Retrospektive King Vidor King Vidor King Vidor
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Retrospektive King Vidor King Vidor King Vidor 13 King Vidor (Mitte) bei den Dreharbeiten zu LA BOHÈME mit Lillian Gish King Im November 1925 kam King Vidors THE BIG PARADE Der enorme Erfolg von THE BIG PARADE ermöglich- in die amerikanischen Kinos. Schon bei seinem ersten te es Vidor, auf dem Höhepunkt der Prosperität und des Einsatz spielte er mehr als das Zehnfache seiner Pro- Zukunftsglaubens einen Film über einen kleinen Ange- duktionskosten ein und machte die erst im Jahr zuvor stellten in New York zu drehen – einen Versager ge- gegründete MGM zu einer der mächtigsten Produkti- messen an den Erwartungen seines Vaters, seiner Um- onsfirmen Hollywoods. Seit D.W. Griffiths HEARTS OF gebung und den eigenen. THE CROWD (1928) ist einer THE WORLD (1918) hatte es keinen bedeutenden ame- der ungewöhnlichsten Hollywoodfilme der 1920er Jah- rikanischen Spielfilm über den Ersten Weltkrieg mehr re, ein Film ganz ohne die üblichen Zutaten eines Hol- gegeben, und THE BIG PARADE löste für die nächsten lywoodfilms: »Es gibt so gut wie keine Handlung; die zehn Jahre eine ganze Welle ähnlich angelegter Filme Liebesgeschichte kommt ohne Sex aus; es gibt keinen aus. Der Maler Andrew Wyeth sah ihn schon als Kind physischen Höhepunkt, keinen Kampf, keinen planmä- und hat später immer wieder betont, wie dieser Film ßigen Thrill. Die Figuren, allesamt Leute aus dem Alltag, sein Werk beeinflusst habe; in Vidors METAPHOR. KING verhalten sich nicht wie Figuren in einem Film, sondern VIDOR MEETS WITH ANDREW WYETH (1980) erzählt er, wirklich wie Menschen; es gibt keinen Schurken, keine dass er den Film 180mal gesehen habe. Die berühmte Schurkerei, keinen Erfolg«, schrieb Gilbert Seldes da- Szene, in der Melisande sich an den Lastwagen hängt, mals. Obwohl THE CROWD im engeren Sinne doku- der ihren Geliebten zusammen mit anderen Soldaten mentarische Sequenzen enthält, teilweise mit versteck- an die Front bringt, findet ein direktes Echo in Roberto ter Kamera aufgenommen, handelt es sich nicht um Rossellinis ROMA CITTÀ APERTA (1945), wenn Pina einen naturalistischen Film; im Gegenteil enthält er hinter dem Lastwagen herläuft, der neben weiteren melodramatische Zuspitzungen und eine Reihe artifizi- Verhafteten auch ihren Verlobten Francesco abtrans- ell komponierter, nach Vidors späterer Aussage an portiert. deutschen Filmen von Murnau und Dupont geschulter Einstellungen. Es war gerade dieser auf poetische wichtigsten amerikanischen Regisseure aufgestiegen. Überhöhung abzielende Realismus, der Rossellini und Diese drei Filme sowie zwei spätere von explizit sozialer De Sica und somit den italienischen Neorealismus der Thematik, OUR DAILY BREAD (1934) und THE CITADEL späten 1940er und frühen 1950er Jahre nachhaltig (1938), verschafften ihm auch wohlwollende Einträge beeinflusste. in den meisten klassischen linken Filmgeschichtsbü - Im August 1929 erschien Vidors erster Tonfilm HAL- chern (Rotha, Gregor/Patalas, Toeplitz). In den 1960er LELUJAH, eine Art Musical mit ausschließlich schwar- und 1970er Jahren, nach dem Ende seiner Karriere, zen Darstellern, selbst beim Verkauf der Baumwolle hielten die tonangebenden Filmzeitschriften in Frank- und im Gefängnis. Das ist auch seine größte Schwäche, reich, Großbritannien und den USA seinen Ruf aufrecht. denn er bekommt auf diese Weise, wie schon F.C. Die älteste mir vorliegende selbständige Publikation Weiskopf 1930 richtig anmerkte, die »Rassen- und über Vidor ist eine von Rudolph S. Joseph herausgege- Klassenfrage« gar nicht erst in den Blick. Das Bran- bene Broschüre des Photo- und Filmmuseums im Mün- chenblatt Variety widmete dem Film gleich drei Kritiken. chner Stadtmuseum, die 1966 anlässlich einer Vidor- King Vidor King Vidor Zuerst in den USA, etwas später auch in Frankreich und Ausstellung und begleitenden Filmreihe erschien. Es Deutschland wurde HALLELUJAH als eine bahnbre- folgten Retrospektiven u.a. in San Sebastián, New York, 14 chende Pioniertat des Tonfilms gefeiert. Weil ihm kein Paris, Venedig und Frankfurt am Main. Kurzum, King mobiles Tonequipment zur Verfügung stand, musste Vidor war nie vergessen, und er fiel auch nie in Ungna- Vidor die Außenaufnahmen in Tennessee und Arkansas de wie etwa William Wyler oder Vittorio De Sica. Und stumm drehen und später im Studio mühsam nachsyn- trotzdem spielt er im heutigen filmkritischen Diskurs chronisieren. Das erlaubte ihm aber eine ungemein nicht die geringste Rolle. Dessen Langzeitgedächtnis bewegliche Kamera in diesen Szenen sowie gewollt reicht ohnehin höchstens dreißig Jahre zurück, es artifizielle Toneffekte. hängt aber auch sicher damit zusammen, dass Vidors Mit THE BIG PARADE, THE CROWD und HALLELU- Filme – etwa im Gegensatz zu denen von Hitchcock JAH war King Vidor für die meisten Kritiker zu einem der oder Lubitsch – kein Markenzeichen aufweisen. King Vidor bei den Dreharbeiten zu SOLOMON AND SHEBA Vidor bei den Dreharbeiten zu SOLOMON King King Vidor (1894–1982) hatte mit Wochenschauen und Dokumentationen sowie Kurzfilmen begonnen. Seit 1920 verfügte er für einige Jahre über sein eigenes kleines Studio, »Vidor Village«. Von 1924 bis 1944 war er als Regisseur bei MGM beschäftigt, aber auch wäh- rend dieser Zeit drehte er mit eigenem Geld eine unab- hängige Produktion, OUR DAILY BREAD, eine Art Indie- Film avant la lettre. Ironischerweise waren seine beiden AND PEACE WAR Dreharbeiten zu letzten Werke innerhalb der Industrie zwei aufwendige, in Europa entstandene Großproduktionen, WAR AND PEACE (1956) und SOLOMON AND SHEBA (1959); bei- den vermochte er eine persönliche Note zu verleihen, viele seiner bevorzugten Themen fand er bei Tolstoj wieder. Vidor dürfte der einzige Hollywoodregisseur King Vidor sein, der nach dem Ende seiner Karriere zwei sehr 15 persönliche 16mm-Dokumentarfilme realisierte. Von 70mm zu 16mm! King Vidor war wirklich ein unabhän- giger Filmemacher. Er gehöre »zu den Hollywood-Re- gisseuren, die sich mit Dutzenden indifferenter Rou- tineprodukte die Möglichkeit einhandeln, von Zeit zu Zeit einen Film nach eigenem Geschmack drehen zu können«, heißt es 1962 bei Gregor/Patalas. In verschie- kommt zu einer seiner Predigten, um sich über ihn lus- denen Interviews hat Vidor diese Unterscheidung zwi- tig zu machen, wird aber von ihm bekehrt. Später bren- schen persönlichen Werken und Auftragsarbeiten nen die beiden zusammen durch, und Zeke arbeitet in selbst vorgenommen. Tatsächlich jedoch wirken Auf- einem Sägewerk. Gelangweilt von diesem Leben, tragsfilme wie WILD ORANGES (1924), NORTHWEST macht sich Chick mit dem wieder aufgetauchten Hot PASSAGE (1940; ein geplanter zweiter Teil wurde nie Shot davon, doch Zeke folgt den beiden und erwürgt gedreht), DUEL IN THE SUN (1946), THE FOUNTAIN- Hot Shot; bei der Verfolgung kommt auch Chick zu HEAD (1949) oder BEYOND THE FOREST (1949) nicht Tode. Nach der Verbüßung einer Gefängnisstrafe kehrt im geringsten unpersönlicher als von Vidor selbst initi- Zeke zu seiner Mutter, seinen Geschwistern und seiner ierte Filme wie THE BIG PARADE, THE CROWD, HALLE- Verlobten zurück. LUJAH, OUR DAILY BREAD, AN AMERICAN ROMANCE Auffällig an der Präsentation dieser Geschichte ist, (1944) oder RUBY GENTRY (1952) – im Falle von DUEL dass der Film keinerlei moralische Wertung seiner IN THE SUN umso erstaunlicher, als er mit David O. Hauptfigur vornimmt. Vidor war zeitlebens Anhänger Selznick einen Produzenten hatte, der sich nicht nur um der Christian Science, und in keinem seiner erhaltenen alle Details des Drehbuchs, sondern auch der Inszenie- Spielfilme kommt das so deutlich zum Ausdruck wie rung persönlich kümmerte. Eine Vidor-Retrospektive hier. Nicht Zeke bestimmt den Fortgang der Ereignisse, offenbart ein im hohen Maße persönliches Gesamt- sondern sie stoßen ihm gewissermaßen zu, Gott, das werk, nur wenige seiner erhaltenen 52 Filme lassen Schicksal oder einfach das Leben lässt sie über ihn den Zuschauer indifferent, aber sie sind in ihrer Viel- kommen, er kann nur hoffen, zu einer höheren Be- schichtigkeit nicht auf eine Formel zu bringen. wusstheit seiner selbst zu gelangen. Deshalb kann er HALLELUJAH ist nicht der beste Film Vidors, darf auch innerhalb einer Minute sein Predigeramt und al- aber als exemplarisch im Rahmen seines Œuvres gel- les, was damit zusammenhängt, wieder aufgeben – es ten, insofern er viele von Vidors Interessen, Überzeu- war eine falsche Berufung, sie entsprach nicht seinem gungen und Obsessionen in besonderem Maße bün- inneren Wesen. Organisierte oder gar dogmatische Re- delt. Zeke, die Hauptfigur, verfällt in der Stadt den ligion ist Vidor suspekt, wie sich später vor allem in Reizen der Saloonsängerin Chick und verliert den Ertrag DUEL IN THE SUN und RUBY GENTRY zeigt. Nicht ein- der Baumwollernte beim Spiel an Chicks Freund Hot mal THE SKY PILOT (1921) bildet dabei eine Ausnahme, Shot. Bei der folgenden Auseinandersetzung wird Ze- denn der Pfarrer beweist hier seinen Wert nicht durch kes jüngerer Bruder getötet. Der Schmerz darüber lässt seine Predigten, sondern durch seine Fäuste im Saloon ihn zu einem Erweckungsprediger werden. Chick und seine Nützlichkeit auf der Ranch. Eine ganze Reihe von Hauptfiguren Vidors ist ver- die nichts als Bösewichte sind. Die Konzeption eines gleichbar zu Zeke angelegt. Das Grundkonzept von THE Individuums, das die Wahrheit in sich selbst finden BIG PARADE war, nicht einen kriegsbegeisterten Patrio- muss, kann allerdings auch zu einem Sozialdarwinis- ten und auch keinen Pazifisten nach Frankreich in den mus wie in NORTHWEST PASSAGE oder einem extre- Krieg ziehen zu lassen, keinen Offizier und keinen Hel- men Elitedenken wie in THE FOUNTAINHEAD führen. den,