Literarische Formen Der Geopolitik
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Fach: Ostslavische Philologie (Slavistik) Literarische Formen der Geopolitik: Raum- und Ordnungsmodellierung in der russischen und ukrainischen Gegenwartsliteratur Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades Dr. phil. vorgelegt dem Fachbereich 08/09 der Westfälischen Wilhelms-Universität im Rahmen des GRK „Literarische Form. Geschichte und Kultur ästhetischer Modellbildung“ von Oleksandr Zabirko aus Rubizhne (Ukraine) Tag der mündlichen Prüfung: 04.05.2020 Vorsitzender des Gemeinsamen beschließenden Ausschusses: Prof. Dr. Moritz Baßler Erstgutachter: Prof. Dr. Alfred Sproede Zweitgutachter: Prof. Dr. Moritz Baßler Drittgutachterin: Prof. Dr. Mirja Lecke Münster 2020 2 3 4 Inhaltsverzeichnis I. Zur Einführung 1. Fragestellung und thematische Ausrichtung…………………………………..7 2. Die Verflechtung von Raum und Ordnung……………………………………8 3. Die Geopolitik……………………………..…………………………………10 4. Modell und Form: Terminologische Annäherung…………………………...14 5. Struktur und Gliederung der Arbeit………………………………………….19 II. Russische Raum- und Ordnungsmodelle aus literaturhistorischer Perspektive 1. Modelle des postsowjetischen Raums zwischen Schmitt und Kelsen……….22 2. Von der heiligen Rus’ zum russkij mir: Literarische Genealogien folgenreicher Modelle……………………………26 3. Eurasismus als Rettungsideologie des Imperiums…………………………...43 4. Russische Identitätsdiskurse nach der Perestrojka…………………………...55 III. Formen des Protests. Die Form als Protest 1. Credo quia absurdum: Politischer Protest im Spiegel der Formalästhetik…………………………..61 2. Die Gesellschaft des Spektakels und die Karnevalsgesellschaft……………71 3. Karneval als Delikt. Der Fall „Pussy Riot“…………………………………94 4. „Graždanin Poet“: Protest im Spannungsfeld zwischen Travestie und Kanon………………………………………….…109 5. Ukrainische Barrikadenliteratur als postkolonialer Karneval………..…….119 6. Die Neupositionierung nach 2014…………………………………………146 IV. Zyniker, Loyalisten und Rebellen. Die Legitimation des Autoritarismus in der russischen Gegenwartsprosa 1. Gegenwartsliteratur als Instrument der Sozialkritik……………………….153 2. Rechtstaatlichkeit am Gefrierpunkt. Der Roman „Nahe Null“ von Nathan Dubowizki………………………….155 3. Explosiver Etatismus: Der Roman „Gospodin Geksogen“ von Aleksandr Prochanov………………………………………………….161 5 4. Zakhar Prilepins leidenschaftliche Revolte………………………………...175 5. Die Abwicklung der Form: „Neuer Realismus“ und der Abschied von der literarischen Postmoderne…………………………..190 V. Geopolitische Visionen der russischsprachigen Phantastik 1. „Die Literatur der freien Menschen”: Zur Geschichte der sowjetischen fantastika………………………………..231 2. Die Mittelerde Eurasiens…………………………………………………...236 3. Literarisches World-Building als geopolitische Beweisführung…………...240 5. Der soziale Verhaltenskodex in der post-menschlichen Supergemein schaft……………………………………………………………………….251 6. Die Nostalgische Modernisierung: Alternativgeschichten und kontrafaktisches Erzählen..………...…….……257 7. Novorossija als politisches Projekt: Von Fiktion zu Fakt…………………..269 8. Schlussbemerkungen: Ein Blick in die Retrozukunft………………………281 VI. Ukrainische Geopoetiken 1. Mitteleuropa auf Ukrainisch: Die Raummodelle Jurij Andruchovyčs und anderer west-ukrainischer Autoren……………....283 2. Serhij Žadans „wilder Osten“………………………………………………312 VII. Ausblick…………………………………………………………………………328 Bibliographie…………………………………………………………………………333 6 I. Zur Einführung 1. Fragestellung und thematische Ausrichtung In den Ländern Osteuropas korreliert die Raumthematik in vielerlei Hinsicht mit der Bewältigung der postsowjetischen Identitätskrise, die zu einem zentralen Motiv in der Literatur und Publizistik geworden ist. In Anlehnung an Modelle des spatial turn der Kultur-und Sozialwissenschaften zeigt die vorliegende Untersuchung, wie literarische Raumkonstruktionen für die Verarbeitung und gedankliche Einordnung der politischen Transformationsprozesse sowie für die Erprobung neuer Identitätsmodelle in der Ukrai- ne und in Russland instrumentalisiert wird. Die Arbeit analysiert literarische Konstrukte wie „die russische Welt [russkij mir]", „die heilige Rus’ [svjataja Rus’]“, „Neurussland [Novorossija]“ und „Eurasien“, die den politischen Diskurs der Ära Putin dominieren, und kontrastiert diese mit den Raummodellen von „Ostmitteleuropa“ sowie der „Euro- päisierung“ der Ukraine in den Schriften ukrainischer Literaten. Die in dieser Weise semantisierten Kulturräume determinieren maßgeblich die politische und kulturelle Selbstverortung der beiden ehemaligen Sowjetrepubliken. Die Arbeit geht im Weiteren der Frage nach, wie diese Selbstverortung in den Werken gegenwärtiger russischer und ukrainischer Prosa-Autoren wiederum auf die Nations- und Gemeinschaftsbilder, die Gesellschafts-Ideale sowie die Rechts- und Gerechtig- keitskonzepte einwirkt. Es geht also um die Politisierung der literarischen Raumentwür- fe und das in ihnen verhandelte Verhältnis zum politisch strukturierten nationalen Raum. Die vergleichende Analyse, die sich auf die Darstellung dieser Prozesse in den jeweiligen nationalen Literaturen fokussiert, verspricht relevante Erkenntnisse über den gedanklichen und künstlerischen Umgang mit den großen sozialen Umwälzungen und Transformationen, welche die beiden Länder seit dem Zerfall der Sowjetunion erlebt haben. Da die Raum- und Ordnungsentwürfe russischer und ukrainischer Literaten sich zudem in einem seit 2014 längst nicht mehr latenten, sondern offenen militärischen Konflikt befinden, stellt die Arbeit auch einen Versuch „literarischer Konfliktfor- schung“ dar. Die in der postsowjetischen Prosa modellierten Raum- und Ordnungskonzepte haben in der Regel einen unmittelbaren Bezug zu den jeweiligen theoretischen Ausführungen philosophischer, geopolitischer oder historiographischer Natur („Ideologien“) und kön- 7 nen nicht getrennt von diesen analysiert werden. Die Besonderheit der theoretischen Raumkonzepte – hier etwa der hochgradig literarisierten Konzeptionen der sog. „Eura- sier“ oder des Modells der „zwei Ukrainen“ – besteht gerade in einem hohen Grad der Literarizität. Als Konzepte, die in einem Spannungsfeld zwischen literarischer Produk- tion und Wissenschaftlichkeit entstehen und eine geschichts- oder naturwissenschaftli- che Rhetorik mit einer dynamischen Metaphorik und fiktionalen Erzählstrukturen ver- binden, bieten sie ein anschauliches Beispiel für Modellierung faktualer Wissensfelder mit literarischen Mitteln. 2. Die Verflechtung von Raum und Ordnung Seitdem sich in der Nationalismusforschung ein explizit konstruktivistischer Ansatz etabliert hat (Anderson, Gellner, Hobsbawm), demzufolge die Nationen als „künstliche“ (wenn auch nicht willkürliche) Gemeinschaftskonstruktionen zu betrachten sind, rücken die Mechanismen in den Blick, die zur „Imaginierung“ einer nationalen Gemeinschaft führen. Die neue Sicht auf die Verfahren und Medien rückt die „Nation“ aus der Umhe- gung im Forschungsgebiet der Staatswissenschaften in die Reichweite der Kultur- und Literaturforschung. In Osteuropa trägt die Literatur relevant zu einer solchen „Imaginie- rung“ bei, und zwar nicht nur über die ästhetische Legitimation der staatlichen Unab- hängigkeit oder die Propagierung der „zivilisatorischen“ Option „Demokratie, Rechts- staat, Marktwirtschaft“; wichtiger Wirkungsbereich ist auch die Neuerfindung und – in wesentlicher Hinsicht ästhetisch verfahrende – Modellierung von Räumen. Das vorlie- gende Dissertationsprojekt geht davon aus, dass nach 1991 ein Prozess des Wandels und der Adaptation westlich‐liberaler Begriffe und Beschreibungsmuster stattgefunden hat, bei gleichzeitiger „Einschreibung“ ehemaliger Sowjetrepubliken in die europäische und globale Raumordnung. Das Studium der literarisch entworfenen Raumkonstruktionen und ihrer semantischen Bewegungen ermöglicht es, die Denksysteme offenzulegen, mit deren Hilfe die Zukunft dieser Gesellschaften projiziert und imaginiert wird. Das erneuerte Interesse am Verhältnis von Territorialisierung und Identität, Grenz- überschreitung und sozialer Zuordnung machten die kulturwissenschaftlichen Raumana- lysen in den letzten Jahren zu einem wichtigen Forschungsfeld. Das Verständnis von nicht natur-ursprünglichen Räumen als soziale Konstrukte, die den geographischen Raum buchstäblich überformen, gilt als ein grundlegender Ansatz der neueren kultur- wissenschaftlichen Theorie. 8 Die Neuordnung der politischen Geographie Europas seit der Auflösung des „Ost- blocks“ 1989 spielt hier die entscheidende Rolle. Nach der utopischen Stilisierung des Eigenen und der ideologisch motivierten Ausblendung des Fremden in der Epoche des sozialistischen Realismus wird in den literarischen Medien eine Modellierung von Ter- ritorien vorgenommen, welche die Heterogenität Osteuropas neu erschließt. Dimensionen kollektiver Identität wie Staatlichkeit, Bürgersinn, Sippe und durch land- schaftliche Bezüge hergestelltes Gemeinschaftsgefühl können im Rahmen einer literari- schen Darstellung auf verschiedene Weise verhandelt werden und ergeben somit unter- schiedliche Konstellationen der erzählten bzw. erzählbaren Heimaterfahrung. Die Be- deutung von Raum als Heimat erstreckt sich somit von einer überörtlich konstruierten Kulturlandschaft über die Konstruktion einer überindividuellen Lebenswelt (im Sinne von Alfred Schütz) bis hin zu einer Wahrnehmung der Region als einer separaten Ein- heit, die an der Bildung einer politischen Nation oder an deren Auflösung beteiligt ist (Stichwort Separatismus). Die letztere Beobachtung ist im besonderen Maße für „Fron- tier“-Landschaften wie den Donbass, oder Galizien relevant – Grenzregionen mit flie- ßenden, sich