obergeschoss einen Saal zum Experimentieren und Räume für die Bibliothek und die Sammlungen ein. Das Untergeschoss bewohnte er mit seiner Familie.43

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

Abb. 1: Das Hellfeldsche Haus, 1816-1849 Großherzogliches chemisches Institut, um 1860. (Foto Stadtmuseum Jena, A6_083)

Parallel zu anderen Untersuchungen hatte Döbereiner 1812 begonnen, das Roh- platin aufzuschließen und weiter zu verarbeiten, um einerseits chemisch reines Platin zu gewinnen und anderseits auch die vier, erst 1804 entdeckten Metalle Rhodium Palladium, Osmium und Iridium in die Hand zu bekommen.44 Er be- richtete, dass er am Ende der Aufarbeitung der königssauren Auflösung metalli- sche Theile „… von Silberweißer Farbe“ unbekannter Zusammensetzung erhalten hatte. Döbereiner glaubte, dass es sich um bisher unbekannte Elemente handelt. Der erste, dem Döbereiner von dieser Entdeckung berichtete, ist Goethe. Am 24. Dezember 1818 schrieb er ihm:

„In dem Platinerz, welches mir vor sechs Jahren von Sr. Kgl. Hoheit, … , verlie- hen worden habe ich noch zwei neue silberweiße Metalle entdeckt. … Ich habe noch keiner Arbeit so viel Zeit und Geld geopfert, wie der Untersuchung jenes Er- zes, … aber nun bin ich für beides belohnt.“45

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Eine Äußerung Goethes zu diesem Brief ist nicht überliefert. Bei der Publikation dieser Entdeckung sechs Monate später hat sich Döbereiner wesentlich zurück- haltender ausgerückt. In dieser Arbeit mit dem Titel „An die Chemiker in Eng- land wegen eines neuen Metalles im Platinerz“ hat er sehr vorsichtig geschrieben:

„Ich bin sehr geneigt, diese Substanz für ein neues Metall zu halten, und bitte da- her diejenigen Chemiker in England, welche große Quantitäten zum technischen Behuf behandeln, wie z. B. Wollaston, Accum etc. … auf dieselbe weiter anzufra- gen.“46

Ihm mangelte es an Erz, um sein Ergebnis selbst zu überprüfen. Eine Reaktion auf diese Aufforderung ist nicht bekannt geworden, weder von den namentlich angesprochenen Chemikern, noch von anderer Seite. Wollaston hat nach 1819 bis zu seinem Tode 1828 nichts mehr zu Platinmetallen publiziert. Posthum erschie- nen 1829 lediglich noch zwei Arbeiten zur Gewinnung von Palladium47 und Os- mium48 und über sein so lange geheim gehaltenes Verfahren, das Platin schmied- bar zu machen.49 Döbereiner ist nicht der einzige, dessen vermeintliche Entdek- kung eines neuen Elements nicht bestätigt werden konnte. Sein Schüler Gottfried Wilhelm Osann (1796-1866), der 1823 Professor in Dorpat geworden war, hat später 1828/1829 sogar die Entdeckung von drei weiteren Platinmetallen veröf- fentlicht, die er Polin, Pluran und Ruthenium genannt hat.50

Die Entdeckung der Platinkatalyse

Das Platin und seine Begleiter standen Döbereiner weiterhin zur Verfügung. Mit diesem Platin und daraus hergestellten Verbindungen hat er weiter experimen- tiert. Angeregt durch Arbeiten von Edmund Davy51 (1785-1857) ließ er Alkohol auf eine platinhaltige Substanz, das von Davy publizierte sogenannte „Knallpla- tin“ einwirken. Dabei beobachtete er, dass Alkohol, wenn er als Dampf an der Luft einwirkt „glühend verbrennt“, wenn er aber als Flüssigkeit auf das Platin- präparat getropft wird, zu Essigsäure oxidiert wird.52

Döbereiner stellte dann durch thermische Zersetzung von sogenanntem Platin- salmiak, Ammoniumhexachloroplatinat, außerordentlich fein verteiltes Platin her. Er nannte dieses Präparat wegen seiner schwarzen Farbe „Platinmohr“ und be- gann, die Wechselwirkung von Gasen mit dieser Substanz zu untersuchen.

Der Physiker Paul Erman (1764-1854) hatte bereits 1819 im Zusammenhang mit Untersuchungen zur elektrischen Leitfähigkeit die Reaktion von Wasserstoff mit kompaktem Platin überprüft. Er hatte gefunden, dass ein Platindraht in einem Wasserstoffstrom an der Luft zu glühen beginnt, wenn seine Temperatur größer

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 als 50 °C ist, unterhalb dieser Temperatur diese Erscheinung aber nicht eintritt. Erman hielt deshalb die Temperatur von 50 °C für die Minimaltemperatur, bei der die Synthese von Wasser aus den Elementen möglich ist.53 Der Physiker Er- man hat diese chemische Reaktion an Platindraht nicht weiter untersucht.

Bei seinen Experimenten mit Wasserstoff und Platinmohr beobachtete Döberei- ner am 27. Juli 1823, dass sich Wasserstoff in Gegenwart von diesem Platinmohr ohne Mitwirkung irgendwelcher anderer Kräfte, also auch ohne vorheriges Er- wärmen wie bei Erman, unter Wärmeentwicklung mit dem Sauerstoff aus der Luft zu Wasser verbindet.54 Bereits am nächsten Tag schilderte er Goethe in ei- nem Brief diese Entdeckung, die ihm „ … in hohem Grade wichtig erscheint.“55 Erst am 31. Juli verfasste Döbereiner eine Kurzmitteilung zum Veröffentlichen in der Zeitschrift Isis,56 die in Jena von Lorenz Oken (1779-1851) herausgegeben wurde und schrieb weitere Artikel über diese Reaktion für mehrere andere natur- wissenschaftliche Zeitschriften.57 Döbereiner setzte seine Experimente mit Platin und Wasserstoff fort. Schon wenige Tage später, am 3. August, beobachtete er mit einer denkbar einfachen Versuchsanordnung, dass sich ein aus einem dünnen Rohr austretender starker Wasserstoffstrom entzündet, wenn er auf den Platin- mohr trifft. Diese neue Erkenntnis beschrieb er umgehend in einem Nachtrag zu den ersten Veröffentlichungen von Ende Juli.58 In der Isis heißt es in diesem Nachtrag, dass es ihm gelungen sei, die Reaktion von Wasserstoff mit Platin „bis zum höchsten Grade des Glanzes zu steigern“, und er schließt sehr selbstbewusst mit dem Satz:

„Daß ich diese neue Beobachtung nicht etwa bloß zur Darstellung eines neuen Feuerzeuges und einer neuen Lampe, sondern auch zu weit wichtigeren Zwecken benutzen werde, versteht sich von selbst“.59

Er bemühte sich nicht darum, seine Erfindung wirtschaftlich zu nutzen. Feuer- zeuge, die auf dem von Döbereiner entdeckten Prinzip beruhen, gelangten bald in großen Stückzahlen unter dem Namen „Döbereinersches Feuerzeug“ auf den Markt. Döbereiner schrieb fünf Jahre später:

„Gegen 20 000 derselben sind im Gebrauch, theils in Deutschland, theils in Eng- land. Wie wohlhabend wäre ich jetzt, wenn ich mit meiner Erfindung nach Eng- land gegangen wäre, und mir dort auf die technische Benützung derselben hätte ein Patent geben lassen. Aber ich liebe die Wissenschaft mehr als das Geld, und das Bewußtsein, daß ich damit vielen mechanischen Künstlern nützlich gewesen, macht mich glücklich“.60

Er beherzigt nicht den Rat, den Goethe ihm in anderem Zusammenhange gegeben hatte:

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 „Ich werde Sie ersuchen, künftig jeden neuen Fund zu sekretieren, mir ihn anzu- deuten, damit man den Versuch mache, ihn zu fremdem und eignem Nutzen an- zuwenden“.61

Sechs Wochen nach dieser großartigen Entdeckung, am 18. September 1823, be- gann in Halle die zweite „Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte“. Hier hielt Döbereiner den Eröffnungsvortrag „über die neue höchst merkwürdige Entdeckung, daß Hydrogen auf feinen (aus Platin-Salmiak gewonnene) Platin- staub geblasen, bei Zutritt der atmosphärischen Luft sich entzündet“.62 Zur Erklä- rung dieses Vorgangs gab Döbereiner hier vorsichtig nur an, dass „höchst wahr- scheinlich ein neues Naturprincip hier wirksam seyn möchte.“ Im Tagungsbericht heißt es dann weiter: „Hierauf zeigte er zur freudigen Überraschung aller Anwe- senden dieses schöne Phänomen selbst.“ Der Sekretär der Gesellschaft, Professor Schweigger (1779-1857), hat die Bedeutung dieser hier vorgestellten Entdeckung für so groß gehalten, dass er äußerte, eigentlich sollte nach einem so wichtigen Vortrage kein anderer an diesem Tage gehalten werden. Am letzten Tag der Ver- sammlung führte Döbereiner eine weitere Anwendung seiner Entdeckung vor: das Verwenden eines Platinkatalysators in der Eudiometrie, bei der Bestimmung des Sauerstoffgehalts der Luft. Das Verfahren besteht darin, dass man durch ein Gemisch aus der zu untersuchenden Luft und Wasserstoff einen elektrischen Funken schlagen lässt. Ein Drittel der dabei durch die Bildung von Wasser eintre- tenden Volumenverringerung ist gleich dem Sauerstoffvolumen der Luft. Um die Reaktion in Gang zu bringen, benutzte Döbereiner an Stelle des Funkens einen Platinkatalysator. Um ihn besser handhabbar zu machen, bettete er ihn in ein Trägermaterial ein. Aus einem Gemenge von Töpferton und Platinmohr formte er kleine Kugeln im Durchmesser von etwa 2-3 mm und brannte diese vor dem Löt- rohr.63 Diese porösen Kugeln wurden dann in das zu analysierende Gasgemisch eingeführt. Das war die erste Anwendung eines Kontaktträgers.

Döbereiners Entdeckung war aber nicht nur für die Tagungsteilnehmer in Halle so interessant, sondern es zeigte sich, dass die wissenschaftliche Welt davon sehr schnell Kenntnis nahm. Keine andere von Döbereiners Veröffentlichungen ist so weit und so schnell verbreitet worden wie die Entdeckung der Platinkatalyse. Über die Geschwindigkeit und auf welchen Wegen diese Entdeckung verbreitet worden ist, das ist an anderen Stellen bereits geschildert worden.64 Selbst eine Pariser Tageszeitung berichtet nur drei Wochen nach Döbereiners Entdeckung: „Herr Dobereiner, Professor der Chemie an der Universität Jena, stellt im Journal für Chemie und Physik65 eine neue Erfindung von größter Wichtigkeit vor“. Nach einer genauen Beschreibung der Versuchsanordnung endet die kurze Meldung mit dem geradezu prophetischen Satz: „Diese schöne Entdeckung wird ein neues Feld in der Forschung der Physik und der Chemie eröffnen“.66 Die Tragweite die- ser Entdeckung Döbereiners ist von seinen Zeitgenossen außerordentlich schnell

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 richtig eingeschätzt worden. Man hat sich sofort daran gemacht, diese im wahr- sten Sinne „merkwürdige“ Reaktion zu überprüfen. Bereits am 15. September bestätigen Pierre Louis Dulong (1785-1838) und Louis Jaques Thenard (1777- 1857), gestützt auf eigene Experimente, diese Reaktion in einem Vortrag vor der Akademie der Wissenschaften zu Paris.67 Die gleichen Autoren berichten dann am 3. November an gleicher Stelle von ihren Experimenten zur Einwirkung von Wasserstoff auf Palladium, Rhodium, Osmium und Iridium.68 Auch aus Tübin- gen69, Prag70 und London71 kommen umgehend Veröffentlichungen, die Döberei- ners Ergebnisse bestätigen. Stolz berichtete Döbereiner 1824 von der Resonanz, die seine Veröffentlichungen in der Fachwelt gefunden hatten: „Sie haben großes Aufsehen erregt, wurden von beinahe allen Chemikern Deutschlands, Frankreichs und Englands wiederholt, und von mehreren derselben … weiter verfolgt“,72 und Berzelius (1779-1848) nannte die Platinkatalyse in seinem Jahresbericht: „Die in jeder Hinsicht wichtigste und ... brillianteste Entdeckung … des vergangenen Jahres".73

In den darauf folgenden Jahren arbeitet Döbereiner weiter an der praktischen Anwendung seiner Erfindung. Es erscheinen zahlreiche Arbeiten, in denen Platin oder Platinverbindungen eine Rolle spielen. Unter anderem konstruierte er eine Apparatur, bei der die katalytischen Umsetzung von Wasserstoff und Sauerstoff so gesteuert werden kann, dass keine Explosion eintritt74 und beschrieb die Dar- stellung von großen Mengen von reinster, das heißt konzentrierter Essigsäure durch die katalytische Oxidation von Ethanol.75,76 In dieser Zeit fand er zwei wei- tere katalytische Reaktionen. Er berichtete in einer Notiz von nur zehn Zeilen erstens, dass es ihm gelungen sei:

„2 Volumen schwefliger Säure mit 1 Volum Sauerstoffgas mit Hülfe des hygro- skopisch-feuchten Platinmohrs zu rauchender Schwefelsäure zu verdichten und zweitens, dass auch das ‚Oleum Neroli‘, das stark terpenhaltige Pomeranzenblü- tenöl, „von dem Platinmohr bestimmt wird, sehr viel Sauerstoff aus der Luft anzu- ziehen und sich in eine Säure zu verwandeln“.77

Platinfunde im Ural

Wenige Monate vor der Entdeckung der Platinkatalyse durch Döbereiner gab es eine andere für die Verwendung von Platin folgenreiche Entdeckung. In St. Pe- tersburg wurden die silbrig-glänzenden bis grauen Metallkörner, die im Ural das Seifengold begleiteten, als Platinmineralien identifiziert.78,79,80 1823 befahl Kaiser Alexander I.(1777-1826), der Bruder der Weimarer Erbgroßherzogin Maria Pawlowna, in den Goldgruben auch das Platin zu gewinnen.81,82 Auf der Suche

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 nach einer sinnvollen Verwendung dieses Bodenschatzes stellte um 1826-1827 der russische Finanzminister Graf Cancrin (1774-1845) in- und ausländischen Wissenschaftlern Rohplatin für eingehende Untersuchungen zur Verfügung. Er knüpfte daran die Aufforderung, „den Erfolg ihrer Versuche darüber der russi- schen Regierung mitzuteilen“. So erhält die Universität Dorpat „4 Pfund (rus- sisch) Platin vom Ural,83 Jöns Jacob Berzelius „ durch den in Stockholm residie- renden Kaiserlich-Russischen Gesandten ein halbes Pfund Platinsand“.84 Weiter werden Proben „roher sibirischer Platina versandt: nach England an die Königli- che Sozietät 1 Pfund und an Wollaston ½ Pfund, nach Frankreich an das Nazio- nal-Institut 1 Pfund und an die Sozietät zur Beförderung der Nazional-Industrie 1 Pfund.85 Der Name Döbereiners wird in den hier zitierten Berichten nicht er- wähnt. Es ist aber anzunehmen, dass auch er in dieser Zeit Uralsches Platin erhal- ten hat. Man kann das aus einer Veröffentlichung des Jahres 1828 schließen. Er schrieb hier:

„Die Fortsetzung meiner Versuche über die chemische Dynamik des Platins wur- de unterbrochen, oder vielmehr unmöglich gemacht dadurch, dass eine von dem verewigten Großherzoge86 dazu bestimmte Quantität von 3 Pfund russischer Plati- na verloren gegangen ist. Ein solcher Verlust ist für den Chemiker schmerzhaft, besonders für denjenigen, welcher ein solches Naturproduct nicht wie der Physi- ker als eine träge Masse betrachtet, oder wie der Philosoph bloß beschaut und be- wundert, sondern die geheimen Kräfte desselben zu erforschen strebt“.87

Döbereiner berichtet nicht, auf welche Weise ihm das Platin abhanden gekom- men war. Möglicherweise ist die Erzählung, die in der ersten ausführlichen Goe- thebiographie enthalten ist, mehr als nur eine Anekdote. Hier wird berichtet, dass der Kaiser von Russland dem großen Chemiker eine Platinerzstufe geschickt hat- te. Sie wurde Goethe gegeben, um sie zu begutachten, sich mit einigen Experi- menten daran zu erfreuen und sie dann Döbereiner zu schicken. Der als geradezu „manischer Mineraliensammler“ bekannte Goethe konnte sich von dieser Stufe nicht trennen, trotz mehrfacher Anfragen Döbereiners.88 Es heißt in der Überset- zung aus dem Englischen von 1885:

„Als Döbereiner endlich die Geduld riß und er sich im Beschwerdenwege an den Großherzog wandte lachte dieser und sagte: „Laßt den alten Esel in Ruhe! Ihr be- kommt´s doch nie von ihm. Ich will den Kaiser um eine neue Stufe bitten“.89

Drei Pfund Platinerz sind heute in Goethes Mineraliensammlung nicht enthal- ten.90 Allerdings fehlen dort auch das gediegene Gold und das Platinerz, das Goe- the persönlich 1830 von Cancrin erhalten hatte.91 Tatsache ist es aber, dass Goe- the sich 1828 mit der Beschaffung von Platin beschäftigt hat. Im Oktober fragt er beim Sachsen-weimarischen Generalkonsul an, ob und zu welchem Preis „… gegenwärtig Platina in Leipzig verkäuflich zu finden sey“,92 und in seinem Tage-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 buch schreibt er im Januar 1829 über einen Besuch des Großherzoglichen Paares: „Auch kam die Platina für Döbereiner zur Sprache“.93 Die Hoffnung Döbereiners, durch die Vermittlung von Marie Pawlowna bald neues Platinerz aus Russland zu erhalten, erfüllte sich zunächst nicht.

Wenn Döbereiner 1828 schreibt, dass ihm weitere Arbeiten mit Platin unmöglich geworden sind, fragt sich der Chemiker von heute, wo die zwei Pfund Platin ge- blieben sind, die er 1812 erhalten hatte. Legen wir unsere heute geltenden Maß- stäbe an das Sammeln von Reaktionsprodukten und die Aufarbeitung von Rück- ständen an, dann hätte trotz aller Verluste, die beim Präparieren eintreten können, der größte Teil noch vorhanden sein müssen. Zwei Pfund Platin können nicht als Salz gelöst einfach im Abfluss verschwunden sein, den hatte Döbereiner gar nicht.

Döbereiner hat erstmals in dieser Zeit um 1830 Arbeiten veröffentlicht, in denen er auch Platinbegleiter erwähnt. Er berichtete, dass man Platinschwamm, dessen Zündkraft nachgelassen hat, durch Bestäuben mit fein zerteiltem „Irid“ wieder herstellen kann. „Seine Zündkraft ist nicht allein dauernder, sondern auch größer als die des Platins“, und er teilte mit, dass er sich seit sechs Jahren eines „portati- ven Iridfeuerzeugs“ bedient. Das dürfte das erste Taschengasfeuerzeug gewesen sein. Gleichzeitig bedauerte er, daß ihm Palladium und Rhodium für entspre- chende Versuche nicht in ausreichender Menge zu Verfügung stehen. Er hoffte, dass Berzelius, der – wie er glaubt – damit reichlich versehen ist, derartige Unter- suchungen durchführen wird.94 Aus dieser Bemerkung von 1831 lässt sich schlie- ßen, dass er davon wusste, dass die russische Regierung Sibirisches Platin auch anderen Chemikern zur Verfügung gestellt hatte. 1836 beschrieb er, wie er einen „Platinmohr“ präpariert hatte, ohne das Erz in Königswasser lösen zu müssen. Er legierte das Rohplatin mit Zink und behandelte die Legierung mit verdünnter Schwefelsäure. Der verbleibende Rückstand enthielt neben schweren Körnern von unaufgeschlossenem Iridosmium „ein schweres schwarzgraues Pulver, wel- ches aus Platin, Palladium, Iridium, Osmium und Rhodium besteht“. Dieses zu- sammengesetzte metallische Pulver besaß ebenfalls die Eigenschaft, Sauerstoff aufzunehmen und „metalytisch (oder, wie Berzelius sagt, katalytisch) zu wirken“, organische Verbindungen zu oxidieren.95

Döbereiners Mitarbeiter

Erst 1832 trifft die lang ersehnte Sendung von Uralschem Platin in Jena ein. Döbereiner publiziert zunächst nur eine kurze Mitteilung, in der es heißt:

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 „Sr. Excellenz der Russische Kaiserl. Minister Hr. Graf von Cancrin hat mich mit Uralschem Platinerz, reinem Irid und Irid-Osmium etc. so reich beschenkt, daß ich den vor vier Jahren erlittenen Verlust von drei Pfund Platin verschmerzen kann“.96

Döbereiner arbeitet nun wieder verstärkt daran, die chemischen Eigenschaften des Platins zu erforschen und nutzbringend anzuwenden. Es erscheinen Veröf- fentlichungen, z.B. „Ueber mehrere neue Platinverbindungen“,97 über die An- wendung von Platinmohr beim Oxidieren von organischen Verbindungen98,99 und „Ueber die Eigenschaften des auf nassem Wege reduzierten Platins.“100 1835 ver- öffentlicht er eine Arbeit, in der er Mitarbeiter erwähnt, seinen Sohn Franz, der „Gehülfe am hiesigen chemischen Laboratorium“ und einen „Postdoc“ Dr. Weiss aus Dorpat. Er ist ein Schüler von Prof. Karl Christian Traugott Friedemann Gö- bel (1794-1851), der 1828 von Jena nach Dorpat berufen worden war. Sie analy- sierten „eine ziemlich große Mengen uralischen Platinerzes“ und arbeiteten an der „Darstellung des Irids und Osmiums“.101 Im gleichen Jahr publiziert Franz Döbereiner „Ueber eine neue Methode der Analyse des Platinerzes, der Darstel- lung des Platinmohrs und chemisch reinen Palladiums“.102 Einen Sonderdruck dieser Arbeit reicht er im gleichen Jahr der Philosophischen Fakultät der Univer- sität Jena als Dissertation ein.103 In dem von Heinrich Wilhelm Ferdinand Wak- kenroder (1798-1854) verfassten Gutachten heißt es, ich halte

„… diese neusten Bekanntmachungen über die Analyse des Platinerzes für einen sehr willkommenen Beitrag zur Erweiterung unserer Kenntnisse von diesem inter- essanten und wichtigen Metallgemische und glaube, dass Jeder, der sich künftig mit der Analyse desselben beschäftigen will, auf diese Arbeit … Rücksicht neh- men muß“.104

Am 11. Juli 1835 wird Franz Döbereiner zum Doctor philosophiae promoviert.105

Durch die Cancrinsche Schenkung von 1832 verfügte Döbereiner wieder über ausreichend Material für Arbeiten mit Platin und seinen Verbindungen. Für die Zeit bis 1845 lassen sich noch insgesamt 18 verschiedene Arbeiten Döbereiners zur Chemie der Platinmetalle nachweisen.106 Die Kenntnisse, die über das Platin gewonnen worden waren, Vorkommen, Analyse, Verarbeitung und Verwendung, hat er 1836 in einer Monografie zusammengefasst. Auf dem Umschlag des Bu- ches werden die „Besitzer der Döbereinerschen Platinfeuerzeuge“ ausdrücklich als Adressaten erwähnt.107

Im Oktober 1844 bekannte er, fast schon zurück blickend,

„Die … dynamischen Eigenschaften des oxyphoren und des schwammigen Platins sind noch immer die Lieblingsgegenstände meines Forschens in den Tagen, die

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 der freien ungestörten wissenschaftlichen Thätigkeit, den adcademischen Ferien, gewidmet sind.“108

Eine derartig großartige und weitreichende Entdeckung wie 1823 ist ihm nicht noch einmal vergönnt gewesen.

Abb. 2: Das Hellfeldsche Haus im Jahre 2013, genutzt von der Biologisch-Pharmazeutischen Fakultät (Foto Arno Martin).

Die Voraussage Döbereiners von 1823: „Daß sich diese neue Beobachtung nicht etwa bloß zur Darstellung eines neuen Feuerzeuges und einer neuen Lampe, son- dern auch zu weit wichtigeren Zwecken“ benutzen lässt, hat sich seitdem glän- zend bestätigt. Das in einer Pariser Tageszeitung 1823 vorausgesagte „neue Feld in der Forschung der Physik und der Chemie“, die heterogene Katalyse, hat im verflossenen Jahrhundert zu großartigen, vor allem auch technisch verwertbaren Ergebnissen geführt. Durch die Anwendung von platinhaltigen Katalysatoren zur Reinigung der Abgase von Ottomotoren hat der von Berzelius geprägte Begriff „Katalysator“ aus der Sprache der Chemiker mittlerweile Eingang in die Um-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 gangssprache und auch ins Bewusstsein der Allgemeinheit gefunden, wenn auch häufig verkürzt zu „Kat“.

Das Hellfeldsche Haus, in dem Döbereiner 1823 die Platinkatalyse entdeckt hat, in dem er bis zu seinem Tode 1849 gearbeitet und gewohnt hat, ist äußerlich fast unverändert erhalten geblieben. Es wird auch heute noch von der Universität Jena genutzt.

Summary: Doebereiner and Platinum

Scientific research on platinum started in the second half of the 18th century after the metal reached Europe from the Spanish colonies in South America. After Dö- bereiner was appointed as chair to the chemistry department in Jena in 1810, a chemical institute was dedicated to him. With funds donated by the wealthy crown princess Maria Pawlowna, instruments and utensils were purchased for the institute. Among them were vessels made of platinum. In 1812 duke Carl August purchased platinum ore in Paris and provided it for Döbereiner’s research. During his experiments with platinum compounds and metallic platinum Döbereiner found the catalytic reaction for the oxidization of ethanol to acetic acid in 1822. In 1823 he discovered that hydrogen would ignite in air by itself when brought into contact with dispersed platinum, so called platinum black. He used this dis- covery for the design of the „Döbereiner-Feuerzeug“ (Döbereiner's lamp). Dö- bereiner received more platinum ore from the Ural area from the Russian minister of finance, Cancrin, for further research in 1832.

1 Alwin Mittasch, Erich Theis, Von Davy und Döbereiner bis Deacon, ein halbes Jahrhundert Grenzflächenkatalyse (Berlin 1932), S. 31-76. – Alwin Mittasch, Döbereiner, Goethe und die Katalyse (Stuttgart 1951). – Dietmar Linke, „Johann Wolfgang Döbereiner und sein Beitrag zur Chemie des 19. Jahrhunderts“, Zeitschrift für Chemie, 21 (1981), S. 309-319. – George G. Kauffman, „Johann Wolfgang Döbereiner´s Feuerzeug“, Platinum Metals Re- view, 43 (1999), S. 122-128. 2 William Watson, William Brownrigg, „Several Papers concerning a new Semi Metal, called Platina”, Phil. Trans., 46 (1749-1750), S. 584-596.

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3 William Lewis, „Experimental Examination of a White Metallic Substance Said to be Found in the Gold Mines of the Spanish West-Indies, and There Known by the Appelations of Platina, Platina di Pinto, Juan Blanca”, Phil. Trans., 48 (1753-1754), S. 638-645. 4 William Lewis, “Experimental Examination of Platina”, Phil. Trans. R. Soc. Lond., 50 (1757-1758), S. 148-155. 5 Andreas Sigismund Marggraf: „Essais concernant la nouvelle espèce de corps minéral con- nu sous le nom de platina del Pinto”, Histoire de l'Académie Royale des Sciences et des Belles-Lettres de 1757 (1759), S. 31-60. 6 Wolfgang Hübner, „Achards Legierungskunde: eine verpasste Chance“, Mitteilungen der Fachgruppe Geschichte der Chemie in der GDCh, 22 (2012), S.37-52. 7 Franz Karl Achard: „Sur l'arsenic et sur sa combinaison avec différents corps”, Nouveaux Mémoires de l'Académie Royale des et Belles-Lettres 1781 (1783), S. 107-109. 8 Franz Carl Achard, „Leichte Methode, Gefäße aus Platina zu bereiten”, Crells Chemische Annalen für Freunde der Naturlehre, Arzneygelahrtheit, Haushaltungskunst und Manufac- turen, 1 (1784), S. 3-5. 9 Karl Heinrich Joseph Reichsgraf von Sickingen, Versuche über die Platina (Mannheim 1782). 10 Ders., ebenda, S. 82. 11 Ders., ebenda, S. 95. 12 Ders., ebenda, S. 220-221. 13 William Hyde Wollaston, „On a New Metal, Found in Crude Platina“, Phil. Trans., 94 (1804), S. 419-430. 14 Johann Wolfgang Döbereiner, Zur Chemie des Platins in wissenschaftlicher und techni- scher Beziehung (Stuttgart 1836), S.3. 15 Johann Christian Poggendorf, Bibliographisch-Literarisches Handwörterbuch zur Geschich- te der exacten Wissenschaften, 2 (Leipzig 1863), Spalte 1362. 16 Antoine Francois de Fourcroy, „Untersuchungen über das Platinerz und Ankündigung eines neuen darin enthaltenen Metalls“, Neues allgemeines Journal der Chemie, 2 (1804), S. 269- 282. 17 Antoine Francois de Fourcroy, Louis Nicolas Vauquelin, „Nachtrag zu den Untersuchungen über das Platinerz und das darin befindliche neue Metall”, Neues allgemeines Journal der Chemie, 3 (1804), S. 262-276. 18 Smithson Tennant, „On Two Metals, found in the Black Powder Remaining after the Solu- tion of Platina”, Phil. Trans. R. Soc. Lond., 94 (1804), S. 411-418. 19 Carl Ernst Claus, „Entdeckung eines neuen Metalls“, Annalen der Physik und Chemie, 64 (1845), S. 192-197. – ders., Fragment einer Monographie des Platin´s und der Platinmetalle (St. Petersburg 1883).

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20 Vgl. die Verwendung von Platingeräten bei: Chenevix in Richard Chenevix, Phil. Trans. R. Soc. Lond., 92 (1802), S. 329-331 und Johann Bartholomäus Trommsdorf, (Trommsdorfs), Journal der Pharmacie, 14 (1806), 2. Stück, S. 15, 40; sowie die von Seebeck benutzten Pla- tingegenstände in Thomas Seebeck, Abhandlungen der Königlichen Akademie der Wissen- schaften zu Berlin 1822 und 1823, Berlin 1825, Physikalische Klasse, S. 285–287. 21 Gerhard Müller, Vom Regieren zum Gestalten (Heidelberg 2006), S. 582f. 22 Müller, Regieren, S.584. 23 Johann Wolfgang Döbereiner, „Großherzogliche Lehranstalt für Chemie“, hrsg. von Jonathan Carl Zenker, Historisch-topographisches Taschenbuch von Jena und seiner Umge- bung besonders in naturwissenschaftlicher u. medicinischer Beziehung (Jena 1836), S 63. 24 Thomas Seebeck (1770-1831), Physiker, ab 1818 Mitglied der Berliner Akademie der Wis- senschaften, Entdecker des thermoelektrischen Effekts. 25 Johann Wolfgang Goethe, Sämtliche Werke, Briefe, Tagebücher und Gespräche, hrsg. Irm- traut und Gerhard Schmid (Frankfurt am Main 1999), Bd 27, S.664. 26 Goethe, FA, S.665. 27 Hugo Döbling, „Die Chemie in Jena zur Goethezeit“, Zeitschrift des Vereins für Thüringi- sche Geschichte und Altertumskunde, Neue Folge, Dreizehntes Beiheft (1928), S. 159. 28 Johann Wolfgang Goethe, FA, S. 949-952. 29 Johann Wolfgang Döbereiner, Zur Chemie des Platins in wissenschaftlicher und techni- scher Beziehung (Stuttgart 1836), S. 50. 30 Adolph Ferdinand Gehlen, „Über Platina-Verarbeitung“, Journal für Chemie und Physik, 7 (1813), S. 315. 31 Goethes Werke, Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen (Wei- marer Ausgabe), IV. Abteilung, Band 30, S. 168. 32 Bernhard von Lindenau, 1780-1854, Astronom, Generaladjudant Herzog Carl Augusts wäh- rend des Befreiungskrieges, Minister, Kunstsammler – Lindenaumuseum in Altenburg. 33 Johann Wolfgang Döbereiner „Vermischte Bemerkungen“, Journal für Chemie und Physik, 6 (1812), S. 211. Johann Wolfgang Döbereiner „An die Chemiker in England wegen eines neuen Metalles im Platinerz“, Journal für Chemie und Physik, 26 (1819), S. 404-405. 34 Döbereiner, Ueber neu entdeckte höchst merkwürdige Eigenschaft des Platins und die pmeumatisch-capillare Thätigkeit gesprungener Gläser (Jena 1823), S. 1. 35 Goethe WA, IV. Abteilung, Band 21, S. 84. 36 Johann Bartholomäus Trommsdorf, „Beyträge zu den neuesten Untersuchungen der rohen Platina“, Journal der Pharmacie, 14 (1806), 2. Stück, S. 3-77. 37 Döbereiner, „Vermischte Bemerkungen“, Journal für Chemie und Physik, 6 (1812), S. 211. 38 Döbereiner, „Über den Baryt“, Journal für Chemie und Physik, 6 (1812), S. 367.

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39 Döbereiner, „Über Platinagefäße“, Journal für Chemie und Physik, 10 (1814), S. 217-222. 40 Adolph Ferdinand Gehlen, „Über ein neues Verfahren, das Platin zum Verarbeiten ge- schickt zu machen“, Journal für Chemie und Physik, 7 (1813), S. 315. 41 Karl August Neumann, „Bemerkungen über Platinagefäße“, Journal für Chemie und Physik, 9 (1813), S. 213. 42 Jöns Jacob Berzelius, „Über verschiedene chemische Operationen und Geräthschaften“, J. für techn. u. ökonom. Chemie, 13 (1832), S. 359-362. 43 Döbereiner, Taschenbuch (wie Anm. 23), S. 63-64. – Döbling, Chemie (wie Anm. 27), S. 197-198. 44 Döbereiner, „Vermischte Bemerkungen“, Journal für Chemie und Physik, 6 (1812), S. 212. 45 Briefwechsel zwischen Goethe und Johann Wolfgang Döbereiner (1810-1830), hrsg. von Julius Schiff (Weimar 1914), S. 56. 46 Döbereiner, „An die Chemiker in England wegen eines neuen Metalles im Platinerz“, Schweiggers J., 26 (1819), S. 404-405. 47 William Hyde Wollaston, „Sur la préparation du Palladium. Pd“, Ann. chim. phys., 41 (1829), S. 413. 48 William Hyde Wollaston, „Sur la préparation de l´ Osmium. Os“, Ann. chim. phys., 41 (1829), S. 414. 49 William Hyde Wollaston, „On a method of rendering Platina malleable”, Phil. Trans., 119 (1829), S. 1-8. 50 Gottfried Wilhelm Osann, „Fortsetzung der Untersuchung des Platins vom Ural“, Annalen der Physik und Chemie, 89 (1828), S. 283-297. – Gottfried Wilhelm Osann, „Fortsetzung der Analyse des Platins vom Ural“, Annalen der Physik und Chemie, 90 (1829), S. 329-357. 51 Edmund Davy, „A new Fulminating Platinum”, Phil. Trans., 107 (1817), S. 136-157. – Ed- mund Davy, „On Some Combinations of Platinum, Phil. Trans., 110 (1820), S. 108-125. 52 Döbereiner, „Verwandlung von Alkohol in Essigsäure“, Annalen der Physik, 72 (1822), S.193-194. 53 Paul Erman, „Über eine eigenthümliche reziproke Wirkung der zwei entgegengesetzten elektrischen Thätigkeiten“, Abhandlungen der königlichen Akademie der Wissenschaften in Berlin aus den Jahren 1818-1819 (1820), S. 351-376. – Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Döbereiner von dieser Arbreit gewusst hat. Döbereiner kannte aber Erman schon lange per- sönlich durch dessen Besuch in Jena. Vgl. Döbling, Chemie, S. 167. 54 Döbereiner, „Neu entdeckte merkwürdige Eigenschaften des Platinsuboxyds, des oxydirten Schwefel-Platins und des metallischen Platinstaubes“, Journal für Chemie und Physik, 38 (1823), S. 321-325. 55 Vgl. Briefwechsel Goethe Döbereiner, S. 78–79. 56 Döbereiner, „Platin und Wasserstoffgas“, Isis, IX (1823), Sp. 989-991.

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57 Döbereiner, „Neu entdeckte merkwürdige Eigenschaften des Suboxyds des Platins, des oxydirten Schwefel-Platins und des metallischen Platinstaubes“, Annalen der Physik, 74 (1823), S. 269-272. 58 Döbereiner, „Nachtrag“, Journal für Chemie und Physik, 38 (1823), S. 325–326. 59 Döbereiner, Nachrtrag zu „Platin und Wasserstoff“, Isis, IX (1823), Spalte 990-991. 60 Döbereiner, „Neuere Erfahrungen über Platina“, Journal für Chemie und Physik, 54 (1828), S. 417. 61 Goethe WA, IV. Abteilung, Band 26, S. 34. 62 „Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte vom 18. bis 20. Sep- tember 1823“, Journal für Chemie und Physik, 39 (1823), S. 3-4. 63 Döbereiner, Ueber neu entdeckte höchst merkwürdige Eigenschaft des Platins und die pmeumatisch-capillare Thätigkeit gesprungener Gläser (Jena 1823), S. 9-10. 64 Dietmar Linke, „Johann Wolfgang Döbereiner – Leben und Wirken in seiner Zeit“, Interna- tionales Döbereiner Colloquium 20.-22. Mai 1980 in Jena, Friedrich-Schiller-Universität Jena 1981, S. 22-23. – Christoph Meinel, „Döbereiner und die Chemie seiner Zeit“, Mittei- lungen der GDCh-Fachgruppe Geschichte der Chemie, 4 (1990), S.46-47. 65 Döbereiner, Journal für Chemie und Physik, 38 (1823), S. 321-325. 66 Journal des Débats politiques et Littéraires (1823), S. 4. Für das Übersetzen danke ich Herrn Dr. Bodo Heyn, Jena. 67 Pierre Louis Dulong, Louis Jaques Thénard, ”Sur la Propriété que possédent quelques Mé- taux, de faciliter la combinaison des Fluides élastiques”, Memoires de l`Academie des Sciences, 5 (1821-1822), S.476-480. 68 Dies., „Nouvelles Observations Sur la Propriété dont jouissent certains Corps de favoriser la combinaison des Fluides élastiques”, Memoires de l`Academie des Sciences, 5 (1821- 1822), S. 481-487. 69 Christian Gottlob Gmelin, „Ueber Döbereiner´s Entdeckung“, Journal für Chemie und Phy- sik, 38 (1823), S. 515-517. 70 Adolph Martin Pleischl,, „Beobachtungen über das Entglühen des Platinpulvers im Hydro- genstrome unter Mitwirkung der atmosphärischen Luft“, Journal für Chemie und Physik, 39 (1823), S. 142-159. 71 Michael Faraday, „A most extraordinary experiment”, The Quarterly journal of science literature and art, 16 (1823), S. 179. – Ders., Dobereiner´s Eudiometer”, ebenda, S. 374- 375. 72 Döbereiner, Zur pneumatischen Chemie, vierter Teil (Jena 1824), S. 3. 73 Jacob Berzelius, Jahresbericht über die Fortschritte der physischen Wissenschaften (Tübin- gen 1825),S. 60. 74 Döbereiner, „Bemerkungen“, Journal für Chemie und Physik, 42 (1824), S. 60-64.

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75 Döbereiner, „Neue Bereitung des Platinsuboxyd´s höchst dünner Platinüberzug statt Platin- schwamm, und Bereitung der Essigsäure im Großen mittels des Platinsuboxyds“, [Kastners] Archiv für die gesamte Naturlehre, 9 (1826), S. 341-344. 76 Döbereiner, Döbereiner´s Essiglämpchen“, Journal für Chemie und Physik, 47 (1826), S. 120-121. 77 Döbereiner, „Ueber Sauerstoffäther und verwandte Gegenstände“, Annalen der Physik, 100 (1832), S. 609. 78 Ludwig Wilhelm Gilbert, „Die neu entdeckten Goldwaschwerke am Ural“, Annalen der Physik, 75 (1823), S. 226-227. 79 Johann Friedrich Erdmann, Beiträge zur Kenntnis des Inneren Russlands, 2. Theil, 2. Hälfte (Leipzig 1826), S. 133. 80 N. Mamyschew, „Beschreibung der Entdeckung der Platina in Sibirien“, Taschenbuch für die gesammte Mineralogie mit Hinsicht auf die neusten Entdeckungen, hrsg. von Karl Cae- sar Ritter von Leonhardt, 21. Jahrgang (Frankfurt am Main 1827), Bd 2, S. 265-282. 81 Ebenda S. 268. 82 Erdmann, Beiträge, S. 133-134. 83 Gottfried Wilhelm Osann, „Analyse des Platins vom Ural“, Annalen der Physik, 11 (1827), S. 311-322. 84 Jöns Jacob Berzelius, „Versuche über die mit dem Platin vorkommenden Metalle, und über das Verfahren zur Zerlegung der natürlichen Platinlegierungen oder Platinerze“, Annalen der Physik, 89 (1828), S. 436-437. 85 Mamyschew, Taschenbuch, S. 282. 86 Großherzog Carl August war am 14. 6. 1828 verstorben. 87 Döbereiner, „Neuere Erfahrungen über Platina“, Journal für Chemie und Physik, 54 (1828), S. 412–413. 88 Georg Henry Lewes, The Life of Goethe, 2nd ed. (Leipzig 1864), S. 298-299. 89 Georg Henry Lewes, Goethe´s Leben und Werke (Leipzig o. J.), Bd. 2, S. 565. 90 Hans Prescher, Goethes Sammlungen zur Mineralogie, Geologie und Paläontologie – Kata- log (Berlin 1978). 91 Goethe, WA, IV. Abt., Bd. 47, S. 393. 92 Goethe, WA, IV. Abt., Bd. 45, S. 24. 93 Goethe, WA, III. Abt., Bd. 12, S. 14. 94 Döbereiner, „Beobachtungen, gemacht zum Theil bei chemischen Vorträgen“, Journal für Chemie und Physik, 63 (1831), S. 465-470. 95 Döbereiner, „Ueber Platinmohr“, Annalen der Physik, 37 (1836), S. 548-549. 96 Döbereiner, „Briefliche Mitteilungen“, Annalen der Physik, 101 (1832), S. 190.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

97 Döbereiner, „Ueber mehrere neue Platinverbindungen“, Annalen der Physik, 104 (1833), S. 180-184. 98 Döbereiner, „Sauerstoffabsorption des Platins“, Annalen der Physik, 107 (1834), S. 512. 99 Döbereiner, „Außerordentliche Verdichtung des Sauerstoffs durch Platinmohr“, Journal für praktische Chemie 1 (1834), S. 76. – Döbereiner, „Platin als reines Oxyrrophon (Sauer- stoffsauger) erkannt“, Journal für praktische Chemie 1 (1834), S. 114. – Döbereiner, „Ueber Platinmohr und Eupion“, Journal für praktische Chemie 1 (1834), S. 254. – Döbereiner, „Fortgesetzte Bemerkung über Platinmohr“, Journal für praktische Chemie 1 (1834), S. 369-371. 100 Döbereiner, „Ueber Platin“, Annalen der Physik, 112 (1835), S. 308-310. – Döbereiner, „Chemische Eigenschaften und physische Natur des auf nassem Wege reducirten Platins“, Annalen der Physik, 112 (1835), S. 458-464. 101 Döbereiner, „Fernere Mitteilungen über Platin und Osmium.Irid“, Annalen der Physik, 112 (1835), S. 464-471. 102 Franz Döbereiner, „Ueber eine neue Methode der Analyse des Platinerzes, der Darstellung des Platinmohrs und chemisch reinen Palladiums“, Annalen der Pharmacie, 14 (1835), S. 251-260. – Franz Döbereiner, „Neue Methode der Analyse des Platinerzes“, Pharmazeuti- sches Cetralblatt, 6 (1835), S. 767-769. 103 Universitätsarchiv Jena (UAJ), Best. M, Nr. 276 Vol. I, Bl. 228-239. 104 UAJ, Best. M, Nr. 276 Vol. I, Bl. 240. 105 UAJ, Best. M, Nr. 276 Vol. I, Bl. 317. 106 Ja[me]s Lewis Howe, H. C. Holtz, Bibliographie of the metals of the Platinum group Platin, Palladium, Iridium, Rhodium, Osmium, Ruthenium 1748-1917 (Washington 1919). 107 Döbereiner, Zur Chemie des Platins in wissenschaftlicher und technischer Beziehung (Stuttgart 1836). 108 Döbereiner, „Neue Beiträge zur Geschichte der chemischen Dynamik des Platins“, Annalen der Physik, 140 (1845), S. 94-96.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Die Entdeckung des Actiniums

Prof. Dr. habil. Siegfried Niese, Am Silberblick 9, 01723 Wilsdruff

In einer 2012 erschienenen Übersicht der Isotope der Elemente vom bis zum Uranium und deren Entdeckung lesen wir, dass Friedrich Oskar Giesel (1852-1927) im Jahr 1902 in Uranmineralen eine radioaktive Substanz beobach- tet hat, die er zwei Jahre später als ein neues Element mit dem Namen Emanium bezeichnet und die sich später als 227Ac herausgestellt hat.1 So schreibt auch Ad- loff, dass wahrscheinlich Giesel der tatsächliche Entdecker des Actiniums ist.2

Bis heute wird noch häufig der französischen Chemiker André-Louis Debierne (1874-1949) als Entdecker des Actiniums angesehen. Er beschrieb im Jahre 1899 die Entdeckung eines neuen radioaktiven Körpers, den er zusammen mit den Hy- droxiden von Eisen und Aluminium mit Ammoniaklösung aus einer Lösung der Pechblende gefällt und ihm Ähnlichkeiten mit dem Titan zugeschrieben hatte.3 Ein Jahr später schrieb er diesem radioaktiven Körper eine Ähnlichkeit mit dem Thorium zu und bezeichnet ihn als ein neues radioaktives Element, das er Actini- um nannte.

Actinium ist wegen seiner hohen Radiotoxizität, Allgegenwart als Zerfallspro- dukt des Urans, hohen Mobilität bei chemischen Prozessen, besonders im Zu- sammenhang mit der Gewinnung von Uran, relativ guten Aufnahme in die Nahrungskette und chemischen Ähnlichkeit mit dem sehr langlebigen, bei der Kernenergiegewinnung in den Brennstoffen entstehendem Americium, wieder mehr in den Blickpunkt der Radiochemiker gerückt. Deshalb wird hier etwas ein- gehender auf die Geschichte der Entdeckung mit dem Ziel eingegangen, Giesel mehr als bisher als Entdecker des Actiniums zu würdigen, so wie es auch auf sei- nem Grabstein in Braunschweig steht, wofür sich besonders Rudolf Fricke aus Wolfenbüttel eingesetzt hat.4 Das fällt uns umso leichter, wenn wir die entspre- chenden, vor mehr als 100 Jahren erschienenen, Publikationen lesen, woraus in den folgenden Abschnitten Auszüge vorgestellt und kommentiert werden. Dabei werden, wie schon Bertram Borden Boltwood feststellte, in den Publikationen von André-Louis Debierne die chemischen Trennungen und Charakterisierungen zwar wortreich aber nur ungenau beschrieben. Daraus werden ausgewählte Ab- schnitte in den Anhängen in der Originalsprache vorgestellt.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Die Anfangsjahre der Radiochemie

Die Radiochemie begann damit, dass Marie Curie in den Mineralen des Urans und des Thoriums höhere Radioaktivität als in den beiden Metallen und deren reinen Verbindungen gemessen hatte.5 Sie vermutete, dass in ihnen bisher unbe- kannte Elemente enthalten sind, die stärker radioaktiv als Uran und Thorium sind. Auf der Suche nach solchen Elementen trennten Marie und Pierre Curie die Pechblende in chemische Fraktionen auf, wobei man annehmen kann, dass sie dabei nach dem damals bekannten analytischen Gruppentrennungsgang vorge- gangen sind. In der Schwefelwasserstoffgruppe fanden sie nach der systemati- schen Auftrennung der Elemente dieser Gruppe in der Wismutfraktion das erste neue radioaktive Element, das Polonium. Ob sie danach im Niederschlag der im Kationentrennungsgang folgenden Fällung mit Ammoniumsulfid und Ammoniak auch Radioaktivität fanden, und deren Untersuchung sie dann Debierne empfoh- len haben, lässt sich nicht belegen, da gerade in der interessanten Zeit zwischen Juli und 11. November im Jahr 1898 ihre Labortagebücher eine Lücke aufwei- sen.6 Schließlich fanden sie in der Sulfatgruppe eine hohe Radioaktivität zusam- men mit dem Barium, die sie einem neuen Element, dem Radium, zuordneten.7 Sie trennen daraufhin das Radium und Barium durch fraktionierte Kristallisation der Chloride, wobei sie stets eine Fraktion mit erhöhter Radioaktivität und damit auch erhöhtem Radiumgehalt erhielten. Sie konnten schließlich das Radiumsalz soweit anreichern, dass man dessen Funkenspektrum in dem Barium-Radium- Gemisch erkennen konnte. Später hatte Marie Curie das Radium soweit gereinigt, dass sie nach der Herstellung verschiedener Verbindungen auch das Atomge- wicht bestimmen konnte.

Kurze Zeit nach der Publikation der Curies über die Entdeckung des Poloniums erfuhr davon der Chemiker in der Chininfabrik Buchler in Braunschweig, Fried- rich Giesel, von seinen Freunden Julius Elster und Hans Geitel. Er war so faszi- niert, dass er sich sogleich Rückstände der Uranfarbenherstellung von der Firma de Haen in List organisierte.8 Beim Versuch, ebenfalls Polonium herzustellen, fand er in der schwefelsauren Lösung auch einen sehr aktiven Bariumnieder- schlag9, doch bevor er diesen näher untersucht hatte, hatten die Curies schon die Entdeckung des Radiums publiziert. Daraufhin untersuchte Giesel die Kristallisa- tion der Bromide und erhielt mit Bromiden sehr viel schneller reineres Radium als mit den Chloriden. Er konnte die Linien des Radiums im Flammenspektrum bestimmen, stellte daraufhin Radiumbromid her und belieferte anschließend auch andere Forscher, unter ihnen auch Marie Curie, mit dem Radiumsalz. Mit seinen Präparaten führte er auch umfangreiche physikalische Untersuchungen durch und bestimmte die Ablenkbarkeit der Strahlen im Magnetfeld.10 Bei den Untersu- chungen zur Gewinnung von Polonium hat er ein ziemlich reines Bismutoxyhy-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 drat ausgefällt, dessen Aktivität sich ziemlich schnell verringerte und dessen Strahlung im Magnetfeld abgelenkt wurde. Er schrieb:

„Die Schnelligkeit des Zurückgehens der Activität und des Verhaltens im magne- tischen Felde bei meinen Poloniumpräparaten gegenüber den Curie´s scheinen mir nur auf dem Alter der Substanz resp. auf abweichenden Versuchsbedingungen zu beruhen.“11

Giesel hatte hierbei mit dem 210Bi das erste radioaktive Isotop eines stabilen Ele- mentes, das Mutternuklid des 210Po gemessen, aber nicht als Bismutisotop er- kannt. Er war überzeugt, dass er das von den Curies entdeckte Polonium gemessen hat, weil er sich nicht vorstellen konnte, dass es sowohl ein nicht radio- aktives als auch ein radioaktives Bismut geben könnte. Da man die Isotopie noch nicht kannte, wurden seitdem 1905 das von ihm Radiothor genannte Thoriumisotop 228Th entdeckt hatte, bis 1913 die vielen in der Zwischenzeit ent- deckten radioaktiven Isotope noch als radioaktive Elemente bezeichnet. Es gab viele vergebliche Versuche, solche Isotope chemisch zu trennen. Deshalb be- zeichnete man sie als „chemisch ähnliche“ oder „chemisch nicht trennbare“ ra- dioaktive Elemente.

Debierne entdeckte einen neuen radioaktiven Körper

Da sich Marie Curie auf die Herstellung von reinen Radiumsalzen in wägbaren Mengen konzentriert hatte, blieb ihr keine Zeit für die Suche nach weiteren Ra- dioelementen in der Pechblende. Der Schüler von Piere Curie, Andre Debierne, wurde von den Curies angeregt, in den Labors der Sorbonne nach weiteren Ra- dioelementen zu suchen. Er fand in der Ammoniakfällung eine erhöhte Radioak- tivität, die weder dem Radium noch dem Polonium zuzuordnen war.

Wegen der kurzen Halbwertszeiten der vielen anderen Glieder der Zerfallsreihen konnte man wägbare Mengen nur von Radiumverbindungen herstellen und kurz- lebige Radioelemente nur über die Ähnlichkeit mit bekannten Elementen che- misch charakterisieren. Zu Beginn hat man nur die Alphastrahlung gemessen und kaum die Halbwertszeit bestimmt. Angesichts der Tatsache, dass die Mengen sehr gering waren, in Gemischen vorlagen und besonders die Elemente Actinium, Thorium und Protactinium chemisch nicht leicht zu trennen sind, war die Ent- deckung des betastrahlenden Actinums besonders schwierig, welches außer über seine chemischen Eigenschaften anfangs nur über die Strahlung der Folgeproduk- te nachgewiesen wurde.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 In seiner ersten Publikation über den neuen radioaktiven Körper, den er bei Un- tersuchungen der Pechblende im Physikalisch-Chemischen Laboratorium der Sorbonne gefunden hat, schrieb Debierne 189912 u.a.:

“Der Hauptteil des mit Ammoniak gefällten Produktes besteht aus Eisen- und Aluminiumoxid; aber daneben fand ich in geringen Anteilen eine genügend große Zahl anderer Bestandteile. Dabei konnte ich kleine Mengen an Zink, Mangan, Chrom, Vanadin, Uranium, Titan, Niobium, Tantal; und durch Lanthan, Didym, Cer und Yttererden charakterisierte Seltene Erden abtrennen. … Ich habe festge- stellt, dass der im Titan enthaltene Körper eine hohe Intensität der Radioaktivität zeigt, und nach einer ziemlich komplizierten Behandlung, die ich sehr oft wieder- holt hatte, erhielt ich einen Körper, dessen Lösung die hauptsächlichen analyti- schen Eigenschaften des Titans repräsentieren, aber eine extreme Strahlenaktivität aufwies.“

Dabei hat Debierne weder die Art der o. g. komplizierten Behandlung, noch die chemische Form (Hydoxid, Oxid, Sulfat, Chlorid etc.) und ein ungefähres quanti- tatives Verhältnis zu den von M. und P. Curie gemessenen Präparaten beschrie- ben. In der 1900 folgenden Publikation13 schrieb er, dass er die Arbeit an dem von ihm entdeckten radioaktiven Körper fortgesetzt und dabei festgestellt hat, dass dieser doch mehr Ähnlichkeit mit dem Thorium aufweist:

„Seit dieser Mitteilung habe ich meine Untersuchungen fortgesetzt, um den Kör- per zu gewinnen, bei dem ich festgestellt hatte, dass es von Titan nicht bei allen seinen Reaktionen mitgerissen wird. Neben den Reaktionen, die für alle Elemente der Eisengruppe gemeinsam sind (Fällung mit Ammoniak, Ammoniumsulfid, Na- tronlauge, Natriumcarbonat, etc.) erscheinen die folgenden Verfahren für die An- reicherung der neuen Substanz etwas besser ….“

Er beschreibt in dieser Publikation vier Reaktionen zur Isolierung und Charakte- risierung des radioaktiven Körpers aus der nach Abtrennung von Uran erhaltenen Lösung:

1. Bei der Fällung aus der leicht salzsauren siedenden Lösung durch einen Über- schuss an Natriumhyposulfit geht die Radioaktivität fast vollständig in den Nieder- schlag.

2. Bei der Einwirkung von Fluorwasserstoffsäure oder Kaliumfluorid auf die Suspen- sion der frisch gefällten Hydroxide wird die Lösung nur gering aktiv und es wird nur wenig Titan abgetrennt.

3. Bei der Fällung der neutralen Azetatlösung mit H2O2 reißt der Niederschlag die ra- dioaktive Substanz mit.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 4. Nach der Fällung von Bariumsulfat verbleibt in der Lösung ein radioaktiver Kör- per.

Daraufhin kommt Debierne14 zu dem Ergebnis:

„Man weiß, dass die Verbindungen des Thoriums schwach radioaktiv sind, sieht nach dieser Prozedur ferner, dass das Actinium den Anschein nach ein dem Thori- um ähnliches Element ist. Man kann annehmen, dass die beobachtete Radioaktivi- tät in den isolierten Thoriumverbindungen nicht mit diesem Element übereinstimmt, sondern zu einer anderen Substanz gehört. Die kürzlich von Ru- therford durchgeführten Experimente, führten zu derselben Annahme. (Ru- therford, Philosophical Magazin). Ich habe mir deshalb vorgenommen, möglichst eine Substanz aus dem Gemisch der Bestandteile mit den radioaktiven Eigen- schaften des Thoriums unter Verwendung der beschriebenen Reaktionen zu extra- hieren, die mit dem aus der Pechblende abgetrennten Actinium identisch ist.“

Über die angekündigte weitere chemische Trennung schrieb er in den folgenden vier Jahren nichts, dafür beschäftigte er sich intensiv mit dem Phänomen der „in- duzierten Radioaktivität“, wonach in der Nähe von Actiniumsalzen untergebrach- te Bariumverbindungen oder Metallplatten aktiviert werden.15,16 Diese Untersuchungen führte er mit seinem von ihm Actinium genannten radioaktiven Körper parallel zu den Untersuchungen durch, wie sie Pierre Curie mit Radium- salzen ausgeführt hat.

Debierne ging sogar so weit, dass er diese Aktivierung einer von ihm entdeckten vom Actinium ausgesandten Aktivierungsstrahlung zuschreibt.17 Bei dieser „in- duzierten Radioaktivität“ handelte es sich sicherlich um Radiumisotope, die bei der Lagerung seines Präparates nachgebildet und dann mit dem Barium mitgefällt wurden, sowie um Tochternuklide, die beim Zerfall der Radonisotope entstanden sind. Bei diesen Untersuchungen stimmte Debierne mit Pierre Curie in der Hypo- these der „induzierten Radioaktivität“ überein, die im Gegensatz zu der sich als richtig herausgestellten Auffassung von Rutherford stand, dass diese Aktivitäten Zerfallsprodukten der Emanation zuzuordnen sind.

Aus den in den beiden ersten Publikationen beschriebenen Experimenten geht hervor, dass Debierne durch Abtrennung der Eisengruppe aus der Pechblende zuerst ein Gemisch des aus der mit 238U beginnenden Reihe stammenden 230Th und aus der mit 235U beginnenden Reihe stammenden Radionuklide 227Ac, 227Th und 231Pa erhalten hat. In dem oben genannten Nuklidgemisch überwiegt das 230Th als Zerfallsprodukt des 238U. Das Verhältnis der Aktivitäten der Radionu- klide der beiden Zerfallsreihen ergibt sich aus dem Quotient der Verhältnisse der Isotopenhäufigkeiten und Halbwertszeiten beider Uranisotope zu 25. Aus diesem Gemisch hat Debierne bei einer Behandlung mit Fluorwasserstoffsäure mög-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 licherweise das Protactinium abgetrennt, aber es gibt in seiner ohnehin nur quali- tativen Beschreibung seiner chemischen Versuche und Messungen keinen Hin- weis darauf, dass er das später als Actinium bezeichnete Element Nr. 89 angereichert hat. Deshalb muss man davon ausgehen, dass die Hauptaktivität sei- nes von ihm Actinium genannten radioaktiven Elementes, das damals noch nicht bekannte Thoriumisotop 230Th darstellt. Dafür spricht auch die von ihm betonte chemische Ähnlichkeit mit dem Thorium. So wie Giesel aus der Pechblende ein von ihm nicht angenommenes radioaktives Bismutisotop abgetrennt und gemes- sen hat, hat Debierne ein von ihm nicht vorstellbares radioaktives Thoriumisotop aus der Pechblende abgetrennt und gemessen. Beide Isotope wären zumindest bis 1913 als neue Elemente akzeptiert worden.

Friedrich Giesel entdeckte das Emanium

Nachdem Marie und Pierre Curie in der Pechblende die Elemente Polonium und Radium entdeckt hatten, beschäftigte sich Giesel mit der Abtrennung aus einem Uranmineral und deren weiteren Untersuchung. Als Ausgangsmaterial verwende- te er Rückstände der Herstellung von Uranverbindungen der Firma de Häen. Über seine chemischen Trennungen und Messungen berichtete er in mehreren Artikeln in den Berichten der Deutschen Chemischen Gesellschaft.

Hier soll auch eine Arbeit der Münchner Chemiker Karl Andreas Hofmann und Eduard Strauss erwähnt werden, die radioaktives Blei und radioaktive Seltene Erden entdeckt hatten.18 Nachdem sie die bisher bekannten, auf photographische Platten wirkenden Verbindungen von Uranium, Thorium und die aus Pechblende isolierten Barium-, Bismut- und Titanpräparate aufgeführt hatten, berichteten sie, dass sie in verschiedenen Mineralien radioaktives Blei und radioaktive Seltene Erden gefunden hätten, die auch nach Abtrennung der o.g. bekannten radioakti- ven Stoffe ihre Wirksamkeit beibehielten. Das galt für die intensiv gereinigten Bleisalze ebenso wie für die durch ausführlich beschriebene Trennungen von Uran und Thorium befreiten Seltenen Erden, die ein Gemisch der Cer- und Yttri- umgruppe waren. Damit lenkten sie die Aufmerksamkeit von Giesel erneut auf die Radioaktivität von Seltenen Erden, der bereits 1900 bei der Herstellung von 2 kg Radium-Barium-Bromid beim Umkristallisieren aus der Mutterlauge mit Ammoniak und dann mit Oxalat eine geringe Menge ursprünglich an den Bari- umsalzen mitgefällten Seltene Erden ausgefällt hatte, die schwach radioaktiv wa- ren.19

Darauf kam er noch einmal in einem späteren Beitrag zurück.20 Auf ein neues Element wies er in der Publikation 1902 hin.21 Er schrieb:

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 „Es soll nun mehr nach dem die Emanation veranlassenden Körper gesucht wer- den, der besonderer chemischer Natur zu sein scheint, da kein anderer der bekann- ten stark radioaktiven Stoffen oder Thorerde eine Emanation in dieser Weise verräth. Der Körper befindet sich nach Abtrennung seltener Erden aus Pechblende mit Oxalsäure in der folgenden Ammoniakfällung. Vielleicht finden sich Bezie- hungen zu den hypothetischen Rutherfordschen Körper ThX. Ein Gas scheint die Emanation nicht zu sein, wenigstens wurde mit Wasser keine Gasentwicklung von der Substanz bemerkt. Die Edelerden, welche wesentlich der Cergruppe gehö- ren ... erhalte ich jetzt aus anderen Materialien von constanter Aktivität, und es ge- lingt eine Anreicherung durch fractionierte Krystallisation der Oxalate aus verdünnter Salpetersäure zu bewirken, so dass Aussicht besteht, dem Actinium Debiernes nachforschen zu können. Thorium ist aber nur minimal vorhanden, und die auf Abscheidung desselben zielenden Trennungen geben jetzt nicht mehr wie früher verstärkte, sondern verringerte Aktivität.“

Damit hat Giesel auch das erste Mal eine fraktionierte Kristallisation der Oxalate beschrieben, mit der er die Cererden zuverlässig vom Thorium getrennt hatte. In der Arbeit „Über den Emanationskörper aus Pechblende und über Radium“ schreibt Giesel im Jahr 1903:22

„Der Emanationskörper der Pechblende gehört zur Gruppe der Cererden oder folgt doch ihren Reaktionen. Ich habe schon berichtet ... daß aus Pechblende gewinnba- re seltene Erden constante Aktivität besitzen. Eine Emanation konnte ich damals nicht beobachten, weil dieselbe wie sich jetzt herausgestellt hat, nicht allen Ver- bindungen gleichermaßen zukommt, sondern vom chemischen Zustand abhängig ist.“

Seiner Sache ganz sicher, ein neues Element entdeckt zu haben, beschreibt Giesel 1904 das uns als Actinium bekannte Element in der am 23. April 1904 in der Re- daktion eingegangenen Publikation „als Begleiter des Lanthans“:23

„Das Funkenspektrum von HH Runge und Precht hat bestätigt, dass die Substanz wesentlich aus Lanthan neben wenig Cer besteht. Thorium, Baryum und Radium waren nicht vorhanden ... Vor allem habe ich mich überzeugt, dass die Aktivität der festen Salze absolut keine Änderung mehr erfährt, sobald das Maximum er- reicht ist, was etwa nach 1 Monat nach Abscheiden aus der Lösung eintritt. Durch dieses die primär activen Elemente charakterisierende Verhalten sind meine letz- ten Zweifel ob der >Emanationskörper< vom Radium verschiedenes neues ra- dioactives Element (Edelerde) enthält, beseitigt. ... Für die Folge werde ich das in dem Emanationskörper anzunehmende, vermutlich dem Lanthan verwandte, stark radioactive Element >Emanium< nennen.“

Dass Giesel ein konstantes Maximum der Aktivität etwa 1 Monat nach Abschei- den aus der Lösung gefunden hat, liegt daran, dass man damals noch nicht die

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 schwache Betastrahlung des 227Ac, sondern erst die Alphastrahlung der durch Zerfall des 227Ac gebildeten Folgenuklide 227Th und 223Ra messen konnte. Mit der Feststellung, dass sich die Aktivität erst nach einem Monat in großem Umfang nachbildet, der Eigenschaft, aus einer Reihe fester Verbindungen Emanation zu bilden, und der Ähnlichkeit des aus der mit der Eisengruppe gefällten und dann mit dem Seltenen Erden abgetrennten neuen Elementes mit dem Lanthan, gibt es für eine Zuordnung des von Giesel Emanium genannten neuen Elementes zum 227Ac keinen Zweifel.

Debierne erklärte die Identität des von Giesel entdeckten Emaniums mit sei- nen von ihm Actinium genannten radioaktiven Element

Da Debierne bis zuletzt Zweifel hatte, ob er seinem Körper tatsächlich die höch- ste Ähnlichkeit mit dem Thorium zuschreiben sollte, und möglicherweise fürch- tete, dass es sich dabei nicht um ein neues Element, sondern nur um eine Modifikation oder einen angeregten Zustand des Thoriums handeln könnte, ent- schied er sich, sein Actinium genanntes neues Element als identisch mit dem von Giesel als lanthanähnlich gefundenen Emanium zu erklären. Daraufhin trennte er einen radioaktiven Körper mit Lanthan aus der Pechblende ab und verfasste eine entsprechende Publikation. Man erkennt in ihr die Schwierigkeit, die es ihm be- reitete, zu erklären, weshalb er dem von ihm 1900 entdeckten radioaktiven Kör- per damals eine Ähnlichkeit mit dem Thorium und nach den Veröffentlichungen von Giesel eine solche mit dem Lanthan zuschrieb.24

„Ich möchte an die chemischen Eigenschaften erinnern, die in meinen vorigen Pu- blikationen über die radioaktive Substanz beschrieben wurden; dass sie bei der Fällung der unlöslichen Sulfate z. b. des Bariumsulfates mitgerissen wird, dass sie mit Oxalsäure gemeinsam mit den Seltenen Erden gefällt wird und dass der akti- vere Teil, den ich bei meinen ersten Untersuchungen erhalten habe, das ganze Thorium enthielt, das mit seinem Spektrum von Demarcay beobachtet wurde. Ich habe übrigens festgestellt, »dass man nicht sicher sein kann, dass die Substanz das Thorium in allen seinen Reaktionen begleitet.» Im Ergebnis ist die Menge an Tho- rium, die man mit großer Schwierigkeit von den Seltenen Erden aus der Pech- blende trennen kann, außerordentlich gering, und, falls das Thorium sehr aktiv ist, ist es jedoch nicht verwunderlich, das ein sehr geringer Anteil des in den Seltenen Erden enthaltenden Actiniums nach Abtrennung des Actinium enthaltenden Tho- riums dessen Aktivität nicht sehr verringert.“

In seiner 1900 erschienen Publikation wies Debierne mit Recht darauf hin, dass er ein neues stark radioaktives thoriumähnliches Element in der Pechblende ent- deckt hat, da wegen des geringen Anteils am bekannten Thorium in der Pech-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 blende und dessen geringer spezifischen Aktivität, die Aktivität des neuen Ele- mentes nicht von einer Beimengung des bisher bekannten Thoriums selbst stam- men kann. In seiner dritten Publikation behauptete er nun, dass das von ihm entdeckte Element zwar die chemischen Reaktionen des Thorium zeigt, sich aber doch als ein Homologes des Lanthans erwiesen hat.

Giesels Unsicherheit

Giesel war sehr unsicher, ob sein Emanium mit Debiernes Actinium identisch sei, da er sein Emanium von Anfang an wegen dessen starker Emanationswirkung erkannt hat, die Debierne erst in seiner späteren Veröffentlichung beiläufig er- wähnte.25 Debierne hatte auch die Jahre über nicht auf Briefe von Giesel reagiert und auch von Marie und Pierre Curie erhielt Giesel auf eine ihnen zugeschickte Probe keine Antwort, woraufhin Giesel nach Paris fuhr, dort aber auf seine Fra- gen auch keine Antwort erhielt. Debierne wurde daraufhin sehr aktiv, trug in der Pariser Akademie der Wissenschaften über seine neue Arbeit vor, in der er be- hauptete, dass Giesels Emanium mit seinem 1899 beschriebenen Actinium iden- tisch sei, worauf sein Vortrag umgehend in deutscher Übersetzung in der Physikalischen Zeitschrift erschien.26 Darin hatte Debierne völlig grundlos be- hauptet, dass er gegenüber Giesel eine Klärung der Angelegenheit hätte durchset- zen müssen. Giesel hatte nicht ausgeschlossen, dass Debiernes Actinium mit seinem Emanium identisch sei, aber weil sich Debierne einem Kontakt stets wi- dersetzt hatte, musste Giesel darauf antworten:

„Die Gelegenheit zu vergleichenden Prüfungen habe ausschließlich ich gegeben und zwar durch meinen Besuch in Paris und durch die Überlassung von Emani- umproben an Forscher. Herr Debierne hat auf alle meine Publikationen, die sich auf einem Zeitraum von drei Jahren erstreckten, mit Stillschweigen geantwortet, wiewohl ich von Anfang immer auf eine mögliche Identität mit Actinium hinge- wiesen habe. Er ist auch meiner wiederholten Bitte um Überlassung einer kleinen Probe seines Präparates zwecks Vergleichs nicht nachgekommen, obgleich ich an Frau Curie eine Probe meines Präparates gesandt hatte. ... Ich konstatiere auch, dass ich in Paris nicht die alten Thor-Aktiniumpräparate sondern die neueren ... gesehen habe. ... Eine Schmälerung meiner vollständig unabhängig gemachten Entdeckung werde ich nicht zulassen“.27

Bei einem von Marie Curie 1904 organisierten Vergleich von Proben von Debi- erne und Giesel, den William Ramsay von seinen dort gerade tätigen Mitarbeitern Otto Hahn und Otto Sackur durchführen ließ, fanden sie, dass die Zerfallskon- stanten der entwickelten Emanation gleich sind.28 Daraufhin wurde Debierne als Entdecker akzeptiert und seiner Namensgebung der Vorzug gegeben. Otto Hahn

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 hielt diese Arbeit später für so wichtig, dass er dazu in seinen Lebenserinnerun- gen schrieb:

„Über die Bestimmung der Halbwertszeit beider Substanzen bewiesen wir, dass es sich um ein und dasselbe Element handelte. Auch der sogenannte aktive Nieder- schlag, der durch die Emanation entstand, bekräftigte unseren Befund. Prof. Gie- sel hatte seine Substanz für lanthanähnlich gehalten, während Professor Debierene sie für thoriumähnlich angegeben hatte. Es stellte sich ... heraus, dass Giesel, was die Chemie anbelangt, mit seiner Theorie recht hatte ... Das Actinium ist tatsäch- lich dem Lanthan ähnlicher als dem Thorium. Da aber Debieren den Begriff geprägt hatte, bevor Giesels Bericht über das Emanium erschienen war, blieb es bei der Bezeichnung Debiernes.“29

Giesel hatte bei der Behandlung mit Ammoniaklösung aus einer Lösung von Emanium noch einen α-strahlenden Bestandteil abscheiden können, der ständig in seinem Präparat nachgebildet wurde. Er nannte in seiner Veröffentlichung von 1905 diese Substanz Emanium-X.30 Es handelt sich, wie wir jetzt wissen, um das beim Zerfall von 227Ac gebildete 227Th, aus dem über das 223Ra die von Anfang an in seinen Proben gemessene Emanation des Actiniums 219Rn entsteht.

Als Boltwood 1908 festgestellt hat, dass selbst bei längerer Wartezeit aus gerei- nigtem Uran keine messbare Aktivität an 226Ra nachgebildet wurde, suchte er nach einem langlebigen radioaktiven Zwischenglied. Alois Kovarik schreibt in einer Biografie über Boltwood, dass dieser auf der Suche nach einer langlebigen Mutter von Radium prüfte, ob das von Debierne in zwei Publikationen beschrie- bene Actinium das Mutterelement von Radium sei. Er reinigte daraufhin ein nach Debiernes Beschreibung erhaltenes Präparat. Boltwood fand dabei, dass sich De- biernes Publikationen durch einen Mangel an experimentellen Details auszeich- neten. Da das von Debierne beschriebene Actinium dem Thorium ähnliche chemischen Eigenschaften hatte und er es nicht von diesem getrennt hatte, fällte Boltwood die radioaktive Substanz mit Thorium und fand, dass aus Debiernes „Actinium“ Radium gebildet wurde.31 Danach isolierte er auch das von Giesel beschriebene Emanium gemeinsam mit Seltenen Erden und reinigte es. Aus die- sem Actinium entstand kein Radium. So fand er in Debiernes ursprünglichen „Actinium“ ein neues radioaktives Element, dass er Ionium nannte.32 Bei diesem konnte er dann nach längerer Lagerzeit den Aufbau des Radiums nachweisen. Wir wissen jetzt, dass dieses Ionium das radioaktive Thoriumisotop 230Th ist, das auch die Hauptaktivität des von Debierne als Actinium bezeichneten Elementes lieferte und so fast von Debierne entdeckt wurde. Georg von Hevesy bestätigte 1913, dass das Actinium ein Homologes des Lanthans ist.33 Er hatte , mit der er im regen Briefwechsel stand, in einem Brief mitgeteilt, dass er die Dif-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 fusionskoeffizienten von Ac (227Ac)und AcX (223Ra) gemessen und daraus deren Wertigkeiten von 3 und 2 berechnet hat.34

Ein langer Weg zur Anerkennung von Giesel als Entdecker des Actiniums

Als Giesel Anfang Mai 1904 Debierne und die Familie Curie in Paris besuchte, waren Marie und Piere Curie wegen der Entdeckung des Radiums weltbekannte Wissenschaftler. Ihre Forschungsergebnisse waren in der Französischen Akade- mie der Wissenschaften vorgetragen worden, und sie hatten gemeinsam mit dem Entdecker der Radioaktivität Becquerel ein halbes Jahr zuvor den Nobelpreis er- halten. Debierne war seit 1899 Assistent bei Pierre Curie an der Sorbonne und wurde 1934 Direktor des Instituts du Radium an der Sorbonne.35 So fanden Zwei- fel an den Arbeitsergebnissen von Debierne damals wenig Gehör. In einer Bio- grafie von Susan Quinn über Marie Curie erfahren wir, dass Debierne als Mitarbeiter von Pierre Curie an der Sorbonne gearbeitet und auf Vorschlag von den Curies nach weiteren radioaktiven Elementen gesucht hatte. Er wurde ein enger Freund der Familie Curie und verkehrte sehr oft bei ihnen. Trotzdem Debi- erne in der ausführlichen Darstellung mehrfach erwähnt wird, wird in dem Buch nie behauptet, dass Debierne das Actinium entdeckt hätte.36

Giesel war ein hervorragender Chemiker, mit den Arbeiten auf dem Gebiet der Radioaktivität bestens vertraut und mit vielen Wissenschaftlern in engem briefli- chen Kontakt. Er war anfangs als einziger in der Lage, andere Forscher mit Radi- umpräparaten zu versorgen, wovon z.B. 1903 William Ramsay und jene 30 mg erhielten, mit denen sie die Bildung von Helium aus Radium nachweisen konnten.37 Trotzdem hatte seine Stellung als Chemiker in einer Fa- brik in der wissenschaftlichen Gesellschaft nicht das Gewicht wie eine Professur an einer Universität. Otto Hahn formulierte in seinen Lebenserinnerungen:

„Da aber Debierne den Begriff ‚Actinium‘ geprägt hatte, bevor Giesels Bericht über das Emanium erschienen war, blieb es bei der Bezeichnung Debiernes.“38

Damit nannte Hahn Debierne als Namensgeber des Actiniums, wer es seiner Meinung nach entdeckt hatte, ließ er offen. Es besteht kein Zweifel, dass das ur- sprünglich von Debierne aus der Pechblende abgetrennte radioaktive Präparat wie Boltwood bereits 1908 festgestellt hat, ein Nuklidgemisch war, das hauptsächlich 230Th enthielt und das Actinium, was wir jetzt als Homologes des Lanthans mit der Kernladungszahl 89 kennen, von Friedrich Giesel entdeckt wurde. In neuerer Zeit haben auch Harold W. Kirby39 und Jean-Paul Adloff40 in Publikationen auf

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Widersprüche in den von Debierne verfassten Publikationen von 1899, 1900 und 1904 hingewiesen.

Die Bedeutung des Actiniums

Das 227Ac mit einer Halbwertszeit von 22 Jahren hat im Vergleich zum 226Ra mit einer Halbwertszeit von 1640 Jahren eine nahezu 80fache spezifische Aktivität. Man dachte deshalb daran, in einer aus einem α-Strahler und Beryllium beste- henden Neutronenquelle das Radium durch Actinium zu ersetzen. Da es keine andere Verwendung für Actinium gab, wurde dieses nie industriell aus den Uranerzrückständen abgetrennt, sondern im Kernreaktor aus 226Ra durch Neutro- neneinfang erzeugt. Heute verwendet man in den Neutronenquellen andere Nu- klide und für das 227Ac ergeben sich keine wesentlichen Anwendungen.

Da Actinium ein Zerfallsprodukt des selteneren Uranisotops 235U und die Aktivi- täten der Zerfallsglieder dieser Reihe um den Faktor 25 geringer sind als die aus der vom 238U begründeten Reihe, wird es in der Radioökologie etwas vernachläs- sigt. Anderseits gibt es in den natürlichen und technischen Prozessen Bedingun- gen, wo das Ac bevorzugt freigesetzt wird, weil es im schwach sauren Milieu löslich ist und nicht gemeinsam mit Bariumsulfat ausgefällt wird. Ein weiterer Grund ist die chemische Ähnlichkeit mit dem bei der Kernenergiegewinnung ent- stehenden Americium, das wegen seiner langen Halbwertszeit und entsprechen- der chemischen Mobilisierbarkeit eine wichtige Rolle in der Untersuchung von möglichen Endlagern spielt. So können Beobachtungen über das Verhalten von Actinium in der Natur für die Untersuchungen über das Americium von Nutzen sein.

Summary: The discovery of actinium

Friedrich Giesel discovered actinium in 1902 after coprecipitation with lantha- num. He had suggested to name it emanium, because of its emanating properties. But for a long time only Andre-Louis Debierne was accepted as discoverer of actinium, because in 1904 he has explained, that the radioactive substance found by him in 1900, with chemical properties of thorium, named actinium, and main- ly consisting of the thorium isotope 230Th, has been identical with the emanium

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 from Giesel. The discoveries of Giesel and Debierne are explained as well as the steps on the way of acceptance of Giesel as discoverer of actinium.

1 Charles C. Fry, Michael Thoennessen, „Discovey of the actinium, thorium, protactinium and uranium isotopes“, Rep. ArXiv:1203.1194v1[nucl-ex],06 03.2012. (gelesen 27.07.2013). 2 Jean-Paul Adloff, 100 Years after the discovery of Radiochemistry (München 1996), S. 20: „In fact Debiernes assertion was false. To our knowledge it appears that his substance was a mixture of the two thorium isotopes ionium (230Th) and radioactinium (227Th) with little of, any, of the now known actinium. The error was quite understandable, however owing to the extreme complexity of the mixture of the natural radionuclides. The real discoverer of actinium was probably Giesel.“ 3 André-Louis Debierne, „Sur un nouvelle matière radio-active“, Comptes rendus heptoma- daires des séances de l´Académie des sciences, 129 (1899) S. 593-595. 4 Rudolf G.A. Fricke, Friedrich Oskar Giesel – Pionier der Radioaktivitätsforschung, Opfer seiner Wissenschaft (Wolfenbüttel 2001). 5 Marie Sklodowska Curie, „Rayons émis par les composes de l´uranium et du thorium“, Comptes rendus heptomadaires des séances de l´Académie des sciences, 126 (1898), S. 1101-1103. 6 Jean Pierre Adloff, „A short history of polonium and radium“, Chemistry International, 33 (2011), Nr.1, S. 20-27. 7 Pierre Curie, Marie Curie, „Sur une nouvelle substance fortement radio-active, contenue dans la pechblende“, Comptes rendus heptomadaires des séances de l´Académie des sci- ences, 127 (1898), S. 1215-1217. 8 Rudolf G. A. Fricke, Friedrich Oskar Giesel, S. 86 9 Friedrich Giesel, „Einiges über das Verhalten von radioactiven Baryts und über Polonium“, Wiedemanns Annalen der Physik und Chemie, 69 (1899) S. 91-94. – Friedrich Giesel, „Über Radium und Polonium“, Physikalische Zeitschrift, 1 (1899), S. 16-19. 10 Friedrich Giesel, „Ueber die Ablenkbarkeit der Becquerelstrahlen im magnetischen Felde“, Wiedemanns Annalen der Physik und Chemie, 69 (1899) S. 834-836. 11 Friedrich Giesel, „Ueber radioactives Baryum und Polonium“, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, 33 (1900), S. 1665-1668. 12 André-Louis Debierne, „Sur un nouvelle matière“, wie Anm. 3: «La majeure partie du pro- duit précipitant par l´ammoniaque était compose d´oxyde de fer et d´alumine; mais, à côté de ces cops j´ai reconnu la présence d´un assez grand nombre d autres qui s´y trouvaient en proportions très faibles. C´est ainsi que j´ai pu séparer de petites quantités de zinc, de man- ganèse, de chrome, de vanadium, d uranium, de titane, de niobium, de tantale; Les terres ra- res etaientent également représentes, et j´ai pu caractériser le lanthane, le didyme, le cérium e les terres yttriques. … J`ainsi constaté que la portion renfermant le titane et les corps ana-

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loques montrait la radio-activité a une degré très intense, et après une traitement assez com- plique, sur la nature duquel je reviendrai plus tard, j´ai obtenu matière dont les solutions pretentaine les principales propriétés analytiques tu titane, mais qui mitait des rayons ex- trêmement actifs.» 13 André-Louis Debierne, „Sur un nouvelle matière radio-actif l'actinium", Comptes rendus heptomadaires des séances de l´Académie des sciences, 130 (1900), S. 906–908. – «Depuis cette Communication, j´ai continué mes recherches en vue de l´obtention de ce corps et j´ai constatè que le titane ne l´entraînait pas dans tout ses réactions. … En dehors des réactions communes a tous les éléments du group du fer (précipitation par l´ammoniaque, le sulfhy- drique de l´ammoniaque, la soude, le carbonate de soude, etc.), les procèdes suivants paraissant être les mil leurs pour concentrer la nouvelle matière: … On sait que les compo- sés du thorium sont légèrement radio-actifs; on voit de plus, d´après ce qui précède, que le actinium semple être un élément voisin du thorium, on peut donc supposer que la propriété radio-active observée dans les composès du thorium n´appartient pas a cet élément, mais est du a une substance étrangère. De récentes expériences sur le radio-activité du thorium, fai- tes par M. Rutherford, peuvent également conduire à la même supposition. Je me propose donc de rechercher s´il est possible, en utilisant les réactions décrites plus haut, d priver les composes du thorium de la propriété radio-active, ou si l´on peut extraire de ces composés une substance identique a l´actinium extrait de la pechblende.» 14 André-Louis Debierne, „Sur un nouvelle matière radio-actif l'actinium". Weiterer Ab- schnitt: »On sait que les composes du thorium sont légèrement radio-actifs; on voit de plus, d´après ce qui predede, que l´actinium semple être un élément voisin du thorium, on peut donc supposer que la propriété radio-active observée dans les composes du thorium n´appartient pas a cet élément, mais est dû à une substance étrangère. De récentes ex- périences sur la radio-activite du thorium, faites par M. Rutherford (Philosophical Magazi- ne), peuvent également conduire à la même supposition. Je me propose donc de rechercher s´il est possible, en utilisant les réactions décrites plus haut, de priver les composes du tho- rium de la propriété radio-active, ou si l´ on peut extraire de ces composes une substance identique a l´actinium extrait de la pechblende.» 15 André-Louis Debierne, „Sur du baryum radio-actif artificiel“, Comptes rendus heptoma- daires des séances de l´Académie des sciences, 131(1900), S. 333-335. 16 Andre-Louis Debierne, „Sur la radioactivité induite provoque par les sels d`actinium“, Comptes rendus heptomadaires des séances de l´Académie des sciences, 136 (1903), S. 446-449. 17 Andre-Louis Debierne, „Sur la production de la radioactivité induite par l´actinium“, Comptes rendus heptomadaires des séances de l´Académie des sciences, 136 (1903), S. 671-673. 18 Karl Andreas Hofmann, Eduard Strauss, „Radioactives Blei und radioactive seltene Erden“, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, 35 (1902), S. 3126-3131. 19 Friedrich Giesel, „Über radioactive Stoffe“, Berichte der Deutschen Chemischen Gesell- schaft, 33 (1900), S. 3569-3571.

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20 Friedrich Giesel, „Über radioactive Stoffe“, Berichte der Deutschen Chemischen Gesell- schaft, 34 (1901), S. 3772. 21 Friedrich Giesel, „Über Radium und radioaktive Stoffe“, Berichte der Deutschen Chemi- schen Gesellschaft, 35 (1902), S. 3608-3611, hier S. 3611. 22 Friedrich Giesel, „Über den Emanationskörper aus Pechblende und über Radium“, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft 36 (1903), S. 342-347. 23 Friedrich Giesel, „Über den Emanationskörper (Emanium)“, Berichte der Deutschen Che- mischen Gesellschaft, 37 (1904), S. 1696. 24 André-Louis Debierne, „Sur l´actinium“, Comptes rendus heptomadaires des séances de l´Académie des sciences, 139 (1904), S. 538-540. – Auszug: «Parmi les propriétés indiques dans mes publications sur cette substance radioactive, je rappellerai seulement qu´elle est entraîne dans la précipitation des sulfates insolubles, en particulier dans celle du sulfate de baryte; qu´elle precipite par l´ acide oxalique avec les terres rares et que la portion la plus active que j´ai obtenue au moment de mes premieres recherches containait sortout du thori- um , characterise´ par son spectre observe par Demarcay. J ajoutaient dalleurs» que l´on ne pouvait» assurer que cette substance suivrait le thorium dans toutes ses réactions. En effet, la quantité de thorium que l´on peut, avec beaucoup de difficulté, extraire des terres rares de la pechblende, est extrêmement petite, et, si ce thorium est très actif, il ne contient cepen- dant qu´une fraction assez faible de la totalité de l ´actinium contenu dans ces terres rares, car, après l´élimination du thorium actinifére, l´activité de celles – ci n´a pas beaucoup di- minue.» 25 André-Louis Debierne, „Sur l ´actinium“, S. 538. 26 André-Louis Debierne, „Über das Aktinium“, Physikalische Zeitschrift, 5, Nr. 22 (1904), S. 732-34. 27 Friedrich Giesel, „Über Aktinium-Emanatium (Erwiderung an Hern A. Debierne)“ Physika- lische Zeitschrift, 5, Nr. 25 (1904), S. 822-823. 28 Otto Hahn, Otto Sackur, „Die Zerfallskonstanten der Emanationen des Emaniums und Acti- niums“, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, 18 (1905), S. 1943-946. 29 Otto Hahn, Mein Leben (München 1968), S. 60-61. 30 Friedrich Giesel, „Über Emanium“, Berichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft, 38 (1905), S. 775-778, hier S. 777. 31 Alois F. Kovarik, Bertram Bolden Boltwood, 1870 – 1927, National Academy of Sciences of the United Staates of America, Biographical Memoirs, Vol. XIV, 3rd Memoir (1929). 32 Bertram Boltwood, “Ionium, a new radio-active element”, American Journal of Science, 4, 25 (1908), S. 365-381. 33 Georg von Hevesy, „Diffusion und Valenz der Radiumelemente“, Phys. Zeitschrift, 14 (1913), S. 1202. 34 Georg von Hevesy an Lise Meitner, 17.8.1913, Niels Bohr Archiv, George Hevesy Scien- tific Correspondence, 1910-1966.

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35 Rudolf Fricke, Friedrich Oskar Giesel, S. 116. 36 Susan Quinn, Marie Curie – eine Biographie (Frankfurt am Main 1999), S. 183-484. 37 Klaus Hoffmann, Otto Hahn - Stationen aus dem Leben eines Naturforschers (Berlin 1978), S. 57. 38 Otto Hahn, Vom Radiothor zur Uranspaltung: eine wissenschaftliche Selbstbiographie (Braunschweig 1962), S. 15. 39 Harold W. Kirby, „The Discovery of Actinium“, Isis, 62, 3 (1971), S. 290–308. 40 Jean-Paul Adloff, „The centenary of a controversial discovery: actinium“, Radiochimica Acta, 88 (2000), S. 123-125.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Die Chemische Gesellschaft der DDR: Teil 1 – Die Gründungsgeschichte

Dipl.-Ing. Renate Kießling, Eichkopfallee 33, 65835 Liederbach

Die Geschichte der Deutschen Chemischen Gesellschaft ist gut erforscht.1 Auch zur Geschichte der GDCh gibt es Arbeiten.2 Im Gegensatz dazu ist über die Ent- wicklung der Chemischen Gesellschaft der DDR, die immerhin in diesem Jahr genau vor 60 Jahren gegründet wurde und etwas über 35 Jahre existiert hat, bis- her so gut wie nichts publiziert.

Die Situation nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und die politischen Voraussetzungen für die Neugründung wissenschaftlicher Gesellschaften

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges lag ein Großteil Europas, so auch Deutschlands, in Trümmern. Neben der Versorgung der Bevölkerung, welche versucht wurde zu sichern, hatten sich die vier Besatzungsmächte Groß- britannien, Sowjetunion, USA und Frankreich bei der Nachkriegsordnung Deutschlands anfangs auf fünf Ziele geeinigt: Demontage, Demilitarisierung, Denazifizierung, Demokratisierung und Dezentralisierung („die fünf D's“). Im- mense materielle Schäden und eine zerstörte Infrastruktur sowie ein nur noch zum Teil bestehendes Verkehrswesen erschwerten den Neubeginn.

Auch die deutsche Intelligenz stand vor der historischen Notwendigkeit, an der Gestaltung eines neuen demokratischen Lebens mitzuwirken. Es galt in besonde- rem Maße, den durch Vernachlässigung der wissenschaftlichen Arbeit und die jahrelange Isolierung entstandenen Rückstand zur internationalen Entwicklung der Wissenschaftsgebiete nicht weiter anwachsen zu lassen und dieses, obwohl hervorragende deutsche Wissenschaftler mehr oder weniger freiwillig dazu genö- tigt wurden, in die USA oder in die Sowjetunion zu gehen.

Was die Deutsche Chemische Gesellschaft (DChG), gegründet 1867, und den Verein Deutscher Chemiker VDCh), gegründet 1896, betrafen, so hatten diese praktisch aufgehört zu existieren. Die politische Situation nach dem Zweiten

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Weltkrieg erlaubte es weder der DChG noch der VDCh, einfach weitergeführt zu werden.

Dafür gab es drei Gründe: 1) Es waren die Satzungen beider Organisationen im „dritten Reich“ derart ange- passt worden, dass sie demokratischen Grundsätzen widersprachen und anti- semitische Klauseln enthielten. 2) Es war ein Großteil der Führungspersonen NSDAP Mitglieder gewesen, die bis zum Abschluß des Entnazifizierungsverfahrens alle Ämter verloren hatten. 3) Es galten in jeder Besatzungszone eigene, unterschiedliche Bestimmungen zur Wiederaufnahme der Vereinstätigkeit. Die DChG und der Verein Deutscher Chemiker (VDCh) konnten aufgrund der Zonenteilung jedoch auch nicht einfach aufgelöst werden, weil es dazu eines ge- samtdeutschen Auflösungsprozesses bedurft hätte.

Teilgründungen in den westlichen Besatzungszonen

Der Anstoß zur Gründung einer neuen Gesellschaft ging aus der Geschäftsstelle des VDCh hervor, welche nach der Zerstörung des Frankfurter Sitzes 1944 nach Grünberg in Hessen verlegt wurde. Dort konnten die Mitgliederkartei und we- sentliche Vereinsunterlagen über das Kriegsende hinweg gerettet werden. Bei der DChG sah die Lage viel schlechter aus: die meisten Unterlagen wurden mit der Bombardierung des Hofmann-Hauses in Berlin zerstört, außerdem war die DChG nicht wie der VDCh regional in Bezirksgruppen gegliedert, so dass eine Kontak- tierung der Mitglieder äußerst schwierig war.

Entscheidend für die Wiederaufnahme der Vereinstätigkeit wurde eine Chemiker- Tagung im September 1946 in Göttingen, wo u.a. über Möglichkeiten zur Neu- gründung einer wissenschaftlichen Vereinigung beraten wurde. Ein Nebeneinan- der von DChG und VDCh hatte unter den Gegebenheiten keinen Sinn. So wurde der Name "Gesellschaft Deutscher Chemiker" geboren. Am 20.9.1946 erfolgte die erste Teilgründung der „Gesellschaft Deutscher Chemiker in der Britischen Zone“ (GDChidbZ). Vorsitzender wurde Karl Ziegler, die Geschäftsführung übernahm Rudolf Wolf.

Am 22.1.1947 kam es zur Gründung der „Gesellschaft Deutscher Chemiker in Hessen“. Vorsitzender wurde Hans Popp, die Geschäftsführung übernahm auch hier Rudolf Wolf.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Am 16.4.1947 wurde eine weitere Teilgründung in Nord-Württemberg/ Nord- Baden vorgenommen und wahrscheinlich kam es 1948 auch zur Gründung in Südbaden, doch darüber fehlen genauere Quellen.

Nach der Bildung der Bundesrepublik Deutschland konnte am 20.9.1949 in Mün- chen schließlich die Vereinigung zu einer gesamtwestdeutschen GDCh erfolgen. Vorsitzender wurde Karl Ziegler.

Situation in der sowjetischen Besatzungszone

Hier regelte die Sowjetische Militäradministration SMAD den Beginn des De- mokratisierungsprozesses. Sie ließ sich auch im bildungspolitischen Bereich kon- sequent von den völkerrechtlich verbindlichen Beschlüssen der Antihitlerkoaliti- on leiten. Sie leistete durch die Wahrnehmung ihrer zeitweiligen obersten Regie- rungsgewalt politisch-juristische Hilfe, indem sie unumgänglichen Rechtsnormen für die demokratische Erneuerung der Hochschulen, Akademien und wissen- schaftlichen Einrichtungen in Form von "Befehlen" erließ.

Der SMAD-Befehl Nr. 50 „Vorbereitung der Hochschulen auf den Beginn des Unterrichts" (erlassen am 4.9.1945) regelte die Neueröffnung von Universitäten und Hochschulen. Die Umsetzung oblag der Deutschen Zentralverwaltung für Volksbildung, an deren Spitze Paul Wandel stand. Zu deren Hauptabteilungslei- tern gehörten damals z.B. der Mediziner Prof. Theodor Brugsch und der Physiker Prof. Robert Rompe.

Am 15.10.1945 wurde die Universität Jena als erste wiedereröffnet. Es folgten: am 29.1.1946 Universität Berlin am 1.2.1946 Universität Halle am 5.2.1946 Universität Leipzig am 8.2.1946 Universität Freiberg am 15.2.1946 Universität Greifswald am 25.2.1946 Universität Rostock am 18.8.1946 Technische Hochschule Dresden am 24.8.1946 Hochschule für Baukunst und Bildende Künste Weimar.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Mit dem SMAD-Befehl Nr. 187 vom 1. Juli 1946 wurde die Deutsche Akademie der Wissenschaften als Nachfolgeorganisation der 1700 von Gottfried Wilhelm Leibniz gegründeten Kurfürstlich Brandenburgischen Sozietät der Wissenschaf- ten zu Berlin wieder eröffnet. Die Akademie sollte künftig als "höchste wissen- schaftliche Institution" Forschungsinstitute für bestimmte Forschungsaufgaben gründen und erhalten.

Mit dem SMAD-Befehl Nr. 309 vom 18. Oktober 1946 wurden der Akademie erste Institute und Einrichtungen angegliedert. Am 27. Juni 1947 übergab die SMAD der Akademie das Medizinisch-Biologische Institut in Berlin-Buch, zu dem auch ehemalige Kaiser-Wilhelm-Institute gehörten. Ende 1949 unterhielt die Akademie neben den Kommissionen und Unternehmungen bereits 23 Institute und 4 Laboratorien.

In dieser Zeit kam auch dem SMAD-Befehl Nr. 124 richtungsweisende Bedeu- tung zu. Er regelte die “Organisation der deutschen wissenschaftlichen medizini- schen Gesellschaften.” Den Befehl beigegeben war ein für die Tätigkeiten der Gesellschaften verbindliches Rahmenstatut. Diesen Befehl nahmen die Chemiker zum Anlaß, sich für die Gründung der Chemischen Gesellschaft einzusetzen.

Gründung einer Chemischen Gesellschaft in der sowjetischen Besatzungszo- ne

Im November 1946 lud Prof. Erich Thilo seine Chemikerkollegen zu einer ersten Chemiedozententagung in der sowjetischen Besatzungszone ein. Diese fand dann im Mai 1947 statt, und dort wurde beschlossen, möglichst schnell wieder eine Chemische Gesellschaft ins Leben zu rufen.

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Abb. 1: Einladung zur Chemiedozententagung 1947 (Quelle: Privatunterlagen Prof. Otto Weinhaus)

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Am 17. Dezember 1947 wandte sich Professor Erich Thilo, kommissarischer Di- rektor des Chemischen Instituts der Universität Berlin, mit einem “Rundschrei- ben Nr. 1 – betreffend die Gründung einer wissenschaftlichen Chemischen Ge- sellschaft im sowjetisch-besetzten Sektor und der sowjetisch-besetzten Zone Deutschland”3 an einige, als mögliche Vorstandsmitglieder in Aussicht ge- nommene Chemikerkollegen. • Vorsitzender: Prof. Erich Thilo (1898-1977, anorg. Chemie), Berlin • Stellv. des Vorsitzenden: Prof. Arthur Lüttringhaus (1906-1992, org. Che- mie), Halle . lehnte das Amt ab • Schriftführer: Prof. Franz Hein (1892-1972, anorg. Chemie), Jena . lehnte das Amt ab • Stellv. des Schriftführers: Prof. Günther Rienäcker (1904-1989, anorg. Chemie), Rostock . Zustimmung am 9.1.1948 • Schatzmeister: Prof. Otto Liebknecht (1876-1949, org. Chemie), Berlin . Zustimmung am 9.1.1948 • Bibliothekar: Prof. F. Just, Berlin • Beisitzer: Prof. Karl Friedrich Bonhoeffer (1899-1957, physikalische Che- mie), Berlin . Zustimmung am 22.12.1947 • Beisitzer: Prof. Karl Lohmann (1898-1978, Biochemie), Berlin . Zustimmung am 20.12.1947 • Beisitzer: Prof. Arthur Simon (1893-1962, anorg. Chemie), Dresden . Zustimmung am 12.1.1948

Am 22.12.1947 schrieb Prof. Lüttringhaus:

" …Da ich es für wichtig erachte, dass an der Spitze der Gesellschaft nach Mög- lichkeit völlig unbelastete Herren stehen, wäre es mir lieb, wenn ich aus der Liste abgesetzt würde. Ich bin zwar nicht Mitglied der NSDAP gewesen, habe aber kurzzeitig unter nachfolgendem Austritt z.B. einmal der SA angehört…."

Er schlägt vor, Prof. Rienäcker als Stellv. Vorsitzenden und Prof. Lohmann als Stellv. Schriftführer einzusetzen.4

Am 9.1.1948 antwortete Prof. Hein:

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 "…Bitte sehen Sie davon ab, mich als Schriftführer zu erküren, ich muss das in al- ler Bestimmtheit ablehnen, da ich die damit verbundenen Verpflichtungen nicht übernehmen kann..."5

Er nennt als Gründe den sehr schwierigen Aufbau der chemischen Institute in Jena und seine Schwerbehinderung und schlägt als Schriftführer Prof. Simon vor, ggf. wäre er bereit, sich als Beisitzer aufstellen zu lassen.

Dem 1. Rundschreiben angefügt war ein Entwurf von E. Thilo für ein Statut der "deutschen wissenschaftlichen Chemischen Gesellschaft". Zu diesem gingen auch Änderungsvorschläge ein, z.B. sollten auch Studenten der Chemie aufgenommen werden können.

In Auswertung der Antwortschreiben verfaßte Thilo am 26. Januar 1948 ein "Rundschreiben Nr. 2", in welchem er die vorgesehenen Vorstandsmitglieder neu benannte:6

• Vorsitzender: Prof. Erich Thilo, Berlin • Stellv. des Vorsitzenden: Prof. Günther Rienäcker, Rostock • Schriftführer: Prof. Heinz Chomse, Berlin . Zustimmung am 30.1.1948 • Stellv. des Schriftführers: Prof. Ernst Kordes, Jena . Zustimmung am 30.1.1948 • Schatzmeister: Prof. F. Just, Berlin • Bibliothekar: Prof. Otto Liebknecht, Berlin • Beisitzer: Prof. Karl Friedrich Bonhoeffer, Berlin • Beisitzer: Prof. Karl Lohmann, Berlin • Beisitzer: Prof. Arthur Simon, Dresden.

Diese Rundschreiben wurden auch an die deutsche Verwaltung für Volksbildung sowie an Prof. Robert Rompe (II. Physikalisches Institut der Humboldt- Universität zu Berlin) und Prof. Hans Stille (Geologisches Institut der Humboldt- Universität zu Berlin) geschickt, da sowohl die Physiker als auch die Geologen die Gründung einer wissenschaftlichen Gesellschaft auf ihrem Fachgebiet voran- trieben. Die Physikalische Gesellschaft wurde am 26.9.1952 gegründet, die Geo- logische Gesellschaft am 7.5.1954.

Am 23. Februar 1948 fand im Chemischen Institut der Universität in Berlin eine Vorbesprechung statt, an der alle vorgesehenen Vorstandsmitglieder teilnahmen.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Das Protokoll7 zeichnete u.a. folgendes auf:

"Sodann wurde an Hand des vorgeschlagenen Statuts der "Deutschen Chemischen Gesellschaft" und unter Einbeziehung, der von den einzelnen Herren bereits schriftlich eingereichten Abänderungsvorschlägen, das Statut paragraphenweise durchberaten. Die Diskussion über die Statuten und die während der Sitzung ein- gebrachten Abänderungsvorschläge führten zu einer einhelligen Übereinstim- mung, so daß der Text der Neufassung festgelegt wurde mit der Ermächtigung zu kleinen redaktionellen Änderungen. Das in der Sitzung beschlossene Statut wird nochmals allen Vorstandsmitgliedern zugesandt zur endgültigen Zustimmung. Im Anschluß daran soll der Antrag auf Zulassung gestellt werden."

Diese Neufassung wurde mit dem "Rundschreiben Nr. 3" verschickt.8

Zu diesem Rundschreiben erklärten folgende Herren ihre Zustimmung und Un- terstützung: - am 6.3.1948 Prof. Kordes - am 15.3.1948 Prof. Just, Berlin - am 16.3.1948 Prof. Chomse - am 17.3.1948 Prof. Bonhoeffer - am 19.3.1948 Prof. Simon - am 19.3.1948 Prof. Lohmann, Berlin Prof. Thilo richtete am 24. März 1948 an die Zentralkommendatur der sowjeti- schen Militäradministration in der sowjetisch-besetzten Zone Deutschlands der Antrag zur Gründung der Deutschen Chemischen Gesellschaft.

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Abb. 2: Antrag zur Gründung der Chemischen Gesellschaft

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Kopien des Antrages gingen an Herrn Kerger, Deutsche Verwaltung für Volks- bildung, und an Prof. Rompe. Ein weiterer diesbezüglicher Schriftwechsel oder Zusagen konnten bisher nicht gefunden werden.

Erst nach Gründung der DDR am 7.10.1949 richtete Prof. Thilo am 18.11.1949 das "Rundschreiben Nr. 4" an seine Kollegen.9 Dieses beginnt mit dem Satz

"Nachdem alle Verwaltungsgeschäfte im ostdeutschen Raum an die provisorische Regierung der Deutschen Demokratischen Republik übergegangen sind, besteht, wie mir Herr Prof. Rompe mitteilt, nun die Möglichkeit, mit Aussicht auf Erfolg erneut die Genehmigung zur Gründung einer "Deutschen Chemischen Gesell- schaft" beim Herrn Minister für Volksbildung zu beantragen. Der Antrag muß von drei Personen unterschrieben sein..."

Da dieser Antrag möglichst schnell gestellt werden sollte, hatte Prof. Thilo die notwendigen Unterschriften bereits im Vorfeld von den Herren Prof. Lohmann und Prof. Chomse eingeholt und den Antrag gestellt.

Er bittet mit dem "Rundschreiben Nr. 6"10 seine Kollegen um nachträgliche Ge- nehmigung seines “Antrages auf Genehmigung, die seit dem Jahre 1945 suspen- dierte Deutsche Chemische Gesellschaft wieder ins Leben rufen zu dürfen”, den er am 15.11.1949 an den zuständigen Minister für Volksbildung, Paul Wandel, gerichtet hatte.

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Abb. 3: Antrag an den Minister für Volksbildung, Paul Wandel.

Dem Antrag liegt der Entwurf des Statuts bei.

Im Oktober 1951 fand in Leipzig der 1. Chemikerkongress auf dem Gebiet der DDR statt. Die Federführung hatten das Staatssekretariat für das Hochschulwesen (Gerhard Harig, Hans Joachim Bittrich), die Deutsche Wirtschaftskommission, Hauptabteilung Chemie (Heinrich Bertsch) und die Ordinariate für Chemie der Universität Leipzig (Wilhelm Treibs, Rudolf Wolf, Eberhard Leibnitz) inne. Et- wa 1000 Chemiker aus der Industrie und den Forschungs- und Lehreinrichtungen nahmen teil.

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Seit diesem Kongreß entwickelten insbesondere Prof. Thilo und Prof. Bertsch vielfältigste Initiativen bei den zuständigen Stellen, um zu einer Fortführung der Arbeiten und zur Gründung einer wissenschaftlichen Chemikerorganisation zu gelangen. Zunächst mußte jedoch die Auffassung, daß die Kammer der Technik auch die Aufgaben der wissenschaftlichen Gesellschaften mit übernehmen könne, überwunden werden. Aber dank des damaligen Präsidenten der Kammer der Technik, des Chemikers Prof. Hans Heinrich Franck, kam es sehr bald zu einer sinnvollen Abgrenzung der Aufgabenbereiche.

Die Kammer der Technik (KDT) wurde als gesellschaftliche Organisation der Ingenieure, Techniker und Ökonomen im Juli 1946 zunächst unter dem Dach der Gewerkschaft gegründet. 1955 erfolgte die Umwandlung zu einer eigen- ständigen Berufsorganisation der Techniker und Ingenieure in der DDR, deren Aufgabe vor allem in der Hebung des technischen Bildungsniveaus sowie in der Mitwirkung an Gesetzgebungsverfahren auf technischem Gebiet, an Normungen und Rationalisierungen bestand.

1951 wurde die erste Hochschulreform in der DDR durchgeführt, alle Fachgebie- te stellten neue Rahmenstudienpläne auf. Thilo war Vorsitzender der Kommissi- on für Chemie, der u.a. Simon, Treibs, Rienäcker und Bertsch angehörten. Bei den Beratungen im Haus des Staatssekretariates wurde die Zustimmung vom da- maligen Abteilungsleiter für das Hochschulwesen, Prof. Harig, zur Gründung einer Chemischen Gesellschaft eingeholt.

Auf einer Besprechung am 10.2.1952 (Prof. Thilo, Prof. Maximilian Pflücke, Frau Anneliese Kaiser)11 werden folgende Aktivitäten und Maßnahmen vorge- schlagen: • "Berichte der chemischen Gesellschaft in der DDR" herauszugeben, diese sollen nur Originalarbeiten aufnehmen und an die Mitglieder der Gesell- schaft verbilligt abgegeben werden, • Herausgabe gedruckter Mitteilungsblätter, • die Bibliothek des Chemischen Zentralblattes allen Mitgliedern kostenlos zur Verfügung zu stellen, • die Räume der Gesellschaft in die unmittelbare Nähe des Zentralblattes zu verlegen. Am 15.11.1952 ergeht durch das Staatssekretariat für Hochschulwesen eine Ein- ladung an Prof. Thilo zu einer Besprechung über die Gründung einer Chemischen Gesellschaft.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Diese Besprechung fand am 24.1.1953 statt.12 Es wurde beschlossen, ein Initia- tivkomitee zu bilden, dem 12 Chemiker angehörten. Das Komitee arbeitete das Statut aus, schlug den Namen “Chemische Gesellschaft in der DDR” vor und be- nannte mögliche Mitglieder für den ersten Vorstand. • Prof. Thilo, Berlin • Prof. Simon, Dresden • Prof. Franck, Berlin • Prof. Treibs, Leipzig • Prof. Bertsch, Berlin • Dr. Walter Heyder, Bitterfeld • Dr. Wolfgang Schirmer, Piesteritz Als Sekretär (entspricht einem Geschäftsführer) wurde Frau Anneliese Kaiser (später nach Heirat Dr. Greiner) vorgeschlagen.

Über die Unterbringung der Chemischen Gesellschaft konnte keine Einigung er- zielt werden, vorerst sollte der Sekretär in den Räumen des 1. Chemischen Insti- tuts der Humboldt-Universität bleiben. Seine Aufgaben wurden wie folgt formu- liert: • Aufstellung und Einreichung des Haushaltsplanes der Gesellschaft, • Verhandlungen wegen geeigneter Räume, • Vorbereitung der Tagung. In Unterlagen des Bundesarchivs konnte eine "Beschlußvorlage zur Gründung der chemischen Gesellschaft" des Zentralkomitees der SED vom 2.2.1953 gefun- den werden.13 In dieser wird die Gründung der Chemischen Gesellschaft geneh- migt. Interessant sind darin u.a. folgende Sätze:

• "Das Staatssekretariat für Hochschulwesen übernimmt in Zusammenarbeit mit dem Zentralamt für Forschung und Technik von Regierungsseite An- leitung und Kontrolle." • "Die Gründung der Chemischen Gesellschaft geht ohne Verbindung mit den entsprechenden westdeutschen Gesellschaften vor sich. Spätere wissen- schaftliche, nicht organisatorische Zusammenarbeit wird nur auf gleichbe- rechtigter Basis durchgeführt."

In einer weiteren Sitzung des Initiativkomitees am 30.4.1953 wurden die o.g. Wissenschaftler für den Vorstand bestätigt.

Des weiteren wurde angeregt, in der Woche vom 19.-25. April 1953 eine Arbeits- tagung in Leipzig abzuhalten, veranstaltet vom Staatssekretariat für Chemie, Steine und Erden, der Deutschen Akademie der Wissenschaften, dem Staats-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 sekretariat für Hochschulwesen und der Kammer der Technik. Das Hauptthema der Tagung soll lauten "Verwendung elektrischer Energien in der chemischen Industrie".

Abb. 4: Einladung zur Arbeitsbesprechung am 11.5.1953 (Quelle: Privatunterlagen Prof. Otto Wienhaus)

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Am 11. Mai 1953 tagte im Physikalisch-Chemischen Institut der Universität Leipzig die Gründungsversammlung der Chemischen Gesellschaft in der DDR. Nach der vorliegenden Liste waren 90 Chemiker anwesend. Als Mitglieder des 1. Vorstandes wurden gewählt:

• Prof. Dr. Heinrich Bertsch, Staatssekretariat für Chemie • Prof. Dr. Hans Heinrich Franck, Institut für Silikatchemie der Humboldt- Universität Berlin und Präsident der Kammer der Technik • Dr. Walter Heyder, Hauptdirektor des Elektrochemischen Kombinates Bit- terfeld • Dr. Wolfgang Schirmer, Hauptdirektor der Leuna-Werke • Prof. Dr. Arthur Simon, Direktor des 1. Chemischen Institutes der TH Dresden • Prof. Dr. Erich Thilo, Direktor des 1. Chemischen Institutes der Humboldt- Universität Berlin • Prof. Dr. Wilhelm Treibs, Direktor des Organischen-Chemischen Instituts der Universität Leipzig • Dipl.-Ing. Anneliese Kaiser, als Ständiger Sekretär.

Zum Vorsitzenden wurde E. Thilo gewählt.

Bereits diese Zusammensetzung zeigt das Bemühen, für den Vorstand gleichbe- rechtigt Vertreter der Hochschulen, später auch der Akademie der Wissenschaf- ten und Vertreter aus der Industrie zu gewinnen. Auch der Vorsitz der Chemi- schen Gesellschaft wechselte im vierjährigen Rhythmus zwischen diesen drei Bereichen.

Am 3. Juni 1953 bestätigte der damalige Minister für Volksbildung Dr. Paul Wandel den Antrag und das vorgelegte Statut und damit die Gründung der "Chemischen Gesellschaft in der DDR".

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Abb. 5: Bestätigung der Gründung der Chemischen Gesellschaft durch den Minister für Volksbildung

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Am 13.7.1953 bestätigte Prof. Dr. Gerhard Harig, Staatssekretär für Hochschul- wesen, ebenfalls die Gründung der Chemischen Gesellschaft.

Abb. 6: Bestätigung durch den Staatssekretär für Hochschulwesen.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 In der Präambel des Statuts hieß es, die Chemische Gesellschaft wird gegründet

“... zur Pflege der besten Traditionen der chemischen Wissenschaft, zur Förderung und Entfaltung der chemischen Wissenschaft, die dem Frieden und der Einheit Deutschland dient”.

In § 2 "Aufgaben" wurde u.a. formuliert:

"Die Gesellschaft soll der Entfaltung des wissenschaftlichen Lebens und der För- derung des wissenschaftlichen Meinungsaustausches dienen. Sie wird diese Auf- gaben erfüllen durch wissenschaftliche Tagungen, Beratungen und Kolloquien, Aufnahme von Beziehungen zu den wissenschaftlichen Gesellschaften auf dem Gebiet der Chemie ausserhalb der DDR ….Einflußnahme auf das wissenschaftli- che Publikationswesen und auf Unterrichtsfragen auf dem Gebiet der Chemie, durch die Herausgabe wissenschaftlicher Zeitschriften und die Verleihung von Eh- rungen. Eine der wichtigsten Aufgaben der Gesellschaft ist ferner die Förderung der engen Zusammenarbeit zwischen Chemikern aus Forschung, Lehre und Tech- nik…"

§ 3 beschrieb die Mitgliedschaft. Hier gab es einen großen Unterschied zur Sat- zung der GDCh, denn es hieß hier:

"Ordentliches Mitglied kann jede Person werden, die eine abgeschlossene Hoch- schul- oder Fachschulausbildung auf dem Gebiet der Chemie besitzt oder eine Tä- tigkeit ausübt, die der von Absolventen solcher Ausbildungsstätten gleichkommt."

Dieses wurde in der GDCh erst viel später möglich, mit der Statutenänderung 2006.

In §4 wurde u.a. die Gründung von regionalen und fachlich orientierten Gruppen beschlossen.

Mit der Gründung der Chemischen Gesellschaft in der DDR hatten damit auch die Chemiker in der DDR die Möglichkeit, auf Tagungen andere Wissenschaft- lern aus aller Welt zu treffen und sich wissenschaftlich auszutauschen, in Zeit- schriften zu publizieren. Die Chemische Gesellschaft in der DDR verfolgte eine rein wissenschaftliche Zielsetzung, für Berufsfragen war die Gewerkschaft zu- ständig.

Als Jahresbeitrag wurden 20,- Mark für Vollmitglieder und 5,- Mark für Außer- ordentliche Mitglieder und Studenten festgelegt. An diesem Betrag hat sich bis zur Auflösung der Chemischen Gesellschaft nichts geändert.

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Abb. 7: Ein Mitgliedsausweis (Quelle: Privatunterlagen Dr. Hans Georg Struppe)

Als Sitz der Gesellschaft wurde Berlin gewählt. Zunächst befand sich die Ge- schäftsstelle in den Räumen Unter den Linden 68-70, 1964 zog sie in die Clara- Zetkin-Str. 105 (heute Dorotheenstr. 99) um. Dieses Gebäude steht unter Denk- malschutz und wurde in die Neugestaltung des gesamten Areals um das Branden- burger Tor einbezogen.

Abb. 8: Das Gebäude, in welchem die Chemische Gesellschaft die Geschäftsstelle unterhielt (Foto: Dr. Axel Schunk, 2013)

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Ausblick

Ein halbes Jahr nach Bestehen der Chemische Gesellschaft hatten sich bereits über 800 Mitglieder eingetragen, zum Zeitpunkt der Auflösung der Chemische Gesellschaft hatte die Gesellschaft über 4.500 Mitglieder und gehörte damit zu den größten wissenschaftlichen Gesellschaften in der DDR.

Ein eigenes Mitteilungsblatt erschien seit 1954 zunächst alle acht Wochen, später in monatlichen Abständen und informierte über die Aktivitäten der Gesellschaf- ten. Dazu gehörten Berichte von Tagungen, Kolloquien der Ortsverbände, Neuer- scheinungen der Bibliothek, Personalnachrichten. Da die Chemische Gesellschaft laut Satzung der Weiterbildung ihrer Mitglieder verpflichtet war, erschienen im Mitteilungsblatt auch wissenschaftliche Übersichtsartikel zu allen wichtigen Ge- bieten der Chemie.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

Abb. 9: Die erste Ausgabe des Mitteilungsblattes der CG

Die Bibliothek der ehemaligen Deutschen Chemischen Gesellschaft, die soge- nannte "Hofmann-Bibliothek", wurde während des zweiten Weltkrieges aus dem "Hofmann-Haus" in die Rüdersdorfer Kalkbergwerke ausgelagert, 1945 von der Roten Armee sichergestellt und in die Sowjetunion gebracht. Im Oktober 1956 wurde durch Vertreter der Akademie der Wissenschaften der UdSSR ein großer Teil der Bestände an die Chemische Gesellschaft zurückgegeben (25.300 Bände). Über diesen Bestand informierte ein 1963 herausgegebenes “Bücherverzeichnis 1644 – 1944”. Die “Hofmann-Bibliothek” bildete den wichtigsten Grundstock für die Bibliothek der Chemische Gesellschaft, deren weiterer Ausbau beschlossen wurde und die bis zur Auflösung Ende 1990 einer der wichtigsten Bibliotheken für chemische Literatur (über 40.000 Bände) in der DDR war.

Bis Ende August 1954 erhielt die Chemische Gesellschaft Zuschüsse aus dem Haushalt des Staatssekretariats für Hochschulwesen, für 1954 waren beantragt worden 92.000 DM.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Die Chemische Gesellschaft wurde seit 1954 organisatorisch der Akademie der Wissenschaften der DDR zugeordnet, wie viele andere wissenschaftliche Gesell- schaften der DDR auch. Sie war zwar laut Statut weiterhin juristisch eigenstän- dig, aber alle wichtigen Fragen mußten mit der entsprechenden Abteilung der AdW abgestimmt werden. Dieses betraf z. B. die Einladung von ausländischen Referenten zu Tagungen und die Anschaffung von Literatur für die Bibliothek.

Die AdW zahlte Zuschüsse zum Haushalt der Chemischen Gesellschaft sowie die Gehälter der Mitarbeiter der Geschäftsstelle. Für 1955 z.B. betrug der Zuschuß 150.000 DM plus ein sogenannter "Westgeld-Etat" in Höhe von 3.000 DM.

Es ist eine Fortsetzung der Geschichte der Chemischen Gesellschaft in der DDR geplant.

Summary: The Chemical Society of the DDR: Part 1 – The foundation

This article gives an insight in the history of foundation of the “Chemical Society of the DDR” after the Second World War. The “Chemical Society of the DDR” was founded in 1953 and existed 35 years. However, until now, there are almost no publications about this organization. After the Second World War the “Ger- man Chemical Society” (DChG), founded 1867, and the “Association of German Chemists” (VDCh), founded 1896 had practically ceased to exist and the political situation after the Second World War permitted neither the DChG nor the VCDh to be continued in the same manner. Because of the zonal division it was not pos- sible to dissolve the DChG and the VDCh, because the dissolution of the DChG and the VCDh had required an all-German decision. The first impulse toward the resumption of the association activities in western Germany was initiated at a congress in Göttingen in September 1946 and ended in the new foundation of a west-German “Society of German chemists” (GDCh) in Munich in 1949. In 1947 a conference of University Professors of Chemistry was taking place in the Soviet occupational zone and there the decision of the reestablishment of a chemical society as quickly as possible was made, as well. This decision ended with the foundation of the “Chemical Society of the DDR” in 1953.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 1 Walter Ruske, 100 Jahre Deutsche Chemische Gesellschaft (Weinheim 1967). 2 Chemie erlebt – 50 Jahre GDCh, hrsg. von Gesellschaft Deutscher Chemiker (Frank- furt/Main 1999). 3 Unterlagen der Chemischen Gesellschaft der DDR. 4 Schreiben Arthur Lüttringhaus an Erich Thilo vom 22.12.1947, aus den Unterlagen der Chemischen Gesellschaft der DDR. 5 Schreiben Franz Hein an Erich Thilo vom 9.1.1948, aus den Unterlagen der Chemischen Gesellschaft der DDR. 6 Unterlagen der Chemischen Gesellschaft der DDR. 7 Unterlagen der Chemischen Gesellschaft der DDR. 8 Unterlagen der Chemischen Gesellschaft der DDR. 9 Unterlagen der Chemischen Gesellschaft der DDR. 10 Unterlagen der Chemischen Gesellschaft der DDR. 11 Aktennotiz in den Unterlagen der Chemischen Gesellschaft der DDR. 12 Protokoll in den Unterlagen der Chemischen Gesellschaft der DDR. 13 BArch DR3 1671.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Die Mitglieder des 1. Vorstandes der Chemischen Gesellschaft in der DDR (Kurzbiographien)

Erich Thilo Heinrich Bertsch Hans Heinrich Franck Walter Heyder Anorganische Chemie Physikalische Chemie Technische Chemie Technische Chemie

Wolfgang Schirmer Arthur Simon Wilhelm Treibs Physikalische Chemie Anorganische Chemie Organische Chemie

Erich Thilo (1898 – 1977)

Thilo studierte Chemie an der Berliner Universität und promovierte 1925. 1932, nach seiner Habilitation, erhielt er einen Lehrauftrag und war ab 1938 Professor am Chemischen Institut. 1943 – 1945 hatte er eine ord. Professor für anorgani- sche Chemie in Graz inne. 1946 übernahm er das Ordinariat am völlig zerstörten Chemischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und war von 1952 – 1967 Direktor des Instituts für Anorganische Chemie an der Akademie der Wis- senschaften.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Thilo klärte die Kostitution wasserhaltiger Calciumsilicate, führte Modifikations- umwandlungen und –stabilisierungen durch und stellte eine umfassende Systema- tik der kondensierten Phosphate auf.

Er gilt als einer der Begründer der modernen Silicattechnik. Unter seinen Pa- tentanmeldungen sind die Darstellung von rieselfähigem Calciumsilicat (1953) und die Herstellung von Phosphorsäure aus Apatit (1960) hervorzuheben. Die intensive Arbeit auf dem Gebiet der Kieselsäure brachte ihm den liebevollen Spitznamen "Kiesel-Erich" ein.

Thilo wurde 1967 von der GDCh mit der Verleihung der "Liebig-Denkmünze" geehrt. Er durfte allerdings nicht zur Hauptversammlung der GDCh nach West- berlin fahren, um die Auszeichnung in Empfang zu nehmen.

1988 wurde erstmalig eine „Erich-Thilo-Medaille“ der Chemischen Gesellschaft der DDR vergeben.

Heinrich Bertsch (1897 – 1981)

Bertsch studierte in Stuttgart und promovierte 1922 zum Dr.-Ing. Im gleichen Jahr trat er als Chemiker in die Deutsche DEGRAS AG in Dresden ein. Ab 1923 arbeitete er als Chemiker und später als Vorstand bei der Böhme Fettchemie und ab 1940 der Henkel & Cie. Düsseldorf. Unter Bertschs Leitung konnten neue Produktionsanlagen in Chemnitz und in Rodleben errichtet werden.

Bertsch führte in der Böhme Fettchemie Chemnitz grundlegende Arbeiten zur Synthese grenzflächenaktiver Stoffe und zur Herstellung synthetischer Wasch- mittel durch. 1928 konnte die Herstellung und Verwendung höhermolekularer Alkylsulfate als waschaktive Substanzen zum Patent angemeldet werden. FeWa wurde das erste neutrale Feinwaschmittel.

Ab 1946 übernahm er eine Leitungsfunktion beim Wiederaufbau der chemischen Industrie in Ostdeutschland. 1950 wurde er Direktor des Instituts für Chemische Technologie an der Humboldt-Universität zu Berlin und 1953 ordentliches Mit- glied der Akademie der Wissenschaften (AdW), 1958 – 1965 Direktor des Insti- tuts für Fettchemie der AdW sowie von 1958 – 1961 Direktor des Instituts für Dokumentation der AdW. Nach seiner Emeritierung war er 1965 – 1969 Mither- ausgeber des Chemischen Zentralblatts.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Hans-Heinrich Franck (1888 – 1961)

Franck studierte Chemie und Physik an der Technischen Hochschule Charlotten- burg in Berlin und an der Berliner Universität. Er promovierte in Berlin und habi- litierte sich in Karlsruhe.

Als Vorstand des Zentrallaboratoriums der Bayerischen Stickstoffwerke AG kehrte Franck nach Berlin zurück und wurde 1920 Privatdozent an der Techni- schen Hochschule Charlottenburg in Berlin und 1927 schließlich Professor. 1937 wurde ihm die Professur entzogen, und 1939 folgte aus politischen Gründen die Entlassung aus den Stickstoffwerken. Die politischen Gründe waren „jüdische Versippung“; er war mit einer Jüdin verheiratet und ließ sich trotz Drängens der nationalsozialistischen Regierung nicht scheiden.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde er Werkleiter bei den Stickstoffwerken Pie- steritz (heute SKW Stickstoffwerke Piesteritz GmbH) und übernahm den Lehr- stuhl für Chemische Technologie an der Technischen Universität Berlin. 1949 erhielt er ein Ordinariat an der Humboldt-Universität zu Berlin und 1951 gründe- te er das Akademie-Institut für Angewandte Silicatforschung in Berlin. Franck ist Mitbegründer und war erster Präsident der Kammer der Technik (KdT).

Franck beschäftigte sich überwiegend mit praktischen Problemen der chemischen Industrie. Er entwickelte die ersten Konzeptionen für kombinierte Düngemittel. Von ihm stammten außerdem verschiedene Verfahren zum Verspinnen von Glas und zur Herstellung filmartiger Gläser, die als Schichtstoffe in Verbindung mit Kunstharzen verarbeitet werden konnten. Ein Verfahren zur thermischen Magne- siumgewinnung wurde ebenfalls von ihm entwickelt. Er hatte großen Anteil an der Einführung von Standards und Normen im chemischen Apparatebau.

Wilhelm Treibs (1890 – 1978)

Er wurde an der Universität Göttingen promoviert. Sein Doktorvater war Otto Wallach. Treibs wirkte in Spezialgebieten der Organischen Chemie wie etheri- schen Ölen, Terpenen, nichtbenzoiden Aromaten oder Azulenen und arbeitete eng mit der Riechstoff-Industrie zusammen. Bei seinen Forschungen entdeckte er u. a. die acylierende Oxidation mit Hg(II)acetat.

Bis 1961 lehrte und forschte er an der Universität Leipzig. Noch 1960 wurde er als „Hervorragender Wissenschaftler des Volkes geehrt“, danach als Verräter dif- famiert, als er nach dem Mauerbau von einem Besuch in der Bundesrepublik

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 nicht wieder in die DDR zurückkehrte. Danach war er Professor an der Universi- tät Heidelberg.

Treibs ist bekannt für seine Arbeiten über Azulene.

Walter Heyder (1903 – 1994)

Nach dem Studium und der Promotion an der TH Dresden ging er 1927 nach Bit- terfeld. Hier wurde er zunächst als Chemiker und später als Betriebsleiter der Elektrolyse im Werk Nord eingesetzt. Von 1938 bis 1950 war er als Leiter der Anorganischen Abteilung und als Produktionsdirektor tätig. Von 1950 bis 1956 war Heyder Hauptdirektor des Elektrochemischen Kombinates Bitterfeld. Zu sei- nen Verdiensten in Bitterfeld zählen die Entwicklung der IG-Quecksilberzelle in Zusammenarbeit mit Fachleuten der BASF, Bayer und der Kalichemie (Werk Zscherndorf) sowie der Aufbau der Quecksilberelektrolyse im Werk Nord. Er unterhält in dieser Zeit sehr intensive Kontakte zum Werk Zscherndorf der Kali- chemie AG.

Mit Wilhelm Springemann schuf er 1938 den neuen Werkstoff Igurit auf Basis von imprägniertem Grafit, der zunächst als Anodenwerkstoff in den Elektroly- senzellen zur Verlängerung der Standzeiten der Anoden eingesetzt wurde. 1940 erfolgte die Produktionsaufnahme von Chemieapparaten (Wärmeüberträger) aus diesem neuen imprägnierten Kohlewerkstoff. Für seine Verdienste wurde er mit der Ehrendoktorwürde der TH Dresden (1953), zweimal mit dem Nationalpreis der DDR (1952 und 1954) ausgezeichnet. Er kehrte im Herbst 1956 von einer Fachtagung in Hamburg nicht mehr in die DDR zurück und tritt in den Vorstand der Kalichemie AG bis 1974 ein.

In dieser Zeit (Vorstand der Kalichemie AG) wird er mit dem „Großen Ver- dienstkreuz“ des Niedersächsischen Verdienstordens (1972) ausgezeichnet.

Wolfgang Schirmer (1920 – 2005)

Schirmer studierte an der TH Berlin-Charlottenburg und an der Universität Berlin Chemie. 1943 trat er als wiss. Mitarbeiter in die C. Lorenz-AG in Berlin- Schönefeld ein und befaßte sich mit Radarforschung. Nach Kriegsende wurde er Mitarbeiter und seit 1948 Leiter des Versuchs- und Forschungslabors im Stick- stoffwerk Piesteritz. 1950 übernahm Schirmer als Nachfolger von Hans-Heinrich Franck die Leitung des Werkes in Priesteritz und wurde im selben Jahr an der TH

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Berlin-Charlottenburg promoviert. 1953 wurde ihm die Leitung der Leuna-Werke anvertraut, die er bis 1962 führte. 1954 habilitierte sich Schirmer an der Universi- tät Berlin für Physikalische Chemie und erhielt bereits 1955 eine Professur für Physikalische Chemie an der TH Chemie Leuna-Merseburg. 1964 erfolgte Schirmers Berufung zum Direktor des Instituts für Physikalische Chemie der Akademie der Wissenschaften der DDR, das er bis zu seiner Emeritierung 1985 leitete. Hier baute er eine bis zu 70 Mitarbeiter umfassende Abteilung zur Erfor- schung selektiver Adsorbtionsvorgänge an Molekularsieben (Zeolithen) auf.

Arthur Simon (1893 – 1962)

Simon studierte und promovierte an der Universität Göttingen. Es folgten Assi- stentenjahre in Göttingen, Clausthal und Stuttgart, wo er sich 1927 mit einer Ar- beit über Bleioxide und Bleihydroxide habilitierte und 1929 zum außerordentli- chen Professor berufen wurde. Anfang 1932 nahm Simon einen Ruf auf den Lehrstuhl für Anorganische und Anorganisch-Technische Chemie an der damali- gen Technischen Hochschule Dresden an. Hier wirkte er fast drei Jahrzehnte bis zu seiner aus gesundheitlichen Gründen am 31. August 1960 erfolgten Emeritie- rung. 1945 – 1949 war er Herausgeber des Chemischem Zentralblattes.

Simon war Abteilungsleiter der Fachabteilung Chemie, zeitweiliger Prorektor, Ministerialdirektor und Leiter der Hauptabteilung Hochschulen und Wissenschaft im Sächsischen Volksbildungsministerium.

Seine Forschungsschwerpunkte waren praktisch-relevante Themen der anorgani- schen Oxide wie das Verhalten von Metalloxiden, insbesondere Eisenoxiden, in Magnettonbändern, die Aufklärung neuer Strukturen des räumlichen Baues von Schwefel- und Selenverbindungen mit Hilfe der Ramanspektroskopie und die Katalyse.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Die Chemie an der Universität Jena in der Wende – Erinnerungen

PD Dr. Peter Hallpap, Brändströmstr. 17, 07749 Jena

1. Der Anlass

Der 20. Jahrestag der Wende wurde im vereinigten Deutschland intensiv erinnert und gefeiert. Auch in den „Nachrichten aus der Chemie“ entspann sich aus die- sem Anlass eine lebhafte Diskussion, die sich über 9 Monate hinzog: • Frank Kuschel, Helmut Ringsdorf, Der zerrissene Mensch und unser ge- teiltes Gedächtnis.1 • Frank Kuschel, Helmut Ringsdorf, (+ Christian Remenyi), Im Großen und Ganzen ein Grund zum Feiern.2 • Alfred K. Barth, Funktionär als Feind.3 • Walter-Veselý Sebastian Meister, Der Mitstreiter als Freund.4 • Joachim Sauer, Der zerrissene Osten und die gelungene Wiedervereini- gung.5 • Dietrich Demus, Mit Sicherheit nicht alternativlos.6 • Helmut Ringsdorf, Frank Kuschel, Verstehen und nicht Vergessen.7 • Günter Engelhardt, Alternativlos oder nicht? Ein Nachtrag.8 Gleichzeitig fielen mir beim Stöbern in meiner Sammlung zufällig die acht Aus- gaben der Zeitschrift

• Chemie-Kurier: Monatszeitschrift für Chemiker an der FSU Jena,9 wieder in die Hände, die die Vorgänge in der Chemie an der Friedrich-Schiller- Universität (FSU) für die Zeit von März 1990 bis Juni 1991 dokumentieren. Sie spiegeln die schnellen Umwälzungen, getragen von dem gemeinsamen Engage- ment aller Mitarbeitergruppen, die in aller Öffentlichkeit agieren wollten, und damit die kurze Phase einer basisdemokratischen Entwicklung wider.

Die inhaltliche Breite der Hefte, die anfangs von der Sektionsleitung und dann vom Dekanat der neugegründeten Chemischen Fakultät vorbereitet wurden, soll mit dem Inhaltsverzeichnis des ersten Heftes (März 1990) gezeigt werden:

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 • Was soll der Chemiekurier, was kann er? • Neues aus der Lehre • Mitteilungen und Vorlagen zum Rat der Sektion am 7. und 14.3.1990 • Vorlage der Untersuchungskommission des Rates der Sektion • Forschung • Aktuelle Informationen über mit zahlenden Auftraggebern vertraglich ver- einbarte Forschungsaufgaben • Eingereichte Publikationen und gehaltene Vorträge im Zeitraum 12/89 - 3/90 • Verteidigung von Dissertationen • Kultur im Chemiekurier • Allgemeine Informationen • Tagung „Chemometrik und Umwelt“ Diese zwei Vorgänge veranlassten mich, meine Beobachtungen der Wendeereig- nisse in der Chemie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena zusammenzutragen und zu analysieren.

2. Die prinzipiellen Veränderungen

Um das Ausmaß der Veränderungen in der Chemie in Jena im Zuge der Wende charakterisieren zu können, ist der Ausgangspunkt – die Situation der Jenaer Chemie im Verlaufe und nach der 3. Hochschulreform in der DDR um 1968 – zu kennzeichnen: • Endgültige Durchsetzung der führenden Rolle der „Partei der Arbeiter- klasse“ • „Sozialistische Kaderpolitik“ • Umbau der akademischen Strukturen o Entmachtung der Fakultäten o Auflösung der Institute o Gründung von Sektionen, in Jena am 19.03.1968: Sektion Chemie o Schaffung von Wissenschaftsbereichen (WB), in Jenas Chemie: 11 WB • Generationswechsel bei den Hochschullehrern • „Profilierung“ • „Sozialistischer Wettbewerb“ • Studienreform o DDR-einheitliche Prüfungs- und Studienordnung o Grundstudium Chemie (5 Sem.) mit einheitlichem „Lehrwerk“

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 o Fachstudium Synthesechemie / Theoretische und physikalische Chemie (5 Sem.) o Forschungsstudium Jeder der genannten Punkte benötigte eigentlich ausführliche Erläuterungen, die aber an anderer Stelle gegeben wurden.10

Wie „stabil“ dieses System erschien, zeigt, dass noch am 21./22. September 1989 die Arbeitsgemeinschaft „Geschichte der Chemie“ der Chemischen Gesellschaft der DDR in Jena ihre 6. Arbeitstagung zum Thema „Chymisten, Chemisten und Chemiker – chemische Bildung im Spiegel ihrer Geschichte“ in der für die DDR charakteristischen Form einer „nationalen Tagung mit internationaler Beteili- gung“ durchführte11, auf der der Zusammenbruch der DDR noch kein Gesprächs- stoff war.

Als Referenten traten auf: Christoph Friedrich (Greifswald) Winfried R. Pötsch (Bitterfeld) Rolf Gelius (Greifswald) Horst Remane (Halle), Peter Lange (Jena) Dieter Renno (Jena) Werner Lauterbach (Freiberg) Hartmut Scholz (Berlin) Peter Löhnert (Wolfen) Rüdiger Schwaiberger (Halle) Bettina Löser (Leipzig) Harry A. M. Snelders (Utrecht) Christoph Meinel (Hamburg) Rüdiger Stolz (Jena) Roman Mierzecki (Warszawa) Klaus Sühnel (Leipzig) W. Müller (Wolfen), Regine Zott (Berlin).

Christoph Meinel, Roman Mierzecki und Harry A. M. Snelders repräsentierten dabei die „internationale Beteiligung“!

Im Zuge der Wende wurden in erstaunlich großer Geschwindigkeit die Verände- rungen durch die 3. Hochschulreform auch für die Chemie in Jena zurückge- nommen und Übereinstimmung mit den Verhältnissen in den Altbundesländern hergestellt:

• Neugründung der Chemisch-Geowissenschaftlichen Fakultät • Wiedergründung der Institute • Neuaufbau der Arbeitsgruppe Chemiedidaktik

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 • Einbindung in die bundesdeutsche Forschungsförderung • Generationswechsel bei den Hochschullehrern • drastische Reduzierung des akademischen Mittelbaus • neue Promotions- / Habilitationsordnung • Veränderungen in der Lehre Zu einigen der Punkte – hauptsächlich zur Personalsituation – sollen nähere Aus- führungen folgen.

3. Der Umbau der akademischen Strukturen

Der letzte Direktor der Sektion Chemie, Prof. Dr. Dieter Klemm, wurde mit Wir- kung vom 31.08.1990 vom Rektor der FSU entpflichtet.12 Damit verloren die un- geliebte Sektion mit ihren Wissenschaftsbereichen und folglich auch der „demokratische Zentralismus“ mit seiner „Einzelleitung mit kollektiver Bera- tung“ ihre Existenzberechtigung.

Gleichzeitig bestätigte der Rektor am 26.06.1990 die Gründung der Chemischen Fakultät, zu deren erstem Dekan Prof. Dr. Egon Uhlig am 20.06.1990 vom am 19.06.1990 ebenfalls neu gewählten Fakultätsrat gewählt wurde.13

Am 07.09.1990 folgte durch den Rektor die Bildung von 5 Instituten, in denen sich – mit kleinen Modifikationen – die aus den früheren Instituten gebildeten Wissenschaftsbereiche erneut zusammenschlossen.14 Damit wurde die Rückkehr zu den vier klassischen, vorrangig stofflich orientierten Instituten besiegelt. Der Wissenschaftsbereich Glaschemie = Institut für Glaschemie als dem Jenaer Glaswerk eng verbundene Forschungsinstitution konnte seine Sonderrolle vorerst beibehalten.

Die Strukturveränderungen in der Zeit von 1945 bis heute sind in Tab. 1 zusam- mengefasst.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

V15 VI VII 1945 – 1968 1968 – 1990 ab 1990 Neuaufbau 3. Hochschulreform Umbruch Math.-Naturw.  Math.-Naturw.-Techn.  Chem.(-Geowiss.) Fakultät Fak. Fak. Fachbereich Che-  Sektion Chemie  mie  Koordinationschemie  I. f. Anorg. Che-  Anorg. Festkörperch.  I. f. Anorg. + Analyt. Che- mie  Photochemie |(s. u.) mie ------| Analytik   Org. Polymerenchem.  I. f. Org. + Bio-  Org. Synthesechemie  I. f. Org. + Makromol. chemie  Theorie org. Reaktionen  Chemie  Phys. u. Oberfläch.-ch.  I. f. Physik. Che-  Quantenchemie  I. f. Physikalische Chemie mie  Photochemie  I. f. Techn. Chemie ------| Techn. Chemie  I. f. Techn. + Umweltch.  Glaschemie  Otto-Schott-I. f. Glaschemie (= Otto-Schott-Inst.) I. - Institut Tab. 1: Entwicklung der Struktur der Chemie an der Universität Jena 1945 – 2000.

Die Erweiterung der Chemischen zur Chemisch-Geowissenschaftlichen Fakultät erfolgte erst 1993 in Folge von Strukturentscheidungen der Gesamtuniversität in Abstimmung mit dem zunehmend aktiv werdenden thüringischen Wissen- schaftsministerium. Die erweiterte Bezeichnung findet sich erstmalig im Vorle- sungsverzeichnis für das Sommersemester 1993.16

4. Qualifizierung zum Hochschullehrer 4.1 Situation vor der Wende

1968 wurde in der DDR im Zuge der 3. Hochschulreform eine für die gesamte DDR wirksame neue „Verordnung über die akademischen Grade“ erlassen.17 Mit ihr wurde die traditionelle Form der akademischen Qualifizierungsverfahren end-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 gültig zu Gunsten der Forderungen der „Gestaltung des entwickelten gesellschaft- lichen Systems des Sozialismus“ aufgegeben. So wurde z. B. die Habilitation durch zwei selbständige akademische Verfahren – die Verleihung des „Doktors der Wissenschaften (Promotion B)“ und die Verleihung der „Facultas docendi (Lehrbefähigung)“ – ersetzt.

Mit der Friedlichen Revolution 1989/90 wurde umgehend die traditionelle Form der akademischen Qualifizierungsverfahren nach bundesdeutschem Recht wieder hergestellt.

Diese Veränderungen sind in Tab. 2 zusammenfassend dargestellt.

V VI VII 1945 – 1968 1968 – 1990 ab 1990 Neuaufbau 3. Hochschulreform Umbruch Qualifizierung Diplom  Diplom  Diplom    Promotion  Promotion A  Promotion    Habilitation  Promotion B  Habilitation  Facultas docendi     Berufung als Dozent  außerord. Dozent  Privatdozent    ordentl. Dozent  Hochschuldozent C2    Professor  außerord. Professor  Professor C3    ordentl. Professor  Professor mit Lehrstuhl C4 Tab. 2: Akademische Qualifizierung und Berufung an der Universität Jena 1945 – 2000.

Das Procedere bezüglich der „Habilitation“ in der DDR soll an meinem Fall ex- emplarisch vorgestellt werden:18

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Die Verfahren zum Erreichen der Promotion B und der Facultas docendi wurden völlig getrennt voneinander geführt und hatten auch keine zwingende terminliche Verknüpfung. Die Anträge waren an den Dekan der Mathematisch-Natur- wissenschaftlich-Technischen Fakultät, die als eine Untereinheit des Wissen- schaftlichen Rates der Friedrich-Schiller-Universität geführt wurde, zu stellen. Die Organisation der Verfahren oblag der entsprechenden Sektion, in meinem Fall der Sektion Chemie.

Die Promotion B beantragte ich am 19.09.1979 unter Vorlage der Dissertation „Die Wechselwirkungen zwischen den Reaktionspartnern bei kationischen Poly- merisationen“ (146 S.). Zu den Antragsunterlagen gehörten neben Lebenslauf, Promotionsurkunde und Liste der wissenschaftlichen Veröffentlichungen, auch

„eine schriftliche Einschätzung durch den zuständigen Leiter, die insbesondere über die wissenschaftliche Tätigkeit des Kandidaten und seine Persönlichkeits- entwicklung vor allem bei der aktiven Mitarbeit an der Gestaltung der sozialisti- schen Gesellschaft Auskunft gibt“ und eine

„Erklärung des Kandidaten über die Form und den Inhalt seiner marxistisch- leninistischen Weiterbildung seit der Promotion zum Doktor eines Wissenschafts- zweiges“.

Die Dissertation wurde von drei Gutachtern, darunter einem auswärtigen, bewer- tet: Prof. Dr. Günther Heublein (Wissenschaftsbereichsleiter, Org. Chemie), Prof. Dr. Helga Dunken (Phys. Chemie) und Prof. Dr. Dieter Martin (AdW DDR, Zentralinst. f. Org. Ch.).

Nach einem Jahr, am 10.09.1980, fand die öffentliche Verteidigung der Disserta- tion in Anwesenheit praktisch aller Hochschullehrer der Sektion Chemie statt. Nach meinem 45-minütigen Vortrag wurde der Inhalt der Dissertation weitere 45 Minuten diskutiert.

Die Fakultät entschied am 16.09.1980 endgültig positiv und am 18.11.1980 er- hielt ich auf einer Sitzung des Senats aus der Hand des 1. Prorektors Prof. Dr. Heinz Kessler die Urkunde über „den akademischen Grad Dr. sc. auf Grund sei- ner hervorragenden wissenschaftlichen Befähigung auf dem Gebiet Chemie und seiner erfolgreichen Tätigkeit als Leiter wissenschaftlicher Kollektive“.

Den Antrag für die Facultas docendi stellte ich am 01.10.1980 unter Beifügung von Lebenslauf, Bericht über die wissenschaftliche Tätigkeit, Publikations- und Vortragsliste, Diplom- und Promotionsurkunde sowie dem Vorschlag von jeweils drei Themen für das fachwissenschaftliche Kolloquium und die öffentliche Lehr- probe.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Das fachwissenschaftliche Kolloquium zum Thema „Organische Stereochemie“ fand am 14.01.1981 vor allen Hochschullehrern der Sektion Chemie statt. Nach einer kurzen Einführung in das Thema durch mich, wurde ich umfänglich befragt. Insgesamt dauerte das Kolloquium etwa 90 Minuten.

Die öffentliche Lehrprobe zum Thema „Grenzorbitale und ambidente Systeme“ erfolgte am 22.01.1981.

Die MNT-Fakultät entschied mein Verfahren am 11.03.1981 positiv, und die Ur- kunde mit dem Text:

„Nachdem Herr Dr. sc. nat. Peter Hallpap ... den Nachweis über die für die Ver- leihung der Facultas docendi (Lehrbefähigung) geforderten Leistungen in For- schung, Erziehung, Ausbildung und Weiterbildung erbracht hat, wird ihm für das Fachgebiet Organische Chemie die F a c u l t a s d o c e n d i (L e h r b e f ä h i g u n g) mit Wirkung vom 11. März 1981 erteilt.“ erhielt ich am 13.04.1981 aus der Hand des Dekans Prof. Dr. Egon Uhlig. Damit hatte ich die formalen Voraussetzungen für eine Berufung erfüllt. Da aber in den 1980er Jahren in der DDR die Berufungen nicht im Ergebnis eines öffentlichen Ausschreibungsverfahrens, sondern nach Kaderentwicklungsplänen und infor- mellen Abstimmungen zwischen den Sektionen unter maßgeblicher Beteiligung der Parteileitungen erfolgten, und ich nicht Mitglied der SED war und blieb, war eine Berufung nicht sehr wahrscheinlich.

Erst mit Wirkung vom 01.02.1987 erhielt ich im Zuge einer planmäßigen Erwei- terung der Zahl der Hochschullehrer in den umfangreicheren Wissenschaftsberei- chen die Berufung „zum außerordentlichen Dozenten für organische Chemie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena“ vom Minister für Hoch- und Fachschul- wesen der DDR Prof. Dr. Hans-Joachim Böhme „in Anerkennung der Verdienste und Leistungen in Ausbildung, Erziehung, Forschung und Weiterbildung“.

Mehr war für einen „Nichtgenossen“ an der Sektion Chemie der FSU Jena in den 1980er Jahren nicht möglich, wie die noch zu diskutierende Tab. 3 zeigt!

Aus einem Bericht der Untersuchungskommission zu Fragen der Personalpolitik an den Rat der Sektion vom 07.03.1990 kann zitiert werden:

„... Dabei zeigte sich, daß die Kaderreserve der Sektion (13) ausschließlich aus Mitgliedern der ehemaligen SED besteht. Bei der Auswahl wurde nach zentralen Kriterien der Uni vorgegangen, nach denen die Partei alle Entscheidungen zu be- stätigen hatte. Unter der Sektionsleitung von ... wurde die Kaderarbeit als Partei- arbeit verstanden...“19

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 In der Zeit 1970 bis 1992 wurden in der Chemie an der Universität Jena insge- samt 64 Promotionen B verteidigt und an 58 Chemiker die Facultas docendi ver- liehen. Darunter befanden sich lediglich drei Frauen! Etwa die Hälfte – 23 davon – sind als charakteristische Beispiele in Tab. 3 in 8 Gruppen erfasst.

VI VII

1968 – 1990 ab 1990

3. Hochschulreform Umbruch

Pers. SED20 Pr. B21 F. d.22 Berufungen23 Umw.24 Berufungen25

(A) D. F.  1973 1970 1970 o. Doz., 1975 o. Prof. G. M.  1975 1971 1975 o. Doz., 1984 o. 1991 Prof. (TH K.-M.-St.)

H. T.  1975 1978 1978 o. Doz., 1986 ao. Prof. D. K.  1977 1979 1983 o. Doz., 1987 ao. 1991 Prof. C3 Prof. G. H.  1977 1981 1983 o. Doz. PD E. H.  1978 1978 1979 o. Doz., 1983 o. Prof. W. B.  1984 1984 1985 o. Doz. 1991 W.H.  1985 1986 1989 o. Doz., 1989 o. Prof.

(B) H.W. 1975 1971 1977 ao. Doz. 1991 1992 PD B. H. 1978 1972 1991 P. K. 1983 1971 1991

(C) D.W. 1979 1980 1985 ao. Doz. 1991 1992 Prof. C4 P. H. 1980 1981 1987 ao. Doz. 1991 1993 PD

(D) W.V. 1983 1990 1991 1992 Prof. C3

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 U. G. 1986 1991 1991 1992 Prof. C3 E. M. 1986 1990 1991 1991 Prof. (BA Frei- berg) G. K. 1987 1991 1991 1997 apl. Prof. S. S. 1987 1991 1991 1993 Prof. (U Chemnitz)

(E) E. K. 1977 1977 1978 o. Doz. 1991 1992 Prof. C4 D. E.  1985 1986 1987 ao. Doz. HDoz. D. S. 1989 1990 1991 1992 Prof. C3

(F) F. D. 1980 --- (Lehrtätigkeit in 1991 Aachen!) D. S. 1990 --- 1999 (Lehrtätigkeit) 2001 PD

(G) B. S. (1980) 1991 (ZIMET) 1994 Hdoz., 1997 apl. Prof. U. G. (1981) 1991 Prof. (ZIMET) 1992 Prof. C3 (Bio. F.)

Tab. 3: Beispiele für Qualifizierungen und Berufungen in der Chemie an der Universität Jena 1971-1992. (F. d. - Facultas docendi; PD - Priv.-Doz.; Pers. - Person; Pr. B - Promotion B; Umw. - Umwandlung von Promotion B + Facultas docendi in Dr. habil.)

A. Ein Ziel der Kaderpolitik bestand darin, den Anteil der „Genossen“ an den Hochschullehrern durch gezielte Berufungen schnell zu erhöhen. Die wichtigere Bedingung für die Berufung war die Promotion B, deshalb wurden qualifizierte „Genossen“ zu einer zügigen Promotion B und natür- lich auch einer zügigen Facultas docendi gedrängt. Eine Berufung – in den allermeisten Fällen eine „Hausberufung“ – ließ nicht lange auf sich war- ten. Ein markantes Beispiel für die gezielte Kaderpolitik ist der letzte Fall der Gruppe A (Geburt 1952, Abitur 1970, Diplom 1974, Promotion A 1978, Promotion B 1985, o. Doz. 1989, o. Prof. 1989).

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 B. Es handelte sich um ältere hochqualifizierte Kollegen, deren hochwertiger Einsatz in der Lehre gesichert werden sollte, die aber keine Parteimitglie- der waren. Ihnen wurde die zügige Erreichung der Facultas docendi nahe- gelegt. Für die Promotion B gab es keinen fördernden Druck, sie erfolgte nach eigenem Ermessen deutlich später, da eine zügige Berufung nicht zu erwarten war.

C. Das war der Fall der jüngeren qualifizierten „Nichtgenossen“, die ihre per- sönliche Qualifizierung – im Sinne: „Was ich tun konnte, habe ich getan“ – betrieben und ohne Aussicht auf eine Professur waren. Deshalb lagen zwischen Promotion und Promotion B 10 und mehr Jahre. Die Berufung zum außerordentlichen Dozenten war schließlich die einzige Möglichkeit.

D. Hier führte die Erfahrung, dass für einen „Nichtgenossen“ kaum eine Be- rufungsaussicht bestand, dazu, dass zwar die Forschungsqualifizierung (Promotion B) angestrebt, dagegen die Lehrqualifizierung (Facultas docendi) – ihr Fehlen war de facto kein Hindernis für einen qualifizierten Lehreinsatz! – negiert wurde. Erst die Wende mit ihrer völlig neuen Beru- fungssituation erforderte die Facultas docendi, um die problemlose Um- wandlung in die Habilitation zu erreichen und damit eine nunmehrige Berufung möglich zu machen.

E. Die Tatsache, dass lediglich drei Frauen in dieser Zeit die Promotion B er- reichten, zeigt, dass die DDR noch weit von der deklamierten „Gleichbe- rechtigung der Frau“ entfernt war, obwohl „Frauenförderung“ ein Element der sozialistischen Kaderpolitik war. Die entsprechenden Berufungen führten in der DDR lediglich bis zur Stufe der Dozentin, selbst bei der Ge- nossin.

F. Hier handelt es sich um zwei Sonderfälle: Im ersten Fall folgte nach der Promotion B an der Universität Jena 1988 die Ausreise in die BRD. Um die Äquivalenz zur Habilitation zu erreichen, wurde 1991 in einem ver- kürzten Verfahren die Facultas docendi an der Universität Jena aufgrund nachgewiesener Lehrveranstaltungen an der TH Aachen verliehen. Im zweiten Fall wurde die Facultas docendi nicht rechtzeitig vor dem Auslau- fen der gesetzlichen DDR-Regelung beantragt. Hier wurde die Habilitation im Ergebnis der positiven Promotion B und des Nachweises umfangrei- cher selbständiger Lehrveranstaltungen in der Nebenfachausbildung direkt vergeben.

G. Im Ergebnis der Akademiereform 1972 erhielt die Akademie der Wissen- schaften der DDR (AdW DDR) auch das Recht auf Durchführung der

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Promotionsverfahren A und B und das Recht, Professoren zu berufen. Da die Akademie ihr Hauptanliegen in der Forschung sah und keine eigene akademische Ausbildung anbot, konnte sie die Facultas docendi nicht ver- leihen. Die hochqualifizierten Wissenschaftler der AdW, die nach der Wende an Universitäten berufen werden sollten, mussten daher die Fa- cultas docendi schnellstens erwerben. Das trifft auf die beiden Fälle dieser Gruppe zu. Beide promovierten in der Chemie der Universität Jena und arbeiteten dann im Jenaer Zentralinstitut für Mikrobiologie und experi- mentelle Therapie (ZIMET), deshalb verteidigten sie die Promotion B an der AdW DDR. Die Übernahme als Hochschullehrer an die Universität Jena nach der Wende erforderte nun noch die Facultas docendi.

4.2 Berufungen nach der Wende

Im Ergebnis der Wende wurden alle Arbeitsverträge an der Friedrich-Schiller- Universität als vorläufig gestellt und bezüglich ihrer Weiterführung im Hinblick auf • die fachliche Notwendigkeit der Stellen, • die fachliche Eignung der Mitarbeiter sowie • die Verstrickung von Mitarbeitern in das Bespitzelungssystem der Staatsi- cherheit der DDR bzw. in schwere Amtsvergehen überprüft.

Diese Evaluation aller Mitarbeiter erfolgte an der FSU in einem komplizierten Prozess.26 Die ursprüngliche Initiative dazu ging von den demokratischen Kräften an der FSU aus und erhielt ihre Legitimation durch den Evaluierungsbeschluss des Senats vom 02.10.1990 („Interne Evaluation“).

Der Evaluationsprozess an der Sektion Chemie begann mit der Überprüfung der berufenen Hochschullehrer sowie der „habilitierten“ wissenschaftlichen Mitarbei- ter. Dazu hatten alle zum 30.10.1990 schriftliche Unterlagen zu folgenden Punk- ten einzureichen:

Name, Geburtsjahr / Qualifikation / Wissenschaftlicher Werdegang / Arbeitsge- biete / Längere Auslandsaufenthalte, Gastlehrtätigkeit / Buchveröffentlichungen / Publikationsliste / Forschungsprojekte / Eingeladene Hauptvorträge auf interna- tionalen Konferenzen / Anzahl der erfolgreichen Promotionen / Aktivitäten in in- ternationalen wissenschaftlichen Kommissionen / Herausgebertätigkeit / Liste der gehaltenen Vorlesungen / Ehrungen / Staatliche Ämter von 1949 bis 1989 / Son- stige Aussagen

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Diese Unterlagen wurden für eine kurze Zeit für die Sektionsöffentlichkeit ausge- legt, „um die Öffentlichkeit der Prozedur zu gewährleisten und um Kollegen die Möglichkeit zu geben, Bemerkungen zur persönlichen Integrität oder zu schwe- ren Verfehlungen zu machen.“27 Die Unterlagen waren dann die Grundlage für die Arbeit des Evaluierungsausschusses des Senats, der in starkem Maße bezüg- lich der fachlichen Qualität auf die Expertise zahlreicher westdeutscher Gutachter setzte. In der Sitzung des Rates der Chemischen Fakultät am 05.12.1990 wurde zwischenzeitlich informiert:

„Da die fachliche Evaluierung, der sich eine politische Evaluierung anschließt, noch nicht vorbei ist, sollen alle Hochschullehrer Zeitverträge bekommen. Nach erfolgreicher Evaluierung erfolgt wieder eine unbefristete Einstellung.“28

Ihre rechtliche Grundlage bekam die Evaluierung schließlich mit der Thüringer Evaluationsordnung vom Juni 1991. Dazu kam als Voraussetzung für Wieder- und Neuberufungen nach „neuem Recht“ die Entwicklung eines Strukturplanes, der für die Chemische Fakultät Mitte 1991 11 C4- und 10 C3-Professuren vor- sah.29 Damit sollte die Zahl der Chemieprofessoren in gleicher Größenordnung liegen wie kurz vor der Wende.

Anders gestaltete sich das für Dozenten, denn das altbundesdeutsche Hochschul- system kennt den Dozenten nur ausnahmsweise als Dauerstelle. Hatte die Sektion Chemie 1989 noch 15 außerordentliche bzw. ordentliche Dozenten30, so gab es in der Chemisch-Geowissenschaftlichen Fakultät für die Chemie im Wintersemester 2000/01 von ihnen nur noch eine nach „neuem Recht“ berufene Hochschuldozen- tin.31 Die übrigen Dozenten nach „altem Recht“ hatten zwischenzeitlich • die Fakultät verlassen (6), • eine Professur nach „neuem Recht“ an der Fakultät erhalten (5), • den Status als Privatdozent an der Fakultät bekommen (2) bzw. • den Ruhestand erreicht (1). Die Situation für die Professoren soll exemplarisch am Beispiel des Instituts für Anorganische und Analytische Chemie diskutiert werden (s. Tab. 4):

Name Lebens- Prof. an U Jena daten

(A) Adalbert Feltz geb. 1934 1968 – 1992  EPCOS KB, Deutschlands- berg, Österr. Egon Uhlig 1929 – 2009 1962 – 1995

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Claus Danzer geb. 1936 1982 – 2001 Hans-Otto Fröhlich geb. 1930 1982 – 1994

(B) Wolfgang Seidel geb. 1931 1992 – 1996 Dirk Walther geb. 1939 1992 – 2005 Jürgen Einax geb. 1948 seit 1992 Ernst-Gottfried Jäger 1936 – 2006 1993 – 2002

(C) Christian Robl geb. 1955 seit 1993  U Regensburg Wolfgang Weigand geb. 1958 seit 1997  U München Winfried Plass geb. 1960 seit 2003  U Siegen Matthias Westerhausen geb. 1959 seit 2004  U München Georg Pohnert geb. 1968 seit 2007  ETH Lausanne Tab. 4: Professoren am Institut für Anorganische und Analytische Chemie der Friedrich- Schiller-Universität Jena nach der Wende.32

Die in der DDR berufenen und in der Wende noch aktiven Professoren (Gruppe (A)) mussten sich der fachlichen und persönlichen Evaluation unterwerfen, in deren Ergebnis sich folgende Konsequenzen ergaben: • Verlassen der Universität aus Altersgründen, wegen mangelnder fachli- cher Qualität (trat nicht auf!) bzw. wegen zu beanstandender persönlicher Integrität (1); • Verbleib an der Universität als Professor nach „altem Recht“ mit dem ab- sehbaren Ausscheiden aus Altersgründen (1); • Berufung als Professor „neuen Rechts“ in Übereinstimmung mit dem Strukturplan (2). Ein wesentliches Ergebnis der Evaluation sollte sein, dass habilitierte Kollegen, die in der DDR aus „kaderpolitischen“ Gründen keine Berufung erhalten konn- ten, im Sinne einer Wiedergutmachung endlich eine Chance für eine Berufung nach „neuem Recht“ eingeräumt wurde (Gruppe (B)). Da dabei auch älteren Kol- legen mit der absehbaren Konsequenz der Emeritierung Gerechtigkeit geschah, wurde dadurch der Weg zu einem Generationswechsel in der Professorenschaft offen gehalten.

Hatten die Berufungen in der Gruppe (B) aus verständlichen Gründen den Cha- rakter von „Hausberufungen“, setzten ab 1993 die Berufungsverfahren nach bun-

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 desdeutschem Standard ein (Gruppe (C)). Zu beobachten war allerdings, dass dabei nur Kollegen aus den alten Bundesländern Berücksichtigung fanden.

Insgesamt kann konstatiert werden, dass um die Jahrtausendwende ein nahezu vollständiger Generationswechsel und damit auch ein nahezu vollständiger Aus- tausch der ostdeutschen Professoren durch Professoren westdeutscher Herkunft erreicht war.

5. Personalentwicklung für wissenschaftliche und technische Mitarbeiter in und nach der Wende

Zeitlich folgte nach der Evaluation (s. Abschn. 4.2) der noch in der DDR berufe- nen Hochschullehrer die Evaluation der wissenschaftlichen und technischen Mit- arbeiter an der FSU.

Von Anfang an war dabei allen Beteiligten klar, dass in der Konsequenz eine deutliche Verringerung des planmäßigen Personalbestandes im Mitarbeiterbe- reich resultieren würde: • Reduktion des akademischen Mittelbaus • starker Abbau der unbefristeten im Vergleich zu den befristeten Stellen und • Reduktion der technischen Mitarbeiter. Das hatte wenig mit der moralischen oder fachlichen Qualität der Mitarbeiter, aber sehr viel mit der deutlich geringeren Ausstattung altbundesdeutscher Uni- versitätsinstitute mit unbefristeten Mitarbeitern zu tun.

Die Brisanz dieser Entwicklung macht ein Brief des Kanzlers der FSU Dr. Klaus Kübel vom 01.11.1993 an die „Mitarbeiter im nichtwissenschaftlichen Dienst“ deutlich:33

„Durch den Thüringer Landtag sind für die Universität Jena ca. 1.175 Stellen für nichtwissenschaftliches Personal bewilligt. Das sind 133 Stellen weniger, als dies in den 1991/92 erarbeiteten ... Strukturplänen ausgewiesen ist. Ferner sind ca. 275 Stellen als „künftig wegfallend“ (nämlich nach Freiwerden) bezeichnet... Mehr Mitarbeiter als Stellen sind danach vor allem in der Chemie, ... vorhanden... Prinzipiell stehen vier Wege zur Verfügung, um den Abbau zu verwirklichen: • Umsetzung von Mitarbeitern in andere Einrichtungen, wo noch freie Stellen vorhanden sind; • Reduzierung der Arbeitszeit (vgl. Modell Volkswagenwerk); • (ggf.) auch vorgezogenes altersbedingtes Ausscheiden;

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 • Ausscheiden aus Gründen mangelnder weiterer Verwendbarkeit, sei es wegen eines sehr speziellen Tätigkeitsbildes oder auch wegen man- gelnden persönlichen Engagements... Dabei sollen Erfahrungen genutzt werden, wie sie bei einer vergleichbaren Pro- blematik auch bei wissenschaftlichen Mitarbeitern gewonnen wurden.“

Für die Chemie ergaben sich langfristig die in Tab. 5 gezeigten quantitativen Veränderungen: Mitarbeiter 1979 1985 1989 1992 1995 1999 2005 wissenschaftlich 150 179 198 106 90 56 60 technisch 166 140 104 89 * * * ** ** *** *** * - s. 34 ** - s. 35 *** - s. 36 Tab. 5: Haushaltsstellen für wissenschaftliche und technische Mitarbeiter der Chemie.

Die geplanten Reduzierungen wurden u. a. dadurch erreicht, dass • bei den technischen Mitarbeitern viele Vollzeitstellen in Teilzeitstellen umgewandelt, • bei den wissenschaftlichen Mitarbeitern unbefristete in befristete Stellen und Vollzeit- in Teilzeitstellen umgewandelt bzw. wissenschaftliche Mit- arbeiter auf Technikerstellen gesetzt wurden. Weiterhin wurde mit „Rentenübergang, Altersübergangsregelungen, Fluktuation“ gearbeitet.37

Allerdings muss hinzugefügt werden, dass die Personalsituation durch die wach- sende Einwerbung von Drittmitteln – ein Vorteil der naturwissenschaftlichen Forschungsgruppen – und damit verbunden die entsprechende Bereitstellung von Drittmittelstellen deutlich entschärft werden konnte. Insbesondere für die promo- vierten wissenschaftlichen Mitarbeiter wirkte sich die Reduzierung der unbefri- steten Stellen drastisch aus, viele mussten sich relativ schnell umorientieren, wie exemplarisch die Situation im Institut für Anorganische und Analytische Chemie zeigt (Tab. 6). Person Verbleib W. B. IAAC (1985: Doz., bis 1993)  Hermsd. I. f. Techn. Keramik M. A. IAAC (bis 1996)  U Regensburg, IAC S. B. IAAC (bis 1998)  Hermsdorfer Inst. für Technische Keramik J. B. IAAC (bis 1994)  Hermsdorfer Inst. für Technische Keramik

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 M. D. IAAC (bis 2000, 1995: PD)  Prof. C3 U Heidelberg, FZ Karlsruhe J. E. IAAC 1992: Prof. C3 R. F. IAAC S. G.  Thür. Landesanst. f. Umwelt u. Geologie Jena B. H. IAAC (bis 1993)  freiberufl. Chemieberater B. H. IAAC (bis 1999, 1995: PD)  BMG LABTECH Offenburg J. J. IAAC (bis 1992)  Riedel Bauunternehmen Erfurt H. K.  Prof. FH Jena, FB Elektrotechnik C. K. IAAC (bis 1992)  FH Jena Prof. C3  BHU Weimar Prof. C4 U. K. IAAC (bis 1995)  freiberufl. Heilpraktikerin W. L. IAAC (bis 1996)  Ruhestand A. M. IAAC (bis 2006)  Ruhestand K. M. IAAC (bis 1994)  Inst. f. Troposphärenforsch. Leipzig G. P. IAAC (bis 1992)  Merck Darmstadt (1997: Habilitation TU, 2008: TU apl. Prof.) W. P. IAAC M. R. IAAC P. S.  U Jena, Inst. f. Technische Chemie u. Umweltchemie H. S. IAAC (ab 2005 Mitarbeit im Dekanat) W. S. IAAC (bis 1999)  Ruhestand B. U. IAAC (bis 1993)  Jenapharm Jena Tab. 6: Verbleib von promovierten Mitarbeitern des Instituts für Anorganische und Analyti- sche Chemie (IAAC) nach dem Wintersemester 1991/92.38

Ähnlich ergaben sich die Verhältnisse in den übrigen Instituten der damaligen Chemischen Fakultät der FSU Jena (Tab. 7). Damit war die in der DDR erreichte soziale Sicherheit erst einmal aufgehoben und dafür die weitgehend verloren ge- gangene Flexibilität in der Berufsausübung partiell wieder hergestellt.

Institut Summe Verbleib an Übergang in freibe- verscholl. Institut U Jena wiss. Wirtschaft rufl. Einr. IAAC 24 8 1 9 4 2 - IOMC 17 9 - 4 4 - - IPC 27 17 - 6 1 1 2 ITUC 11 4 3 1 2 1 - IGC 16 11 2 - 3 - -

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 (OSI) Summe 95 49 6 20 14 4 2 Tab. 7: Verbleib der promovierten Mitarbeiter der Chemischen Fakultät der FSU Jena nach dem WS 1991/92. (IAAC = Institut für Anorganische und Analytische Chemie, IOMC = Insti- tut für Organische Chemie und Makromolekulare Chemie, IPC = Institut für Physikalische Chemie, ITUC = Institut für Technische Chemie und Umweltchemie, IGC (OSI) = Otto-Schott- Institut für Glaschemie.)

Die wieder zu beobachtende berufliche Flexibilität der wissenschaftlichen Mitar- beiter geht allerdings heute in zunehmendem Maße einher mit einer auf Zeitver- trägen beruhenden Unterbezahlung, was das „Akrützel. Jenas führende Hochschulzeitung“ 2011 vor dem Bild eines instabilen Kartenhauses titeln lässt:

„Tragende Säule. Der Mittelbau: Prekariat der deutschen Universitäten“39

6. Resümee

Insgesamt beobachtete ich: 1. Die realen Veränderungen in der Chemie an der Universität Jena wurden von starken Impulsen der Ost-Professoren und -Mitarbeitern getragen und fanden anfangs eine schnelle und wirksame finanzielle und gerätetechni- sche Unterstützung durch die West-Kollegen. 2. Sie sind gekennzeichnet durch die sehr schnelle Wiederherstellung der traditionellen Strukturen und Verfahrensweisen, wobei es 1990/91 eine starke basisdemokratische Mitwirkung aller Mitarbeiter gab. 3. Es fand ein drastischer und rasanter Personalum- und -abbau in großem Ausmaß mit einem erzwungenen Generationswechsel bei den Professoren sowie mit einer starken Reduzierung des akademischen Mittelbaus statt. 4. Die bisherige staatlich gelenkte Forschungsfinanzierung brach weg, und es konnte eine schnelle Einbindung in das bundesdeutsche Forschungssystem erreicht werden. 5. Die starken Veränderungen in der Lehre führten zurück zu den altbundes- deutschen Prinzipien: a. weg von stark regulierten kollektiven Studienformen, hin zur Indivi- dualisierung des Studiums bei deutlich reduzierter Betreuung, b. weg von der ganzheitlichen Sicht auf die Synthesechemie mit starker theoretischer Durchdringung, hin zu der „klassischen“ Gliederung des Fachgebietes.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 6. Die materiell-technische Basis (Geräte, Gebäude, ...) verbesserte sich sehr schnell. 7. Die Gesamtsituation der Universitäten in Ost und West egalisierte sich überraschend schnell.

Die Chemie an der Universität Jena verkraftete und gestaltete dramatische Ver- änderungen in kürzester Zeit! Eine Wertung der Wendevorgänge auf einer Achse zwischen + und – liegt für mich auf der positiven Seite:

()──────────────────────────────────(▬)

Summary: The Chemistry Department at the University of Jena during the German reunification – Personal recollections

In this article the author summarizes his observations of the events of the chemis- try department at the Friedrich-Schiller-University (FSU) of Jena during the German reunification. This contribution was initiated by the 20th anniversary of the German reunification, which was also extensively discussed in the „Na- chrichten aus der Chemie“. The processes at the chemistry department at the FSU from March 1990 to June 1991 were determined of fast overthrows, supported by the common commitment of the staff. To characterize the extent of the changes of the chemistry department at the FSU during the German reunification, the situ- ation of the Jenaer chemistry department during and after the third higher educa- tion reform in the DDR (1968) is documented. In the context of the German reunification the changes because of the third higher education reform was with- drawn surprisingly fast and the circumstances of the chemistry department of the FSU were adapted to the conditions of the “old” German states. The procedure of the postdoctoral lecture qualification before the German reunification is shown in detail by the example of the authors postdoctoral lecture qualification. Also the appointment as a university teacher after the German reunification and the human resources development of the research associate before and after the German reu- nification is shown.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

1 Frank Kuschel, Helmut Ringsdorf, „Der zerrissene Mensch und unser geteiltes Gedächt- nis“, Nachrichten aus der Chemie, 58, 8 (2010), S. 759-763. 2 Frank Kuschel, Helmut Ringsdorf, (+ Christian Remenyi), „Im Großen und Ganzen ein Grund zum Feiern“, Nachrichten aus der Chemie, 58, 10 (2010), S. 1008-1011. 3 Alfred K. Barth, „Funktionär als Feind“, Nachrichten aus der Chemie, 58, 10 (2010), S. 1061. 4 Walter-Veselý Sebastian Meister, „Der Mitstreiter als Freund“, Nachrichten aus der Che- mie, 58, 10 (2010), S. 1061. 5 Joachim Sauer, „Der zerrissene Osten und die gelungene Wiedervereinigung“, Nachrichten aus der Chemie, 59, 1 (2011), S. 36-39. 6 Dietrich Demus, „Mit Sicherheit nicht alternativlos“, Nachrichten aus der Chemie, 59, 3 (2011), S. 366. 7 Helmut Ringsdorf, Frank Kuschel, „Verstehen und nicht Vergessen“, Nachrichten aus der Chemie, 59, 4 (2011), S. 466. 8 Günter Engelhardt, „Alternativlos oder nicht? Ein Nachtrag“, Nachrichten aus der Chemie, 59, 5 (2011), S. 560. 9 Chemie-Kurier: Monatszeitschrift für Chemiker an der FSU Jena, Sammlung Peter Hall- pap: 1. Jahrgang: März 1990, April 1990, Mai 1990, Juni 1990, September 1990, Dezember 1990 – 2. Jahrgang: März 1991, Mai/Juni 1991. 10 Peter Hallpap, Die 3. Hochschulreform in der Chemie an der Universität Jena, hrsg. von Peter Hallpap, Geschichte der Chemie in Jena im 20. Jahrhundert, Materialien III. (Jena 2006), S. 19-44. – [Der Beitrag steht im Internet in der „Digitalen Bibliothek Thüringen“ (http://www.db-thueringen.de/) über den Autorennamen als Volltext zur Verfügung.] 11 FSU Jena (Ernst-Haeckel-Haus, Sektion Chemie), Chem. Ges. d. DDR (AG Gesch. d. Chem.): Programm der 6. Arbeitstagung „Chymisten, Chemisten und Chemiker – chemi- sche Bildung im Spiegel ihrer Geschichte“ am 21. und 22. Sept. 1989 in Jena, Sammlung Peter Hallpap. 12 s. Chemie-Kurier vom September 1990, S. 2. 13 s. Chemie-Kurier vom Juni 1990, S. 2/3 u. 4. 14 s. Chemie-Kurier vom September 1990, S. 3 u. 4. 15 Peter Hallpap, Perioden der Chemieentwicklung an der Universität Jena, hrsg. von Peter Hallpap, Geschichte der Chemie in Jena, Materialien VI. (Jena 2010), S. 7-10. 16 Friedrich-Schiller-Universität Jena, Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1993, S. 260. 17 Verordnung über die akademischen Grade vom 6. November 1968, (GBl. II Nr. 127 S. 1022), hrsg. von MHF, Hoch- und Fachschulbildung – Grundsatzbestimmungen (Textaus- gabe) (Berlin 1987), S. 189-194.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

18 Unterlagen s. Sammlung Peter Hallpap. 19 Vorlage der Untersuchungskommission an den Rat der Sektion [Chemie vom 07.03.1990], Chemie-Kurier vom März 1990, S. 9. 20 Nach persönlicher Kenntnis, Peter Hallpap. 21 Peter Hallpap, Promotionen und Habilitationen in der Chemie 1945 – 2000, hrsg. von Peter Hallpap, Geschichte der Chemie in Jena. - Materialien V., (Jena: Friedrich-Schiller- Universität 2012), Tab. Tab. B.a.2.I, S. 67-71. 22 Peter Hallpap, Promotionen und Habilitationen in der Chemie 1945 – 2000, hrsg von. Peter Hallpap, Geschichte der Chemie in Jena. – Materialien V. (Jena 2012), Tab. Tab. B.a.2.II, S. 72/73. 23 Diese Angaben wurden aus verschiedenen Materialien zusammengeführt: Rektor der FSU (Hrsg.), Who’s Who an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Jena 1998). Friedrich-Schiller-Universität Jena, Struktur- und Personalverzeichnis, Winterseme- ster 1991/92 bis 2001/02. – Lebensläufe von den Homepages der Wissenschaftler aus dem Internet. – Auskünfte des Dekanats der Chemisch-Geowissenschaftlichen Fakultät. – Öf- fentliche Auslage der „Unterlagen zur Evaluation“ von Wissenschaftlern mit Promotion B an der Sektion Chemie im Herbst 1990. 24 Universitätsarchiv Jena: Math.-Naturw.-Techn. Fakultät, Promotion B ab 1.1.1970 - 25.6.1990. 25 S. Anm. 24. 26 Michael Ploenus, Ankunft im vereinten Deutschland. Die Universität Jena zwischen 1989 und 1995, hrsg. von Senatskommission zur Aufarbeitung der Jenaer Universitätsgeschichte im 20. Jahrhundert, Taditionen – Brüche – Wandlungen. Die Universität Jena 1850-1995 (Köln u. a.: Böhlau 2009), S. 842-877. 27 Michael Ploenus, Innerer Aufbruch und Reform. Die Wende an der Universität Jena 1988- 1991, die Hochschule 1/2002 (2002), S. 142. 28 Protokoll zur Sitzung des Rates der Fakultät am 5.12.1990, Chemie-Kurier vom Dezember 1990, S. 6. 29 Protokoll der außerord. Fakultätsratssitzung vom 05.06.1991: Stellenplanung der FSU nach Vorgaben des Ministers Ulrich Fickel, Chemie-Kurier vom Mai/Juni 1991, S. 12. 30 Sektion Chemie: Personalplanung Erziehung, Aus- und Weiterbildung Studienjahr 1989/90, Sammlung Peter Hallpap. 31 Friedrich-Schiller-Universität Jena: Struktur- und Personalverzeichnis Wintersemester 2000/01. 32 Peter Hallpap, Professoren der Chemie in Jena 1789 – 2007, hrsg. von Peter Hallpap, Ge- schichte der Chemie in Jena. - Materialien VI. (Jena 2010), S. 32/33. 33 Brief des Kanzlers der FSU Dr. Klaus Kübel an die Mitarbeiter im nichtwissenschaftlichen Dienst vom 01.11.1993, Sammlung Peter Hallpap.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

34 Zusammenstellung der Planstellen aller wissenschaftlichen Mitarbeiter der Sektion Chemie 1969-1990, Chemie-Kurier vom März 1990, S. 12. 35 Protokoll der außerord. Fakultätsratssitzung vom 05.06.1991: Stellenplanung der FSU nach Vorgaben des Ministers Fickel, Chemie-Kurier vom Mai/Juni 1991, S. 12. 36 Auskunft vom Dekanat der Chemisch-Geowissenschaftlichen Fakultät der FSU. 37 Protokoll der Fakultätsratssitzung vom 10.04.1991, Pkt. 3, 1. Unterpunkt, 2. Anstrich. – Chemie-Kurier vom Mai/Juni 1991, S. 3. 38 Die Tabelle entstand 2011 aus Befragungen von Kollegen mit Unterstützung von Dr. Man- fred Friedrich, Dr. Arno Martin, Petra Puhlfürß u. PD Dr. Dietmar Stadermann. 39 Akrützel. Jenas führende Hochschulzeitung, 22. Jahrgang, Nr.297 vom 30.06.2011, Titel- blatt.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Alles aus Plaste – eine Ausstellung zum Über- gang in das Kunststoffzeitalter in der DDR

Dr. Alexander Kraft, Am Graben 48, 15732 Eichwalde

In Eisenhüttenstadt zeigt das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR seit dem 20.5.2012 die Sonderausstellung „Alles aus Plaste. Versprechen und Ge- brauch in der DDR".

Ursprünglich sollte die Ausstellung nur bis 31. Mai 2013 laufen, wegen ihres Er- folges wurde sie jedoch bis zum 31.12.2013 verlängert.

Eisenhüttenstadt, 1950 unmittelbar neben dem alten Städtchen Fürstenberg an der Oder gegründet und von 1953 bis 1961 unter dem Namen Stalinstadt bekannt, ist eine sozialistische Planstadt. Erbaut wurde sie als Wohnstadt für das ebenfalls 1950 gegründete Eisenhüttenkombinat Ost (EKO), heute ArcelorMittal Eisenhüt- tenstadt GmbH . Das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR ist in einer umgestalteten ehemaligen Kinderkrippe eingerichtet. Neben der Dauerausstellung „Alltag: DDR“ ist auch Raum für Sonderausstellungen.

Ein Leckerbissen für den Chemiehistoriker ist die derzeitige Ausstellung zum Kunststoffzeitalter in der DDR. Der erste Teil der Ausstellung geht kurz auf die Rahmenbedingungen der chemischen Industrie der DDR in den frühen 1950er Jahren ein. Kunststoffe wie Bakelit und PVC wurden schon längere Zeit z.B. in Erkner bzw. in Bitterfeld produziert. Nach der Chemiekonferenz im November 1958 in Leuna begann in der DDR mit dem Ausbau der Kunststoffindustrie in großem Stil. Die Kunststoffe, in der DDR meist Plaste genannt, drangen beson- ders in das tägliche Leben der Menschen ein, da nun viele Alltagsprodukte nicht mehr aus Naturstoffen sondern zunehmend eben aus Plaste hergestellt wurden.

Der zweite Ausstellungsteil gibt einen Überblick über die verschiedenen Kunst- stoffe, erklärt kurz ihre Herstellung, Eigenschaften und ihren Einsatz. Der Besu- cher erfährt etwas zu Bakelit, PVC, der DDR-Polyamidfaser Dederon, Po- lyurethan, Polyethylen und Polypropylen, Polystyrol, Meladur, Sprelacart usw.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506

Das Gebäude des Dokumentationszentrums Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt

Im dritten Ausstellungsteil geht es um die konkreten Anwendungsbereiche der Plaste-Artikel. Im Mittelpunkt stehende Themenkomplexe sind die Plastifizie- rung des Bades, die Plastifizierung der Küche, die Campingausrüstung und die Kollektivversorgung (also die Essensversorgung in großen Einrichtungen). Der gelernte DDR-Bürger sieht hier viele ihm aus seiner Jugend und Kindheit be- kannte Artikel wieder. An manche erinnert er sich gerne (z.B. die Brotdose aus PVC oder der Sprelacart-Esstisch), andere lösen noch heute Kopfschütteln aus (z.B. die 1 L-Polyethylen-Milchtüte).

Ein weiterer Teil der Ausstellung geht auf die kunststoffverarbeitenden Betriebe der DDR ein, unter denen noch bis in 1970er Jahre hinein überraschend viele pri- vate oder halbstaatliche Betriebe waren. 15 wichtige Hersteller von Plasteartikeln werden näher vorgestellt, darunter solche Betriebe wie die Wilhelm Kimmel AG in Sebnitz, das Preßwerk Ottendorf-Okrilla der VEB Polyplast Halberstadt oder das VEB Preßstoffwerk Spremberg „Dr. Erani". Legendär ist das Sprelacart ge- nannte Produkt aus dem Spremberger Herstellungsbetrieb. Sprelacart, die DDR- Variante des Resopal, ist ein Schichtpresswerkstoff aus mit Melaminharz ge- tränkten Papier- und Gewebebahnen, die unter erhöhtem Druck und Temperatur verpresst werden. Sprelacart wurde in der DDR vielfach für die Oberflächen von Küchen-, Schul- und Labormöbeln sowie für Wandverkleidungen eingesetzt. Das Produkt wird noch heute in Spremberg von dem Nachfolgebetrieb Sprela GmbH produziert.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Zuletzt erfährt man in der Ausstellung noch etwas zur Alterung von Plasteartikeln und zu Methoden zu deren Konservierung und Restauration, was na- türlich besonders für Museumsammlungen wichtig ist. Sehr zu empfehlen ist auch das von Katja Böhme und Andreas Ludwig her- ausgegebene und im Böhlau-Verlag erschie- nene Begleitbuch.

Ein Blick in die Ausstellung

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Aus dem Fachgebiet

Die nächste Vortragstagung der Fachgruppe Geschichte der Chemie findet im Rahmen des GDCh-Wissenschaftsforum 2015 vom 30.8. – 2.9.2015 in Dresden statt. Nähere Informationen, auch zur Anmeldung von Beiträgen und zur Teil- nahme, sind rechtzeitig auf der GDCh-Homepage abrufbar. *

Wer neue Mitglieder für die Fachgruppe Geschichte der Chemie werben möchte, kann zu diesem Zweck von der GDCh-Geschäftsstelle einen sehr anspre- chend gestalteten Flyer anfordern. *

Das Forum Kunststoffgeschichte veranstaltet vom 22 .– 24.10.2014 in Berlin eine internationale Tagung zum Thema „Plastics Heritage“ mit Podiumsdiskussion über „Bioplastics: Designing with an upcoming Material“. Nähere Informationen unter . *

Am 9. Mai 2014 wurde das Alte Chemische Institut der Universität Bonn in das Programm Historische Stätten der Chemie aufgenommen. Für die Dokumenta- tion der Veranstaltung und eine Übersicht über die anderen Historischen Stätten siehe . *

Die nächste Tagung der Working Party for the History of Chemistry (EuCheMS) findet vom 9. – 13. September 2015 in Aveiro (Portugal) statt. Vgl. . *

Da die „Nachrichten aus dem Fachgebiet“ in den Mitteilungen nie ganz aktuell sein können, sollten sich die Mitglieder der Fachgruppe durch die Mailingliste CHEM-HIST regelmäßig über Tagungen, Veranstaltungen, Projekte, Ausstel- lungen, Stipendien etc. aus dem Gesamtgebiet der Chemiegeschichte informieren lassen. Die Liste hat derzeit etwa 550 Subskribenten weltweit. Für weitere Infor- mationen und zur Einschreibung siehe .

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Stipendien und Preise

Der vom Ludwigshafener Unternehmer Wilhelm Lewicki seit 1994 gestiftete chemiehistorische "Liebig-Wöhler-Freundschafts-Preis" wurde am 8. Juni 2013 auf der Mitgliederversammlung der Göttinger Chemischen Gesellschaft Museum der Chemie e. V. zum 26. Mal vergeben. Preisträger war diesmal Herr Dr. Neill Busse, Herborn, der für seine chemiegeschichtliche Dissertation mit dem Titel "Die chemische Elite. Das Netzwerk Justus Liebigs und seiner Schüler" (Justus-Liebig-Universität Gießen, 2011) ausgezeichnet wurde. Der Preis wird jährlich zum 15. Dezember ausgeschrieben für publizierte Arbei- ten oder abgeschlossene Dissertationen in deutscher oder englischer Sprache, die sich mit Liebig, Wöhler oder deren chemiegeschichtlichem Umfeld befassen. Bewerbungen oder Anfragen an: Prof. Dr. Herbert W. Roesky, Göttinger Chemi- sche Gesellschaft Museum der Chemie e.V., Tammannstr. 4, 37077 Göttingen. *

The Society for the History of Alchemy and Chemistry is delighted to announce that the 2014 Partington Prize has been awarded to Evan Hepler-Smith (Prince- ton University), for his article “Just as the Structural Formula Does”: Names, Di- agrams, and the Structure of Organic Chemistry at the 1892 Geneva Nomencla- ture Congress.” – The Partington Prize was established in memory of Professor James Riddick Partington, the Society’s first Chairman. It is awarded every three years for an original and unpublished essay on any aspect of the history of al- chemy or chemistry. The prize consists of five hundred pounds (£500). The Partington Prize and certificate of commendation will be presented at a ceremony at the History of Science Society Annual Meeting, held this year from 6-9 No- vember 2014 in Chicago. *

Der Bettina-Haupt-Förderpreis 2015 für Geschichte der Chemie soll im Rahmen des GDCh-Wissenschaftsforums in Dresden verliehen werden. Der Preis ist jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorbehalten und mit € 1500 dotiert. Berücksichtigt werden können publizierte und unpublizierte Ar- beiten (auch Magister-/Masterarbeiten) in deutscher Sprache zu einem beliebigen Thema aus der Geschichte der Chemie. Publizierte Arbeiten sollten nicht älter als drei Jahre sein. Auch Gemeinschaftsarbeiten mehrerer Verfasser/innen sowie thematisch verbundene Einzelarbeiten können prämiert werden. Die Arbeiten sind in vierfacher Ausfertigung und zusätzlich als PDF, begleitet von Lebenslauf

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 und Schriftenverzeichnis der Autorin bzw. des Autors, einzureichen. Bewerbun- gen sind bis zum 31. März 2015 erbeten an: Dipl.-Biol. Nicole Bürger, Gesell- schaft Deutscher Chemiker, Fachgruppen, Varrentrappstr. 40-42, 60486 Frank- furt, . Vgl.  Bettina- Haupt-Förderpreis.

Spendenaufruf

Die Bettina-Haupt-Stiftung in der GDCh fördert die chemiehistorische Forschung, indem sie herausragende Arbeiten von Nachwuchswissenschaftlern auszeichnet. Der Bettina-Haupt-Preis ist jüngeren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vorbehalten und mit 1500 Euro dotiert. Berücksichtigt werden können publizierte und unpublizierte Arbeiten in deutscher Sprache zu einem beliebigen Thema aus der Geschichte der Chemie.

Der Vorstand der Fachgruppe Geschichte der Chemie bittet alle Mitglieder, für die Erhaltung des Preises zu spenden. Spenden sind erbeten auf das Konto der GDCh: IBAN DE85 5008 0000 0490 0200 00, BIC DRESDEFFXXX, Code: 8103/BHP.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Eingesandte Neuerscheinungen

Miloš Jesenský, História alchýmie na Slovensku (Bratislava: Balneotherma, 2009), 177 S., ISBN 978-80-970156-3-3 Die Geschichte der Alchemie in der Slowakei von ihren Anfängen im 15. Jahr- hundert bis zu den Ausläufen im 18. Jahrhundert wird skizziert.

Alexander Kraft, Chemie in Berlin. Geschichte, Spuren, Persönlichkeiten (Berlin: Berlin Story Verlag, 2012), 330 S., ISBN 978-3-86368-060-2 Diese wissenschaftshistorische Topographie nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die chemische Vergangenheit Berlins, führt ihn zu traditionsreichen Orten, die der Chemie in Berlin als Wissenschaft und Industriezweig eine Plattform ge- geben haben und macht ihn bekannt mit 50 Persönlichkeiten, die in Berlin Che- miegeschichte geschrieben haben. Alexander Kraft versteht es in diesem vielbe- bilderten Band einen viel zu wenig beachteten Teil der Geschichte Berlins wieder lebendig werden zu lassen.

John C. Powers, Inventing Chemistry: Herman Boerhaave and the Reform of the Chemical Arts (Chicago: Univ. of Chicago Press, 2012), viii + 260 S. Im 18. Jhdt erhielt die Chemie an der Universität Leiden durch die Lehrtätigkeit von Herman Boerhaave (1668-1738) und durch dessen Elementa chemicae von 1732 ihre moderne Gestalt. Der Band zeigt, wie Boerhaave unterschiedliche ältere Traditionen in eine konsistente, naturphilosophisch fundierte Form zusammen- führte und auf diese Weise aus handwerklichen Praktiken eine akademische Dis- ziplin schuf.

Dietrich Braun, Kleine Geschichte der Kunststoffe (München: Carl Hanser Ver- lag, 2013), 292 S., ISBN 978-3-446-43685-5 In kurzer und allgemein verständlicher Weise versteht es Braun dem Leser einen Überblick über die Kunststoffgeschichte vom Altertum bis zur Gegenwart zu geben. Dabei geht Braun vor allem auf das Entstehen und Wachsen dieser jüng- sten Werkstoffklasse ein, ohne sich dabei in wissenschaftlichen und technischen Details zu verlieren und eröffnet dem Buch somit einen Zugang zu einem breitge- fächerten Publikum, das sich aus verschiedensten Gründen für diesen Werkstoff interessieren kann.

Egbert Gritz, Mersol: Entwicklung und Einsatz von Ersatzwaschrohstoffen aus Kohle 1936-1945. Ein Beitrag zur nationalsozialistischen Autarkiepolitik, hrsg. von Markus A. Denzel u.a., Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Nr. 123 (Stuttgart: Franz Steiner Verlag, 2013), 203 S., ISBN 978-3-515-10380-0

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506 Um das Deutsche Reich kriegsfähig zu machen, versuchten die Nationalsozialis- ten unter dem Diktat der Vierjahresplanbehörde eine möglichst autarke Rohstoffversorgung aufzubauen. Dies betraf auch die Versorgung mit Ölen und Fetten, die möglichst ohne Importe gewährleistet werden sollte. Um dieses angestrebte Ziel zu erreichen, sollte die Chemieindustrie „synthetische“ Waschrohstoffe auf der Basis von Kohle entwickeln. Ein Ergebnis dieser Bemü- hungen war der Seifen-Ersatzstoff „Mersol“, dessen Entwicklung im Rahmen der historischen Umstände erläutert wird.

Branislav Krasnovský, Richard R. Senček und Michal Uher, Chemický priemysel v zrkadle dejín slovenska. História farmaceutického priemyslu na Slovensku (Bratislava: Vydalo, 2013), 141 S., ISBN 978-80-227-3923-8 Ein Überblick über die Entwicklung der pharmazeutischen Industrie in der Slowa- kei von ihren alchemischen Wurzeln bis zu heutigen Pharmaunternehmen wird gegeben.

Jürgen Hollweg, Salz – Weißes Gold oder Chemisches Prinzip? Zur Entwicklung des Salzbegriffs in der Frühen Neuzeit (Frankfurt am Main: Peter Lang GmbH, 2014), 102 S., ISBN 978-3-631-64865-0 Die Bedeutung des Salzes und die Definition des Salzbegriffs waren vom Alter- tum bis zur Neuzeit einem starken Entwicklungsprozess unterworfen. Wurde im Altertum Salz noch als Gabe der Götter und als Symbol für das Bündnis mit Gott verehrt, wird der Begriff Salz im 21. Jahrhundert als Stoffklasse mit einer defi- nierten stofflichen Zusammensetzung beschrieben. Die Entwicklung des Salzbe- griffs zu einem allgemein wissenschaftlich-definiertem Begriff in der Frühen Neuzeit ist Gegenstand dieser Monografie.

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Mitteilungen, Gesellschaft Deutscher Chemiker / Fachgruppe Geschichte der Chemie (Frankfurt/Main), Bd 23 (2013) ISSN 0934-8506