Masarykova univerzita Filozofická fakulta

Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky

Bakalářská diplomová práce

2011 Lenka Kalinová Masarykova univerzita Filozofická fakulta

Ústav germanistiky, nordistiky a nederlandistiky Německý jazyk a literatura, mediteránní studia

Lenka Kalinová

Titus Andronicus in der deutschen Literatur: Dürrenmatt, Müller, Strauß Bakalářská diplomová práce

Vedoucí práce: Mgr. Aleš Urválek, Ph.D. 2011

2 Hiermit erkläre ich, dass ich bei der Verfassung dieser Diplomarbeit selbstständig gear- beitet habe und dass ich ausschließlich die in dem Literaturverzeichnis angeführten Quellen benutzt habe.

......

3 An dieser Stelle möchte ich dem Herrn Mgr. Aleš Urválek, Ph.D. für die Leitung mei- ner Diplomarbeit und für die Ratschläge, die Er mir in den Sprechstunden gewährt hat, herzlich bedanken.

4 Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 6

2 und 7 2.1 Shakespeares Biographie und seine Werke ...... 7 2.2 Die Tragödien aus der römischen Umgebung ...... 8 2.3 Die Tragödie Titus Andronicus ...... 9 2.3.1 Die Entstehungszeit und die einzelnen Titeln der Tragödie . . . . . 9 2.3.2 Die Handlung ...... 9 2.3.3 Die Benutzung der eigenen Namen ...... 12 2.3.4 Die Interpretation ...... 13 2.4 Andere Adaptationen des Titus Andronicus ...... 15

3 Titus Andronicus – Die deutschen Adaptationen 16 3.1 Friedrich Dürrenmatt ...... 16 3.1.1 Dürrenmatts Schöpfung ...... 16 3.1.2 Titus Andronicus. Eine Komödie nach Shakespeare ...... 17 3.2 Heiner Müller ...... 21 3.2.1 Müllers Schöpfung ...... 21 3.2.2 Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar ...... 21 3.3 Botho Strauß ...... 31 3.4 Strauß’ Schöpfung ...... 31 3.4.1 Schändung. Nach dem „Titus Andronicus“ von Shakespeare . . . . 32

4 Abschluss 36

5 Literaturverzeichnis 38

5 1 Einleitung

In der vorliegenden Diplomarbeit mit dem Titel „Titus Andronicus in der deutschen Literatur: Friedrich Dürrenmatt, Heiner Müller, “ werde ich mich mit der Problematik des Werkes Titus Andronicus befassen.

Die Arbeit gliedere ich in zwei Teile, die erste Hälfte werde ich mich nur Shakespeare und seiner Tragödie Titus Andronicus widmen. Die Problematik des Themas eröffne ich mit der kurzen Einführung zu Shakespeare’s Leben und seinen Werken. Die Hauptpunkte bilden die Tatsachen, dass Shakespeare sehr gut die lateinische Sprache beherrschte und dass diese Erkenntnisse sein Werk „Titus Andronicus“ beeinflusste. Dann erwähne ich die Shakespeareschen Tragödien, die sich bereits auf die alte römische Welt der Antike stüt- zen, zu denen auch die Tragödie Titus Andronicus zählt. Schließlich werde ich mich mit diesem einzelnen Werk von Shakespeare befassen. Ich werde mich sowohl für die Entste- hungszeit und die einzelnen Titel der Tragödie, die Handlung, als auch für die Benutzung der eigenen Namen und die Interpretation interessieren. Das Ende der ersten Hälfte die- ser Diplomarbeit werde ich mit der Aufzählung von einigen Adaptationen krönen, was als Tatsache gelten kann, bis zu welchem Grad Titus Andronicus inspirierend sein kann.

Der zweite Teil wird eine Analyse der zwei oben genannten deutschen Autoren und eines schweizerischen Schriftstellers zusammenfassen, die sich in ihren Werken von der originalen Shakespeareschen Tragödie inspirieren ließen. Die Rede wird von Friedrich Dür- renmatt und seinem Buch „Titus Andronicus. Eine Komödie nach Shakespeare“, Heiner Müller mit seinem Werk „Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar“ und Botho Strauss und seinem Werk „Schändung“ sein. Die folgenden Ausarbeitungen der Autoren und ihrer Adaptationen werde ich immer in zwei einzelne Teile gliedern, zuerst erwähne ich das Schaffenswerk des Autors, also, welche Züge für den Autor sowohl in seiner Titus Andronicus Adaptation als auch in seinen anderen Werken spezifisch sind. Diese Fakten leiten die ganze Problematik der Shakespeareschen Umarbeitungen näher ein. Daraufhin werde ich mich nur der eigentlichen Interpretation widmen. In ihr befas- se ich mich vor allem mit der Konfrontation zwischen dem Shakespeareschen Original und der Adaptation, zum Beispiel, ob es sich um eine nahe Bearbeitung von Shakespeare handelt, ob sich die Autoren an das Tragödien-Genre halten, ob alle Figuren identisch mit dem Original sind, welche die eigentlichen Konzeptionen der Figuren sind, worauf die Autoren Nachdruck legen u.ä.

6 2 William Shakespeare und Titus Andronicus

2.1 Shakespeares Biographie und seine Werke

„William Shakespeare, einer der bekanntesten englischen Dramatiker, Lyriker und auch Schauspieler, wurde am 26. April 1564 1laut Kirchenregister in Stratford-upon-Avon, War- wickshire getauft und starb dort auch am 23. April 1616.2“3

Sein Vater, John Shakespeare, war ein angesehener Landwirt und Händler. Er wur- de im Jahre 1565 zum Stadtrat gewählt und ist später Stadtverwalter geworden.4 Viele Aufzeichnungen berichten von einigen Fehlschlägen bei Geschäften, die zwischenzeitlich wohl zu einer Verarmung der Familie führten. Williams Mutter, Mary Arden of Wilmcote, stammte aus einem alten, aber unbedeutenden Adelsgeschlecht und war die Erbin eines kleinen Stück Landes.

Historiker vermuten, dass William Shakespeare als Jüngling ein gutes Gymnasium (King Edward VI Grammar School) in seiner Heimatstadt Stratford-upon-Avon besuchte. Der Besuch dieser war frei, aber aus der Amtsposition seines Vaters konnte man vorausset- zen, dass William eine gute Ausbildung erhielt. Es ist wahr, dass die englischen Gymnasien zur Zeit von Königin Elisabeth I. verschiedene Niveaus aufwiesen. Aber es gab ein Gesetz, das in diesen Schulen einen Pflichtunterricht sowohl der lateinischen Sprache als auch der klassischen Kunst anordnete. Sehr wichtig für Shakespeares spätere Schöpfung war die Tatsache, dass er am Gymnasium diese verpflichtenden Schulfächer absolvieren musste. William studierte an keiner Universität – ob dies finanzielle Gründe hatte, kann heute nicht mehr beantwortet werden.

Als er 18 Jahre war, heiratete er die acht Jahre ältere Bauerntochter Anne Hathaway. Sie hatten gemeinsam insgesamt drei Kinder – Susanna, Judith, Hamnet. Hamnet starb im Jahre 1596 im Alter von nur elf Jahren unter ungeklärten Umständen. Dieses Erlebnis beeinflusste seine Werke und war bezeichnend für den Rest seines Lebens.

Man weißt nicht genau, wann Shakespeare mit dem Schreiben begann. Die zeitgenössi- schen Anmerkungen zeigen, dass einige seiner Stücke seit dem Jahre 1592 auf den Bühnen von London aufgeführt wurden. Es ist nötig zu bemerken, dass Shakespeare ab 1599 Mit- besitzer des Londoner Globe Theatre war. Etwa 38 Dramen, Versdichtungen, darunter

1sein genaueres Geburtsdatum ist nicht bekannt, aber es schätzt ein, dass er am 23. April 1564 geboren wurde. 2sein genauerer Sterbetag ist auch nicht bekannt, einige Quellen geben an, dass Shakespeare am Tag seines Geburtstages starb, also am 23. April 1616 3KOUKAL, Milan. Shakespeare se často mýlil (pokud vůbec tvořil) : Zemřel na své narozeniny?. 21.století [online]. 16.4.2010, 4, [zit. 2011-03-15]. Erreichbar auf WWW: . 4eine mit einem Bürgermeister vergleichbare Position

7 eine Sammlung mit Sonetten, wurden ihm zugeschrieben. Nicht umsonst wird Shakespea- re als der englische Nationaldichter und Barde von Avon genannt. Seine Schöpfung können wir in drei Etappen teilen:

• 1585–1591 – Shakespeares „verlorene Jahre“, in dieser Zeit entstand höchstwahr- scheinlich die Tragödie Titus Andronicus.

• 1592–1600 – zu dieser Zeit schrieb er vor allem Historiendramen und verarbeitete Komödien mit Themen aus der englischen Vergangenheit und der Antike.

• 1601–1608 – er schrieb die Tragödien und in seine Werke drang Pessimismus ein.

• 1608–1612 – das überwiegende Genre war für ihn eine Romanze5 und das Sonett.6

Außerhalb der oben genannten Punkte ist Shakespeare nicht nur der Autor von His- toriendramen7 sondern auch von Komödien8 und Tragödien.9

2.2 Die Tragödien aus der römischen Umgebung

Im vorigen Kapitel mit dem Titel Shakespeares Biographie und seine Werke konnte man ein wenig über Shakespeares Tragödien erfahren. Die oben genannten trugen in sich keine römische Thematik. Die Römerdramen treten am häufigsten in den Jahren 1600 – 1608 auf. Diese Zeit hinterließ tiefe Spuren im Shakespeareschen Werk. In seine Schöpfung dringt Pessimismus, Enttäuschung und Desillusionierung über den Verlauf der Gesellschaft ein. In 1601 führte Robert Devereux10 eine Revolution gegen die Königin Elisabeth I., die- ser Aufstand wurde schließlich unterdrückt. Im Jahre 1603 starb Elisabeth I.111607 traf eine breite Überschwemmung die westenglische Küste, die von Monsterwellen (Tsunami) verursacht wurde. Sie verursachten riesige Schäden, etwa 2000 Leute kamen ums Leben. Dies waren keine frohen Ereignisse des ersten Jahrzehntes des 17. Jahrhunderts, und wie schon am Anfang gesagt wurde, beeinflussten diese Umstände das Werk von Shakespeares. Zu den römischen Tragödien gehören Julius Cäsar, Antonius und Cleopatra sowie Corio- lanus. Eine besondere Ausnahme bilden zwei frühere Tragödien, Titus Andronicus und

5sie enthält sowohl die Tragödieelemente, als auch die Komödieelemente 6lyrische Gedicht mit vierzehn Versen 7z.B. König Johann, Richard II., Heinrich IV. 8z.B. Ein Sommernachtstraum, Viel Lärm um nichts, Die lustigen Weiber von Windsor 9z.B. Hamlet, Othello, König Lear 10der zweite Graf aus Essex 11mit ihrer Regierung verband der Begriff Elisabethanisches Zeitalter. In dieser Etappe kam es zu der großen Entwicklung des Theaters.

8 Romeo und Julia,12 die wegen des Todes von Shakespeares Sohn entstanden. Dies wäre eine der möglichen Erklärungen, warum Shakespeare mit diesem Genre so früh begann.

2.3 Die Tragödie Titus Andronicus

2.3.1 Die Entstehungszeit und die einzelnen Titeln der Tragödie

Das genaue Entstehungsdatum der Tragödie ist nicht bekannt. Die Einschätzungen be- wegen sich zwischen dem Jahr 1588, als Shakespeare noch in Stratford lebte, und dem konkreten Datum des 23. Januar 1594, wo das Stück mit dem Titel „Titus Ondronicus“ (sic!) zum erstenmal im Londoner Theater „The Rose“ aufgeführt wurde.13 Am 6. Februar 1594 wurde es mit dem Titel „Die vornehmen römischen Gedichte des Titus Andronicus“14 in das Verlagsregister eingeschrieben und im selben Jahr erschien ihre Quartsherausgabe15 mit dem Titel „Titus Andronicus – Die jammervollste römische Tragödie“.16 Diese Her- ausgabe wurde wahrscheinlich nach der Shakespeareschen Handschrift ausgesetzt.17 Zu Lebzeiten Shakespeares wurden noch zwei andere Quartdrucke herausgegeben. Im Jahre 1623 schrieben die Editoren und einige ehemalige Schauspielerkollegen von Shakespeare, John Heminges und Henry Condell, das Spiel unter dem Titel „Titus Andronicus – Die jammervolle Tragödie“18 in einer Foliengesamtausgabe um.19 Gerade diese Tatsache ist ein Gegenargument für Shakespeares zweifelhafte Autorenschaft.

2.3.2 Die Handlung

Die Personen:

DIE RÖMER

SATURNINUS – der älteste Sohn des gestorbenen römischen Kaiser, später ist er sein Nachfolger geworden BASSIANUS – der jüngere Brüder von Saturninus, er liebt Lavinia TITUS ANDRONICUS – der römische Patrizier, der Heerführer wider die Goten MARCUS ANDRONICUS – der Volkstribun, der Bruder von Titus Andronicus

12fällt nicht gerade unter die Kategorie der Tragödien mit der römischen Umgebung, sondern mit der italienischen, aber wir können sie darin einordnen 13nach der Tageszeitung des Theatersunternehmers Philipe Henslow 14A Noble Roman Historye of Tytus Andronicus 15bezeichnet man als K1 16The Most Lamentable Romaine Tragedie of Titus Andronicus 17sog. foul papers 18The Lamentable of Titus Andronicus 19bezeichnet man als F1

9  LUCIUS    QUINTUS  Die S¨ohnevon Titus Andronicus MARTIUS    MUTIUS 

LAVINIA – die Töchter von Titus Andronicus DER JÜNGERE LUCIUS – der Sohn von Lucius PUBLIUS – der Sohn von Titus Andronicus

 SEMPRONIUS   GAIUS Die Verwandten von Titus Andronicus  VALENTIN 

ÄMILIUS – der römische Patrizier EIN HAUPTMANN EIN BOTE EINE KINDERFRAU EIN BAUER DIE SENATOREN, TRIBUNEN, SOLDATEN, DIENSTPERSONEN

DIE GOTEN

TAMORA – die gotische Königin

 ALARBUS   DEMETRIUS Die S¨ohnevon Tamora  CHIRON 

AARON – der Mohr, Tamoras Geliebter ANDERE GOTEN, DIE SOLDATEN

Die Tragödie Titus Andronicus spielt sich in Rom und in den dazugehörigen Provinzen ab. Der römische Feldherr Titus Andronicus kehrt zwar siegreich von einem Feldzug gegen die Goten zurück, aber einundzwanzig seiner fünfundzwanzig Söhne fielen. Bevor er die Leichen feierlich in der Familiengruft bestattet, will er den Göttern den erstgeborenen Sohn der Gotenkönigin Tamora opfern, die mit ihren drei Söhnen Alarbus, Demetrius und Chiron in Gefangenschaft gerieten. Tamora fleht Titus um Gnade an, doch er lässt sich nicht erweichen und befiehlt, Alarbus zu töten.

10 Während des Feldzugs verstarb der römische Kaiser. Seine Söhne Saturninus und Bas- sianus konkurrieren um die Nachfolge. Der Volkstribun Marcus Andronicus verkündet zwar, das römische Volk habe seinen Bruder, den siegreichen Feldherrn Titus Androni- cus, zum Nachfolger erkoren, aber der lehnt das Amt ab, und auf seinen Rat hin wird Saturninus, der ältere der beiden Kaisersöhne, als neuer Imperator ausgerufen.

Saturninus, ein verschlagener Egomane, verlangt bei seinem Amtsantritt Titus’ Toch- ter Lavinia zur Frau. Obwohl Lavinia bereits mit Bassianus verlobt ist, fügt ihr Vater sich dem kaiserlichen Begehren und schenkt Saturninus außerdem als Zeichen seiner Un- terwürfigkeit die gotischen Gefangenen. Beim Anblick Tamoras scheint der Kaiser seine gerade getroffene Wahl zu bedauern, und als eine seiner ersten Amtshandlungen lässt er die Gotenkönigin und ihre Söhne Demetrius und Chiron frei. Bassianus läuft mit Lavinia davon, und die vier noch lebenden Brüder Lavinias halten zu dem bis dahin glücklichen Paar. Einer von ihnen, Mutius, stellt sich seinem Vater in den Weg, aber der zieht sein Schwert und tötet ihn.

Saturninus nimmt den Vorfall zum Anlass, Tamora anstelle von Lavinia zu seiner Frau zu machen. Als er Titus und dessen Söhne zur Rechenschaft ziehen will, vermittelt die Gotenkönigin zwischen ihnen, nicht weil sie Mitleid mit dem Feldherrn hat, im Gegenteil: Sie will sich selbst an ihm und seinen Angehörigen rächen. Auf ihren Rat hin begnadigt Saturninus Bassianus, Titus und dessen Kinder.

Während einer Treibjagd ertappen Bassianus und Lavinia die Gotenkönigin mit ih- rem Liebhaber, dem intriganten Mohren Aaron, abseits von der Jagdgesellschaft in einer verfänglichen Situation. Kurz darauf kommen Demetrius und Chiron dazu. Damit der Kaiser nichts von Tamoras Untreue erfährt, erstechen sie Bassianus. Im Einverständnis mit ihrer Mutter vergewaltigen sie Lavinia und schneiden ihr anschließend die Zunge und beide Hände ab, damit sie nicht verraten kann, wer Bassianus ermordet und sie schän- dete. Durch eine Intrige sorgt Aaron dafür, dass Saturninus Titus’ Söhne Quintus und Martius für die Mörder seines Bruders Bassianus hält. Vergeblich versucht Lucius, seine beiden zum Tod verurteilten Brüder zu retten. Zur Strafe wird er verbannt. Er läuft zu den Goten über.

Aaron erklärt Titus Andronicus, er könne seine zum Tod verurteilen Söhne wieder- haben, wenn er dem Kaiser dafür seine Hand schicke. Ohne zu zögern, lässt Titus sich die linke Hand abschlagen und gibt sie dem tückischen Mohr mit. Kurz darauf überbringt man Titus die abgetrennten Köpfe von Quintus und Martius. Inzwischen fand Marcus An- dronicus seine verstümmelte Nichte Lavinia und zu ihrem verzweifelten Vater gebracht. Lavinia nimmt einen Stab in den Mund und schreibt damit die Namen Demetrius und Chiron in den Sand.

11 Tamora bekommt heimlich ein Kind, und weil es schwarz ist, beauftragt sie eine Kran- kenschwester, es zu Aaron zu bringen, damit dieser es töte. Aaron will jedoch, dass sein Sohn lebt: Er ersticht die Krankenschwester und flieht mit dem Kind. Unterwegs wird er von den Goten aufgegriffen, die unter Lucius’ Führung gegen Rom marschieren.

Als die Nachricht von den anrückenden Goten den Kaiserpalast erreicht, schlägt Ta- mora ein Treffen des Imperators mit Lucius in Titus’ Haus vor. Als Racheengel verkleidet, besucht sie Titus mit ihren ebenfalls maskierten Söhnen und redet ihm ein, er könne sich an seinen Gegnern rächen, wenn er sie zusammen mit Lucius in sein Haus einlade. Titus tut so, als erkenne er Tamora nicht und behält ihre beiden Begleiter da. Sobald Tamora fort ist, lässt er Demetrius und Chiron von seinen Getreuen überwältigen und schneidet ihnen die Kehle durch.

Aus Blut und Knochenmehl der beiden Jungen bereitet er eine Pastete zu, die er bei dem angeblichen Versöhnungsmahl mit Lucius der Kaiserin und dem Kaiser vorsetzt. Während die beiden davon essen, führt er Lavinia herein, bezichtigt Demetrius und Chi- ron, sie geschändet und verstümmelt zu haben und bricht ihr mit einem Ruck das Genick, um sie von ihrem Leid zu erlösen. Saturnius will Demetrius und Chiron holen lassen und zur Rede stellen, aber Titus erklärt der Tafelrunde, die beiden seien bereits da – in Form der Pastete. Hasserfüllt rammt er Tamora einen Dolch in den Hals, Saturninus stürzt sich auf Titus und ersticht ihn, wird aber im nächsten Augenblick von Lucius getötet.

Auf Wunsch des römischen Volkes proklamiert Marcus Andronicus seinen Neffen Lu- cius zum neuen Kaiser.

2.3.3 Die Benutzung der eigenen Namen

Er schöpfte aus seiner eigenen Lektüre und Invention.20 Deshalb wurden die eigenen Na- men aus den verschiedenen Quellen eingesammelt. Titus war ganz üblicher römischer Name, Andronicus höchstwahrscheinlich der Name des byzantinischen Kaisers. Bassianus war der Name des Kaisers Caracallus,21 der im 3. Jahrhundert lebte. Lavinia22 war die Tochter vom König Latinus, sie verlobte sich mit dem trojanischen Held Aeneas. Der Na- me Tamora übernahm Shakespeare vielleicht von der skythischen Königin Tomyris. Aaron war die sowohl römische als auch biblische Benennung. Die anderen Namen werden ins- gesamt von Plutarch und nach seinem Werk Parallele Lebensbeschreibungen genommen.

20s. das vorige Kapitel 21sein offizieller Kaisername war Marcus Aurelius Severus Antoninus, seiner Geburtsname Lucius Sep- timius Bassianus. Caracallus ist eigentlich Spitzname, den die Römer wegen seines gallischen beliebten Mantels mit der Kapuze (lat. caracallus), den er sehr gern trug, sagten. 22nach Vergils Aeneis, das 7. Buch

12 2.3.4 Die Interpretation

Titus Andronicus ist ein Drama, das eng mit der Tradition der „Rachetragödien“ verbun- den wird. Diese wurden von den Dramatikern zu Shakespeares Zeit nach dem Vorbild von Lucius Senecas entwickelt. Rachetragödien schrieben zum Beispiel Christopher Marlowe, Thomas Kyd, George Peele und andere. Es handelt sich hier um ein grausames Spiel. Die Abfolge an Gewalttätigkeiten, die in dem Buch beschrieben werden, beginnt mit einem Menschenopfer und dem Verbrennen seiner Innereien auf einem Haufen. Die Tragödie Ti- tus Andronicus zählt drei Hinrichtungen, neun oder zehn Bluttaten, eine Vergewaltigung, drei abgeschnittene Hände, eine herausgeschnittene Zunge und auch Kannibalismus.

Wie ich am Anfang erwähnte, bekam Shakespeare eine ziemlich gute Ausbildung. Er beherrschte Latein. Das beeinfluste vor allem sein Werk Titus Andronicus. Diese römische Tragödie hat keine historischen Hintergrund, aber wir können sie zu wenigen Shakespea- reschen Spielen ordnen, die keine direkt sichtbare Quelle haben. Sie entstand vielleicht aus seiner eigenen reichen Lektüre. Das, was Shakespeare in seinem Werk beschreibt, lieh er nämlich von Anderen aus. Das Hauptvorbild, auf das er im Stück verweist, fand er im 6. Buch von Ovids Methamorphosen.23 Etwas übernahm er von seinen Kollegen, zum Beispiel von Thomas Kyd und seinem Werk „Die spanische Tragödie“, sowie von Chri- stopher Marlowe und seinem Spiel „Der maltesische Jude“. Er schöpfte selbstverständlich auch aus anderen bekannten Quellen – antiken Mythen und Geschichten, Vergils Epen, „Von der Gründung der Stadt“ von Livius oder einzelnen Werken von Seneca.

Die Tragödie spielt sich in Rom ab. Im Unterschied zu Shakespeares späteren anti- ken Dramen geht es in Titus Andronicus nicht um eine historische Geschichte, sondern eine fiktive. Die Handlung wird in die Zeit des Falls von Roms eingesetzt. Shakespea- re bemühte sich nie um historische Genauigkeit, die Stadt Rom diente ihm nur als ein Modell von politischen und gesellschaftlichen Handlungen, mittels dieser er auf das Ge- schehen in seinem eigenen Land hinwies. Das römische Bild in diesem Spiel stellt einen Querschnitt seiner Geschichte dar, ein unhistorisches Gemisch der zwei Staatsordnungen des Kaisertums und der Republik, wo es außer des Erbanspruchs auf den Thron auch ein Wahlrecht gibt. Rom ist die majestätische und stolze Stadt, die auf ihre Ehre achtet. Das einzelne Wort „die Ehre“ tritt in verschiedenen Modifikationen in der Tragödie Titus An- dronicus insgesamt dreiundvierzigmal auf. Die Feinde von Rom sind der Barbarenstamm der Goten, die von keinen guten Eigenschaften strotzen. Sie sind heimtückisch, grausam, befähigt zu den erschreckendsten Taten. Ihre Repräsentanten, die Königin Tamora, ihre Söhne – Alarbus, Demetrius, Chiron und der Mohr Aaron, werden in Rom als Gefangene angeschleppt, jedoch wird ihnen die Freiheit gegeben. Für einige Zeit gewinnen sie die

23die Geschichte über vergewaltigte und verkrüppelte Philomene

13 Macht, stoßen die Familie des römischen Kriegers Titus Andronicus ins Nichts. Am Ende werden die Goten überbewältigt und auf den Thron setzt sich der Sohn von Titus. Dieser rohe Handlungsverlauf könnte der nächstbesten anderen „Rachetragödie“ aus dieser Zeit entsprechen. Shakespeare konnte jedoch im diesen frühen Drama die alten Formen mit neuem Inhalt füllen. Er prägte für das Spiel ein Haupttragsthema, veränderte wesentlich das einfache Schema und inkludierte die zweideutigen lebendigen Personen ins Spiel. Es ist bemerkenswert, wie einige von ihnen stark die Hauptprotagonisten der Shakespeareschen Gipfeldramen erwähnen.

Die Tragödie wird auf Gegensätze gestellt. Da vermischt sich Gut und Böse, Schein und Realität, Stadt und Natur, Zivilisation und Barbarei, echte und falsche Werte. Der Autor zeigt, wie unklare Grenzen diese Werte trennen, und wie einfach eine dieser Eigenschaften in die andere umkippt. Titus, der römischer Sieger in den Gotenkriegen, opfert ganz barbarisch den ältesten Sohn der gefangenen Gotenkönigin Tamora. Danach verzichtet er auf den angebotenen Thron und in dieser fatalen, dummen Geste erinnert er an den Schicksalsfehler der Figur des König Lear. Titus übergibt die Macht im Namen der blinden Loyalität dem unerwachsenen und gehässigen Saturninus. Sich selbst und seine ganze Familie setzt er unter furchtbares Leid, dem sie die rachsüchtige Tamora und ihre Nächsten aussetzen. Der gramgebeugte Titus verliert bald seinen Verstand, aber zuletzt spielt er den Irren wie Hamlet, um das Unrecht grausam rächen zu können. Wie Coriolanus wendet er sich an diejenigen, gegen die er sein ganzes Leben kämpfte. Die heiße und schlaue Tamora ist die reiche zweifelhafte Gestalt wie ihre großen Nachfolgerinen – Lady Macbeth oder Kleopatra. Der Mohr Aaron, der Geliebte von Tamora, der das genaue Gegenteil vom edlen Othello darstellt, und eher wird er oft als Vorgänger der Figuren Richard III. oder Jago bezeichnet, ist keine so „schwarze“ Person, wie er sich anfangs präsentiert. Shakespeare zeigt ihn nicht nur als stolzen Angehörigen seiner Rasse, sondern auch als stolzen Vater, der sein uneheliches Kind über alle Massen liebt.

Titus Andronicus ist ein Stück über die Gewalt. Es geht aber nicht um eine Gewalt als Selbstzweck. Shakespeare sucht ihre Quellen, ihre Motivation und ihre Opfer. Dazu gehören sowohl diejenigen, die mit der Rache beginnen und selbst durch diese Rache erfasst werden, als auch diejenigen, die ganz unschuldig sind. Zum Beispiel die Kinderfrau, deren Mord zu den erschütterndsten Stellen des Spiels gehört, oder der verwirrte Bauer, der sich zur falschen Zeit am falschen Ort befand. Eine bedeutende Rolle spielen in dieser Tragödie die Kinderfiguren. Vor allem der kleine Junge Lucius, die „Hoffnung für Rom“. Der Dramatiker zwingt uns, auf die Welt mit diesen Kinderaugen zu schauen. Er zeigt Kinder als Opfer und unfreiwillige Teilnehmer des Mordens. Diese Tatsache bedeutet eine gewisse Garantie, dass der eingeführte Rachemechanismus nie stoppt.

Die Tragödie ist auch in sprachlicher Hinsicht interessant. Für den Dramastil ist seine

14 zeitgenössische Rhetorik und die Hinweise auf die antiken Storys charakteristisch. Dieses Ausdrucksmittel passte Shakespeare perfekt dem Spielinhalt an und gab dem Wort eine dramatische Rolle. Er stellt das Wort als den Ausdruck von Sinn und Ordnung gegen das sinnlose Böse und unsägliche Leid. Die Figuren suchen in Büchern und Wörtern eine Erklärung für ihre Situation, eine Zuflucht vor dem Chaos des Bösen. Wenn die Wörter oder die Redefähigkeit fehlen, begnügen sie sich mit Gesten. In diesem Moment bietet Shakespeare fast die szenischen Panoptikbilder an, in denen Schreck und Lächerlichkeit in einer furchtbaren Groteske ineinanderfließen.

Es bietet sich die Frage an, warum gingen die Elisabethanischen Zuschauer ins Thea- ter? Die öffentlichen Hinrichtungen und die Bärkämpfe konkurrierten gut mit der blutigen Show, wenn die Bühne mit Litern an Blut übergossen wurde. Konnte die Geschichte über den Staat, der dem Chaos und Gewalt anfällt, die Zuschauer aus anderen Gründen fesseln? Möglicherweise lautet die Antwort „ja“. Folgende Zusammenhänge könnten das belegen, so regierte zum Beispiel in England die sechzigjährige kinderlose Königin ohne bestimm- ten Nachfolger, in dieser Zeit drohten religiöse Unruhen, die Streitigkeiten kulminierten unter der Krone und dem Parlament und das Schicksal Englands sowie Roms ist vor der Barbarenattacke unentschieden.

Die Zeit war eine goldene, als die Tragödie Titus Andronicus zu unanständig blutig erschien, leider ist sie in unserer heutigen Welt fast unangenehm aktuell.

2.4 Andere Adaptationen des Titus Andronicus

Schon in den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts erklangen die Stimme, die die Tragö- die Titus Andronicus verurteilte. Shakespeares Zeitgenosse, der Dramatiker Ben Jonson, nannte sie die veraltete und Edward Ravensroft, der Titus Andronicus im Jahre 1687 adaptierte, stellte Shakespeares Autorschaft in Frage. Er billigte ihm nur einige „Meis- terbearbeitungen“24 zu. Sonst bezeichnete er dieses Stück als eine Tracht „Unsinn“25 be- zeichnet. Seine Meinung setzten auch die spätere Generation der Kritiker durch. Dieser Kritiker der sogenannten aufgeklärten Zeit meinten, dass es um ein geschmackloses Pro- dukt geht, das Shakespeares Genius nicht würdig ist. T.S. Elliot publizierte, dass Titus Andronicus eine der dümmsten Spiele ist, was für eine man geschrieben wurde.

Ihre Rehabilitation nahm die bekannte Aufführung aus Stratford in der Regie von Pe- ter Brook, Laurence Olivier und Vivian Leigh in der zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, genau im Jahre 1955 auf. In 1985 erschien in der BBC Sendung ein Fernsehfilm unter

24sog. Master–touches 25sog. heap of rubbish

15 der Bezeichnung Titus Andronicus.26 In 1998 wurde ein Film Titus Andronicus von dem Regisseur Chris Dunne gedreht. Im Jahre 1999 entstand auch eine erfolgreiche amerikani- sche Filmsüberschreibung der Regisseurin Julie Taymor mit dem Titel Titus mit Anthony Hopkins in der Hauptrolle.

Man schrieb auch die Buchadaptationen. Zu den drei bekanntesten zuerst bücherlichen (und danach auch szenischen) Bearbeitungen gehören diese unten angeführten :

• Schweizerischer Schriftsteller Friedrich Dürrenmatt – Titus Andronicus. Komödie nach Shakespeare

• Deutscher Schriftsteller Heiner Müller – Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakes- pearekommentar

• Deutscher Schriftsteller Botho Strauss – Schändung

3 Titus Andronicus – Die deutschen Adaptationen

3.1 Friedrich Dürrenmatt

3.1.1 Dürrenmatts Schöpfung

Der schweizerische Dramatiker, Erzähler und Maler, Fritz, wie Friedrich Dürrenmatt von den Eltern und Spielkameraden genannt wurde, wurde am 5. Januar 1921 in Konolfingen im Kanton Bern geboren. Dürrenmatt starb am 14. Dezember 1990, wenige Tage vor seinem siebzigsten Geburtstag, an Herzversagen.

„Friedrich Dürrenmatts Werke leben von zynischem Humor („Humor entsteht aus Di- stanz“27 und nicht aus Resignation) und aggressivem Sarkasmus, mit denen er Kritik an der Gesellschaft und einer von Katastrophen gekennzeichneten Welt übt. „Das Resultat dieses Denkprozesses ist nicht eine neue Wirklichkeit, sondern ein komödiantisches Gebil- de, in dem sich die Wirklichkeit analysiert wieder findet.“28 Dürrenmatt setzt sich auf diese Weise immer wieder mit der Realität auseinander. Er versteht Schreiben als dialektische Bewegung, als Möglichkeit, immer wieder aufs Neue nach Antworten und Lösungen zu suchen. Diese Antworten können für ihn niemals nur Ideologien sein, sondern sie suchen nach allgemein gültigen, zeitlosen Aussagen und stellen Gedanken über die menschliche Existenz an sich auf. Dürrenmatt nimmt seine gesellschaftliche Verantwortung sowohl als Mensch als auch als Schriftsteller sehr ernst. Für ihn ist der ständige Kampf gegen

26die Regie führte Jane Howell 27DÜRRENMATT, Friedrich. Dürrenmatt über Dürrenmatt, S.25 28Werkausgabe in dreißig Bänden, Werkausgabe 27, S.91

16 gesellschaftliche Verkrustungen jeglicher Art, vor allem ideologische, nicht nur eine Her- ausforderung, sondern auch eine Pflicht, die er Kraft seines Denkens und Handelns ernst zu nehmen gedenkt. Dürrenmatts schriftstellerische Auseinandersetzung mit der Welt ge- schieht meist in Form von Groteske oder Komödie: Durch ein verzerrtes Bild der Realität will er betroffen machen und mögliche Auswege und Lösungen aufzeigen. Er will den Le- ser zu einer eigenen Stellungnahme anregen und ihn dazu ermutigen, alternative Wege zu beschreiten im Sinne eines nie kapitulierenden ’Dennoch’. Dürrenmatts Leben und Werk sind ein Plädoyer für „ein neues Zeitalter der Aufklärung, (das) aus unseren politischen Systemen den Anspruch auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit und Freiheit fallen lassen und ihn durch das Suchen nach Wahrheit, Gerechtigkeit und nach Freiheit zu ersetzen habe, durch Vernunft.“29“30

Zu den Dürrenmatts bekanntesten Werken gehören: Prosen Der Richter und sein Hen- ker (1952), Der Verdacht (1953), Justiz (1985); Hörspiele Die Panne (1955), Der Prozess um des Esels Schatten (1951); Komödien Romulus der Große, 1949 (1956 gedruckt), Die Ehe des Herrn Mississippi (1952), Ein Engel kommt nach Babylon (1954), Grieche sucht Griechin (1955), Der Besuch der Alten Dame. Eine tragische Komödie (1956), Die Phy- siker (1962), Der Meteor (1966). Dürrenmatt adaptierte zwei Shakespeares Werke König Johann und Titus Andronicus. Er bearbeitet diese zwei Stücke auf die Komödien.

3.1.2 Titus Andronicus. Eine Komödie nach Shakespeare

Friedrich Dürrenmatt begann seine Bearbeitung von Shakespeares Titus Andronicus 1969, noch während der Mitarbeit in der Direktion des Basler Theaters. Er stützte sich auf die Übersetzung von Wolf Graf von Baudissin. Das Stück wurde jedoch erst nach der Tren- nung Dürrenmatts vom Basler Theater am 12. Dezember 1970 unter der Regie von Karl – Heinz Stroux im Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt – ein Theaterskandal: das Stück fiel bei Publikum und Kritik durch. Weitere Inszenierungen sind nicht bekannt. Die Druckfassung mit dem Untertitel „Eine Komödie nach Shakespeare“ erschien im gleichen Jahr.

Und welche sind die Hauptunterschiede zwischen Shakespeares und Dürrenmatts Titus Anronicus? Shakespeare teilte dieses Stück auf 14 Szenen auf, die Dürrenmatt auf 9 reine Szenen reduzierte. Sechs von Shakespeares Szenen (1.1, 4.2, 4.3, 4.4, 5.1, 5.2) entsprechen der Darstellung Dürrenmatts (Szenen 1, 5–9). Zwei Szenen verschwanden ganz bei Dür- renmatt – der sog. „Flug der Fliege“ und Aarons Widerstand kurz nach seiner Verhaftung.

29MÜNZ, Christoph ; SIRSCH, Rudolf W. Denk an die Tage der Vergangenheit - Lerne aus den Jahren der Geschichte. S. 131. 30www.spiegel.de [online]. 2007 [zit. 2011-04-06]. Lexikon: Friedrich Dürrenmatt. Erreichbar auf WWW: .

17 Dürrenmatt kürzte auch die restlichen Szenen ab, zum Beispiel die zweite, als Bassianus von Chiron und Demetrius ermordet und Lavinia vergewaltigt und verkrüppelt wird; die dritte, in der Titus Andronicus vergeblich auf die Rettung seiner Söhne, Quintus und Mar- tius, hofft und genötigt ist, seine Hand abzuschlagen. Daraufhin deckt Titus mit Lavinia auf, wer sie vergewaltigte und verkrüppelte. Eine von den neuen Dürrenmatt-Szenen ist ungeklärt, und zwar die Szene, wo Lucius aus Rom vertrieben wird, seine Armee findet und mit dem Fürst der Goten Alarich (diese Person befindet sich nicht in Shakespeares Titus Andronicus) redet. Wenn wir kurz diesen Absatz zusammenfassen: Dürrenmatts Spiel beginnt mit 3 langen Szenen, die im Großen und Ganzen der Handlung bis zu der Szene 4.1 bei Shakespeare entsprechen, und endet mit 6 kurzen Szenen.

Jede Adaptation ist eine gewisse Interpretation. Aber wie reinterpretierte Dürrenmatt Shakespeares Spiel Titus Andronicus? Die Frage des Genres spielt bei den Adaptionen von Dürrematts die Hauptrolle. Wie spezifisch adaptierte Dürrenmatt das Shakespearesche Spiel, das am Anfang des 19. Jahrhunderts von dem oben genannten Wolf Graf von Baudissin übersetzt wurde? Die Beziehung des Dürrenmatt-Stückes zum Original ändert sich radikal während des ganzen Spiels. Ein kurzer Blick auf die erste Szene kann als ein Beispiel dienen. Einige Passagen sind sehr vergleichbar zum Original, fast identisch. Die ersten 72 Zeilen entsprechen der Baudissinschen Übersetzung. Nach dieser offenen Szene sind die Abweichungen sichtbarer: in der Rede Tamoras lässt er zwei Zeilen aus, dies weist auf eine Substitution und Änderung der Wortstruktur hin. Titus beginnende Rede wird verkürzt und teilweise umgeschrieben. Von Lucius dreizeiliger Rede blieben nur drei reine Wörter übrig. Nachdem Dürrenmatt die Endszene erreicht, bleibt fast nichts von der Originalauffassung übrig. Während die erste Szene (im Original) ungewiss und einstweilig endet – Tamora und Saturninus verzeihen sich scheinbar bei Titus und planen eine Jagd für den nächsten Tag, zeigt sich Dürrenmatts Titus in einer absoluten Isolation, alle Personen verlassen ihn, solange er seinen Sohn nicht begräbt, den er übereilt umbrachte. Einige spätere Szenen kehren zu einer näheren Entsprechung zwischen Adaptation und Original zurück. Trotzdem haben die Abweichungen Dürrenmatts solchen Charakter, dass seine Adaptation kaum als „sehr nahe zum Original“ beschrieben werden können.

In einem oft angesprochenen Essay behauptet Dürrenmatt, dass die Komödie das ein- zelne Genre ist, das für die moderne Welt passt. Die Tragödie setzt nach ihm „Schuld, Not, Maß, Übersicht und Verantwortung“31 voraus. Im Einklang damit machte Dürren- matt aus der Shakespeareschen Tragödie eine groteske schwarze Komödie. Während der Originaltitel des Werkes Titus Andronicus „Die jammervolle römische Tragödie“32 lautet, trägt Dürrenmatts Adaptation einen anderen Untertitel: „Eine Komödie nach Shakespea-

31DÜRRENMATT, Friedrich. Theaterprobleme, 1955 32Lamentable Roman Tragedy

18 re“. Bei Shakespeare illustriert Aarons Schicksal, der von schlechtem Charakter nur so strotzt, eine allgemeine Änderung oder Verschiebung. Sein Äußeres spielt die Hauptrolle für die Rückkehr zur Ordnung in der letzten Handlung. Diese Tatsache ist sehr nötig für die Tragödie. Als der Gefangene vor Lucius gebracht wird, deckt Aaron alle seine Verbre- chen auf. In der Finalszene bestimmt man für den frechen Aaron die Strafe. Mittels der Dramatiserung von Aaron formt Shakespeare die Meinung, dass es für das Genre Tragö- die richtig ist, wenn man durch Intrigen und moralisches Drama die Lösung im Nachspiel findet. Umgekehrt, in der Version von Dürrenmatts, wird Aaron dem unehelichen Sohn Tamoras vorgestellt, dessen Vater er ist (5. Szene). So wie in der Shakespeareschen Form tötet auch bei Dürrenmatt Aaron die Kinderfrau (Hebamme). Dann berichtet Aaron, dass er nach Afrika zurückkehren will, wo er und sein Sohn „nicht Sklaven Roms, doch freie Kannibalen“33 sind. Bei Dürrenmatt decken die anderen Personen die Intrigen von Aaron nicht auf. Die ganze Szene wirkt sehr grotesk auf den Leser.

Dürrenmatt erreicht auch durch die Sprache einen komischen Effekt, zum Beispiel, wenn Titus dem Saturninus „Ein Nierchen, Leber, Hirn, ein Rippenstück?“34anbietet, Dürrenmatt bemüht sich hier durch Lachen zu provozieren, das aus seiner Dramatisierung der gewaltsamen Szenen aufgeht. Die Adaptation wirkt einerseits humorvoll, andererseits kann man hier Horrorelemente finden. Das ist teilweise sichtbar am Ende der Adaptation, etwa die Geschwindigkeit, mit der verschiedene Personen getötet werden, bildet einen bestimmten komischen Effekt: Titus bringt Lavinia und Tamora um, dann wird er von Saturninus erstochen und Saturninus selbst wird zuletzt von Lucius getötet. Das alles passiert in nur zwanzig Zeilen des Dialogs. Doch der Autor gibt noch einen Mord dazu: Lucius kehrt nach Rom in der Begleitung der gotischen Armee zurück, die von Alarich geführt wird.35 Sobald die anderen Hauptfiguren getötet werden, ersticht Alarich Lucius und befehlt seinen Soldaten, alle Römer umzubringen. Dieser Fürst der Goten erwähnt in seiner Rede, dass Rache „im stupiden Lauf der Zeit“36 zu der nächsten Rache führt. Das führt nach Dürrenmatt zu mehr und mehr sinnloserer Gewalt und der entsprechenden Welt.

Sehr interessant ist auch die Auffassung des Charakters von Lavinia, der Tochter von Titus Andronicus. Lavinia, die ein gewisses emotionelles Zentrum bei Shakespeare bildet, bekam in der Version von Dürrenmatts eine ziemlich kleine Rolle. Lavinia entdeckt man vor allem in den ersten 3 und den letzten zwei Szenen. In Shakespeare, in der Szene 3.1, wo Marcus mit der verkrüppelten Lavinia auf die Bühne auftritt, bis zu Aarons Auftritt (etwa 100 Zeilen später), fühlen Titus, Lucius und Marcus Mitleid mit Lavinia. Ihr Kum-

33DÜRRENMATT, Friedrich. Titus Andronicus. Eine Komödie nach Shakespeare. S. 169. 34Ebd., S. 193 35Er wird in der vierten Szene vorgestellt, bei Shakespeare finden wir diese Person nicht 36Ebd., S.197

19 mer spielt sich physisch auf verschiedene Weise ab. Lucius stürzt auf seine Knie nieder, Marcus und Titus sind in Tränen aufgelöst. Alle diese Personen äußern dem Elend ihre Sympathie, sog. „sympathie of woe“.37 Dürrenmatt unterlässt fast im Ganzendiese Replik. Der Rest, den Dürrenmatt aus dieser Szene erhielt, zeigt dem Leser, inwiefern sich die emotionelle Beziehung zwischen Titus und Lavinia ändert. Auf die Worte von Lucius: „Ihr Anblick tötet mich.“38 reagiert Titus: „Ihr Anblick tröstet mich.“39 Er setzt mit der Erklä- rung fort, dass Lavinias Verkrüppelung die gesamte Weltverderbtheit äußert. Dürrenmatt stellt Lavinia nur als ein Vorspiel vor und er kommt sofort zur symbolischen Bedeutung ihrer Rolle. Eine der nächsten Bemerkungen ist die Frage der direkten Anrede. Shakes- peares Titus wendet sich zu Lavinia und spricht direkt zu ihr. Dürrenmatts Titus wendet sich nie zu ihr, sondern er spricht über sie. Dieser Kontrast ist ausdrucksvoller, wenn Dürrenmatt die nächste Figur vorstellt, die Shakespeare nicht aufführt. Diese neue Figur heißt Publius. Er kämpfte mit Titus in Kriegen, wo er um sein Bein kam. Publius wird aus der Armee „ohne Pension“40 entlassen. Publius ist skeptisch zu Saturninus Absichten und macht Titus Pläne zunichte. Als machtloses Kriegsopfer hat er keine Illusionen, die Titus immer hat. Titus spricht mit ihm statt Lavinia. In der Konversation vergleicht er Lavinias Situation mit der von Kriegsverletzungen.

Diese und viele andere Änderungen sollen einen Hauptpunkt verstärken, und zwar die Machtlosigkeit des Patriotismus, die Tatsache stellt noch besser die erste Rede von Titus dar. Er hängt seltsam an seinem Glaube an Rom, ans Vaterland und an die Gerechtigkeit. Dürrenmatt misst keine Gelegenheit, um dies in seinem Werk zu bemerken.

TITUS: „Schlaf friedlich, Sohn! Du starbst fürs Vaterland.“41

Dürrenmatts Änderungen dienen zur Betonung des Absurden, das in den Idealen von Titus sichtbar ist – das Sterben fürs Vaterland.

Dürrenmatts Position in der Frage des Patriotismus ist eher spezifisch schweizerisch, als deutsch oder allgemeiner germanisch. Vier Jahre vor der Herausgabe „Titus Andronicus. Eine Komödie nach Shakespeare“ äußerte er sich zum Thema Patriotismus. Er sagte, dass die Ideologie des Patriotismus sehr gefährlich und potenzial zerstörend ist und im Namen des Vaterlandes unschuldige Leute sterben. Das gilt für die jüngere Vergangenheit – den zweite Weltkrieg – und diese Tatsache projiziert sich in sein Werk „Titus Andronicus. Eine Komödie nach Shakespeare.“

37SHAKESPEARE, William. Titus Andronicus. S. 78. 38DÜRRENMATT, Friedrich. Titus Andronicus. Eine Komödie nach Shakespeare. S. 152. 39Ebd., S.152 40Ebd., S. 153 41Ebd., S. 120

20 3.2 Heiner Müller

3.2.1 Müllers Schöpfung

Heiner Müller wurde am 9.1.1929 in Eppendorf (Sachsen) geboren. Er war einer der bedeu- tendsten Schriftsteller der Gegenwart. Müller schrieb viele Werke. Zum Beispiel lyrische Ajax zum Beispiel (1994), Mommsens Block (1993), Senecas Tod (1993), prosaische Der Vater (1958), Herakles 2 oder die Hydra (1972), Todesanzeige (1975/1976) oder dramati- sche Mauser (1970), Der Auftrag (1979), Die Umsiedlerin oder Das Leben auf dem Lande (1961). Sowie Friedrich Dürrenmatt adaptierte mehrere Shakespeares Stücke, auch Heiner Müller bearbeitete einige der Shakespeares Stückes – Die Hamletmaschine, Macbeth und Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar.

Vor allem in seinen dramatischen Werken wird der Leser und Zuschauer mit einer beeindruckenden Vielzahl von intertextuellen Verweisen konfrontiert, die es oft schwer- machen, alle Bezüge zu erkennen und einzuordnen. In Müllers kreativer Beschäftigung mit Literatur lassen sich, trotz ihrer enormen Vielfalt, dennoch einige Schwerpunkte ent- decken. Neben dem Schaffen Bertolt Brechts ist auch William Shakespeare und sein Werk einer dieser markanten Schwerpunkte, zu denen Heiner Müller immer wieder zurückkehrt – am auffälligsten in den Produkten seiner „Shakespeare Factory“, die sich konkret einzelnen Arbeiten des Elisabethaners annehmen. Das künstlerische Spektrum der Bearbeitungen ist hierbei einigermaßen groß: Es reicht von reinen Übertragungen „Wort für Wort ins Deutsche“42 über übersetzende Neukonstruktionen (Macbeth) bis hin zum verstörenden Reduzieren und Verändern des Prätextes (Hamletmaschine). Im Mittelpunkt dieser Ar- beit soll die letzte „große“ Bearbeitung eines Shakespeare – Stückes stehen, die wiederum durch einen völlig neuen Umgang mit der Vorlage gekennzeichnet ist: Müllers Anatomie Titus Fall of Rome, welches sich dem umstrittenen Titus Andronicus annimmt. Die letzte Arbeit im Rahmen der „Shakespeare Factory“ widmet sich ausgerechnet dem wahrschein- lich ersten Stück Shakespeares, welches die Literaturwissenschaft nur mit einigem Zaudern dem großen Dramatiker zuordnen wollte. Ein verständliches Zaudern, ist doch der Titus auf den ersten Blick nur schwerlich mit er Genialität des späteren Shakespeare in Einklang zu bringen und trägt den Makel der „Unreife“.

3.2.2 Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar

Der erste Akt des Shakespeare–Stückes wurde bereits als besonders misslungen angeführt und dieser ist es auch, der in Müllers Anatomie besondere Bearbeitungsaufmerksamkeit erfährt. Sicherlich wurden auch aus „Zeitgründen. . . die Kommentare immer kürzer und

42KARSCHNIA, Alexander. Wie es euch gefällt. S. 290.

21 immer mehr Shakespeare–Text blieb erhalten,“43 dennoch bedarf gerade der erste Akt der Überholung. Im Titus Andronicus ist dieser von einer auffälligen Behäbigkeit, in der ohne besondere Raffinesse der Grundkonflikt – der Streit von Bassianus und Saturnin um den Rang als Kaiser des ehrenvollen Roms – exponiert wird, aus dem sich alle weite- ren Konflikte und deren Konsequenzen entwickeln. Brav nacheinander erscheinen nahezu alle im weiteren Verlauf des Stückes wichtigen Charaktere und werden in ihrem Status vorgestellt: Neben den Konkurrenten um den Kaiserthron Saturnin und Bassianius der erfolgreiche Feldherr Titus Andronicus, seine Tochter Lavinia, seine Söhne, sein Bruder Marcus, die gefangene Gotenkönigin Tamora mit ihren Söhnen und der Mohr Aaron. Wäh- rend Dürrenmatts Version den ersten Akt hauptsächlich durch Streichungen und eigene Ersetzungen von Dialogpassagen forciert,44 sagt Müller über den langatmigen Einstieg:

„Der ganze erste Akt erschien mir bei Shakespeare unerträglich. Das ist sehr schwer- fällig, sehr auf Dekor und Rhetorik, es war mir einfach zu langweilig, das zu übersetzen, also eine Gelegenheit, diese Vorstellungen zu probieren und mal einen Shakespeare-Akt zu erzählen, mit Dialogeinsprengseln.“45Es wäre eine zu gutgläubige Lektüre des ersten Aktes von Anatomie Titus, würde man ihn tatsächlich lediglich als Nacherzählung mit Shakespeare-Zitaten hinnehmen. Zwar kommt in diesem in besonderem Maße die drama- turgische Funktion des Kommentars als Mittel der Raffung – so benötigt der Shakespeare Text beispielsweise 96 Zeilen, um zur Hinrichtung von Tamoras Sohn zu gelangen, bei Müller ist dies bereits nach 59 Zeilen der Fall. Doch daneben (und, nicht zuletzt, dabei) macht Müller bereits einige Aspekte des Shakespeare-Textes zunichte. Ist bei Shakespeare der Fehler des Feldherren Andronicus im ersten Akt, dass er an der Tradition festhält und dem ungeeigneteren, aber erstgeborenen Saturnin zur Regentschaft verhilft, liest es sich bei Müller schon anders. Im Textgemenge, in dem – zumindest beim Lesen – kaum zwi- schen Kommentar und Dialog unterschieden werden kann, geschweige denn die einzelnen Sprecher für den Nicht-Kenner des Originals zu verorten wären, gibt es keine größeren Unterschiede zwischen den Kontrahenten. Der Grundkonflikt ist zu „Ich Saturnin Ich Bassian bin Kaiser“46 zusammengeschrumpft, damit sind „die qualitativen Unterschiede zwischen den beiden Thronaspiranten nivelliert.“47 Die Tragik einer falschen Entscheidung von Titus ist nicht mehr gegeben, denn „EINE KRONE PASST AUF JEDEN KOPF.“48 Diese Neuinterpretation der Grundsituation geht einher mit der Veränderung einer Prä- misse, die bei Shakespeare noch gar nicht problematisiert wird: der Schauplatz Rom.

43VAßEN, Florian. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 185. 44Vgl. DÜRRENMATT, Friedrich. Titus Andronicus. S. 117-133. 45MÜLLER, Heiner. Gesammelte Irrtümer. S. 148. 46MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 101. 47EKE, Norbert Otto. „Der Neger schreibt ein anderes Alphabet“. Anmerkungen zu Heiner Müllers dialektischem Denk-Spiel Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 304. 48MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 104.

22 In Titus Andronicus wirkt sich „the immense prestige of classical Rome throughout the Renaissance“ noch durch, wie auch in Julius Cäsar und Coriolanus. „Rome represents collectively held ideals of individual aspiration and creates the conditions for achieving them.“49 Ein solch idealisiertes Rombild erregt – wie schon bei Dürrenmatt50 –Müllers sichtbaren Widerwillen. Sein Rom wird nicht erst durch die darin aufreißenden Konflikte zu einer „Wüste von Tigern,“51 sondern ist von Anfang an ein kapitalistischer, habsüchti- ger Unrechtsstaat, eine „HURE DER KONZERNE“, die ihre Soldaten und Befehlshaber als „WÖLFE WIEDER AN DIE BRUST“52 nimmt. Der Krieg gegen die Goten ist nicht mehr ehrenhafte Verteidigung des Vaterlandes, sondern ein aus Gier geführter „offensiver Raub und Ausplünderungskrieg“53:

„ROM WARTET AUF DIE BEUTE SKLAVEN FÜR DEN ARBEITSMARKT FÜR DIE BORDELLE FRISCHFLEISCH GOLD FÜR DIE BANKEN WAFFEN FÜR DAS ZEUGHAUS“54

Der Krieg gegen die Goten wird bei Müller zum schon typisch gewordenen Ausdruck eines dekadenten Systems, das sich damit nur selbst schadet, wie es gleich der erste Satz des Stückes verrät: „EIN NEUER SIEG VERWÜSTET ROM DIE HAUPTSTADT DER WELT.“55 Diese Neuinterpretation Roms wirkt sich konsequenterweise auch auf den Schluss des Stückes aus. Bei Shakespeare taucht am Ende Andronicus Sohn Lucius mit den mittlerweile verbündeten Gotenheeren auf und stellt die Ordnung Roms wieder her – wobei die Goten dann keines Wortes mehr gewürdigt werden. Für Müller ist – wie schon beim Macbeth – eine „wiederhergestellte Ordnung“ als „Ende nicht mehr nachvollzieh- bar.“56 Hier dankt es Lucius – ganz Sohn des Systems, das ihn hervorbrachte - seinen gotischen Helfern mit den Worten „Schwerter genug hat Rom euch zu vertreiben.“57 Statt mit der Wiederherstellung eines Ordnungszustandes endet Müllers Stück mit einem apo- kalyptisch anmutenden Bild:

„WÄHREND DER NEGER IN DIE ERDE WÄCHST . . . SCHLAGEN DIE GOTEN DIE HAUPTSTADT DER WELT 49PATER, Gail Kern. To Starve with Feeding. Shakespeares Idea of Rome. S. 225. 50s. DÜRRENMATT, Friedrich. Notizen zu Titus Andronicus. S. 210: „Titus Andronicus spielt zwar im letzten Jahrhundert des römischen Imperiums, dessen Bürger Patrioten sind und an die Gerechtigkeit und an die Götter glauben, doch ist dieses Rom mehr fingiert als wirklich.“ 51SHAKESPEARE, William. Titus Andronicus. S. 75. 52MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 102. 53EKE, Norbert Otto. „Der Neger schreibt ein anderes Alphabet“. S. 303. 54MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 101. 55Ebd. 56PETERSOHN, Roland. Heiner Müllers Shakespeare-Rezeption. Texte und Kontexte. S. 70. 57MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome ein Shakespearekommentar. S. 187.

23 MIT PFEILGEWITTERN AN DAS KREUZ DES SÜDENS (. . . ) IM SPATENKLIRRN DER ARCHÄOLOGEN FEIERT DAS MESSER HOCHZEIT MIT DER WUNDE (. . . ) BIS PFEIFEND ÜBERM LETZTEN HAPPY END DIE FALLE WELT SICH SCHLIESST DAS FIRMAMENT“58

Dieses Münden in einen letzten Kriegszustand zeigt wieder eine deutliche Nähe zum Titus Dürrenmatts. In diesem lässt Dürrenmatt den – von ihm hinzuerfundenen – Gotenkönig Alarich Lucius töten und den Befehl zur Verwüstung Roms geben. Alarich „formuliert am Dramenschluss eine forciert hoffnungslose Weltsicht,“59 die in ihrem Pessimismus Mül- lers Ende von Anatomie Titus durchaus nahekommt: „Der Weltenball, er rollt dahin im Leeren und stirbt so sinnlos wie wir alle sterben: Was war, was ist, was sein wird, muß verderben.“60 Kaum Bearbeitungsaufwand erfahren bei Müller die als Beispiele für beson- ders krude Handlungsführung genannten Textpassagen. Dürrenmatt streicht die Szene, in denen Quintus und Martius in das Loch mit dem toten Bassianus fallen, komplett und lässt die beiden Söhne zufällig über den Toten stolpern.61 Tamoras Auftritt als Ra- che versucht Dürrenmatt dadurch zu entschärfen dass Titus das Spiel von Anfang an durchschaut und Tamora bewusst in ihrem gewagten Vorhaben bestärkt, um so an die Schänder seiner Tochter zu gelangen.62 Müller hingegen lässt, bis auf einen kurzen Ein- bruch des Kommentars am Ende der Tamora – Szene, beide Passagen unangetastet und übersetzt diese lediglich neu63 Darin zeigt sich, dass es Müller nicht um eine schlichte Neu- gestaltung des Stoffes geht, die dem modernen Rezipienten dadurch zugänglicher gemacht werden soll, dass einzelne Handlungsverläufe nachvollziehbarer gestaltet werden. „Im Un- terschied zu seiner Macbeth – Bearbeitung wird in Anatomie Titus Fall of Rome ein überlieferter Handlungszusammenhang. . . nicht mehr nur angeeignet, transformiert und übersetzt, sondern mit einem (epischen) Kommentartext verbunden, der den Dramenkör- per durchschneidet und die (geschlossene) Tragödie aufbricht.“64 Durch den Kommentar wird die herkömmliche Dramenstruktur gesprengt. Während Dürrenmatts Text aber in einer solchen verbleiben möchte und daher die genannten Passagen massiv umarbeitet, kann Müller darauf verzichten. Seinem Text geht es nicht mehr um die plausible Neuer- zählung des Stoffes, sondern um eine Konfrontation des Shakespeare-Materials mit der

58Ebd., S. 188. 59PROFITLICH, Ulrich. Friedrich Dürrenmatt. Komödienbegriff und Komödienstruktur. Eine Einfüh- rung. S. 107. 60DÜRRENMATT, Friedrich. Titus Andronicus. S. 197. 61Vgl. DÜRRENMATT Friedrich. Titus Andronicus. S. 144 – 145. 62Ebd., S. 185 – 192. 63Vgl. MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 121 – 125 und S. 174 – 181. 64EKE, Norbert Otto. „Der Neger schreibt ein anderes Alphabet“. S. 300.

24 Wirklichkeit des Autors Müller. Dementsprechend kann Müller es sich in „seinem künst- lerischen Verfahren der Zerlegung des Shakespeare-Textes“65 auch erlauben, „unschöne Teile“ nicht stillschweigend zu entsorgen, sondern gerade diese dem anatomischen Blick des Publikums preiszugeben. „Durch die Mischung von Dialog- und Erzählebene“ hat Müller absichtlich „die Fabel löchrig“66 gemacht und legt dementsprechend keinen Wert auf inhaltliche Glättung, wie es Dürrenmatt tut.

Das „elisabethanische Theater war. . . kein Nationaltheater, keine Schaubühne als mo- ralische Anstalt,“67 sondern bestand aus Betrieben, die wirtschaftlich arbeiten mussten. Populäre Inhalte versprachen viel zahlendes Publikum, und Gewalttätigkeiten auf der Bühne waren ein populärer Inhalt, wie bereits angemerkt wurde. Da Müller in seiner Shakespeare-Rezeption stets auch „die kontextuellen Ebenen (. . . ) der elisabethanisch – jakobäischen Theaterkultur“68 einbezieht, wird auch der Einfluss des Populären auf den Inhalt in irritierender Weise auch in Anatomie Titus – besonders im ersten Akt – mit- gedacht. Statt dem Theater zeigen sich Fernsehen und Fußballspiel als Plattformen und Ausdruck des Spektakulären für die Masse. Titus „REISST SICH DIE BRUST AUF VOR DEN FERNSEHSCHIRMEN,“69 der Kampf um die Krone wird mit Sporttermino- logie untermauert – „Ein guter Steilpass“70 – der ganze erste Akt mit seiner Erwähnung des jubelnden, applaudierenden Volkes an den „WÜRSTCHENBUDEN“71 erweckt im- mer wieder Assoziationen mit der Atmosphäre von „FUSSBALLSTADIEN.“72 Mit dem „EXKURS ÜBER DEN KRIMINALROMAN“73 ist zudem auch ein Verweis darauf ge- geben, dass Mord und Totschlag weiterhin von einiger Popularität sind. Zudem legt der Titel dieses „Exkurses“ eine im Titus Andronicus bereits angelegte Tendenz offen: Die Szene, in der Lavinias Mörder nach und nach enthüllt werden, erinnerte bereits Shake- speare–Interpreten an einen „whodunit,“74 also an das typische Strickmuster konventio- neller Krimis, die ihre Spannung hauptsächlich aus der Frage „Wer war es?“ beziehen. Im Exkurs schlüpft Titus quasi in die Rolle eines morbiden Ermittlers.

Er „VERHÖRT DIE KNOCHEN SIEBT DAS KNOCHENMEHL“75

65VAßEN, Florian. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 186. 66HAUSSCHILD, Jan Christoph. Heiner Müller oder das Prinzip Zweifel. Eine Biographie. S. 410. 67KARSCHNIA, Alexander. William Shakespeare. S. 169. 68PETERSOHN, Roland. Heiner Müllers Shakespeare-Rezeption. S. 53. 69MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 105. 70Ebd., S. 104. 71Ebd., S. 101. 72Ebd.,S. 102. 73Ebd., S. 159. 74CUNNIGHAM, Karen. „Scars Can Witness“: Trials by Ordeal and Lavinias Body in Titus Androni- cus. S. 68. 75MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 161.

25 und „STUDIERT MIT EIFER DEN ZUSAMMENHANG DER TEILE.“76

Der Zusammenhang von Gewalt und Entertainment ist zwar attestierbar, jedoch insge- samt betrachtet, eher als Nebenaspekt von Müllers Umgang mit dem Gewaltpotenzial der Vorlage einzustufen. Breiteren Raum nimmt schon die Verantwortung desjenigen ein, der Gewalt – als Autor, Regisseur, Künstler insgesamt – erschafft. Die „fragwürdige Position des Autors als Schreibtischtäter, beziehungsweise zwischen Opfern und Tätern“, die Mül- ler umtreibt wird auch in Anatomie Titus thematisiert. So ist Lavinias im „Exkurs über den Kriminalroman“ beschriebenes „Ausrasten“ gegenüber der Bibliothek des Vaters nicht nur eine Handlungsnacherzählung in einem aus Schauer- und Kriminalroman bekannten Ambiente. Es ist gleichzeitig lesbar als Rebellion einer literarischen Figur gegen die ihr von ihrem Erschaffer aufgezwungenen Leiden und wirkt darin wie der Beweis für Müllers Behauptung „Poesie ist Schuld“:77

„UND OBEN DURCH DAS RÖMISCHE EIGENHEIM VOM VOLLMOND UMGETRIEBEN SPUKT DIE TOCHTER KÄMPFT IHREN KAMPF GEGEN DAS SCHWARZAUFWEISS DER LITERATUR ES IST DIE MÖRDERGRUBE DER VERS IST NOTZUCHT JEDER REIM EIN TOD“78

Das Bild mündet in ein Szenario, welches für den rabiaten Umgang mit unerwünschten In- halten geradezu archetypisch steht: Einer Bücherverbrennung. Der Schriftsteller als Täter wird noch deutlicher herausgearbeitet, wenn der „Kommentator“ auf William Shakespea- re trifft und gerade im blutigen Treiben Gemeinsamkeiten entdeckt, wobei die „Schande des literarischen Exzesses brüderlich geteilt“79 wird:

„DEIN MÖRDER WILLIAM SHAKESPEARE IST MEIN MÖRDER SEIN MORD IST UNSERE HOCHZEIT WILLIAM SHAKESPEARE MEIN NAME UND DEIN NAME GLÜHN IM BLUT DAS ER VERGOSSEN HAT MIT UNSRER TINTE“80

Der Kommentator weiß um die eigentlich unaussprechliche Gewalttätigkeit des Dargebo- tenen, und fragt sich:

76Ebd., S. 160. 77MÜLLER, Heiner. Gesammelte Irrtümer 2. S. 35. 78MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 161. 79HORSTMANN, Ulrich. Anatomie Aaron. Heiner Müllers Totentanz und Negerkuß Ein Krauskopf- kommentar. S. 106. 80MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 126.

26 „WARUM BRICHT SEINE STIMME NICHT NOCH MEINE DIE SEINEN BLUTGETRÄNKTEN TEXT IHM NACHSINGT“81

Im Kommentar bleibt diese Frage unbeantwortet. Für Müllers Anatomie Titus sollte es sich jedoch beantworten lassen, warum überhaupt Müller sich dem brutalen Titus Andro- nicus annahm.

Heiner Müllers Geschichtsbild faszinierte sei jeher Interpreten, sein eher düsteres Ver- ständnis von Vergangenheit und Fortschritt der Menschheit brachte Kritiker dazu, ihn „als notorischen Pessimisten und Schwarzseher“82 einzustufen. Ein großer Teil der An- ziehungskraft Shakespeares geht für Müller von der kaum gebrochenen Aktualität seiner Stücke aus, die Müller allerdings durchaus ambivalent empfindet:

„Shakespeare ist ein Spiegel durch die Zeiten, unsre Hoffnung eine Welt, die er nicht mehr reflektiert. Wir sind bei uns nicht angekommen, solange Shakespeare unsre Stücke schreibt (. . . ) Der Schrecken, der von Shakespeares Spiegelungen ausgeht, ist die Wiederkehr des Gleichen.“83

Auch in Müllers Anatomie wird Shakespeare in die Gegenwart gespiegelt, als zeitloser Ausdruck der gewalttätigen Geschichte, wie es bereits das Motto des Stückes ausdrückt:

„Der Menschheit Die Adern aufgeschlagen wie ein Buch Im Blutstrom blättern“84

Damit ausgerechnet das Stück Shakespeares, das heute vielleicht am veraltetsten seiner Werke wirkt, aktuell erscheinen kann, betreibt Müller einen unübersehbaren Modernisie- rungsaufwand. Am moderner Phänomene wie des Fernsehens und des Einschalten Fuss- ballspieles wurde dies bereits ebenso deutlich wie an der Veränderung des Rombilds. Nur durch die Schaffung eines gegenwärtigen Umfeldes kann auch Titus Andronicus als Aus- druck der stetig wiederkehrenden Geschichte dienen.

Abschließend sei bei der Beobachtung von Müllers Umgang mit Shakespeares „Män- geln“ nun noch betrachtet, was Müller mit den Charakteren des Titus Andronicus macht. Zum Beispiel Dürrenmatt versucht die „menschlichen Hintergründe“ herauszuarbeiten

81Ebd. 82PETERSOHN, Roland. Heiner Müllers Shakespeare-Rezeption. S. 63. 83MÜLLER, Heiner. Shakespeare Eine Differenz. S. 106 84MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 99.

27 und „psychologischer“85 vorzugehen. Heiner Müllers Vorgehensweise ist freilich eine an- dere. An den genannten Hauptfiguren (Titus, Tamora, Lavinia und Aaron) soll gezeigt werden, wie genau diese bei Müller zu etwas anderem werden als bei Shakespeare. a) Titus Andronicus

Shakespeare versucht die Figur Titus Andronicus einen guten Menschen mit Mängeln zu zeichnen. Für Müller gibt die Figur kein Sympathieproblem auf. Auch sein Titus ist „ROMS ERSTES SCHWERT BESITZER JEDER TUGEND DIE ROM BRAUCHT,“86 doch da Müllers Rom ein dekadenter Unrechtsstaat ist, ist diese Bezeichnung kaum als Auszeichnung zu verstehen. Aus dem ehrenvollen Verteidiger Roms, der mit „Eh- re und Erfolg“87 aus dem Krieg zurückkehrt, ist bei Müller ein „GOTENSCHLÄCH- TER“88geworden. Die Grausamkeit der Hinrichtung Alarbus wird nicht mehr gedämpft durch eine Entschuldigung Titus – „Beruhigt euch, Madam, und verzeiht mir“89 – sondern wird durch die Antwort auf Tamoras Frage „Rom hörst du meinen Schrei NICHT EUREN DAME“90 zur herzlosen Geste des Siegers. Aus der salbungsvollen Begründung der Tat – „sterben muss er, um die klagenden Schatten der Heimgegangenen zu versöhnen“91 – wird bei Müller Beschreibung eines barbarischen, sinnlosen Rituals:

„WORTLOS DIE SÖHNE SCHLACHTEN ALS WEGZEHRUNG FÜR IHRE TOTEN BRÜDER DIE INS NICHTS GEHEN DEN GOTENPRINZEN DER NACH MUTTER SCHREIT“92

Titus letzter Auftritt wirkt bei Müller noch bestialischer als bei Shakespeare. In Shakes- peares Stück ist die Enthüllung so kurios und einfach erklärend formuliert, dass man sie noch als Äußerung eines Wahnsinnigen lesen kann: „Nun, da sind sie, beide in Pastete eingebacken, wovon ihre Mutter genussvoll gekostet hat und dabei das Fleisch aß, das sie selbst hervorgebracht hat.“93 Müllers Titus enthüllt das unglaubliche Gericht wesentlich hasserfüllter und wirkt dadurch bewusst bösartig: „Und du hast sie gegessen Negerhure Schmeckt dir dein Auswurf.“94 Während Titus Grausamkeit bei Shakespeare den Prot- agonisten unsympathisch werden lassen und damit zum Problem für das Stück werden,

85DÜRRENMATT, Friedrich. Notizen zu Titus Andronicus. S. 210 86MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 101. 87SHAKESPEARE, William. Titus Andronicus. S. 11. 88MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 129. 89SHAKESPEARE, William. Titus Andronicus. S. 13. 90MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 103. 91SHAKESPEARE, William. Titus Andronicus. S. 15. 92MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 103. 93SHAKESPEARE, William. Titus Andronicus. S. 157. 94MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 185.

28 stellt Müller diese bewusst noch schärfer aus, um damit das System, welches Titus her- vorbrachte, noch stärker zu entlarven.

b) Tamora

Wer nun glaubt, ein in seinen fragwürdigen Charakterzügen hervorgehobener Titus müss- te automatisch zu einer Aufwertung seiner Gegenspielerin führen, sieht sich getäuscht. Müller geht es nicht um schlichte Vertauschung der „Gut/Böse“ – Rollen. Auch Tamoras dunkle Seiten werden in Müllers Arbeit verstärkt. Wird Tamoras Rache bei Shakespea- re allein auf das vergeblichen Flehen um das Leben ihres Sohnes zurückgeführt,95 sorgt der Kommentarzusatz, dass sie „IN DER SPRACHE IHRES HERZENS“ sagt: „Ich finde einen Tag zu schlachten sie alle,“96 dass ihre Rachsucht schon Bestandteil ihres Wesens ist. Kommt in Shakespeares Stück die hemmungslose Triebhaftigkeit einer „lusty widow“97 von Tamora erst im zweiten Akt zum Tragen wird diese von Müller gleich in den Auf- takt einbezogen. Immer wieder wird Tamora im ersten Akt auf ihre Sexualität reduziert, besonders deutlich daran zu ersehen, dass der Kommentar kaum eine Erwähnung Tamo- ras ohne einen Verweis auf ihre Brüste lässt. „MIT SCHWEREN BRÜSTEN“98 wird die Gotenkönigin eingeführt, „IHRE BRÜSTE FEGEN DEN STAUB“99 wenn sie um Gnade für ihren Sohn bittet und Saturnins Entscheidung, Tamora zu ehelichen, scheint durch „DIE REIFEN BRÜSTE DER BESIEGTEN GOTIN“100 bedingt. Dass Tamoras Macht über Saturnin in ihrer Sexualität besteht, ist im Titus Andronicus bestenfalls erahnbar, bei Anatomie Titus hingegen durch den Hinweis „ER WIRD GERITTEN JETZT VON SEINER GOTIN“101 plakativ ausgemalt. Die Monstrosität Tamoras, die sich bei Shake- speare vor allem im zweiten Akt in ihrer Erbarmungslosigkeit gegenüber Lavinia zeigt, behält Müller bei und baut sie im letzten Auftritt Tamoras noch aus. Während Shakes- peare Tamora gleich nach der Erkenntnis, dass sie ihre eigenen Söhne aß, stirbt, verzögert Müller ihren Tod noch, um sie als pervertiertes Muttertier zu zeigen, das „MIT ANDERM HUNGER JETZT. . . DIE GELIEBTE MAHLZEIT“102 weiter verspeist.

95Vgl. SHAKESPEARE, William. Titus Andronicus. S. 35. 96MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 109. 97KEHLER, Dorothea. „That Ravenous Tiger Tamora“. Titus Andronicus Lusty Widow, Wife, and Mother. S. 317. 98MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 109. 99Ebd., S. 102 – 103. 100Ebd., S. 105. 101Ebd., S. 107. 102Ebd., S. 184.

29 c) Lavinia

Titus Tochter Lavinia ist wohl die mitleiderregendste Figur in Shakespeares Stück, die aber auch kaum konsistent gezeichnet ist. So ist sie ihrem Vater über weite Strecken unterwürftigst zugetan, was ihr die Bezeichnung „puppy dog“103 einbrachte. Die hün- dische Ergebenheit Lavinias wird von Müller mit einem drastischen Bild untermauert. Der Kommentar nennt Lavinia „EIN KUNSTWERK DURCH GEWALT“, das „AUF DEM THEATER LAUFSTEG ZWISCHEN MENSCH UND MENSCH IM OZEAN DER ANGST“104 umherschreitet. Irritierend zerbricht Müller mit der Verwendung Lavinias als „DENKMAL“, als „MEISTERWERK DES JAMMERS“105 die Grenzen zwischen Inhalt, literarischem und dramatischem Kontext, Interpretation und Darstellung. Damit wird La- vinia zu einer Figur zwischen den Welten, eine leidende Fiktion, die maßgeblich für die herausgehobenen Gedanken über die „Schuld“ des Schriftstellers verantwortlich ist.

d) Aaron

Bei Shakespeare ist Aaron ein nahezu reiner Bösewicht, ein „artist in villainy,“106 der seine schrecklichen Taten nicht – wie etwa Tamora – aus Rache, sondern aus reiner Lust am Bösen ausführt. Alle Aarons Aspekte werden von Müller aufgenommen, teilweise zu- gespitzt, dabei umgedacht. Die große Selbständigkeit von Shakespeares Aaron zusammen mit seiner Rolle als Außenstehender mündet bei Müller in das Bild des Regisseurs:

„DER NEGER IST SEIN EIGENER REGISSEUR ER ZIEHT DEN VORHANG SCHREIBT DEN PLOT SOUFFLIERT (. . . ) ER SCHAUFELT IN DIE GRUBE WAS IHM QUER KOMMT UND MIT GEZINKTEN KARTEN SPIELT SEIN SPIEL AUF DEM THEATER SEINER SCHWARZEN RACHE“107

Müller lässt seinem Aaron die stereotype Boshaftigkeit, erweitert gar das sexuelle Klischee- register, etwa wenn der Kommentar Aarons „SCHÖNES GLIED“, „SEIN GESCHLECHT“, seinen „SAMEN“108 in den Mittelpunkt rückt oder Aarons Macht über Tamora (und da- mit auch Saturnin) klar als eine sexuelle Herrschaft darstellt – „ZÜGELLOS AM ZÜ- GEL HÄLT IHR NEGER“ die Gotenkönigin. Müllers Aaron ist nicht einer vordergrün- digen „political correctness“ folgend reingewaschen, er bleibt „partially an incarnation

103WAITH, Eugen. of Violence in Titus Andronicus. S. 27. 104MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 125. 105Ebd., S. 129. 106JONES, Eldred. Aaron. S. 151. 107MÜLLER, Heiner. Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar. S. 115. 108Ebd., S. 113.

30 of evil.“109 Er wird aber aus seinem „barocken Bezugssystem gelöst und in ein politi- sches Koordinatensystem eingeordnet.“110 Zusammen mit dem veränderten Rombild ist Aaron der Hauptfaktor in Müllers Anliegen, aus dem Titus Andronicus „ein Nord – Süd – Stück“ zu machen, das den „Zusammenstoß einer europäischen und einer tropischen Po- litik“111zeigt, ein Stück also, dass sogenannte „erste“ und „dritte“ Welt kollidieren lässt. „Aaron appears as a victim of colonialism who dreams of Africa and who is not accepted or rather is discriminated against in the civilized world.“112 Müller macht Aaron nicht einfach zum schlichten Repräsentanten einer „dritten Welt“, die insgesamt eher den Go- ten als Ganzes zugeordnet werden müsste. Deutlicher als bei Shakespeare wird – dadurch dass er auch von „Freunden“ immer wieder herablassend als „Neger“ angesprochen wird – dass Aaron auch bei den Außenseitern selbst wieder ein Außenseiter ist. Dadurch distan- ziert Müller sich von einem allzu schlichten Weltbild, in dem es nur „die Guten“ und „die Bösen“ gibt. Nur weil Rom insgesamt eine „Schlangengrube“ ist, sind die Goten nicht au- tomatisch die Bemitleidenswerten, sondern auch in ihren Reihen sprießt das Unrecht. Da Aaron auch seine teuflischen Züge behält, verweigert Müller aber sich und dem Leser eine platte Begründung für Aarons Boshaftigkeit in eben diesem Unrecht. Stattdessen lässt Müller all die von Shakespeare angelegten und von sich hinzugefügten Facetten Aarons dem Zuschauer und Leser zur eigenen Einordnung stehen, wohlwissend, dass der „Autor als Wissender, Lehrer, moralische Instanz (. . . ) abgewirtschaftet hat.“113

3.3 Botho Strauß

3.4 Strauß’ Schöpfung

Botho Strauß wurde am 2. Dezember 1944 in Naumburg/Saale geboren. Er gehört zu den gegenwärtigen deutschen Schriftstellern. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Remscheid und Bad Ems studierte er fünf Semester Germanistik, Theatergeschichte und Soziologie in Köln und München. 1967 – 1970 war er ein Redakteur und Kritiker der Zeitschrift "Thea- ter heute". In den Jahren 1970 – 1975 arbeitete er als dramaturgischer Mitarbeiter an der Schaubühne am Hallischen Ufer in . Botho Strauß ist Mitglied des PEN-Zentrums und lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Zu seinen bekanntesten Stücken gehören: Groß und klein (1978), Sieben Türen (1988) oder Die eine und die andere (2005). Strauß adap- tierte einige der Shakespeare’s Werke – „Der Park“ (1983) nach Ein Sommernachtstraum und „Schändung. Nach dem „Titus Andronicus“ von Shakespeare“(2005). Seine Theater-

109ZANDER, Horst. „Seeking the Soul with A Dagger“. S. 509. 110EKE, Norbert Otto. „Der Neger schreibt ein anderes Alphabet“. S. 303. 111MÜLLER, Heiner. Gesammelte Irrtümer. S. 140. 112ZANDER, Horst. „Seeking the Soul with A Dagger“. S. 509. 113HORSTMANN, Ulrich. Anatomie Aaron. S. 107.

31 stücke gehören zu den meistgespielten an deutschen Bühnen.

3.4.1 Schändung. Nach dem „Titus Andronicus“ von Shakespeare

„Als Autor-Zeitgenosse spiegelt Botho Strauß in seinen Werken meisterhaft die gegen- wärtigen Konflikte, die sich täglich um uns abspielen. Schon in seinem demokratie– und zivilisationskritischen Essay Anschwellender Bockgesang (1993)114 hat er sich unter ande- rem115 äußerst kritisch mit der „materiellen Sinnentleerung in der Gesellschaft“ ausein- andergesetzt. Zur Überwindung dieser „Entleerung“ hat er eine neue intellektuelle Füh- rung vorgeschlagen, und infolge dieser Ansicht ist er Ende der achtziger Jahre in heftige Kritik geraten. Aber schon in diesem Essay, für den er oft als „Rechtsintellektueller“116 bezeichnet wurde, versuchte er auf Konflikte, „die sich nicht mehr ökonomisch befrieden lassen,“ aufmerksam zu machen. „Die Blindheit der Glaubenskrieger und die metaphysi- sche Blindheit der westlichen Intelligenzen scheinen einander auf verhängnisvolle Weise zu bedingen,“117 so lautete Strauß’ Diagnose nach den Terroranschlägen von 2001. An- lässlich seines 60. Geburtstags wurde in Paris und Berlin um den Jahreswechsel 2005/06 das Stück Schändung. Nach dem „Titus Andronicus“ von Shakespeare uraufgeführt.

Das Shakespeare’s fünfaktige Stück wurde bei Strauß in siebzehn relativ kurze Stücke aufgeteilt, aber im Grunde genommen kam es nicht zu vielen Änderungen in der Bedeu- tung des Ganzen. Strauß kürzte gelegentlich einige Abschnitte, baute ein paar „verfrem- dende“ und vergegenwärtigende Szenen ein, aber er hielt sich im Wesentlichen über weite Strecken nah am Original. Wo er allerdings die Figuren – in der Form eines kontempla- tivem Metatextes – über sich selbst und ihre Rolle im Stück sprechen ließ, gab er ihnen eine tiefere Dimension und ein größeres Eigenleben.“118

Der Inhalt des Parasit – Dramas oder der Übermalung, wie Strauß sein Stück nannte, ist sehr nah und treu dem Shakespeare’s Original. Sie unterscheiden sich einander in ein paar Tatsachen. Strauß hob in seiner Schändung die Rolle von Lavinia auf– das verrät dem Leser schon der Titel (Schändung); dann ließ er genug der Figuren aus: Die Titus’ Söhne und Verwandten, Marcus – Titus’ Bruder und eine Kinderfrau; und einige nahm zu: die Figur der Monica, die die Rolle eine Regisseurin und Probandin hat. Strauß spitzt

114STRAUß, Botho. Anschwellender Bocksgesang. In: Der Spiegel 6/1993. 115„Anschwellender Bocksgesang“ (S.21): „Die Deutschen sind nach wie vor zu jeder Schandtat be- reit und ebensofort bereit, die begangene Schandtat aufgebracht zu bereuen. Vierzig Jahre zivilisierte Lebensform haben nichts an der Volksseele geändert.“ 116BUBIS. Ignatz. www.dradio.de [online]. [zit. 2011-03-14]. Erreichbar auf WWW: 117STRAUß, Botho. Der Konflikt. In: Der Spiegel 13. Februar 2006. 118BÍMOVÁ, Jana. Reiz der Adaption. : Zu Shakespeare-Variationen bei Heiner Müller und Botho Strauß. S. 42 – 43

32 die Tragödie um den Feldherrn Titus zu, der nach seiner Rückkehr aus der Schlacht gegen die Goten durch eine Reihe falscher Entscheidungen in selbstverschuldetes Unglück gerät und gedrängt vom Schicksal seiner vergewaltigten Tochter in den Strudel von Rache und Gegenrache gerät, und zieht sie in die Gegenwart hinein. Strauß schafft zusätzlich eine Metaebene, eine Art „Making of“ – Szene, in der die Schauspieler aus ihren Rollen treten und diese reflektieren. „Das Stück soll uns allerdings zeigen, wie eng und unklar die Gren- zen sind, die eben die Gegenpole (Gut und Böse, Schein und Wirklichkeit, Städte und Natur, Zivilisation und Barbarei, echte und unechte Werte) voneinander trennen. Oder um genauer zu sein: wie oft sich eine der Antithesen in die Gegensätzliche verwandelt. Was Strauß als Aktualisierung, die in der ursprünglichen Tragödie nicht enthalten war, hinzufügte, um die Handlung und Psychologie der Figuren vielleicht überzeugender zu machen, ist das Phänomen des so genannten Stockholm – Syndroms. Der Begriff entstand 1973 und ist auf ein medial sehr sorgfältig betrachtetes Geiseldrama in Schweden zurück- zuführen. Darunter ist eine psychologische Erscheinung zu verstehen. Sie beschreibt „ein positives Gefühl der Geisel gegenüber seinem Entführer oder Geiselnehmer. Das Opfer befindet sich während einer Geiselnahme in einer Extremsituation. Somit geschieht der Aufbau einer positiven emotionalen Beziehung zum Täter nicht aus einer freien Entschei- dung heraus. Die positiv erlebten Erfahrungen der Geisel mit dem Täter spielen hierbei eine wichtige Rolle. Wird der Geiselnehmer von der Geisel als ein Mitmensch wahrge- nommen, der durch die Außenwelt in seine jetzige Lage gebracht wurde, kann das Opfer die Handlungsweisen des Täters eher nachvollziehen. Das heißt, ein gegenseitiger Sym- pathiegewinn ist umso wahrscheinlicher, umso mehr menschliche Züge beim Gegenüber wahrgenommen werden. Nicht nur die Geisel, sondern auch der Geiselnehmer steckt in einer Extremsituation. Daher ist das Stockholm – Syndrom auch beim Geiselnehmer vor- zufinden, wenn Mechanismen der negativen Verstärkung ausgeübt werden.“119 Ich werde mich vor allem mit dem Lavinia’s Charakter befassen. Welche Motivierung könnte die verstümmelte Lavinia haben, mit ihrem Gewalttäter Chiron, einem der „zwei halben Hir- ne, die sich zum Teufelsgeist ergänzten,“120 eine sexuelle Beziehung anfangen zu wollen? War das „nur Lust (,die) das Leid vertilgt?“121 Seine Motivierung ist, trotz seiner Rede, auch nicht viel überzeugender:

119KETELHÖN, Sabrina. www.suite101.de [online]. 13.1.2010 [zit. 2011-04-15]. Was ist das Stockholm- Syndrom?. Erreichbar auf WWW: . 120STRAUß, Botho. Schändung : Nach dem „Titus Andronicus“ von Shakespeare. S. 59. 121Ebd., S. 61

33 CHIRON:

„Auf Knien lieg ich reuevoll vor dir, dem Inbild meiner Sehnsucht: (. . . ) Ich war ein Ungeheuer nur aus unbezähmter Liebe. Und niemals kann Vergebung mich von meinem Fluch erlösen. Doch büßen will ich nun, solang ich lebe. Ich lieg zu Euren Füßen demütig und ohne Flehen. Ich warte, bis der Rächer kommt und mich zerfleischt. So sollst du sehen, wie ich sterbe. (. . . ) Keine Angst, Demetrius (sein Bruder) ist weit fort. Jetzt bin ich einsam abgetrennt und suche eine liebende Ergänzung (. . . ) Ein Kind liebt die zerschlagene Puppe heißer als zuvor die heile (. . . ) Ich will der erste sein, der (. . . ) Frieden stiften zwischen den verfeindeten Familien.

MONICA/LAVINIA:

Ist Liebe: Frieden stiften? (. . . ) Herz und Tugend ausgelöscht (. . . ) nur eins habt ihr nicht zerstört: meine Lust

CHIRON:

Aus vollem Herzen strömt mein Wille, dich zu lieben und Verzeihung zu erlangen“

MONICA/LAVINIA:

Dein Herz ist mir so hundsegal (. . . ) Nur Lust vertilgt das Leid. Du liebst mich nicht. Doch ich erwarte dich. Besuch mich.“122

Die Frage, ob sich Strauß all dessen bewusst war, als er die Akte IX und XIII schrieb, bleibt allerdings offen. Dieses Experiment der zwei Protagonisten scheitert schließlich:

„Sie küsst ihn vorsichtig, dann leidenschaftlich, er stößt sie von sich. Furchtbar. Es graust mich nur. (. . . ) Dein Mund ist leer wie eine Muschelgrotte.“123

122Ebd., S. 58 – 61 123Ebd., S. 74

34 Und Chirons Worte über seinen Tod werden wahr – er stirbt aus der Hand von Titus.“124

Und was sagt auf die Lavinia’s Theatersrolle eine der ihren Darstellerinen Luisa Stroux? „Lavinia ist eine schöne, kluge, junge Frau, die Tochter des mächtigen Feldherrn Titus Andronicus. Genau das wird ihr zum Verhängnis: Von den Feinden des Vaters wird sie geschändet, das heißt: Man vergewaltigt sie, schneidet ihr die Zunge raus und hackt ihr die Hände ab. Zwei Männer gegen eine Frau. Keine Traumrolle. Eher eine Alptraumrolle. „Ich habe beim ersten Lesen auch geschluckt,“ sagt Louisa Stroux. Die 29–Jährige spielt die Lavinia in Botho Strauß’ Schändung, einer Neufassung von Shakespeares fürchterli- chem Drama. In der Inszenierung von Intendant Elmar Goerden kommt das Stück Mitte April am Bochumer Schauspielhaus heraus, mit Bruno Ganz als Titus. Der Theaterstar Ganz hatte die Rolle vor einem Jahr schon mal probiert, bei Claus Peymann in Berlin. Aber die Herren trennten sich nach kurzer Zeit, wegen künstlerischer Differenzen. Louisa Stroux beschäftigen im Moment allerdings andere Probleme: Wie viel Grausamkeit kann man zeigen auf der Bühne? Wo ist die Grenze – die für sie selbst, die für die Zuschauer und die des guten Geschmacks? „Wir sind noch am Suchen,“ sagt Stroux. Nur eins sei klar: „Wenn es mehr ums Schockierende als ums Berührende geht, dann interessiert es mich nicht mehr.“ Sie sagt das mit einer sanften, melodiösen Stimme, die gut zu ihrer mädchenhaften Ausstrahlung und den melancholischen dunklen Augen passt.“125

124BÍMOVÁ, Jana. Reiz der Adaption. : Zu Shakespeare-Variationen bei Heiner Müller und Botho Strauß. S. 44 – 46 125DÜRR, Anke. Die Alptraumrolle. Spiegel [online]. 2006, 4, [zit. 2011-04-15]. Erreichbar auf WWW: .

35 4 Abschluss

In dieser Diplomarbeit wurde die Analyse des Theaterstücks „Titus Andronicus“ von William Shakespeare realisiert und folgende Adaptationen – Friedrich Dürrenmatt, „Titus Andronicus. Eine Komödie nach Shakespeare“; Heiner Müller, „Anatomie Titus Fall of Rome Ein Shakespearekommentar“ und Botho Strauss, „Schändung“ bearbeitet.

Sie zeigte, dass sich die eigentlichen Adaptationen vom Shakespeareschen Original in ein paar Aspekten unterscheiden. Die erste Hälfte der Arbeit war dem Original von Sha- kespeare’s Werk Titus Andronicus gewidmet, und sein Charakter ist eher beschreibend. Für die nächste Zwecke der späteren Vergleiche wurde die Grundcharakteristik des Wer- kes beschrieben. Dazu gehört zum Beispiel die Frage, wie es Shakespeare beeinflusste und inspirierte. Welche Figuren benutzte er und welche Grundrisse bildet die Tragödie Titus Andronicus? Dann wurden die Handlung des „Titus Andronicus“ selbst, die sprachliche Betrachtung und die Audrucksmittel vorgestellt.

Der zweite Teil der Diplomarbeit betraf die Adaptationen von den oben genannten Autoren. Diese Hälfte handelte vom Stück dieser Schriftsteller und der eigentlichen Inter- pretation und hat vor allem vergleichenden Charakter, zwischen Shakespeare’s Stück und den Adaptationen. Friedrich Dürrenmatt’s Werke leben von zynischem Humor und aggressivem Sarkasmus, mit denen er Kritik an der Gesellschaft und einer von Katastrophen gekennzeichneten Welt übt. Er versteht Schreiben als dialektische Bewegung, als Möglichkeit, immer wieder aufs Neue nach Antworten und Lösungen zu suchen. Diese Antworten können für ihn nie- mals nur Ideologien sein, sondern sie suchen nach allgemein gültigen, zeitlosen Aussagen und stellen Gedanken über die menschliche Existenz an sich dar. Dürrenmatt nimmt seine gesellschaftliche Verantwortung sowohl als Mensch als auch als Schriftsteller sehr ernst. Für ihn ist der ständige Kampf gegen gesellschaftliche Verkrustungen ernst zu nehmen. Dürrenmatts schriftstellerische Auseinandersetzung mit der Welt geschieht meist in der Form von Groteske oder Komödie. Gerade diese Zeichen erscheinen auch in seiner Bearbei- tung des Titus Andronicus. Nicht zufällig betitelte er seine Adaptation Titus Andronicus „Eine Komödie“ nach Shakespeare betitelt. Der Grundunterschied zwischen Shakespeare und Dürrenmatt besteht in der Struktur, in der ganzen Auffassung, in der Benutzung des Genres. Dürrenmatt verstärkte darin einen Hauptpunkt und zwar die Machtlosigkeit des Patriotismus. Er sagte in einem Interview, dass die Ideologie des Patriotismus sehr gefähr- lich und potenzial zerstörend ist und im Namen des Vaterlandes unschuldige Menschen sterben. Das gilt für die jüngere Vergangenheit – den zweiten Weltkrieg – und diese Tat- sache projiziert sich in sein Werk „Titus Andronicus. Eine Komödie nach Shakespeare.“ In Müller’s dramatischen Werken wird der Leser und Zuschauer mit einer beeindruckenden

36 Vielzahl von intertextuellen Verweisen konfrontiert, die es oft schwermachen, alle Bezüge zu erkennen und einzuordnen. Heiner Müller reicherte seine Adaptation um die Kommen- tare an, die nach ihm in Shakespeares Titus Andronicus fehlten. Dieses Fakt beschrieb Müller als Shakespeares „Mängeln“. Deshalb wählte er den Titel “Ein Shakespearekom- mentar.” Bei Müller’s Titus ist auch der Charakter der Hauptfiguren – Titus Andronicus, Tamora, Lavinia und Aaron – ganz interessant. Im Unterschied zu Shakespeare scheinen sie mehr durchgearbeitet zu sein. Nach Müller beging Shakespeare einige „Mängel“ in den Figuren und deshalb verbesserte er diese „Mängel.“ Titus Andronicus ist „ROMS ERSTES SCHWERT BESITZER“, aber wird von Müller eher als „GOTENSCHLÄCH- TER“ vorgestellt. Auch Tamoras dunkle Seiten werden in Müllers Arbeit verstärkt. Der Autor zeigt vor allem Tamora’s Monstrosität, was im erbarmungslosen Dialog mit Lavinia sehr gut sichtbar ist. Er verzögert ihren Tod noch im letzten Akt, um sie als pervertier- tes Muttertier zu zeigen, das „MIT ANDERM HUNGER JETZT. . . DIE GELIEBTE MAHLZEIT“ weiter verspeist. Der Charakter von Lavinia stellt bei Müller das genaue Gegenteil des Originals dar. Für Shakespeare ist Lavinia die mitleiderregendste Figur, aber Müller bemühte sich um die Zerbrechung dieser Auffassung. Alle Aspekte von Aaron werden von Müller aufgenommen, teilweise zugespitzt, dabei umgedacht. Zum Schluss dieser Arbeit wurde die Bearbeitung Titus’ Andronicus’ von Botho Strauß erwähnt. In dieser Adaptation sowieso in seinen anderen Werken spiegelt Strauß meister- haft die gegenwärtigen Konflikte wider, die sich täglich rund um uns abspielen. Er wies auf die „materielle Sinnentleerung in der Gesellschaft“ an. Der eigentliche Inhalt des Parasit– Dramas oder der Übermalung, wie Strauß sein Stück nannte, ist sehr nah und treu dem Shakespeareschen Original, aber es gibt ein paar Punkte, in denen sie sich unterscheiden. Der Hauptunterschied besteht in der Struktur und der Aufhebung der Rolle von Lavinia – das verrät dem Leser schon der Titel (Schändung); dann ließ er einige der Figuren aus: Die Söhne Titus’ und Verwandten, Marcus – Titus Bruder und eine Kinderfrau; und einige nahm hinzu: die Figur der Monica, die die Rolle einer Regisseurin und Probandin hat.

37 5 Literaturverzeichnis

Literatur

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[23] KEHLER, Dorothea. „That Ravenous Tiger Tamora“. Titus Andronicus Lusty Wi- dow, Wife, and Mother. In: Philip C. Kolin (Hrsg.), Titus Andronicus. Critical Essays. New York, London : 1995.

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