Musikalischer Humor Als Ästhetische Distanz? Universitätsverlag Göttingen 15
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15. Internationaler Kongress der Gesellschaft für Musikforschung umor ist leichter defi nierbar über (subjektive) Reaktionen des Hörers als Symposia, Band 1 musikimmanent (objektiv). Soziokulturelle Vorgaben wie Zeitgeist, Bildung, HErwartungshaltung und musikalische Sozialisation sind bedingende Faktoren des Hörprozesses, sie reichen jedoch nicht aus, das Phänomen musikalischen Humors zu erklären. Weiterführend ist zu fragen, wo, wann, warum und wieso musikalische Ereignisse überhaupt zum Lachen oder Schmunzeln anregen oder nicht. Sind dem Komponisten und/oder Hörer die Traditionen, Regeln, Normen bestimmter Musiken oder Musikkulturen nicht geläufi g, wird er über Humor aus- lösende Verletzungen, Brüche, geistreiche Anspielungen u. a. m. kaum lachen können, da raffi nierte Spielformen des Komischen auch Kritik an ästhetischen Konventionen sind, die sich dynamisch, rhythmisch, tempomäßig, harmonisch, melodisch, satztechnisch, formal oder instrumental artikulieren. Bildungskon- Ute Jung-Kaiser und Stephan Diedrich (Hg.) zepte sollten also Voraussetzungen bereitstellen, die es Schülern, Kindern, Seni- oren oder Musiklaien ermöglichen, musikalischen Humor als intellektuelle und/ oder emotionale Bereicherung erfahren zu können. Musikalischer Humor als Die in dieser Publikation vereinten Studien refl ektieren Zugänge zu unterschied- ästhetische Distanz? lichen Musikwerken, Defi nitionen und Spieltechniken, auch zu jener Ausnah- meliteratur, welche musikalischen Humor als ästhetische Distanz zu realisieren vermochte. Ute Jung-Kaiser und Stephan Diedrich (Hg.) Musikalischer Humor als ästhetische Distanz? ISBN: 978-3-86395-226-6 Universitätsverlag Göttingen Universitätsverlag Göttingen Ute Jung-Kaiser und Stephan Diedrich (Hg.) Musikalischer Humor als ästhetische Distanz? Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz. erschienen als Band 1 der Symposia des 15. Internationalen Kongresses der Gesellschaft für Musikforschung im Universitätsverlag Göttingen 2015 Ute Jung-Kaiser und Stephan Diedrich (Hg.) Musikalischer Humor als ästhetische Distanz? 15. Internationaler Kongress der Gesellschaft für Musikforschung Symposia Band 1 Universitätsverlag Göttingen 2015 Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über <http://dnb.dnb.de> abrufbar. Gemeinsames Bund-Länder-Programm für bessere Studienbedingungen und mehr Qualität in der Lehre. Dieses Vorhaben wird aus Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung unter dem Förderkennzeichen 01PL11061 gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren. Dieses Buch ist auch als freie Onlineversion über die Homepage des Verlags sowie über den Göttinger Universitätskatalog (GUK) bei der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (http://www.sub.uni-goettingen.de) erreichbar. Es gelten die Lizenzbestimmungen der Onlineversion. Satz und Layout: Stephan Diedrich und Andreas Waczkat Umschlaggestaltung: Jutta Pabst Titelabbildung: Gīsan Mári Abbildung auf dem Innentitel: wie S. 164f. © 2015 Universitätsverlag Göttingen http://univerlag.uni-goettingen.de ISBN: 978-3-86395-226-6 Inhalt Ute Jung-Kaiser und Stephan Diedrich Musikalischer Humor als ästhetische Distanz? – Eine Einführung 3 Friederike Wißmann Närrisches und Abseitiges. Musikästhetische Fragen an Joachim Ritters Überlegungen zum Lachen 15 Maria Goeth Der strauchelnde Clown – Intendierter Dilettantismus als Möglichkeit musikalischen Humors 27 Claudia Breitfeld Zur Vergleichbarkeit sprachlicher und musikalischer Klangstrukturen. Henri Bergsons Le rire 49 Brigitte Vedder Humor und Komik in Bühnenwerken des 17. Jahrhunderts 67 Friedhelm Brusniak Pater Valentin Rathgebers „musikalischer Humor“ 99 Stephan Diedrich „Wer diese Kunst nicht gerne höret, der ist und bleibt ein Asinus!“ Der Esels-Topos und seine musikalische Umsetzung in Christoph Ludwig Fehres Kantate Der Schulmeister in der Singschule 113 Bianca Nassauer „Wenn Haydn auf die Pauke haut…“ Zum musikalischen „Wiz“ im Andante der Sinfonie Nr. 94 137 Ute Jung-Kaiser Beethovens verschlüsselte Art zu lachen. Zur Wahrnehmungsproblematik rein musikalischen Humors 153 Sonja-Maria Welsch Eine ernste Bohème? Komik und musikalischer Humor in der Blütezeit der opera italiana (1860–1890) 181 Sarah-Lisa Beier Humor erzählend-musikalisch auf die Spitze getrieben: Erik Saties Sonatine bureaucratique 203 Elena Gaponenko und Diana Rieger Humorvolle Pianistik in Komposition und Interpretation: Mussorgskys Ballett der unausgeschlüpften Küken 221 Personen- und Werkverzeichnis 233 Musikalischer Humor als ästhetische Distanz? – Eine Einführung Ute Jung-Kaiser und Stephan Diedrich 1 Zum Spannungsfeld von Struktur und Prozess „Strukturen und Prozesse“ von „Musik und Musiken“ zu erkunden, ist Leitthema des Internationalen Symposions der Gesellschaft für Musikforschung in Göttingen 2012 gewesen. „Strukturen“ von Musik(en) gehorchen tradierten Regeln (bzgl. Form, Satz, Stil etc.) und bedienen sich verständlicher Topoi, insbesondere, wenn sie sprachanalog konzipiert sind, wenn ihre (wie auch immer geartete) Metasprachlich- keit einer musikimmanenten Logik folgt oder wenn ihre Semantik außermusikalisch definiert ist. Zugleich bedürfen sie der Aktualisierung, der Um- und Neugestaltung, eben jener „Prozessualität“, wie sie die Kongress-Planer zu Recht thematisierten. Tradierte Normen, die sich bewährt haben, sind natürlich handwerklich praktikabel, lehr- und lernbar und unterfangen gleichsam – Sicherheitsnetzen vergleichbar – den Kompositionsprozess. Ohne die ‚Korrektur‘ etablierter Strukturen verlöre die Musik an kreativer Lebendigkeit, an Wahrhaftigkeit der persönlichen Aussage und letztend- lich an (essentieller) anthropogener Qualität. Sie würde seelenlos erstarren in histo- ristisch legitimierten oder autoritär verfügten Klischees, Stereotypen, Strukturalis- men. Es bedarf also der prozessualen Neugestaltung von Strukturen. Nun definieren sich die sogenannten Hochkulturen über Werteskalen, die – je nach Zeit und Raum – idiomatische Standards festschreiben. Ohne diese hätten es das Abendland im Allgemeinen und seine Musik im Besonderen kaum zu kulturellen Höchstleistungen gebracht; anderseits jedoch haben sie die Schere zwischen Hoch- und Gebrauchskultur, zwischen Kunst- und Alltagsmusik, zwischen Idealität und 4 Ute Jung-Kaiser und Stephan Diedrich Realität immer weiter geöffnet. Was singulär erhaben, perfekt strukturiert, elitär und sonnengleich das Niedere überstrahlt, steht kontrastiv allem gegenüber, was (all-) gemein, ‚normal‘, lückenhaft, chaotisch, unberechenbar scheint, aber gerade darum, da erdverhaftet, auch ehrlicher sein kann. Eine zeit- und problemorientierte Kunst- praxis müsste sich der polaren Gegenspannung von stilistischer und formaler Erha- benheit und strukturschwacher, aber lebensvoller Schlichtheit stellen, um frucht- bringende ästhetische Prozesse auszulösen. 2 Zur Brechung vollkommener Strukturen Die Evidenz der Disproportionalität kontrastierender Stilhöhen haben einige ‚Stars‘ unter den Komponisten – denken wir nur an Bach, Haydn, Beethoven oder Schön- berg – erkannt und künstlerisch zu artikulieren versucht. Sie experimentierten mit differenten Stilhöhen und stellten die (als „klassisch“ oder exemplarisch geltende) Werteskalierung in Frage. Um die Fallhöhe(n) der ‚Hochkultur‘ auszuloten, riskier- ten sie Ausbrüche aus dem klassisch Geordneten und Regelhaften. Sie initiierten irreguläre Prozesse, riskierten ‚Fehler‘, setzten ungewöhnliche Bruch- oder Schnitt- stellen, die an Techniken moderner Zufallsgeneratoren gemahnen. So formulierten sie ihren revolutionären, selbstbewussten, widerständigen Geist gegenüber einem quasi verordneten Gesetzestext. Sie versuchten, das scheinbar Willkürliche bzw. das, was als zufällig, ungehörig oder regelwidrig abgewertet wird, über raffinierte Qualifi- zierungstechniken ästhetisch zu legitimieren. Die Widerständigkeit gegenüber dem Althergebrachten oder dem, das sich zu erhaben oder realitätsfern gebärdet, kann völlig unterschiedlich erfolgen; bewährt haben sich Humor und Witz. Bei diesen Gestaltungsweisen ist nach Wolfgang Schmidt-Hidding1 klar zu trennen zwischen der Eitelkeit und Kaltschnäuzigkeit des Witzes, dem intellektuellen Überlegenheitsgefühl der Ironie, der aggressiven Welt- verbesserungshaltung der Satire, der eher gemütlichen Laune des Scherzes, der zweck- freien Heiterkeit des Unsinns (nonsense), der verletzend-feindlichen Weltverachtung des Sarkasmus und der giftigen Gereiztheit des Zynismus. Die eleganteste Form des Widerspruches artikuliert sich beim Wagnis des Lä- chelns, des Be-Lächelns exaltierter Gipfelstürmerei oder arroganter Absolutheitsan- sprüche. Ein lächelnder Komponist zeigt „Verständnis für die Ungereimtheiten der Welt“, sucht „Mitgefühl zu wecken“, beleuchtet „die Schöpfung bis zum Kleinsten“, entdeckt „das Menschliche und das Reale“, wahrt „Abstand“ gegenüber dem zu be- 1 Die nachstehende Auflistung folgt der tabellarischen Übersicht von Wolfgang Schmidt-Hidding, Humor und Witz (Europäische Schlüsselwörter I), München 1963, S. 50f. Musikalischer Humor als ästhetische Distanz? – Eine Einführung 5 handelnden Gegenstand, zeigt „Liebe zur individuellen Schöpfung“ und bleibt bei allem „bejahend, konziliant, tolerant“. Diese Konzilianz prägt auch das Verhalten zum Nächsten: „verstehend, gütig sich im Urteil