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(Drehbuch) und Pearse Moore (Produktion), die in- nerhalb von sechs Tagen im April 1996 und mit ei- WAS FÜR EINE ERLEICHTERUNG: nem Budget von nur 45.000 Pfund ihren Film in und um Derry an beiden Seiten des Flusses Foyle und auf dem Fluss selbst gedreht hatten. Der bekannte Dance, Lexie, Dance nordirische Schauspieler B.J. Hogg, der im gleichen Jahr in Stephen Burkes ‘81’ den protestantischen Familienvater Kenneth Campbell verkörperte, spielte Lexie Hamilton, den verwitweten Vater und Arbei- ter in einem am Fluss liegenden Elektrizitätswerk; „Nein, bitte, nicht noch mehr Gewalt“ stöhnte eine schenk bekommen. Von ihrem Schlafzimmer aus er- die Schülerin aus Holywood/ Co. Down, Kimberley Workshop-Teilnehmerin, die bis dahin die filmische öffnete sie das Feuer auf den gegenüberliegenden Mc Conkey, seine Riverdance-verrückte, kleine Reflexion der irischen Troubles des frühen 20. Jahr- Schulhof; sie tötete zwei Menschen und verletzte Tochter, Laura. Ihr Haus befindet sich auf dem E- hunderts tapfer ausgehalten hatte. Ihre Bemerkung sechs weitere. Während einer kurzen Feuerpause ge- Werk gegenüberliegenden Flussufer. galt meiner Ankündigung, wir würden uns später währte sie dem Lokalradiosender ein Telefoninter- auch noch mit den Troubles des späten 20. Jahr- view, in dem sie ihre Nicht-Erklärung abgab, nichts Bekanntlich trennt der Fluss Foyle die hauptsäch- hunderts befassen müssen. sei los, sie möge einfach keine Montage. lich katholische Westseite Derrys einschließlich der mit einer Stadtmauer umringten Altstadt von der Wir hatten uns Sequenzen aus Neil Jordans Michael hauptsächlich protestantischen Ostseite – die Aus- Collins (1996) und Ken Loachs The Wind that Shakes VERHÖRT, VERKANNT, VEREIN- nahme auf der westlichen, der Altstadtseite, bildet the Barley (2006) angeschaut. Es sind bekanntlich die protestantische Fountains-Enklave. Pearse Darstellungen der Zeiten 1916-1922 bzw. 1920-1923 NAHMT – WAS FÜR EIN THEMA: Moore spricht vom Fluss im Film als Metapher für in Farbe, die, wenigstens für junge Augen, sehr viel das Leben, das weiterfließt. Genauso wichtig, wenn einprägsamer wirken als die schwarz-weiß-Wo- IRISCHE „REBELLEN“-SONGS AUF nicht noch wichtiger, ist die Idee des Flusses als chenschau-Filmchen der damaligen Zeit selbst. Als etwas Verbindendem zwischen der protestanti- nächstes auf meinem Programm standen YouTube- YOUTUBE! schen Familie und der als fremd empfundenen ‘ka- Visualisierungen von Songs, die mit den Troubles der tholischen’ Kultur. Zeit 1916-1923 zu tun hatten: wir entdeckten sehr Mit Dominic Behans meines Erachtens reichlich viel glorifizierte Gewalt und noch mehr „fuzzy histo- konfusem Song „The Patriot Game“ waren wir mit Der Film wird mit einer Szene im E-Werk eröffnet. ry“ – Ken Loachs IRA-Helden schlachten die ver- dem Thema IRA, Tod, Gewalt, den Troubles des spä- Lexie hat die Nachtschicht hinter sich gebracht, meintlichen Mörder von Neil Jordans Patrioten aus teren 20. Jahrhunderts und dem berühmt-berüch- zieht seine Schutzschuhe aus und seine Gummistie- dem GPO ab. Unsinn, aber sehr eindrucksvoll prä- tigten Nord-Irland-Konflikt konfrontiert. Musste ich fel an. In dem Moment klingelt auf der andern Seite sentierter Unsinn! Drei Songs der Gebrüder Behan so schrecklich klaustrophobisch wirkende Filme wie des Flusses der Wecker seiner kleinen Tochter und – „My Laughing Boy“ zu Ehren Michael Collins von Paul Greengrass’ Bloody Sunday (2002) oder Steve sie schlüpft in ihre lustigen Pantöffelchen hinein. Brendan, „Come Out, Ye Black and Tans“ und „The McQueens Hunger (2008) den Studierenden antun? Während er mit seinem Motorboot nach Hause über Patriot Game“ von Dominic platzten fast den Rah- Bitte nicht gleich missverstehen. Wir wollten auch den Foyle fährt schaut sie sich das Frühstückspro- men des Workshops, denn sie benötigten unendlich keine reine Feel-good-Filme sondern Filme, die eine gramm im Fernsehen an. Als er ins Haus kommt, viel Kontextualisierung. gewisse Hoffnung auf eine neue Normalität erken- hüpft sie, noch im Nachthemd und Pantoffeln, im nen lassen. Takt zu Riverdance. Die Show hat es ihr, wie sehr Übrigens, kennen Sie Michael Behrendts Buch „I vielen kleinen Mädchen auf dieser Welt, angetan: Don’t Like Mondays: Die 66 größten Songmissver- Wir versuchten es mit drei Kurzfilmen aus den sie will Riverdancerin werden. Dies eröffnet sie ih- ständnisse“ (2017) – „Verhört, verkannt, verein- Neunzigerjahren, die ich besonders schätze: Ste- rem etwas erschrockenen und nach der Nacht- nahmt“. Das einzig Irische am Buch ist der Titelsong phen Burkes mehrfach prämierter After ‘68 (1994) schicht erschöpften Vater: Nein, sie tanzen nicht, von Bob Geldorf und den Boomtown Rats, ein Song, und 81 (1997) mit ihrem persönlichen sogar witzi- ist seine Antwort; sie könnten es versuchen und der anscheinend gerne als Ausdruck des Montag- gen Aproach sowie Tim Loanes für einen Oscar no- Mama hätte es ihr erlaubt, ihre Antwort. Blues’ missverstanden wird. „I don’t like Mondays“ minierter Dance Lexie Dance (1996). ist tatsächlich die (Nicht-) Erklärung einer kaliforni- Während Laura in die Schule geht, legt sich Lexie schen Mörderin zu ihrer Tat: die sechzehnjährige Dance Lexie Dance (1996) ist die Arbeit dreier hin. Schlafen kann er aber nicht. Die Begeisterung Brenda Ann Spencer hatte zu Weihnachten 1978 von damals noch junger Männer, die es inzwischen weit seiner Tochter für das ‘südirische’ Tanzspektakel ihrem Vater ein halbautomatisches Gewehr als Ge- gebracht haben, Tim Loane (Regie), Dave Duggan lässt ihm als fürsorglichem Vater, noch trauerndem

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Witwer und Protestanten keine Ruhe. Weder Radio Kleid muss her! Sich noch einmal in die Löwenhöh- tion in die Altstadt zum irischen Danceshop begeg- Foyle noch sein Stephen Ring-Roman kann ihn ab- le wagen möchte er sich deswegen nicht; ein Tanz- net war, elegante, der Trägerin angepasste, River- lenken. Unausgeschlafen wie er ist, fährt er wider- kleid aus zweiter Hand tut’s auch, auch wenn diese dance-gemäße Outfits samt Diadem. Lexie ist es um über den Foyle und begibt sich mutig in eine zweite Hand einem katholischen Arbeitskollegen offensichtlich nicht ganz wohl inmitten der zuschau- Höhle des irisch/ katholischen Löwen, einen mit gehört und das Kleid genau so diskret verpackt wie enden Familienangehörigen: er tut aber alles, um Tanzkleidern vollgestopften Laden mitten in der Alt- der Videofilm anonym in braunem Packpapier Lexie seine Tochter zu ermutigen, als sie an der Reihe ist. stadt. Was man nicht alles für seine kleine Tochter im Umkleideraum unauffällig überreicht wird. Das Am Ende ihrer Darbietung spendet er ihr wild Ap- tut! Er überreicht ihr seine diskret verpackte Beute, Kleid in grellstem, irischem Grün mit Silbersticke- plaus und pfeift ihr zu. Lexi und Laura treten jetzt einen Teach-Yourself-Irish Dance-Videofilm. reien ist nicht zeit-, mode-, d.h. Riverdance-gemäß ihren Heimweg über den Foyle an. Mitten im Fluss kurz sondern hängt der kleinen Laura bis unterhalb erkennt Laura endgültig, dass sie – ihre Mutter ist Klein-Laura übt fleißig und bekehrt auch ihre Schul- der Knie. Ihr geduldiger Vater muss sich auch noch gemeint – nie wieder nach Hause zurückkommen klasse – unter ihrer Anleitung tanzt sie in einer Ri- mit Stecknadeln im Mundwinkel als Änderungsnä- wird. An ihrem Ufer angelangt reichen Vater und verdance-ähnlichen Formation auf dem Pausenhof. her betätigen. Tochter einander die Hand und nach einigem Zö- Als Lexie sieht, wie viel Lebensfreude seine mutter- gern tanzen sie halb, halb hüpfen sie Hand in Hand lose Tochter durch den irischen Tanz gewonnen hat, Endlich ist der große Tag da, Lexie stürzt sich in Gala, das Ufer entlang. Nach der gemeinsam durchge- weist er auf den bevorstehenden irischen Tanzwett- Jacke, weißes Hemd und Krawatte, Laura in das standenen Expedition in die Fremde haben Vater und bewerb, auf das ‚feis‘ hin, das in einem Monat aus- besagte grüne Tanzkleid, weiße Socken und – ihre Tochter neu zueinander gefunden. gerechnet in der ehemaligen Hochburg protestan- Variante – genauso grell rote Haarschleife. In ge- tischer Macht, der Guildhall veranstaltet wird. Ein genseitiger Ehrerbietung besteigen sie ihr festlich An keiner Stelle dieses Filmes fallen Reizworte wie mit rot-weiß-blauen Wimpeln ausge- Katholik oder Protestant, Nationalist oder Unionist schmücktes Motorboot und fahren mit vol- oder deren lokale Variante; in einem Land wie Nord- ler Geschwindigkeit Richtung Derrys Alt- irland brauchen sie nicht ausgesprochen zu wer- stadt und Guildhall. den. Wie mutig Lexie Hamilton aus Liebe zu seiner Angekommen in der Guildhall wird Klein- Tochter und wie mutig Tim Loane und seine Kolle- Laura wie alle anderen Wettbewerbsteil- gen in ihrem märchenhaften kleinen Film aus dem nehmerinnen nach ihrem Namen und dem- Derry der Jahrtausendwende gewesen waren, wur- jenigen ihrer Mutter gefragt. Zum ersten Mal de in Filmfestspielen international erkannt. im Film wird – in der direkten, naiven Ant- wort des Kindes: ‘Meine Mutter ist tot’ – der Der Film wurde in der Kategorie ‘Kurzer Realfilm’ Tod von Lauras Mutter ausgesprochen. für einen Oscar nominiert und das Team inklusive ‘Lexie’ und ‘Laura’ jettete zur Preisverleihung nach Lexie springt sofort ein und mit Stolz gibt er Kalifornien. seinen offensichtlich protestantischen Na- men, Lexie Hamilton, als Ersatz für den Na- In der langen Oscarnacht vom 23.-24. März 1998 men seiner verstorbenen Frau. Der große, wurde u.a. auch am großen Schirm des Orchard- mit Holz paneelierte Saal der Guildhall, der Kinos in Derry die Satellitenübertragung der Preis- ehemaligen Hochburg protestantischer verleihung verfolgt. Nachdem die 600 anwesenden Macht, bietet Vater und Tochter eine leicht Filmfans die scheinbar nicht enden wollenden Er- exotische Szene an: er ist mit grün-golde- folge von James Camerons $ 235 Millionen Dollar nen Bannern geschmückt. Sie zögern ein teuren Werk Titanic durchgesessen hatten, wurde Weilchen an der Schwelle, bevor sie diese gegen 03.30 Lokalzeit der Gewinner der Kategorie eindeutig fremde Umgebung betreten. Lau- ‘Kurzer Realfilm’ bekanntgegeben. ra – als einzige Tänzerin im traditionellen, grell-grünen Kleid -– reiht sich in die Schlan- Nein, nicht Dance Lexie Dance sondern der ameri- ge der auf ihren Auftritt wartenden, modisch kanische Film Visas and Virtues wurde ausgezeich- gekleideten Mädchen ein. Sie tragen die net. Die 600 Fans im Orchard stöhnten, erholten sich Tanzkleider, denen Lexie auf seiner Expedi- aber schnell von ihrer Enttäuschung und feierten ih- ren Beinahe-Oscar jetzt erst richtig. Derry ist schließlich nicht in Hollywood sondern in Nordirland, Filmszene wo Träume nur gelegentlich in Erfüllung gehen.

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Was ist aus den mittlerweile nicht ganz so jungen Männern, Tim Loane, Dave Duggan und Pearse > VON DER FILMBESPRECHUNG ZU PAUL O’BRIEN… Moore geworden? Kein Wunder, nachdem ihr Film für einen Oscar prämiert wurde: alle haben sich eta- Dance Lexie Dance – Oscar-nominierter Kurzfilm bliert, als Regisseur, Schriftsteller und als Direktor ArtNr.: 1918020; 8,00 inkl. MwSt., zzgl. Versand; des Nerve Centre, einer sehr wertvollen, natürlich von Kürzungen bedrohten, nordirischen Einrichtung Lieferzeit: 3-4 Werktage; im www.irish-shop.de zur Förderung der Kreativität besonders bei jungen Menschen. Es lohnt sich nach allen dreien inklusi- Dance Lexie Dance ist die Arbeit dreier junger Männer, Tim Loane ve Nerve Centre zu googeln. (Regie), Dave Duggan (Drehbuch) und Pearse Moore (Produktion), die innerhalb von nur sechs Tagen im April 1996 und mit einem Bud- Zwei Empfehlungen: get von nur 45.000 Pfund ihren Film in und um Derry an beiden Die Original-Nerve Centre-DVD von „Dance Lexie Seiten des Flusses Foyle und auf dem Fluss selbst gedreht hatten. Dance“ ist noch beim www.irish-shop.de erhältlich. Nur dort. Der Kurzfilm wurde nie veröffentlicht. Der bekannte nordirische Schauspieler B.J. Hogg, der im gleichen Jahr in Stephen Burkes ‘81’ den protestantischen Familienvater Kenn- Für alle, die mehr über das Thema Film in Nord- eth Campbell verkörperte, spielt Lexie Campbell, den verwitweten Irland / Nord-Irland im Film wissen wollen: Vater und Arbeiter in einem am Fluß liegenden Elektrizitätswerk; John Hill, „Cinema and : Film, Cul- die Schülerin aus Holywood / Co. Down, Kimberley Mc Conkey, ist ture and Politics“, London, 2006. seine ‘Riverdance’-verrückte, kleine Tochter, Laura. Paul F. Botheroyd Bekanntlich trennt der Fluss Foyle die hauptsächlich katholische Westseite Derrys einschließlich der mit einer Stadtmauer umring- ten Altstadt von der hauptsächlich protestantischen Ostseite – die Ausnahme auf der westlichen, der Altstadtseite, bildet die protes- tantische Fountains-Enklave. Pearse Moore spricht vom Fluss im Film als Metapher für das Leben, das weiterfließt. Genau so wich- tig, wenn nicht noch wichtiger, ist die Idee des Flusses als etwas Verbindendem zwischen der protestantischen Familie und der als Aus der Feder von fremd empfundenen ‘katholischen’ Kultur. Der Film wurde in der irland-journal-Menschen Kategorie ‘Kurzer Realfilm’ für einen Oscar nominiert und das Team inklusive ‘Lexie’ und ‘Laura’ jettete zur Preisverleihung nach Ka- Zum Autor: lifornien. Leider gewann damals ein anderer Film diesen Oscar.

Dr. Paul F. Botheroyd unterrichtet Den ausführlichen Inhalt irische Kulturwissenschaft im Optio- können Sie hier nachlesen: nalbereich der Ruhr-Universität Bo- chum. Seit zehn Jahren wird seine Bonus: Song ‘Why don’t we dance’ Arbeit vom CISTE-Programm des iri- (von Paul O’Brien extra zum Film geschriebener) Songtext. schen Department of Arts, Heritage and the Gaeltacht finanziell unter- Diesen Film haben wir auf dem Zweiten Ökumenischen Kirchen- stützt. tag in München (2010) auf einer unserer drei Abendveranstaltun- gen gezeigt. Einer unserer musikalischen Gäste war Paul O’Brien, der uns danach seinen Song zum Film geschickt hat: http://www.irland-journal.de/mediapool/84/849092/data/01_ why_dont_we_dance.mp3

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… UND DEM KIRCHENTAG 2010 (!) < > UND VOM KIRCHENTAG ZU UNSERER Why Don’t We Dance? (NOCH IMMER) „SAUGUTEN“ BROSCHÜRE. <

Chorus: Das war unsere Beteiligung am Zweiten Why don´t we dance ökumenischen Kirchentag in München, How has this come to be 12.-15. Mai 2010: Oh Lexie can´t you hear the music playing now Why don´t we dance • House of Ireland: I´ll take your hand in mine Täglich Donnerstag bis Samstag von 10-18 Uhr: Let´s leave the past behind Workshops & Gespräche, Filme, Bücherecke, Sometime soon somehow Reiseinfos, Essen und Trinken… Plus drei Abendveranstaltungen: The walls that stand between 1) Donnerstag, 19 Uhr: Lange irische Musiknacht The dreams of peaceful means (Paul O’Brien, Kieran Halpin, Wasteland Green, Are not only made of stone u.v.a.) The music and the dance 2) Freitag, 19 Uhr: Der lange Weg zum Frieden – Are weapons of romance Podiumsdiskussion (Mod.: Michael Harles, BR) But don´t stop dancing on the shore 3) Samstag, 18 Uhr: Ökumenische Feier – An offered hand An Irish Night of Reconciliation A bridge too far I only wanted to understand This tale has centuries Of dangerous memories But watch them Dancing on the sand

Composed and sung by Paul O’Brien for/in the „House of Ireland“ on the occasion of the „Second Ecumenical Kirchentag, 12.-15.5.2010, Munich.

„Der in Kanada – British Columbia lebende Musiker Paul O’Brien schreibt Lieder, die man am besten im Irish Folk-Pop Bereich einord- nen kann. Er fasziniert durch musikalisch ausgereifte Arrangements. Seine in den Liedern spürbare Lebensfreude begeistert. In England aufgewachsen, und durch die Wurzeln der irischen Großeltern geprägt zieht sich die keltische Musik wie ein roter Faden durch seine abwechs- lungsreichen Songs. Diese Lieder prägen sich beim Zuhörer ein, wol- len wieder und wieder gehört werden.“ (Stockfisch“) > > >

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> FORTSETZUNG: VOM KIRCHENTAG ZU UNSERER NOCH IMMER „SAUGUTEN“ BROSCHÜRE. < Für diesen Kirchentag angefertigt: „Irland. Nordirland. Eine Einladung – zum Entdecken, zum Austausch und Dialog“ Unsere ‘House of Ireland’-Broschüre zum ökumenischen Kirchen- tag in München 2010; ArtNr.: 1918033 im www.irish-shop.de; 1 Cent, inklusive Versandkosten.

Foto © Ulrich Ahrensmeier

ERINNERUNGEN AN DEN

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Die Resonanz gab uns Recht: Gut 28.000 „Einladungen nach (Nord) Irland“ halten Menschen aus München und dem ganzen Bundesgebiet jetzt neu in ihren Händen: unsere 48seitige, handliche Broschüre, die Einladung zu einer Entdeckungsreise und mit diesem Inhalt: • ; • Identitäten im Spannungsfeld – Der Nordirlandkonflikt; • Die wichtigsten Kirchen in Irland; • Reisen mit dem Europäischen Bildungs- und Begegnungszentrum (EBZ) Irland; • Partner Gaeltacht Irland Reisen; • Irish Shop; • Literaturtipps zum Thema Nordirland; • Partner DFDS Seaways; • Partner Nerve Centre: Dance Lexie Dance (eine nochmals viel ausführlichere Würdigung dieses außergewöhnlichen Kurzfilms); • Filmtipps zum Thema Nordirland; • Fotoreportage (Auszug): Zwei Ex-Terroristen und der kalte Frieden; • Partner Tourism Ireland; • Partner Malteser und Johanniter; • Partner Féile Belfast; • Partner irland journal; • Partner Corrymeela & EIRENE; • Wellness für die Seele – Klöster in Irland; • Partner St. Paricks Centre; • Weiterführende Adressen; • Unsere musikalischen Partner… • Mit Hinweisen auf mehr – und einem Bestellformular für weitere Materialien…

Wir haben bewußt noch viel mehr gedruckt – und jeder kann diese Broschüre haben. Als Printstück oder auch Download: www.irlandaufdemkirchentag.de. Sie eignet sich auch zum Ausgeben bei entsprechenden Veran- staltungen. Deshalb kann man diese hier auch in größeren Stückzahlen ordern. Und weil unser System das ohne Preis nicht Foto © Ulrich Ahrensmeier kann: egal wie viele, es kostet immer einen Cent und OHNE Ver- sandgebühren! Wer auch mit einem kostenlosen Download zufrieden ist: KIRCHENTAG 2010 IN MÜNCHEN… Einfach die Artikel-Nr. 097 ins Suchfeld unseres www.irish- shop.de eingeben.

XXIX, 4.18 irland journal 45 „In the heart of a foulfamed potheenJames district.“ Joyce in Galway und Connemara

60 irland journal XXIX, 4.18 Joyce Country heißt der nordöstliche Teil Connema- am irischen Westen zu entwickeln. In Triest begann er, Nora ihre Lieder und Geschich- ras an der Grenze zu Mayo, durch den sich der Joyce ten abzulauschen; in Triest auch verdiente River und die Straße von Maam Cross nach Leenane er sich manch mageres Honorar damit, dass er für den Piccolo della Sera Artikel schlängeln. Im Südwesten wird diese Gegend von den über die „irische Frage“ schrieb, die Maumturk Mountains, im Norden von den Partry allerdings keineswegs so fachmännisch Mountains und im Osten von der schmalen Landzun- waren, wie sie klingen sollten. ge zwischen Lough Corrib und Lough Mask begrenzt. Zweimal immerhin machte Joyce den ernst- haften Versuch, seine fehlenden Erfahrun- In Reiseführern und Bildbänden werden Als James Joyce 1904 Irland den Rücken gen mit dem irischen Westen nachzuho- diesem ausgesprochen lieblichen Bezirk kehrte, nahm er dennoch etwas aus dem len: 1909 und 1912. 1909 war er in Dub- meist nur wenige Sätze gewidmet; nicht irischen Westen mit: seine Lebensgefähr- lin, um mit dem Geld Triestiner Geschäfts- selten gehört dazu auch der absurde Hin- tin Nora Barnacle. Sie stammte aus Gal- leute das erste irische Kino zu eröffnen, weis, das Joyce Country sei „durch den way und wurde für Joyce so etwas wie der wobei er kurze Abstecher nach Cork und Schriftsteller James Joyce berühmt gewor- Schlüssel zum ‘eigentlichen’ Irland. Tat- Belfast machte, um auch dort die Möglich- den“. Nichts freilich könnte der Wahrheit sächlich musste Joyce offenbar erst ins keiten eines Lichtspielhauses zu erkunden. ferner stehen. Ausland gehen, um überhaupt Interesse Rein privater Natur war hingegen ein Wo- chenendtrip nach Galway, den er Ende James Joyce überhaupt einen irischen August mit seinem kleinen Sohn Giorgio Schriftsteller zu nennen, ist eigentlich nicht unternahm. An die in Triest zurückgeblie- richtig; im Grunde war er nichts anderes bene Nora schreibt er aus Dublin: „Es be- als ein rein Dubliner Schriftsteller. Keines unruhigt mich so sehr, Nora, Liebe, dass seiner Bücher spielt außerhalb Dublins, und ich nicht weiß, wie ich das Reisegeld (...) Joyce selbst hat vom weiteren Irland nicht zusammenbekommen soll (...) für die Fahrt viel gesehen. Zwar brachte er drei Jahre nach Galway, um Deine Familie zu besu- auf der Internatsschule Clongowes Wood chen. Ich habe heute an Deine Mutter ge- in Sallins (Co. Kildare) zu, war damit aber schrieben, aber eigentlich möchte ich gar auch nur 35 Kilometer von Dublin entfernt, nicht fahren. Sie werden von Dir sprechen und vom Irland „beyond the pale“ sah er und von Dingen, die ich nicht kenne. (...) in seiner Jugend nur zweimal etwas: als Ich bin in absurdem Grade eifersüchtig auf Zwölfjähriger war er mit seinem überschul- die Vergangenheit.“ deten Vater, der Grundbesitz verkaufte, eine knappe Woche in Cork, und als Acht- Nicht die Eifersucht auf Noras verflossene zehnjähriger verbrachte er die Sommerfe- Liebhaber, aber wenigstens die Finanz- rien mit Vater und Bruder in Mullingar. schwierigkeiten überwindet der geniale Schnorrer Joyce, und zwar mit einem Trick: er läßt sich Visitenkarten des Piccolo della Sera drucken, gibt sich bei den Midland << Ende des 19. Jh.: Fahrgäste kurz vor der Abreise mit dem Railways als italienischer Reporter aus, der Bianconi-Galway-Clifden-Postwagen. „eine Artikelserie über Irland“ schreibe,

XXIX, 4.18 irland journal 61 und kommt so an ein Freibillet erster Klas- Dublin, schreibt er ihr: „Vor einer Stunde sen ist Nora hier, und ihre Mutter Annie se – unter dem Versprechen, auch über habe ich Dein Lied The Lass of Aughrim hat das Haus bis zu ihrem Tode bewohnt. Galway zu schreiben (was er natürlich nicht gesungen. Die Tränen kommen mir und Wer gerne ein paar Anekdoten (nicht tut). In Galway schickt Joyce den vierjähri- meine Stimme zittert vor Erregung, wenn immer verläßlicher Natur) über Noras frü- gen Giorgio allein ins Haus der Barnacles ich diese schöne Weise singe. Es hat die he Jahre hören möchte, ist hier gewiß an vor und wartet auf der anderen Straßen- Reise nach Irland gelohnt, nur um das von der richtigen Adresse. seite ab, wie das Wetter ist. Als klar ist, Deiner armen freundlichen Mutter zu hö- dass der Empfang freundlich ausfällt, da- ren - die ich sehr gern habe Nora, Liebe. Die Joycesche Rührung über das Lied The ckelt der Angsthase hinterdrein. (...) Gute Nacht, mein liebstes Mädchen, Lass of Aughrim hat damit zu tun, dass er meine kleine Galway-Braut, meine zarte es in unvollständigem Wortlaut schon von Der Besuch in Galway wird ein voller Er- Geliebte aus Irland.“ Nora kannte und in die schönste seiner folg. Joyce mimt den Tausendsassa, läßt Kurzgeschichten, „Die Toten“, eingebaut sich Shames Showe und „Der Mann mit Das Haus, in dem Joyce sich das genannte hatte. In der Story, die auf Noras Erzählun- den Röntgenaugen“ nennen und spaziert Lied hat vorsingen lassen, steht heute noch gen beruht, geht es um die Eifersucht Gab- mit Noras Schwester Kathleen am Strand in fast unverändertem Zustand und wird riel Conroys auf Michael Furey, einen Jun- der Galway Bay entlang. Für die Nacht wird von zwei enthusiastischen Damen unter gen, der vor langen Jahren in Gabriels Frau er bei Noras Onkel Michael Healy in der dem Namen Nora Barnacle House als Mu- verliebt war und anscheinend ihretwegen Dominick Street einquartiert, von wo er seum betrieben. Zwar ist dies nicht, wie gestorben ist - eine herzzerreißende Ge- nach Triest schreibt: „Wie seltsam das Le- die Gedenktafel an der Außenwand schichte aus dem irischen Westen. Gabriel ben ist, meine Liebste? Wenn ich mir vor- fälschlich behauptet, das Geburtshaus von weigert sich, die Reise in den Westen an- stelle, dass ich hier bin! Ich bin zu dem Haus Nora Barnacle, doch zeitweilig aufgewach- zutreten, und blickt lieber nach Europa; für in Augustine Street gegangen, in dem Du Joyce hingegen scheint nach dem Kurzbe- mit Deiner Großmutter gewohnt hast, und such in Galway klar, dass seine frühere Ver- morgen früh werde ich es mir unter dem achtung des ländlichen Irland zu einseitig Vorwand, ich wollte es kaufen, ansehen, ist und er etwas nachzuholen hat. Offen- um das Zimmer zu sehen, in dem Du ge- bar denkt er daran, mit Nora so etwas wie schlafen hast. (...) Wer weiß, Liebling, nachträgliche Flitterwochen im County vielleicht kommen Du und ich nächstes Jahr Galway zu verbringen. zusammen hierher. Du wirst mich führen von Ort zu Ort, und das Bild Deiner Mäd- chenzeit wird mein Leben wieder läutern.“

Galway, damals eine Kleinstadt von knapp 15000 Einwohnern, eröffnet für Joyce tat- sächlich eine zuvor unbekannte Welt, und er geht voll darin auf, vergißt vorüberge- hend sogar seine ständigen Gesundheits- beschwerden. Der Reiz, in diese Welt ein- zutauchen, hat für Joyce nicht zuletzt da- mit zu tun, dass er nun einen Schlüssel nicht nur zum Westen Irlands, sondern zu Noras Herkunft gefunden hat. Wieder in Nora Barnacle… …und das nach ihr benannte ‘House Museum’.

62 irland journal XXIX, 4.18 Der atemberaubend schöne Lough na Fooey in Joyce Country – im Nordwesten Co Galways ©Tourism Island

Daraus wird aber so schnell nichts. Erst im weckt seinen Sohn vor lauter Einsamkeit. Wieder gestaltet sich der Aufenthalt höchst Sommer 1912 kommt es wieder zu einer Rasch ist das Fahrgeld zusammenge- angenehm. Fünf Tage lang besucht man (diesmal längeren) Reise nach Galway - nun schnorrt, und ab Mitte Juli ist die ganze die Galway Races und macht gesellschaft- allerdings sind es Nora und Tochter Lucia, Familie für vier Wochen im irischen Wes- lich etwas her. Der Sommer fällt recht irisch die die Reise antreten. Joyce bleibt in Triest ten vereint. Nora schreibt (wohl nicht ganz aus, wie Nora festhält: „wir würden es zurück, spielt einen Tag lang den unabhän- ohne Stolz) an ihre Schwägerin: „alle Leu- mehr genießen wenn wir nicht so schlech- gigen Junggesellen - doch dann bricht er te hier haben über ihn geredet, weil er mir tes Wetter hätten jeden zweiten Tag Re- zusammen, kann nachts nicht schlafen und nachgelaufen ist.“ gen wenn es nicht regnet gehen wir ge-

XXIX, 4.18 irland journal 63 wöhnlich morgens an die Küste. die Luft sind“, instrumentalisiert ist herrlich hier und das Essen (...) Jim geht Joyce gleich zum Einstieg es auch sehr viel besser und mir auch“. An seine eigene, gerade erst trockenen Tagen rafft sich der nicht eben überwundene Unwissen- sportliche Joyce sogar auf, vom Bootsan- heit, um sogleich in einer leger oberhalb des Salmon Weir aus Ru- Weise über die großarti- dertouren auf dem River Corrib zu unter- ge Vergangenheit Gal- nehmen. Regnet es, so arbeitet er, und ways zu schwadronieren, heraus kommt als erstes ein Artikel namens die wohl genau auf das „Die Stadt der Stämme: Italienische Remi- Triestiner Publikum zuge- niszenzen in einem irischen Hafen“, der schnitten ist. Ausführlich sogleich nach Triest expediert und im Pic- gibt Joyce die bekannte colo della Sera abgedruckt wird - Geschichte von der sozusagen als Einlösung des alten Joyce- Selbstjustiz des Richters Lynch an seinem von Aran aus nach Amerika gesegelt sei, schen Versprechens an die irischen Eisen- Sohn zum besten, um dann mit ein paar und den „Eremiten von Aran“, die „Taube bahnen. kurzen Impressionen zu schließen: „Der der Kirche“, St. Columkill. Zwar stimmt es, Abend ist still und grau. Aus der Ferne, hin- dass beide Heilige einen Teil ihrer Ausbil- Man muss freilich sagen, dass der Artikel ter dem Wasserfall, ertönt ein Murmeln.“ dung hier erhielten, ihre Großtaten ver- von der Art ist, die Joyce auch ohne Lokal- brachten sie freilich anderswo. kenntnis hätte zustande bringen können. Mit Nora unternimmt Joyce einen Tages- „Der träge Dubliner, der wenig reist und ausflug auf die Aran-Inseln, was lange vor Joyce scheint den Ton von John Millington sein eigenes Land nur vom Hörensagen den Tagen der Motorflugzeuge von aer Synge nachzuahmen, wenn er von einem kennt, glaubt, dass die Einwohner von Gal- árann eine lange Bootsfahrt und einen ent- jungen Mann berichtet, der nicht weiß, wie way Nachkommen spanischer Familien sprechend kurzen Inselaufenthalt bedeu- alt er ist. Die Tiefe und das Verständnis der tete. Joyce kann das nicht hindern, Schilderungen Synges, der lange Monate auch über die Aran-Inseln sogleich auf den Inseln verbrachte, kann Joyce na- einen Artikeln zu schreiben: „Die türlich nicht erreichen. Am eindrücklichs- Fata Morgana des Fischers von ten gelingt ihm deswegen noch die Be- Aran: Englands Sichterheitsventil schreibung der Fahrt hinaus: „Das kleine für den Kriegsfall“. Der pompöse Schiff mit den wenigen Reisenden an Bord Untertitel bezieht sich auf ver- (...) verläßt den kleinen Hafen von Galway meintliche Pläne, die Bucht von und fährt aufs offene Meer hinaus, wobei Galway zu einem gigantischen es rechter Hand das Dorf Claddagh hinter transatlantischen Hafen auszubau- sich läßt, einen Haufen von Hütten außer- en. Joyce war offenbar entgan- halb der Stadtmauern. Bis vor wenigen gen, dass jene ortsansässigen Un- Jahren wählte das Dorf seinen eigenen ternehmer, die diese Pläne entwi- König, hatte seine eigene Tracht, gab sich ckelt hatten, schon 1864 in Kon- selbst seine Gesetze und lebte für sich. Die kurs gegangen waren. Die Joyce- Eheringe der Einwohner sind noch heute schen Mitteilungen über die Aran- mit der Helmzier des Königs geschmückt: Inseln sind kaum verläßlicher: er zwei verschlungene Hände, die ein gekrön- Markt auf dem Eyre Square, Galway um 1900 rühmt den heiligen Brendan, der tes Herz emporhalten.“ Was Joyce offen-

64 irland journal XXIX, 4.18 In der lange zuvor entstandenen Erzählung hat Joyce das Grab des toten Jungen allerdings aus nicht mehr aufzuklärenden Gründen auf den Friedhof von Oughter- ard verlegt, einem Dörfchen mit damals knapp 700 Einwohnern, über das Murray’s Handbook for Ireland von 1906 bemerkt: „Vom riesigen Armenhaus einmal abgese- hen, gibt es hier gar nichts von Belang.“ Für Joyce war das anders, und so nahm er es am 4. August 1912 (einem Sonntag) doch tatsächlich auf sich, per Fahrrad 55 Kilometer zu strampeln, um den Friedhof aufzusuchen. „Er sieht genau so aus, wie ich ihn mir vorgestellt habe,“ schreibt er seinem Bruder, so dass wir die Beschrei- bung des „einsamen Friedhofs oben auf dem Hügel“ mit den „krummen Kreuzen und Grabsteinen“ und den „Speeren des kleinen Tors“ direkt der Erzählung entneh- Eyre Square in Galway – Abfahrt der Tram nach Salthill men können. Das wirkliche Grab eines Michael Furey gibt es dort natürlich nicht - bar nicht wußte, da er es ansonsten ge- Winkeln aufnehmen. Einer davon ist der Joyce berichtete seinem Bruder aber ver- wiß erwähnt hätte: der (inzwischen zum Friedhof von Rahoon gut zwei Kilometer zückt, er habe einen Grabstein mit dem Touristenkitsch verkommene) Claddagh- westlich des Galwayer Stadtzentrums (zu Namen „J. Joyce“ gefunden. Ring wurde von einem Galwayer Gold- erreichen mit Bus Nr. 5). Wer durch den schmied namens William Joyce entworfen. alten Eingang eintritt, geradeaus weiter- In Connemara, wo Joyce einer der häufigs- Das kulturell und historisch einzigartige Fi- geht und das dritte Grab linker Hand ab- ten Familiennamen ist, ist dieser Zufall gar scherdorf Claddagh wurde 1932 vom jun- zählt, findet eine große, gruftartige Grab- zu groß nicht, und so läßt sich denn auch gen irischen Freistaat plattgemacht, um platte mit dem Namen Michael Bodkin, nicht unbedingt empfehlen, eigens nach Raum für eine neue Siedlung zu schaffen, gestorben im Jahr 1900 als 20jähriger. Die- Oughterard zu fahren: der Ort ist heute und auch sonst läßt sich die Atmosphäre, ser Michael Bodkin ist der frühverstorbe- touristisch ausgesprochen überentwickelt. die Joyce Anfang des Jahrhunderts in Gal- ne Verehrer Nora Barnacles, aus dem Joy- Das eigentliche, das verschlafene Conne- way vorfand, heute nicht mehr nachemp- ce in der Erzählung „Die Toten“ Michael mara mit seinen weiten Mooren und den finden. Joyce traf auf eine Stadt, die seit Furey machte. Während ihres Aufenthalts einsamen Bergen fängt erst hinter Ough- einem Jahrhundert im Niedergang begrif- 1912 besuchten Joyce und Nora das Grab; terard an. Überraschenderweise hat Joyce fen war, während Galway heute die Groß- Nora stiegen die Tränen in die Augen, und dieses Land ebenfalls aufgesucht, wenn stadt ist, die im boomenden Irland an Wirt- Joyce hielt die Szene später in dem Ge- auch nicht nur der Erholung halber. Gleich schaftskraft und Bevölkerungszahl die dicht „Sie weint über Rahoon“ fest: am Tag nach seiner Radtour bis Oughter- höchsten Steigerungsraten aufweist. Die ard fuhr Joyce nach Clifden im äußersten „Regen fällt auf Rahoon, in sanftem Fallen, Spuren des Joyceschen Aufenthalts lassen Westen Connemaras, „um Marconi zu in- sich deswegen nur noch in versteckten Wo mein dunkler Geliebter ruht. (…)“ terviewen oder Station zu besichtigen“,

XXIX, 4.18 irland journal 65 wie er seinem Bruder schreibt. „Aus bei- Ob Joyce die Marconi-Station womöglich len Connemara einen kleinen Bahnhof dem wurde nichts, und ich warte auf Ant- nicht gefunden hat, bleibt der Spekulati- gab: Ballynahinch. Der Bahnhof gehörte wort vom Marconi House, London.“ Zwei on überlassen. Zu einem Artikel darüber zum gleichnamigen Herrenhaus, das zu Wochen später, kurz vor seiner Abreise, er- im Piccolo della Sera kam es leider nicht. Joyces Zeiten noch im Besitz der Familie wähnt er noch einmal: „Ich könnte einen Dafür wurde die Episode aber auf krypti- Martin (einer der „vierzehn Stämme“ von weiteren Artikel über die Marconi-Station sche Weise im Joyceschen Spätwerk Fin- Galway) war. Als bekanntester Sproß der schreiben.“ negans Wake verewigt, wo wir einige An- Sippe residierte hier im 19. Jahrhundert der spielungen auf den „mightif beam mair- Lebemann Richard Martin, besser bekannt Der Gegenstand der Joyceschen Neugier- canny“ (might have been, Marconi) finden: als „Humanity Dick“. Er begründete den de war die 1907 im Moor bei Clifden in- „as softly as the loftly marconimasts from britischen Tierschutzbund und benutzt das stallierte Telegraphenstation des Funkpio- Clifden sough open tireless secrets (...) to auf einer Insel gelegene verfallene alte niers Guglielmo Marconi. Nova Scotia’s listing sister- Castle zeitweise als Kerker für Tierquäler. Durch die geographische wands. Tubetube!“ 1924 wurde der ganze Besitz an den Ma- Lage weit im Westen war haradscha Ranjit Sinjhi verkauft, einen ehe- das auch heute noch ziem- Der Joyce-Chronist Daniel maligen Cricket-Star, der in ganz Conne- lich verschlafene Clifden als von Recklinghausen gibt als mara als Wohltäter in Erinnerung ist. All- Standort ausgewählt wor- Joyce-sches Transportmittel jährlich kaufte er fünf neue Autos, die er den, von dem die ersten von Galway nach Clifden am Ende der Sommersaison an verdiente drahtlosen Transatlantik- ebenfalls das Fahrrad an, Einheimische verschenkte. Die heutigen meldungen nach Cap Bre- doch das ist ausgeschlos- Besitzer von Ballynahinch Castle sind nicht ton in Kanada gefunkt wur- sen: die einfache Distanz ganz so großzügig: das Anwesen ist den. Die Station umfaßte Galway - Clifden beträgt 80 inzwischen ein Nobelhotel, in dem man ein Halbdutzend Betriebs- Kilometer. Stattdessen wird sein Geld schneller zum Fenster hinauswer- und neun Wohnhäuser; Joyce auf eine Reisemög- fen kann, als Joyce das in seinen besten eine eigens eingerichtete lichkeit zurückgegriffen Pariser Zeiten getan hat. Schmalspurbahn brachte haben, die uns heute leider die nötigen Materialien von Clifden nicht mehr offensteht: seit 1895 war die Schade ist, dass Joyce überhaupt keinen herüber. Da für die Energieversorgung auf Bahnlinie Galway – Clifden an die Stelle Bericht von seinem Ausflug ins ländliche den üppig vorhandenen Brennstoff Torf zu- der berühmten Postkutschen von Carlo Connemara abgestattet hat wie John Mil- rückgegriffen wurde, fanden bis zu 300 Bianconi (eines weiteren Italieners, der in lington Synge sieben Jahre zuvor - wobei Männer als ständige oder saisonale Torf- Connemara sein Glück machte) getreten. ein Joycescher Bericht allerdings fraglos stecher Arbeit bei der Station, was für die Die Züge fuhren allerdings nur bis 1935, nicht so kundig ausgefallen wäre. Synge wirtschaftlich schwache Gegend ungemein als das große Bahnstreckensterben in Irland reiste im Sommer 1905 ein paar Wochen hilfreich war. Heute sind von der Station begann. lang mit dem Maler Jack Yeats durch leider nur noch Ruinen (zu finden 5 Kilo- Connemara und Mayo und schrieb darüber meter südlich von Clifden im Derrigimlagh- Die Streckenführung des Bahndamms ent- für eine englische Zeitung. Mag sein, dass Moor) vorhanden, da das vermeintliche sprach bis über Maam Cross und Ough- Joyce davon gehört hatte und mit seinen englische Teufelswerk 1922 von Mitglie- terard hinaus grob dem Straßenverlauf der Artikeln für den Piccolo della Sera den halb- dern der IRA in Brand gesteckt wurde - sehr heutigen N 59. Etwas westlich von Recess herzigen Versuch unternahm, dem nach- zum Leidwesen derer, die dadurch ihre Ar- allerdings schwenkte der Schienenstrang zueifern. Es ist allerdings zu bezweifeln, ob beit verloren und emigrieren mussten. in einem Bogen ein Stück südwärts, wo es Joyce Connemara je mit anderen Augen mitten in einer grünen Oase des sonst kah- als denen des Fremden hätte betrachten

66 irland journal XXIX, 4.18 Maam – Joyces Country, Co. Galway © Chris Hill, Tourism Island können. Sein Zugang zu Irland war und es von Oughterard aus und erst recht von nach Maamtrasna abbiegen können. Hier, blieb Nora Barnacle, „meine kleine Galway- Maam Cross, das er mit der Bahn durch- im Grenzgebiet der Counties Galway und Braut“, deren Vorgeschichte er in Galway fahren haben muss, nur einen Steinwurf Mayo, siedelte sich Ende des 13. Jahrhun- suchte. weit gewesen. derts ein walisischer Normanne an: Tho- mas de Joise, der Stammvater der Joyce- Und die eigene Familiengeschichte? Und Wenn wir uns in das üppig begrünte Tal Sippe und Namensgeber der Gegend. Hier, das Joyce Country? Immerhin beharrte der des Joyce River begeben, um über die in Maamtrasna, fand 1882, im Geburts- Vater von Joyce zeit seines Lebens darauf, Magie des Namens Joyce zu kontemplie- jahr von James Joyce, aber auch ein bruta- seine Familie stamme vom Galwayer Joy- ren, so haben wir immerhin die Chance, les Verbrechen statt, das bis heute Gegen- ce-Stamm ab, und schleppte das Wappen doch noch einen Bogen zurück zu James stand der Legendenbildung ist. der Joyce aus Connemara mit sich herum. Joyce zu schlagen. Etwa auf halber Stre- Sohnemann James scheint das nicht inter- cke zwischen Maam und Leenane zweigt In der Nacht des 17. August wurde eine essiert zu haben, denn als er die Gelegen- nach rechts eine Straße ab in Richtung abgelegen wohnende Familie namens Joy- heit hatte, das Joyce Country zu erkunden, Clonbur und Cong. Sie führt am Lough ce von Unbekannten überfallen. Fünf Men- traf er dazu keine Anstalten: dabei wäre Nafooey vorbei, an dessen Ende wir links schen starben; nur der 9jährige Patsy über-

XXIX, 4.18 irland journal 67 tisch begründet; Entlastungs- in die Heide zu legen, in den Himmel hin- material wurde zurückgehal- aufzublinzeln und von einem James Joyce ten. James Joyce muss die zu träumen, der sich, zu Ruhm und Geld volkstümlich aufgebauschte gekommen, in Connemara einen Ruhesitz Geschichte der Maamtrasna- sucht wie sein alter Saufkumpan Oliver St. Morde schon früh von Nora ge- John Gogarty, der Buck Mulligan des Ulys- hört haben, und 1907 (also vor ses, der sich in Renvyle House niederläßt. seinen Reisen nach Westirland) schrieb er für den Piccolo della Unvorstellbar? Wohl wahr. Die Joyceschen Sera den Artikel „Irland vor den Ferien in Galway enden unerquicklich: aus Schranken“, in dem er (auf aus- Triest hört er, dass die Behörden sein iri- Straße in Galway drücklichen Wunsch der Zei- sches Lehrzertifikat nicht anerkennen und lebte schwerverletzt. Schon am nächsten tung) den Fall als eklatantes Beispiel für dass seine Zimmerwirtin ihn aus der Bude Tag wurden drei Männer, die ebenfalls Joy- das Besatzerunrecht in Irland darstellte und schmeißt, und in Dublin scheitert er kläg- ce hießen, bei der Polizei vorstellig und be- schärfstens geißelte. Allerdings ist Joyce lich bei dem Versuch, seinen Erzählungs- zeugten, die Täter gesehen und erkannt dabei entweder selbst einer folkloristischen band Dubliner drucken zu lassen. Frustriert zu haben. Zehn Männer (darunter wieder Entstellung zum Opfer gefallen oder hat kehrt Joyce Irland den Rücken und kommt fünf namens Joyce) wurden festgenom- den Fall bewußt tendenziell übersteigert, nie zurück. men, von denen zwei sich sofort als Kron- denn das, was er vorträgt, hält einer kriti- zeugen gegen die übrigen anboten und schen Prüfung nicht stand: weder war Und auch das Wohlwollen, mit dem er dem freigelassen wurden. Fünf weitere ent- Myles Joyce ein siebzigjähriger Greis noch armen Myles Joyce begegnet ist, weicht schlossen sich vor Gericht auf Anraten ei- gab er vor Gericht lange Erklärungen ab, wieder der Neigung, Westirland als Aus- nes Priesters, sich schuldig zu bekennen, die vom Dolmetscher auf ein „Er sagt nein, geburt von Schwarzbrennerei, Gewalt und und wurden schließlich zu 20jähriger Haft Euer Ehren“ reduziert wurden, noch stim- Torfschmutz zu sehen. In Finnegans Wake begnadigt. Die verbleibenden drei Männer men die Details der Urteilsvollstreckung. gehen Elemente der Maamtrasna-Mordge- beteuerten weiter ihre Unschuld und wur- schichte ein in die Episode um den Prozeß den hingerichtet: Patrick Joyce, Patrick Dass es Joyce ein persönliches Anliegen gegen einen gewissen Festy King (den Na- Casey und vor allem Myles Joyce, der noch war, für seinen Namensvetter eine Lanze men Festus King, meint ein irischer Joyce- unter dem Galgen Widerstand leistete und zu brechen, liegt auf der Hand; der Artikel Experte, könnte Joyce an einer Ladenfront postum zum Märtyrer stilisiert wurde. mündet nicht nur in eine Verurteilung Eng- in Clifden gesehen haben, als er nach Mar- lands, sondern auch in eine Ehrenrettung coni suchte). Das „wasnottobe crime cun- Das ganze Verfahren verlief skandalös. Die des ländlichen Irland: „In Irland gibt es we- undrum“ liest sich nun so: „a child of Angeklagten sprachen nur Irisch, aber die niger Verbrechen als in jedem anderen Maam, Festy King, (...) gave an adress in Verhandlung wurde auf Englisch geführt. Land Europas.“ Dieser idyllische Eindruck old plomansch Mayo of the Saxons in the Als Dolmetscher fungierte ein Polizist aus immerhin kann auch demjenigen kommen, heart of a foulfamed potheen district“. Donegal, dessen Dialekt für die Angeklag- der heute durch Connemara und speziell Kurz zuvor ist von „blackfaced connema- ten nicht eben leicht verständlich war. Die durch das Joyce Country streift: hier geht ras“ die Rede, und da können wir nur noch Zeugenaussagen waren mehr als zweifel- es heute so geruhsam und friedlich zu wie einstimmen in den Ruf: „Oyeh! Oyeh!“ haft und entsprangen wohl nur dem nur je in der irischen Geschichte. Man kann Wunsch, unliebsame Nachbarn loszuwer- gar nicht anders, als bei schönem Wetter Friedhelm Rathjen den; die Geständnisse der sieben nicht hin- einen der Berge zu besteigen, die das Tal (aus: irland journal 4.98) gerichteten Angeklagten waren nur tak- des Joyce River umstehen, sich rücklings

68 irland journal XXIX, 4.18 Grün = Joyce Country

XXIX, 4.18 irland journal 69 Frieden sei mit euch Nordirland ist der Punkt, an dem die Bre- xit-Verhandlungen immer wieder scheitern. Denn die britische Provinz ist nicht irgendein Landstrich, über Jahrzehnte haben sich hier Katholiken und Protestanten brutal bekämpft. 3.500 Menschen kamen dabei um, 47.000 wur- den verletzt, bis sich die Konfliktparteien 1998 einigten. Seitdem herrscht ein fragiler Zustand zwischen Aufbruchsstimmung und kaltem Frieden. Ein Frontbericht von Cathrin Kahlweit

aus: Süddeutsche Zeitung, 19.10.2018

6 irland journal XXIX, 4.18 Die Ruinen von McGurks Bar, Dez. 1971

XXIX, 4.18 irland journal 7 Sie hat außergewöhnliche Eltern gehabt, eine Bombe auf dem Parkplatz vor der Schu- und die alle fürchten – für viele Nordiren ist keine Frage. Sie zogen die Tochter in einem le hochging, oder die britischen Soldaten sie vor allem eine Metapher. Für eine harte Dorf nördlich des Städtchens Newry auf, das bei einer Fahrzeugkontrolle die Weihnachts- Grenze in den Herzen. der Bürgerkrieg, wie das ganze Land, fast geschenke der Kinder auf der Straße zer- 30 Jahre lang im Kreislauf des Terrors ge- traten. Der eine schimpft, dass die Katholi- Deirdre Heenan ist Gesundheitsexpertin. fangen hielt. Bomben, Hinrichtungen, Stra- ken das Land übernehmen wollen. Der an- Sie forscht, weshalb die Suizidrate in Nord- ßensperren, Scharfschützen, Barrikaden, dere sagt, die Protestanten hätten sich von irland weit höher ist als sonstwo im König- phasenweise kam hier ein britischer Soldat London kaufen lassen. Das ist die DNA die- reich. Sie forscht über die Verwerfungen, auf eine Familie. Das Stadtzentrum von Ne- ses Landstrichs, seit vielen Hundert Jahren. die entstehen, wenn sich alle als Opfer füh- wry – heute eine Boomtown an der neuen Und sein kollektives Trauma. len, aber anderen den Opferstatus nicht zu- Autobahn Belfast-Dublin, mehr Wirtschafts- gestehen. Sie kennt sich aus mit dem seit park als Wohnort – war noch vor 25 Jahren 1998 währenden kalten Frieden, mit den befestigt wie ein britisches Army Camp im Die harte Grenze, die jetzt Gräben, die durch den Brexit wieder auf- heutigen Afghanistan. Die Hauptstadt Bel- brechen. Sie erzählt von den katholischen fast damals: im Belagerungszustand. Und alle fürchten, existiert schon Nationalisten, die eine Wiedervereinigung Deirdre Heenan? Hat vom Krieg kaum et- mit der Republik Irland anstreben. Sie fah- was gesehen. lange: in den Herzen. ren derzeit eine laute Kampagne für „New Ireland“, ein modernes, vereintes Irland, und Mehr als 3500 Tote, mehr als sie sehen ihre Chancen steigen. Sie erzählt In Belfast, 1969 47000 Verletzte, Opfer in fast je- von den protestantischen Unionisten, die die der Familie; Paramilitärs der katho- Queen verehren, britisch bleiben wollen und lischen IRA (Irisch-Republikanische einen Sonderstatus für Nordirland katego- Armee) und der protestantischen risch ablehnen. Loyalisten (UDA, UVF) im Unter- grund, britische Soldaten in Ar- Die Dynamik, sagt Heenan bei einem Tref- meestärke im Einsatz im eigenen fen auf dem Campus der Ulster University in Land – dieses Erbe ist bis heute Derry, habe sich mit dem Brexit-Referendum sichtbar entlang der Route, wel- verändert. „Die Menschen, vor allem die äl- che die SZ-Korrespondentin in den teren, bunkern sich mit ihren Identitäten entscheidenden Tagen des Brexit- wieder ein. Hier katholisch, nationalistisch, Gipfels in Brüssel genommen hat: republikanisch, überwiegend gegen den EU- von Belfast gen Süden nach New- Austritt – dort protestantisch, unionistisch, Dass muss man erst mal schaffen, in ei- ry, über die unsichtbare Grenze hinein in die loyalistisch, überwiegend dafür. Die Gräben ner Region, wo doch noch heute viele, die Republik Irland, dann quer, gen Westen, hin haben sich vertieft. Es ist zum Heulen.“ älter sind als 25, die „Troubles“, die Zeit der und her entlang des Grenzverlaufs über Lis- Wirren, in sich tragen wie eine kaum ver- naskea bis hoch nach Derry. Alle Gesprächs- Erst später wird man erstaunt feststel- schorfte Wunde. Und wo fast jeder, der ein partner – Unternehmer, Bürgerinitiativen, len, dass etwas Elementares in diesem Ge- Gespräch mit Sätzen beginnt wie „Ich bin Opferverbände, alte Kämpfer, Jugendarbei- spräch gefehlt hat. Den Bürgerkrieg, der mit nicht parteiisch“, oder „Wir leben zum ter – wollten die alten, schlimmen Zeiten den Forderungen nach Gleichberechtigung Glück in einer neuen Zeit“, nach einigen hinter sich lassen. Doch jetzt, in Brexit-Zei- für die katholische Minderheit Ende der Minuten mit zitternder Stimme berichtet, ten, herrschen Trauer, Wut und Zukunfts- Sechzigerjahre begann und in einen Mehr- wie der Vater angeschossen wurde, oder angst. Die harte Grenze, über die alle reden frontenkrieg ausartete, bezeichnet sie als Ur-

8 irland journal XXIX, 4.18 W Ausnahme. Viele protestanti- Das können in Nordirland nur wenige Ab sche Kinder, vor allem in grö- von sich sagen, die vor 1998 Teenager wa- w ßeren Städten wie Belfast oder ren. Damals wurde das Karfreitagsabkom- Be Derry, lernen katholische Kinder men geschlossen, es war ein langer Prozess In oft erst kennen, wenn sie das voller Hürden, bis zuletzt glaubte der US- le Elternhaus und ihr Wohnviertel Vermittler, George Mitchell, selbst nicht se hinter den „Peace Walls“, den daran, dass alle Verhandlungspartner zur (u Friedenswänden verlassen, die Unterzeichnung erscheinen würden. Doch D bis heute in einigen Bezirken es gelang. Die Gewalt hörte auf. Fo die Religionsgruppen trennen. Wer nationalistische oder uni- Heenan reicht das nicht, vielen Iren reicht onistische Freunde hat, betont das nicht. „Wir haben akzeptiert, dass Frie- das in der Regel, weil es eben den in Nordirland die Abwesenheit von Protestmarsch der Nationalisten zur Garvbaghy Road. nicht die Regel ist. Undenkbar Gewalt ist“, sagt sie. „Aber Frieden bedeu- das alles, in Heenans Familie in tet doch eigentlich, neue Beziehungen auf- sache dafür, dass Nordirland so fragil, so Annaclone. Wenn sie in der Schule gemobbt zubauen, sich mit der Vergangenheit aus- besonders ist. Aber sie erzählt keine Ich- wurde, stellte sie sich vor die Klasse, schon einanderzusetzen, sie aufzuarbeiten.“ In Geschichte. Wie kann das sein? damals schlank, groß, vibrierend vor Ener- Nordirland habe das Vermächtnis der Ver- gie, und sagte: „Lasst mich in Ruhe. Ich habe gangenheit alles vergiftet. „Die wenigsten Heenan war lange Dekanin an ihrer Uni- mit alledem nichts zu tun.“ vermögen es, die Perspektive zu wechseln, versität, sie unterrichtet in Derry Protestan- sich in andere hineinzuversetzen.“ ten und Katholiken; zumindest an der Uni, sagt sie, sei das heute glücklicherweise kein Deirdre Heenans Mutter Wie es jetzt weitergeht mit der stocken- Thema mehr. Und sie sitzt – als einzige Nord- den Versöhnungsarbeit? Auch darüber wird irin – in einem Gremium, das den Präsiden- züchtete Truthähne. Sie hat- in London, Brüssel und Dublin wie in den rest- ten der Republik Irland berät. Sie ist 50 Jah- lichen europäischen Hauptstädten entschie- re alt, eine der prominentesten Stimmen des te keine Zeit für Politik. den. An Nordirland hängt der EU-Austritt des Nordens – und hat keine eigenen dramati- Königreichs: Wird für den Nordteil der iri- schen Erinnerungen an 30 Jahre Bürger- Die Mutter, erzählt Heenan, habe immer schen Insel eine politische Lösung gefunden, krieg. „Ich wuchs auf dem Land auf, mein gesagt: „Die religiöse Erziehung bekommst Vater war Farmer und Katholik, unser Nach- du von mir: Toleranz und Liebe. Aber die bar war Farmer und Protestant. Sie haben beste Erziehung hier in der Gegend bietet Saatgut und Geräte ausgetauscht. Bei uns nun mal das protestantische Gymnasium.“ gab es keine Bomben.“ Religion war keine Ihre Mutter hatte eine Truthahnzucht, sie große Sache, das Mädchen Deirdre wusste hatte keine Lust und keine Zeit, Politik in lange nicht einmal, dass es katholisch ist. Es ihr Leben zu lassen. Schickte die Tochter mit ging auf eine protestantische Schule. In 17 erst nach New York auf Verwandtenbe- Nordirland. Als Katholikin. Bis heute ist das such, bevor sie das erste Mal ins belagerte eine Seltenheit. Belfast reisen durfte, 70 Kilometer entfernt. In Nordirland wachsen die meisten Kin- Deirdre Heenan hatte eine weitgehend sorg- Theresa May mit Arlene Foster. Foster führt die der bis zu ihrem 18. Lebensjahr in getrenn- lose Kindheit. probritische DUP an und sichert May ihre knap- ten Welten auf. Integrierte Schulen sind die pe Mehrheit. Die DUP will raus aus der EU.

XXIX, 4.18 irland journal 9 i- die alle Seiten befriedigt, dürfte es einen Von Belfast nach Belfast – es sind nur 241 Meilen… geordneten Brexit geben. Wird keine gefun- ). den, gibt es keinen Deal. Spätestens bis Ende des Jahres soll alles festgezurrt sein: das Aus- s. trittsabkommen, die politische Erklärung über die künftigen Beziehungen – und ein Weg, mit dem eine harte Grenze auf der iri- schen Insel vermieden werden kann. Geht es nach Brüssel, wird der Status quo auf der Insel mit einem „backstop“, einer Art Rück- versicherung, gestützt. Danach bliebe Groß- britannien in einer Zollunion, bis ein Frei- handelsabkommen steht. Nordirland aber soll, und genau das will London keinesfalls mittragen, darüber hinaus im Binnenmarkt bleiben, damit an der neuen EU-Außengren- ze zur Republik nicht plötzlich Zölle und Ta- rife, Mehrwertsteuersätze, die Einhaltung Reise entlang der Konfliktlinie: Belfast – Newry – Dundalk – von EU-Standards überprüft werden müs- Crossmaglen –Lisnaskea – sen. Denn so, wie es jetzt ist, ist es gut, nicht (London-)Derry nur ökonomisch. Vielleicht versöhnen sich die Nordiren nicht leicht untereinander. Aber dass die Army sich nur mit Helikoptern be- Die EU, rechnet McGenity vor, habe schon es gibt eine neue, offene, freie Inselidenti- wegte; in Jeeps wäre es zu gefährlich gewe- in den Frieden investiert, als London noch tät, grenzübergreifend. Man kann sie euro- sen. „Ich muss bis heute nicht in den Him- im Kriegsmodus war; die Gemeinschaft hat päisch nennen. Sie ist jetzt in Gefahr. mel schauen, um zu erkennen, was für ein erste Friedensprojekte unterstützt, hat grenz- Hubschrauber über mir kreist“, sagt McGe- überschreitende Initiativen aufgebaut, hat Damian McGenity, einer der Mitbegrün- nity, der 24 war, als mit dem Karfreitagsab- Sozialwohnungen, Parks und Firmen geför- der der Bürgerinitiative „Grenzorte gegen kommen der Frieden kam. Heute kämpft er dert, die auf alten Militäranlagen errichtet den Brexit“ ist mittlerweile Experte in diesen gegen den Brexit, seine Freunde und er ha- wurden. Er führt sie alle vor, fährt stunden- Fragen. Er arbeitet in einem Postamt ein paar ben Europa bereist, politische Laien allesamt, lang mit erkennbarem Stolz an der Grenze Kilometer südlich von Newry und trinkt sei- haben Grenzstandards und Handelsabkom- entlang, die derzeit keine ist. Er kennt jede nen Kaffee gern in einem Hotel auf der an- men verglichen. Alles, was man hier im Subvention, jeden Grundstein. Und es stimmt deren Seite der nahen, aber unsichtbaren Grenzland sehe, sagt er, sei mit EU-Geld ge- ja auch: Aus dem aktuellen Haushalt hat die Grenze; er erkennt den Unterschied nur da- baut. „London investiert hier nicht.“ Seine EU unter anderem zweieinhalb Milliarden ran, dass er in Dundalk, Republik Irland, sei- Initiative ist für einen EU-Bürgerpreis vorge- Euro für Agrarsubventionen, 200 Millionen nen Kaffee in Euro zahlt. Von hier aus kann schlagen, mit seinen Mitstreitern war er bei für Armutsbekämpfung, 300 Millionen für man den Berg sehen, auf dem damals, wäh- der EU-Kommission eingeladen. Es gibt wohl Wirtschaftsförderung, 240 Millionen für In- rend der Troubles, zahllose Wachtürme stan- keine glühenderen Europäer derzeit als die terregio-Projekte und 230 Millionen für Frie- den; Soldaten überwachten den Verkehr, Leute von „Grenzorte gegen den Brexit“; densprojekte ausgegeben. „Die Regierung in hörten Telefone ab, stoppten Autos, durch- Nordirland, sagen sie, habe mehr als alle an- London“, sagt der Postangestellte mit der suchten alles und jeden. Die Anschläge der deren Landesteile des Königreichs von der großen Agenda, „die beantwortet nicht mal katholischen IRA waren so furchterregend, EU profitiert. Finanziell und politisch. unsere E-Mails.“

10 irland journal XXIX, 4.18 Féin. Und sie tritt für Leave ein, für den Austritt am 29. März 2019, paralysiert. Die Das Parlament in Belfast Austritt aus der EU. Mit dieser harten Hal- litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitë, tung hat die DUP auch moderate Protestan- ehemalige EU-Finanzkommissarin, sagt auf steht seit zwei Jahren leer – ten, die den Brexit für einen großen Fehler dem Gipfel in Brüssel den Satz, den dort halten, entfremdet. Hinzu kommt: Die pro- alle denken: „Wir wissen nicht, was die wegen eines Streits unter den britische DUP stützt die Minderheitsregie- Briten wollen, denn die Briten wissen selbst rung in London, ohne sie könnte Theresa nicht, was sie wollen.“ May wäre wohl Parteien. May nicht regieren. Viele Nordiren werfen bereit, den EU-Vorschlag anzunehmen. der DUP vor, dass sie die fragile Machtba- Aber sie hat zwei erbitterte Gegner: die Auf Belfast setzt er nicht, von dort ist lance in Nordirland durch diese Unterstüt- harten Brexiteers in der eigenen Partei und keine Hilfe zu erwarten. Es gibt dort derzeit zung zusätzlich geschwächt habe. eben die DUP. keine ernstzunehmende offizielle Stimme. Ein Ausgleich der politischen Kräfte in Nordir- Bliebe Nordirland vorerst im Binnen- Die Brexit-Gegner auf der irischen Insel land, wie ihn der historische Friedensvertrag markt, wie es Brüssel fordert, wären Han- klagen daher, die Hardliner in London und von 1998 explizit vorgesehen hatte, findet del und Wandel mit der Republik im Süden die protestantischen Hardliner in Belfast hät- nicht statt. Das macht den kalten Frieden auf problemlos möglich, Zollkontrollen auf ein ten Großbritannien in Geiselhaft genom- der Insel noch kälter. Seit bald zwei Jahren absolutes Minimum reduziert. Damit aber men. Andererseits nimmt Sinn Féin, die hat das Kabinett nicht mehr getagt. Wegen wäre der Landstrich eine Art Sonderwirt- stärkste katholische Kraft in Nordirland, ihre eines Streits zwischen den beiden Regie- schaftszone. Die DUP sagt: Nein. Wir wol- Sitze im Unterhaus in London nicht einmal rungspartnern, der protestantischen, probri- len nicht anders behandelt werden als der ein. Aus Prinzip, weil sie nicht in einem bri- tischen DUP (Democratic Unionist Party) und Rest des Königreichs. Eher bringen wir die tischen Parlament mitarbeiten wollen, des- der katholischen, nationalistischen Sinn Féin, Regierung in London zu Fall. sen Jurisdiktion über Irland sie nicht aner- war die Regierung zerbrochen; seither ist die kennen. Ihre Vertreter reisen zwar nach Lon- Stimmung auf dem Gefrierpunkt. Nicht nur don, um zu protestieren, aber sie sind frei- wegen des Brexit, aber auch. In Nordirland haben die willige Zaungäste.

Befürworter eines harten „Nullsummenspiel“ nennt Deirdre Heenan den politischen Irrsinn: Jede Seite Brexit Theresa May fest im blockiere, was der anderen nutze. Die DUP spricht vom Karfreitagsabkommen, das den Griff . Terror beendet hat, demonstrativ nur als „Belfaster Abkommen“. Sinn Féin sagt nicht In den Tagen vor dem EU-Gipfel in Brüs- „Northern Ireland“, sondern nur „The north sel, der schließlich ergebnislos endete, fin- of Ireland“ und meint damit die sechs Be- den daher überall in Nordirland Demonst- zirke der historischen Provinz Ulster. Der rationen statt. Vor dem Stormont in Bel- Terminus Northern Ireland, glauben viele fast, dem riesigen, leer stehenden Parla- Republikaner, würde die Teilung von 1922 Nordirland hat mehrheitlich gegen den mentsgebäude, haben sich Hunderte Bre- betonieren. „Identitätspolitik“ nennen sie Brexit gestimmt – mit knapp 56 Prozent. Die xit-Gegner aufgebaut. Auf ihren Postern das in Nordirland. Der Krieg in den Köpfen DUP, die etwa die Hälfte der Wähler auf der steht: „Respektiert unsere Stimme. Kein geht weiter. Insel vertritt, hält im Stormont, dem Parla- Brexit.“ Aber wer soll sie hören? Die briti- ment in Belfast, nur einen Sitz mehr als Sinn sche Politik ist, wenige Monate vor dem > > >

XXIX, 4.18 irland journal 11 Sie ist in der Nähe Die schockierte Familie jagte Leuchtra- von Lisnaskea aufge- keten aus dem Dachfenster, um Hilfe zu wachsen, in einem holen; die Attentäter flüchteten. Später saß überwiegend von pro- Arlene, damals 17, im Schulbus, als eine testantischen Unionis- Bombe hochging. Sie blieb cool, trug ver- ten bewohnten Ge- letzte Mitschüler aus dem Bus, half dem blu- biet. Der IRA-Terror tenden Busfahrer. Der ist heute 82, lebt in war Alltag, auch in ih- einem Weiler außerhalb von Lisnaskea, und rem Leben. Der Vater hat noch heute Tränen in den Augen, wenn wurde, als er den Hof er von diesem Anschlag erzählt. Ernie Wil- vom Wohnhaus zum son sieht alles vor sich, als wäre es gerade Schuppen überquerte, geschehen: Er hatte seinen Sohn geschickt, angeschossen, er um den Bus vor der Abfahrt nach einer Bom- schleppte sich blutend be zu durchsuchen, die Polizei war ander- in ein Versteck. Das weitig beschäftigt, und diese Kontrollen graue, einfache Eltern- waren damals Routine. Die Sohn muss et- haus, in dem heute was übersehen haben, denn es gab einen In der Bogside (London-/Derry) leben vor allem Katholiken. Vor dem Abkommen war es selbst für das britische Militär Verwandte wohnen, Lichtschlag, einen Knall, und Wilson spürte eine No-go-Area. steht abseits der Stra- seine Beine nicht mehr. Er musste den Be- ße, die Angreifer hat- ruf wechseln, wurde Hausmeister. Erlebnisse in Arlene Fosters Jugend er- ten sich hinter einem Zaun verbarrikadiert, klären diese innere Erstarrung vielleicht, ihre der längst abgerissen ist. Arlene Foster ist seine Heldin. Sie habe Geschichte steht stellvertretend für viele. Sie als Schülerin in dieser Katastrophe Haltung ist die Chefin der DUP. Überhaupt sind es ERIC BROWN, Protestant, Ex-Poli- bewahrt wie eine Soldatin. Sie sei die einzi- derzeit vor allem Frauen, die im Königreich zist, hält echten Frieden für kaum ge ehrliche Politikerin, die das Interesse über das Schicksal und die Zukunft Nordir- möglich. Nordirlands vertrete. Sie dürfe beim Brexit lands mitreden: Premierministerin Theresa DEIRDRE HEENAN ist Professorin, nicht klein beigeben, sagt Wilson. Sein Sohn May, gefangen zwischen allen Fronten. Die die Konfession spiele an ihrer Uni James hat sich ein halbes Jahr nach dem Staatssekretärin für Nordirland, Karen Brad- keine Rolle. Attentat umgebracht. „Er hat das Gefühl ley, die die Gefahr neuer Gewalt in Nordir- DAMIAN MCGENITY glaubt, dass nicht ertragen, dass er schuldig war an die- land im Gespräch mit der SZ als „Narrativ Nordirland nur in der EU eine sem Attentat. Weil er nicht gründlich genug von interessierter Seite“ abtut. Die Vorsit- Chance hat. gesucht hat.“ zende der gesamtirischen Sinn-Féin-Partei, ERNIE WILSON war Busfahrer und Mary Lou McDonald, die ein Referendum wurde Opfer Heute ist Foster, wie Wilson und etwa über die Wiedervereinigung mit der Repu- einer Bombe. 1200 andere Menschen auch, Mitglied in blik fordert, sollte es No Deal, einen Aus- Er ist für den der „South East Fermanagh Foundation“ tritt ohne Abkommen und damit eine neue, Brexit. (SEFF), einer Stiftung für Opfer der Troubles, alte Grenze geben. Und die Protestantin die nach dem Landkreis benannt ist. Sie will Arlene Foster eben, die lieber gar keinen überparteilich sein und alle vertreten, die Austrittsvertrag hätte, als dass Nordirland Angehörige verloren haben, selbst verletzt mit einer Sonderregelung auch nur ein Jota wurden oder einfach nur wollen, dass die vom Königreich abrückte. Täter zur Rechenschaft gezogen werden.

12 irland journal XXIX, 4.18 Für Kenny Donaldson, der die Stiftung in die Leiche einer Frau, nach mehrtägiger Gei- sich reinwaschen.“ Im Herzen seien das den überheizten Zimmern einer alten Fab- selhaft, von der IRA quer über der Grenze immer noch die alten IRA-Kämpfer. „Müs- rikhalle organisiert, kann es nicht angehen, abgelegt wurde, eine Hälfte in der Repub- sen Terroropfer heute wirklich Männer, die dass mit dem Karfreitagsabkommen ein lik, eine Hälfte im Norden. damals Terroristen waren, als Regierungs- Schlussstrich gezogen werden sollte. Zwei mitglieder ertragen?“ Der innere Frieden der Jahre Höchststrafe sieht das Abkommen Region mit seinem komplizierten, festge- seither für Straftaten vor, die im Bürgerkrieg Eric Brown weiß genau, wel- schnürten Interessenausgleich – er steht auf begangen wurden, egal ob sie damals ver- sehr tönernen Füßen. folgt wurden oder, was ohnehin fast nie che Bombe wo hochging und vorkommt, heute noch angeklagt werden. Und doch ist Irland zusammengewach- Donaldson findet es unerträglich, dass Ter- wer dort getötet wurde. sen seit 1998, trotz allen Haders, weil jeder roristen davonkommen sollen. sich dorthin ausrichten konnte, wo er oder Brown ist, wie sein Vereinskollege Do- sie sich daheim fühlte. „Nach dem Karfrei- 60 Prozent der Morde in Fermanagh sei- naldson und DUP-Chefin Foster, Protestant. tagsabkommen“, sagt Heenan, „galt die en damals von katholischen Nationalisten Die Loyalitäten sind tief in der Seele veran- Verfassungsfrage als beigelegt.“ Früher hät- begangen worden, 33 Prozent von probri- kert. „In England oder Wales wacht man ten die Unionisten in der Union bleiben tischen Loyalisten, zehn Prozent von Solda- nicht jeden Morgen auf und muss sich für wollen, und die Katholiken wollten die Spal- ten, rechnet er vor. Woher er das weiß? „Wir seine Religion und seine britische Identität tung des Landes von 1922 aufheben. „Aber können das nicht vor Gericht beweisen. entschuldigen“, sagt Brown. „In Nordirland langsam wurden Mittelklasse-Katholiken zu- Aber wir kennen hier jeden. Einige der Mör- müssen wir das.“ Sinn Féin, glaubt er, habe friedener damit, dass sie nordirisch waren. der von damals sitzen heute im Parlament.“ sich nur nach außen geändert, „die wollen Sie mochten den kostenlosen Gesundheits- Auch der IRA-Mann, der Arlene Fosters Va- ter angeschossen habe, sei in den Stormont in Belfast gewählt worden. LINKS: IRA-Bombenanschlag auf La Mon House Hotel. Ein Drama, keine Lösung. Auf die Fra- ge, wer in Nordirland Opfer, wer Täter sei, UNTEN LINKS: Belfaster IRA-Männer mit einer Drogenbombe 1987. und ob es überhaupt Gerechtigkeit geben könne, antwortet Deirdre Heenan: „Hätten UNTEN RECHTS: Trauergäste in Panik auf dem wir uns 1998 mit der Schuldfrage befasst, Milltown Friedhof nach einer Bombenattacke von Michael Stone mit 3 Toten und 4 Schwer- dann wäre dieses Abkommen wohl nie zu- verletzten. stande gekommen.“

In seinem überheizten Zimmer schickt Kenny Donaldson nach dem Vorsitzenden der SEFF, Eric Brown. Brown gehörte zu der offiziellen Polizeitruppe in Nordirland und war Teilzeitsoldat; heute organisiert er eine Tour zu den Anschlagsplätzen von einst, er weiß, welche Bombe an welcher Bushalte- stelle hochging und wer wo stand, er kann noch heute genau die Stelle zeigen, an der

XXIX, 4.18 irland journal 13 service, das Pfund.“ Es gab keine Grenze, Portadown March at Drumcree eine „Common Travel Area“ regelt seit Jahr- bridge July 2002; Portadown zehnten den Grenzverkehr. Alles wurde ein- District Orangemen parade facher, homogener. down to the barrier at Drumcree before trouble flared. Jetzt aber droht Nordirland zurückzublei- ben. Die Republik Irland, nicht Belfast, ist der „irische Tiger“. Die Republik hat Abtreibung, Homo-Ehen, leichte Scheidungen eingeführt. Die Kirche hat ihre moralische Autorität im Süden verloren und redet nicht mehr überall mit. Der Premier, Leo Varadkar, ist schwul und indischstämmig. Das Karfreitagsabkommen hat eine Wiedervereinigung explizit offenge- lassen und möglich gemacht, „wenn sich eine Mehrheit der Iren dafür entscheidet“. Noch sind die Fans von „New Ireland“ in der Minderheit. Noch gibt es mehr Protestanten in Nordirland als Katholiken. Aber das Ver- hältnis kippt gerade; die Katholiken sind im Durchschnitt jünger, haben größere Famili- en. „Wenn es einen harten Brexit gibt“, sagt Deirdre Heenan, „dann können die Umfra- gen pro Wiedervereinigung in einigen Jah- ren anders aussehen.“

Schon jetzt haben Gewalt und Entfrem- dung zugenommen, dabei ist der Brexit noch nicht einmal Realität. Trauriges Beispiel dafür: Derry. Londonderry, für die Protestanten. Wer politisch korrekt sein will, sagt: Slash-City, spricht also den Trennstrich mit, oder Derry/ Londonderry. Die Stadt liegt im äußersten Westen Nordirlands, und sie wirkt immer noch wie eine Befestigungsanlage. Nicht nur wegen der historischen Stadtmauer, sondern auch wegen der vielen Wälle, Zäune, Mau- ern, die die Wohnbezirke von Protestanten und Katholiken trennen. In eine besonders hohe „Friedensmauer“ an einem Brennpunkt wurde immerhin ein Tor hineingebaut. Es wird nachts nach wie vor zugeschlossen.

14 irland journal XXIX, 4.18 die an fast jedem Wochenende durch Mancherorts wird das Trau- die Stadt marschieren. Lange Zeit sei- en diese Selbstvergewisserungsritua- ma von Bars, Nachtleben le friedlich, wenngleich auch nicht und Wirtschaftswachstum freundlich gewesen, sagt er. Besonders auf dem Höhepunkt überlagert. der „Marching Season“ im Juli, wenn die Protestanten den historischen Sieg Die Stadt ist arm, die Arbeitslosigkeit von König William of Orange 1690 hoch, viele Einwohner stehen morgens um über den katholischen König James 6.30 Uhr am Busbahnhof, um zur Arbeit II. feiern, geht es regelmäßig hoch her. nach Belfast zu pendeln – bis zu zwei Stun- Aber in diesem Sommer sei alles eskaliert. Mitglieder der paramilitärischen protestan- den in eine Richtung für weniger als hun- Fast eine Woche lang: jede Nacht neue Ge- tischen UDA treten zur Inspektion vor dem Marsch in Bloomfield am 30.9.1972 an. dert Kilometer; bis heute gibt es zwischen waltausbrüche. Haushohe Feuer wurden den beiden größten Städten der Provinz entzündet, auf denen die einen Bilder vom keine Autobahn. Papst und von katholischen gegangen und heiratete einen Mann aus Märtyrern verbrannten, die Derry. Seitdem lehrt sie dort an der Univer- anderen Fotos der Queen sität, hat ihre drei Söhne großgezogen, und und die britische Flagge. Ei- dafür gekämpft, dass sich Nordirland selbst nige Männer hatten Ge- heilt. Die Stadt, die sie Derry nennt, weil das wehre dabei, Polizisten kürzer ist, sagt sie, sei wie die Schattenseite wurden beschossen. Das von Belfast: das Trauma greifbar, jeden Tag Haus des ehemaligen Sinn- – aber nicht, wie in der Metropole, überla- Féin-Vorsitzenden Gerry gert von Bars, Highlife, Partykultur, Touris- Adams wurde angegriffen. mus, Wirtschaftswachstum. B Die Polizei von Derry Sie hat in der Kommission für eine neue macht für die neue Gewalt Gesundheitspolitik gesessen und die Trau- P auch die „neue IRA“ ver- matherapie für ein ganzes Land entwor- 1 antwortlich, gewaltbereite fen: integrierte Erziehung, religionsüber- te republikanische Dissiden- greifendes Wohnen. Aber die Politik, sagt Geschlossene Pforte der so genannten „Peace-Wall“, K die nur bei den Oranier-Märschen geöffnet wird. ten, die jederzeit bereit sei- sie, funktioniere hier immer nach demsel- en, den Kampf gegen die ben Schema: Bekommst du etwas, bekom- ih Krone wieder aufzuneh- me ich weniger. Nütze ich dir, schade ich In der Slash-City werde eine Art „Apart- men. Immerhin 150 Men- mir. „Wir haben die grundlegenden Fra- E heid“ gelebt, sagt Kaeran Galaggher, der schen starben bei politisch motivierten An- gen nie gelöst: Sind wir Teil von Irland, bri- 1 sich sein Geld in einem kleinen Bed& Break- schlägen seit dem Friedensabkommen. tisch, irisch, nordirisch? Kann es ein über- fast verdient, aber vor allem ehrenamtlich greifendes Denken geben?“ Sie hält kurz B Jugendarbeit betreibt. Religionsübergrei- Und so wurde auch Deirdre Heenan inne und fügt dann hinzu: „Europa wäre fend. Von seinem Arbeitsplatz aus kann er doch noch vom Bürgerkrieg eingeholt. Sie eine Chance gewesen.“ (( die Schlachtrufe der Jugend-Gangs hören, war nach dem Studium in den Nordwesten .

XXIX, 4.18 irland journal 15 Pettigo – 1991 Die Grenze geht mitten durchs Dorf von Dagmar Kolata

„Diese Abschiede auf irischen Bahn- ferenz, in der die Bistümer des Westens lichen Telefonzellen des Ortes liegen nur ei- höfen, an Bushaltestellen mitten im beschlossen, die EG um Hilfe zu bitten, da- nen Steinwurf auseinander, aber ein Anruf Moor, wenn die Tränen sich mit Re- mit dieser verhängnisvolle Aderlaß gestoppt von der einen zur anderen ist ein Auslands- gentropfen mischen und der atlan- werden kann. gespräch. Im südlichen Teil Pettigos gibt es tische Wind weht“, schrieb Heinrich zwei Tante-Emma-Läden, einen Eisenwaren- Böll 1961 in sein „Irisches Tage- Das ohnehin schon düstere Bild in den west- händler, eine Metzgerei, die vier Tage in der buch“, ergriffen von der Schar der lichen Grafschaften wird völlig trostlos in Woche geöffnet ist, sechs Kneipen und vier Iren im Westen der Insel, die nur den Gegenden, die sich obendrein noch im Kirchen – eine presbyterianische und eine dann eine Chance hatten, sich ihren Grenzgebiet zu Nordirland befinden. Das methodistische im Norden und eine angli- Lebensunterhalt zu verdienen, wenn knapp 900 Seelen zählende Dörfchen Pet- kanische und eine katholische im Süden. sie ihr Heimatland verließen. tigo in Donegal ist einer dieser Orte, die im Sonntags herrscht viel Verkehr auf der Brü- Kampf gegen klimatische Unbilden und cke über den Termon: Anglikaner und Ka- Heute, 30 Jahre später, wir schrieben das wirtschaftliche Aussichtslosigkeit auf der tholiken, die im Norden wohnen, streben Jahr 1991, ist die Situation unverändert, Strecke geblieben sind. Die Grenze geht dem Gotteshaus im Süden zu, Methodisten wenn nicht schlimmer: 50 Prozent der Land- mitten durchs Dorf: Bis auf wirte in der Grafschaft Donegal müssen ihre eine sind die Straßen und Familien mit weniger als 50 Pfund in der Sträßchen, die den Ort und Woche ernähren; zehn Prozent der Bevöl- seine Umgebung jahrhun- kerung im Westen ist seit 1985 ausgewan- dertelang durchzogen, mit dert; einer von drei Schulabgängern verläßt Betonblöcken blockiert. nicht nur seine Schule, sondern auch seine Bauern, durch deren Land Heimat. Die Abschiede finden heute auf den der Grenzfluß Termon Flughäfen statt, wo sich die Tränen nicht fließt, müssen mit ihren mehr mit dem Regen mischen, aber das Traktoren meilenweite Um- Elend ist dasselbe. „Es bricht mir das Herz, wege fahren, um Land be- zusehen zu müssen, wie ganze Dörfer aus- arbeiten zu können, das oft sterben, nur weil unsere jungen Leute aus- nur wenige hundert Meter wandern müssen“, sagte Bischof Thomas vom Haus entfernt auf der Finnegan aus Ballina, Co. Mayo am 30. „falschen“ Seite des Flus- Oktober dieses Jahres während einer Kon- ses liegt. Die beiden öffent-

40 irland journal XXIX, 4.18 und Presbyterianer von dort zu dem ihren Anstrich nicht schaden. im Norden. Die Religionszugehörigkeit ver- Die blockierten Straßen ursacht keine größeren Probleme: Katholi- werden auf beiden Seiten ken heiraten Protestanten, oder ins tägliche Leben inte- andersherum, ziehen vom Norden in den griert: Autowracks sind hin- Süden oder vom Süden in den Norden. ter Betoripfeilern depo- Manche wechseln ihre Konfession, andere niert, zum offiziellen „Kei- nicht. ne Weiterfahrt“ gesellt sich das inoffizielle; Kinder üben Pettigo hat auch ein Postamt, das neben sich an den Blöcken im Briefmarken auch Bekleidung und Farbe Bockspringen; Hunde he- verkauft und als lokale Nachrichtenbörse ben, unbeeindruckt von dient. Hier erzählt Peggy Mary, dass ihr politischer Zuordnung, an Mann dieses Jahr nicht einmal den Vorjah- beiden Seiten das Bein… respreis für seine Schafe erzielt hat. Um ihre Meinung über Pettigo befragt, sagt sie: In den vergangenen zwanzig Jahren hat entfernt liegt der größte See der Grafschaft, „Hier passiert nichts mehr. Man muss weg- Pettigo sich nahezu ausgeblutet. Aus- und der Lough Derg. Eine von seinen 19 Inseln ziehen von hier, wenn man etwas erreichen Abwanderung haben die Zahl der Einwoh- ist Station Island und auf ihr befindet sich will.“ Nur, für sie ist das keine Alternative – ner auf 830 reduziert – 200 davon in Tully- St. Patrick’s Purgatory. „St. Patricks Fege- mit fünf kleinen Kindern und einem Mann, hommon. Nur elf Prozent derer, die geblie- feuer“ ist ein im christlichen Europa einma- der Arbeitslosenunterstützung bezieht und ben sind, sind vollbeschäftigt, 85 Prozent liger Wallfahrtsort, der seit dem 6. Jahrhun- seine Schafe unter dem Vorjahrespreis ver- der erwerbsfähigen Bevölkerung sind ent- dert bis zum heutigen Tage die Menschen kaufen muss… Die einzige Tankstelle befin- weder arbeitslos oder unterbeschäftigt. Vie- fasziniert. det sich auf der „anderen Seite“, offiziell le von denen, die Arbeit haben, müssen Tullyhommon genannt, Benzin ist in Nordir- pendeln. Das Sozialgefüge ist total ins Der Legende nach wird dem heiligen Patri- land billiger . . . Das Überschreiten der Gren- Schleudern geraten. Pettigo hat einen un- ck, als er die Iren hier missioniert – Lough ze ist unkompliziert: Man überquert ohne verhältnismäßig hohen Anteil an alten Men- Derg ist bei den Kelten ein Heiligtum und Formalitäten die Brücke, die den Termon schen, ein Viertel der Einwohner lebt allein Patrick weiß das zu nutzen – auf Station Is- überspannt und ist in Nordirland. Manchmal in abgelegenen Gehöften. land eine Vision des Fegefeuers gewährt, stehen dort britische Sicherheitskräfte, und damit wird der Grundstein für eine un- meistens nicht. Auf dem Rückweg bedeu- Das lähmende Gefühl von Hilflosigkeit und gewöhnliche, rigorose und in gewissen Epo- tet einem ein großes rotes Schild mit der Ausgeliefertsein hat die Dorfbewohner bis chen nicht ungefährliche Wallfahrt gelegt. Aufschrift „Stop Customs“, daß sich der Zoll 1987 im Griff, dann erkennen sie, daß von Im 12. Jahrhundert, als die keltischen Klos- der Republik für den Inhalt des Kofferraums außerhalb keine Hilfe zu erwarten ist – zu- terstrukturen mehr und mehr durch die kon- interessieren könnte. Schmuggeln ist hier ein viele sitzen im gleichen Boot. Man setzt sich tinentalen ersetzt werden, übernehmen die beliebtes Hobby. zusammen, erwägt Möglichkeiten und Augustiner Chorherren die Verwaltung von kommt zu dem Schluß, daß die Zukunft in Lough Derg, und die Kunde von Patrick’s Ein Spaziergang ist in beiden Ortsteilen der Vergangenheit liegt, und zwar in der Purgatory beginnt sich auf dem europäi- gleich deprimierend: Verfallene Häuser im Wallfahrt zum Lough Derg. Zum besseren schen Festland zu verbreiten, die unge- Norden wie im Süden – stumme Zeugen von Verständnis ist ein langer Blick in die Ver- wöhnliche Wallfahrt fasziniert bald Geistli- verlorenen Kämpfen um das tägliche Brot. gangenheit nötig, zurück bis zu St. Patricks che und Adlige aus allen Ländern. Die Pil- Vielen der bewohnten Häuser würde ein Zeiten: etwa zehn Kilometer von Pettigo ger sind oft jahrelang unterwegs, um sich

XXIX, 4.18 irland journal 41 am Ende im westlichsten Zipfel der damals bekannten Welt einer außergewöhnlich strengen Wallfahrt auszusetzen, von der berichtet wird, daß viele sie nicht heil über- stehen: Nach 15 Tagen Vorbereitungszeit, die mit Fasten und Büßen verbracht wird, wird der Pilger allein für drei Tage und Näch- te in eine Höhle hinabgelassen, wo viele, wenn sie auch der physischen Herausforde- rung gewachsen sind, die psychische nicht ohne Folgen aushalten.

In der Denkweise der damaligen Zeit, die einen völlig anderen Zugang zum Irrealen und Geistigen hat als wir heute, erlangt Lough Derg eine herausragende Bedeutung. Einige Landkarten aus der Renaissance he- ben beispielsweise die Wallfahrtsinsel als einzigen relevanten Ort in Irland hervor. Vie- le Experten glauben, daß Dantes „Göttliche Komödie“ durch Erzählungen von den bi- zarren Erfahrungen der Pilger auf Lough Derg inspiriert wird. Moderne irische Dich- ter wie Patrick Kavanagh oder Seamus He- aney haben der Wallfahrt Werke gewidmet. keit“ handelt, dauert das Phänomen der Anders als zu den Zeiten ihrer Großväter, Wallfahrt an: Alljährlich kommen über 25 als der Ort noch einen Bahnhof hatte, und Haben sich die Regeln der Wallfahrt über 000 Menschen aus aller Herren Länder – und die Bewohner sich durch Zubringerdienste die Jahrhunderte hinweg auch gemäßigt, so vielerlei Konfessionen – um in dieser extre- zu den Pilgerbooten ein Einkommen verdie- ist sie dennoch auch heute noch kein Kin- men Herausforderung mit sich, der Welt und nen konnten, schauen die Pettigoer heute derspiel: während der zehnwöchigen Sai- Gott ins Reine zu kommen. zu, wie der moderne Pilger mit dem Bus son vom l. Juni bis zum 15. August unter- oder Auto direkt ans See-Ufer reist, ohne zieht sich der Pilger einem Programm, das Und damit trifft die Vergangenheit wieder den Ort eines Blickes zu würdigen. im besten Fall archaisch anmuten mag: drei- auf die Gegenwart: Abgesehen von den vie- tägiges Fasten – nichts außer Tee und Ha- len Touristen, die es zufällig an den Lough Pettigo beschließt, daß dies anders werden ferküchlein, 24 Stunden davon ohne Schlaf, Derg verschlägt, kommen auch die Pilger könnte: 1987 wird die „Association for the strenge Bet-Rituale, die in den drei Tagen alljährlich auf ihrem Weg zum See durch Development of Pettigo and Tullyhommon“ barfuß absolviert werden – kaum die gän- Pettigo, dessen Namen sich vom lateinischen (ADOPT) mit Mitgliedern aus beiden Orts- gige Vorstellung von einem verlängerten „protectio“ ableitet, in bezug auf die irische teilen gegründet und eine Strategie ausge- Wochenende. Doch während sich die Ge- Bezeichnung der Gegend, „termon“, was arbeitet, um dem Ort eine neue Chance zu lehrten streiten, ob es sich hier um „wüste sich mit „aiten Heiligtum“, also einem „ge- geben. Ziel der ehrgeizigen Pläne: der Bau Auswüchse von Aberglauben“ oder um ein schützten“ Ort, übersetzen ließe. eines Museums mit modernster audiovisu- „schlichtes Beispiel katholischer Frömmig- eller Technik zur Erläuterung der christlichen

42 irland journal XXIX, 4.18 und historischen Bedeutung von Lough Gemeinde zu kümmern, besteht zunächst mit Politikern und Würdenträgern von bei- Derg vom 6. Jahrhundert bis zum heutigen einmal darin, für ihr leibliches Wohlergehen, den Seiten der Grenze erklärt der Vorsitzen- Tag, eine Faksimile-Ausstellung der wertvol- sprich Arbeitsplätze und Einkommen, zu de des IFI, John B. McGuckian, daß l .6 Mil- len und vielfältigen Sakralgegenstände auf sorgen“. lionen Pfund für das Pettigo Projekt bereit- der Bußinsel, ein Kunstgewerbeladen, ein stehen. „Dies ist ein einzigartiges, grenzü- Cafe und ein Fremdenverkehrsbüro, das berschreitendes Projekt, das bereits in die- dem interessierten Besucher erklärt, daß es sem frühen Stadium ein unvorhergesehe- außer Religion und Geschichte hier auch nes Maß an Zusammenarbeit initiiert hat“, ungezählte Angel- und Wandermöglichkei- sagt er, und versichert seinen Zuhörern: ten gibt. „Wir werden Ihnen auf dem ganzen Weg mit Rat und Tat zur Seite stehen“. Und damit der Besucher dann auch bleibt, wird es notwendig, die Spuren von Verfall Es ist schwer, in dieser Stunde von der all- und Vernachlässigung im Dorf zu beseiti- gemeinen Freude unberührt zu bleiben. Die gen, ein detailliertes Erneuerungsprogramn Menschen sehen eine Zukunft – für sich, für für den Ort wird erarbeitet. Neben dem In- ihre Kinder. Dann, auf dem Rückweg zum formations- und Touristenzentrum in Petti- Auto, tauchen viele Fragen auf: Sind die go selbst ist weiter geplant, daß Nicht-Wall- Erwartungen zu hoch geschraubt? Wird die fahrer außerhalb der Saison Station Island Aussicht auf Veränderungen den Zusam- besuchen, und daß während der Saison menhalt im Ort gefährden? Werden an die Bootstouren über den See wenigstens ei- Stelle von Solidarität und Hilfsbereitschaft nen Eindruck der Wallfahrt vermitteln kön- Neid und Mißgunst treten? Wird eine Tou- nen. Diese Fahrten sollen auch Sehenswür- rismus-Welle über den Ort schwappen? Ein digkeiten aus christlicher und keltischer Ver- Blick auf die menschenleere Straße, auf die gangenheit auf Saints Island und entlang ein gnadenloser Novemberregen hämmert, des See-Ufers einschließen. Nachdem all diese Pläne fundiert niederge- der die heruntergekommenen Häuser noch legt und ausgearbeitet sind, stellt sich dem armseliger erscheinen läßt, macht eines klar: Die nächste Hürde ist, die Einwilligung der AD-OPT-Komitee im vergangenen Jahr die der Weg in den Wohlstand wird weit und katholischen Kirche für eine touristische Sein- oder Nichtsein-Frage: Woher kommen beschwerlich sein. Nutzung des Sees zu bekommen, der sich die Mittel für dieses für Pettigoer Verhält- unter kirchlicher Verwaltung befindet. An nisse gigantische Projekt? ADOPT prüft die Text und Fotos: Dagmar Kolata der Klausel, daß die Insel während der Sai- finanziellen Möglichkeiten, die zur Verfü- (aus irland journal 4.91) son nur von Pilgern betreten werden kann, gung stehen und wendet sich schließlich wird nicht gerüttelt. Die Bewohner Pettigos bangen Herzens an den IFI (International finden in ihrem Gemeindepfarrer, der gleich- Fund for Ireland). Und der IFI, beeindruckt zeitig Prior auf Lough Derg ist, nicht nur ei- von der detaillierten und fundierten Vorar- nen verständnisvollen Zuhörer, sondern ei- beit, aber vor allem vom Willen zur Selbst- nen engagierten Mitstreiter. Pfarrer Richard hilfe, nimmt ADOPT unter seine finanziel- Pettigo und Tullyhommon – Mohan, der mit im sechsköpfigen ADOPT- len Fittiche. Der 18. November 1991 sieht Komitee sitzt, stellt sich voll hinter das An- „einen historischen Tag an einem der histo- 26 Jahre später… >>> liegen seiner Schäfchen. Er sagt: „Meine rischen Orte Irlands“ (Jim Fester, nordirisches Aufgabe, mich um das Seelenheil meiner Umweltministerium). In einer Feierstunde

XXIX, 4.18 irland journal 43 Pettigo – 2017 Grenze im Fluss von Ralf Sotschek

Der Termon Complex gehört eigentlich Pettigo. Er hat ein paar Jahre in London gear- Die anderen zehn Straßen wurden 1972 durch nicht hier her. Er ist zu groß. Die Fassade beitet, doch als der Termon Complex vor drei Betonklötze gesperrt. Die britische Armee unter dem ausladenden Betondach besteht Jahren eröffnete, kam er zurück und bekam sprengte die Brücken, um die Bewegungsfrei- komplett aus Glas, und wenn man durch einen Job. Seine drei Töchter leben in Lon- heit der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) die automatische Tür eintritt, gelangt man don, der 19-jährige Sohn wohnt bei ihm und einzuschränken. Pettigo war von seinem Hin- in eine hohe Halle mit einem Tresen, an seiner Frau Eimhear, die im Termon Complex terland abgeschnitten. Erst im Zuge des Frie- dem ein Mann sitzt. PJ McBarron notiert für das Catering zuständig ist. densprozesses Ende der neunziger Jahre wur- etwas in seinen Terminkalender. Das Ge- Mit seinem Bart, dem geschorenen Kopf und den die Straßen nach und nach wieder geöff- bäude steht in Pettigo, auf Irisch Paiteagó, den Tattoos von Marilyn Monroe, John Wayne net, die Brücken repariert. einem Ort mit 600 Menschen an der inner- und Jesus auf den Armen sieht PJ etwas furcht- irischen Grenze. Der Fluss Termon, nach einflößend aus. Der Eindruck täuscht. „Ich bin Am Ende der Brücke steht eine ramponierte dem der Komplex benannt ist, teilt den Ort froh, dass es in unserem Ort nie Ärger zwischen grüne Baracke. Das war das Zollhäuschen. in zwei Hälften: Die eine Hälfte ist in Don- der katholischen und der protestantischen Ge- Morgens stellte der Zollbeamte ein Stoppschild egal, der nördlichsten südirischen Graf- meinde gab“, sagt er, „auch nicht in den heißen auf die Straße, um 17 Uhr legte er es zurück in schaft, die andere Hälfte, die offiziell Tul- Zeiten der Troubles.“ So euphemistisch nennt die Baracke und ging nach Hause. Das wuss- lyhommon heißt, liegt in der nordirischen man in Nordirland den Konflikt, der fast 3.500 ten die Schmuggler natürlich. „Pettigo war Grafschaft Fermanagh. In dem geteilten Menschen das Leben kostete. berühmt dafür“, erzählt PJ. „Vieh, Mehl und Ort an der inneririschen Grenze befürch- Butter wurde von Nord nach Süd geschmug- tet man eine Rückkehr zu alten Zeiten. Der Doppelort ist zwar klein, aber er hat Denk- gelt, Zigaretten und Alkohol in die umgekehr- mäler für den Krimkrieg, den Ersten Weltkrieg te Richtung. Heutzutage haben die Rinder „Der Komplex ist eine Art Gemeindezentrum“, und den irischen Unabhängigkeitskrieg sowie Ohrmarken, und die Preise für Zigaretten und sagt PJ, der seinen Vornamen nicht benutzt. vier Kirchen: Anglikaner und Katholiken ge- Alkohol unterscheiden sich kaum.“ „Die Europäische Union hat 8,3 Millionen hen in Pettigo zur Messe, Methodisten und Es habe auch Bombenanschläge gegeben, sagt Euro aus dem Programm für Frieden und Ver- Presbyterianer in Tullyhommon. „Sonntags PJ. „Mervyn Johnstons Werkstatt gleich hin- söhnung beigesteuert.“ Seit 1995 hat die EU herrscht deshalb reger Fußgängerverkehr auf ter der Brücke auf der Nordseite wurde von 1,3 Milliarden Euro für Friedensprojekte in den der Brücke“, sagt PJ. Die Hauptstraße, die der IRA fünf Mal bombardiert, weil Mervyn nordirischen Städten und in den Regionen mitten auf der Brücke von der südirischen bei der britischen Armee war.“ Früher stand entlang der 499 Kilometer langen Grenze aus- R232 zur nordirischen A35 mutiert, war wäh- an der Stelle das Postamt, die IRA hatte es 1973 gegeben. „Das Zentrum steht allen Menschen rend des gewaltsamen Konflikts die einzige in die Luft gesprengt. Danach ist es umgezo- offen“, sagt PJ. Der 56-Jährige stammt aus offene Verbindung zwischen beiden Ortsteilen. gen, in eine Seitenstraße. Kein Schild weist

44 irland journal XXIX, 4.18 darauf hin, im Fenster klebt lediglich ein Zet- feuers. Seit dem 6. Jahrhundert ist die Insel sucht, den Doppelort zu entwickeln und jun- tel mit den Öffnungszeiten: Montag und Mitt- deshalb ein Wallfahrtsort. 25.000 Pilger kom- gen Leuten eine Perspektive zu bieten. „Aber woch von 14 bis 16 Uhr. Im südirischen Teil, men im Sommer barfuß auf die Insel, um drei es gibt keine Arbeit hier“, sagt sie. „Die jun- drei Minuten zu Fuß entfernt, gibt es auch ein Tage lang zu fasten und zu beten. In der ersten gen Leute hauen ab, viele gehen nach Austra- Postamt, denn Briefmarken aus Tullyhommon Nacht dürfen sie nicht schlafen. Dante soll lien. Menschen zwischen 18 und 30 sind rar in gelten nicht in Pettigo. Und umgekehrt. Ent- durch Erzählungen über diese Tortur zu seiner Pettigo.“ McGrath ist in Pettigo geboren. Sie fernungen und Höchstgeschwindigkeit werden „Göttlichen Komödie“ inspiriert worden sein. ist geblieben. Von ihren Eltern hat sie den still- in Nordirland in Meilen angegeben, in der „Früher haben die Pensionen mehr von den gelegten Bahnhof geerbt und ihn für 150.000 Republik in Kilometern. Bei der Währung – Pilgern profitiert“, sagt PJ. „Aber das ist zu- Euro renoviert. Den ehemaligen Wartesaal, der hüben Euro, drüben Pfund – ist man flexibler, rückgegangen, seit die Leute 75 Euro fürs Fas- zu einer Wohnung umgebaut ist, hat sie ver- die Geschäfte und Pubs akzeptieren beides. Die ten zahlen müssen. Viele kommen nur noch für mietet, um die Hypothek zahlen zu können. Zeit der Anschläge sei zum Glück vorbei, sagt eine Tagesklausur. Diese Pilgerei ist total kom- „Früher war Pettigo ein wichtiger Marktfle- PJ. Der Ort habe sich etwas erholt. „Der Ter- merzialisiert worden.“ Was der Brexit für Pet- cken an der Hauptstraße zwischen Enniskillen mon Complex hält Pettigo und Tullyhommon tigo bedeuten wird, weiß er nicht. „Es kann und Derry, Nordirlands zweitgrößter Stadt“, am Leben. Wir haben Sportplätze, ein Fitness- positiv oder negativ sein, ich habe keine Ah- sagt sie. studio, einen Kindergarten mit Spielplatz, nung. Ich glaube aber nicht, dass sie die Gren- „Dann kam 1922 die Teilung Irlands, und als Konferenzräume und und einen Konzertsaal, ze wieder dichtmachen, das wäre ein Schritt die Bahnlinie 1957 geschlossen wurde, ging wo schon viele berühmte irische Künstler auf- zurück in alte Zeiten. Das will niemand.“ es weiter bergab.“ McGrath trägt ein grün-gel- getreten sind.“ Vielleicht werde es wieder Zollkontrollen ge- bes Trikot des Gaelic-Football-Teams aus der ben, meint er. „Und vielleicht blüht dann auch Grafschaft Donegal. Sie hat zwei Söhne, 15 Der Lough Derg trägt auch etwas zur Wirt- der Schmuggel wieder auf.“ und 16 Jahre alt. „Sie gehen in Nordirland zur schaft des Ortes bei. Der See mit seinen 19 Schule und nehmen jeden Morgen den Bus von Inseln liegt vor den Toren Pettigos. Eine die- Natascha McGrath, die Bauerstochter, ist pes- Tullyhommon.“ McGrath fragt sich, ob sie ser Inseln ist Station Island. Hier hatte St. Pa- simistisch. Die 44-Jährige arbeitet ebenfalls im nach dem Brexit auf der Schule bleiben dür- trick, Irlands Schutzheiliger, im 5. Jahrhundert Termon Centre, sie gehört dem Vorstand des fen. Der Brexit habe schon jetzt Auswirkun- der Überlieferung nach eine Vision des Fege- Vereins an, der seit gut zwei Jahrzehnten ver- gen, findet sie: „Weil der Pfundkurs nach dem

XXIX, 4.18 irland journal 45 Referendum gefallen ist, kommen die Leute aus dem Norden nicht mehr zum Tanken nach Pettigo.“ Die beiden Geschäfte im Ort bekom- men das ebenso zu spüren wie die Pubs. „Sams- tag abends um elf sitzen vielleicht zwei oder drei Leute im Wirtshaus.“ Nach dem endgültigen Austritt des Vereinig- ten Königreichs aus der EU werden es die wenigen, kleinen Unternehmen schwer haben, glaubt sie: „Was soll zum Beispiel aus der Fir- ma in Pettigo werden, die Holzspäne an Gar- tencenter in Nordirland liefert? Zwar hört man, dass es keine harte Grenze geben soll, aber die EU wird es Großbritannien nicht leicht ma- chen.“ Mehr als die Hälfte der Exporte aus Nordirland geht in die EU, davon zwei Drittel in die Republik Irland. McGrath erinnert sich noch gut an die Zeiten des Konflikts. „Es war ein Albtraum“, sagt sie. „Die nächstgelegene Stadt ist Kesh, keine acht Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Grenze. Wenn man zum Einkaufen hinfuhr, wurde man oft zwei oder drei Mal von der Armee kontrolliert. Es war reine Schikane, man wusste nie, wie lange man für die kurze Stre- cke brauchen würde.“ McGrath macht sich Sorgen, dass das Friedens- abkommen von 1998 in Gefahr sei, zumal die Tories einen Regierungspakt mit der protes- tantisch-unionistischen Democratic Unionist Party (DUP) geschlossen haben. Sie war als einzige nordirische Partei für den Brexit. Rund 56 Prozent der 1,85 Millionen Nordiren stimm- ten voriges Jahr für den Verbleib in der EU. In den Grenzgebieten waren es bis zu 78 Prozent. „Fest steht, dass wir nicht mitreden dürfen, wie die Grenze aussehen soll“, sagt McGrath. Direkt an dieser Grenze, auf der Südseite, liegt Britton’s Bar, sie ist seit 1860 in Familienbe- sitz. Tritt man aus dem Hinterausgang, steht man im Grenzfluss. Seit dem Tod der Eltern führt Triona Britton das Wirtshaus gemeinsam

46 irland journal XXIX, 4.18 Pettigo (also spelt Pettigoe; Irish: Paiteagó): …is a small village on the border of County Donegal, Republic of Ireland and County Fermanagh, Northern Ireland. It is bisected by the Termon River which is part of the border between the Republic of Ireland and Northern Ireland. The portion of the village in Northern Ireland is officially called Tullyhommon, but is locally known as ‘High Street’ due to its hillside position overlooking the remainder of the village. The rest of the village in the Republic includes Main Street, Mill Street and Station Street, all of which meet in The Diamond at the centre of the village. There are also two relatively modern housing estates on the northern outskirts, namely Termon Villas and St. Patrick’s Terrace along with new developments such as Mill Grove. Until the late 1700s, the area was known as ‘An Tearmann’, Population: meaning ‘a place of sanctuary’. The modern Irish For the purpose of data collection the Census of Ireland (Paiteagó) and English (Pettigo) names derive from the regards Pettigo as three separate electoral divisions, Latin protectio (protection), a translation of the Irish Pettigo (396), Grousehall (76) and Templecarn (128), ‘An Tearmann’. giving a total population of 600 as of 2011.

mit ihrem Bruder Pat. Auch sie erinnert sich, wie mühsam es während des Konflikts war, von A nach B zu gelangen. Nun sind die Stra- ßen offen, doch von einer Friedensdividende sei nichts zu spüren, sagt die 47-Jährige: „Seit der Öffnung der Straßen und Brücken ist un- ser Geschäft zurückgegangen. Die Leute kön- nen ja jetzt problemlos überall hinfahren.“ Sie glaubt, die EU werde dafür sorgen, dass die Dubliner Regierung die neue EU-Außen- grenze streng kontrolliert. Britton wohnt in Tullyhommon. „Vielleicht muss ich dann nach Pettigo ziehen“, sagt sie. „Ich habe keine Lust, mich auf dem Weg zu unserem Pub wie früher ständig kontrollieren zu lassen – diesmal dann von irischen Soldaten.“ Ralf Sotscheck (Juli 2017)

XXIX, 4.18 irland journal 47 sportschau Nordirland Sadly, rugby is one of the few things that unites all Irish people. Leider gibt es nur wenig, was alle Iren vereint – Rugby gehört dazu.

Ireland Rugby Six Nations Grand Slam _© Getty Images

6 irland journal XXIX, 4.18 Nordirland sportschau

„..Ich bin ein Nordire, der von Siedlern abstammt; geboren bin ich auf der Insel Irland, also bin ich in zweiter Linie Ire. Gebürtig auf dem britischen Archipel ist Englisch meine Muttersprache, und des- halb bin ich Brite. Die britischen Inseln sind dem europäischen Kontinent vorge- lagert, damit bin ich Europäer…“

„2 Irelands together“ – Ein Blog von Andy Pollak (gepostet am 23. März 2018 von ‘andypollak’)

Übersetzt von Andrea Kirchner

Eigentlich hatte ich diesen Monat wieder über den Brexit schreiben wollen, aber das Dilemma um den Brexit und die Grenze zwischen Irland und Nordirland wird uns noch eine ganze Weile begleiten. Deshalb möchte ich mich ei- nem Thema zuwenden, dass viel erfreulicher ist und näher liegt: unserem großartigen All-Ireland Rugby-Team, der iri- schen Rugby-Union-Nationalmannschaft. Am St. Patrick’s Day schaute ich in Quinn’s Bar in Newcast- le, County Down dabei zu, wie die leistungsstarke engli- sche Rugby-Fünfzehn mit 24-15 vom besten irischen Team demontiert wurde, das ich je gesehen habe (mein erstes Rugby-Länderspiel England gegen Irland sah ich 1962). Nach der Anzahl an irischen Trikoloren im Pub zu urteilen, bestand die Menschenmenge um mich herum größtenteils aus Nationalisten. Doch Amanda Ferguson, Reporterin der Irish Times, zitierte Belfaster Unionisten mit der festen Mei-

XXIX, 4.18 irland journal 7 sportschau Nordirland nung, dass es kein Widerspruch ist, wenn glaube, das Lied mit seinem sie trotz ihrer Herkunft das irische Team be- allumfassenden Text wäre die jubeln. „An erster Stelle bin ich irisch, und ideale Hymne für das von an zweiter britisch. Was soll daran seltsam Coulters Landsmann aus Der- sein? Ich bin Fan des irischen Teams“, laute- ry, John Hume erträumte te ein typischer Kommentar. „agreed Ireland“, geeinigte Ir- land (wann auch immer es so- – ehemaliger Flügelstürmer weit ist). Es ärgert mich wirk- und Nationalspieler, Parlamentskandidat der lich, wenn neunmalkluge Ulster Unionist Party und Aussöhnungsakti- Sportjournalisten der Irish Ti- vist – drückt das so aus: „Hier in Nordirland mes leichtfertig den gesamt- können wir zwischen verschiedenen Identi- irischen, einheitsstiftenden täten hin und her wechseln. Ich bin Fan vom Jacob Stockdale has now scored 10 tries in just eight Tests Song der Irish Rugby Football Team, von allen neun County- for Ireland Credit PA. Tom Cary, Aviva Stadium Union (IRFU) angreifen, in ab- Teams der Ulster Gaelic Athletic Association armt wurden, nachdem ihr Team als erstes soluter Gleichgültigkeit gegenüber dem Be- (GAA), von Nordirlands Fußball- und Irlands in Irland im Januar 1999 den Heineken Cup dürfnis nach neuen Symbolen die dabei mit- Rugby-Team, vom British and Irish Lions Rug- Europapokal-Wettbewerb im Lansdowne helfen, die tiefe historische Spaltung des Lan- by-Team, und von der europäischen Ryder Road Stadion gewonnen hatte, neun Mona- des zu überwinden. Cup Golfmannschaft.“ te nach der Unterzeichnung des Karfreitags- Das ist die sportliche Variante von dem, was abkommens. Man betrachte sich die Vielfalt dieser wun- Dichter John Hewitt vor über 40 Jahren sag- Die irische Rugby-Hymne Ireland’s Call ist ein dervollen Mannschaft, die als zweitbeste der te: „Ich bin ein Nordire, der von Siedlern weiteres Beispiel dafür. Ken Blaney, ein Ge- Welt nun in die Nähe der allmächtigen All abstammt; geboren bin ich auf der Insel schäftsmann aus Belfast, stellte sich Aman- Blacks gerückt ist. Ihr gehören drei Nordiren Irland, also bin ich in zweiter Linie Ire. da Ferguson vor als „irisch-britischer Mann an: Kapitän Rory Best, Landwirt aus County Gebürtig auf dem britischen Archipel ist der aus der unionistischen Arbeiterklasse Armagh; die „randalierende Bohnenstange“ Englisch meine Muttersprache, und des- kommt“ und fügte hinzu, dass irisches Rug- aus Belfast, Iain Henderson; und der junge halb bin ich Brite. Die britischen Inseln by, im Gegensatz zu den gälischen (GAA) Jacob Stockdale, der Punkte-Rekorde brach, sind dem europäischen Kontinent vor- Sportarten und Fußball, die politische Spal- Sohn eines evangelikalen Gefängnisgeistli- gelagert, damit bin ich Europäer. Dies ist tung des Nordens überwindet. „Ireland’s Call chen. Das Team hat auch zwei gegensätzli- meine Wertehierarchie und ich für mei- berührt mich: Rugby bringt uns zusammen, che Star-Importe: C.J. Stander, das Kraftpa- nen Teil finde, dass jeder, der einen es mobilisiert alle.“ ket in der letzten Reihe, weißer Südafrika- Schritt in dieser Wertefolge auslässt, den Und wieder stimme ich zu. Als stolzer Ire sin- ner und aussichtsreicher Kandidat für die Sachverhalt verfälscht.“ ge ich meine Nationalhymne Amhrán na Position als weltbeste Nummer 8, sowie Bun- bhFiann, obwohl ich sie für ein Klagelied aus dee Aki, der wuchtige Connacht Innendrei- In solchen pluralistischen, sich überschnei- dem 19. Jahrhundert mit einem unerfreuli- viertel und Sohn einer armen samoanischen denden Identitäten liegt echte Fülle und Aus- chen und veralteten, militaristischen Text Familie aus South Auckland in Neuseeland. söhnung. Eine meiner schönsten Erinnerun- halte. Andererseits singe ich auch: „We have Man nehme 10 „normale“ Iren aus Leinster gen im Sportbereich ist, wie Fans von Ulster come to answer our country’s call from the und Munster dazu – und kann sich kaum ein Rugby – die allermeisten davon offensicht- four proud provinces of Ireland“ („Unser Land besseres Symbol als dieses Team vorstellen lich protestantischer (und somit unionisti- hat gerufen, und wir sind aus den vier stol- für das offene, pluralistische, multikulturelle scher) Herkunft, von Menschen auf Dublins zen Provinzen Irlands hergekommen“) von und erfolgreiche Land, zu dem Irland im 21. Straßen herzlich beglückwünscht und um- Phil Coulter mit großer Begeisterung. Ich Jahrhundert geworden ist.

8 irland journal XXIX, 4.18 Nordirland sportschau

Aber jetzt kommt der traurige Teil. Wem fällt nige gesamt-irische Organisationen und Struk- Meine Vision von Irland – als pluralistische, noch eine Institution,Veranstaltung oder ein turen neu entstanden sind. Im Centre waren einvernehmliche und potenziell weltbeste Symbol ein, das alle irischen Menschen – na- wir maßgeblich daran beteiligt, Menschen in Kombination – ist der Vision der IRFU ähnli- tionalistisch und unionistisch, katholisch und neuen gesamt-irischen Netzwerken zusam- cher als derjenigen der Sinn Fein. Wenn ich protestantisch, Männer und Frauen, in Irland menzubringen, die an der Ausbildung von damit ein hoffnungsloser Fall von Dubliner und im Ausland geboren, schwarz und weiß Lehrern, der Führung von Universitäten oder Mittelklasse bin, dann sei‘s drum. Denn wenn – vereinen kann? Mir nicht (außer dem St. in der Raumplanung arbeiteten. Aber ich tue ich mir all die Freude betrachte, die unser Patrick‘s Day vielleicht), und ich habe viele Jah- mich schwer, weitere Beispiele aus diesem Rugby-Team mit seinen Großtaten dieses Jahr re damit verbracht, Iren aus dem Norden und überwiegend hoffnungsvollen und fruchtba- – und schon seit einigen Jahren – den Men- Süden mit grenzübergreifender Kooperation ren Zeitraum zu benennen – welcher nun mit schen bereitet hat, und mir daneben all die zusammenzubringen. Tatsächlich hat es mich dem Kollaps der Stormont-Institutionen en- Morde anschaue und das ganze Leid, das die mit am meisten enttäuscht, dass ich in den det, fürchte ich. Provisional IRA dreißig Jahre lang zugefügt hat, dann sehe ich keinen Grund, mich dafür Es gibt natürlich noch andere, noch aus der rechtfertigen zu müssen. Zeit vor der Teilung Irlands: solch verschie- denartige Gruppierungen wie die der Buch- PS: Apropos Sinn Fein, bemerke ich da ei- halter, traditionellen Musiker und der Besat- nen Schmusekurs zwischen Fine Gael, der zungen von Rettungsbooten sind über das bürgerlichsten und unrepublikanischsten al- düstere 20. Jahrhundert hinweg zusammen- ler politischen Parteien, und den Provisionals? geblieben und üben ihre Kunst, ihr Hand- In vorangegangenen Blogs habe ich die über- werk oder ihren Beruf so aus, als ob es die raschend ‚grünen‘ Erklärungen von Leo Va- Grenze nicht gäbe. Dasselbe gilt für andere radkar und Simon Coveney in jüngster Zeit Sportarten wie Cricket, Hockey oder Boxen. vermerkt. Fine Gael und Sinn Fein waren sich Aber leider ist das dünn gesät. Feiern wir also (fälschlicherweise) einig über den Einsatz der unser wunderbares Rugby-Team und gratu- Britisch-Irischen Regierungskonferenz (BIIGC) lieren wir dem IRFU zu seinem festen Glau- zur Übernahme der Befugnisse des Parla- ben an die Fähigkeit des Sports, die tragi- ments in Stormont, falls es keine Einigung schen Barrieren unserer Geschichte zu über- zwischen der DUP und Sinn Fein gäbe über winden. Wir sollten nicht vergessen, dass in die Machtteilung in Nordirland. Dann erhielt einer Zeit, als die IRA Rugby-Nationalspieler ich diese Woche irrtümlich die Kopie einer auf dem Weg von Belfast nach Dublin in die E-Mail vom ehemaligen Senator Jim D’Arcy, Luft sprengte (und so auch die internationa- Berater des irischen Premierministers für le Karriere von Nigel Carr, einem Spieler mit Nordirlandfragen, in welcher er Declan Ke- independent ir – 10 March 2018: Keith Earls of Ireland with his daughters Weltklasse-Potenzial beendete), die IRFU mit- arney, den Vorsitzenden der Sinn Fein, dafür hilfe der Garda Siochana, der irischen Natio- bedauerte, Senatorin Maire Devine suspen- 14 Jahren, in denen ich als Direktor des Zen- nalpolizei dafür sorgte, dass auf dem Höhe- dieren zu müssen für das Retweeten einer trums für grenzübergreifende Studien, dem punkt des Nordirlandkonflikts zumindest ein unschönen Bemerkung über Brian Stack, den Centre for Cross Border Studies in Armagh Mann der Rugby Union geschützt wurde, irischen Gefängnisaufseher, der von der IRA gearbeitet habe – in einer Zeit, die manche sodass er das Team seines Landes im Süden ermordet worden war. D’Arcy e-mailte: „Har- als das größtenteils von der EU finanzierte, vertreten konnte. ter Tag für dich, Declan. Du hast dich gut ‚goldene Zeitalter‘ des Friedens und der Zu- geschlagen! Dein Mädchen tut mir sammenarbeit nach 1998 ansehen – sehr we- leid…Nette Person!“

XXIX, 4.18 irland journal 9 sportschau Nordirland

Rugby / Six Nations Cup (laut Wikipedia)

Six Nations (dt. Sechs Nationen, im Zusammenhang mit dem Haupt- Six Nations sponsor NatWest auch NatWest Six Nations genannt) ist ein jährlich Gewinner stattfindendes Turnier in der Sportart Rugby Union, an dem die (2000 - heute): Nationalmannschaften aus England, Frankreich, Irland, Italien, • 2000: England Schottland und Wales teilnehmen. Der Gewinner des Turniers gilt • 2001: England als inoffizieller Europameister. Die Ursprünge des Turniers gehen • 2002: Frankreich (GS) auf das Jahr 1883 zurück, als erstmals die vier Home Nations England, • 2003: England (GS) Irland, Schottland und Wales gegeneinander spielten. Es wurde 1910 • 2004: Frankreich (GS) mit der Aufnahme Frankreichs zu Five Nations (Fünf Nationen) er- • 2005: Wales (GS) weitert. In seiner heutigen Form besteht das Turnier seit 2000, nach • 2006: Frankreich der Aufnahme Italiens. Der Turniersieger wird in fünf Runden nach • 2007: Frankreich dem Prinzip jeder gegen jeden ermittelt, wobei das Heimrecht für jede • 2008: Wales (GS) Paarung jährlich wechselt. • 2009: Irland (GS) • 2010: Frankreich (GS) • 2011: England • 2012: Wales (GS) • 2013: Wales • 2014: Irland • 2015: Irland • 2016: England (GS) • 2017: England • 2018: Irland (GS)

Six Nations 2004: Wales gegen Frankreich Hymnen Obschon God Save the Queen als Nationalhymne des ganzen Verei- Geschichte nigten Königreichs gilt, wird es nur vor Partien mit Beteiligung Eng- 1871 trafen England und Schottland im allerersten Rugby-Länderspiel lands gespielt. Wales und Schottland besitzen eigene Hymnen. Da die aufeinander. Nach zwölf Jahren mit gelegentlichen Freundschaftsspie- irische Mannschaft sowohl die Republik Irland als auch Nordirland len fand 1883 die erste Home International Championship statt, an der vertritt, wird bei Auswärtsspielen eine eigens zu diesem Zweck ge- [2] England, Irland, Schottland und Wales teilnahmen. England wurde schaffene Hymne und bei Heimspielen in der Republik Irland zusätz- erster Turniersieger und auch erster Gewinner der Triple Crown. lich die Nationalhymne Amhrán na bhFiann gespielt.

10 irland journal XXIX, 4.18 – es war wohl mal eine Art dunkelblau – kreuzte im kritischen Moment EIN OSSI IN IRLAND die Flugbahn des stolzen Jagdgeflügels und verwandelte es mit einem harten Schlag der Windschutzscheibe in einen tosend daher wirbelnden Teil 7 Federball. Von Timm Koch „Ein Fasan! Hurra. Ein Fasan. Stop das Auto, äh, ze car! Stop die ver- dammte Karre! Stop. Stop.“ Begeistert umschlang Heiko von seinem Platz auf der Rückbank die Schul- Was bisher geschah: tern von Ian, der den Wagen zum Stehen bringt. Heiko und Tiger schnell- Der Staatsbesuch von Prinz Charles anläßlich der Ehrung sei- ten heraus und hechteten Richtung Federball. Der Fasanenhahn hauchte nes von der IRA getöteten Onkels Lord Hatnstephen, rückt nä- zuckend und mit den Sporen tretend auf hartem Asphalt sein Leben aus. her. Heiko und seine drei irischen Freunde haben unter Zutun Tiger war als erster zur Stelle. Seinem natürlichen Jagdtrieb gehorchend von Tiger, dem Hund, die List des englischen Geheimdienstes packte er den Sterbenden. durchschaut, mit der sie aus dem Weg geräumt werden sollten. „Brav. Tiger. Apport!“ Mithilfe eines geraubten Volvos, des Schlachtkörpers eines to- Den bunten Vogel in den Fängen rennt der Hund in die falsche Richtung, ten Schweins und jeder Menge Sprengstoff inszenieren sie ihr weg von Heiko und seinen Rufen. Instinktiv weiß er, daß ihm die Beute eigenes Ableben. Langsam wird es ernst. streitig gemacht werden soll. „Tiger. Apport! Apport! Tiger aus! Verdammt. Der Köter versteht kein Deutsch. Paddy! Liam! Ian!“ old-schwarz mit hellen Einsprenkelungen und zarten Kupfertö- Die Gerufenen kamen, nun vom Jagdeifer ebenfalls ergriffen, angerannt. G nen schillert das Gefieder in der Morgensonne. Über weißem Ring „How say aus in Inglisch?“ sitzt schwarz der Hals, der den stolz emporgereckten, knallroten Kopf „Out. Tiger out! Retrieve, Tiger! Come, Tiger! Bring us that bird!“ trägt. Der bunte Vogel schreitet mit langen Schritten und hoch erhobenen Tiger dachte im Traum nicht daran, diesem Befehl Folge zu leisten. Lust- Schwanzfedern durch ein Steckrübenfeld. Hier und da pickt er an den voll umkreiste er seine Menschen. Sie versuchten ihn zu packen. Aber er Samenständen des Sauerampfers herum, der als Unkraut zwischen den war schneller. Erst beim dritten oder vierten Kreislauf, gelang es Heiko, Rüben gedeiht. Die sind seine Lieblingsspeise. Im Stechginstergebüsch sich mit vollem Körpereinsatz auf den Vierbeiner zu stürzen. Als er den jenseits der kleinen Landstraße weiß er, vor Habichtsblicken sicher, sei- Fasan freibekommen hatte von den scharfen Reißzähnen, sah er schon nen Harem. Die drei schlicht gefärbten Hennen tummeln sich gut getarnt, arg zerfleddert aus. Trotzdem hielt er ihn voll Stolz und Bewunderung in satt und zufrieden und aufgeplustert in ihren Staubbädern. Bei dem Ge- die Höhe. danken an sie gönnt sich der Fasanenhahn noch ein paar Sauerampfers- „Waidmannsheil, Ian! Ein Hoch auf den Erleger! Das wird einen feinen amen und gibt ein wenn auch zufriedenes, so doch unmelodisches ko-tok Braten geben!“ von sich. „Welcome,“ grinst der zwischen vergilbten Zähnen, „to the roadkill Unvermittelt beginnen die Kinnlappen erregt zu vibrieren. Ruckartig zuckt café!“ der Kopf nach vorne. Auf der Kuhweide unterhalb des Gebüschs erspäht er den Nebenbuhler, der entschlossenen Schrittes die Staubbäder ansteu- + + + ert. Mit empörtem Gökgök erhebt er sich in die Lüfte, bringt sich mit einer Serie unbeholfen wirkender Schläge seiner Flügel auf eine Geschwin- Die Iren waren einst ein Volk von Waldmenschen. Ein Flaum von dichten digkeit von erstaunlich schnellen sechzig Stundenkilometern. Sodann Eichenwäldern bedeckte große Teile der Insel. Es waren kalte Regenwäl- spreizt er die Schwingen und segelt im Tiefflug dem Widersacher entgegen, der, die Baumstämme voller Flechten, Farnen und Moosen. Hirschrudel bereit zum Duell. durchstreiften die Wildnisse, Wölfe heulten und die Menschen waren ge- Der Zeitpunkt der Attacke hätte schlechter nicht gewählt sein können. schickte Jäger, kannten die eßbaren Pilze und entwickelten große Kunst- Ein Auto der Marke Vauxhall, das vor Beulen und Rost so sehr strotzte, fertigkeit in der Verarbeitung der wertvollen Hölzer, im Schnitzen, in der daß man die ursprüngliche Farbe seines Lacks nur noch erraten konnte Schreinerei und im Bau von Musikinstrumenten. Die Harfen der Barden

38 irland journal XXIX, 4.18 und Troubadoure waren von edlem Klang und weithin gerühmt, ebenso die Flöten. Dies änderte sich, als Ollie Cromwell mit seinen Truppen auf die grüne Insel übersetzte und ans Werk ging zwei Drittel der irischen Bevölkerung niederzumetzeln. Nachdem sich die Überlebenden des gro- ßen Schlachtens der englischen Krone unterworfen hatten, ging es den Wäldern an den Kragen. Die Engländer folgten dabei verschiedenen Über- legung. Zuerst einmal sollten den Zellen des Widerstands die Versteck- möglichkeiten genommen werden. Auch sollten die widerspenstigen See- len der Unterjochten gebrochen werden, indem man die Axt an die heili- gen Haine setzte. Und schließlich brauchten sie die Stämme der Eichen zum Bau von Schiffen, mit denen sie in die Welt hinaussegeln konnten, um in Übersee die Völker überfallen und ausbeuten zu können. Afrika, Indien und die Karibik lockten mit ihren Schätzen und Menschen, die es zu versklaven galt und man sah nicht ein, warum man dieses blutige Ge- schäft allein den Spaniern, Holländern und Franzosen überlassen sollte. Von Ulster bis Munster, von Leinster bis Conaught, Tag und Nacht ertön- te das Schlagen der Äxte. Was zum Schiffsbau nicht taugte, waren die trocken auf einem Bett aus Farnwedeln. Über einem lustigen Feuerchen knotigen Äste der Bäume. Sie landeten erst im Köhlermeiler und anschlie- dreht Heiko den Bratspieß, auf den er die Karkasse des totgefahrenen ßend in den Eisenhütten. Endlose Karawanen aus Eseln und Maultieren Fasans gespießt hat. Kopf, Gedärm und die Füße des Vogels ruhen sicher brachten die Holzkohle zu den Hochöfen, wo man das Erz schmolz um aufgehoben im Magen von Tiger, der sich zufrieden die Schnauze leckt daraus Kanonen zu gießen und Säbel und Gewehre zu schmieden. Der und mit faszinierten Hundeblicken jeder einzelnen Umdrehung des Brat- Reigen der Kolonisierung nahm seinen Lauf. Als die kalten Regenwälder spießes folgt. Ganz sicher werden am Ende ein paar der leckeren Röhren- Irlands verschwunden waren, hatten die Engländer längst die tropischen knochen für ihn abfallen. Die Schnapsflasche macht die Runde, Liam, Paddy Regenwälder und ihre tropischen Waldmenschen entdeckt, mit denen sie und Ian sind guter Dinge. Einzig Heiko macht ein betretenes Gesicht. Trotz ganz ähnlich verfuhren. der Lagerfeuerromantik hat Melancholie von ihm Besitz ergriffen. Liams Aufmerksamkeit entgeht dies nicht. Er setzt sich neben ihn und legt sei- nen Arm um die Schulter des Freundes. Warum er so traurig sei, will er Aus unerfindlichen Gründen hat ein kleiner Flecken irischer Ur- wissen. Hat er Heimweh? Vermißt er die heimischen Forste, die märki- wald das Gemetzel überlebt. Inmitten von abgeholzten Bergen, an denen schen Seen, den heimatlichen Klang deutscher Lieder und germanischer vielerorts der nackte Fels den sumpfigen Untergrund durchbricht, trot- Dialekte? Nein, entgegnet Heiko in holprigem Englisch, all dies bedeute zen die knorrigen Eichen den stürmischen Zeiten. Sie säumen einen See ihm nichts. Das ganze Deutschland mit Ost und West, mit CDU und SPD mit klarem Wasser und einigen hübschen kleinen Inseln, auf denen Kie- und Currywurst und grünem Pfeil und allem was sonst noch dazu gehö- fern wachsen und Heidekraut gedeiht. Im Abendrot schnellen Forellen re, könne ihm getrost gestohlen bleiben. Irland sei viel besser. Hier fühle aus der Wasseroberfläche auf der Jagd nach Fluginsekten. Auf dem Grund er sich pudelwohl. Ok, das Wetter. Aber das finde er eigentlich auch geil. läuft der Aal und nährt sich von Fischbrut und Kleingetier. Wolkenfetzen Wo sonst auf der Welt gäbe es schließlich ein so konsequentes Sauwetter. liefern sich am feuerroten Himmel ein Wettrennen. Zwischen dem grü- Das müsse man einfach genießen. nen Flaum der Baumkronen kräuselt sich sacht der Rauch eines Lager- feuers empor. Ein feiner Duft von geröstetem Kapaun liegt in der Luft. Einzig mit Toast komme er auf die Dauer nicht zurecht und wünsche sich Hier, an einem klaren Quell, lagern die vier Gefährten mit Tiger, ihrem manchmal den herzhaften Biß in ein mit Sauerteig gebackenes Roggen- Hund. Unter dem mächtigen Wurzelteller einer umgestürzten Eiche ha- brot. Nein. Daran liege es nicht. Vielmehr sei es Brenda, die ihm fehle. Seit ben sie ihre Schlafstatt errichtet. Eine grüne Plane aus gewebtem Plastik sie ihn verlassen hat, sind nun schon einige Wochen vergangen und mit schützt vor den Unbilden des Wetters. Ihre Schlafsäcke liegen weich und jedem weiteren Tag, der verstreiche würde das Loch in seinem Herzen

XXIX, 4.18 irland journal 39 größer und größer. Er habe sich einfach in dieses irische Wahlroß ver- lautet „kurwa“, das bedeutet Hure und ist das Lieblingskraftwort der liebt und vermisse sie sehr. Während er dies sagt rinnt eine Träne Heikos Polen. Die Verwaltung der Grafschaft hatte sich schwer damit getan, eine Wange hinab und verfängt sich in seinem nikotinvergilbten Schnauzbart. irische Gärtnerbrigade aufzutreiben, die bereit gewesen wäre, dem unge- Liam drückt seine Schulter. Paddy und Ian machen betretene Gesichter. liebten englischen Prinzen das Unkraut aus dem Weg zu räumen. Den Zwar ahben sie von ll dem höchstens die Hälfte verstanden. Doch die Polen war es egal. Prinz oder nicht Prinz – Stiefmütterchen waren hübsch Sache mit Brenda kapieren sie natürlich. Heiko reibt sich die Augen, reißt und eine gute Sache für Jedermann. Hauptsache man bekam abends sei- Ian die Poteenflasche aus der Hand und nimmt einen tiefen Schluck. nen Wodka, ein paar Salzgurken, in Öl eingelegte Sprotten und ein Stück „Was soll´s!“, ruft er, mit einem Mal wieder fröhlich geworden, auf Wurst. – Alles Dinge, die der polnische Laden im nahen Städtchen im An- Deutsch. „Schluß mit Herzschmerz. Jetzt gibt es Broiler! Ein König- gebot hatte, um das Heimweh der exilierten Landsleute auf einem erträg- reich für den, der mir verraten kann, was knusprig auf Englisch heißt!“ lichen Level zu halten. Auf der Straße steht neben dem Lieferwagen der polnischen Gärtner ein + + + Wagen der Garda geparkt. Ein Polizist überwacht aus gebührender Ent- fernung das Geschehen. Obwohl in den Baracken der Polizei gemunkelt wurde, daß die terroristische Gefahr so gut wie gebannt sei, geht man Nebelgeister streifen über Wiesen und Moore. Zwischen Weiden und lieber auf Nummer sicher. Zudem ist der Polizist Fergus O‘Mahoney eine Erlen fließt gluckernd der Fluß. Rund um den Gedenkstein des englischen Kraft, den die Kollegen im polizeilichen Alltag durchaus eine Weile ent- Lords, gerichtet von einem Kommando der IRA, ist emsig ein in gelbe behren können. Fröstelnd steht der Polizist in der kalten Morgenluft. Beim Warnjacken gekleideter Trupp Gärtner zugange. Gestrüpp wird kleinge- Atmen entweichen kleine Dampfwölkchen seinen Nasenlöchern. Seine häckselt, Grassoden ausgestochen, insgesamt der Gedenkstein freigelegt. Hände stecken in den Taschen seiner Uniformjacke. Er langweilt sich. Sodann wird Torf verteilt und zwei Männer machen sich kniend daran, Auf dem Asphlat der schmalen Straße nähert sich das Tapsen von vier dem Anlaß angemessene, dezente, lila und gelbe Stiefmütterchen in ge- Pfoten. Ein schnauzbärtiger Mann und ein struppiger Köter lösen sich schmackvollem Muster anzupflanzen. Ein Dritter beackert fieberhaft den aus den Nebelschwaden. Offensichtlich ein Spaziergänger. Endlich etwas Stein mit Stahlschwamm und Stahlbürste, bis unter Flechten und Moos Abwechslung denkt Fergus und bietet dem Ankömmling ein förmliches die gemeißelte Inschrift wieder sichtbar zu Tage tritt. Nieselregen strei- „Hello.“ chelt über die Gesichter der Männer. Sie sprechen einen weichen, slawi- „Hallo, hallo. Gut däy. Hau aar ju?“ schen Singsang. Jedes vierte oder fünfte Wort, das über ihre Lippen kommt „Not too bad. Could be worse.“ „Ju ständ hier all däy?“ „Yes, Sir. I am guarding the site. Tomorrow we expect the visit oft the Prince of Wales.“ „Ze Prinz Charles?“ „Indeed. Prince Charles will honor his dead uncle, Lord Hatnstephen, killed during the war for independence.“ „Ei know. Ei know. Zies Männer aar mei workers. Ei will talk tu zem.“ „Oh. I didn´t expect. Yes, of course. Go ahead.“ Die polnischen Gärtner packen gerade ihre Schaufeln, Hacken und He- ckenscheren zusammen, als Heiko mit Tiger im Fahrwasser auf sie zu gestapft kommt. „Dzieñ dobry! Czeœæ! Pracowaæ dalej. Kurwa. Weiterarbeiten Jungs! Immer wacker! Seht mal, was ich euch mitgebracht habe!“ Die mißtrauisch zusammengezogenen Augenbrauen der wettergegerbten Gesichter glätten sich, als Heiko den Poteen aus der Manteltasche zieht. „Hier. Das ist besser als jeder Wodka. Dobry. Dobry.“

40 irland journal XXIX, 4.18 Der Polizist inspiziert den klaren Restinhalt der etikettlosen Puddel in- dem er sie prüfend gegen das Licht des trüben Himmels hält. Er schraubt den Deckel ab und riecht am Flaschenhals. Das Ergebnis des Geruchs- tests scheint ihn zufrieden zu stimmen. Jedenfalls nimmt er die Flasche an die Lippen und läßt den Mini-Anstandsschluck, den die Polen übrig gelassen haben in seiner Gurgel verschwinden. Anschließend schnalzt er anerkennend mit der Zunge und reicht Heiko die nunmehr vollends leere Flasche zurück. „Excellent. Tastes almost like our good Irish poteen. God bless.“ „I can´t believe it“, entfährt es dem Späher aus der Ferne. Ian reißt ihm das Fernglas aus der Hand. „He made it! Good man!“ Aufatmend sehen die drei den Freund mitsamt dem Hund davonspazie- ren.

+ + +

Er trinkt einen Schluck und läßt die Flasche kreisen. Als sie wieder bei Der Abend dämmert bereits und Fergus O‘Mahoney sehnt das Ende ihm anlangt, ist sie leer bis auf einen Mini-Anstandstropfen. Die Polen seiner Schicht herbei. Er langweilt sich gewaltig. Was haben die Kollegen verfolgen beim Aus-der-Flasche-trinken eine Technik des Saugens, bei der sich bloß dabei gedacht, ihn hier den Sumpf bewachen zu lassen. Der Motor sie gnadenlos auf Unterdruck setzen. Sie klopfen Heiko auf die Schulter. des Dienstwagens läuft im Standgas. Das Gebläse der heizung spendet Heiko steckt die leere Flasche in seine Manteltasche, sagt: „Do widzenia. ein wenig Wärme. Ein Blick auf die Tankuhr bestätigt ihm, daß er noch Auf Wiedersehen. Tschüsi.“, und geht wieder. Etwas torkelig fahren die genug Benzin hat für mindestens eine weitere Stunde Wärme plus der Gärtner fort, ihre Geräte einzusammeln. Rückfahrt zur Wache. Jetzt, Stunden später, fordert der Schnaps des deut- schen Vorarbeiters der polnischen Gärtnerbrigade seinen Tribut und Fer- Was außer Heiko niemand weiß: Hinter einer Mauer aus Feldsteinen beo- gus´ Augenlider werden schwer. Er sinkt in einen sanften Schlummer – bachten sechs Augenpaare das Geschehen abwechselnd durch einen Feld- aus dem ihn ein Klopfen an die beschlagene Seitenscheibe jäh heraus- stecher. Gerade lichtet sich der Nebel etwas und die Sicht wird gut, als reißt. Es ist schon wieder dieser Deutsche. Er hält eine Gießkanne in die Heiko sich zum Gehen wendet. Paddy hält gebannt den Atem an und das Höhe und scheint ihn sprechen zu wollen. Statt des polnischen Lieferwa- Fernglas an die Augen gedrückt als Heiko ein zweites Mal an dem Polizis- gens steht jetzut ein klappriger, blauer Vauxhall am Straßenrand geparkt. ten vorbei muß. Der Betrieb evrfügt also über zwei Autos. Nun gut. Schlaftrunken drückt „Oh no! We are in trouble. The gard will find out about the poteen!“ Fergus den Fensterheber und fährt die Scheibe nach unten. „Excuse me, Sir. What is it, you have in your pocket there?“, fragt „Wie aar bäck. Wie forget water ze flauers. Änd polisch wörkers do Fergus als Heiko auf seiner Höhe ist. everyzing wrong. Typical. Nau Ei bring irisch wörkers. Dig aut flauers „Zis?“ and riarreynsch.“ Heiko zieht ein zweites Mal innerhalb von fünf Minuten die Flasche aus Auf das Wort „rearrange“ ist Heiko besonders stolz. Liam mußte es ihm der Tasche. ungefähr zehnmal wiederholen, ehe er es sich einprägen konnte. Fer- „Zis is schnaps vrom Dschörmeny.“ gus nickt nur. Den drei Männer, die dort mit Spaten und Gießkannen „Can I have a try. It´s awfully cold today.“ am Gedenkstein herumhantieren schenkt er keine Beachtung, ebenso Er reicht Fergus die Flasche. wenig wie dem großen Pappkarton, der halbverborgen hinter dem ver- „Oh. No. It´s over“, stöhnt Paddy hinter seinem Fernglas hervor. fluchten Stein steht.

XXIX, 4.18 irland journal 41 ren sitzen schlecht, die des Taoiseach und der Minister sitzen gut. Schlip- se flattern im aufkommenden Sturm. Hüte müssen festgehalten werden. Es regnet mal wieder vertikal. Der heulende Wind verwandelt Regenschir- me in Sparringspartner. Eine Gruppe von Reportern hat eine verdammt schwere Zeit, die Objektive ihrer Kameras trocken zu halten. Fergus O´Mahoney und ein paar Kollegen stehen in Grüppchen zusammen und sind vollauf damit beschäftigt so auszusehen, als wären sie Herren der Lage. Als die Wagenkolonne vorfährt spritzt der Matsch. Schwarze Jagu- are, Bentleys und ein Rolls Royce, in dem selbstverständlich der Prinz mit Camilla sitzt. Nachdem der eigene Vetter sich durch feigen Selbst- mord der drohenden Todesgefahr entzogen hat, mußte die Ehegattin ran. Die Litauer mit ihren Trompeten, Posaunen, der Trommeln und der Pau- ke legen los. Es sind gute Musiker. Aber irgendwie setzen sie bei Cockles and Mussles die Akzente falsch. Die gute Molly Malone kommt nicht rich- tig rüber. Es klingt unirisch. Wenigstens spielen sie anstandslos God Save the Queen. Das britische Protokoll hatte selbstverständlich darauf be- „Ju don´t want to kam, luk?“, fragt Heiko scheinheilig mit einem auf- standen und ebenso selbstverständlich hatten sich, obgleich die Iren ein fordernden Nicken Richtung Gedenkstein. Volk von Musikern sind, keine Musikanten gefunden, die es hatten spie- „No thankyou. I don´t want to get my shoes all muddy.“ len wollen. Die Engländer hatten im Vorfeld eine Abteilung blau-rot Uni- Er fährt die Scheibe hoch und klappt die Augenlider wieder runter. Zu- formierter der BAND OF HER MAJESTIE´S ROYAL MARINES angeboten, frieden geht Heiko zurück zu den Kumpanen und besieht das Loch, das was wiederum dem irischen Protokoll nicht gepaßt hatte. Englische Uni- sie gegraben haben. formen haben in Irland einfach nicht besonders viele Freunde. Die offizi- „Sehr gut. So. Und jetzt spielt ihr Drei mal Arbeiterdenkmal! Wörker elle Begründung hatte gelautet, daß die weißen Tropenhelme der Band monument.“ ungeeignet für das irische Klima seien. Deshalb also die Litauer. Er drapiert sie so, daß sie mit ihren Rücken die Grube vor eventuellen Blicke aus dem Polizeiauto abschirmen. Nach einem kurzen, prüfenden Während die Wagentüren der Begleitfahr- Blick ist er zufrieden mit ihrer Position und holt das blecherne Kleeblatt zeuge sich öffnen und Personenschützer und den Sprengsatz aus dem Karton hervor. Sorgfältig platziert er die mit Knöpfen in den Ohren ausschwär- kleine Bombe unter das Kleeblatt. Dann wird die Grube wieder mit Erde men, bleiben die Türen des Rolls Royce gefüllt. Als sie wegfahren winkt er dem Polizisten noch einmal zu. Doch vorerst geschlossen. Stoisch trotzen der winkt nicht zurück, weil er schläft. Charles und Camilla den Blicken der Men- ge. Sie sind Schemen hinter dunklen + + + Scheiben. Die Reporter setzen ihre Ka- meras in Aktion und starten das Filmen. „Darling, ich habe den falschen Hut an. Die Menge der Schaulustigen ist in Etwa so überschaubar wie ihr Ich kann nicht aussteigen.“ Jubel. Es ist nicht gerade so, als ob der Papst zu Besuch käme. Hier und Ihren Kopf ziert ein befiedertes schwar- dort wird verschämt ein kleiner Union Jack geschwenkt. Diese Fähnri- zes Monstrum, für das mehrere vom Aus- che geben sich damit als Engländer zu erkennen. Ein paar Iren halten sterben bedrohte Neuguineanische Para- tapfer die grün-weiß-orange Trikolore dagegen, schwenken sie aber nicht. diesvögel ihr Leben lassen mußten – ein Der Taoiseach, mehrere Minister und eine Reihe lokaler Persönlichkeiten klarer Verstoß gegen das Washingtoner und Honoratioren warten in Reih und Glied. Die Anzüge der Honoratio- Artenschutzabkommen.

42 irland journal XXIX, 4.18 „Ich verstehe. Dann bleib sitzen. Damn. Was tut man nicht alles für diesem Moment ertönt auch ein lauter Knall. Das Erdreich tut sich auf. eine Krone, die am Ende doch nicht kommt.“ Das stählerne Kleeblatt schnellt empor und trennt den prinzlichen Kopf Prince Charles gibt dem im Regen wartenden Beifahrer einen Wink. Die glatt vom Oberkörper des Vorgebeugten. Gleichzeitig reißt die Wucht der Türe wird geöffnet und er tritt ins Freie. Das Raunen der kleinen Menge Explosion den Kopf hoch hinauf in die Lüfte. Obwohl sein Kopf bereits geht unter im Klatschen der Regentropfen, die auf seine Schirmmütze vom Rumpf getrennt ist, reißt Prinz Charles erstaunt den Mund auf und prallen. Er schreitet auf die völlig durchnäßte Gruppe der Honoratioren starrt ungläubig in eine trudelnde, schleunig sich verdüsternde Welt. zu und beginnt mit dem Händeschütteln. Eine Arbeit, die er zwar immer Die Münder der Honoratioren, der Minister, des Taoiseach, der Schaulus- verabscheut hat und doch stets mit royalem Lächeln bewältigt – selbst tigen, der irischen Polizisten und auch der königlichen Leibwächter for- an einem Tag wie diesem. Jetzt kommt der Kranz an die Reihe. Zwei Män- men ein stummes O, während ihre Gesichter gen Himmel gewandt sind. ner in Zivil überreichen ihn. Das Haupt des Thronerben beschreibt eine perfekte Parabel, scheint auf „Was bilden sich diese Paddyboys eigentlich ein, sich wegen unserer deren Höhepunkt einen kurzen und dennoch unfaßbar lang wirkenden Uniformen so anzustellen?“, fragt sich der Prinz. Nur er als einziger Moment in der Luft stehen zu bleiben, bevor es sich den Gesetzen der durfte angesichts des militärischen Charakters des Gedenkanlasses auch Schwerkraft unterwirft und gen Erdboden fällt. Ein Erdboden, übrigens, militärisch bekleidet antreten. Zwischen Stiefmütterchen geht es auf der mit menschlichen Leibern bedeckt ist. Schon recken sich die ersten frisch gestreutem Kies Richtung Memorial Stone. Arme in die Höhe, um wie im Fußballstadion das fliegende Rund gleich- In der Menge der Schaulustigen wirft ein Mann mit schlechten Zähnen zeitig abzuwehren und in Empfang zu nehmen. Am Ende der hohen Flug- einem anderen Mann, der neben ihm steht und dessen Gesicht ein Schnauz- bahn landet der Kopf des schönen Charly in den Armen von Heiko. Der bart ziert, einen bedeutungsvollen Blick zu. Zwei weitere Männer mit packt automatisch zu mit seinen Ostdeutschen Proletenpranken, kriegt ebenfalls schlechten Zähnen, in Regenkleidung tun auffällig uninteressiert eins der prinzlichen Segelohren mit den Fingern zu fassen und hat den und halten den Atem an. Die Personenschützer haben ihre Augen überall. Kopf fest und sicher in beiden Händen. Die Welt steht still. Dann durch- Auch die Männer mit den schlechten Zähnen sind ihnen schon aufgefallen. fährt das Wort „Keltenfußball“ Heikos Kopf und er rennt los. Doch dieser Blick entgeht ihnen ebenso wie das unauffällige Zücken des Handys, das der Schnauzbärtige auf einmal in den Händen hält. Nur noch Ende wenige Schritte trennen den Prinzen vom Stein. „Jetzt“, denkt Heiko und © Timm Koch 2018 drückt auf die grüne Hörertaste. Das Display signalisiert, daß der Anruf abgeht. Das Handy tutet leise. Aber sonst passiert nichts. Vom gleichen Autor: „Zwei Tote in einem Sarg“ vereint kraftvolle Geschichten vom un- „Ze signal. Ze earth. Ei go closer,“ raunt Heiko in Liams Ohr. Er drückt angepassten Leben und Sterben in Irland. Timm Koch erzählt in fil- die rote Taste, läßt das Handy unauffällig wieder in der Jackentasche mischer Sprache von wahren Begebenheiten. Dokumentarisch, hart, verschwinden und schiebt sich durch die Menge nach vorne. Diese Bewe- fast distanziert ist dieser Stil, doch das Geschilderte ist so herzzer- gung fällt den Bodyguards auf. Aber noch hält Heiko den Sicherheitsab- reißend, aufwühlend, abstoßend, ein anderes Mal begeisternd und verblüffend, dass wir uns nie sicher sein können, ob und wann stand. Der Prinz steht vor dem Stein, hält den Kranz in beiden Händen Timm Koch uns aus der Sicherheit unseres Lesesessels wirft. Der Autor und verharrt. In der Jackentasche tastet Heikos Daumen nach der Hö- versammelt in diesem Band auch die Storys und Reportagen, die rertaste, als er auf einmal Inne hält. In der Menge hat er ein Gesicht zuerst hier im Magazin irland journal veröffentlicht wurden. Na- entdeckt, das ihm bekannt vorkommt. „Das kann doch nicht…“, fährt türlich gibt es aber auch jede Menge neue. es ihm durch den Kopf. Doch. Ganz sicher. Sie ist es. Um ein Haar hätte er Zwei Tote in einem Sarg – lauthals Brenda gerufen. Sie sieht ihn an; kühl, mit dem Hauch eines Lä- von Timm Koch; chelns um ihre hübschen, vollen Lippen. Hardcover, 116 Seiten, 12,00 € „Das muß jetzt warten, bis später“, murmelt er verwirrt vor sich hin, Best.-Nr. 1918532 als er das Handy erneut hervorholt und ein zweites Mal auf die grüne im www.irish-shop.de Hörertaste drückt. Es beginnt genau in dem Augenblick zu tuten, als der Prinz sich nach vorne beugt, um den Kranz niederzulegen. Und in genau

XXIX, 4.18 irland journal 43 Insel Immergrün Irlands fiese Fichten von Timm Koch

Irland wird zu einem Nadelwald: diese gebirgigen Küstenregionen sind Der Staatskonzern COILLTE ver- biologisch sehr wertvoll: Hochmoore fin- folgt ein gigantisches Auffors- den sich genauso wie Heidegebiete, die tungsprogramm und pflanzt fast durch die Schafzucht entstanden sind. nur Sitka-Fichten, die an der nord- Seltene Arten sind dort zuhause wie amerikanischen Pazifikküste hei- etwa die fleischfressende Pflanze Son- misch sind und die irischen Hoch- nentau, Orchideen oder das Moor- moore zerstören. Allein in diesem schneehuhn. Diese dünn besiedelten Pa- Jahr werden etwa 6.000 Hektar radiese werden nun rücksichtslos mit neu aufgeforstet. In ganz Irland den Sitka-Monokulturen bepflanzt. Die- sind bereits rund 3.500 Quadratki- se Baumplantagen sind keine normalen lometer von der Sitka-Fichte be- Wälder, sondern dienen allein der indus- deckt. triellen Holzgewinnung. Um die Profi- te zu maximieren, wird auf die kosten- Dem Staatskonzern COILLTE gehören 7 intensive Durchforstung verzichtet. Prozent der Fläche Irlands. Doch nicht Ohne Luft und Licht haben aber andere nur der Staat, auch private Eigentümer Arten keine Chance, auf den Sitka-Flä- haben die Fichte entdeckt, um die iri- chen heimisch zu werden. Die Bäume schen Moore in Cash zu verwandeln. stehen daher viel zu dicht beieinander, Dabei können sie auf europäische Gel- was wiederum den Borkenkäfer begüns- OBEN: Moderne Landwirtschaft trifft der hoffen: 2017 beschloss die Europä- Forstwirtschaft tigt. Um ihn in Schach zu halten, wird ische Investment Bank, über 200 Millio- UNTEN: Monokultur frißt Magerrasen massenhaft das Insektengift Cypermeth- nen Euro in die irische Forstwirtschaft rin eingesetzt. zu investieren. Innerhalb von zehn Jah- Umweltschützer sind entsetzt. Denn die ren sollen die Sitka-Forste 17 Prozent der heimische Artenvielfalt wird zerstört. Cypermethrin wird vom Forest Stewart- Landesfläche bedecken. Derzeit sind es Geologen nennen Irland „die Suppen- ship Councel (FSC) als „hochriskant“ ein- 11 Prozent. schüssel“, weil es in der Mitte flach und geschätzt wird. Das umstrittene Label an den Rändern bergig ist. Vor allem FSC zertifiziert „nachhaltige Forstwirt-

40 irland journal XXIX, 4.18 lingen zu einem schnelleren, weil kon- kurrenzfreien, Wachstum zu verhelfen. Derweil schaltet die irische Regierung auf stur. Vom Landwirtschaftsministeri- um kam auf die Anfrage der Woodland League nur ein Brief, die Forste seien ohne Cypermethrin „nicht überlebens- fähig“. Das Ministerium konnte mit ei- nem Gutachten aufwarten, das überprü- fen sollte, ob Cypermethrin in forstna- hen Gewässern auftritt. Das Ergebnis schien Entwarnung zu versprechen: Aktivist Andrew St. Ledger

Die schlecht gepflegten Sitka-Fichten lie- fern so schlechtes Holz, dass es nur für Pressspan oder Papier taugt. Oft knicken die Bäume um, noch bevor sie ausge- wachsen sind: Durch den Klimawandel nehmen die Stürme in Irland zu, und den

Wald mit Stacheldraht Windstößen haben die Sitka-Plantagen wenig entgegenzusetzen. Im Jahr 2015 schaft“. Trotzdem gab der FSC im März wurden in einer einzigen Stunde über 2016 COILLTE zum dritten Mal in Folge eine Million Bäume durch einen Orkan eine Ausnahmegenehmigung, das Cy- umgestürzt. Andrew St. Ledger emp- permethrin für weitere fünf Jahre zu fiehlt daher, dass Irland zu den heimi- verwenden. Der irische Umweltaktivist schen Eichenwäldern zurückkehren soll- Andrew St. Ledger von der Woodland te, die noch im 17. Jahrhundert weite League fordert seit Jahren, auf dieses Teile der Insel bedeckten. Gift zu verzichten. In seinen Augen ist der FSC kein Öko-Siegel, sondern eine Dem gelernten Holzbildhauer und Mö- „Grünwaschanlage“ um die „Öffentlich- beltischler ist es unmöglich, seinen Kahlschlag keit zum Narren zu halten“. Hinter dem künstlerischen Bedarf aus einheimischen „hohlen Schild“ des FSC „gehen die Ma- „Vorkommen nicht nachweisbar.“ Harthölzern zu decken. Irland ist, an der chenschaften der Forstkonzerne ihren Allerdings wurde die Studie von COILL- Einwohnerzahl gemessen, der größte gewohnten Gang“. Als weiteren Beleg TE selbst erstellt. Unabhängige Experti- Importeur von Harthölzern in der EU. für seine These führt St. Ledger den sen gibt es nicht, trotz der Klagen der Diese stammen zum großen Teil aus tro- Gebrauch des Unkrautvernichters Gly- Anwohner der ländlichen Regionen, die pischen Regenwaldregionen. phosat an, mit dem die Heidevegetati- ihr Trinkwasser überwiegend aus priva- on abgetötet wird, um den Sitka-Setz- ten Brunnen beziehen müssen.

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