Siegfried Höfling / Felix Tretter (Hrsg.)

Homo neurobiologicus

Ist der Mensch nur sein Gehirn?

Argumente und Materialien 87 zum Zeitgeschehen

www.hss.de Siegfried Höfling / Felix Tretter (Hrsg.)

HOMO NEUROBIOLOGICUS

Ist der Mensch nur sein Gehirn?

Impressum

ISBN 978-3-88795-421-5 Herausgeber Copyright 2013, Hanns-Seidel-Stiftung e.V., München Lazarettstraße 33, 80636 München, Tel. 089/1258-0 E-Mail: [email protected], Online: www.hss.de Vorsitzender Prof. Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair, Staatsminister a.D., Senator E.h. Hauptgeschäftsführer Dr. Peter Witterauf Leiter der Akademie für Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser Politik und Zeitgeschehen Leiter PRÖ / Publikationen Hubertus Klingsbögl Redaktion Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser (Chefredakteur, V.i.S.d.P.) Barbara Fürbeth M.A. (Redaktionsleiterin) Susanne Berke, Dipl. Bibl. (Redakteurin) Claudia Magg-Frank, Dipl. sc. pol. (Redakteurin) Marion Steib (Redaktionsassistentin) Druck Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Hausdruckerei, München

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INHALT

05 HOMO NEUROBIOLOGICUS: DAS MENSCHENBILD DER HIRNFORSCHUNG Einführung Siegfried Höfling / Felix Tretter

09 GRUNDGEDANKEN ZUM MENSCHENBILD DER NEUROWISSENSCHAFTEN – DER „HOMO NEUROBIOLOGICUS“ Felix Tretter

13 NEURO-KOMMUNIKATION AM BEISPIEL DER FUNKTIONELLEN MAGNETRESONANZTOMOGRAPHIE Stephan Schleim

21 NEUROPHILOSOPHIE ALS THERAPIE? Eine kritische Anmerkung Georg Northoff

29 ICH UND MEIN GEHIRN Zum Erklärungspotenzial der Identitäts- und Supervenienztheorien Uwe an der Heiden

35 DAS VERKÖRPERTE SELBST UND MENTALE VERURSACHUNG Thomas Buchheim

43 ZUR BEDEUTUNG DES BEGRIFFS „ICH“ IN DER PSYCHIATRIE Christine Grünhut

51 DAS VERHÄLTNIS VON EMOTION UND KOGNITION AUS SICHT DER HIRNFORSCHUNG Andreas Draguhn

59 DETERMINISMUS UND ZUFALL IN DER NEUROPHYSIOLOGIE – DIE FRAGE DES FREIEN WILLENS Hans A. Braun

71 NEUROWISSENSCHAFT UND MATHEMATIK Grundbegriffe, Skalen und Allgemeingültigkeit J. Leo van Hemmen

83 EINE EINLADUNG ZUR NEUROPHILOSOPHIE David Köpf / Matthias Munk

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 3

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HOMO NEUROBIOLOGICUS: DAS MENSCHENBILD DER HIRNFORSCHUNG

Einführung

SIEGFRIED HÖFLING / FELIX TRETTER |||||

Der zweite Teil der Menschenbildtagungen der Philosophie Griechenlands, vor allem bei Platon Hanns-Seidel-Stiftung beschäftigte sich am 21. und und Aristoteles, liegen und die ihre Fortsetzung 22. Juni 2012 mit der Relevanz eines durch die vor allem bei Kant, aber auch bei Schopenhauer, Hirnforschung geprägten Menschenbildes. Nietzsche, Scheler, Husserl, Plessner und Gehlen Das Menschenbild, das unsere westliche Zivi- finden. lisation bestimmt, stammt aus den Geisteswissen- Demgegenüber haben die Neurowissenschaften schaften. Es geht davon aus, dass die Person ein in den letzten Jahren einen Erklärungsanspruch Subjekt ist, das erleben kann und mit Bewusst- für den Menschen angemeldet: Der Mensch sei sein ausgestattet ist, das in der Lage ist, seinen nichts anderes als ein Gefüge von Neuronen, ein Willen selbst zu bestimmen und auszuüben. Die Ich gebe es nicht, das Bewusstsein sei nur ein Freiheit des Willens besteht auch in der Wahlfrei- wirkungsloses Produkt des Gehirns wie das Pfei- heit, sich gegenüber der Umwelt unterzuordnen fen einer Dampflokomotive, eine freie Willensbe- oder sich zu widersetzen. stimmung sei nicht gegeben, es sei alles eindeu- Dementsprechend handeln wir aus Überle- tig vorbestimmt, der Mensch könne sich seinen gungen, die Gründe für das Handeln ergeben, die physikalischen und chemischen Grundlagen nicht zwar beeinflusst werden von Kontexten, nicht entziehen, alles was er mache sei durch Verschal- jedoch direkt von physikalischen Ursachen (z. B. tungen seiner Nervenzellen fixiert. Das Gehirn Ampel auf Grün), denn die müssen erst soziokul- sei somit der Verursacher von Handlungen. turell über Regeln vermittelt, geistig repräsentiert Solche provokanten Skizzen eines Menschen- und verarbeitet werden („Losfahren“). Die Person bildes wurden im Rahmen einer multidisziplinären weist darüber hinaus eine innere seelische Struk- Diskussion auf unseren zwei Tagungen unter- tur auf, deren funktionelles Zentrum im Selbster- sucht. Neben Vertretern aus den Neurowissen- leben bzw. dem personalen Selbst besteht. Das schaften nahmen Experten aus der Philosophie, heißt aber nicht, dass es einen zentralen Ort im der Medizin, der Physik, der Biologie, der Psycho- Gehirn dafür gibt. Bedeutsam für das Menschsein logie und der Mathematik teil. ist die Rolle der Sprache, die Erfahrung von Be- Bei der äußerst regen und anregenden Dis- deutung und der Sinn, der über dem reflexhaften kussion zeigte sich, dass viele Phänomene in der und automatisierten Verhalten steht. Letztlich ist Neurowissenschaft – auch in den klinischen Dis- die Person als Subjekt unhintergehbar als Träger ziplinen – durch ihren experimentellen Aufbau des Intersubjektiven, was letztlich auch erst die zwar Gehirnphänomene genauer bestimmen las- Wissenschaft ermöglicht. Ein derartiges Men- sen, aber dass dabei durch die notwendige Aus- schenbild ist seit der Aufklärung Basis unserer grenzung möglichst vieler Variablen eine Über- Sozial- und Rechtsordnung. Es beruht auf Arbeiten tragung der Befunde in die reale Alltagswelt sehr aus der Philosophie, deren Wurzeln in der antiken problematisch ist. Das wird bei Experimenten zum

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 5 SIEGFRIED HÖFLING / FELIX TRETTER

freien Willen deutlich, bei denen es meist nur um zu sein, unabhängig davon, ob Geistiges und die willkürliche Auslösung von vorinstruierten Körperliches „wirklich“, also ontologisch zwei Bewegungen (z. B. Fingerbewegung) innerhalb unterschiedliche Wesenheiten sind. Letztlich ist eines Zeitfensters und nicht um Entscheidungen davon auszugehen, dass Willensakte – wie etwa wie Berufs- oder Partnerwahl geht. Auch sind die heiraten zu wollen – strukturierte und gestufte von der Neurobiologie experimentell oder in der komplex vernetzte Prozesse sind. Klinik erhobenen Daten maschinell generiert und In dem hier vorgelegten Tagungsband werden werden über mehrere datenanalytische Ebenen einige dieser Aspekte vertieft dargelegt. So geht der verarbeitet, bis sie in Form von Indizes oder Neurophilosoph und Psychologe Stephan Schleim Quoten oder Raten es erlauben, die quantitativen grundlegend der Frage nach, wie die Befunde der Verhältnisse im Gehirn darzustellen. Sie werden Naturwissenschaften kommuniziert werden. Viele dann häufig über Farbcodes in Hirnbildern visua- Probleme in der Geistesgeschichte zur Frage da- lisiert, wobei bereits deren Ästhetik eine besondere nach, was der Mensch ist, und zwar im Hinblick Glaubwürdigkeit der Befunde suggeriert. Daher auf das Geistige, werden heute durch die Neuro- sind diese Daten in hohem Maße Konstruktionen biologie als unpassend dargestellt. Bei genauerer der Forschung und nicht einfach Entdeckungen Analyse zeigt sich, dass eine Vielzahl von Ver- von Verborgenem. Auch theoretische Aussagen, fälschungen, unzulässigen Vereinfachungen und wie „Verschaltungen legen uns fest“, sind nicht Überzeichnungen der neurowissenschaftlichen nur subjektiv falsch, sondern auch mit der objek- Befunde erfolgen. Zwar sind im interdisziplinären tiven Erfahrung nicht gut vereinbar, insofern wir und insbesondere im transdisziplinären Gespräch bekanntlich lernen können. Und dass das Hirn mit Laien Vereinfachungen, aber auch nur hypo- auch lernt, lässt sich sogar neurowissenschaft- thetische Verallgemeinerungen unumgänglich, man lich durch das ständige Wachstum von „Spines“, bekommt aber den gut begründeten Eindruck, also kleinen Dornen an den Kontaktstellen zu an- dass die „Neurokommunikation“ auch einem deren Nervenzellen, nachweisen. Lernen bedeutet „Neuromarketing“ dient: Forscher werden von den aber, nicht a priori festgelegt zu sein. Managern ihrer Institutionen nach der öffentli- Das einfache Konzept der Hirnforschung, geis- chen Repräsentanz ihrer Forschungsergebnisse tige Funktionen im Gehirn zu lokalisieren, ist beurteilt. Interviews in angesehenen Massenme- daher revisionsbedürftig, denn Befunde aus der dien rechtfertigen Relevanz und somit die Allo- klinischen Neurologie und Psychiatrie legen eher kation von Ressourcen für die Forschung. ein Netzwerkkonzept nahe. Damit ist auch das Der Psychiater und Philosoph Georg Northoff Selbst, wie Kierkegaard es ausdrückte, als Ver- stellt in seinem Aufsatz anheim, dass die Erkun- hältnis, das im Verhältnis zu sich selbst steht, als dung des Gehirns kein einfaches Projekt ist, etwa verzweigte und vernetzte neuronale Struktur zu indem man irgendwelche experimentelle Bedin- konzipieren, innerhalb derer neurale Prozesse zir- gungen im Labor herstellt und die damit verbun- kulär ablaufen. Die Unhintergehbarkeit des Geis- denen Gehirnzustände registriert und daraus tigen, des Erlebens von Farbe (Qualia), also die ableitet, dass auf diese oder jene Weise das Be- Qualität des Erlebens, des Bewusstseins, die per- wusstsein zustande kommt. sonale Betroffenheit und letztlich Werte, sie alle Eine vertiefende und doch knappe Übersicht sind nicht in den Kategorien der gegenwärtigen über das Gehirn-Geist-Problem aus philosophi- Physik in Skalen von Kilogramm, Meter und Se- scher Sicht wird von dem Mathematiker und kunden erfassbar und vielleicht auch nicht prin- Philosophen Uwe an der Heiden vorgelegt. Es zipiell den Methoden der Physik zugänglich. Die werden Versuche aufgezeigt, Konstruktionen zu Konzepte zur Verursachung geistiger Phänomene finden, die die geringste Widersprüchlichkeit zu sind deshalb zu einfach: Es ist nämlich ungeklärt, wichtigen zentralen Fragen dieser Debatte auf- wie aus Materie Geistiges entstehen kann. weisen. Insgesamt erscheint die Dualität von Geistigem Detaillierter auf das Dualismus-Problem ein- und Körperlichem zumindest aus pragmatischer gehend setzt sich der Philosoph Thomas Buch- bzw. methodischer Sicht, also etwa im Umgang heim mit dem Konzept des verkörperten Selbst mit Menschen als geistige Wesen, unumgänglich auseinander, das als Grundkonzept der neueren

6 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 HOMO NEUROBIOLOGICUS: DAS MENSCHENBILD DER HIRNFORS C H U N G

Phänomenologie des Geistes aufgefasst werden tik zur Erklärung neurobiologischer Phänomene könnte. Herr Buchheim stellt diese Perspektive hat. Diesem Thema widmet sich der theoretische dar, die erkennen lässt, dass eine von manchen Neurophysiker Leo van Hemmen, der zeigt, dass Neurobiologen intendierte Reduktion des Geisti- eine Ko-Evolution einer geeigneten Mathematik gen auf das Gehirn nicht vollständig gelingen parallel zur Entwicklung theoretischer Konzepte dürfte, da es einige hartnäckige Probleme der in der Neurobiologie erforderlich erscheint, so Philosophie des Geistes gibt, wie das Qualia-Pro- ähnlich, wie es Newton in der Physik gelungen blem und die Intentionalität, also das Auf-etwas- ist. Numerische Berechnung neuraler Prozesse gerichtet-sein des Bewusstseins. Herr Buchheim alleine bringt vermutlich nicht den Durchbruch in erörtert die Ich- und Selbst-Differenzierung und der theoretischen Neurowissenschaft. konzentriert sich auf das Problem der mentalen Abschließend erfolgt durch den Neurobiolo- Verursachung, das heute in der Philosophie des gen Matthias Munk und dem Physiker David Köpf Geistes noch nicht gelöst ist. Er vertritt letztlich anhand einiger Beispiele zur Neurobiologie und die Auffassung, dass ein dualistischer Standpunkt klassischer Themen der Philosophie eine kritische nicht ungerechtfertigt ist. Beleuchtung des Wechselspiels zwischen Philo- Die Psychiaterin Christine Grünhut versucht sophie und Naturwissenschaft. In ihrem Résumé anhand einer Anwendung in der Psychiatrie, näm- laden sie zu einem kontinuierlichen Dialog zwi- lich der Psychopathologie der Schizophrenie, die schen Philosophie und Neurowissenschaft in Form Bedeutung des Konstrukts Ich bzw. Ich-Erleben einer „Neurophilosophie“ ein, was ganz in der In- für das Verstehen der äußerst komplexen und tention der Veranstalter liegt. heterogenen Symptomatik der Schizophrenie zu Als Fazit ist festzustellen, dass die Neurowis- erläutern. Dabei stützt sie sich auf die Ich-Psycho- senschaften dringlich die Beschränkungen ihrer pathologie von Christian Scharfetter. Frau Grün- Methoden reflektieren müssten und demgemäß hut zeigt, dass es – zumindest derzeit – nicht auch bescheidener im interdisziplinären Diskurs sinnvoll und möglich ist, dieses Konstrukt zu und vor allem gegenüber der Öffentlichkeit und eliminieren, wie es einige Neurophilosophen for- der Politik auftreten müssten. Ein Grund, unsere dern. Die Neurobiologie hat auch noch keine um- geisteswissenschaftlich fundierte Sozial- und fassende Erklärung, wie schizophrene Episoden Rechtsordnung völlig umzustrukturieren, besteht kausal entstehen. nicht, wenngleich viele Ergebnisse der Neurobio- Der Neurobiologe Andreas Draguhn legt den logie zum Überdenken traditioneller Ansichten Stand der neurobiologischen Erforschung von anregen. Eine der wichtigsten Konsequenzen der Kognitionen und Emotionen in Grundzügen dar. Tagung besteht in der breit getragenen Überzeu- Er betont dabei, dass zu beachten ist, dass das gung, dass eine Institutionalisierung eines konti- Gehirn ein Organ des Organismus ist, der in einer nuierlichen interdisziplinären Gesprächs zwischen Umwelt eingebettet ist. Neurobiologie, Psychologie, Psychiatrie, System- Ein weiteres klassisches Thema der Gehirn- forschung, Physik, Mathematikwissenschaften Geist-Debatte greift der Neurobiologe Hans Braun und vor allem der Philosophie etwa in Form einer kritisch auf, nämlich die Willensfreiheit, die es speziellen „Neurophilosophie“ eingerichtet wer- nach Ansicht einiger Neurobiologen wie Gerhard den muss. Roth und Wolf Singer nicht gibt und die nur eine Selbsttäuschung des Subjekts sei, weil das Gehirn ||||| PROF. DR. SIEGFRIED HÖFLING entscheide. Herr Braun legt dar, dass die zufallsver- teilte Öffnung und Schließung von Ionenkanälen Referent für Technologie, Medien und Kultur, die Basis der neuralen Informationsverarbeitung Jugend und Gesundheit, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München ist und dass daher die Idee eines durchgängigen Bottom-up-Determinismus von der Zellmembran bis zum Erleben und Verhalten empirisch nicht ||||| PROF. DR. DR. DR. FELIX TRETTER haltbar ist. Dep. Psychologie, Ludwig-Maximilians-Universität Eng damit verknüpft ist die Frage an die theore- München, kbo-Isar-Amper-Klinikum München Ost, tische Neurobiologie, welche Rolle die Mathema- Chefarzt, Kompetenzzentrum Sucht, Haar

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GRUNDGEDANKEN ZUM MENSCHENBILD DER NEUROWISSENSCHAFTEN – DER „HOMO NEUROBIOLOGICUS“

FELIX TRETTER |||||

Der Optimismus der Naturwissenschaften geht Techniken der Hirnforschung angereichert in die heute so weit, dass er beansprucht, unsere ge- Massenmedien und von dort in das öffentliche samte Welt in ihrer Struktur und in ihren Prozes- Bewusstsein transportiert worden. Viele Leser von sen zutreffend erklären zu können. Dies betrifft Wissenschaftsmagazinen sind seit Jahren davon auch die Erklärbarkeit des Menschen, der vor al- fasziniert und beteiligen sich mit Interesse, Er- lem, aus der Sicht der Neurobiologie, als Wesen staunen, aber auch mit Ängsten an diesen mas- begriffen wird, das in seinem Erleben und Verhal- senmedialen Nachrichten aus der Neurowissen- ten durch sein Gehirn vollständig bestimmt ist. schaft. Mit dieser Naturalisierung als Wissenschaftspro- Auch der Blick in die Fachjournale zeigt, dass gramm wird das Geistige auf das Gehirn reduziert jedes Mal im letzten Abschnitt der Texte solcher und zwar so, dass behauptet wird, die sogenann- Publikationen unter der Rubrik „Ausblick“ / „Kon- ten „mentalen Begriffe“ wie das Bewusstsein, die sequenzen“ behauptet wird, dass mit diesen For- Wahrnehmung, das Denken, die Gefühle, aber schungsergebnissen „wichtige Beiträge“ für das auch das Ich und das Selbst durch hirnbiologische „Verständnis“ von psychischen Erkrankungen er- Begriffe wie Gamma-Oszillationen (Erkennen) bracht worden sind und das Aussicht besteht, auf oder präfrontaler Kortex (Planen, Aufmerksamkeit, diese Weise zu einem späteren Zeitpunkt „bessere“ Arbeitsgedächtnis) ersetzen zu können. Zwar hat Therapieverfahren bereitstellen zu können. die Neurobiologie viele neue Einsichten in solche Diese optimistische Selbstbewertung der Neu- Prozesse und Strukturen des Gehirns gebracht, die rowissenschaft, die seit ungefähr 20 Jahren in bei mentalen Prozessen und Zuständen beteiligt immer stärkerem Ausmaß zu verzeichnen ist, hat sind, die klinische Relevanz ist jedoch nicht un- viele Philosophen auf den Plan gerufen, die diese mittelbar zu erkennen, sondern sie muss in vielen Aussagen kritisieren. In besonderem Maße wird Fällen erst in die Zukunft verlagert werden. dabei in Frage gestellt, inwieweit das Geistige Dieser Optimismus spiegelt sich auch in dem nur als Eigenschaft des Gehirns angesehen wer- Manifest der Neurowissenschaften, die 2004 den kann, und dass das, was wir in unserer Kultur versprochen haben, dass wir bald auf die Person als spezifisch für den einzelnen Menschen anse- zugeschnittene Medikamente haben werden (per- hen, nämlich das individuelle personale Selbst, sonalisierte Medizin) und dass wir die wichtigs- nur ein wirkungsloses Produkt des Gehirns sein ten psychischen Phänomene im Hinblick auf ihre soll, das sogar das Gehirn nicht weiter beeinflus- gehirnbiologische Basis verstanden haben wer- sen könne. Die Philosophen, die sich speziell mit den.1 Dieser Optimismus ist mit vielen anschau- diesem Themenkreis beschäftigen, kommen aus lichen Bildern aus dem Bereich der modernen dem speziellen Bereich der Philosophie des Geis-

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 9 FELIX TRETTER

tes, so dass viele traditionelle Konzepte, die die philosophisch-methodologisch reflektiert werden. Existenz von etwas Geistigem anerkennen, wieder Dazu ist natürlich eine besondere Expertise des in Erinnerung gerufen werden, aber auch zum Philosophen gefragt, insofern er auch die neuro- Teil wegen den Reduktionsansprüchen von Seiten wissenschaftlichen Methoden und Ergebnisse und der Neurowissenschaften neu definiert werden die darauf aufbauenden Interpretationen wissen- müssen. schaftstheoretisch bewerten können muss. Des- Darüber hinaus ist auch festzustellen, dass halb wird von einigen Autoren, und auch von uns, ein großer Teil der Philosophen sich diesem ma- der Aufbau einer sogenannten „Neurophilosophie“ terialistischen Menschenbild anschließen, dass gefordert. Unabhängig davon ist jedoch eine der Mensch in seiner Individualität, seiner Sub- klassische wissenschaftsphilosophische Betrach- jekthaftigkeit und seinem Bewusstsein mit dem tung sinnvoll: Alle Experimente der Neurobiolo- Gehirn gleichzusetzen ist. Wenngleich damit über- gie, die Aussagen zu den physischen Grundlagen einstimmend unser heutiges medizinisches Wis- des Psychischen treffen, können zunächst nur sen besagt, dass es ohne Gehirn kein Bewusst- Korrelationen zwischen psychologischen und phy- sein gibt, so kann man auch feststellen, dass das siologischen Befunden herstellen. Dabei ist nicht Gehirn alleine auch nicht reicht, eine Bewusstsein zu vergessen, dass auch die psychologischen zu haben: Viele Menschen wurden im Rahmen Experimente Konstrukte aus der Alltagswelt, wie von neurologischen Untersuchungen weltweit ge- beispielsweise die Willensfreiheit, in einen experi- funden, die nur ein minimal ausgeprägtes Gehirn mentellen Rahmen überführen müssen, der einer- aufweisen, jedoch in ihrem psychischen Funktio- seits die Präzisierung dieser Konstrukte ermög- nieren intellektuell wie auch emotional und sozial licht, andererseits aber auch den Rückbezug zum weitgehend unauffällig sind. Es handelt sich dabei Ausgangsphänomen (Willensfreiheit) nahezu ka- um Menschen, die im Gehirn einen sehr hohen rikiert. Anteil an Hirnhohlräumen mit Nervenwasser (Li- Das allerdings ist ein grundlegendes Dilemma quor) haben, und zwar von Geburt auf, so dass der psychologischen Forschung. Auch ist zu be- sich das Gehirn nicht in seiner typischen Weise denken, dass die Hirnforschung methodisch noch entwickeln konnte. nicht so weit ist, dass sie zu jedem Zeitpunkt mit Außerdem muss man sich auch klar machen, Sonden alle Orte des Gehirns mit ihrem Aktivi- dass der Ausdruck „Geistiges“ unterschiedliche tätsniveau abbilden kann und dass, wenn dies Bedeutungen hat, die allerdings zumindest im technisch möglich sein sollte, nur extrem kompli- Rahmen der sogenannten Gehirn-Geist-Debatte zierte mathematische Verfahren psychische Ver- das Bewusstsein, das Denken, die Gefühle usw. änderungen mit Zustandsveränderungen des Ge- umfassen. In dieser Hinsicht hat der Begriff Be- hirn in Beziehung setzen lassen. Dabei ist auch wusstsein dann nicht nur den Aspekt des Wach- noch grundlegend zu bedenken, dass sich aus seins, sondern auch den Aspekt des Wissens. Das diesen Korrelationen, auch wenn sie signifikant Wissen über Sprache, was Worte bedeuten, über sind, nur Hypothesen ableiten lassen, wie es das Verkehrsregeln usw., also das Bedeutungs- und Gehirn anstellt, bestimmte psychische Phänome- Sinnverständnis unserer Kultur ist ein von der ne zum Vorschein kommen zu lassen. Umwelt vermitteltes und damit für das Individu- Das sind aber nur Kausalitäts-Hypothesen um erworbenes Wissen. und nicht Belege und Beweise, dass damit der Was genau Sinn und Bedeutung ist, wie Wis- das psychische Phänomen erzeugende Mecha- sen erworben wird, wie es entwickelt wird, wie es nismus identifiziert worden ist. Auch ist bei der sich in der Gesellschaft verankert und ähnliche Gehirn-Geist-Debatte, bei der Betrachtung der Fragen sind äußerst strittig, sie betreffen aber neurobiologischen Erkenntnisse, zu bedenken, genau den Kernbereich dessen, was man den dass prinzipiell die atomistische Vorgehensweise, ideellen Bereich der Kultur und des Sozialen be- nämlich das Gehirn im Labor in seine Einzelteile zeichnet, und wo die Neurowissenschaft bisher zu zerlegen, das Problem mit sich bringt, wieder kaum Beiträge aufzuweisen hat. Es ist daher von das gesamte Gehirn konzeptuell zu rekonstruie- großer Bedeutung, dass die Ergebnisse und die ren – es fehlt ja, in Anlehnung an Goethe, das Erklärungsansprüche der Neurowissenschaften „geistige Band“.

10 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 GRUNDGEDANKEN ZUM MENSCHENBILD DER NEUROWISSENSCHAF T E N

Es bleibt vielleicht auch prinzipiell keine welcher enorme Bedarf für die Bearbeitung dieser andere Möglichkeit, als dass die Hirnforschung und anderer Fragestellungen gegeben ist, so dass sich aus dem Mosaik der durch die verschiede- man schließlich nur wünschen kann, dass mehr nen Untersuchungstechniken bestimmten speziel- Zeit und Geld in diesen Bereich der Begegnung len Einzelsichtweisen auf das Gehirn (elektrische der Neurowissenschaften mit der Philosophie und Signale oder chemische Signale) erst ein Bild anderen Disziplinen erfolgt.2 konstruieren muss. Auch diese Problematik scheint vielen Hirn- ||||| PROF. DR. DR. DR. FELIX TRETTER forschern nicht klar zu sein, was sich vor allem Dep. Psychologie, Ludwig-Maximilians-Universität bei der Diskussion um die neurobiologischen München, kbo-Isar-Amper-Klinikum München Ost, Grundlagen des freien Willens zeigt: Versuchs- Chefarzt, Kompetenzzentrum Sucht, Haar personen konnten in einem Experiment innerhalb eines längeren Zeitfensters entscheiden, wann sie einen Finger bewegen. Dabei wurde ein EEG abgeleitet, wobei sich die Versuchspersonen an- ANMERKUNGEN hand einer rasch laufenden Uhr den Zeitpunkt merken mussten, an dem sie Absicht verspürten, 1 Das Manifest, in: Gehirn und Geist 6/2004, S. 30 f., http://www.gehirn-und-geist.de/alias/psychologie- den Finger zu bewegen. Es zeigte sich dabei, dass hirnforschung/das-manifest/852357 signifikante Veränderungen der Gehirnströme 2 Tretter, Felix / Grünhut, Christine: Ist das Gehirn der bereits 300 msec vor dem erlebten Impuls, den Geist?, Göttingen 2010. Finger zu bewegen, zu beobachten war. Daraus folgerten Hirnforscher, dass nicht der Mensch, sondern sein Gehirn entscheidet, und dass die be- wusste Wahrnehmung der Entscheidung nur eine ex-post-Dokumentation dieses Prozesses durch das Bewusstsein ist. Nur die Zuschreibung, dass die Person es selbst war, die gehandelt hat, sei richtig, aber nicht dass es die Person war, die die Handlung veranlasst hat. Gerade bei diesem Expe- riment zeigt sich eine Überinterpretation, denn die tatsächliche Entscheidung, die mit dem zu tun hat, was wir im Alltagsweltlichen als Willensent- scheidung bezeichnen, war jene, am Experiment teilzunehmen. Danach schließt sich außerdem bei einem guten psychologischen Experiment das Lernen des experimentellen Ablaufs an und dann erst folgt die eigentliche Testphase. Daher han- delt es sich bei der Entscheidung, einen Finger zu bewegen, um ein reines Zulassen einer bereits vorprogrammierten Handlung und nicht um eine Entscheidung im Sinne einer Willensbildung. Es gibt daher viele Gründe, die Ansprüche der Neurobiologie, ein neues Menschenbild generie- ren zu können, zurückzuweisen. Vieles bleibt heute noch ungeklärt, manches ist vielleicht nie aufklärbar. Dennoch sind die anthropologischen Ansprüche der Neurowissenschaften eine gesun- de Provokation für die Philosophie und andere Geisteswissenschaften. Wer sich ein wenig in die interdisziplinäre Neurophilosophie einlässt, sieht,

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NEURO-KOMMUNIKATION AM BEISPIEL DER FUNKTIONELLEN MAGNETRESONANZTOMOGRAPHIE

STEPHAN SCHLEIM ||||| Die Hirnforschung hat in den letzten Jahren in zunehmendem Maße medi- ale Aufmerksamkeit erhalten. Dies ist durch wissenschaftssoziologische Untersuchungen belegt, insbesondere für Untersuchungen mit der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT). In diesem Kapitel werde ich zunächst verschiedene Rollen der Kommunikation in Wissenschaft und Wissenschaftsjournalismus vorstellen. Danach werde ich die wesentlichen Forschungsergebnisse zur Neuro-Kommunikation sowie ihren sozialen Implikationen zusammenfassen. Zum Schluss wer- de ich meine Verbesserungsvorschläge vorstellen und ein vorläufiges Resümee ziehen.

„Heute sind es noch Geheimzeichen, morgen handelt; eine Vermutung, die auch Kritiker des wird man vielleicht Geistes- und Hirnerkrankun- Verfahrens beziehungsweise seiner Anwendung gen aus ihnen erkennen und übermorgen sich gar äußern. schon Briefe in Hirnschrift schreiben.“ 1 Im Folgenden werde ich zunächst verschie- Dass die Hirnforschung zumindest in bestimm- dene Rollenverständnisse von Wissenschaft und ten Teilen in zunehmendem Maße mediale Auf- Wissenschaftsjournalismus vorstellen. Dabei wer- merksamkeit erhalten hat, entspricht nicht nur den verschiedene Attitüden der Wissenschafts- dem subjektiven Eindruck vieler, die in den Neu- kommunikation besprochen; das erste Kapitel ist rowissenschaften sowie angrenzenden Bereichen damit unabhängig von der Hirnforschung und arbeiten, sondern ist zudem wissenschaftssozio- lässt sich problemlos auf andere Disziplinen über- logisch gut belegt. Dies gilt insbesondere für tragen. Im zweiten Teil wird es darum gehen, Forschung mit der funktionellen Magnetresonanz- welche Aussagen sich aufgrund wissenschaftsso- tomographie (fMRT), die den Eindruck vermittelte, ziologischer Untersuchungen über die Wissen- man könne „dem Gehirn beim Denken zuschauen“ schaftskommunikation der Hirnforschung, vor al- und so alte Fragen zum Denken, Fühlen und lem der fMRT in englischsprachigen Printmedien, Handeln von Menschen mit neuen wissenschaft- treffen lassen. Dies wird eine Antwort auf die lichen Verfahren besser verstehen oder beant- Frage geben, welche der im ersten Teil vorgestell- worten. Wie das Eingangszitat zeigt, gab es die ten Attitüden die Berichterstattung zumindest Erwartung, durch die Untersuchung von Gehirn- vorübergehend dominiert hat. Im dritten Teil aktivierung neue Erkenntnisse über den psychisch präsentiere ich meine eigenen Verbesserungs- gesunden wie kranken Menschen zu erhalten, vorschläge und abschließend ziehe ich im vierten schon gut 60 Jahre vor der Entwicklung der fMRT, Teil mein Resümee zur gegenwärtigen Lage der nämlich bereits 1930 anlässlich der Entwicklung Neuro-Kommunikation, auch im Hinblick auf das der Elektroenzephalografie. Diese Beobachtung Human Brain Project in der EU beziehungsweise wirft die Frage auf, ob es sich bei der erwähnten das BRAIN-Project in den USA, die jeweils mit fMRT-Forschung nur um einen weiteren Hype Geldern im Milliardenbereich unterstützt werden.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 13 STEPHAN SCHLEIM

ROLLEN DER WISSENSCHAFT UND DES sen, manchen Stimmen zufolge insbesondere den JOURNALISMUS eigenen, wird also von hochrangigen Kommissio- An der Wissenschaftskommunikation sind nen als unerlässlich angesehen. sowohl innerhalb als auch außerhalb der Wis- Demgegenüber scheint die wissenschafts- senschaften verschiedene Akteure beteiligt: öf- journalistische Berichterstattung einen größeren fentliche wie private Forschungseinrichtungen, Spielraum zu besitzen: So unterscheiden die Bei- Hochschulen und Kliniken – deren forschendes träge eines Themenschwerpunkts Wissenschafts- beziehungsweise behandelndes Personal selbst journalismus in der Fachzeitschrift „Nature“ drei sowie auf Medienkommunikation spezialisierte verschiedene Rollen, von denen nur eine, die des Presseabteilungen –, Journalisten, Redaktionen, Wachhunds, der die Ergebnisse kritisch hinter- Herausgeber, Fördereinrichtungen, Industriepart- fragt und womöglich gar Fehler aufdeckt, Skepsis ner, Regierungsstellen und natürlich die Adressa- und Zurückhaltung näherkommt. Die beiden an- ten in allen gesellschaftlichen Bereichen. Diese deren Rollen sind das Anbeten (worshipping) – Akteure können unterschiedliche, ja sogar gegen- damit ist gemeint, Informationen unhinterfragt sätzliche Interessen verfolgen.2 So könnte etwa von einer bestimmten Autorität, hier der Wissen- einer Forscherin daran liegen, ihren Fund mög- schaftler, zu übernehmen – und Anfeuern (cheer- lichst sachlich zu kommunizieren, um Vorwürfe leading) – ein Verständnis, bei dem es darum von Kollegen, sie würde ihre Forschung zur Erlan- geht, die Gesellschaft davon zu überzeugen, dass gung von Aufmerksamkeit und Fördermitteln über die Wissenschaft die Lösung der sozialen Proble- Gebühr übertreiben, zu vermeiden. Die Presse- me herbeiführen wird.6 Im Folgenden geht es abteilung ihres Arbeitgebers könnte jedoch zur darum, welche dieser Rollen in der Berichterstat- Steigerung des Prestiges den innovativen Aspekt tung um die bildgebende Hirnforschung die Häu- hervorheben, eine Redaktion wiederum die mög- figste ist. liche (klinische) Relevanz, um ein breites öffent- liches Interesse und eine gute Verkaufbarkeit zu TRENDS IN DER NEURO-KOMMUNIKATION gewährleisten. So kann ein wissenschaftliches Mit der Untersuchung der populärwissenschaft- Ergebnis auf unterschiedliche Weisen, von skep- lichen Kommunikation über die Hirnforschung, tischer Zurückhaltung bis zu reißerischer Ver- insbesondere die bildgebende Forschung, haben marktung, kommuniziert werden, auch wenn das sich schon früh die Kanadier Eric Racine und Ergebnis noch vorläufig ist. Judy Illes beschäftigt; ihre Arbeit „fMRI in the Die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) Public Eye“ aus dem Jahr 2005 ist inzwischen formulierte in ihrer Denkschrift zur Sicherung gu- ein Zitationsklassiker.7 Darin haben sie einen ter wissenschaftlicher Praxis einige Empfehlun- starken Anstieg in der Berichterstattung über gen, darunter allgemeine Prinzipien wissen- fMRT-Forschung in englischsprachigen Printme- schaftlicher Arbeit, wozu sie es zählte, „alle Er- dien im Zeitraum 1991-2004 festgestellt und 132 gebnisse konsequent selbst anzuzweifeln“.3 Im solcher Artikel aus einer Datenbank mit Blick auf Abschnitt über Normen der Wissenschaft wird verschiedene inhaltliche Kriterien untersucht: ob dies unter Verweis auf den Physiker und früheren beispielsweise die Möglichkeiten und Grenzen Präsidenten der DFG Heinz Maier-Leibnitz so der Technologie beschrieben werden oder der ausgeführt, dass ein Naturwissenschaftler insbe- Ton der Darstellung allgemein optimistisch, aus- sondere zum Zweifel an dem erzogen wird, „was gewogen oder kritisch ist. Da von dieser Gruppe seinem Herzen nahe liegt“.4 Im Interesse der inzwischen ausführlichere und neuere Untersu- kontinuierlichen Überprüfung und Verbesserung chungen vorliegen, werde ich im Folgenden deren von Forschungsergebnissen und -schlussfolge- Ergebnisse kurz zusammenfassen. Es sei jedoch rungen hat auch der ein globales Netzwerk von erst darauf verwiesen, dass Racine und Kollegen 105 wissenschaftlichen Akademien umspannende schon in ihrer ersten Arbeit zur medialen fMRT- InterAcademy Council in jüngerer Zeit Skeptizis- Kommunikation die Konzepte des Neuro-Realis- mus in eine Liste mit sieben fundamentalen Wer- mus, Neuro-Essenzialismus und der Neuro-Politik ten der Forschung aufgenommen.5 Zurückhaltung prägten, für die sie zahlreiche Beispiele in den oder gar Skepsis gegenüber Forschungsergebnis- untersuchten Artikeln fanden.

14 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 NEURO-KOMMUNIKATION AM BEISPIEL DER FUNKTIONELLEN M AGNETRESONANZTOMOGRAPHIE

Neuro-Realismus bezieht sich darauf, das Vor- wissenschaftlicher und medizinischer Fragen liegen eines psychischen Phänomens, etwa von (z. B. Reliabilität, Validität, Sicherheit und Ne- Schmerz, anhand eines fMRT-Hirnscans festzu- benwirkungen) oder ethischer, rechtlicher und machen, zum Beispiel dadurch, ob sich bei einem sozialer Aspekte (z. B. Vertraulichkeit und Privat- Menschen erhöhte Aktivierung im anterioren zin- heit, Gerechtigkeit und Ressourcenverteilung, gulären Kortex messen lässt. Mit Neuro-Essenzia- Diskriminierung und Stigma). lismus ist gemeint, dass das Gehirn die gramma- Mit der Ausnahme von Neurostimulation ent- tikalische Rolle der Person einnimmt, dass also hielten mehr als drei Viertel der Berichte über nicht mehr die Person beispielsweise denkt, fühlt die anderen Verfahren gar keine Erklärung der oder handelt, sondern das Gehirn; in der Philoso- Technologie; bei Neurostimulation enthielten phie wurde diese Redeweise schon als mereolo- etwa zwei Drittel einfache (zwei bis drei Zeilen) gischer Fehlschluss kritisiert, als die Anwendung oder gar ausführliche (mehr als drei Zeilen) Er- eines Prädikats (wie „entscheiden“) auf einen Teil klärungen. In etwa die Hälfte der Berichte über einer Person (hier: das Gehirn), obwohl dieses EEG oder Neurostimulation waren optimistisch, Prädikat sinnvollerweise nur einer Person zuge- das heißt mit einem Schwerpunkt auf Vorteilen schrieben werden könne (also zum Beispiel „die der Forschung und ihrer Anwendung, in etwa ein Person entschied sich für ein warmes Mittag- Viertel ausgewogen, das heißt mit einer Diskus- essen“, anstatt „das Gehirn entschied sich für sion von sowohl Vorteilen als auch Problemen. ein warmes Mittagessen“). Mit Neuro-Politik ist Die eng verwandten Verfahren PET, SPECT und schließlich gemeint, dass Ergebnisse aus der fMRT wurden in etwa einem Drittel der Fälle op- fMRT-Forschung zur Unterstützung bestimmter timistisch beschrieben, mehrheitlich aber neutral, politischer und persönlicher Zielsetzungen ver- das heißt weder mit Verweis auf Vorteile noch wendet werden, etwa ein Umbau des Schulsys- auf Probleme; etwa ein Viertel der Berichte dis- tems zur Gewährleistung „gehirngerechten“ Ler- kutierte Forschung mit diesen Verfahren aus- nens. gewogen oder gar kritisch. Neurogenetik stellte In ihrer meines Wissens nach bisher umfang- eine Ausnahme dar, da zwar auch hier etwa ein reichsten Untersuchung zur Neuro-Kommunika- Drittel der Berichte optimistisch war, jedoch knapp tion haben Eric Racine, Judy Illes und Kollegen die Hälfte ausgewogen und in etwa ein Achtel neben der fMRT auch noch andere neurowissen- kritisch. Damit war die ausgewogene und kritische schaftliche Technologien mit einbezogen, nämlich Berichterstattung für Neurogenetik auch signifi- die älteren bildgebenden Verfahren PET bezie- kant häufiger als bei den anderen Verfahren. Ins- hungsweise SPECT,8 die Elektroenzephalografie gesamt überwog für alle Neurotechnologien aber (EEG), Neurostimulation und Neurogenetik.9 Für die optimistische Darstellung. den Zeitraum von 1995 bis 2004 haben die Auto- Klinische Vorteile wurden in 60,0 % aller Be- ren insgesamt 1.256 Artikel in englischsprachigen richte angesprochen, besonders häufig für EEG Printmedien (70 % USA, 30 % Vereinigtes König- (67,6 %), Neurostimulation (79,1 %) und Neuro- reich) untersucht. Die absolute Anzahl von Berich- genetik (81,0 %); bei PET (47,5) und vor allem ten über PET und SPECT nahm über die Jahre ab fMRT (30,5) hingegen waren es weniger. Die (insgesamt 335 Artikel), für EEG (284) und Neu- Unterschiede dieses Faktors waren zwischen den rogenetik (179) blieb sie in etwa gleich und für verschiedenen Technologien statistisch signifi- Neurostimulation (235) und fMRT (223) nahm sie kant. Keine signifikanten Unterschiede zwischen über die Jahre zu. Von den insgesamt vierzehn den Verfahren gab es hingegen für die Bespre- Faktoren, die die Autoren in ihrer Stichprobe un- chung wissenschaftlicher und medizinischer Ein- tersucht haben, sei hier nur eine Auswahl näher schränkungen; diese variierten zwischen 9,5 % besprochen: die Erklärung der Technologie (kei- für Neurogenetik und 20 % bei PET und SPECT. ne, einfach, ausführlich), der allgemeine Ton der In einem ähnlichen Rahmen bewegte sich die Berichterstattung (optimistisch, neutral, ausge- Häufigkeit angesprochener ethischer, rechtlicher wogen oder kritisch), das Verweisen auf mögli- und sozialer Aspekte, nämlich von 9,4 % der Be- che klinische Vorteile (z. B. Verbesserung von richte für fMRT bis zu 15,2 % für PET. Eine Aus- Behandlung oder Diagnose), das Besprechen nahme stellte hier aber – der Zusammenfassung

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 15 STEPHAN SCHLEIM

über den Ton der Berichterstattung oben ent- die fMRT gesucht und dabei auch bewusst Artikel sprechend – die Neurogenetik mit 46,4 % dar. im Internet und Blogs mit einbezogen; ferner un- Der Mittelwert über alle Verfahren betrug 17,5 % tersuchte sie die Jahre 2005 bis 2009, während und die Unterschiede dieses Faktors waren sta- die Untersuchungen von Racine und Kollegen mit tistisch signifikant. Berichten aus dem Jahr 2004 endeten. Dass die Damit sind die allgemeinen Trends in der Neu- zeitliche Dimension hier eine Rolle spielen könn- ro-Kommunikation dargestellt; es ist aber auch te, wird durch die Untersuchung von Rachul und deutlich geworden, dass es vereinzelt Ausnahmen Zarzeczny gestützt: Sie haben 181 Kommentar- gibt, vor allem bei den beiden Technologien, die und Reviewartikel aus fünfzig wissenschaftlichen am häufigsten mit klinischen Vorteilen in Zusam- Fachzeitschriften mit hohem Impact-Faktor aus menhang gebracht werden, nämlich Neurostimu- den Jahren 1988 bis 2010 untersucht und dabei lation und Neurogenetik. Während bei Ersterer die festgestellt, dass die relative Anzahl skeptischer Technologie ausführlicher erklärt wurde, wurde Beiträge über bildgebende Verfahren unter Wis- Letztere besonders ausgewogen oder gar kritisch senschaftlern zugenommen hat. So standen 2010 in den Medien diskutiert. In dem eher qualitativen schon zehn skeptische nur vier optimistischen als quantitativen Teil ihrer Publikation heben Ra- Beiträgen gegenüber, während noch bis in die cine und Kollegen insbesondere mögliche Folgen frühen 2000er-Jahre meistens die optimistischen für die Psychiatrie hervor: Durch die überwie- Artikel überwogen. Wenn es seit 2004 unter gend optimistische Berichterstattung und damit Fachwissenschaftlern langsam einen Meinungs- häufig einhergehende Beispiele für Neuro-Realis- umschwung vom Optimismus zum Skeptizismus mus und Neuro-Essentialismus könnten weitrei- über die Möglichkeiten der bildgebenden Hirn- chende öffentliche Erwartungen geweckt werden. forschung gekommen ist, dann ist wenig überra- Am Rande sei hier noch die kleinere Untersu- schend, dass sich diese Haltung auf Dauer auch chung von Laryionava und Gross erwähnt, die die auf die populärwissenschaftlichen Medien aus- Berichterstattung über Neuroprothesen in deut- wirkt. Die hauptsächlich geäußerten Gründe für schen Printmedien der Jahre 1999 bis 2009 un- den Neuroskeptizismus waren nach Rachul und tersucht haben.10 Für diesen Zeitraum haben sie Zarzeczny übrigens Probleme bei der Analyse und insgesamt 286 Berichte gefunden und in ähnli- Schlussfolgerung, der Verdacht der Über-Inter- cher Weise wie Racine und Kollegen analysiert: pretation, und Zweifel am Nutzen der Methode. In 26,9 % der Artikel wurde die Technologie Mit der öffentlichen Wahrnehmung der Neu- überhaupt nicht erklärt, in 55,6 % kurz, nämlich rowissenschaften und deren sozialen Folgen hat in ein oder zwei Sätzen, und in 17,5 % ausführ- sich in jüngster Zeit Cliodhna O'Connor sehr aus- licher. Mit 51 % war die Mehrheit der Berichte führlich beschäftigt. Sie und ihre Kollegen haben unkritisch, 26,9 % waren neutral, also ohne auf die in einer Datenbank gespeicherten Berichte Vorteile oder Risiken einzugehen, 18,9 % ausge- sechs großer Britischer Zeitungen nach neuro- wogen und 3,1 % kritisch. Damit entsprechen wissenschaftlichen Themen untersucht und für diese Ergebnisse am ehesten den oben genann- den Zeitraum von 2000 bis 2010 2.931 Artikel ten Befunden für die Neurostimulation: Es über- gefunden.14 Die Anzahl der jährlichen Berichte wiegen deutlich die positiven Artikel, allerdings verdoppelte sich beinahe von 2000 bis 2006, wird die Technologie vergleichsweise ausführlich wo sie mit ca. 350 ihren vorläufigen Höhepunkt erklärt.11 erfuhr. 2007 und vor allem 2009 kam es zu Ein- Der Vollständigkeit halber sei hier erwähnt, brüchen; 2010 war aber das Niveau von 2006 dass Louise Whiteley kürzlich die Existenz kriti- beinahe wieder erreicht. Im Fokus ihrer Untersu- scher Berichte über die fMRT hervorhob12 und chung standen allerdings anders als bei Racine Christen Rachul mit Amy Zarzeczny das Aufkom- und Kollegen vor allem die Themen, über die be- men eines Neuroskeptizismus festgestellt hat.13 richtet wurde. Aus ihren Ergebnissen lässt sich Diese Thesen widersprechen jedoch nicht den also ablesen, welche Teile der Hirnforschung die vorherigen Befunden: So hat Whiteley keine re- Öffentlichkeit am meisten interessieren – oder präsentative Untersuchung durchgeführt, sondern wovon das zumindest die verantwortlichen Jour- selektiv nach kritischer Berichterstattung über nalisten und Redakteure denken. Das waren mit

16 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 NEURO-KOMMUNIKATION AM BEISPIEL DER FUNKTIONELLEN M AGNETRESONANZTOMOGRAPHIE

43,4 % vor allem Gehirnoptimierung, mit 36,1 % denken stattgefunden hat. Diese eher deskriptive Psychopathologie (angeführt von Demenz mit Diskussion verschiedener Tendenzen in der Neu- 16,3 %, Abhängigkeit mit 7,2 % und Gemütsstö- ro-Kommunikation und möglicher Auswirkungen rungen mit 5,5 %), mit 24,4 % grundlegende auf die Gesellschaft wirft die normative Frage auf, Funktionen (etwa Lernen und Gedächtnis, Schlaf, wie diese Kommunikation idealerweise stattfin- Wahrnehmung, Emotion), mit 13,6 % angewand- den sollte. te Kontexte (etwa Bildung, Wirtschaft, Musik und Kunst) und mit 13,5 % Elternschaft (etwa Erzie- VERBESSERUNGSVORSCHLÄGE hung und Schwangerschaft). Zwar deutet der Überhang der optimistischen Kurz sei noch erwähnt, dass diese Autoren in Perspektive in Medienberichten auf eine verzerrte Ergänzung zu diesen quantitativen Befunden in Wissenschaftkommunikation hin und geben man- einer Folgearbeit diskutieren, inwiefern die Neu- che Wissenschaftler dafür gerne Journalisten die rowissenschaften das Menschenbild von Laien Schuld, doch fassen Tanja Bubela und Kollegen beeinflusst haben.15 Dies geschieht vor allem mit mehrere Studien zusammen, die zu dem Ergebnis Blick auf die drei Fragen, ob die Neurowissen- kommen, dass sich Forscher in ihrer Kommunika- schaften eine Konzeption eines in der Biologie tion oft selbst Metaphern bedienen, die mit gegründeten Selbst verfestigen, ob sie eine Kon- Durchbrüchen verbunden werden – selbst dann, zeption eines prädeterminierten individuellen wenn ihr Ergebnis nur ein kleines Erkenntnis- Schicksals unterstützen und ob sie das mit be- glied in einer großen Wissenskette darstelle.17 stimmten sozialen Kategorien verbundene Stigma Caulfield und Condit versuchten sich an einer reduzieren. Die ersten beiden Fragen beantwor- ausführlicheren Analyse der Quellen des Hypes ten sie im Einklang mit etablierten Modellen über und identifizierten in ihrem Erklärungsmodell die Auswirkungen von Wissenschaftskommuni- unter anderem den Publikations- sowie Kommer- kation16 mit der vorläufigen Schlussfolgerung, zialisierungsdruck, institutionelle Pressemittei- dass Laien wissenschaftliche Befunde eher in ihr lungen und Medienpraktiken.18 Diese Versuche Weltbild integrieren, anstatt ihr Weltbild anzu- tragen zwar alle zu einem Verständnis der Kom- passen. Zur Beantwortung der dritten Frage stel- munikationsvorgänge bei, halten sich jedoch mit len sie fest, dass die Biologisierung klinisch- normativen Ratschlägen zurück, auch wenn mit- psychologischer beziehungsweise psychiatrischer unter vor den Risiken übertriebener Versprechen Kategorien zwar Schuldvorwürfe Dritter reduzie- gewarnt wird. ren können, die Betroffenen darum aber nicht Mehr könnte man von der Publikation mit weniger sozial ausgegrenzt würden und entspre- dem Titel „Neurotalk: improving the communica- chende Diagnosen mit dem Risiko sich selbst tion of research“ erwarten, an der erfüllender Prophezeiungen und des Fatalismus die bereits erwähnte Judy Illes sowie andere einhergingen. namhafte Neurowissenschaftler und Ethiker maß- Mit Blick auf die im ersten Kapitel vorgestell- geblich beteiligt waren.19 Auffällig ist allerdings, ten Rollen des Journalismus lässt sich vorläufig dass mit Verbesserung der Kommunikation vor feststellen, dass bei der Neuro-Kommunikation allem gemeint ist, die Situation der Kommunizie- in den Printmedien eher ein positives, kollabo- renden zu verbessern, das heißt Medientrainings ratives Verständnis gegenüber der Wissenschaft durch- und institutionelle Maßstäbe zur Beloh- gemäß den Vorstellungen des Anbetens und An- nung von Kommunikationstätigkeiten einzufüh- feuerns zu überwiegen scheint, das die optimisti- ren. Es geht im Wesentlichen um das Vermitteln sche Berichterstattung erklärt, als ein Verständ- von Kompetenzen, das Aufbauen von Informati- nis der Wachhundfunktion. Diese optimistische onsnetzwerken mit einigen Neurowissenschaftlern Haltung scheint aber – zumindest für die bild- als „Wissenshändlern“ (knowledge broker) und gebende Hirnforschung – auch lange Zeit in den schließlich die qualitativ gewogene Belohnung wissenschaftlichen Fachzeitschriften dominiert zu erfolgreicher Kommunikationstätigkeit. Ob eine haben. Jüngere Befunde unterstreichen, dass es gelungene Kommunikation als solche zu verste- auch kritische Berichte gab, und in der wissen- hen ist, die einen bestimmten wissenschaftlichen schaftlichen Gemeinschaft womöglich ein Um- Befund möglichst originalgetreu transportiert,

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 17 STEPHAN SCHLEIM

oder als solche, die einen möglichst großen Für Journalisten: Adressatenkreis anzusprechen und für das Pro- − Fragen Sie, je nach Möglichkeit und Medien- gramm der Neurowissenschaften zu gewinnen format, jemanden von einer unabhängigen versteht, diese Entscheidung bleibt dem Leser Forschergruppe nach einer zweiten Meinung bzw. der Leserin überlassen. Dabei sei am Rande und geben Sie gegebenenfalls die wissen- darauf verwiesen, dass es beispielsweise sogar schaftliche Kontroverse wider. die Ethikrichtlinien der American Psychological − Lassen Sie sich Fakten bestätigen. Association erfordern, dass Psychologen vernünf- − Geben Sie auch Grundlagenforschung mehr tige Schritte zur Korrektur unternehmen, wenn Raum, damit die Öffentlichkeit ein repräsenta- sie von einem Missbrauch oder der Fehldarstel- tiveres Bild über den Stand eines Forschungs- lung ihrer Forschung erfahren.20 gebiets erhält. Dieser unklaren und meines Erachtens unbe- friedigenden Situation möchte ich hier als Dis- Für alle Beteiligten: kussionsgrundlage eigene Vorschläge entgegen- − Markieren Sie vorläufige oder einzelne Funde stellen. Ein zentraler Aspekt ist sicherlich die gegenüber repliziertem Wissen als solche. Angemessenheit von Vereinfachungen, was viel- − Beschränken Sie sich nicht auf die Darstellung leicht das Hauptaugenmerk der Wissenschaftler suggestiver Sonderfälle oder Ausreißer. darstellt, in Abwägung mit ihrer Zielgruppenge- rechtigkeit, die meistens Redakteure beziehungs- Diese Punkte könnten anhand konkreter Beispiele weise Journalisten viel besser beurteilen können – ausführlicher diskutiert werden, worauf hier aus und müssen – als hoch qualifizierte Akademiker. Platzgründen verzichtet werden muss. Auch wenn vielleicht viele der allgemeinen Forde- rung zustimmen würden, dass eine Vereinfachung SCHLUSSFOLGERUNGEN nicht so weit gehen sollte, dass sie den ursprüng- Der im zweiten Kapitel vorläufig nachvollzo- lichen Befund verfälscht, lässt sich eine Ent- gene Übergang vom Hype zu Neuroskeptizismus scheidung darüber wohl nur im Einzelfall treffen legt den Verdacht nahe, es könnte sich bei dieser und ist es gut möglich, dass sie in gewissem Maß Entwicklung der Neuro-Kommunikation um einen im Auge des Betrachters bleibt. Dennoch haben Gartner-Hype-Zyklus handeln: Ein technologischer sich meiner Erfahrung nach – sowohl als kom- Auslöser – zum Beispiel die Entwicklung der munizierender Wissenschaftler als auch als Wis- fMRT als Methode zur relativ sicheren und räum- senschaftsjournalist – die folgenden Prinzipien lich genaueren Untersuchung der Gehirnfunktion bewährt: im lebenden Versuchstier wie Menschen – führt zu einer Explosion der Erwartungen bis zu deren Für Wissenschaftler: Höhepunkt, der von einem Tiefpunkt der Desillu- − Finden Sie eine ausgewogene Balance zwi- sionierung gefolgt wird; erst danach wird ein schen Vereinfachung und angemessener Weg der Aufklärung eingeschlagen, der schließ- Repräsentation Ihrer Forschung; absolvieren lich zu einem Plateau der Produktivität führt.22 Sie gegebenenfalls ein Medientraining, in Dieses Erklärungsmuster verkennt jedoch, dass dem konkrete Beispiele kritisch besprochen sich die hier diskutierte Kritik vor allem gegen werden. die bildgebende Hirnforschung beziehungsweise − Treffen Sie schriftliche Vereinbarungen über insbesondere die fMRT richtet, die in der popu- die Zusammenarbeit, zum Beispiel die ver- lärwissenschaftlichen Berichterstattung eine über pflichtende Bestätigung der in Ihrem Namen die Jahre hinweg zunehmende Rolle gespielt hat, veröffentlichten Aussagen. jedoch nicht pars pro toto für die gesamten Neu- − Fordern Sie diese zur Not auch ein, selbst rowissenschaften stehen kann; es verkennt auch, wenn Ihnen das unangenehm ist; beispiels- dass die Neurowissenschaften der (mutmaßlichen) weise besteht in Deutschland bereits seit Desillusionierung beziehungsweise des zuneh- 1874 ein Recht zur Gegendarstellung, das menden Neuroskeptizismus zum Trotz offenbar konkrete Maßnamen zur Richtigstellung eines nichts an ihrer wissenschaftspolitischen Bedeu- Sachverhalts vorsieht.21 tung eingebüßt haben, sondern im Gegenteil die

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jüngsten Entscheidungen, sowohl das europäische ANMERKUNGEN

Human Brain Project als auch das US-amerikani- sche BRAIN-Project mit Fördermitteln im Milliar- 1 Aus einer Meldung des Stadt-Anzeigers Düsseldorf denbereich auszustatten, die hohe öffentliche vom 6.8.1930 anlässlich der Entwicklung der Elektro- enzephalografie, zitiert nach Borck, Cornelius: Hirn- wie privatwirtschaftliche Priorität der Neurowis- ströme – Eine Kulturgeschichte der Elektroenzepha- senschaften unterstreichen. lographie, Wallstein 2005, S. 7. Es scheint allerdings so, als hätten diejenigen, 2 Ein Brainstorming, welche Akteure es gibt und welche die vor einigen Jahren ein neues Neuro-Menschen- Interessen sie vertreten, eignet sich meiner Erfahrung bild proklamierten,23 die Dynamik der Wissen- nach hervorragend für ein universitäres Seminar. schaftskommunikation unterschätzt: Es scheint Master-Studierende, mit denen ich dies wiederholt in Groningen durchgeführt habe, kamen bisher jedoch keinesfalls so zu sein, dass Menschen ihr Selbst- nicht eigenständig auf die Idee, dass die Adressaten beziehungsweise ihr Weltbild sofort umwerfen, ein Interesse an einer möglichst korrekten Kommuni- wenn ihnen ein Hirnforscher dessen Unhaltbar- kation haben könnten. keit vorwirft – und sie tun womöglich sogar gut 3 Deutsche Forschungsgemeinschaft: Sicherung guter daran, wenn man bedenkt, dass auch die Ergeb- wissenschaftlicher Praxis, Denkschrift, Weinheim nisse der Neurowissenschaften stets von Voran- 1998, S. 7. 4 Ebd., S. 27. nahmen abhängen und Interpretationen bedürfen, 5 InterAcademy Council: Responsible Conduct in the ganz besonders in deren philosophisch sensiblen Global Research Enterprise – A Policy Report, 2012, Bereichen, wie bei der Diskussion um die Wil- S. 7 f. lensfreiheit oder die Existenz „gefährlicher“ Ge- 6 Themenschwerpunkt Wissenschaftsjournalismus, in: hirne.24 Wenn in so manchem Kommunikations- Nature 459/2009, S. 1054-1057. 7 kontext die Bezeichnung „Neurowissenschaftler“ Racine, Eric / Bar-Ilan, Ofek / Illes, Judy: fMRI in the public eye, in: Nature Reviews Neuroscience 6/2005, schon standardmäßig ein Misstrauen hervorruft, S. 159-164. dann ist das ein Anzeichen dafür, dass es manche 8 PET steht für Positronenemissionstomographie, SPECT Vertreter dieser Disziplinen oder auch Wissen- für Single-Photon Emission Computed Tomography; schaftsjournalisten mit der Darstellung von Ver- die Forschung mit diesen Verfahren ist seit Einfüh- sprechen und philosophischen Implikationen zu rung der fMRT relativ zurückgegangen, da hierfür die weit getrieben haben. Da die Neurowissenschaf- Verwendung radioaktiver Kontrastmittel erforderlich ist, sich damit keine detaillierten anatomischen Auf- ten sicher noch über viele Jahre von hoher Be- nahmen anfertigen lassen (wie z. B. bei der anatomi- deutung bleiben werden – sowohl inner-, inter- als schen / strukturellen MRT) und ihre räumliche wie auch transdisziplinär –, können viele Beteiligte zeitliche Auflösung in der Regel wesentlich gröber ist. etwas durch die Reflexion des Kommunikations- 9 Racine, Eric / Waldman, Sarah / Rosenberg, Jarett / verhaltens lernen. Einige erste Vorschläge habe Illes, Judy: Contemporary neuroscience in the media, ich hier zur Diskussion gestellt. in: Social Science & 71/2010, S. 725-733. 10 Laryionava, Katsiaryna / Gross, Dominik: Public Under-

standing of Neural Prosthetics in – Ethical, STEPHAN SCHLEIM, PHD, M.A. ||||| Social, and Cultural Challenges, in: Cambridge Quar- Visiting Researcher am Center for terly of Healthcare Ethics 20/2011, S. 434-439. , Ludwig-Maximilians-Universität 11 Für eine weitreichendere Analyse der Neuro-Kommuni- München; Assistant für Theorie und kation und Wissenschaftssoziologie der Hirnforschung, Geschichte der Psychologie, Universität Groningen vor allem auch im deutschsprachigen Bereich, sei hier verwiesen auf die Dissertation von Heinemann, Torsten: Populäre Wissenschaft – Hirnforschung zwi- schen Labor und Talkshow, Göttingen 2012. 12 Whiteley, Louise: Resisting the revelatory scanner? Critical engagements with fMRI in popular media, in: BioSocieties 7/2012, S. 245-272. 13 Rachul, Christen / Zarzeczny, Amy: The rise of neuro- skepticism, in: International Journal of Law and Psy- chiatry 35/2012, S. 77-81. 14 O'Connor, Cliodna / Rees, Geraint / Joffe, Helene: Neuroscience in the Public Sphere, in: Neuron 74/2012, S. 220-226.

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15 O'Connor, Cliodna / Joffe, Helene: How has neuro- science affected lay understandings of personhood? A review of the evidence, in: Public Understanding of Science 22/2013, S. 254-268. 16 Siehe z. B. Bubela, Tania / Nisbet, Matthew C. / Borchelt, Rick u. a.: Science communication reconsidered, in: Nature Biotechnology 27/2009, S. 514-518. 17 Ebd. 18 Caulfield, Timothy / Condit, Celeste: Science and the Sources of Hype, in: Public Health Genomics 15/2012, S. 209-217. Vergleiche hierzu auch die systemtheore- tischen Überlegungen zur Funktionsweise der Medien im Kontext der Neurowissenschaften von Nassehi, Armin / Seßler, Katharina: Hirnforschung in Gesell- schaft, in: Widerspruch 49/2009, S. 33-43. 19 Illes, Judy / Moser, Mary Anne / McCormick, Jennifer u. a.: Neurotalk – improving the communication of neuroscience research, in: Nature Reviews Neuro- science 11/2010, S. 61-69. 20 Siehe Artikel 1.01 der Ethikprinzipien der APA, http://www.apa.org/ethics/code/index.aspx?item=4, Stand: 12.8.2013. 21 Siehe § 11 des Reichspressegesetzes vom 7. Mai 1874, heute in den Pressegesetzen der Länder geregelt. 22 Siehe dazu etwa Borup, Mads / Brown, Nik / Konrad, Kornelia / van Lente, Harro: The of Expec- tations in Science and Technology, in: Technology Analysis & Strategic Management 18/2006, S. 285-298. Des Erklärungsmusters des Gartner-Hype-Zyklusses be- dient sich beispielsweise auch Felix Hasler in seinem Buch: Neuromythologie – Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung, Bielefeld 2012. 23 Siehe z. B. Monyer, Hannah / Rösler, Frank / Roth, Gerhard u. a.: Das Manifest – Elf führende Neurowis- senschaftler über Gegenwart und Zukunft der Hirn- forschung, in: Gehirn & Geist 6/2004, S. 31-37; Singer, Wolf: Ein neues Menschenbild? Gespräche über Hirn- forschung, Frankfurt a. M. 2003; Metzinger, Thomas: Der Preis der Selbsterkenntnis, in: Gehirn & Geist 7-8/2006, S. 42-49; dagegen Schleim, Stephan / Aus der Au, Christina: Selbsterkenntnis hat ihren Preis (Replik), in: Gehirn & Geist (online), www.gehirn-und- geist.de/alias/r-hauptkategorie/selbsterkenntnis-hat- ihren-preis/856047, Stand: 10.8.2013; Janich, Peter: Kein neues Menschenbild – Zur Sprache der Hirnfor- schung, Frankfurt a. M. 2009. 24 Siehe dazu Schleim, Stephan: Die Neurogesellschaft – Wie die Hirnforschung Recht und Moral herausfordert, Hannover 2011.

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NEUROPHILOSOPHIE ALS THERAPIE?

Eine kritische Anmerkung

GEORG NORTHOFF ||||| Die gegenwärtige Philosophie mit der Annahme eines Geistes wird häufig als „veraltet“ bezeichnet, da sie durch die Ergebnisse der Neurowissenschaften überholt wird. Da- her hat sich eine neue Disziplin, die Neurophilosophie, entwickelt. Die Neurophilosophie versucht philosophische Begriffe auf das Gehirn zu beziehen. Der gegenwärtige Beitrag stellt das Konzept einer solchen Neurophilosophie vor und unterzieht es einer kritischen Beleuchtung.

NEUROPHILOSOPHISCHE THERAPIE Was ermöglicht uns die Wahrnehmung und Die nordamerikanische Philosophin Patricia Erkenntnis des Tisches vor uns als Tisch? Es ist Churchland war die Erste, die den Begriff der nicht die Leber, die Milz, die Niere oder ein an- „Neurophilosophie“ 1986 in ihrem gleichnamigen deres Organ. Wir nehmen den Tisch nicht mittels Buch verwendet und eingeführt hat. Sie behan- unseres Magens, unserer Leber oder der Niere delte in ihrem Buch verschiedene Probleme, die wahr. Es ist das Gehirn, das uns die Wahrnehmung sich ergeben, wenn man den Geist oder die See- und Erkenntnis des Tisches als Tisch ermöglicht. le, wie es die Philosophen zu nennen pflegen, im Wie die Philosophen und Schopenhauer sagen, Gehirn lokalisieren will. Der Zusammenhang zwi- das Gehirn ist Subjekt der Erkenntnis. schen Geist und Gehirn wurde zum ersten Mal von Obwohl andere Psychologen und Philosophen Descartes aufgebracht, der den Ort der Interakti- ebenfalls die Bedeutung des Gehirns für unsere on zwischen Geist und Körper in der Zirbeldrüse Erkenntnis erkannten, entwickelte sich die volle des Gehirns lokalisierte. Kraft dieses Gedankens erst in der jüngsten Zeit. Der erste Philosoph, der den Geist im Gehirn Je besser die Neurowissenschaftler das Gehirn selber komplett verortete, war Arthur Schopen- und seine verschiedenen Funktionen erfassen hauer. Arthur Schopenhauer war ein Sohn einer konnten, desto deutlicher wurde, dass das Ge- reichen Hamburger Kaufmannsfamilie und daher hirn auch bei mentalen Aktivitäten, wie zum Bei- in der Lage, von seinem ererbten Vermögen ein spiel Bewusstsein, eine zentrale Rolle spielen Leben lang gemeinsam mit seinem Pudel zu le- muss. Bewusstsein kann dann nicht mehr einem ben, ohne arbeiten zu müssen. Er hatte also ein Geist zugeschrieben werden, sondern muss im Leben lang Zeit für die Philosophie und das Phi- Gehirn selber verortet werden. losophieren. Und wie er philosophierte … Der Untersuchung der neuronalen Vorgänge Schopenhauer sprach dem Gehirn eine Doppel- bei solchen höheren kognitiven Funktionen, zu rolle zu. Wir können das Gehirn beobachten, ge- denen neben dem Bewusstsein auch der freie nauso wie wir andere Dinge beobachten können, Wille, das Selbst, die Empathie, das moralische wie zum Beispiel den vor mir liegenden Tisch. Das Urteilen und viele andere ursprünglich mentale Gehirn ist also, wie Schopenhauer sagte, Objekt Phänomene zählen, hat sich eine Spezialdisziplin unserer Erkenntnis. Das Gehirn ist aber noch viel innerhalb der Neurowissenschaft verschrieben, mehr als nur ein bloßes Objekt der Erkenntnis. die Kognitive Neurowissenschaft.

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Auf der philosophischen Seite ist diese Ent- Wille etc.? Sie sind dann nicht mehr philosophi- wicklung von Patricia Churchland mit Ihrem Buch sche Konzepte im Kopf eines Philosophen, son- „Neurophilosophie“ zum Ausdruck gebracht wor- dern neuronale Funktionen des Gehirns. Church- den. Was bedeutet die Kognitive Neurowissen- land geht aber noch einen Schritt weiter. Wenn schaft für die Philosophie? Man muss dazu wis- die ursprünglichen philosophischen Konzepte sen, dass die Kognitive Neurowissenschaft Phä- neuronale Funktionen des Gehirns sind, brau- nomene untersucht, die ursprünglich dem Geist chen wir die philosophischen Konzepte selber zugeschrieben wurden. Da der Geist als Domäne nicht mehr. In anderen Worten, wir können die der Philosophie angesehen wurde, war zum Bei- philosophischen Konzepte als überflüssigen Ab- spiel die Frage nach dem Bewusstsein eine philo- fall rauswerfen auf den Müllplatz der Geschichte. sophische Frage. Dementsprechend wurden auch philosophische Methoden zur Untersuchung des WIRKSAMKEIT DER Geistes im Allgemeinen und des Bewusstseins im NEUROPHILOSOPHISCHEN THERAPIE Speziellen angewendet. Was bedeutet das für den Begriff der Neuro- Was ist die Methodik der philosophischen Un- philosophie? Neurophilosophie muss in einem tersuchung? Die Philosophie untersucht Begriffe, metaphorischen Sinne verstanden werden. Alles, sogenannte Konzepte, wie zum Beispiel das Kon- was ursprünglich philosophisch war, wird jetzt zept des Bewusstseins. Wie wird das Bewusst- zur Funktion des Gehirns neuronalisiert. Wenn sein definiert? Wann kann man von Bewusstsein aber alles neuronalisiert werden kann, dann ist sprechen? Das Bewusstsein kann entweder durch die Philosophie nicht mehr notwendig, denn dann bestimmte Inhalte definiert werden oder durch wird letztendlich die Philosophie komplett durch eine bestimmte Form, z. B. die Form der Einheit. die Neurowissenschaften, speziell die Kognitiven Die Methodik der Philosophie orientiert sich Neurowissenschaften, ersetzt. Die Neurophiloso- somit an Begriffen und Konzepten, untersucht phie selber ist dann nur ein Zwischenstadium auf diese und prüft, ob die Definition und Kriterien dem Weg von der Philosophie zu den Neurowis- des fraglichen Begriffes in Übereinstimmung mit senschaften. denen anderer Begriffe und Konzepte sind. Wenn Die Philosophie, wie sie lange in den Wissen- zum Beispiel das Bewusstsein als zentrales Merk- schaften vorherrschte, wird dann komplett und mal des Geistes so und so definiert wird, muss total durch die Neurowissenschaften ersetzt. Der auch der Begriff des Geistes auf eine bestimmte Totalitarismus der Philosophie, den sie lange Art und Weise determiniert werden. ausübte, wird jetzt, zynisch gesprochen, durch Churchland fragt sich nun, ob eine solche phi- den Totalitarismus der Neurowissenschaften ab- losophische Begriffsuntersuchung noch adäquat gelöst. Der Begriff der Neurophilosophie ist dann ist. Funktionen des Geistes wie Bewusstsein, allerdings insofern irreführend, als er suggeriert, freier Wille etc. hängen offensichtlich eng mit dass sich hier zwei Disziplinen, Philosophie und Gehirnfunktionen zusammen – dies zeigt uns die Neurowissenschaften, zusammengetan haben und Kognitive Neurowissenschaft. Wenn aber das miteinander verknüpft sind. Churchland strebt Bewusstsein eng mit dem Gehirn zusammen- allerdings keine wirkliche Verknüpfung an, sie hängt, dann müssen wir das Gehirn selber erfor- möchte die totale Auflösung der Philosophie. Die schen und nicht nur den Begriff oder das Konzept einzige Rolle, die der Philosophie dann noch zu- untersuchen. kommt, ist des Kommentars und der Zusammen- Die logische Analyse der Begriffe wird dann fassung der Ergebnisse der Neurowissenschaften, durch eine empirische Untersuchung des Gehirns in der Form einer Theorie oder Philosophie der ersetzt. Neurophilosophie ist genau das. Sie Neurowissenschaften. Der Begriff der Neurophi- schlägt vor, dass wir ursprünglich philosophische losophie ist somit eher metaphorisch denn kon- Begriffe wie Bewusstsein und Selbst nicht mehr kret zu betrachten. rein logisch und begrifflich untersuchen, sondern Was bedeutet das für die Methodik der Neu- empirisch und neuronal. rophilosophie? Die Neurophilosophie im Sinne Was bedeutet das für die ursprünglich philoso- Churchlands verschreibt sich ganz der neurowis- phischen Konzepte wie Geist, Bewusstsein, freier senschaftlichen Methodik, der empirischen Unter-

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suchung der neuronalen Funktionen des Gehirns, Searle nennt diese „großen“ Fragen „Rahmenfra- mittels der Beobachtung durch einen Beobach- gen“ („framework questions“). ter, den Neurowissenschaftler. Wie kann der Die Untersuchung von den „großen Fragen“ ist Neurowissenschaftler beobachten? Er untersucht die traditionelle Domäne der Philosophie, wel- das Gehirn und manipuliert seine Funktionen ches sie als Disziplin von den empirischen Wis- durch geschickte Experimente, die auf die fragli- senschaften wie Chemie, Biologie, Neurowissen- che Funktion zielen. Seine empirische Methodik schaften etc. unterscheidet. Was aber, wenn der ist also durch Beobachtung und Experimente ge- Gegenstand der Untersuchung wie zum Beispiel kennzeichnet. mentale Aktivitäten immer mehr durch „kleine Dies unterscheidet die neurowissenschaftliche Fragen“ der empirischen Wissenschaft, der Neu- Methodik von der philosophischen Methodik. Die rowissenschaft im Speziellen, vereinnahmt wird? philosophische Methodik zielt auf die logische Rückzug aus dem Kampffeld, ob geordnet oder Analyse von Begriffen und Konzepten und, so die ungeordnet, und dem Gegner die Waffen kampflos traditionelle Philosophie als sogenannte „Lehn- zu überlassen. Das ist die Medikation „Neurophi- stuhlphilosophie“, macht sich die Hände nicht losophie“, die Frau Dr. Churchland verschreibt. durch Beobachtung und Experimente „schmut- Herr Dr. Searle verschreibt etwas anderes. Er zig“. Churchland sieht die Neurophilosophie als denkt gar nicht an Rückzug, sondern an flexible methodische Befreiung an, denn sie befreit den Anpassung an den Feind; schaue dir seine Waf- Geist aus dem, was man die „konzeptuelle Ver- fen an und du siehst, wie du die deinigen gestal- sklavung“ der Philosophie nennen kann. ten musst. Also passe deine philosophischen Be- Ja richtig, die neurophilosophische Revoluti- griffe und Konzepte an die Notwendigkeiten der on löst die konzeptuelle Versklavung des Geistes Neurowissenschaften an und gestalte die Begriffe durch die Philosophie auf. Aber sie ersetzt den des Geistes und seiner mentalen Aktivitäten so, alten, den konzeptuellen Totalitätsanspruch durch dass sie eine empirische Untersuchung erlauben. eine andere Totalität, die empirische. Die kon- Die zweite Aufgabe der Philosophie ist nach zeptuelle Versklavung wird also durch die empi- Searle somit die Anpassung philosophischer Be- rische Versklavung ersetzt. griffe und Konzepte an die neurowissenschaftli- che Methodik von Beobachtung und Experiment. PHILOSOPHIE DES GEISTES ALS THERAPIE Wie sieht eine solche Anpassung aus? Ein für Aber die Neurophilosophie wäre nicht Philo- die Philosophie traditionelles Begriffspaar ist sophie, wenn es nicht auch komplexere Modelle Subjektivität und Objektivität. Subjektivität be- geben würde. Churchland schafft die Philosophie schreibt das individuelle Erleben bestimmter In- quasi ab und ersetzt sie als Disziplin durch die halte, das nur die erlebende Person selber nicht, Neurowissenschaften. Ein anderer berühmter ge- aber eine andere Person haben kann. Bewusst- genwärtiger Philosoph, John R. Searle, der in sein ist an eine individuelle Person gebunden, Berkeley an der amerikanischen Westküste lehrt, wir erleben zum Beispiel bestimmte Gefühle, Ge- sieht das etwas komplexer und differenzierter. fühle der Angst, bewusst, die jemand anderer so Searle betrachtet die Philosophie des Geistes nicht erlebt. Subjektivität, subjektives Erleben als zentrale philosophische Disziplin. Sie beschäf- und Bewusstsein sind somit an das, was auch tigt sich mit der begrifflichen und konzeptuellen Erste-Person Perspektive genannt wird, gebunden. Charakterisierung von mentalen Aktivitäten wie Im Unterschied dazu steht Objektivität. Hier freier Wille, Bewusstsein, Selbst, etc. Die Philo- handelt es sich um Beobachtungen, die durch sophie des Geistes beschäftigt sich also mit der andere Personen nachvollzogen und somit objek- konzeptuell-logischen Durchdringung von men- tiviert werden können. Beobachtungen in Hin- talen Aktivitäten, die dem Geist zugeschrieben sicht auf bestimmte Funktionen des Gehirns sind werden. Als solche hat sie eine doppelte Funkti- solche objektiven Beobachtungen, die nicht an on. Zum Einen stellt die Philosophie des Geistes eine individuelle Person gebunden sind, dies be- die sogenannten „großen“ Fragen, Fragen wie schreibt die sogenannte Dritte-Person-Perspektive. „was der Geist ist“, „was Bewusstsein ist“ und Die große Frage der Philosophie des Geistes „warum wir überhaupt Bewusstsein haben?“ etc. und der Neurophilosophie ist nun: Wie kommt

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der Geist, der nur individuell erlebbar und somit KRITISCHE ANMERKUNGEN subjektiv ist, in das Gehirn, das objektiv be- Anders als Churchland nimmt Searle immerhin obachtbar ist? Kurz gefasst: Wie kommt das Sub- das Eigenrecht von Konzepten wahr. Konzepte jekt in ein Objekt? Auch hier gibt es verschiedene und Begriffe können nicht einfach wie ein Urwald Möglichkeiten. Man kann das Subjekt eliminieren gerodet und eliminiert werden, wie Churchland und sagen, dass das, was subjektiver Geist ist, es scheinbar vorschlägt: Dass das, was wir beob- nichts als objektives Gehirn ist. So macht es achten, immer schon durch unsere Begriffe und (mehr oder weniger) Churchland. Konzepte geprägt und vorbestimmt wird. Und Searle geht einen anderen Weg viel geschick- genau dies scheint sich Searle zu Nutzen zu ma- ter. Er sagt ganz einfach, das, was subjektiv ist, chen, wenn er vorschlägt, unsere Konzepte und existiert genauso wie das, was objektiv ist. Wenn Begriffe den neurowissenschaftlichen Methoden, wir etwas in der Ersten-Person-Perspektive sub- der Beobachtung von Realitäten und Existenzen jektiv erleben, ist es genauso real wie das, was anzupassen. Also ein recht cleverer Schachzug wir in der Dritten-Person-Perspektive beobach- des Herrn Searle. ten. Und ganz wichtig, beide, Erste- und Dritte- Aber was, wenn hinter den Begriffen und Person-Perspektiven, zielen auf unterschiedli- Konzepten, die wir an unsere neurowissen- che Realitäten und Existenzen, eine sogenannte schaftliche Methodik anpassen, nicht wirklich Erste- und Dritte-Person-Ontologie, wie Searle es eine Realität und Existenz steht? Woher weiß nennt. Herr Searle, dass der Subjektivität eine eigene Wie aber findet nun die von Searle postulier- Realität und Existenz im Unterschied zur Objek- te Erste-Person-Ontologie ihren Weg in das Ge- tivität zukommt? Woher weiß er, dass er dort hirn zu den Neurowissenschaften? Ganz einfach. nicht einer Chimäre oder einer Illusion unterliegt? Wenn es real ist und existiert und in dieser Hin- Woher weiß er, dass dem Geist und der Subjek- sicht von dem, was beobachtet wird in der Dritte- tivität ein Eigenrecht zukommt? Woher weiß Person-Perspektive unterschieden werden muss, Searle, dass er und nicht Churchland, die genau muss das in der Ersten-Person-Perspektive sub- dieses Eigenrecht der Subjektivität bestreitet, jektiv Erlebbare einem separaten Prozess im Ge- Recht hat? hirn entsprechen. Dadurch, dass es real ist und Was bedeutet das für die Methodik der Neu- existiert, muss Subjektivität in dieser unserer rophilosophie? Die philosophischen Konzepte Welt verankert sein, und wenn es dort lokalisiert und Begriffe haben eine Beziehung zu den neu- ist, dann muss es auch erfassbar sein. Und nun rowissenschaftlichen Beobachtungen, den Fak- ist es endlich einfach, es ist natürlich als Gehirn- ten. Wenn das nicht der Fall ist, muss, wie von funktion erfassbar. Genauso wie die Verdauung Searle gesagt, eine solche Beziehung hergestellt als erfassbare Realität und Existenz den Magen werden. Umgekehrt müssen aber auch die neu- beschreibt, so ist die Realität und Existenz von rowissenschaftlichen Fakten mit den philosophi- Subjektivität in der Gestalt geistiger Funktionen schen Konzepten und Begriffen verknüpft wer- im Gehirn verankert. den. Wenn nun der Subjektivität selber eine eigen- Es ist geradezu naiv von Searle, das zu ver- ständige Realität und Existenz zukommt, kann nachlässigen, weil er dadurch, bei Übereinstim- sie auch im Gehirn verortet werden und dort von mung der Fakten mit den Konzepten, seiner Posi- den Neurowissenschaftlern untersucht werden. tion zusätzliches Gewicht im Vergleich zu Searle macht hiermit einen ursprünglich philo- Churchland verschaffen könnte. Genauso wie sophischen Begriff, wie den der Subjektivität, Täter und Opfer meist beiderseitig „verbandelt“ den Neurowissenschaften zugänglich. Er baut sind, sind auch philosophische Konzepte und somit eine Brücke von der konzeptuell-logischen neurowissenschaftliche Fakten bilateral mitein- Analyse der Philosophie zur experimentellen Be- ander verzahnt. Täter und Opfer sind häufig wie obachtung in den Neurowissenschaften. Er passt Schlüssel und Schloss und genauso scheinen auch also den Begriff und das Konzept der Subjektivität Fakten ein Schüsselloch bzw. Schloss zu sein, in an die Notwendigkeiten der Neurowissenschaf- das Konzepte als Schlüssel hineinpassen und ten an und öffnet ihn für deren Methoden. umgekehrt.

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MYSTERIÖSE THERAPIE che nach dem anderen Fahrer begeben. Was tun, Andere Philosophen des Geistes, die die zen- sprach Colin McGinn? Ganz einfach, sich auf die trale Rolle des Gehirns nicht bestreiten, schrei- Suche nach den versteckten Eigenschaften des ben ihm aber neben neuronalen noch andere Bewusstseins begeben. Aber das ist nicht so ein- nicht-neuronale, sogenannte mysteriöse Eigen- fach. Wir haben nur unsere Wahrnehmung und schaften zu. Es sind Collin McGinn und Thomas die Introspektion zur Verfügung, das ist nicht Nagel. Sie werden von bestimmten Neurophilo- ausreichend. Damit ist genauso wenig Staat zu sophen als sogenannte Mysteriöse bezeichnet. machen wie mit dem veralteten Kartenmaterial Colin McGinn diskutiert zunächst einmal die der Polizei, die damit den fahrerflüchtigen Fahrer Grenzen unserer Erkenntnis. Wir können die ex- stellen will. terne Welt wahrnehmen, wir können sie subjek- Anders als die Polizei ihre Methoden können tiv erleben in der Ersten-Person-Perspektive und wir unsere Wahrnehmung und Introspektion nicht wir können sie beobachten in der Dritten-Person- weiter entwickeln, wir sind an sie gebunden auf Perspektive. Neben der Wahrnehmung der äußeren Gedeih und Verderb. Wir können weder über die Welt können wir uns selber wahrnehmen mittels Wahrnehmung noch die Introspektion hinausge- der Introspektion. Wir können in unser eigenes hen. Aufgrund dieser Limitation können wir die Selbst schauen und wahrnehmen welche Gedan- versteckten Eigenschaften des Bewusstseins nicht ken wir haben, die Art der Gefühle, etc. erfassen, sie bleiben uns prinzipiell verborgen Wahrnehmung und Introspektion erfassen die und sind daher versteckt. Es ist der Polizei somit Welt und die eigene Person im Bewusstsein. Dies prinzipiell unmöglich, den fahrerflüchtigen Fahrer entspricht den sogenannten Oberflächeneigen- zu stellen, da er ein Ufo zur Verfügung hat, das schaften des Bewusstseins, so sagt McGinn. Wo wir mit unseren Geräten nicht orten können. aber eine Oberfläche ist, da ist auch eine Tiefe, McGinn sagt, dass wir auf unserer Gebunden- die sich unter und hinter der Oberfläche versteckt. heit an Wahrnehmung und Introspektion „kognitiv McGinn nimmt daher sogenannte versteckte Ei- geschlossen“ sind. Die Einsicht in diese „kognitive genschaften im Bewusstsein wahr. Bewusstsein Geschlossenheit“ als die Grenze und Limitation ist mehr als das, was wir wahrnehmen; sei es in unser möglichen Erkenntnis zeigt, dass hinter der Welt mittels Wahrnehmung oder in uns sel- dem Bewusstsein mehr stecken muss als nur die ber mittels der Introspektion. oberflächlichen Eigenschaften. Bewusstsein ist Bevor McGinn wieder zu Wort kommt, stellen mehr als was wir wahrnehmen und in der Intro- Sie sich die folgende Situation vor. Sie fahren spektion von uns selber erfassen können. Fahrrad auf der Straße. Sie sehen ein Auto, das Was aber ist dieses „mehr“ des Bewusstseins, vorne am Heck beschädigt ist und Sie sehen ei- das hinter Wahrnehmung und Introspektion ver- nen aufgeregten Fahrer auf der Straße. Sie sind steckt bleibt? Da wir nicht die Grenzen unserer sicher, da muss mehr dahinterstecken. Da steckt Wahrnehmung und Introspektion überschreiten ein anderer dahinter, der den Schaden angerich- können, können wir keine positiven Aussagen tet hat, ein anderer Fahrer mit einem anderen über die versteckten Eigenschaften des Bewusst- Auto. Und der Fahrer des beschädigten Autos ist seins machen. Niemand kann sie beobachten, so aufgeregt, weil der andere Fahrer offenbar keiner hat sie jemals gesehen. Fahrerflucht begangen hat. McGinn benennt die versteckten Eigenschaften So ähnlich ist die Situation laut Colin McGinn des Bewusstsein mit dem Namen Eigenschaft P. mit dem Bewusstsein. Was wir sehen, ist der auf- Diese Eigenschaft P muss im Gehirn selbst loka- geregte Fahrer vor seinem beschädigten Auto – lisiert sein und alles das ausmachen, was wir das sind die oberflächlichen Eigenschaften des Bewusstsein oder Geist nennen. Die versteckte Bewusstseins. Dahinter aber steckt mehr, die Eigenschaft P muss den Mittler zwischen dem versteckten Eigenschaften des Bewusstseins, die bilden, was wir beobachten und wahrnehmen dem versteckten anderen Fahrer, der offenbar können, also zwischen physikalischen und men- Fahrerflucht begangen hat, entsprechen. talen Eigenschaften. Was tun, spricht der Fahrer? Ganz einfach, Wie aber ist die Eigenschaft P beschaffen? Sie die Polizei benachrichtigen und sich auf die Su- kann also weder mental, wie unser Geist, noch

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physikalisch, wie unser Körper, sein. Näheres kön- das Gehirn, sondern in das Gehirn hinein. Man nen wir aufgrund der Grenzen von Wahrnehmung nimmt versteckte Eigenschaften im Gehirn selber und Introspektion nicht sagen. Die versteckte Ei- an, eine Eigenschaft P. genschaft des Bewusstseins, die Eigenschaft P, Das aber ist eine schlechte Therapie. Sie setzt bleibt damit unbestimmt und, wie Neurophiloso- genau das voraus, was sie verneint. Wie kann phen wie Churchland sagen, mysteriös. Colin McGinn eine Eigenschaft P, sei sie noch so Klar ist nach Colin McGinn, dass die Eigen- versteckt, annehmen und sie noch dazu im Gehirn schaft P irgendwo im Gehirn lokalisiert sein muss. lokalisieren, wenn seine eigene Erkenntnis doch Wenn wir kein Gehirn mehr haben, haben wir begrenzt und limitiert ist auf Wahrnehmung und auch kein Bewusstsein. Also muss die Eigenschaft P Introspektion? Das zu behaupten ist naiv. Die eine Eigenschaft des Gehirns sein. Damit wird mysteriöse Therapie ist damit genauso naiv wie aber nicht nur die Eigenschaft P mysteriös, son- die neurophilosophische Therapie. dern das Gehirn selbst. Woher weiß Colin McGinn, dass hinter den für uns wahrnehmbaren oberflächlichen Eigenschaf- DOPPELTES MYSTERIUM ten das Bewusstsein einer versteckten Eigen- Die Diagnose einer Limitation in unserer Er- schaft stecken muss? Woher weiß er, dass diese kenntnis, in Wahrnehmung und Introspektion, ist versteckte Eigenschaft sich im Gehirn versteckt? vielleicht sogar keine schlechte Diagnose. Die Sie erinnern sich an das obige Beispiel, wo Sie Neurophilosophen und Neurowissenschaftler wie als Fahrradfahrer den wild gestikulierenden Fah- Churchland meinen immer, sie können alles er- rer eines beschädigten Autos sehen. Wie wissen, kennen; sie schwingen sich auf zu Gott selber. dass es ein Unfall, ein Zusammenstoß mit einem Sie sind nicht nur im göttlichen Strahl, wie es anderen Auto war? Woher wissen, dass der ande- Thomas von Acquin noch behauptet hat, sondern re Fahrerflucht begangen hat? Weil Sie ihn dort sie sind Gott und somit der Strahl selber. nicht sehen. Die Tatsache aber, dass Sie ihn dort Dagegen geht Colin McGinn an, wenn er von nicht sehen, heißt nicht, dass es den anderen als einer Limitation und den Grenzen unserer Erkennt- Anderen auch wirklich gibt, dass er existiert. nis spricht. Gott hat eine unbegrenzte Erkennt- Der Unfall könnte auch anders verlaufen sein. nis, er weist keinerlei Limitation auf, deswegen Der wild gestikulierende Fahrer könnte gegen die ist er Gott. Der Mensch ist aber nicht Gott. Daher scharfe Mauer des anliegenden Gebäudes gefah- ist seine Erkenntnis nicht unbegrenzt, wir kön- ren sein, den Unfall also selber verursacht haben nen also nicht ausschließen, dass die Erkenntnis und sich jetzt ganz schrecklich über den Hausbe- des Menschen Grenzen und Limitationen auf- sitzer, der verschreckt auf die Straße eilt, aufre- weist. Da Neurowissenschaftler und Neurophilo- gen. Sie wissen es nicht. Colin McGinn aber gibt sophen (leider) auch nur Menschen sind, obwohl vor zu wissen, dass er als Fahrradfahrer sehr wohl sie es manchmal vergessen zu scheinen, können weiß, dass der Unfall durch einen fahrerflüchtigen auch bei Ihnen Grenzen und Limitation in der Fahrer verursacht wurde. Denn er nimmt an, dass Erkenntnis nicht ausgeschlossen werden. Nichts der fahrerflüchtige Fahrer in Form der Eigen- anderes sagt Colin McGinn. schaft P existiert. Aber eine gute Diagnose ist nicht gleichzuset- Colin McGinn weiß sogar, wo sich der fahrer- zen mit einer Therapie. Zumal wenn man sich die flüchtige Fahrer befindet. Er ist ins tiefste Art und Weise der Therapie noch von den Neuro- Schwabenland geflüchtet, das „tiefe Innere des wissenschaftlern und Neurophilosophen abschaut, Gehirns“, wie es Thomas Nagel, ein anderer also von denen, die unbegrenzte Erkenntnis vor- Mysteriker, ausdrückt. Der fahrerflüchtige Fahrer aussetzen. Wie kann man die Grenzen und Limi- befindet sich also im Gehirn. Woher aber wissen tationen unserer Erkenntnis therapieren? Ganz McGinn und Nagel das? Sie können es eigentlich einfach, man macht genau das, was einem schon nicht wissen, da sie nur über alte Landkarten ver- immer vorgemacht wird von den Neurowissen- fügen, wo weder der Weg ins „tiefe Innere des schaftlern und Neurophilosophen. Man verlagert Gehirns“ noch das „tiefe Innere des Gehirns“ den Grund für die Grenze und Limitationen in selber beschrieben und verzeichnet sind. Solche das Gehirn, man projiziert sie einfach nicht auf Orte gibt es auf ihren Karten nicht. Trotzdem

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wissen Sie aber, dass sich der fahrerflüchtige und Neurophilosophen genauso mysteriös wie Fahrer, die Eigenschaft P, dort aufhält. Das ist bei den Mystikern. mysteriös. Wir haben es also mit einem doppelten Myste- SCHLUSSFOLGERUNG rium zu tun. Die Eigenschaft P selber ist mysteriös Das Gehirn selber ist nicht mysteriös. Was und die Annahme und Erkenntnis einer solchen aber die Neurowissenschaftler, Neurophilosophen Eigenschaft P und ihre Lokalisation im Gehirn sind und Philosophen des Geistes aus dem Gehirn mindestens genauso mysteriös wie die Eigen- machen, ist mysteriös. Egal ob Sie eine mysteriö- schaft P selber. Colin McGinn und Nagel sind in se Eigenschaft P im „tiefen Inneren des Gehirns“ der Tat mysteriös, sie sind aber noch viel myste- verorten oder ob Sie religiöse, emotionale und riöser, als sie selber denken. transkulturelle Phänomene in den neuronalen Was aber ist nun der Unterschied zu Neuro- Prozessen des Gehirns lokalisieren, es bleibt philosophen wie Churchland? Sie nehmen an, mysteriös. dass Bewusstsein und somit alle emotionalen, Aber das ist das übliche Muster der Neurophi- transkulturellen und religiösen Phänomene im losophen und Philosophen des Geistes. Für alles Gehirn lokalisiert werden können. Das ICH ist das, was sie nicht erklären können, nehmen sie Gehirn, das Bewusstsein ist Gehirn, nichts als ein bestimmtes Konzept an. Für alles, was sie er- Gehirn. Basta. klären können, nehmen sie bestimmte Konzepte Das ist aber genau dasselbe wie die von ih- an. Je mehr sie erklären und nicht erklären kön- nen kritisierten Mysteriker wie Colin McGinn und nen, desto mehr Konzepte. Es kommt also zu einer Thomas Nagel. Woher wissen die Neurowissen- Inflation der Konzepte. Das habe ich schon beim schaftler und Neurophilosophen, dass emotionale, Konzept und Begriff des ICH’s gesehen, wo die transkulturelle und religiöse Phänomene neuro- Philosophen verschiedene ICHe unterschieden, ein nale Phänomene sind? Sie nehmen doch nur ihre mentales, ein religiöses und ein physikalisches. Emotionen wahr, nicht aber ihr Gehirn, während Dann kommen die Neurophilosophen und Neu- sie Emotionen erleben. Woher wissen Sie, dass rowissenschaftler und nehmen diese Konzepte. das von ihnen beobachtete Gehirn und das was Sie nehmen diese Konzepte und projizieren sie Sie beobachten genau mit dem identisch ist, was einfach auf das Gehirn. Die verschiedenen Kon- passiert wenn man Emotionen erlebt und fühlt? zepte werden in verschiedene Gehirnregionen Woher wissen, dass der neben dem wild ges- verlagert. Inflation und Projektion. Der einzige tikulierenden Mann stehende Mann im blauen Unterschied besteht darin, dass dort etwas als Pelzmantel der Mann ist, der den Unfall verur- unerklärbar durch die neuronale Aktivität des sacht hat? Weder die hinzugerufenen Polizisten, Gehirns angenommen wird. die Neurowissenschaftler, noch die Sondereinheit, Was aber tun? Es wird ein zusätzliches Kon- die Neurophilosophen, können dies wissen. Den zept geschaffen, das diese Phänomene erklären Mann im blauen Pelzmantel also gleich mitzuneh- kann. Eine spezielle Eigenschaft, die nicht neuro- men und hinter Schloss und Riegel zu bringen, nal ist, eine Eigenschaft, wie Collin McGinn sagt. hieße die Regeln des Gesetzes zu brechen. Das ist die Inflation, die konzeptuelle Inflation, Wenn sie Gott spielen, werden die Neurowis- die sich in keinster Weise von einer monetären senschaftler und Neurophilosophen aber genauso Inflation unterscheidet. Was passiert jetzt? Das mysteriös wie die von ihnen kritisierten Myste- Übliche. Denn Inflation ist immer von Projektion riker wie Colin McGinn und Thomas Nagel. Der gefolgt. Also wird das neue Konzept, das myste- einzige Unterschied ist, das die Neurowissen- riöse Konzept, auf das Gehirn selber projiziert. schaftler keine mysteriösen Eigenschaften wie die Die Eigenschaft P wird in das Gehirn verlagert, Eigenschaft P annehmen. Wie bei den Mysteri- „in das tiefe Innere des Gehirns“, wie Thomas kern ist allerdings auch bei ihnen unklar, woher Nagel sagt. Damit machen die Philosophen des sie wissen können, dass sich alles im Gehirn ab- Geistes wie Collin McGinn und Thomas Nagel spielt, ob vermittels der neuronalen Eigenschaf- nichts anderes als die von Ihnen kritisierten Neu- ten oder einer Eigenschaft P. Die Erkenntnis und rophilosophen wie zum Beispiel Patricia Church- Annahme ist also bei den Neurowissenschaftlern land.

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Man kann also viel lernen von den Philoso- LITERATUR phen, den Philosophen des Geistes und den Neu- Churchland, Patricia Smith.: Neurophilosophy. Toward a rophilosophen. Man kann lernen, welche Fehler Unified Science of the Mind-Brain, Cambridge MA man nicht machen soll. Das ist dann ein erster 1986. Schritt zur Entwicklung einer neuen, kritischeren Descartes, Rene: Meditationes de prima philosophia, Latei- und fehlerfreieren neurophilosophischen Methode nisch-Deutsch, hrsg. von Lüder Gäbe, Hamburg 1992. zur Untersuchung des Gehirns und seiner Rolle in McGinn, Colin: The problem of consciousness. Essays den ursprünglich philosophischen Begriffen wie towards a resolution, Cambridge MA 1991. McGinn, Colin: The mysterious flame. Conscious minds in Selbst und Bewusstsein. a material world, New York 1999. Nagel, Thomas: Conceiving the impossible and the mind- ||||| GEORG NORTHOFF body problem. , London 1998, S. 337-352. Nagel, Thomas: The psychophysical nexus, in: New Essays Institute of Mental Health Research, University of Ottawa, Ottawa, Canada on the a Priori, hrsg von Paul A. Boghossian und Christopher Peacocke, Oxford 2000. Northoff, Georg: Das Gehirn. Eine neurophilosophische Bestandsaufnahme, Paderborn 2000. Northoff, Georg: Die Fahndung nach dem Ich. Eine neuro- philosophische Kriminalgeschichte, München 2009. Northoff, Georg: Das disziplinlose Gehirn. Was nun Herr Kant?, München 2012. Schopenhauer, Arthur: Wille und Vorstellung, 1842. Searle, John R.: The mystery of Consciousness, New York 1997. Searle, John R.: How to study consciousness scientifically, in: Philos Trans R Soc Lond B Biol Sci 1377/1998, S. 1935-1942. Searle, John R.: Consciousness, in: Annu Rev Neurosci 23/2000, S. 557-578. Searle, John, R.: Mind – A Brief Introduction, New York 2004.

28 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87

ICH UND MEIN GEHIRN

Zum Erklärungspotenzial der Identitäts- und Supervenienztheorien

UWE AN DER HEIDEN ||||| Die klassische philosophische Frage – „ Wer bin ich?“ – ist heute im Lichte der Neurobiologie neu zu untersuchen. Nach einer Klärung des Ich-Begriffs werden methodo- logische Fragen behandelt, um so die Tragweite von aktuell diskutierten Theorien des Verhältnisses von Ich und Gehirn (Identitätstheorie, Supervenienztheorie) zu eruieren. Auf diese Weise sollen neue Perspektiven in Richtung auf eine Lösung der Gehirn-Geist-Problematik skizziert werden.

EINLEITUNG gemeinsam den Versuch der Naturalisierung des Kann die Aufforderung des Delphischen Ora- Geistes, d. h. die Verfolgung der These, dass das kels „Erkenne Dich selbst!“ nunmehr von der Hirn- Geistig-Seelische des Menschen physisch reprä- forschung beantwortet werden in dem Sinne, das sentiert ist und zwar in erster Linie in seinem Ich sei nichts anderes als das eigene Gehirn und Gehirn. Eine der größten Schwierigkeiten dieses die Untersuchung desselben gebe die abschlie- Naturalismusprogramms ist ihr zentraler Begriff ßende Antwort auf diese Frage? Kann die Hirn- der Repräsentation selbst und seine Bedeutung. forschung den Zugang des Menschen zur Wirk- Es gibt nur eine Richtung, die dieses Problem lichkeit und damit auch zu sich selbst genauer nicht hat, nämlich der sogenannte eliminative aufklären als es bisher Philosophen und Psycho- Materialismus, der schlichtweg die Existenz der logen möglich war? Das ist eine Frage einer kon- geistig-seelischen Phänomene leugnet. Wegen sistenten Methodik, ob und inwieweit allein mit einiger absurder Konsequenzen und seinem Wi- hirnphysiologischen, einschließlich elektro-bio- derspruch zu der Erlebniswelt des Menschen hat chemischen und letztlich physikalischen Untersu- der eliminative Materialismus nur wenige Anhän- chungen die Beziehung zwischen Gehirn und Ich ger und wird deswegen in meinem Aufsatz nicht auch nur formuliert oder womöglich sogar eine weiter diskutiert. Stattdessen soll eine Auseinan- Erklärung für die Art dieser Beziehung gefunden dersetzung stattfinden, die zeigen soll, werden kann und wie weit, im negativen Fall und − dass das Naturalismusprogramm einen ver- komplementär, die philosophischen Theorien und kappten Dualismus darstellt, obwohl es dies Positionen dies leisten können. nicht wahrhaben will und dagegen ankämpft, Zentral und heute am gängigsten für den Zu- − welches Haupthindernis einem Naturalismus- sammenhang von Mentalem (= Geistig-Seelischem) programm im Sinne sowohl eines reduktionis- und Physischem, also dem Gehirn, ist die analy- tischen als auch eines nichtreduktionistischen tische Philosophie des Geistes („philosophy of Physikalismus entgegensteht, und mind“). Obwohl sich hinter diesem paradigmati- − wie eine in echtem Sinne monistische Posi- schen Programm sehr unterschiedliche Richtun- tion aussehen könnte, die den Gegensatz von gen etabliert haben, so haben diese doch alle „physisch“ und „mental“ überwindet.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 29 UWE AN DER HEIDEN

DER ICH-BEGRIFF nomene auf naturwissenschaftliche Phänomene Es ist keine einfache Sache mit dem Ich-Begriff. reduziert und durch diese zu erklären versucht. Ich Zwar kann man Begriffe willkürlich definieren, werde darauf später genauer zu sprechen kommen. aber damit ist nicht garantiert, dass man in irgend- einer Weise etwas Reales getroffen hat. Sollte Ganzheitlicher Ansatz der Ich-Begriff aber etwas Existierendes treffen Das Ich ist der ganze Mensch. oder betreffen, so erhebt sich sofort die Frage, Dieser Ansatz entspricht der umgangssprachli- auf welches Reale der so gefasste Begriff sich denn chen Verwendung des Wortes „Ich“, obwohl diese beziehen soll. Dies ist die Schwierigkeit, die mit der keine bestimmte Definition, auch nicht die eines berühmten Frage „Wer bin ich?“ und der Aufforde- Menschen voraussetzt. Ich und Mensch sind hier- rung des Orakels von Delphi „Erkenne dich selbst!“ nach Grundbegriffe, die nicht nur keiner Definiti- verbunden ist. Bis heute steht eine endgültige on bedürfen, sondern gar nicht definiert werden Antwort aus. Dies ist einer der Gründe, warum die können. Ihre Bedeutung ergibt sich aus ihrer scheinbar einfache Gleichung Ich = mein Gehirn Verwendung, die gemäß Wittgenstein3 jeweils in nicht als gültig nachgewiesen ist. Denn es ist zu- einer Lebensform gegründet ist. nächst einmal die linke Seite nicht definiert. Jede Nach unserer Lebensform hat das Ich sowohl Identitätstheorie, in der das Gehirn vorkommt, körperliche als auch geistig-seelische Eigenschaf- steht und fällt mit einer solchen Definition. ten, und es sind Sätze möglich wie „Ich habe Erlauben Sie mir, einige gängige Antworten Hunger“, „Ich gehe spazieren“, „Ich bin verheira- auf die Frage „Wer oder was bin Ich“ kurz aufzu- tet“, die in den vorher genannten Bedeutungen zählen, und zwar ohne nähere Erörterung und von „Ich“ gar nicht formulierbar sind. ohne Anspruch auf Vollständigkeit.1

Das Ich als Existenzial Geist-Ich Das Ich ist kein Begriff im üblichen Sinne, wie Das Ich ist eine rein geistige Wesenheit, die das etwa der Begriff eines Baumes, der im Prinzip Subjekt und Zentrum, eventuell sogar das unver- unendlich viele Realisierungen zulässt. Vielmehr änderliche Substrat aller Bewusstseinszustände ist das Ich ein einziges Konkretum, dem nicht dieses Ichs ist. viele Ichs subsumiert werden könnten. Das Ich Einige Religionen und einige Geistphilosophien ist stets und ausschließlich das meinige mit all haben einen derartigen Ichbegriff. seinen Erlebnissen, erlebt als die meinigen: meine Funktionales oder personales Ich Schmerzen, meine Freuden, die von mir gelebte Das Ich ist kein Substrat und keine rein geis- Autobiographie, meine Gedanken, Wünsche und tige Wesenheit, sondern eine funktionale Einheit, Pläne. Das Ich ist unvertretbar. auf die hin alles das koordiniert ist, was aus ge- wissen Gründen ein und derselben Person zuge- Ichlosigkeit schrieben wird. Es lässt sich auch die Position vertreten, dass Man kann dies ein funktionales oder persona- das Ich keine dauerhafte Persistenz hat. So sagt les Ich nennen, wobei dieses kein permanentes David Hume, dass das Ich lediglich ein sich stets Substrat als Träger voraussetzt. wandelnder Strom von Empfindungen und Gedan-

ken ist, und der Buddhismus hat den Begriff der Konstruiertes Ich Ichlosigkeit. Das Ich ist ein Konstrukt des Gehirns.

Dieser Standpunkt wird von einigen radikalen Allgemein und zusammenfassend lässt sich Konstruktivisten, z. B von Gerhard Roth2 vertre- sagen, dass es bis heute trotz 3.000-jähriger ten, wonach das Ich Zentrum einer virtuellen Bemühungen nicht zu einer einvernehmlichen Welt und damit letztlich eine Illusion ist. Bestimmung von „Ich“ oder „Selbst“ gekommen Cerebrales Ich ist. Das Orakel von Delphi „Erkenne Dich selbst“ Ich = Gehirn bleibt also ein Orakel und es ist bemerkenswert, Dieses Konzept gehört zu einem reduktionisti- dass der Urgrund unseres eigenen Selbst, so wir schen Programm, das alle geistig-seelischen Phä- eines haben, uns offenbar verborgen ist.

30 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 ICH UND MEIN GEHIRN

DAS GEHIRN, SUBJEKTIVITÄT UND begründet. Vielmehr werden Logik und Mathematik INTERSUBJEKTIVITÄT verwendet, um Ergebnisse physikalischen und Wenn das Ich auf das Gehirn bezogen werden physiologischer Aussagen über das Gehirn zu tref- soll, ist auch zu fragen: Was ist das Gehirn? Ge- fen. Beobachtungen, Logik und Mathematik haben wöhnlich bezeichnet man damit einen räumlich somit ein Primat gegenüber physikalisch-physio- ausgedehnten körperlichen Gegenstand im Kopf logischen Ergebnissen der Hirnforschung. Ein Ver- des Menschen. Als solcher kann er mit allen Metho- stoß gegen diesen Primat impliziert einen fatalen den untersucht werden, die man üblicherweise bei Zirkelschluss, der nichts begründen kann. der Untersuchung körperlicher Gegenstände ver- wendet, wobei das grundlegende Mittel die Beob- DAS QUALIA-PROBLEM achtung mittels der Sinnesorgane ist. Diese wird Das sogenannte Qualia-Problem betrifft den ergänzt und unterstützt durch technische Einrich- subjektiven Erlebnisgehalt eines mentalen Zustan- tungen, wozu insbesondere die naturwissenschaft- des, der dem außenstehenden Beobachter in sei- lichen Untersuchungsmethoden wie Mikroskope, ner Art, wie es ist, etwas Bestimmtes zu erleben, EEGs, Mikroelektrodenableitungen an Einzelnen verschlossen ist. Der Ausdruck Qualia bezeichnet oder Gruppen von Nervenzellen und bildgebende allgemein die Beschaffenheit eines Dings, in die- Verfahren, die die Aktivität von Millionen von sem Fall speziell die Erlebnisse als Inhalt des Nervenzellen betreffen, gehören. Hiernach ist phänomenalen Bewusstseins. Der Philosoph Tho- das Gehirn ein physischer, sich gemäß gewissen mas Nagel4 hat den ersten plastischen Anstoß für Naturgesetzen verhaltender Gegenstand. das Qualia-Problem gesetzt, mit einem Aufsatz Entscheidend ist hier, dass die Ergebnisse mit einer signifikanten Frage als Titel: „Wie ist dieser Methoden grundsätzlich den Charakter na- es, eine Fledermaus zu sein?“ Nagel hat unter- turwissenschaftlicher Erkenntnisse haben. Hierzu sucht, ob wir durch die Kenntnis der Sinnesphy- gehören im Zusammenhang unserer Erörterung siologie der Fledermaus wissen, wie es ist, durch die Intersubjektivität und die Wertfreiheit: Echolotung von der Welt Informationen zu erhal- „Intersubjektivität“ bedeutet hier, dass die phy- ten. Der Leser wird intuitiv zustimmen, dass dies sischen, körperlichen Objekte jedermann zugäng- wohl nicht ausreicht, durch Wissen erfahren zu lich sind. Im Prinzip kann also auch mein Gehirn können, wie sich Teile dieser Welt „auf eine be- von jedermann, einschließlich meiner selbst, mein stimmte Weise anfühlen“. Gehirn mit den genannten Methoden untersuchen. Ähnlich ist das Gedankenexperiment von Diesen Methoden sind jedoch nicht zugänglich Frank C. Jackson5 gestaltet: Die Neurophysiologin meine Gefühle und meine Gedanken als solche. Mary lebt in einer in schwarz-weiß gehaltenen Diese sind nur mir selbst direkt zugänglich und Welt und kennt alles, was über die Physiologie haben insofern den Charakter der Privatheit. des Farbensehens bekannt ist. Eines Tages ist es „Wertfreiheit“ bedeutet hier, dass naturwissen- ihr möglich, hinaus in die bunte Welt zu kommen schaftliche Aussagen, und um solche handelt es und die Frage ist: Hat sie diese sinnliche Erfah- sich bei der Untersuchung des Gehirns mit physi- rung durch ihr Wissen schon gemacht oder han- kalisch-chemischen Methoden, grundsätzlich nichts delt es sich um etwas ganz Neues. über Werte, also insbesondere nichts über gut und Weitere Merkmale charakterisieren die Beson- schlecht, schön oder hässlich, wahr oder falsch derheit des subjektiven phänomenalen Bewusst- aussagen. Sie sagen zwar „Die Phlogiston-Theorie seins im Sinne des Qualia-Merkmals: der Verbrennung ist falsch, und die Sauerstoff- Theorie ist wahr“, aber sie haben nicht die Wahr- Betroffenheitsphänomen heit als solche zum Gegenstand, sondern sie setzen Meine Schmerzen sind nicht die eines anderen die Unterscheidung zwischen wahr und falsch als und umgekehrt. vor jeder Beobachtung gegeben und ungeprüft vor- aus. Insbesondere setzen sie die generelle Wahr- Privatheit des Bewusstseins heit oder Gültigkeit von Beobachtungen voraus. Meine Gedanken und Gefühle sind für andere So werden auch Logik und Mathematik als gültig nicht sinnlich zugänglich im Gegensatz zu den vorausgesetzt und nicht etwa neurophysiologisch Gegenständen der „äußeren Welt“.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 31 UWE AN DER HEIDEN

Priorität von Wahrnehmungen und Gedanken Der Unterschied zweier identischer Gegenstände vor Gehirnzuständen und Neurophilosophie kann nach Frege nur in einer unterschiedlichen Ort und Zeit als physikalische Kategorien tau- Gegebenheitsweise liegen. Diesen Unterschied gen nicht für die charakteristische Beschreibung nennt Frege einen Unterschied des Sinnes. Im von Gefühlen und Gedanken. Auch kann Mathe- Kontext der Gehirn-Geist-Debatte gelten ähnliche matik nicht aus der Neurophilosophie abgeleitet Definitionen: „Jede mentale Eigenschaft bzw. je- oder durch sie begründet werden. der mentale Zustand ist a posteriori identisch mit einer physischen Eigenschaft bzw. einem physi- Intentionalität schen Zustand.“6 Der Umstand, dass weite Bereiche des Erle- Geht man von der zunächst plausiblen, durch bens auf etwas gerichtet sind – etwa im Sinne vielerlei Befunde der modernen Hirnforschung von: „Ich glaube, dass es morgen regnen wird.“ – nahegelegten und von einigen ihrer prominent ge- bringt mit sich, dass die Inhalte des Erlebens be- wordenen Vertreter (z. B. Gerhard Roth und Wolf sonders schwer als physikalische Entitäten zu Singer) vertretenen Annahme aus, dass jedem verstehen sind. mentalen Zustand ein Gehirnzustand entspricht, so liegt die Vermutung nahe und scheint die ein- ZUR IDENTITÄT VON GEHIRNZUSTÄNDEN fachste Lösung zu sein, dass jeder mentale Zu- UND MENTALEN ZUSTÄNDEN stand durch einen physischen realisiert wird, d. h. Das Gehirn-Geist-Problem kann durch die mit ihm identisch ist. Allerdings sind an dieser Inkompatibilität dreier Positionen charakterisiert neurobiologischen Identitätstheorie erhebliche werden, da je 2 der folgenden 3 Positionen die Zweifel angebracht. Einige der Kritikpunkte sind jeweils dritte ausschließen: die folgenden: − mentale Verursachung; (a) Die Identität ist nicht nachgewiesen. Es − kausale Geschlossenheit der physikalischen besteht nach wie vor allenfalls Korrelation zwi- Welt; schen mentalen und physischen Zuständen. − Dualismus. (b) Es könnte sich im weiteren Fortgang der Es sei zunächst angemerkt, dass ein Dualismus Wissenschaften herausstellen, dass die Lokalisie- auch dadurch vermeidbar ist, dass ein spiritua- rung des Geistigen im Gehirn ein ähnlicher Irr- listischer oder idealistischer Monismus oder tum ist wie der ehemalige, dass das Geistige im auch gemäß Bertrand Russel sogenannte neutrale Herzen oder in der Leber lokalisierbar sei. Über- Monismus angenommen wird, der sowohl den haupt ist jede Lokalisierung problematisch, denn mentalen als auch den physischen Phänomenen wo und wie sollte ein Gedanke, z. B. eine logische zu Grunde liegt. Schlussform lokalisiert sein? (c) Da das Gehirn in physikalisch-physiologi- Identitätstheorie scher Hinsicht stufenweise aufgebaut ist (s. oben) Motivationen, eine Identität von mentalen bestehen Schwierigkeiten: Von Elementarteilchen Zuständen und Gehirnzuständen zu behaupten, (es ist fraglich, ob diese Stufe die unterste ist, bestehen u. a. darin: abgesehen davon, dass eine vollständige Theorie (a) einen Dualismus zu vermeiden, insbeson- eines Systems der Elementarteilchen bis heute dere das Problem der mentalen Verursachung von noch aussteht) über Atome, Moleküle, Zellkerne, physischen Ereignissen zum Verschwinden zu Zellmembranen mit ihren Membranpotenzialen, bringen; Aktionspotenziale, Nervenzellen, Gliazellen, Ner- (b) das Prinzip der Abgeschlossenheit der vennetze, usw. wirft diese komplexe Organisa- physischen Welt zu bewahren. tionsform die Frage für die Identitätstheorie auf, Zunächst ist eine genauere Definition des mit welcher dieser Stufen die mentalen Zustände Begriffs „Identität“ erforderlich: identifiziert werden können. Nach Frege besteht Identität zwischen zwei Ge- d) Der bis heute am stärksten favorisierte genständen genau dann, wenn es sich bei beiden Kandidat sind Nervennetze („cell assemblies“). um ein- und denselben Gegenstand handelt, denn Aber es bleibt völlig unerfindlich, wie durch eine ein Gegenstand ist nur mit sich selbst identisch. Verschaltung von Nervenzellen auf Grund von

32 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 ICH UND MEIN GEHIRN

deren physikalisch-physiologischen Eigenschaf- kann nichts Physisches verursachen. Außerdem ten und ihrer Verbindungen beispielsweise der ist die Kausalität der zeitlichen Aufeinanderfolge mentale Zustand einer Empfindung zu Stande von psychischen Ereignissen ausgeschlossen. Die kommt. subjektiv scheinbar gegebene psychische Kausali- e) Da mentale Zustände nicht intersubjektiv tät beruht auf der physischen Kausalität, über die zugänglich (beobachtbar) sind, entsteht die Frage, die psychischen Ereignisse supervenieren. Dabei wie etwas, das intersubjektiv zugänglich ist (wie ist zu beachten, dass ein psychisches Ereignis auf physische Beobachtungen in Raum und Zeit) mit ein, zwei oder mehreren physischen Ereignissen nicht intersubjektiv Zugänglichem identifiziert beruhen kann, aber es ist ausgeschlossen, dass werden könnte. Diese Frage wurde bis heute nicht ein physisches Ereignis an mehreren psychischen beantwortet. Ereignissen beteiligt ist. Letztlich sagt Kim:9 f) Die „Multirealisierbarkeit“: Ein weiteres „Mind-body-supervenience, therefore, does not Hindernis für eine Identifizierung besteht in der state a solution to the mind-body-problem; rather von Saul Kripke beschriebenen Multirealisierbar- it states the problem itself”. keit mentaler Zustände: „Ein bestimmter mentaler Sollte die Supervenienztheorie richtig sein, Zustand kann bei verschiedenen Personen, ja so- so darf sie doch nicht zu dem Fehlschluss führen, gar bei ein und derselben Person im Laufe ihres es gebe nur eine Kausalität des Physischen in Lebens mit unterschiedlichen neuronalen Zustän- Richtung des Mentalen. Das Umgekehrte ist eben- den korreliert sein“(Plastiziät des Gehirns, s. auch so möglich. Beispielsweise kann Begeisterung die unten: Supervenienz).7 Damit scheitert die ein- physische Performance von Handlungen verbes- deutige Identifizierung mentaler mit physischen sern. Ein weiterer wichtiger Beleg für die Kausa- Zuständen. lität von Mentalem auf Physische ist die Leitung Zwischen Gehirnzuständen und mentalen Zu- von Entscheidungen und Handlungen durch phy- ständen sind daher nur Korrelationen feststell- sikalisch nicht darstellbare Wertvorstellungen. bar. Zur Identifizierung fehlt ein Kriterium, das die Identität nachweisen könnte. Insofern ist die DAS WERTEPROBLEM Situation nicht vergleichbar zum Problem Morgen- Ich komme nun auf den Hauptunterschied zwi- stern = Abendstern, bei dem klar ist, worin die schen den mentalen und den physischen Eigen- Identität besteht: Beide sind identisch mit dem schaften des Menschen. Auf Grund ihrer Methodik, Planeten Venus und damit untereinander. Womit die ja seit 400 Jahren enorme Erfolge und gigan- aber könnten meine Gefühle und Gedanken iden- tische praktische Auswirkungen erzielt hat, sind tifiziert werden, mit dem auch das Gehirn identi- dennoch die Ergebnisse der Physik und damit auch fiziert werden könnte? die physikalischen Eigenschaften des Menschen durch völlige Wertneutralität gekennzeichnet und Supervenienztheorie dadurch in ihren Einsichten beschränkt.10 So weit Die Supervenienztheorie ist die derzeit am die Hirnforschung das Gehirn als rein physiko- stärksten diskutierte Konzeption der Gehirn-Geist- chemisches Objekt betrachtet, und dies ist ihre Beziehungen.8 Sie geht von einer Dualität des eigentliche Methode, ist sie eine physikalische Gehirns und des Geistigen aus und besagt, dass Wissenschaft. Physik und Chemie kennen jedoch physische Zustände mit psychischen Zuständen keine Werte. Insofern verfehlen sie vollständig einhergehen und zwar so, dass die psychischen etwas Wesentliches des Menschen, das darin be- Zustände „supervenieren“, also gewissermaßen steht, dass sein gesamtes Fühlen, Denken und „darüber kommen“. Mit diesem sehr allgemeinen Verhalten unter Kriterien der Bewertung stehen. Begriff kann zunächst im philosophischen Dis- Dies beginnt mit dem erwähnten Phänomen kussionskontext die konkrete und diffizile Kausa- der Qualia, die eines der massiven Probleme der litätsfrage umgangen werden: Es gibt so die syn- Reduktion des Psychischen auf Physisches dar- chrone „supervenierende“ Beziehung zwischen stellen. Unter Qualia versteht man die qualitativen Physischem und Psychischem. Allerdings wird, Eigenschaften von Empfindungen und Gefühlen. wie beim Epiphänomenalismus, die diachrone Beispiele sind die wertnegativen Eigenschaften Top-down-Kausalität ausgeschlossen: Psychisches des Schmerzes und die wertpositiven Eigenschaf-

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 33 UWE AN DER HEIDEN

ten von Freude. Die Probleme entzünden sich be- LITERATUR reits an den einfachsten Beispielen. Selbst wenn Beckermann, Ansgar: Identität, Supervenienz und reduk- man annimmt, dass Qualia durch physische Pro- tive Erklärbarkeit. Worum geht es beim Eigenschafts- zesse realisiert sind, wenn man beispielsweise physikalismus?, in: Grenzen und Grenzüberschreitun- gen, XIX. Deutscher Kongress für Philosophie, Vorträge die Hand von einer heißen Herdplatte zurückzieht und Kolloquien, hrsg. von Wolfram Hogrebe und Joa- oder diese gar nicht erst berührt, so fragt sich, ob chim Bromand, Berlin 2004, S. 390-403. dieses Verhalten alleine durch die physischen Eigenschaften des beteiligten Nervensystems verursacht oder ob dafür nicht wesentlich das Schmerzerlebnis bei einer Verbrennung ursächlich ANMERKUNGEN ist. Im ersten Fall endet man in der Position des 1 Eine ausführlichere Diskussion findet sich in an der elimininativen Materialismus, wonach die men- Heiden, Uwe: Ich und mein Gehirn. Die dynamische talen Eigenschaften des Menschen völlig über- Integration von Kognition, Emotion und Verhalten, flüssig sind und keine Relevanz für das Verhalten S. 129-143, in: Dynamisches Denken und Handeln. haben. Es entsteht die Frage, warum es diese über- Philosophie und Wissenschaft in einer komplexen Welt, hrsg. von Theodor Leiber, Stuttgart 2007. haupt gibt. Ferner hat der Mensch durch diese 2 Roth, Gerhard: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Irrelevanz nicht die Fähigkeit, aus Gründen zu Gehirn unser Verhalten steuert, Frankfurt a. M. 2001, denken, zu planen und zu handeln, d. h. Unter- S. 338 f. scheidungen zwischen gut und schlecht, ange- 3 Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchung, nehm und unangenehm, erstrebenswert und zu Berlin 2011. vermeiden, ja sogar die zwischen richtig und 4 Nagel, Thomas: What is it like to be a bat?, in: The falsch sind völlig irrelevant. Diese Position ist Philosophical Review 83/1974, S. 435-450. 5 Jackson, Frank C.: What Mary Didn't Know, in: Journal ohne Selbstwiderspruch nicht haltbar. of Philosophy 83/1986, S. 291-295. Will man dennoch an einer physischen Reali- 6 Zit. nach Beckermann, Ansgar: Analytische Einführung sierung des Mentalen, z. B. zur Vermeidung eines in die Philosophie des Geistes, Berlin 2000, S. 101. Dualismus und zur Verteidigung der Abgeschlos- 7 Zit. nach Beckermann, Analytische Einführung, Berlin senheit der physischen Welt, festhalten, so bleibt 2008, S. 138. nichts anderes übrig, als dass das Physische 8 Kim, Jaegwon: Physicalism, or Something Near Enough, selbst mentale Qualitäten hat. Dies bedeutet aber, Princeton 2005. dass das Physische nicht mehr rein physisch ist, 9 Kim, Jaegwon: Supervenience and Mind. Selected Phil- osophical Essays, Cambridge / New York 1993, S. 167. womit die Grenzen der Physik methodisch und 10 Spohn, Wolfgang: Normativity is the key to the diffe- ontologisch überschritten sind. Diese Konsequenz rence between the human and the natural sciences, scheint mir unvermeidlich zu sein. Insofern liefert in: Explanation, Prediction, and Confirmation, hrsg. die Physik in ihrer heutigen Form kein angemes- von Dennis Dieks und Thomas Uebe, Dordrecht 2011, senes Bild der Wirklichkeit. S. 241-251.

||||| PROF. DR. UWE AN DER HEIDEN Lehrstuhl für Mathematik und Theorie komplexer Systeme, Fakultät für Kulturreflexion – Studium Fundamentale, Universität Witten / Herdecke

34 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87

DAS VERKÖRPERTE SELBST UND MENTALE VERURSACHUNG

THOMAS BUCHHEIM ||||| So wenig, wie der Mensch identisch ist mit einem gewissen Teil eines Menschen, so wenig ist das mit objektiven Methoden beobachtbare Tun und Sich-Verhalten dieses Teils identisch mit dem Tun und Verhalten eines Menschen. 1

DIE NICHTIDENTITÄT VON KÖRPERPROZESSEN spielenden Faktoren an, die so ist, dass sie weit UND BIOGRAPHISCHEN EPISODEN über die Körpergrenzen und die zeitliche Gegen- Es ist merkwürdig, wie man auf eine solche wart eines Menschen hinausreicht. Idee überhaupt verfallen kann. Natürlich ist klar, Steht es nun so, dann kann die mentale Ver- dass niemand ohne Stimmbänder singen kann fassung oder auch absichtsvolle Handlung eines und doch sind nicht die Prozesse in den Stimm- Einzelnen als solche nur erfasst werden, wenn bändern für sich genommen schon Singen. Wir man sie aus der makroskopischen Vogelperspek- sind hier bereits bei einem der zentralen Stich- tive in ihrer Einheit wahrzunehmen in der Lage worte in Bezug auf alle Debatten um das Leib- ist. Dadurch wird der Handlung oder Aktivität Seele-Problem angelangt, nämlich dem Stichwort nicht das Geringste hinzugefügt; eher wird ihr des Dualismus. Ich denke, man braucht für die etwas, das auf biochemischer Ebene dazuzuge- Beschreibung und Festhalten an den Besonder- hören scheint, weggenommen und so allein erst heiten und Leistungen des Bewusstseins gegen- eine Abgrenzung im raumzeitlichen Kontinuum über allen physikalisch beschreibbaren Weltzu- materieller Prozesse markiert, die als Handlung ständen tatsächlich eine Art von Dualismus, der einem Menschen zugehört und nicht dem Raum, sich etwa so verhält wie die Mikroprozesse in den in dem er sich befindet, oder der Luft, die er Stimmbändern eines Sängers sich zum Singen atmet etc. verhalten. Man meine nicht, dass das eine Klei- Wie aber unterscheidet sich dann zum Bei- nigkeit sei und man nur etwa die Mikroprozesse spiel das Singen eines Menschen von den bio- der Luft, der Lunge, der Kehle, des Mundes, der chemisch konstituierten Stimmbandprozessen in Zunge, des Zwerchfells usw. hinzunehmen müsse, ein und demselben Moment? Das eine – das Sin- um so das komplette Singen zu erhalten. Viel- gen – bezeichne ich als biographische Episode. mehr scheint man neben alledem auch zu benö- Das andere – die Prozesse in den Stimmbändern – tigen: das Atmen, das Hören, das Sprechen, das nenne ich einfach Körperprozesse. Die dualisti- Gestimmtsein und Geübtsein und natürlich die sche Behauptung lautet, dass Körperprozesse ganze Konzentration und Spannung, also man nicht identisch mit biographischen Episoden sind, braucht eigentlich den ganzen Menschen, seine weil die einen in uferloser Vernetzung über grö- akkumulierten Fähigkeiten und Operationen, ßere raumzeitliche Regionen des materiellen Uni- seine Umgebung und die besondere Situation, versums ausgebreitet sind, während nur die Letz- um nur das Singen, so wie es im Moment ist, zu teren sich von ihrem weiteren Zusammenhang haben. Auch die Neurobiologie erkennt die ufer- intern abgrenzen und so erst einem einzelnen lose Vielzahl und Ausdehnung der eine Rolle Menschen als die seinen zuordenbar sind. Aber

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 35 THOMAS BUCHHEIM

natürlich sind beide nicht so verschieden, dass (c) sie sind interne Variationen im Fortgang die einen nichts mit den anderen zu tun hätten; desselben Lebens (rhythmische, nicht nur zeitli- und zwar insbesondere die biographischen Epi- che Teile davon). soden mit den Körperprozessen, aber nicht un- Im Unterschied dazu sind Körperprozesse bedingt umgekehrt: Es gibt niemals biographi- raumzeitlich präzis lokalisierte und differenzier- sche Episoden ohne systematische Verknüpfung te Vorkommnisse in den Körperteilen, d. h. mit Körperprozessen, doch gibt es sehr wohl Körperprozesse im Körper eines Menschen (z. B. Körperprozesse Immunabwehr) ohne systematische Knüpfung an (a) sind Ereignisse in beliebig kleinen Körper- biographische Episoden. Mit „systematischer teilen eines lebendigen Organismus, die zugleich Verknüpfung“ meine ich, dass der Prozesstyp in in unabgrenzbarer Vernetzung mit anderen ste- funktionalem und konkretisierendem Zusammen- hen – auch über die raumzeitlichen Grenzen des hang mit dem Stattfinden der biographischen Organismus hinaus; Episode steht, so wie die Stimmbandprozesse in (b) sie sind als solche ausschließlich durch funktionalem und konkretisierendem Zusammen- genau lokalisierte und datierbare physikalische hang mit dem Stattfinden des Singens stehen. Eigenschaften beschreibbar; Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass (c) und jede Differenz im Profil der Eigen- Körperprozesse stets in kleinräumigere und kurz- schaften ergibt eine Verschiedenheit der Ereig- zeitigere Körperprozesse aufgelöst werden kön- nisse. nen, ohne ihre charakteristische Gesamtbeschaf- Weder die einschlägigen Körperprozesse fenheit einzubüßen. D. h. Körperprozesse sind noch biographische Episoden sind, obwohl dua- einfache Summen von Mikroprozessen. Hingegen listisch verschieden, ontologisch getrennt vor- sind biographische Episoden nicht unter eine kommende Entitäten. Sie haben vielmehr beide gewisse Schwelle in kleinteiligere und kurzzeiti- eine Einbettung in die Existenz der lebendigen gere Bausteine zerlegbar, ohne nicht mehr biogra- Individuen, in deren Körper sie auftreten bzw. phische Episoden zu sein (d. h. nicht Summen, deren Leben sie variieren. Weil man nun die Le- sondern dynamische Produkte, nicht-lineare Grenz- bewesen sämtlich als physische Entitäten oder übergänge). Sie erfordern eine gewisse Dauer physische Dinge bezeichnen kann, haben wir auf und bestimmte Ausdehnung und sie sind nur diese Weise einen innerphysischen oder, wie ich dem ganzen Menschen als seine (holistischen) ihn gerne nenne, horizontalen Dualismus – näm- Zustände zuzusprechen, weil sie eben stets das lich nicht einen Unterschied der (vertikalen) Lebendigsein dieses Gesamtkörpers vorausset- Überlagerung von verschiedenen ontologischen zen, sonst wären sie keine biographischen Epi- Ebenen (des Physischen mit dem Nichtphysi- soden. schen), sondern vielmehr einen Unterschied der Der dritte Unterschied, den ich nennen möch- Zusammenfassung (Komposition) oder Gliederung te, liegt darin, dass biographische Episoden nicht einer gemeinsamen Sachlage (der somatischen adäquat beschreibbar sind, ohne auf ihren Stel- Prozessfragmente in psychischen oder mentalen lenwert im Zusammenhang des Fortgangs eines Zuständen oder Episoden). spezifischen Lebenslaufs oder gar einer viele Eine kurze Bemerkung zum Ausdruck „Kom- Individuen umfassenden Lebensform zu rekurrie- position“: Hier hat sich der Eindruck verfestigt, ren, während Körperprozesse prinzipiell ohne als handle es sich bei einer Komposition um eine den Zusammenhang, in dem sie auftreten, nur als Zusammensetzung von unterschiedlichen Ord- solche beschrieben werden können. Diese Unter- nungen angehörigen Entitäten: etwa von Körper schiede noch einmal kurz gefasst: und Seele oder von Form und Materie etc. Aber fragen sie bspw. den Komponisten nach dem, was Biographische Episoden Komposition ist, so wird er sagen, es sei eben eine (a) sind genau einem lebendigen System im Zusammensetzung von Dingen einer Art, nämlich Ganzen als die seinigen zuzuschreiben (holistisch); Tönen nach bestimmten Formen, Rhythmen und (b) sie treten nicht auf ohne konkrete und Gesetzen. So auch die Komposition des horizon- funktionale Körperprozesse (organisch gebunden); talen Dualismus: Die Körperprozesse sind nicht

36 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 DAS VERKÖRPERTE SELBST UND MENTALE VERURSACHUNG

mit den biographischen Episoden oder mentalen und bleiben Begleiterscheinung und sind nicht Zuständen zusammengesetzt, sondern ihnen ge- selbst der ganze Tatbestand seelischen Lebens. mäß oder entsprechend zusammengesetzt. Nichts- Seelische Verfassungen können deshalb niemals destoweniger kann man das, was in eine Zusam- identifiziert werden mit irgendwelchen somati- mensetzung eingeht, nicht identifizieren mit den schen Zuständen und Vorgängen, die an Körpertei- Formen und Ordnungen, in denen es eine Kom- len festzustellen sind und aus ihnen zu bestimm- position darstellt. ten regionalen Aktivitätsmustern aufsummiert werden. Sie sind vielmehr ohne Ausnahme ein- DAS SOMATISCHE ALS SYMPTOM DES gebettet in Lebensepisoden, die biographische PSYCHISCHEN Relevanz haben, d. h. das lebenserhaltende und Die körperlichen Zustände und Prozesse sind lebensgestaltende Verhalten des Gesamtorganis- nach der von mir bevorzugten Ausdrucksweise mus charakterisieren. Innerhalb einer Lebens- nur die Symptome der auch psychisch charakte- episode sind einzelne psychische Phänomene am risierten Gesamtlage („Lebenslage“) eines Lebe- besten als „operative Zustände“ des Gesamtsys- wesens. Alle psychischen Verfassungen und Vor- tems zu kennzeichnen, also welche, die bei Ope- kommnisse sind Charakteristika einer Lebenslage, rationen des betreffenden Lebewesens anfallen in der sich das gesamte lebendige Individuum (etwa motorische, ästhetische, linguistische, befindet; alle somatischen Zustände sind dagegen kognitive Operationen). Mit der Gleichheit und nur gewisse Symptome davon, die auch zusam- Variabilität der Operationen geht die Gleichheit mengenommen nicht mit einer momentanen psy- und Variabilität der psychischen Verfassungen chischen Verfassung identifiziert werden können. einher – so jedenfalls meine These. Denn eine Komposition ist niemals nur Summie- Ich spreche von „operativen“ Zuständen, weil rung der Tonfragmente, sondern zugleich sich das, was wir eine Operation oder Tätigkeit nen- perpetuierende Ausgrenzung aller anderen akus- nen, wie z. B. das Singen eines Vogels oder Lesen tischen Ereignisse über ihren Gesamtverlauf hin- eines Satzes stets eine bestimmte Abfolge von weg (z. B. Hüsteln aus dem Publikum). Wir wis- solchen oben beschriebenen Kulminationen oder sen auch nicht genau, welche Symptomgruppen Lebenslagen des betreffenden Gesamtorganismus mit welchen psychischen Vorkommnissen einher- ist. Der entscheidende Unterschied zu einer Ge- gehen und es sind offenbar nicht immer genau schehenssequenz besteht darin, dass die Stadien gleiche mit den gleichen. Auch neigen wir unver- einer Geschehenssequenz unmittelbar kausal nünftiger Weise dazu, allein die neurophysiologi- miteinander verknüpft sind, während die Lebens- schen Symptome schon als vollständiges Korrelat lagen zwar in jedem einzelnen Stadium von den einer seelischen oder mentalen Verfassung anzu- integrierten körperlichen Symptomen kausal ab- sehen. Doch ist das wohl kaum zu rechtfertigen. hängig sind, aber die Abfolge untereinander nicht Möglich ist freilich, dass ganz bestimmte Neuro- in direkter Kausalverbindung steht, sondern von Erregungsmuster in höherem Maße charakteris- einem operativen Programm gesteuert wird. Den tisch für ganz bestimmte psychische Verfassun- Ausdruck „Programm“ gebrauche ich dabei ganz gen oder mentale Leistungen sind, also essentiell unspezifisch um auszudrücken, dass die Abfolge damit gekoppelte Symptome, während andere der operativen Zustände durch anderweitige somatischen Symptome austauschbar und hoch- Vorkehrungen, die nicht in der Sequenz selbst variabel erscheinen. Auf der anderen Seite zei- liegen, festgelegt ist. Es kann sich daher sowohl gen viele Forschungen über zerebrale Verletzun- um instinktive wie genetische wie auch gelernte gen auf, dass ganz unterschiedliche Areale und oder eigens zurechtgelegte „Programmierungen“ also auch unterschiedliche Neuro-Symptome für oder Vorkehrungen handeln. Wie der Vogel singt, die gleichen seelischen Funktionen requiriert wer- welche tonalen Kulminationen welchen anderen den können. Auch die vielzitierte Plastizität des folgen oder nicht folgen, hängt jedenfalls ab Gehirns deutet darauf, dass nicht das spezielle von einem externen Gesangsprogramm in einem Ensemble von Neuro-Symptomen mit dem psychi- solchen Sinne, nicht von der unmittelbaren Kau- schen Vorkommnis exklusiv korreliert oder gar salität der jeweils vorangehenden Kulmination gleichgesetzt werden kann. Die Symptome sind des Vogellebens. Deshalb ist die Abfolge und mit

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 37 THOMAS BUCHHEIM

ihr die Operation des Singens steuerbar, die Ge- prinzip und dem Prinzip der Begünstigung – schehenssequenzen hingegen sind nicht steuer- möchte ich zunächst einen einigermaßen überra- bar. schenden Beleg aus einem mittlerweile berühmt Die Charakteristik der psychischen Verfas- gewordenen neurowissenschaftlichen Experiment sungen zeigt an, in welche Art von biographi- anführen (dessen Kenntnis ich Benedikt Grothe schen Episoden sie gehören und welche Art von verdanke), bevor ich dann ein allgemeines Modell Operationen durch sie zu vollziehen sind. Wer mentaler Verursachung daraus zu extrapolieren nicht Balance halten kann, der kann nicht Fahr- versuche. rad fahren; wer nicht sehen kann, der kann nicht malen; wer nicht summieren kann, der kann auch EIN BEISPIEL FÜR DIE KAUSALITÄT DES nicht malnehmen oder komplexere Rechnungen PSYCHISCHEN ALS SOLCHEN ausführen; wer den Takt nicht hören kann, der Ein sehr interessantes Experiment, das Jose kann nicht tanzen usf. Stets ermöglichen be- M. Carmena und Miguel A. L. Nicolelis vor eini- stimmte operative Gesamtzustände mit bestimm- gen Jahren an der Duke University in Durham, tem psychophysischem Profil die Eingliederung North Carolina USA durchgeführt haben, belegt in bestimmte Tätigkeiten und operative Sequen- auf eindrucksvolle Weise das, was ich hier be- zen und damit den Fortgang entsprechender Hand- haupten möchte:2 lungen. Eine Handlung oder Operation scheitert, Die Gruppe um Nicolelis und Carmena er- wenn die operativen Zustände nicht das passen- forschten an dem Verhalten von Affen als Proban- de psychophysische Profil aufweisen, das den den die Steuerung von maschinellen Prothesen Schlüssel zum Fortgang der Handlung darstellt. durch sogenannte Brain-Machine Interfaces, d. h. Durch bestimmte Handlungstore schreiten wir widmeten sich der Frage, mit welchen neurona- nie; durch andere erst nach langer Zeit und len Populationen in was für Erregungszuständen Übung; durch wiederum andere schon nach kur- welche feinmotorischen Steuerungen etwa von zer Zeit oder sogar von Geburt an. Entsprechend Armen bzw. Armprothesen ausgelöst werden. Zu sind die operativen Zustände unserer Lebensepi- diesem Zweck ließen sie Affen ein Computerspiel soden schlichter oder anspruchsvoller, aspirier- spielen, das diese mithilfe eines Joysticks steuer- ter oder gewöhnlicher. Dieses Schlüsselprinzip in ten. Die Aufgabe war, einen leuchtenden Punkt, Beziehung auf den Fortgang von Operationen der auf dem Bildschirm auftauchte, möglichst von Lebenslage zu Lebenslage scheint mir be- rasch und effektiv zu treffen etc. Während des sonders wichtig zu sein, um das zu begreifen, Spielens wurden den Affen die Gehirnströme in was man häufig auch als mentale Kausalität be- bestimmten Hirnarealen abgeleitet und zwar mit zeichnet und dingfest zu machen gesucht hat. einer relativ feinen Auflösung derjenigen Neuro- Denn da die Abfolge der operativen Zustände un- nenpopulationen, die man in Verdacht hatte, je- ter sich keine direkte Kausalverbindung besitzt, ne Steuerungsbewegungen der Arme auszulösen. kann in einer bestimmten Lebenslage solange Die Affen lernten das Spiel ziemlich rasch gut zu verharrt werden, bis der passende somatische spielen, und sie spielten es gerne. Unterdessen Schlüssel bereitsteht, der den Organismus in die wurden die gemessenen Hirnströme, zusätzlich operativ anschließende Lebenslage eintreten aufbereitet durch ein simples Lernprogramm, zur lässt. Hierbei können nun die psychischen oder Steuerung eines Roboterarms eingesetzt, der nun mentalen Merkmale der schon eingenommenen wiederum ähnliche Bewegungen auszuführen Lebenslage eine bestimmte kausale Relevanz begann wie der Affe. Um eine genauere Fokus- für die Bereitstellung des richtigen somatischen sierung der steuerungsrelevanten Neuro-Signale Schlüssels für das Vorrücken ins nächste opera- zu erzielen, wurden nach einer gewissen Zeit die tive Stadium erhalten. Kontakte zwischen dem Joystick des Affen und Diese Art der kausalen Relevanz von psychi- „seinem“ Computer mit dem Spiel am Bildschirm schen oder mentalen Merkmalen einer Lebens- unterbrochen und stattdessen demselben Com- lage nenne ich das Prinzip der Begünstigung. Für puter die aus dem Affengehirn stammenden Neu- die Kombination beider genannten Prinzipien in rosignale eingegeben. D. h., in Wirklichkeit steu- Fällen mentaler Verursachung – dem Schlüssel- erten jetzt nicht mehr die Arme der Affen das

38 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 DAS VERKÖRPERTE SELBST UND MENTALE VERURSACHUNG

Spiel, sondern die Gehirne direkt. Dies führte umgekehrt. Weil der Affe sich ärgert und in den zunächst zu einem gravierenden Abfall der Tref- früheren Erfolgszustand zurückzukehren tendiert, ferleistung jedes Affen, dem aber sogleich eine wird das Neuronenfeuer anders selektiert und die signifikante Verhaltensänderung und damit ver- für den Spielerfolg günstigsten Varianten geför- bunden ein Umbau auch der neuroaktiven Symp- dert. Allgemein formuliert: In das Tor des jeweils tomatik folgte, bis schließlich die Trefferleistung nächsten Schrittes einer biographisch relevanten wieder anstieg und fast ihren alten Wert erreichte: Operation treten wir immer dadurch ein, dass die Zunächst vollführte der Affe übergroße, viel zu aus- mit dem Vollzug der Tätigkeit einhergehende ladende Steuerungsbewegungen mit den Armen, körperliche Schlüsselsymptomatik passend re- um den Abfall der Leistung zu kompensieren. organisiert wird. Wenn wir ein Ei auf einem Löffel Dabei änderten sich natürlich auch die engagier- balancierend zum Ziel rennen oder einen vollen ten Neuronenpopulation und ihre Erregungskur- Teller Suppe zum Tisch tragen, so erreichen wir ven an den Messpunkten, bis schließlich in einer den jeweils nächsten Schritt und schließlich das reformierten und umgebauten Weise diese Neuro- Ziel nur, wenn die somatische Symptomatik per- aktivität wieder zu ähnlichen Ergebnissen führte manent der Operationsfolge angemessen reorga- wie vorher. Die Affen merkten recht schnell, dass nisiert wird. Andernfalls verunglückt oder ent- die Bewegung ihrer Arme kausal irrelevant waren gleist die Operation und unsere Biographie von und steuerten fürderhin das Computerspiel ohne Lebenslagen nähme einen etwas anderen Verlauf. Armbewegung nur kraft ihrer Gehirnströme. Dies scheint nun, so lehrt das obige Experiment, Am Verlauf dieses Experiments sieht man nicht nur für Balanceakte und Armbewegungen deutlich, welche Art von Phänomengruppen wel- zu gelten, die wir willentlich und bewusst zu chen anderen kausal vorgeordnet zu sein schei- kontrollieren gelernt haben, sondern auch für nen: Die Absenkung der Trefferleistung verändert Neuropopulationen und Erregungsmuster in unse- die Lebenslage des Affen, die, sagen wir, durch rem Gehirn. Auch sie folgen der programmierten Enttäuschung und Ärger über das plötzlich schlech- Folge der Operation, und wir variieren so lange tere Trefferergebnis gekennzeichnet ist. Der Är- chaotisch und auf gut Glück, bis wir dank einer ger wiederum ruft die Anstrengung wach, die Lage passenden Population das jeweils nächste Tor wieder zu verbessern. Die Anstrengung führt der gewünschten Operation aufschließen. Unsere nun zum signifikanten Umbau der körperlichen operativen gedanklichen Fertigkeiten, etwa beim Symptomatik, also bspw. zu den ausladenden Rechnen oder Lesen, könnten durchaus so gebaut Armbewegungen mit dem Steuerknüppel. Das sein. Und da das Gehirn stark plastische Eigen- heißt, es wird nach dem passenden somatischen schaften hat, sind ein oder mehrmals erfolgreich Schlüssel gesucht, um in der operativen Sequenz absolvierte Operationen ein guter Pfad für den des Spiels wieder adäquat vorrücken zu können. ersprießlichen Fortgang unseres Lebens. Da das den Affen nicht weiterbringt, werden die inzwischen chaotischer flackernden Neuropopu- EIN ALLGEMEINER MODELLVORSCHLAG: lationen im Affenhirn anders selektiert als zuvor: MENTALE KAUSALITÄT DURCH Es werden nämlich diejenigen begünstigt, die zu BEGÜNSTIGUNG Signalen führen, welche die Trefferleistung wie- Auf diese Weise scheint es möglich zu sein, der verbessern und so dem Affenleben einen ein allgemeines Modell für die Kausalität biogra- nunmehr passenden Schlüssel für das Gelingen phischer Episoden und den darin eingebetteten des Spiels an die Hand geben; andere werden psychischen Verfassungen und mentalen Leistun- unterdrückt und verebben aufgrund der Irrele- gen zu beschreiben: Der organische Körper eines vanz. So lernt der Affe das Computerspiel dank Lebewesens ist nicht von Moment zu Moment einer leicht umgebautem Neuronenfeuer direkt mit dem einheitlichen kausalen Sukzession unterworfen, Gehirn zu kontrollieren. Wichtig für uns ist nur, sondern bildet ein Gefüge relativ stark von ein- dass der Umbau der Neurosymptome in der Ope- ander abgegrenzter, aber sich überschneidender rationsfolge des Spiels den biographisch gepräg- und daher koordinationsfähiger Funktionssyste- ten Lebensumständen mit ihren eingebetteten me, die wiederum in eine Vielzahl untergeordne- psychischen Verfassungen nachfolgt und nicht ter Kausalzusammenhänge zerfallen. Aus diesem

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 39 THOMAS BUCHHEIM

Grund ist die körperliche Symptomatik unter- dem Neuronenfeuer, das ohne die Einhaltung schiedlicher biographischer Episoden und der operativer Denkregeln in jedem von uns einen darin eingebetteten psychischen und mentalen ganz anderen Fortgang nehmen könnte, indem es Verfassungen oft über den ganzen Körper zer- gewissermaßen ständig nur entgleist, aber nie- streut, bildet Muster und Beziehungen aus, die mals schließt. Das Denken als solches hat, wie nicht unmittelbar miteinander in einem für das jedem klar sein dürfte, gewisse Charakteristika, Gesamtverhalten kausalen Zusammenhang ste- die kein somatischer Prozess oder Prozessgefüge hen, sondern vielmehr symptomatischer Ausdruck aufweisen kann. Ich nenne einige von ihnen: des Verhaltens oder operativen Zustandes des − Intentionalität (etwas meinen, Bedeutsamkeit), gesamten lebendigen Organismus sind, wie es − Subjektivität (Erlebnisqualität; Erste-Person- vorher mithilfe der Argumente des Aristoteles Perspektive), beschrieben wurde. Das Ensemble somatischer − Reflexivität (Selbstdurchsichtigkeit; Wahrneh- einschließlich der neuronalen Symptome ist des- men, dass ich es bin, der denkt), halb disponibel je nach den Lebenslagen und − Integration von Fremdperspektiven (Einfüh- einschlägigen biographischen Verhaltensweisen, lung, Mitteilung, Sprachcharakter), durch die ein solcher Organismus manövriert − Verneinungsfähigkeit (Negation, Opposition wird. Wenn wir bspw. etwas lernen, dann setzen und Verweigerung), wir unseren Körper einer Situation aus, die dazu − Wahrheitsorientierung (Gedanken zielen auf geeignet ist, einen bestimmten Teil der somati- Wahrheit), schen Symptomatik unseres Operierens schlüs- − Normativität (wir kalkulieren in unserem selfähig umzubauen. Wir wiederholen z. B. ein Handeln einschlägige Normen ein). bestimmtes Fremdwort oder eine Lautfolge so- Diese und andere sicherlich nichtphysischen lange, bis wir sie flüssig und richtig artikulieren. Merkmale müssen also ihre kausale Spur in unser Oder wir versuchen, solange auf dem Fahrradsitz körperliches Dasein setzen können. Deswegen auszuharren, bis wir durch die größere Ge- reicht es nicht zu sagen, dass geistige Verfassun- schwindigkeit eine leichtere Balance finden. Wir gen lediglich neuronale Zustände sind (Identi- schaffen uns also gegenseitig und anschließend tätstheorie)3 oder auf neuronalen supervenieren häufig auch für uns alleine Umstände, in denen (ohne eigene Kausalrelevanz)4 oder „kraft“ ihrer eine ganz bestimmte Symptomatik, einschließ- Identität mit gewissen neuronalen Zuständen lich der neuronalen, begünstigt wird, um so in kausal relevant sind (anomaler Monismus).5 das jeweils nächste Tor unserer Operationen vor- Denn in all diesen Modellen werden die genann- rücken zu können. Und wenn wir etwas einüben, ten Charakteristika des Denkens kausal depoten- verharren wir suchend und chaotisch variierend ziert. Nicht sie sind es, die das, was geschieht vor diesem Tor, bis wir leichtgängig hineinkom- kausal erklärbar machen, sondern jene neurona- men und die Operation voranschreitet. len Zustände. So war vielmehr im oben beschrie- Nicht akzeptabel ist aber, wie schon anfangs benen Experiment offensichtlich der Wunsch des gesagt, die Meinung, dass jene operativen Gesamt- Affen, die Trefferleistung wieder zu verbessern, verfassungen identisch mit dem jeweiligen so- ursächlich für die Umstrukturierung seiner Ge- matischen Symptom oder dem neuronalen Mus- hirnströme. Die besondere Lebenslage, in der ter etc. seien. Denn dann gäben wir die Wahrheit sich der Affe insgesamt befindet, die nicht nur der Behauptung wieder auf, dass die psychischen seinen Gehirnzustand betrifft, sondern seine Ge- und gedanklichen Verfassungen und Sequenzen samtverfassung als Affe mit gewissen Interessen als solche und in ihren nicht-somatischen Cha- und Erfahrungen (die insofern durchaus intentio- rakteristika kausal für den somatischen Fortgang nale Charakteristika aufweist), begünstigt, wie unseres Daseins sein könnten. Wir pflegen das wir sagten, die Produktion bestimmter neuronaler Denken deshalb, weil sein symptomatischer Aus- Zustände, die ihm einen operativen Schlüssel für druck in unserem Verhalten und damit im soma- das Spiel an die Hand gäben, und vernachlässigt tischen Verlaufsprofil unseres Lebens, enorme andere. Es sind stets größere Populationen ver- Vorteile und Verbesserungen einbringt. Diese Vor- wandter Zustände, die ein Gehirn produziert, wel- teile sind dann dem Denken zu verdanken, nicht che aber doch in gewissen Zügen voneinander

40 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 DAS VERKÖRPERTE SELBST UND MENTALE VERURSACHUNG

abweichen. Solche Abweichungen könnten durch Geleis der Operation bleibt, nicht entgleitet wie Begünstigung akzentuiert und durch Vernachläs- beim Anfänger im Suppetragen oder Eierlaufen. sigung weitgehend ausgemerzt werden. Die Begünstigungen sind hier schon gefasst auf Die Begriffe der Begünstigung und des die jeweils folgenden Lagen, die an sie anschlie- Schlüssels für charakteristische Änderungen ßen werden. Deshalb gibt es Enttäuschungen, wo einer Gesamtlage ist überall dort sinnvoll und jemand Operationen nicht flexibel genug be- wichtig, wo die Veränderung eines umfassenden herrscht. Zusammenhangs systematisch verkoppelt ist mit (4) Die Links zwischen operationalen Stadien der einzelner Glieder oder Symptome dieses Zu- oder Operationen als Ganzen können wiederum sammenhangs. Wir finden dergleichen z. B. in zu Merkmalen bestimmter Lebenslagen erhoben der Wirtschaft und anderen konjunkturellen Phä- werden, durch die weitere Schlüssel zu Opera- nomenen wie dem Wetter und Wachstum von tionen begünstigt oder Varianten der Operation Populationen. Hier kann eine bestimmte Verän- leichter anschlussfähig werden. derung des neuralgischen Details schlüsselartig (5) So kann eine gute „Verlinkung“ leicht zum eine Reorganisation des umfassenden Zusam- ausschlaggebenden Motiv von Operationen wer- menhangs auslösen. Und umgekehrt kann eine den: Wir rechnen oder tanzen, weil wir es so gut geringfügige Torsion des umfassenden Zusam- können, und begeben uns forciert in Lebensla- menhangs eine neuralgische Veränderung von gen, die immer wieder neu die entsprechenden bestimmten Gliedern des Zusammenhangs be- Schlüssel perfektionieren. Auch das hat Aristote- günstigen oder benachteiligen. In dieser Weise les schon beschrieben: Der Tüchtige operiert im verhalten sich zueinander auch die umfassenden Sinne seiner Tüchtigkeit, weil es ihm Freude Lebenslagen, in denen ein komplexer Organis- macht. So kommt es zu einer Begünstigungsspi- mus sich befindet, und die Symptome in den ein- rale, die sich in ihrer operativen Weiterentwick- zelnen Körperteilen, die bei gewissen operativen lung selbst beschleunigt. Zuständen des Gesamtorganismus anfallen, aber (6) Die sechste Stufe besteht darin, dass man nicht immer schon schließen. Ein Modell des Enttäuschungen so gut wie immer vermeidet, psychophysischen Kausalzusammenhangs durch d. h. seine Operationen zum Ziel bringt durch Begünstigung könnte daher m. E. etwa folgen- Anpassungen an die spezielle Situation, durch dermaßen aussehen: die hindurch man die Folge von Lebenslagen er- (1) Wir lernen dadurch, dass wir uns gegen- folgreich „steuern“ muss. Es bleibt aber für alle seitig und jeder sich selbst in geeignete Lebens- menschlichen Operationen wichtig, bestimmte lagen manövrieren und so Umstände schaffen für geeignete Räume zu schaffen, in denen die Ope- bestimmte statt andere somatische Produktionen, rationen, wenn sie sehr komplex sind, überhaupt die unsere Lebenslagen schließfähiger für gewisse gelingen können. Auch hier leisten wir uns vieles operationale Zielzustände machen. gegenseitig, wie am Anfang des Lernens. (2) Die Lebenslage (= operationales Stadium), So kann es insgesamt sein, dass wir uns auf in die wir uns manövrieren oder manövrieren eine bestimmte Weise verhalten im kausalen Sinn lassen, begünstigt kraft bestimmter nicht- wegen der spezifischen Charakteristika unserer physikalischer Merkmale der in sie eingebetteten geistigen Verfassungen wie Intentionalität, Sub- psychischen und mentalen Verfassungen die jektivität, Kontextualität, Reflexivität und Inter- Produktion eines somatischen Schlüssels für das subjektivität von Gedanken oder Volitionen etc. Vorrücken desselben Lebens in eine sich opera- Wenn das geschilderte Modell mentaler Kausa- tional anschließende Lebenslage. lität akzeptabel erschiene, dann wäre freilich die (3) So wird ein Link geschaffen zwischen be- Identitätstheorie des Mentalen mit dem rein phy- stimmten Abfolgen operativer Zustände und auch sikalisch zu Beschreibenden falsch. Das Konzept zu operationalen Sequenzen insgesamt. Operati- der Supervenienz sowie der anomale Monismus onsversuche schaffen nämlich allmählich Passagen ohne psychophysische Kausalität unzureichend. und Brückenköpfe von Vermögen oder besser: Vielmehr gäbe es eine echte Kausalität geistiger Fertigkeiten, das sind mehr oder weniger lange Leistungen, die zwar Verfassungen physisch-ma- Strecken, in denen die Folge der Lebenslagen im terieller Wesen, aber nicht somatische, sprich:

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 41 THOMAS BUCHHEIM

physikalisch beschreib- und erklärbare Zustände ANMERKUNGEN solcher Wesen wären. Außerdem würde ein Spezi- fikum des Geistigen dadurch besonders heraus- 1 Vgl. zur philosophischen Systematik dieser Unter- gestrichen, nämlich dies, dass man sich gegen- scheidung Buchheim, Thomas: Unser Verlangen nach Freiheit, Hamburg 2006, S. 37-66. seitig dazu verhilft und verhelfen muss, solche 2 Siehe Carmena, Jose M. / Nicolelis, Miguel A. L. u. a.: Verfassungen zum wichtigen und immer wichtige- Learning to Control a Brain-Machine Interface for ren Bestandteil seines Lebens machen zu können. Reaching and Grasping by Primates, in: PloS Biology Weil man aber in jedem Fall ursprünglich von I 2/2003, S. 193-208, http://biology.plosjournals.org anderen, die es schon können, in anfangsgeeig- 3 Vgl. z. B. Stich, Stephen: From Folk to nete Lebenslagen „manövriert werden“ musste, Cognitive Science, Cambridge 1983; Pauen, Michael / ist dies m. E. auch eine Schlüsselperspektive für Stephan, Achim (Hrsg): Phänomenales Bewusstsein. Social Neuroscience. Rückkehr zur Identitätstheorie?, Paderborn 2002. 4 Vgl. z. B. Jackson, Frank: Epiphenomenal Qualia, in: The Philosophical Quarterly 32/1982, S. 127-136; Kim, ||||| PROF. DR.THOMAS BUCHHEIM Jaegwon: Supervenience and Mind. Selected Philo- ist Lehrstuhlinhaber für Philosophie an der sophical Essays, Cambridge 1993. Ludwig-Maximilians-Universität, München 5 Vgl. z. B. Davidson, Donald: Mental Events, in: Actions and Events, von Dems., Oxford 1980, S. 207-227.

LITERATUR Hacker, Peter / Bennett, Maxwell: The Philosophical Foundations of Neuroscience, Oxford 2003. Bennett, Maxwell / Dennett, Daniel / Hacker, Peter / Searle, John: Neuroscience and Philosophy. Brain, Mind, and Language. With an Introduction and Conclusion by Daniel Robinson, New York 2007. Buchheim, Thomas: Sômatikê energeia – ein aktualisierter Vorschlag des Aristoteles zur Lösung des Leib-Seele- Problems, in: Das Leib-Seele-Problem. Antwort- versuche aus medizinisch-naturwissenschaftlicher, philosophischer und theologischer Sicht, hrsg. von Friedrich Hermanni und Thomas Buchheim, München 2006, S. 85-106. Cacioppo, John T. / Shelley, E. Taylor u. a. (Hrsg.): Foundations in Social Neuroscience, Cambridge 2002. Strawson, Peter F.: Individuals. An Essay in Descriptive Metaphysics, London / New York 1959.

42 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87

ZUR BEDEUTUNG DES BEGRIFFS „ICH“ IN DER PSYCHIATRIE

CHRISTINE GRÜNHUT ||||| Das Gehirn-Geist-Problem – wie im Homo neurobiologicus veranschau- licht – wird hier am Beispiel der Psychopathologie in der Schizophrenie beleuchtet. Das Konzept des Ich stellt in der Psychiatrie und Psychotherapie eine zentrale und bisher unersetzbare Funktion für das Verständnis der Symptome und die Therapie von bestimmten Erkrankungen dar.

GRUNDFRAGEN ZUM GEHIRN-GEIST-PROBLEM dächtnis“, das „Ich“, das „Selbst“ usw., für die Wissenschaft ist in ihrem Erkenntnisstreben bisher nur wenige umschriebene neurobiologi- darum bemüht, die Vielfalt der Erscheinungen auf sche Korrelate identifiziert wurden. Insbesonde- eine einzige Grundstruktur zurückzuführen (z. B. re die Konstrukte „Ich“ bzw. „Selbst“ sind für die Atom), ein allgemeines Gesetz (z. B. E = mc 2) Psychiatrie bedeutsam, da die meisten psychi- oder ein grundlegendes Substrat (z. B. Wasser schen Erkrankungen mit einem veränderten Ich- als Eis und Wolke) zu finden, aus dem sich die bzw. Selbsterleben der Person einhergehen. Die- Vielfalt herleiten lässt. Dieses reduktionistische se Kategorien bilden daher – beispielsweise für Erkenntnisprogramm wird auch in Hinblick auf einige Arbeitsansätze der Lehre der psychischen die Reduktion des Geistigen auf das Physische, Erkrankungen (Psychopathologie) – eine wichti- also auf das Gehirn, im Rahmen der sogenannten ge und weiterhin unverzichtbare Grundlage im Naturalisierung bzw. Biologisierung des Geistigen Verständnis der klinisch beobachtbaren Symp- angewandt. tome. Im Rahmen der Psychotherapie und in der Wenngleich viele Argumente in diesem Sinne Verständigung mit dem Patienten sind sogar die für einen reduktiven materialistischen Monismus Begriffe des Ich und Selbst auseinanderzuhal- sprechen, der die psychischen Zustände und Pro- ten,3 doch wird hier nicht näher darauf einge- zesse als Gehirnzustände und -prozesse interpre- gangen. tiert, bleiben – je genauer man diese Position Anhand des Beispiels der Schizophrenie wird betrachtet – viele wichtige Fragen offen. Das im Folgenden verdeutlicht, dass der Begriff des in diesem Zusammenhang formulierte „Gehirn- „Ich“ in der Psychopathologie sehr zentral und für Geist-Problem“ im Sinne des „Homo neurobio- das Verständnis der äußerst komplexen Symptome logicus“, das das Verhältnis des Geistigen zum hilfreich ist. Dieser Bereich der psychiatrischen Gehirn zum Gegenstand hat, zeigt bis heute Theorie wird aber nun gerade durch die Hirnfor- keine lückenlose Konzeption.1 Vor allem der schung infrage gestellt. So läuft seit etwa 15 Jah- „eleminative Materialismus“, der sogar die Be- ren eine heftige Diskussion über die sachliche grifflichkeit der Psychologie und wohl auch der Berechtigung der Konstrukte „Ich“, „Selbst“, „Per- Psychiatrie zugunsten gehirnbiologischer Kon- son“ und dgl., angestoßen durch entsprechende zepte als überflüssig ansieht, erscheint nicht Forschungsergebnisse der Neurobiologie und akzeptabel.2 Wesentliche Begriffe der Gehirn- daraus folgenden Interpretationen.4 Diese Kon- Geist-Debatte sind nämlich das „Bewusstsein“, strukte werden allerdings auch in der Philoso- die „Wahrnehmung“, das „Denken“, das „Ge- phie kritisch diskutiert. 5

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 43 CHRISTINE GRÜNHUT

WAS IST UND WARUM BRAUCHEN WIR weiter Vorschub. Sowohl in der Diagnostik aber PSYCHOPATHOLOGIE? noch mehr im individuellen Umgang mit dem Pa- Elementarer Bestandteil der Psychiatrie ist die tienten stellt diese Form der einfachen Kategori- Psychopathologie als Lehre von den krankhaft sierung von Erkrankungen jedoch in vielerlei veränderten Formen des Bewusstseins, Erinne- Hinsicht eine insuffiziente und unbefriedigende rungsvermögens und Gefühls- bzw. gesamten Lösung dar. Diese Form des Reduktionismus, in- Seelenlebens. So ist die Basis der psychiatrischen ternational inzwischen von vielen Ärzten und Untersuchung über Jahrzehnte der psychische Fachverbänden kritisiert, wird von anderen Inte- bzw. psychopathologische Befund. Er setzt sich ressengruppen nicht nur begrüßt, sondern auch aus der Prüfung der sogenannten kognitiven und in der neurobiologischen Forschung als Basis affektiven Funktionen zusammen. Die entspre- herangezogen. chenden Befunde werden im Folgenden in be- Ermangels einer Psychopathologie, die die schreibend-klassifikatorische Kategorien erfasst einzelnen seelischen Prozesse und Zustände, und dargestellt:6 Bewusstseins-, Orientierungs-, ähnlich wie die Psychoanalyse, in einen dynami- Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen; Denk- schen Wechselspiel zu erfassen erlaubt, wird viel störungen, Wahn, Ich-Störungen; Störungen der Hoffnung auf die Neurobiologie gesetzt. Davon Gefühlswelt bzw. Affektivität, Antriebs- und Be- später. Es gibt allerdings noch einen hier interes- wegungsstörungen, sexueller Antrieb, circadiane sierenden Arbeitsansatz der Psychopathologie, Besonderheiten (Schlaf), Befürchtungen und nämlich jenen der Ich-Psychopathologie, der ein Zwänge usw. interessantes Erklärungspotenzial hat. Durch die Beurteilung dieser Dimensionen des psychischen Zustands können charakteristi- DAS „ICH“ IN PHILOSOPHIE UND IN sche Symptomprofile psychischer Störungen er- PSYCHOPATHOLOGIE fasst und beschrieben werden, die in ihrer Kom- Der substantivische Begriff des „Ich“ wird in plexität dann als typische Erscheinungsformen der Philosophie bereits einige Jahrhunderte ver- psychischer Erkrankungen in Diagnosekategorien wendet und im deutschen Sprachraum aufgrund zusammengefasst werden. In dieser Form zeigt der Interpretationen der Übersetzungen aus dem sich, dass es auch zur Erforschung von Krankhei- Englischen kontrovers aufgefasst. Vor allem im ten mit sehr vielfältigen Phänomenen der Reduk- Rahmen der Philosophie von John Locke und ins- tion auf einzelne sehr charakteristische Erschei- besondere bei Immanuel Kant findet sich diese nungen bedarf. Auf der Suche nach solchen vieldiskutierte Kategorie. Grundstrukturen einer Erkrankung werden ein- Für John Locke ist das Ich das bewusst den- zelne markante Symptome ausgewählt und in kende Wesen, gleichviel aus welcher Substanz es weiterer Folge wird versucht, die Ursachen und besteht (ob aus geistiger oder materieller, einfa- Hintergründe darzustellen, also eine erklärende cher oder zusammengesetzter), das für Freude Krankheitstheorie zu entwickeln. und Schmerz empfindlich und sich seiner be- In den letzten Jahrzehnten fand allerdings un- wusst ist, das für Glück und Unglück empfänglich abhängig von der neurobiologischen Forschung ist und sich deshalb so weit um sich selber im Fach der Psychopathologie eine dramatische kümmert, wie jenes Bewusstsein sich erstreckt.8 Veränderung statt: Anstelle der ausführlichen und Immanuel Kant hat die auch für heute noch differenzierten erzählend-beschreibenden Psycho- relevanten Analysen des Ich vorgelegt und diese pathologie kommen nun seit längerem, vor allem Entität zusammenfassend so beschrieben:9 „Das aus dem angloamerikanischen Raum, immer mehr ‚ich denke‘ muss all meine Vorstellungen beglei- standardisierte verkürzende Beurteilungsskalen ten können.“ Damit ist gemeint, dass das Ich- zur Anwendung, die die psychopathologischen Bewusstsein allen weiteren Erlebnissen zugrun- Phänomene in Skalenwerten abbilden und zwar de liegt.10 Die äußerst komplexe Konzeption des in Form von Checklisten.7 Dieser ursprünglich „Ich“, wie sie Kant charakterisiert hat, wird von wertvolle Versuch der Vereinfachung und inter- Eisler im Kant-Lexikon höchst interessant zusam- nationalen Standardisierung der Diagnostik leis- mengefasst, wobei zu betonen ist, dass der eilige tete aber auch dem biologischen Reduktionismus Leser den folgenden Textabschnitt nur rasch zu

44 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 ZUR BEDEUTUNG DES BEGRIFFS „ICH“ IN DER PSYCHIATRIE

überfliegen braucht. Für einige Leser birgt dieser − Das Ich als Urheber der Handlungen (Urhe- Abschnitt allerdings vielleicht Anregungen zum berschaft). eigenen Nachdenken über sich selbst:11 − Das Ich als Subjekt der Autobiographie (trans- „Das Ich ist als Gegenstand des ‚inneren Sin- temporale Einheit). nes‘, als empirisches Ich, ebenso Erscheinung In dieser Bedeutungsvariante stellt sich die Fra- wie das Außending. Das Ich wird nicht in seinem ge des Nutzens des Begriffs des Ich in der Psy- Sein an sich erkannt. Auch das ‚reine Ich‘ als chiatrie. In der Psychiatrie gewinnt nämlich die ‚Subjekt‘ ist nicht Ding an sich, wenn es auch Verwendung des substantivisch gebrauchten Ich- nicht Erscheinung ist. Es ist eben überhaupt kein Begriffs vor allem ab Ende des 19., beginnendem Ding, keine einfache Substanz oder Kraft, son- 20. Jahrhunderts an Bedeutung und führt auch in dern bedeutet die logische, transzendentale (Er- dieser Disziplin zu unterschiedlichen Auffassun- kenntnis bedingende) Einheit des Bewusstseins, gen und Interpretationen. Der Neurologe und der Apperzeption, ein ‚reines‘ Bewusstsein, das Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud alles Vorstellen begleitet oder doch begleiten verwendet den Ich-Begriff in der Psychoanalyse können muss, den Einheitspunkt des Bewusst- (Ich, Es, Überich) dazu, eine zentrale steuernde seins, auf den sich alles Vorstellen beziehen lässt; Instanz über Denken, Wahrnehmen und Erinnern es ist rein formal, ist nicht einmal ein Begriff (mit anzunehmen, die mit einem Selbstbild, den Vor- bestimmtem Inhalte), sondern das ‚Vehikel aller stellungen zur eigenen Person verbunden ist. Begriffe‘, der Grund des Denkens, die oberste Angelehnt an dieses Begriffsverständnis ist auch Voraussetzung desselben. Das menschliche Ich die bereits erwähnte Kategorie der Ich-Störun- ist nicht bloß Erscheinung, sondern auch ein gen der klinischen Psychiatrie zu sehen. Andere ‚Noumenon‘, etwas Übersinnliches, dessen Mani- vielfältige Varianten des Ich-Begriffs finden festation die freie, sittliche Gesetzgebung ist. Die sich auch noch in den diversen Psychotherapie- Außenwelt ist nicht vom empirischen, einzelnen, schulen. Und schließlich wird auch der Begriff gewordenen, psychologisch sich entwickelnden des Selbst, wie erwähnt, oft synonym oder zu- Ich abhängig, sondern hat dieselbe ‚empirische mindest sehr ähnlich verwendet, worauf wir Realität‘ wie dieses, ist nicht in, sondern außer hier nicht eingehen können und hier die durch- ihm, ja bedingt dessen bestimmtes Dasein in der wegs sinnvolle Unterscheidung vernachlässigen Zeit, indem die innere Erfahrung schon die äußere müssen.14 voraussetzt. Empirisches Ich sowohl als Außen- In der frühen Psychopathologie war vor allem welt sind als solche Erscheinungen, deren Form Karl Jaspers, Psychiater und Philosoph, sehr von der Gesetzlichkeit des reinen (transzenden- bemüht, diverse psychische Veränderungen im talen) Bewusstseins (nicht im kausalen Sinne) Rahmen psychischer Erkrankungen genau zu abhängig ist, d. h. sie haben diese Gesetzlichkeit dokumentieren. Die von ihm beobachteten Pati- zur Voraussetzung, Grundlage.“ enten beschrieben auf direkte oder indirekte Wei- Es ist leicht vorstellbar, dass dieses komplexe se ihre Erlebenswelten, Wahrnehmungen, Verän- Konstrukt des Ichs bei Kant zur Vielschichtigkeit derungen. Ein wichtiger Fokus seiner Arbeit lag des Ich zu vielfältigen Diskussionen geführt haben, auf der Erfassung der Veränderung des Ich-Erle- die wir hier – mit der Psychiatrie im Fokus – nicht bens. Er führt dazu Folgendes grundlegend aus:15 vertiefen können.12 Dennoch möchte ich hier „Wir stellen dem Gegenstandsbewusstsein das noch kurz eine mehrdimensionale, aber systemati- Ich-Bewusstsein gegenüber. Wie wir in jenem sierte Charakterisierung des Ich eines Psychiaters mannigfache Weisen, in der uns Gegenstände (K. Vogeley) und eines Philosophen (A. Newen) gegeben sind, unterscheiden mussten, so haben anführen, die eine Diskussionsgrundlage bieten wir es auch beim Ich-Bewusstsein, der Weise können:13 wie das Ich sich seiner selbst bewusst ist, nicht − Das Ich als Zentrum der räumlichen und kogni- mit einem einfachen Phänomen zu tun. Das Ich- tiven Perspektive (Perspektivität). Bewusstsein hat vier formale Merkmale: das − Das Ich als Träger meiner subjektiven Erfah- Tätigkeitsgefühl, ein Aktivitätsbewusstsein, das rungen und Körperzustände (Meinigkeit / zu- Bewusstsein der Einfachheit: Ich bin einer im mir-Gehörigkeit). gleichen Augenblick, das Bewusstsein der Identi-

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 45 CHRISTINE GRÜNHUT

tät: Ich bin derselbe wie von jeher und das Ich- SCHIZOPHRENIE bewusstsein im Gegensatz zum Außen und zum Die Schizophrenie als Prototyp einer „Geistes- Anderen.“ Er formuliert an anderer Stelle: „In krankheit“ ist seit Jahrhunderten bekannt, aber dieser inhaltlichen Erscheinung und Entwicklung erst durch Eugen Bleuler so benannt. Philippe wird sich das Ich seiner als Persönlichkeit be- Pinel beschrieb im 18. Jahrhundert bereits in wusst.“ seinem bahnbrechenden Werk „Philosophisch- Heute wird das Ich, in Anlehnung an Jaspers, medizinische Abhandlung über Geisteskrankheit beispielsweise in dem weit verbreiteten Lehrbuch und Manie“ u. a. eine Démence und B. A. Morel zur Psychopathologie von Christian Scharfetter, im 19. Jahrhundert eine Démence précoce, was einem der größten klinischen Schizophrenie-For- später von Emil Kraepelin als dementia praecox scher der letzten Jahre, folgendermaßen definiert:16 (frühzeitige Demenz) übernommen wurde.17 Krae- „Das Ich macht den wachen, bewusstseinsklaren pelin wollte vornehmlich durch objektive Beob- Menschen aus, der um sich selbst weiß, sich als achtung der Kranken erkennen und beschreiben. gestimmt, gerichtet, wahrnehmend, wünschend, Im Gegensatz dazu setzte sich sein Schweizer bedürftig, getrieben, verlangend, fühlend, den- Kollege Eugen Bleuler auch mit der Erlebniswelt kend, handelnd in der Kontinuität seiner Lebens- der Patienten auseinander, sodass er weiterhin geschichte erfährt. Wir gebrauchen das substan- brauchbare Grundlagen und Einsichten zur klini- tivische Abstraktum ‚Ich‘ zur Benennung dieses schen Psychopathologie der Schizophrenie legte. je eigenen Selbstseins und sind dabei der Zusam- Er zeigte von Anfang an Interesse an den psycho- mengehörigkeit von Ich und Welt eingedenk.“ analytischen Ansätzen Sigmund Freuds, was sich Und weiter heißt es: „Die Menschen sind jeweils auch in seiner Psychopathologie widerspiegelt. ‚Ich‘ in unterschiedlichem Grad der Vergegen- Seine Beschreibung der Symptome und die zu- wärtigung je nach Entwicklungsstand, Selbstre- gehörige Klassifikationen sind bis heute relevant flexion, Introspektion, Kultur. … Was wir mit Ich und Basis der gängigen internationalen Klassifi- meinen, das Erlebens- und Verhaltenszentrum, kationen. das sich im sozialen Kontext, in der Welt über- Die heute offizielle, internationale, für die Dia- haupt ortet, die Anlaufstelle für das Ankommen- gnose gültige Beschreibung der Schizophrenie und de, Verbindungsstätte vom Gegenwärtigen mit der schizophrenen Störung lautet, wie folgt:18 Vergangenheit und Zukunft, Verarbeitungs- und − Die schizophrenen Störungen sind im allgemei- Sendestätte für alles Efferente, ist natürlich auch nen durch grundlegende und charakteristische in diesen (anderen) Kulturen ‚da‘, das heißt, die Störungen des Denken und der Wahrnehmung Menschen leben es, sind es, soweit sie ‚gesund‘ sowie durch inadäquate oder verflachte Af- funktionieren.“ fekte gekennzeichnet. Nach Scharfetter und in Anlehnung an Jaspers − Die Bewusstseinsklarheit und intellektuellen hat der Gesunde ein Ich-Bewusstsein als die Fähigkeiten sind in der Regel nicht beein- Gewissheit des wachen, bewusstseinsklaren Men- trächtigt, obwohl sich im Laufe der Zeit, aber schen: „Ich bin ich selber“, das heißt, ich bin le- auch zu Beginn gewisse kognitive Defizite bendig (Ich-Vitalität), ich bin eigenständig und entwickeln können. selbstbestimmt im Vernehmen und Handeln (Ich- Die wichtigsten psychopathologischen Phänome- Aktivität), ich bin einheitlich und zusammenhän- ne im Bereich des Denkens sind Gedankenlaut- gend (Ich-Konsistenz), ich bin abgegrenzt und werden, Gedankeneingebung oder Gedankenent- unterschieden von anderen Wesen / Dingen (Ich- zug und Gedankenausbreitung. Diese Phänomene Demarkation), ich bin selbig im Verlauf des vermitteln der betroffenen Person den Eindruck, Lebens und in verschiedenen Lebenslagen (Ich- dass sie nicht mehr Herr des eigenen psychischen Identität). Geschehens ist, was dem Konzept der Störungen Und genau diese Dimensionen des Ich-Erle- der Ich-Funktion bzw. der Ich-Störungen entspricht bens sind am eindrücklichsten bei der Schizo- (s. u.). Ähnlich ist der Wahn zu sehen, als Beein- phrenie gestört, wenngleich verschiedene Aspekte flussungswahn oder das Gefühl des Gemachten, auch bei anderen psychischen Krankheiten ver- was zunehmend zu einer neuen subjektiven ändert sind. Identität führt. Halluzinierte Stimmen, die in der

46 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 ZUR BEDEUTUNG DES BEGRIFFS „ICH“ IN DER PSYCHIATRIE

dritten Person den Patienten kommentieren oder − Störung der Ich-Vitalität: Hier bilden sich über ihn sprechen, allgemeine Denkstörungen das Erleben vom Absterben, dem Tod, Unter- und Negativsymptome ergänzen das sehr hetero- gang, dem Nicht-mehr-Sein, dem Weltunter- gene Symptombild. gang, Untergang anderer Menschen usw. ab. Wie eingangs beschrieben, besteht auch für − Störung der Ich-Aktivität: Diese Dimension die Psychopathologie die Aufgabe, die Vielfalt erfasst das Erleben des Verlustes des Gefühls dieser Symptome auf sinnvolle Symptomgruppen der Eigenmächtigkeit im Handeln und Den- zurückzuführen. Besonders nachhaltig wirksam ken, der Fremdsteuerung und -beeinflussung, für das Verständnis und als Theorie dieser Symp- der Kontrolle im Erleben, Handeln, Denken, tomvielfalt ist bis heute Eugen Bleulers Modell,19 Fühlen, Lahmgelegtsein, Besessensein. das von Grundsymptomen (substratnahe, Gehirn- − Störung der Ich-Konsistenz: Das Erleben der bedingte Symptome) und Sekundärsymptomen, die Änderung der Beschaffenheit des Leibes, der möglicherweise als Reaktionen auf die Grundsymp- Aufhebung des Zusammenhangs des Leibes tome aufzufassen sind, ausgeht: Grundsymptome oder seiner Teile, der Gedanken-Gefühlsver- sind Denkstörungen (Assoziationsstörungen), Am- bindung, der Gedankenketten, Willens- und bivalenz und Autismus; Sekundärsymptome sind Handlungsimpulse, Veränderung der Welt usw. demnach Halluzinationen, Wahn etc., sie entste- sind Merkmale dieser Dimension. hen erst aus dem Versuch des Umgangs mit Pri- − Störung der Ich-Demarkation: Dieser Stö- märsymptomen. rungsaspekt betrifft Unsicherheit, Schwäche Das hier interessierende Konzept „Ich“ setzt oder Aufhebung der Ich-nicht-Ich-Abgrenzung, Eugen Bleuler mit der Persönlichkeit gleich:20 das Fehlen eines (privaten) Eigenbereichs im „Das Ich ist der Teil des Menschseins, der be- Leiblichen, im Denken, Fühlen, Störung der wusst als Ich erlebt wird. Im Ich ordnet sich die Innen- / Außen- und Fremd- / Eigen-Unter- rationale und emotionale Erfahrung über die scheidung. Realitätsanpassung, die Berücksichtigung der ak- − Störung der Ich-Identität: Diese Kategorie tuellen Situation und alles was aus dem Es und erfasst die erlebte Unsicherheit über eigene dem Über-Ich uns beeinflusst, zu einer geordne- Identität, die Angst vor Verlust der eigenen ten Anpassung an die Welt, in der wir leben. Jede Identität, Erleben des Verlusts der eigenen Geisteskrankheit bildet die Persönlichkeit um.“ Identität, Erleben der Veränderung der Körper- Für die Schizophrenie interpretiert sieht dies formen, Geschlechtsänderung, Verwandlung sein Sohn Manfred Bleuler so:21 „[Die] Gesamt- in ein anderes Wesen, Änderung der Herkunfts- persönlichkeit [ist] aufgelockert, gespalten und identität usw. der natürlichen Harmonie verlustig, was sich Diese umfassende Systematik der Ich-Psycho- gleichermaßen in der Zerfahrenheit, der Parathy- pathologie von Scharfetter zur Einordnung der mie und der Depersonalisation äußert.“ komplexen Symptome der Schizophrenie hat inter- Im Rahmen der heutigen Psychopathologie wird national allerdings wenig Beachtung gefunden, das Erleben der Menschen mit schizophrenen obgleich sie konzeptionell gut mit der Ich-Phi- Störungen so charakterisiert, dass es grundlegend losophie anschlussfähig ist. auch durch Ich-Störungen geprägt ist. Einige Es ist aber auch interessant, diesen Ansatz auf wichtige Begriffe der „Ich-Störungen“ werden in Erforschung der neurobiologischen Grundlagen einem aktuellen Psychiatrielehrbuch beschrieben:22 der Schizophrenie weiter zu verfolgen. Derealisation (Welt wird als anders erlebt), De- personalisation (Person wird als anders erlebt), NEUROBIOLOGIE Autismus (reduzierte Beteiligung an der Außen- Grundsätzlich wird in der Neurobiologie mit welt), Fremdbeeinflussungserlebnisse u. a. in Form Hilfe der bildgebenden Methoden und mit den der Fremdbeeinflussung des Denkens und der Methoden aus der Genetik und Molekularbiologie Gedankenausbreitung. nach den neuralen Korrelaten psychischer Stö- Im Rahmen der weiterführenden Ich-Psycho- rungen gesucht. Die neurobiologische Forschung pathologie bietet sich nach Scharfetter eine ge- in der Psychiatrie hat in methodischer Hinsicht stufte Systematik an.23 bei der Untersuchung der Schizophrenie wie

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 47 CHRISTINE GRÜNHUT

auch bei anderen psychischen Störungen diese zeigen konnten. Neuerdings wird deshalb – in Untersuchungstechniken bei Kranken angewandt Einklang mit diesen teilweise widersprüchlichen und die Befunde mit jenen bei Gesunden vergli- Befunden – die Hypothese der strukturellen und chen. Im Falle von Differenzen wurde und wird funktionellen „Dyskonnektivität“ des Gehirns for- versucht, diese Befunde mit anderen Erkenntnis- muliert, die besagt, dass verschiedene Gehirn- sen der Funktionen verschiedener Gehirnstruktu- gebiete miteinander besonders schwach oder ren in Beziehung zu setzen. Auf diese Weise soll besonders stark verbunden sind.26 Das betrifft z. B. die Ursache für das schizophrene Erleben beispielsweise die deutlich schwache Verbindung und Verhalten gefunden werden. Dabei stehen des Stirnhirns (präfrontaler Cortex) mit dem Symptome wie Wahrnehmungsstörungen, Denk- Schläfenlappen (temporaler Cortex). Diese aktu- störungen oder Gedächtnisstörungen im Vorder- elle Forschungshypothese der Dyskonnektion deckt grund, für die morphologische Korrelate gesucht sich auch stark mit dem Konzept der Assoziati- werden.24 Die oben beschriebenen Defizite der onsstörung nach Bleuler. Aber kann dadurch ein Ich-Funktionen korrespondieren recht gut mit so- schubhafter Verlauf mit schweren Krankheits- genannten eher deskriptiven substratnahen Theo- symptomen und weitgehender völlig gesunden rien einer „Filterstörung“ oder entsprechenden Phasen erklärt werden? „Stress-Vulnerabilität-Konzepten“: In dieser Sicht- Vor allem bei so zentralen psychopatholo- weise kommt es bei bestimmten Menschen bei gischen Konstrukten wie dem Ich und seinen Vorliegen einer gewissen Krankheitsdisposition Störungen scheint die Neurobiologie allerdings (Empfindlichkeit), verbunden mit bestimmten an ihre Grenzen zu stoßen. Die Störungen des Stressoren, zum Ausbruch einer Erkrankung mit Selbst-Erlebens scheinen zwar mit einer stärker ihren benannten Störungen und zwar wegen zu fragmentierten Aktivierung der mittelliniennahen schwacher Informationsverarbeitungsalgorith- Gehirnstrukturen, die dem limbischen System men. zugehörig sind (posteriorer anteriorer cingulärer Auf Basis dieses Konzepts und der neurobio- Cortex), einherzugehen,27 aber es besteht der logischen Methodologie wurde von der Makro- Trend, dass heute in der Hirnforschung die Eli- anatomie ausgehend eine Volumenreduktion des mination des Ich-Begriffes diskutiert wird. Dies Gehirns und damit einhergehend eine veränderte in besonderem Ausmaß deswegen, weil aufgrund lokale Aktivierung des Gehirns gefunden. Auf der diverser neurobiologischer Untersuchungen die Mesoebene wurden Funktionsstörungen der ein- fehlende Willensfreiheit des Menschen postuliert zelnen Neurone (Chandelier Zellen im Cortex) wird und damit das Ich-Erleben, wie es oben dar- und ihrer Verbindungen über Synapsen, Transmit- gestellt wurde, als wirkungsloses Epiphänomen terkonzentrationen (GABA, Dopamin, Glutamat klassifiziert wird. usw.) identifiziert. So wurde bei schizophrenen Es wird deutlich: Dank der neurobiologischen Menschen, die Stimmen hören, also akustische Forschung ist es zwar möglich, immer besser und Halluzinationen haben, eine Überaktivität im detaillierter bei Schizophrenie auftretende Ge- Bereich der akustischen Hirnrinde, also im Schlä- hirnmerkmale zu beschreiben, einem Durchbruch fenlappen, gefunden. Auch wurde festgestellt, des Verständnisses der Erkrankung Schizophrenie dass die kognitiven Symptome, wie das gemin- kommen wir bisher jedoch nicht wesentlich nä- derte Arbeitsgedächtnis, mit einer verminderten her – die aktuelle „Dyskonnektions-Hypothese“ Fähigkeit des sogenannten präfrontalen Cortex, sagt theoretisch nicht viel mehr als die Assozia- schnelle elektrische Wellen (hochfrequente Gam- tionsstörungen im weiteren Sinne, an die Bleuler ma-Wellen) zu generieren, einhergeht.25 Was aber gedacht hat. verursacht diese Überaktivität in einem Gehirn- Zusammenfassend kann man die Neurobiolo- gebiet und was die Unteraktivität im anderen gie als sehr junge Wissenschaft bezeichnen, die, Gehirngebiet? Auf der Mikro- und Ultramikro- wie in vielen Wissenschaften davor, versucht, ebene des Gehirns mit genetischen Auffälligkeiten menschliches Verhalten zu verstehen und zu er- u. a. wurden zahllose Untersuchungen durchge- klären. So haben wir viel über die Funktionsme- führt, die bis heute aber keine schlüssige Erklä- chanismen des Gehirns gelernt, allerdings gibt es rung aller Symptome von den Genen aufwärts bis heute keine schlüssige Krankheitstheorie der

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Schizophrenie seitens der Neurobiologie, sodass aber die große Gefahr von Fehlschlüssen und bisherige Therapiemethoden nicht durch effizien- Missinterpretationen von eben diesen anschlie- tere ersetzbar sind. ßend erhobenen Befunden. Die Reduktion der di- versen, teilweise sehr komplizierten Symptome CONCLUSIO ist nicht nur für das Verständnis und auch den In Hinblick auf die zentrale Fragestellung des Verlauf der Erkrankung und die Ressourcen für Symposiums zum „Homo neurobiologicus“, ob den Patienten sehr wichtig. Es kann vielmehr die Neurobiologie den Menschen, und vor allem auch bei unpräziser Verwendung der Symptome was psychische Störungen betrifft, erklären oder begrifflichen Darstellung schließlich dann kann, ist festzustellen, dass dieses Ziel keines- nur ungenau oder gar nicht erforscht werden. falls erreicht ist und vielleicht auch wegen der Wichtig wäre vielmehr die enge Zusammen- methodologisch kaum überbrückbaren Differenz arbeit zwischen Klinik und theoretischen Unter- zwischen dem subjektiven Erleben und objekti- suchungen im Labor zur Präzisierung für neuro- ver Hirnforschung vielleicht prinzipiell nicht er- biologische Untersuchbarkeit, sowohl um dem reicht werden kann. Menschen in seiner Komplexität gerecht zu wer- In der klinischen Praxis ist deshalb das Kon- den als auch um voreilige und kontraproduktive, strukt Ich-Bewusstsein im Sinne des Selbsterle- unser gesamtes Menschenbild betreffende Schlüs- bens der an Schizophrenie erkrankten Person se zu ziehen. Die Einbeziehung der Philosophie weiterhin nützlich, um die Vielzahl dieser Symp- in die neurobiologische Forschung mit der Frage tome in einer Kategorie zusammenzufassen. Die nach Form und Inhalt des Erlebens der Person bisher gefundenen neurobiologischen Korrelate wäre ebenso wieder notwendig. Ein biologischer dieser Krankheit sind nicht differenziert genug Reduktionismus stellt letztendlich unser elemen- identifiziert und vor allem nicht spezifisch. tares Selbstverständnis unseres Menschseins zu- Es wird deutlich, dass die Ordnung bzw. die nehmend infrage, die weitere Entwicklung bleibt derzeitige Einteilung der Schizophrenie aufgrund derzeit völlig offen. Die notwendigen Prüfungen ihrer charakteristischen Symptome bzw. Funkti- der tradierten Bilder des Menschen über sich und onsstörungen nicht ersetzbar ist. Im Gegenteil: seine Welt sind sicher sinnvoll, allerdings ist es Die Bewahrung von traditionsreichen Konstruk- notwendig, etwas vorsichtiger mit dem Thema ten zur Beschreibung und für das Verstehen der umzugehen. Insbesondere ein sogenannter elemi- individuellen Erlebniswelt der psychisch Kranken nativer Materialismus, der vordergründig das für bietet derzeit das wichtigste Instrument in der unser subjektives Erleben Wesentliche eliminiert klinischen Arbeit, insbesondere solange seitens oder ignoriert, scheint mir kein sehr sinnvoller der Neurobiologie keine schlüssigen Krankheits- Ansatz. theorien vorliegen. Abschließend sei im Sinne dieses Artikels das Wie nun oben in ein paar Beispielen angedeu- Zitat von Paul Hoff angeführt:28 tet, wird in diesem Zusammenhang der Begriff „Bewusstseins- und psychiatrischer Krankheits- des Ich vielfältig und in unterschiedlichen Inter- begriff haben etwas Wesentliches gemeinsam: pretationen verwendet. Er ist nicht immer trenn- Sie widersetzen sich jeder voreiligen Fest-Stel- scharf, aber sinnvoll und auch notwendig, z. B. lung und Reifizierung. Definiert man ‚Bewusst- für den ärztlich explorativen und therapeutischen sein‘ etwa strikt naturalistisch, also ausschließ- Arbeitsbereich. Dieses Konzept ist auch anschluss- lich als objektiver quantifizierbarer Hirnzustand, fähig mit anderen Konzepten zur Psychopatho- so bleibt Entscheidendes auf der Strecke, vor allem logie und hat nicht nur eine ordnungsstiftende der subjektive Bereich von den ‚Qualia‘ bis hin Funktion, insofern verschiedene Selbstbeschrei- zur personalen Autonomie. Definiert man ‚psychi- bungen der Patienten auf ein zentrales / grund- sche Krankheit‘ strikt naturalistisch, so geschieht legendes Funktionsdefizit zurückgeführt werden das Gleiche: Das resultierende Krankheits- und können. damit Therapieverständnis wird zu eng.“ Und auch wenn eine gewisse Notwendigkeit DR. MED. UNIV. CHRISTINE GRÜNHUT der Vereinheitlichung der speziellen Symptome ||||| für neurobiologische Forschung besteht, existiert Fachärztin für Psychiatrie, Wien

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 49 CHRISTINE GRÜNHUT

17 ANMERKUNGEN Krüger, H.: Geschichtlicher Abriss der Forschung zum

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50 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87

DAS VERHÄLTNIS VON EMOTION UND KOGNITION AUS SICHT DER HIRNFORSCHUNG

ANDREAS DRAGUHN ||||| Der distanzierend-wissenschaftliche Ausdruck „Emotion“ steht für Vor- gänge in Mensch und Tier, die wir subjektiv als Gefühle erfahren. Er wird komplementär zum Begriff der „Kognition“ verwendet, welche stärker auf die gedanklichen Operationen im Sinne der Informa- tionsverarbeitung zielt. Während kognitive Prozesse sich scheinbar vollständig rational rekonstru- ieren lassen, wird bei der Behandlung von Emotionen die in der Hirnforschung stets präsente Kluft zwischen der Ich-Perspektive des Subjekts und der Objektsprache der Wissenschaft deutlich. Der vorliegende Artikel nimmt diese Beobachtung zum Anlass, um anhand dreier Beispiele auf Grenzen der Deutung geistiger und neuronaler Vorgänge als rationale Operationen hinzuweisen: die Indivi- dualität von einzelnen Lebewesen, die Grenzen der Rationalität des Menschen sowie die Grenzen der Maschinen- und Computermetaphorik des Gehirns. Allen Aspekten ist gemeinsam, dass sie uns an die Körperlichkeit des Gehirns erinnern, das als Organ keine informationsverarbeitende Ma- schine darstellt, sondern auf allen Ebenen an unseren interaktiven Lebensvollzügen beteiligt ist.

EMOTIONEN UND GEFÜHLE – eigenen Subjektivität arbeiten. Die exklusive Na- DAS SUBJEKTIVE IN DER HIRNFORSCHUNG tur der Subjektivität wurde eindrücklich von dem Emotion und Kognition – diese objektivieren- Philosophen Thomas Nagel in seinem berühmten den lateinischen Worte beschreiben zwei kom- Aufsatz „What is it like to be a bat?“ beschrie- plementäre Gegenstände der Wissenschaft, die ben. 1 Subjektivität kann Gegenstand phänome- wir im täglichen Sprachgebrauch mit den subjek- nologischer Analyse sein, sie entzieht sich aber tiven Begriffen Fühlen und Denken benennen. der „intersubjektiven“ Vermittlung in der Objekt- Obwohl Emotion und Kognition gleichermaßen sprache der Wissenschaft. Im Prinzip gilt diese von Hirnforschern, Psychologen und Psychiatern Begrenzung für jeden Aspekt der Hirnforschung untersucht werden, erscheinen Emotionen unserer oder Psychologie, der mentale Zustände einbe- subjektiven Erfahrung spontan besonders nah. zieht, also auch für die Kognition. Die jeweils Man kann an Emotionen wie Angst, Freude oder selbst erlebten inneren Abläufe bei einer Wahr- Liebe schwer denken, ohne an das eigene Erleben nehmung, Planung oder mathematischen Berech- der entsprechenden Affekte zu denken. Umge- nung sind genauso unzugänglich wie Gefühle – kehrt betont der Begriff Kognition stärker allge- rekonstruiert werden kann lediglich die dabei mein nachvollziehbare mentale Operationen, die „objektiv“ erfolgende Informationsverarbeitung. sich ohne Bezug zur inneren Befindlichkeit präzise Dennoch können wir bei Untersuchungen kogni- fassen und intersubjektiv vermitteln lassen. Am tiver Prozesse das Befinden des Subjekts sprach- Gegenstand „Emotion“ wird damit die faszinie- lich und gedanklich leichter ausblenden als bei rende Doppelperspektive der Beschäftigung mit der Analyse von Emotionen. Man kann experi- Gehirn und Psyche besonders deutlich: als Psy- mentell das Raumgedächtnis einer Ratte unter- chologe oder Hirnforscher kann man sie wie jeden suchen, ohne sich in das subjektive Erleben der anderen Gegenstand mit methodischer Distanz räumlichen Umgebung des Tieres einzufühlen. untersuchen, als Mensch können wir aber nie Beim Studium des Furchtgedächtnisses mittels ganz ausblenden, dass wir hier am Substrat der wiederholt applizierter aversiver Reize kann man

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nur schwer ausblenden, dass die Ratte während WIE UNTERSUCHT DIE HIRNFORSCHUNG des Experiments Angst hat, gerade weil uns EMOTIONEN? „Angst haben“ jeweils als eigenes Erleben zu- Die Erkenntnis, dass Emotionen tief in unse- gänglich ist. rer biologischen Natur verankert sind, ist alt. Die Aus Sicht der Biowissenschaften ist subjek- moderne Auffassung von Emotionen als biologi- tives Nacherleben von Gefühlen oder Gedanken sches Funktionsprinzip wurde bereits früh von also unwichtig, ganz im Gegenteil etwa zur Psy- Darwin vertreten, der die Ähnlichkeit emotionalen choanalyse oder zur Kunst. Naturwissenschaft- Ausdrucksverhaltens bei Menschen und Tieren liche Hirnforschung zielt darauf ab, neuronale erkannte und funktionell interpretierte.5 Gegen Mechanismen zu identifizieren, die Emotionen Ende des 19. Jahrhunderts begründeten der ame- zugrunde liegen.2 In diesem Sinne lassen sich rikanische Psychologe und Philosoph William Emotionen im biologischen Substrat des Gehirns James und der dänische Physiologe Carl Lange genauso untersuchen wie die Regulation des praktisch gleichzeitig eine Theorie der Emotion, Blutzuckerspiegels in Leber und Bauchspeichel- die das psychische Phänomen der Emotionen auf drüse. Allerdings untersuchen wir eben nicht physiologische Vorgänge zurückführte – ganz im mehr die Emotion selbst in einem ganz unmittel- Sinne einer biologischen Psychologie.6 Die James- baren Sinn von Fühlen oder Erleben, sondern ihr Lange-Theorie besagt, dass relevante Reize zu biologisches Korrelat. In den Worten eines pro- reflektorisch vorgegebenen organischen Reaktio- minenten Neurowissenschaftlers, der grundle- nen führen, die insbesondere über das vegetative gende Mechanismen der Furcht analysiert hat: Nervensystem vermittelt werden (z. B. über die „Although I study emotions in rats, I don‘t have Sympathikus-Aktivierung bei einer drohenden any illusion that I‘m studying feelings.“3 Gefahr). Diese primär körperlichen Reaktionen Die Spannung zwischen Subjektivität und werden dann sekundär, quasi introspektiv, als Objektivität im oben beschriebenen Sinn ist also Emotion erlebt. Die Emotion ist also ein Vorgang ein inhärentes Merkmal der Hirnforschung. Am der Propriozeption (Selbstwahrnehmung). Spätere Beispiel der Emotionen wird sie besonders deut- tierexperimentelle Befunde und Beobachtungen lich und, so die These des vorliegenden Artikels, an Menschen zeigten dagegen, dass Emotionen weist auf eine Verengung der Perspektive hin, auch primär durch neuronale Prozesse generiert die auch innerhalb der Neurobiologie auftreten werden können. So postulierten Walter Cannon kann, lange bevor die ganz prinzipiellen Grenzen und Philip Bard in den 1920er-Jahren, dass Emo- intersubjektiv vermittelbarer Inhalte erreicht sind. tionen eigenständige Leistungen des Nervensys- Gemeint ist die Reduktion des Gehirns lebender tems spiegeln und nicht allein durch das Vegeta- Tiere und Menschen auf eine abstrakte, nach fes- tivum hervorgebracht werden. Umgekehrt würden ten Algorithmen arbeitende informationsverarbei- sogar viele der körperlichen Reaktionen bei einer tende Maschine. Das Studium von Mechanismen Emotion erst durch die Bewertung einer Situation neuronaler Repräsentationen (sei es von Emo- und nachfolgende neuronale Prozesse hervorge- tionen oder von kognitiven Inhalten) kann eine bracht.7 Es überrascht nicht, dass moderne Kon- reduktionistische Sicht auf das Gehirn zur Folge zepte von Emotionen Elemente beider Traditionen haben, die den Charakter dieses Organs eben als aufgreifen. Hinzu kommt eine parallel entstan- Organ weitgehend ausblendet. Weit vor der prin- dene Tradition, die bis heute in den Neurowis- zipiellen, epistemologisch vielleicht nicht über- senschaften von großer Bedeutung ist: die Loka- windbaren Dichotomie von Subjektivität und lisation relevanter Hirnareale. Paul Broca hatte Gegenständlichkeit hilft die Emotionsforschung schon 1878 einen Kreis oder Saum („Limbus“) möglicherweise, innerhalb der Neurobiologie den von subcortikalen Strukturen beschrieben, die Blick stärker auf den lebenden Organismus zu tiefe Kerngebiete wie den Thalamus umgeben. lenken, der sich eben nicht auf die Implementie- Sie wurden im 20. Jahrhundert als „limbisches rung von Algorithmen reduzieren lässt. Einige System“ oder – nach funktionell-anatomischer Aspekte solcher organischen oder ökologischen4 Präzisierung – als Papez-Kreis benannt und gal- Sicht auf das Gehirn sollen im Folgenden hervor- ten bis in die jüngere Vergangenheit fast als Sy- gehoben werden. nonym für das emotionsverarbeitende Netzwerk

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des Gehirns.8 Auch hier herrscht heute eine eher men kann. Zahlreiche Laboratorien befassen sich integrative und systemphysiologische Sicht vor, mit den neuronalen Mechanismen von Aktivierung die den vielfältigen Wechselwirkungen der Kern- und Plastizität der Amygdala, wobei die Suche gebiete besser gerecht wird. Die Netzwerke des nach neuen Therapieansätzen von Angsterkran- limbischen Systems sind untereinander, aber kungen ein wesentliches Motiv der Arbeit (und auch mit vielen anderen Arealen stark verknüpft, ihrer Finanzierung) darstellt. Gelänge es, eine zudem unterliegen sie hormonellen Einflüssen erworbene Verstärkung der Reaktion gezielt im aus dem gesamten Körper und werden durch Sinne einer „Extinktion“ wieder zu löschen, so sensorische und vegetativ-neuronale Rückkopp- wäre dies ein wesentlicher Fortschritt. lungen beeinflusst. Ein spezialisiertes und abge- Insgesamt hat sich in den letzten Jahren eine grenztes System der Emotionsverarbeitung gibt regelrechte Wissenschaft von den neuronalen es also nicht. Mechanismen der Emotion entwickelt. Die Dar- Dennoch besteht weiterhin in der Hirnfor- stellung durch Diagramme von neuronalen Netz- schung eine Tendenz zur Lokalisation komplexer werken suggeriert, dass wir klare Algorithmen Zustände oder Verhaltensweisen, nicht zuletzt formulieren können, nach denen Emotionen funk- deshalb, weil umschriebene Läsionen beim Men- tionieren. So entstand der Ausdruck „emotional schen auch tatsächlich klar umschriebene funkti- cognition“, der die mechanistische Sicht der onelle Defizite auslösen können. In einem etwas klassischen Kognitionsforschung spiegelt. Aller- verkürzenden Umkehrschluss wird die verlorene dings ist auch deutlich geworden, dass die betei- Funktion dann gerne als Leistung eben des ge- ligten Netzwerke nicht aus wenigen Elementen im schädigten Kerngebiets betrachtet. Die moderne Sinne einfacher Reflexbögen oder einzelner Kom- Tradition der Lokalisation emotionaler Zustände mandozentralen aufgebaut sind. Ganz im Gegen- lässt sich gut mit den Arbeiten des Nobelpreisträ- teil betonen neuere Arbeiten die wichtige Rolle gers Walter Hess demonstrieren, der bei Katzen zahlreicher verknüpfter Areale, darunter auch durch Reizung definierter Areale des Hypothala- der präfrontale Neocortex, der für die Integration mus gezielt emotionale und vegetative Reaktio- emotionaler und kognitiver Leistungen beim nen auslösen konnte: „On stimulation within a Menschen besonders wichtig ist. circumscribed area of the ergotropic (dynamo- Für alle diese Überlegungen innerhalb der genic) zone, there regularly occurs namely a Neurowissenschaften ist die subjektive Perspek- manifest change in mood. Even a formerly good- tive des individuellen Erlebens von Emotionen natured cat turns bad-tempered; it starts to spit wie Furcht und Angst nicht relevant. Allerdings and, when approached, launches a well-aimed kommen auch harte Naturwissenschaftler an der attack.”9 Dualität der Perspektive nicht ganz vorbei. Die Heute dominieren die funktionell-bildgeben- zahlreichen Parallelen der neuronalen Strukturen den Verfahren, durch die ohne invasive Methoden und Mechanismen bei Mensch und Tier führen Aktivierungskarten des menschlichen Gehirns in fast zwangsläufig zu der Vermutung, dass auch allen denkbaren emotionalen und kognitiven Si- im inneren Erleben Parallelen bestehen müssten. tuationen erstellt werden können. Mit Bezug auf Angesichts des nicht überwindbaren Grabens Emotionen hat besonders eine Struktur im Schlä- zwischen Objekt (der Forschung) und Subjekt fenhirn Aufmerksamkeit erregt, die als Mandel- (des Erlebens) konstatiert der amerikanische kern (Corpus amygdaloideum) oder kurz Amyg- Psychologe Jaak Pankseep mit Blick auf den hol- dala bezeichnet wird. Hier werden elementare, ländischen Primatenforscher Frans de Waal: „As unbewusste Reaktionen bei Furcht-, Schreck- und de Waal … expresses, … ‚the greatest obstacle to Abwehrreaktionen eingeleitet, etwa wenn wir the study of animal emotions is the common beim Wandern überraschend auf eine Schlange objection that we cannot know what they feel.‘ treffen. Erlernte negative Reaktionen und Angst- While this is undeniably true, we should realize erkrankungen hängen ebenfalls mit Fehlsteue- that such problems also hold for fellow human rungen der Amygdala zusammen, in der es bei beings. But affective neuroscience strategies Wiederholung aversiver Reize zur dauerhaften now provide the needed ‚weight of evidence‘ Verstärkung der synaptischen Übertragung kom- indicating that animals do ‚feel‘“.10

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EMOTION UND KOGNITION – mit sicheren Gehalt untersucht werden. Es soll AUF DEM WEG ZU EINER INTEGRATIVEN eben das Typische, immer Wiederkehrende her- NEUROBIOLOGIE? ausgearbeitet werden. Im Folgenden sollen drei besondere Themen Dagegen zeigen die eher seltenen gezielten einer integrativen Neurobiologie skizziert werden, Untersuchungen der Varianz, dass es nicht nur die das Gehirn nicht zur Informationsverarbei- beim Menschen, sondern auch bei Tieren eine tungsmaschine reduziert. Nicht alle Aspekte ent- große Bandbreite von Reaktionsmustern gibt. stammen unmittelbar der Emotionsforschung, Diese finden sich natürlich vor dem Hintergrund aber das Leitmotiv der Emotion hilft dabei, rati- konstanter biologischer Rahmenbedingungen und onalistische Verkürzungen des Lebenden zu ver- sind nicht etwa beliebig breit. Aber selbst Ratten meiden. aus hoch standardisierten Laborzuchtstämmen zeigen Ansätze unterschiedlicher Persönlichkeits- Individualität strukturen, zum Beispiel im Hinblick auf Risiko- Wir haben oben bereits unter Verweis auf verhalten in einem Spielparadigma, bei dem es Thomas Nagel von der naturwissenschaftlich genau wie beim Menschen „good decision makers“ nicht überbrückbaren Kluft zwischen dem For- und besonders risikofreudige Tiere gibt.11 In der schungsgegenstand als Objekt und der Perspek- Psychiatrie setzt sich die Erkenntnis der enor- tive des Subjekts gesprochen. Auch wenn Emo- men Heterogenität von Menschen und damit auch tionen das Thema einer Untersuchung sind, so von individuellen Krankheitskonstellationen zu- werden die Subjekte doch immer von außen, also nehmend durch. Frühe, sehr euphorisch begrüßte bezüglich objektivierbarer Strukturen, Funktio- Entdeckungen von einzelnen Genen als Verursa- nen und Kausalitäten betrachtet, ohne sich das cher von komplexen Erkrankungen wie Depression Erleben der Emotion unmittelbar zu eigen ma- und Schizophrenie sind der Ernüchterung gewi- chen zu können. Zu dieser wohl unvermeidlichen chen. Dagegen wurde klar, dass Veränderungen Beschränkung der biologischen Hirnforschung einzelner Gene meist nur einen ganz geringen kommt eine weitere, oft weniger reflektierte: die prozentualen Beitrag zur Erklärung einer Erkran- Reduktion von Individualität. Die Forschung an kung beitragen. Vielmehr ist es die Konstellation möglichst standardisierten Versuchstieren verlei- vieler genetischer Faktoren im Zusammenwirken tet dazu, auf der Suche nach allgemeinen Funk- mit Erfahrungen, die einen Menschen erkranken tionsprinzipien die Varianz zwischen einzelnen lässt. Je mehr man über diese multiplen Faktoren Lebewesen zu vernachlässigen oder gar als Hin- und ihre Interaktionen weiß, umso mehr wird dernis für die Wissenschaft zu betrachten. Dabei man künftig individualisierte und damit bessere ist es innerhalb des Bezugsrahmens biomedizini- Therapien entwickeln können. Die oft eher gradu- scher Forschung natürlich möglich und notwen- ellen Unterschiede vom Normalen zum Kranken dig, die Unterschiede zwischen Individuen in Be- in der Psychiatrie finden auch den maßgeblichen tracht zu ziehen. Dies geschieht auch regelmäßig Klassifizierungssystemen wie dem Diagnostic dadurch, dass Gruppen von Menschen oder Tieren and Statistical Manual of Mental Disorders ihren einheitlichen Versuchsprotokollen unterzogen Niederschlag, die Krankheiten eher anhand von werden. Die Resultate werden dann statistisch quantifizierbaren Merkmalen in verschiedenen aufbereitet und zum Vergleich zwischen Kohorten Dimensionen festlegen anstatt feste Kategorien mit unterschiedlichen Experimentalanordnungen, zu postulieren. Kritiker weisen allerdings darauf Krankheitsbildern, genetischem Hintergrund etc. hin, dass diese Einteilung eher den Mangel an herangezogen. Viele dieser Verfahren zielen dabei mechanistischer Einsicht als eine solide natur- gerade darauf ab, das Invariante herauszuarbei- wissenschaftliche Grundlage spiegelt. ten, also die Konstanten innerhalb der Varianz zu identifizieren. Hierzu dienen die Standardisie- Grenzen der Rationalität rungen der Versuchsbedingungen, die genaue Das Konzept des Menschen als „animal ratio- biometrisch-statistische Planung von Experimen- nale“ mag von grundlegender Bedeutung für unser ten und auch Metaanalysen, in denen zahlreiche Selbstverständnis in der europäischen Kulturge- Einzelstudien auf ihren konsensfähigen und da- schichte sein – zahlreiche neurobiologische und

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psychologische Evidenzen zeigen aber, dass Ver- mit seiner Fähigkeit zum Abwägen und zur sorg- nunftgründe als handlungsleitendes Prinzip nur sam geplanten Entscheidungsfindung in einem in Ausnahmefällen ausschlaggebend sind. In der beliebig großen Vorstellungsraum hat relativ zu lokalisatorischen Tradition der Hirnforschung hat anderen Spezies ein ganz besonders großes Fron- sich als Substrat rationaler Entscheidungsfin- talhirn.15 Es gilt allerdings, diesen Befund nicht dung besonders der präfrontale Neocortex, also allzu plakativ zu interpretieren, wie es etwa im der Stirnlappen des Gehirns, herauskristallisiert. wenig differenzierten Begriff der Hypofrontalität Diese Zuschreibung hat ihre Wurzeln –wie so oft für Defizite Schizophrener und anderer Patienten in neuronalen Lokalisationstheorien – in Scha- in der Psychiatrie der 1970er-Jahre geschah.16 densbildern, also in den typischen Ausfallerschei- Auch heute finden sich noch pädagogisch-norma- nungen nach Läsion umschriebener Regionen. Der tive Artikel, die moralisierend an die kognitive weltweit bekannteste Fall mit dieser Typologie Selbstregulation durch das Frontalhirn appellie- dürfte der amerikanische Bahnarbeiter Phineas ren.17 Der mereologische Fehlschluss, der das Gage sein, dem 1848 bei Sprengarbeiten eine Ei- Gehirn stellvertretend für mein Verhalten als senstange durch das linke Auge und das darüber- Person setzt, ist hier besonders irreführend, da liegende Stirnhirn schoss. Wie durch ein Wunder er uns jeder Autonomie und Verantwortung be- überlebte er die schwere Verletzung, zeigte aber raubt. Umgekehrt kann es unsere Gesellschaft danach psychische Veränderungen, die von seinen durchaus menschlicher machen, wenn wir den Zeitgenossen als Mangel an Emotionskontrolle, Beitrag des gesunden und kranken Frontalhirns Frustrationstoleranz, Beständigkeit und Zuverläs- zum Verhalten besser verstehen, etwa bei der sigkeit beschrieben wurden. Obwohl schon von Bewertung von Delinquenz.18 seinem Arzt Harlow publiziert, wurde der un- glückliche Gage erst posthum richtig berühmt, als Das Gehirn als informationsverarbeitende nämlich im Zeitalter der aufkommenden neuro- Maschine – Mechanisierung, Elektrifizierung, nalen Bildgebung 1994 sein erhaltener Schädel Computerisierung erneut vermessen und die Läsion dem orbito- Parallel zum Konzept der Rationalität als frontalen Neocortex zugeordnet wurde.12 Aus differentia specifica des Menschen führt die Re- dieser und zahlreichen weiteren Studien an Men- konstruktion von Verhalten durch die Neurowis- schen und Tieren entstand ein Paradigma des senschaften immanent zu einer Rationalisierung frontalen Cortex als Wächter unserer kulturstiften- oder zumindest Algorithmierung des Handelns den Möglichkeit zu Selbstkontrolle und rationaler und der korrespondierenden internen Zustände Handlungsplanung, die allerdings bei genauem von Mensch und Tier. So wird in dem sehr akti- Hinsehen durchaus von Vorurteilen, Generalisie- ven Forschungsfeld des „decision making“ der rungen und self-fulfilling prophecies geprägt ist.13 Ausgang einer experimentell standardisierten Einigkeit besteht aber unter Psychologen und Handlungsalternative inzwischen auf die Akti- Neurowissenschaftlern darin, dass die wenigsten vität einzelner Neurone im Neocortex der Ratte unserer realen Handlungen aufgrund bewusster, zurückgeführt und – in spektakulären Publikatio- noch weniger aufgrund rationaler Entscheidun- nen – durch gezielte Manipulation einzelner Neu- gen zustande kommen. Ob man die Möglichkeit rone beeinflusst. Korrespondierende Forschungs- bewusster Willensakte generell in Abrede stellen programme beim Menschen zeigen – beginnend muss, war in Deutschland zuletzt Gegenstand ei- mit den berühmten und kontrovers diskutierten ner hitzigen Debatte, der die gegenwärtige Ermü- Experimenten von Benjamin Libet in den 1980er- dung und die nachfolgende Nüchternheit sicher Jahren – immer deutlicher die Vorhersagbarkeit gut tun. Allerdings sind bewusste und rationale von Alternativentscheidungen aufgrund vorher- Willensakte sicher eher die Ausnahme als die gehender neuronaler Erregungsmuster.19 Jenseits Regel, wie zahlreiche Beobachtungen der Psycho- der Debatte um die Existenz und richtige Defini- logie belegen.14 Interessant bleibt die Beobach- tion von Willensfreiheit führen solche Versuche tung, dass die unterschiedlich ausgeprägte Fle- zu einer rationalen, ja sogar quantifizierbaren xibilität des Verhaltens im Tierreich mit der Aus- Rekonstruktion der handlungssteuernden Prozesse. prägung des Frontalhirns korreliert. Der Mensch Ähnliche Tendenzen lassen sich in anderen Kogni-

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tionsfeldern wie Wahrnehmung und Gedächtnis- hierfür sind Hormone, deren Wirkungen auf neu- bildung aufzeigen. Tatsächlich ist das Herausarbei- ronale Verarbeitungsmechanismen offenbar er- ten von Mechanismen ja eine ureigene Aufgabe, staunlich stark sind, die aber wissenschaftlich wenn nicht Kern des Programms biologischer bisher nur unzureichend aufgearbeitet wurden. Neurowissenschaften. Eine Verkürzung entsteht Die Methoden der Hirnforschung sind, der kogni- allerdings, wenn das Gehirn insgesamt auf eine tionsbetonten Tradition entsprechend, eher dar- mechanische Apparatur (18. und 19. Jahrhun- auf gerichtet, die schnellen elektrischen Interak- dert), einen elektrischen Apparat (19. / 20. Jahr- tionen und festen anatomischen Leitungsbahnen hundert) oder eine informationsverarbeitende zu analysieren, die sich in typischen Schaltbildern Maschine (20. /21. Jahrhundert) reduziert wird. darstellen lassen. Möglicherweise setzen sich Gerade die Computermetaphern des Gehirns füh- solche Verkürzungen weit in die gesellschaftliche ren zu einer einseitig rationalen Rekonstruktion Praxis fort, etwa in die Didaktik, die es kaum informationsverarbeitender Prozesse, bei der die vermag, körperliche Rahmenbedingungen wie Hardware gleich gut aus Siliziumchips, Neuronen die Pubertät in ihre Konzepte und Lehrpläne ein- oder alten Blechdosen (John Searle) bestehen zubeziehen. Auch hier ist natürlich die Erkennt- könnte. Eine umfassende und kämpferische Kritik nis kritischer Geister vorhanden, die seit den der damit verbundenen begrifflichen und wissen- reformpädagogischen Bemühungen des 19. Jahr- schaftstheoretischen Positionen hat der Philosoph hunderts den konkreten Menschen an die Stelle Peter Janich vorgelegt.20 einer mit Wissen zu füllenden tabula rasa zu set- In unserem Kontext möchte ich auf ein spezi- zen versuchen. Die dramatische Andersartigkeit fisches Defizit verweisen, das der – in sich völlig eines pubertierenden Gehirns hat aber bei weitem kohärenten und berechtigten – mechanistischen keinen ausreichenden Eingang in die Curricula Rekonstruktion neuronaler Prozesse entspringt: gefunden. Hier scheint ein regelrechter Neglect die Eliminierung des Organischen. Die meisten gegenüber den entwicklungs- und neurobiologi- Neurowissenschaftler betreiben ihre Forschung schen Bedingungen von Heranwachsen und Ler- in der Gewissheit, dass das Gehirn ein grundle- nen zu bestehen. Dieser Abwehrreflex wurde und gend anderes, gewissermaßen wichtigeres Organ wird allerdings auch durch allzu vollmundige sei als etwa die Leber. Beide Organe sind lebens- Geltungsansprüche aus den Reihen der Neuro- wichtig, aber das Gehirn hat ganz besonders viel wissenschaften gefördert, die alleine keineswegs mit dem zu tun, was uns als Person ausmacht. Es Patentrezepte für die komplexen Fragen der an- bestimmt die Grenzen unserer Erkenntnis, unse- gewandten Didaktik haben.22 res Erlebens und Verhaltens in ganz anderem Ausmaß als, zum Beispiel, die Fußwurzelknochen FAZIT (die man allerdings in Bezug auf die Evolution Ausgehend vom spezifisch neurowissenschaft- des aufrechten Ganges auch nicht unterschätzen lichen Zugang zum Gegenstand der Emotion ha- sollte). Die verständliche Konzentration auf das ben wir in diesem kurzen Aufsatz eine mögliche Wesentliche am Gehirn, also die Beteiligung an Verengung der Sicht auf das Gehirn als algorith- geistig-seelischen Prozessen, übersieht aber mische Maschine skizziert. Unter Bezug auf aktu- leicht, dass es sich beim sprichwörtlichen „Denk- elle Forschungsergebnisse haben wir dagegen organ“ eben um ein Organ handelt! Das Gehirn betont, dass Individuen nicht stereotypen Hand- steht über zahllose anatomische Verbindungen lungsmechanismen folgen, dass unser Handeln und über den Blutstrom in direktem Kontakt mit von keiner rational agierenden Steuerzentrale allen anderen Teilen des Körpers und darüber bestimmt wird und dass das Gehirn mit dem auch mit unserer Umwelt. Wenn etwas das Ge- Körper und der Umwelt vielfältig interagiert. hirn auszeichnet, so ist es vielleicht gerade diese Kurz: Das Gehirn ist ein Organ, und Mensch und besonders starke Vernetzung und Beziehungsbil- Tier sind Organismen in ihrer natürlichen und dung.21 Die Abbildung neuronaler Prozesse auf sozialen Umwelt. Anders als im Computer er- mathematische Algorithmen übersieht leicht die- eignen sich Prozesse im Gehirn deshalb, weil sie se Interaktionen und den großen Einfluss der lebensweltlich relevant sind, und nicht, um Infor- Umwelt sowie „weicher“ Faktoren. Ein Beispiel mationen als solche zu verarbeiten. Der Blick auf

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die wissenschaftliche Erforschung von Emotionen 16 Walter, Henrik / Wolf, Robert C.: Von der Hypofron- lehrt uns, dies nicht zu vergessen. talität zur dynamischen frontalen Dysfunktion. fMRT- Studien bei Patienten mit Schizophrenie, in: Nerven- ||||| PROF. DR. MED. ANDREAS DRAGUHN heilkunde 8/2002, S. 392-399. 17 Heatherton, Todd F. / Wagner, Dylan D.: Cognitive Institut für Physiologie und Pathophysiologie, neuroscience of self-regulation failure, in: Trends in Medizinische Fakultät der Universität Heidelberg Cognitive Sciences 15/2011, S. 132-139.

18 Pauen, Michael / Roth, Gerhard: Freiheit, Schuld, Ver-

antwortung. Grundzüge einer naturalistischen Theorie der Willensfreiheit, Frankfurt a. M. 2008. ANMERKUNGEN 19 Ebd. 20 1 Nagel, Thomas: What Is It Like to Be a Bat?, in: The Janich, Peter: Kein neues Menschenbild. Zur Sprache Philosophical Review 4/1974, S. 435-450. der Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2009. 21 2 Craver, Carl F.: Explaining the Brain – Mechanisms Fuchs: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. and the Mosaic Unity of Neuroscience, Oxford 2007. 22 Borck, Cornelius: Lässt sich vom Gehirn das Lernen 3 LeDoux, Joseph in: Neuroscience, von Mark F. Bear, lernen? Wissenschaftshistorische Anmerkungen zur Barry W. Connors und Michael A. Paradiso, Baltimore / Anziehungskraft der modernen Hirnforschung, in: Zeit- Philadelphia 2007. schrift für Erziehungswissenschaft, Beiheft 5/2006, S. 87-100. 4 Fuchs, Thomas: Das Gehirn – ein Beziehungsorgan. Eine phänomenologisch-ökologische Konzeption, Stuttgart 2009. 5 Darwin, Charles R.: The expression of the emotions in man and animals, London 1872. 6 James, William: What is an emotion?, in: Mind 9/1884, S. 188-205. 7 Friedman, Bruce H.: Feelings and the body – The Jamesian perspective on autonomic specificity of emotion, in: Biological Psychology 84/2010, S. 383- 393. 8 Roxo, Marcelo R. / Franceschini, Paulo R. / Zubaran, Carlos u. a.: The Limbic System Conception and Its Historical Evolution, in: The Scientific World Journal 11/2011, S. 2428–2441. 9 www.nobelprize.org/nobel_prizes/medicine/laureates/ 1949/hess-lecture.html, Stand: 2.4.2013. 10 Panksepp, Jaak: Cross-Species Affective Neuroscience Decoding of the Primal Affective Experiences of Humans and Related Animals, in: PLoS One 6/2011, e21236. 11 Visser, Leonie de u. a.: Rodent versions of the Iowa gambling task – opportunities and challenges for the understanding of decision-making, in: Frontiers in Neuroscience 5/2011, S. 109. 12 Damasio, Hanna u. a.: The return of Phineas Gage – clues about the brain from the skull of a famous patient, in: Science 264/1994, S. 1102-1105. 13 Schleim, Stephan: Die Neurogesellschaft, Hannover 2010. 14 Wegner, Daniel M.: The illusion of conscious will, Cambridge, MA 2002. 15 Wise, Steven P.: Forward frontal fields: phylogeny and fundamental function, in: Trends in Neuro- sciences 31/2008, S. 599-608.

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DETERMINISMUS UND ZUFALL IN DER NEUROPHYSIOLOGIE – DIE FRAGE DES FREIEN WILLENS

HANS A. BRAUN ||||| „Wir tun nicht, was wir wollen, sondern wir wollen, was wir tun.“ Dies ist die logische Konsequenz, wenn man akzeptiert, dass alle unsere Willensentscheidungen durch natur- gesetzlich determinierte Prozesse unseres Gehirns festgelegt sind. Diese Vorstellung hat in den letzten Jahren durch aufsehenerregende neurophysiologische Experimente neue Nahrung erhalten. Denen werden in diesem Artikel andere Experimente gegenübergestellt, welche eine der Grundlagen obiger Behauptung, die Determiniertheit neuronaler Informationsverarbeitung, in Frage stellen.

Apropos „Freier Wille“

„Ich hüpfe“, sprach der Gummiball, „Mal hüpf ich hoch, mal hüpf ich tief, „ganz wie es mir beliebt, nach Lust und nach Bedarf.“ und schließe draus, dass es so was So sprach der Ball, nicht ahnend, dass wie den freien Willen gibt“. des Knaben Hand ihn warf. 1

„Das Problem der Willensfreiheit des Men- Funktionen des Nervensystems zu untersuchen. schen ist uralt und zugleich aktuell.“ Dies ist der Dies beinhaltet auch die Frage nach den neuro- erste Satz aus der Einleitung zu einem Reclam nalen Grundlagen höherer mentaler und kogniti- Sammelband mit dem Titel „Hat der Mensch einen ver Prozesse und deren Störungen, wie sie sich freien Willen?“.2 Der Herausgeber, Uwe an der beispielsweise in psychiatrischen Erkrankungen Heiden, einer der Redner dieser „Homo neurobio- manifestieren. Auch in früheren Jahren, insbe- logicus“-Tagung, hat Aufsätze zeitgenössischer sondere zu Zeiten der Kybernetik, heute weitge- Experten zusammengestellt, welche dazu befragt hend abgelöst von der Systemtheorie, haben sich wurden, wie große Philosophen vom Altertum bis die Lebenswissenschaften philosophischen und zur Neuzeit zum Problem der Willensfreiheit wissenschaftstheoretischen Fragen gestellt. Stellung bezogen haben oder hätten. Ein grundsätzliches Problem, auf das man bei Heutzutage kommen Angriffe auf den freien solchen Untersuchungen unweigerlich stößt, be- Willen nicht unbedingt von Seiten professionel- trifft die Frage nach dem Zusammenhang von ler Philosophen. Vielmehr sind es renommierte Geist und Materie, bekannt als Leib-Seele-Pro- Vertreter der Neurowissenschaften, die seit eini- blem. Dabei geht es um die Frage, in welche Art gen Jahren immer wieder den freien Willen des seelisch geistige Begriffe wie Angst und Freude, Menschen in Frage stellen. Dass sich die Neuro- Aggressionen und Liebe, aber auch Gedanken – wissenschaften in diese Diskussion einschalten, und eben ein Wille – mit zumindest im Prinzip braucht nicht zu überraschen. Es ist ja schließ- materiell fassbaren, leiblichen Prozessen ver- lich die Aufgabe der Neurowissenschaftler, die knüpft sind. Letztere werden heutzutage nur noch

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umgangssprachlich und mehr im sprichwörtli- punkten eher in den Bereich der Metaphysik ein- chen Sinn in vegetativen Organen wie dem Herz, gestuft. Man findet vor allem in der Philosophie der Niere oder der Leber vermutet. Es ist weitge- sehr ausführlich Stellungsnahmen zum Thema hend unbestritten, dass die materiellen Korrelate Determinismus, auch in Bezug auf die Argumen- alles Geistigen, welcher Art auch immer sie sein tationen aus den Neurowissenschaften.9 Aller- mögen, letztlich im Gehirn zu suchen sind. dings drängt sich der Eindruck auf, dass es auch „Ist das Gehirn der Geist?“ ist der Titel eines hier eine gewisse Art von Dualismus gibt, und kürzlich erschienenen Buches, ebenfalls von zwei zwar in Form zweier fundamental unterschiedli- Teilnehmern der „Homo neurobiologicus“-Tagung cher Argumentationsebenen, die sich offensicht- verfasst: Felix Tretter (auch Mitorganisator dieser lich nur schwer miteinander verknüpfen lassen. Tagung) und Christine Grünhut.3 Im Prinzip wird In der Neurophysiologie bleiben grundlegende dadurch die Lösung des Leib-Seele-Problems Positionen der Philosophie häufig außen vor und aber nicht einfacher, wie aus dem genannten umgekehrt ziehen sich die Philosophen gerne auf Buch, unter Beschreibung der unterschiedlichen Ihre ureigenste Ebene zurück, ohne sich wirklich Positionen, leicht ersichtlich wird. Diese „Grund- auf neurophysiologische Argumente einzulassen. fragen der Neurophilosophie“ (Untertitel des Dies ist vielleicht verbesserungsfähig – aber erst Buches) sollen hier nicht weiter erörtert werden. mal verständlich. Es erscheint mir allerdings wichtig, darauf hin- Auch ich werde mich, als Neurowissenschaft- zuweisen, dass die von Seiten der Neurowissen- ler, nur am Rande auf die Argumente für und wi- schaften in den letzten Jahren vorgebrachten Ar- der den Determinismus beziehen, wie sie von gumente gegen den freien Willen voraussetzen, Seiten der Philosophie vorgebracht werden. Es dass neuronale Prozesse zumindest eine notwen- liegt mir natürlich näher, auf neurophysiologi- dige (nicht unbedingt hinreichende) Bedingung scher Ebene zu argumentieren. Für mich ist bei- kognitiver Prozesse sind. spielsweise die Argumentation von Wolf Singer in seinem Aufsatz zu „Hirnforschung und Wirk- DETERMINISMUS ALS ARGUMENT lichkeit“ sehr gut nachvollziehbar.10 Auch die GEGEN DEN FREIEN WILLEN daraus entwickelten Hypothesen erscheinen mir Die Möglichkeit zur freien Willensentschei- in vielem folgerichtiger und ausgewogener als dung könnte eigentlich als eine empirisch bes- die Einwendungen und Einschränkungen, wie sie tens belegte Tatsache gelten4 – wäre da nicht die z. B. in anderen Artikeln dieses Sammelbandes, Vermutung, dass diese alltäglichen Erfahrungen nicht nur von philosophischer Seite, vorgebracht freier Willensentscheidungen nichts weiter sind werden. als eine Illusion.5 Es wird behauptet, dass alle Meine Argumente gegen den Determinismus Entscheidungen durch die im Gehirn ablaufen- beziehen sich auf grundlegende neurophysiolo- den Prozesse festgelegt sind, bevor der Mensch gische Erkenntnisse, die sicherlich auch den neu- sie überhaupt als seinen eigenen Willen wahr- rowissenschaftlichen Vertretern des Determi- nimmt. Wir tun nicht, was wir wollen sondern wir nismus bekannt sind. Das sind experimentelle wollen, was wir tun.6 Da natürlich auch die im Messungen zum Öffnen und Schließen von Ionen- Gehirn ablaufenden Prozesse den Naturgesetzen kanälen11, wie sie seit der Einführung der Patch- unterliegen, seien sie determiniert.7 Clamp Technik12 hunderte oder gar tausende Was diese Art des Determinismus betrifft, so Male an unterschiedlichsten Ionenkanälen unter- ist sie keineswegs erst durch die Neurowissen- schiedlichster Neurone durchgeführt wurden. Die schaften ins Spiel gebracht worden. Man braucht neurowissenschaftliche Begründung des Deter- nicht unbedingt die experimentellen Befunde aus minismus bezieht sich auf Experimente auf ganz der Hirnforschung, wenn man mit einen univer- anderer Ebene. Für ein besseres Verständnis der sellen Determinismus gegen den freien Willen Zusammenhänge sind nachfolgend noch einmal die argumentieren will.8 Die Stichhaltigkeit und vor mir wesentlich erscheinenden Begründungen für allem die Relevanz einer solchen absoluten Art den Determinismus und die zugrundeliegenden des Determinismus werden seit langem diskutiert Experimente kurz zusammengestellt und einer und unter wissenschaftstheoretischen Gesichts- kritischen Betrachtung unterzogen.

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DETERMINISMUS UND SEINE 7 Sekunden (!) früher, als es der Versuchsperson NEUROWISSENSCHAFTLICHE BEGRÜNDUNG bewusst wird, dass er / sie sich entschieden hat, Was hat nun die Neurowissenschaft über- einen bestimmten Knopf zu drücken. Man kann haupt als neues, zusätzliches Argument in die sogar, allerdings mit erheblicher Unsicherheit, in Diskussion um die Willensfreiheit mit einge- etwa vorhersagen, für welchen Knopf sich die bracht? Experimentell ist es eigentlich zunächst Versuchsperson entscheiden wird. einmal nur der Nachweis zeitlicher Verzögerun- Wie ist das zu interpretieren? Unter der An- gen von bewusster Wahrnehmung einer Willens- nahme, dass alle Geschehnisse in dieser Welt auf entscheidung gegenüber messbaren Signalen aus kausalen Zusammenhängen beruhen, kann man dem Gehirn, die mit eben dieser Willensent- argumentieren, dass physikalisch-chemische scheidung in Zusammenhang gebracht werden Naturgesetze die Willensentscheidung festlegen, können. Solche zeitlichen Verzögerungen wurden welche uns dann erst später bewusst wird – und erstmals in den berühmten Libet-Experimenten die wir dann fälschlicherweise als das Ergebnis bei Messungen des Elektroenzephalogramm (EEG) unserer eigenen freien Willensbildung ansehen. nachgewiesen.13 Noch deutlich stärkere Zeitverzö- „Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten auf- gerungen wurden kürzlich in etwas abgeänderter hören, von Freiheit zu sprechen“, ist der provo- Versuchsanordnung mittels modernerer Methoden kante und viel zitierte Titel eines dementspre- der funktionellen Magnetresonanz-Tomographie chenden Artikels von Wolf Singer.18 (fMRT) aufgezeigt.14 Der freie Wille nur als Illusion ist für die Wenn man davon ausgeht, dass die Willkür- meisten Menschen keine sonderlich angenehme motorik über das Gehirn gesteuert wird, müssen Vorstellung.19 Es wurden allerhand Einwände zeitliche Verzögerungen zwischen Gehirnaktivität gegen die Experimente und deren Interpretation und motorischen Handlungen erwartet werden, vorgebracht, sowohl grundsätzliche (inadäquate wie sie schon früher in Form von Bereitschaftpo- Methode zur Untersuchung mentaler Ereignisse) tenzialen nachgewiesen wurden.15 Die Aktivität als auch in vielen Details, z. B. hinsichtlich der wird sich mit entsprechenden zeitlichen Verzö- Instruktionen der Versuchspersonen. Eine umfang- gerungen über den motorischen Cortex, das Rü- reiche Zusammenstellung sowohl philosophisch ckenmark und dann in den peripheren motori- als auch neurobiologisch begründeter Gegen- schen Nerv schließlich bis zu dem innervierten argumente findet sich in Falkenburg, „Mythos Muskel ausbreiten. Determinismus“.20 Auch Libet versucht in jünge- Die Frage ist: Wie wird eine solche willkürli- rer Zeit, sich etwas von solchen Schlussfolgerun- che, nicht reflexhafte Bewegung initiiert, d. h. gen abzusetzen, allerdings mit nicht immer über- wie entsteht der Wille zu einer Bewegung und zeugenden Argumenten. Wenn er z. B. einem der lässt sich auch hierfür ein neuronales Korrelat Gehirnaktivität wohl übergeordneten freien Willen finden? Nun scheint man tatsächlich ein solches doch noch ein Veto-Recht einräumt,21 fragt man neuronales Korrelat der Willensbildung gefunden sich, wie dann dieses wieder zustande kommen zu haben, das sich in Form von EEG oder fMRT- soll. Auch die Argumentation in „The Volitional Signalen messen lässt. Dies ist zwar spektakulär, Brain“,22 wie es sich schon im Vorwort von aber, zumindest für einen Neurophysiologen, Stephen M. Kosslyn andeutet, scheint auf einigen nicht weiter verwunderlich. Missinterpretationen der Systemtheorie zu beru- Das wirklich Überraschende war, dass die hen, z. B was das Verhältnis von Rauschen und Signale der Willensbildung im Gehirn schon deut- Chaos betrifft. lich früher zu sehen sind als dem Subjekt der Diese Versuche zur Rettung des freien Willens Prozess der Willensbildung überhaupt bewusst klingen eigentlich noch weniger überzeugend als wird. Dies waren in den Libet-Experimenten16 die vorherigen Angriffe. Die Autoren der fMRI- nur einige hundert Millisekunden, was noch Raum Studien23 halten sich eher bedeckt und sprechen, ließ, die Ergebnisse wegen eventueller Messfeh- zumindest in den wissenschaftlichen Publika- ler anzuzweifeln. Seit den fMRT-Messungen der tionen, nur von unbewussten Determinanten Haynes-Gruppe17 ist dies kaum mehr möglich. (unconscious determinants) der Willensbildung. Die sog. BOLD-Signale im fMRT erscheinen bis zu Aber auch deren Versuchsergebnisse implizieren,

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dass eine Entscheidung schon durch die neuro- DETERMINISMUS UND ZUFALL IN nalen Schaltkreise festgelegt ist, bevor man sich NEUROBIOLOGISCHEN PROZESSEN der Willensbildung überhaupt bewusst wird, was Alle neuronalen Prozesse beruhen auf dem selbst Haynes, zitiert, ihn24 unangenehm zu be- Öffnen und Schließen von Ionenkanälen, wodurch rühren scheint. Die Frage ist: Ist sie determi- sich die Spannung über der Zellmembran verän- niert? dern kann und gegebenenfalls Aktionspotenziale Inwieweit freier Wille und Determinismus, in ausgelöst werden. Es sind letztlich diese Nerven- seinen verschiedenen Spielarten, sogar mitein- impulse, über welche die Milliarden von Neuro- ander verträglich sein könnten, gehört zu den nen hautsächlich miteinander kommunizieren. nicht erst jetzt sehr intensiv geführten Diskussi- Die Potenzialänderungen sind an der Zelle direkt onen unter Philosophen25, auf die ich hier nicht messbar und sie zeigen sich auch als Summenak- weiter eingehen will. Dasselbe gilt für die Argu- tivität sehr vieler Nervenzellen z. B. im Elektro- mente dafür oder dagegen, wie sie sich aus der enzephalogramm (EEG) oder auch als BOLD-Signal Diskussion um den Gehirn-Geist-Dualismus er- in der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomogra- geben.26 phie (fMRT). In beiden Fällen handelt es sich also Unter eher neurophysiologischen Gesichts- um recht grobe Messungen neuronaler Summen- punkten werden gegen die Interpretation der oben aktivität, wobei das BOLD (Blood Oxygen Level genannten Experimente als Zeichen determinis- Dependent) Signal sogar nur sehr indirekt und tischer Willensbildung hauptsächlich folgenden zeitlich verzögert die elektrische Aktivität wider- Argumente ins Feld geführt: spiegelt, indem es den bei stärkerer neuronaler 1) Die Experimente sind immer noch weit Aktivität wegen des Energieverbrauchs gestei- davon entfernt, reale und meist weit komplexere gerten Sauerstoffzufluss misst. Situationen der Willensbildung zu repräsentieren.27 Wenn man nun unter exakt kontrollierten, 2) Die Experimente zeigen nicht mehr als konstant gehaltenen experimentellen Bedingun- dass unbewusste Prozesse zu unserer Willens- gen eine Messung macht, so wird man immer Un- bildung beitragen, was niemanden überraschen regelmäßigkeiten (Rauschen) und Fluktuationen wird, während der entscheidende Faktor ist, dass beobachten. Genauso wird man, wenn man eine wir über die Willensbildung reflektieren kön- Messung unter exakt gleichen Bedingungen wie- nen.28 derholt, nie mehr ein exakt gleiches Signal erhalten Beide Argumente berufen sich damit auf die wie in einer Messung zuvor. Wie jeder Experimen- Reflexion als Bestandteil komplexerer Prozesse tator sehr gut weiß, sind in jeder Messung, auch der Willensbildung. Aber damit ist der Determi- in denen von Libet und Haynes,31 Zufallskom- nismus nicht aus der Welt geschafft. Die oben ponenten enthalten. Diese Zufallskomponenten genannten Experimente sind ja gerade mal ein liefern allerdings noch kein wirklich handfestes Anfang. Wer weiß, ob sich mit weiter verbesser- Argument gegen den Determinismus. Sie werden ten experimentellen Techniken nicht demnächst im Allgemeinen darauf zurückgeführt, dass ein auch komplexere Prozesse der Willensbildung in biologisches System einer Vielzahl von Einfluss- neurophysiologischen Experimenten erkennen größen unterworfen ist, die man nie alle kennen lassen.29 und unter Kontrolle bringen kann. Dies ist der Im Folgenden werde ich mich auf den Deter- klassische Zufall. Den kann man sogar noch für minismus konzentrieren und nur einige ganz grund- die stochastische Freisetzung der Neurotransmit- legende neurophysiologische Befunde anführen, ter an einer Synapse verantwortlich machen. die der Annahme eines funktionellen, biologi- Daneben gibt es aber noch eine Zufallskom- schen Determinismus entgegenstehen. Ich werde ponente, die prinzipieller Natur ist und ohne die dazu einen Hinweis von Martin Heisenberg auf- das Leben, insbesondere die neuronale Informa- greifen,30 der dem Determinismus den Zufall tionsverarbeitung, nicht vorstellbar wäre. Diese gegenüberstellt, insbesondere in Form stochasti- findet sich im Öffnen und Schließen von Ionen- scher Öffnung und Schließung von Ionenkanälen, kanälen, also in den Grundprozessen jeglicher und werde versuchen, die sich daraus ergeben- neuronaler Aktivität. Der Zustand der Ionenkanä- den Konsequenzen darzulegen. le wird über verschiedene physiologische Größen

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kontrolliert, durch die Membranspannung selbst könnten die von einem Ingenieur vorgeschlage- sowie durch Neurotransmitter und verschiedenste nen Lösungen aussehen. Sie sind nur deswegen Neuromodulatoren – aber es ist immer ein Wahr- erwähnt, damit umso deutlicher wird, wie an- scheinlichkeitszustand. Deswegen, und weil es dersartig der von der Natur eingeschlagene Weg meist auch am besten zu den experimentellen ist. Die Zustände der einzelnen Ionenkanäle wech- Daten passt, werden die Aktivierungszustände seln, aber hierfür wird kein Taktgeber benutzt. der Ionenkanäle bevorzugt durch die Boltzmann- Sie tun dies nicht in regelmäßigen Zeitabstän- Funktion dargestellt. den, sondern mit einer gewissen Übergangswahr- Auch mathematische Simulationen neurona- scheinlichkeit. Diese Übergangswahrscheinlich- ler Aktivität arbeiten häufig mit der Boltzmann- keiten werden zwar von physiologischen Kontroll- Funktion. Die Boltzmann-Funktion selbst, obwohl größen bestimmt, aber der aktuelle Zustand zu von Zufallsprozessen abgeleitet, ist aber eine ma- einem bestimmten Zeitpunkt, entweder offen oder thematisch exakt definierte Funktion. Neuronale geschlossen, ist immer ein Wahrscheinlichkeits- Modelle, auch wenn sie auf Boltzmann-Funktio- zustand. Es scheint, dass sich die Natur zur Steue- nen aufbauen, sind daher zunächst deterministi- rung der Ionenkanäle, neben den physiologischen sche Modelle. Will man den realen experimentel- Einflussgrößen, die Brown’sche Molekularbewe- len Daten mit ihrer unvermeidbaren Variabilität gung zunutze macht. Sicher ist, dass man um näherkommen, so wird zusätzlich „Rauschen“ auf diese Zufallsprozesse nicht herumkommt. Sie sind eine oder mehrere der Modellgleichungen gege- essenzieller Bestandteil der Ionenkanal-Funktion. ben. Damit sind Zufallsprozesse aber auch essenziel- Ein solches „Rauschen“ könnte zunächst wie- ler Bestandteil jeglicher neuronaler Aktivität. der stellvertretend für die Vielzahl unbekannter Einflüsse auf die Registrierungen stehen. Aber ZUFALLSPROZESSE ALS UNVERMEIDBARE auch wenn man diese in ihrer Gesamtheit kennen GRUNDLAGE NEUROBIOLOGISCHER würde, bliebe doch noch eine grundsätzlich un- FUNKTIONEN? vermeidbare Zufallskomponente. Diese zeigt sich, Schon Anfang der 50er-Jahre des letzten wenn man noch eine Ebene tiefer geht, auf die Jahrhunderts haben Hodgkin und Huxley in ihrer Ebene der Ionenkanäle. Ein einzelner Ionenkanal bahnbrechenden Arbeit zur mathematischen Si- kann entweder offen oder geschlossen sein, mit mulation ihrer experimentellen Registrierungen z. T. recht komplizierten Übergansformen, die von Membranpotenzialen und Ionenströmen sog. aber in diesem Zusammenhang nicht relevant „rate constants“ eingeführt32 und damit implizit sind, genauso wenig wie eine gewisse Variabili- schon die statistischen Übergangswahrschein- tät in der Amplitude der gemessenen Einzelka- lichkeiten beim Öffnen und Schließen von Ionen- nalströme. kanälen vorweg genommen. Später, durch die Um von diesen diskreten Zuständen der Ein- Einführung der Patch-Clamp-Technik mit der zelkanäle (sozusagen den „Quanten“ der Neuro- Möglichkeit zur Messung an Einzelkanälen, konn- physiologie) auf die graduellen Änderungen des te dann die der Ionenkanal-Aktivierung inhärente Gesamtstroms einer Zelle zu kommen, könnte Stochastik experimentell nachgewiesen werden.33 man verschiedene Strategien anwenden. Da der Heutzutage gehört das Wissen um diese Zusam- Gesamtstrom sich aus einer mehr oder weniger menhänge zu den Grundkenntnissen der Neuro- großen Zahl von Einzelkanalströmen zusammen- physiologie, die nicht nur alle Neurowissen- setzt, könnte man, in Abhängigkeit von den phy- schaftler beherrschen dürften, sondern auch alle siologischen Kontrollgrößen, immer nur einen Studenten der Lebenswissenschaften lernen sol- bestimmten Prozentsatz der Einzelkanäle in den len. Ein Tutorial zur Analyse von Patch-Clamp- offenen Zustand versetzen, womit zumindest ein Daten34 beginnt mit dem Satz: „Ion channels abgestufter Verlauf möglich wäre. Einer kontinu- open and close in a stochastic fashion, following ierlichen Funktion noch näher käme man wohl, the laws of probability. However, distinct from wenn die Übergänge zwischen offenem und ge- tossing a coin or a die, the probability of finding schlossenem Zustand in einem variablen Zeit- the channel closed or open is not a fixed number verhältnis getaktet würden. So oder so ähnlich but can be modified (i. e., we can cheat) by some

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A

B

C

Abbildung: Das obere Diagramm (A) zeigt einen typischen Verlauf der Aktivierungskurve (Offen- Wahrscheinlichkeit) eines spannungsabhängigen Ionenkanals, dargestellt anhand der Boltzmann-Funktion p = 1/(1+exp(-s(V-Vh). Die Exponentialfunktionen sind die dazu passenden Zufallswahrscheinlichkeiten (rate constants) αU = β = exp(b (V-Vh)), aus denen sich die Boltzmann-Funktion errechnet, mit b = s/2 für αU and b = -s/2 für β.35 Die Punkte sind die Offenwahrscheinlichkeiten bei unterschiedlichen Membran- spannungen, wie sie sich aus Computer-Simulationen unter Nutzung der Zufallswahrscheinlichkeiten αU und β ergeben. In B sind solche Simulationen für einige wenige Membranspannungen exemplarisch aufgezeichnet. Die Fluktuationen in C ergeben sich aus der Aufsummierung wiederholter Berechnungen (n = 100 und n=1000, gemäß der Zahl von gleichzeitig aktivierten Ionenkanälen) bei einem konstanten Membranpotential (hier für den Halbaktivierungswert Vh = -30mV). Die Länge der Ordinate entspricht plus / minus 10 % des deterministischen Wertes.

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external stimulus, such as the voltage.“ Auch die Einflussgrößen berufen. In dieser Simulation ist hier gezeigte Abbildung zur Illustration dieser es einzig der den Ionenkanälen inhärente Zufalls- Zusammenhänge ist aus einer Lernsoftware prozess ihrer Aktivierung, welcher die Fluktuati- zusammengestellt.36 Sie zeigt das Öffnen und onen hervorruft. Schließen eines Ionenkanals als Funktion der Nun ist diese Abbildung zwar anhand einer Membranspannung, simuliert mit Zufallszahlen vereinfachten Computer-Simulation einer Lern- entsprechend der schon von Hodgkin und Huxley software erstellt, aber alle die dieser Simulation postulierten „rate constants“. zugrundeliegenden Annahmen sind physiologi- Das obere Diagramm (Abb. A) zeigt die Boltz- sche Realität. Kein Neurophysiologe wird bestrei- mann-Funktion, die in diesem Beispiel die span- ten, dass Zufallskomponenten ein wesentlicher nungsabhängige Aktivierung eines Ionenstroms Bestandteil der Steuerung von Ionenkanälen sind, wiedergibt. Zusätzlich eingezeichnet sind zwei was auch immer noch herauszufinden sein wird, Exponenzialfunktionen, welche die Übergangs- durch welche Mechanismen (Stichwort „gating wahrscheinlichkeiten (rate constants) vom offe- currents“) sie sich manifestieren. Um eine wirklich nen zum geschlossenen und vom geschlossenen deterministische Situation zu erreichen, müsste zum offenen Zustand darstellen. Deren Parameter die Zahl der Ionenkanäle unendlich groß sein sind so gewählt, dass sie, entsprechend der von oder die Zelle müsste über einen unendlich lan- Hodgkin und Huxley vorgegebenen Gleichungen, gen Zeitraum unter konstanten Bedingungen ge- explizit die Boltzmann-Funktion ergeben.37 Bis halten werden. Dies ist genauso wenig mit der zu diesem Punkt ist das gesamte System also Funktion eines Neurons vereinbar wie ein an- noch völlig deterministisch. dauernd geschlossener oder offener Zustand der Der Zufall kommt erst mit ins Spiel, wenn man Ionenkanäle. Die neuronale Informationsverar- von der mathematischen auf die neurophysiolo- beitung spielt sich in einem Zwischenbereich ab gische Ebene wechselt und die Ionenkanäle mit und sie ist ein dynamischer Prozess mit immer- einbezieht. Die Punkte in Abb. A kennzeichnen währenden zeitlichen Veränderungen. Somit gibt den prozentualen Anteil der „Offen“-Zustände es keine Chance, aus der Stochastik der Ionen- eines Einzelkanals, wenn man dessen Übergänge kanäle auf exakt definierte Werte zu kommen. durch Zufallszahlen aus dem Computer über eine Damit wird, zusätzlich zu der „statischen“ Zufalls- gewisse Zeit simuliert, was in Abb. B exempla- komponente, wie sie etwa durch die Boltzmann- risch für einige Potenziale dargestellt ist. Die Funktion repräsentiert ist, eine qualitativ andere, Übergangswahrscheinlichkeiten sind entsprechend „dynamische“ Zufallskomponente mit ins Spiel der Exponenzialfunktion aus Abb. A gewählt und gebracht. Dies ist das Rauschen – und man kann demensprechend folgen die Werte der Offen- es, unter keinen Bedingungen des Lebens, los- zustände recht gut dem Verlauf der Boltzmann- werden. Funktion – allerdings mit einer gewissen Streuung. Die Punkte werden höchstens mal durch Zufall ZUFALL UND NOTWENDIGKEIT IN DER exakt die Boltzmann-Funktion treffen. NEUROPHYSIOLOGIE – Die Streuung wird sichtbar geringer, je mehr RAUSCHEN UND NICHTLINEARE DYNAMIK man sich einem dauernd offenen oder dauernd Nun könnte man fragen, ob die den Ionen- geschlossenen Zustand nähert. Auch mit längerer kanälen zugrundeliegende Stochastik angesichts Simulationszeit wird die Streuung natürlich ge- der unglaublich großen Zahl von Neuronen und ringer, ebenso wenn man über eine größere Zahl der noch viel größeren Zahl von Ionenkanälen von Ionenkanälen aufsummiert. In Abb. C sind auf höheren Ebenen neuronaler Aktivität nicht die Fluktuationen eines Gesamtstroms darge- doch heraus gemittelt wird und für das wirkliche stellt, aufsummiert über 100 und 1.000 Ionen- Leben und die alltägliche Willensbildung genau- kanäle, eine oft schon unrealistisch hohe Zahl. so wenig eine Rolle spielt wie etwa die Quanten- Diese Kurven sind ein Beispiel für das, jedem Ex- physik. Das kann passieren, aber es kann auch perimentator sehr wohl bekannten, „Rauschen“ gerade das Gegenteil der Fall sein, nämlich eine in derartigen Registrierungen. In diesem Fall dramatische Verstärkung von selbst geringfügig kann man sich auch nicht mehr auf unbekannte erscheinenden Zufallskomponenten. Man kennt

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dies von der Chaos-Theorie. Allerdings ist, neben- Derartige Rauscheffekte sind aber nicht nur bei bemerkt, auch ein chaotisches System zu- in mathematischen Simulationen zu sehen, son- nächst mal ein deterministisches System. Ohne dern zeigen sich auch in experimentellen Daten. Zufallskomponenten ist das Verhalten chaotischer Am bekanntesten sind wohl die als „Stochastische Systeme zwar unregelmäßig und völlig aperio- Resonanz“ bezeichneten Phänomene,39 die sich disch, aber vollständig determiniert. Sein Verhal- in der Biologie bis auf die Ebenen von Verhaltens- ten lässt sich eben nicht mathematisch voraus reaktionen nachweisen lassen.40 Letztendlich berechnen, auch wenn das System selbst voll- gibt es sogar neuronale Transduktionsprozesse, ständig mathematisch beschreibbar sein sollte. die ohne das Zusammenspiel von Nichtlinearer Aber dies gilt für alle nicht-linearen Systeme hö- Dynamik und Rauschen überhaupt nicht funktio- herer Dimensionalität als 3, ob sie nun chaotisch nieren würden. Dazu gehört u. a. eines der höchst sind oder nicht – und ist daher eher ein metho- sensibelsten Sinnessysteme, der elektrische Sinn disches denn prinzipielles Problem. In numeri- der Haie.41 Die Reihe von nicht nur mathemati- schen Simulationen wird auch ein chaotisches schen, sondern auch experimentellen Nachweisen System unter identischen Anfangsbedingungen zur funktionellen Bedeutung von Rauschen in der und ohne stochastische Einflüsse immer densel- Neurophysiologie ließe sich weiter fortsetzen. ben Verlauf zeigen. Ich möchte jetzt aber zumindest noch kurz einen Die entscheidenden Komponenten für die Ver- anderen, vielleicht sogar weiter reichenden Aspekt stärkung von Rauschen sind die Nichtlinearitäten ansprechen und zu bedenken geben. Dies betrifft biologischer Funktionszusammenhänge, wie sie den Vergleich technischer und biologischer Sys- beispielsweise auch schon in der Boltzmann- teme. Funktion zum Ausdruck kommen. An solchen Nichtlinearitäten können, unter dem Einfluss von DETERMINISMUS UND ZUFALL IN Rauschen, besondere Phänomene in Erscheinung BIOLOGIE UND TECHNIK – treten, wie sie von dem rein deterministischen WIE WEIT GEHEN DIE ANALOGIEN? System nie zu erwarten wären. Diese sog. „koope- Das eingangs zitierte Gedicht mit dem von rativen Effekte“ von Rauschen und nichtlinearer sich selbst überzeugten Gummiball zeugt zualler- Dynamik sind gut bekannt, aber häufig nicht ein- erst von der Unsicherheit der über sich selbst fach zu erklären. Sie sind Gegenstand zahlreicher nachdenkenden Menschen, ob sie vielleicht nicht Untersuchungen, vor allem in der Biophysik. mehr wären als ein Spielball der Naturgesetze. Es kommt hinzu, dass die neuronalen Funkti- Dies entspricht ziemlich exakt den Vorstellungen, onsabläufe stark ineinander verflochten und häu- dass wir durch unsere Verschaltungen festgelegt fig zirkulär sind. Letzteres gilt viel stärker noch sind und aufhören sollten, von Freiheit zu spre- als für die synaptischen Übertragung, mit eher chen.42 Dann würden wir denselben Illusionen sequenziellen Funktionsabläufen, für die intrin- unterliegen wie der Gummiball. Diese Analogie sische Dynamik von Neuronen, wo die Membran- ist von einer Dichterin erschaffen, vielleicht rein spannung durch die Aktivierung von Ionenkanä- intuitiv und ohne vorher irgendetwas von den len verändert wird, deren Zustand selbst sich aktuellen wissenschaftlichen Diskussionen über wieder durch die Membranspannung verändert – den freien Willen und den Determinismus gehört natürlich in nichtlinearer Form. Gerade unter zu haben. Und es ist natürlich eine dichterisch solchen Bedingungen kann sich selbst kleinstes überhöhte Analogie. Rauschen gewaltig aufschaukeln und zu einem, Es wurde aber auch im wissenschaftlichen Be- gegenüber dem deterministischen System, völlig reich schon immer versucht, die Funktionsweise veränderten Verhalten führen. Auch wir haben des Gehirns in Analogie zu physikalisch-techni- uns mit solchen Phänomenen beschäftigt und schen Systemen zu „erklären“. Dies waren in konnten in unseren Simulationen neuronaler Ak- Zeitalter der Mechanik die Räderwerke, welche tivität aufzeigen, dass dies insbesondere dann nun, im Zeitalter der Elektronik, durch Computer der Fall ist, wenn man möglichst realitätsnah das und elektrische Schaltkreise ersetzt wurden. Da- durch die Ionenkanäle induzierte Rauschen nach- mit kommt man natürlich den neuronalen Funk- bildet.38 tionen schon etwas näher, zumindest insofern,

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als diese auf elektrochemischen Prozessen auf- nicht mehr da sind. Man braucht dazu ein weite- bauen. Allerdings sollte man auch nicht die mög- res, anderes Signal – oder man gibt Rauschen licherweise viel wichtigeren Unterschiede über- dazu.47 Unter dem Einfluss von Rauschen wäre sehen. Ein mir wichtig erscheinender Punkt ist, dann auch nicht unbedingt vorhergesagt, welche interessanterweise von Seiten der Wissenschafts- Neurone synchronisieren. Die Synchronisation theorie immer wieder hervorgehoben, dass nur könnte sogar zwischen konkurrierenden Netzwer- technische Artefakte einen funktionalen bzw. te- ken wechseln, was sich z. B. als physiologisches leologischen Hintergrund haben, während gerade Korrelat anbieten könnte, um zwischen verschie- biologische Systeme als mechanistische Systeme denen Möglichkeiten einer Willensentscheidung betrachtet werden sollten – sofern man nicht den auszuwählen. Letzteres ist, zugegebenermaßen, Anspruch erhebt, den Willen des Schöpfers oder reine Spekulation. Trotzdem sollte man vielleicht der Schöpfung zu kennen.43 dem Zusammenspiel zwischen Rauschen und Dies hat Konsequenzen. Technische Systeme Nichtlinearitäten bei der Untersuchung mentaler werden hinsichtlich einer bestimmten Funktion Prozesse oder beim Versuch zur Entwicklung von konstruiert. Dazu lernt der Ingenieur, wie man „Menschmaschinen“48 mehr Beachtung schenken. unliebsame Komponenten vermeidet oder zumin- Es gibt seit einigen Jahren schon einige vielver- dest reduziert, insbesondere solche, welche die sprechende Ansätze in der Physik und Technik, Kontrollierbarkeit des Systems erheblich erschwe- sich diese kooperativen Effekte zunutze zu ma- ren könnten. Dies sind, an vorderster Stelle, chen – durch „tuning into noise“.49 Nichtlinearitäten und Rauschen – also gerade jene Komponenten, welche aus biologischen Systemen ZUSAMMENFASSUNG UND nicht wegzudenken sind. Tatsächlich können tech- SCHLUSSFOLGERUNGEN nische Systeme, einschließlich Computer, vieles Ausgangspunkt dieser Überlegungen war die besser als der Mensch. Computer arbeiten schnell Diskussion um den freien Willen, der in den letz- und liefern exakte Daten, sei es auch nur die Zahl ten Jahren insbesondere von neurowissenschaftli- „42“.44 Dahingegen ist die neuronale Signalüber- cher Seite in Frage gestellt wurde, mit dem Argu- tragung extrem langsam und die Ergebnisse der ment einer unbewussten, nach den Naturgesetzen neuronalen Informationsverarbeitung, bis hin zu ablaufenden und damit determinierten Willens- Willensentscheidungen, sind eher unscharf und bildung. Diese Angriffe auf den freien Willen von keineswegs immer klar und eindeutig. Allerdings Seiten der Neurophysiologie sind gerade deswe- besitzt das menschliche Gehirn eine Flexibilität gen besonders ernst zu nehmen, weil sie sich und Anpassungsfähigkeit, wie sie noch von kei- nicht nur auf irgendwelche theoretischen Über- nem technischen System erreicht wird – entge- legungen berufen, sondern den Anspruch erhe- gen aller großartigen Prognosen gegen Ende des ben, durch experimentelle Ergebnisse belegt zu vorigen Jahrhunderts.45 Man könnte sich fragen, sein. Diesen Experimenten wurden hier andere ob das Gehirn seine Flexibilität und Kreativität Experimente gegenübergestellt, welche zeigen, nicht trotz, sondern gerade wegen dieser tech- dass schon der grundlegende Prozess jeglicher nisch so unerwünschten Eigenschaften, den Nicht- neuronalen Informationsverarbeitung, das Öffnen linearitäten und den Zufallsprozessen, entwickeln und Schließen von Ionenkanälen, neben den phy- konnte. siologischen Gesetzmäßigkeiten grundsätzlich Auch hierfür ließe sich ein mögliches Beispiel unvermeidbare Zufallskomponenten enthält. Die- anführen, und zwar im Zusammenhang mit einem se Ergebnisse sind eigentlich allen Neurowissen- für die neuronale Informationsverarbeitung, ins- schaftlern bekannt. Trotzdem werden sie in der besondere für die ganzheitliche Wahrnehmung, Diskussion um den Determinismus und den freien offensichtlich besonders wichtigen Vorgang, der Willen kaum mal oder nur ganz am Rande er- neuronalen Synchronisation.46 Angenommen, es wähnt – vielleicht weil sie als ein vernachlässig- wird ein vollkommen deterministisches System barer Nebeneffekt angesehen werden oder weil durch externe Signale synchronisiert, dann geht die Prozesse auf Ionenkanal-Ebene als irrelevant es nicht mehr aus dieser Synchronisation heraus, erachtet werden, wenn es um höhere Funktionen auch wenn die externen Signale schon längst der Informationsverarbeitung geht? Ich habe des-

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wegen versucht darzulegen, warum diese Zufalls- nis. Bernhard Russel53 bemerkt zu diesem Dämon: prozesse unter den Bedingungen des realen Lebens „Alle Kausalgesetze sind Ausnahmen unterworfen, unvermeidbar sind und warum sie, im Zusammen- wenn die Ursache nicht den Zustand des ganzen spiel mit den grundsätzlichen Nichtlinearitäten Weltalls umfasst.“ Mit dieser Einschränkung biologischer Prozesse, sehr wohl funktionelle muss und kann man wohl leben. Wieviel mehr an Bedeutung auf allen Ebenen der Informations- Freiheit könnte man erwarten – nur limitiert durch verarbeitung haben. den sich andauernd ändernden Gesamtzustand Man kann sich offenbar, wenn es nun um die aller Moleküle des Weltalls? Außerdem würde Argumentation für oder gegen den freien Willen nicht einmal die Kenntnis dieser Zustände an den geht, auf ganz unterschiedliche Experimente hier aufgezeigten Konsequenzen von Rauscheffek- beziehen und, davon abhängig, zu ganz unter- ten wirklich Substanzielles ändern. Wenn ich schiedlichen Schlussfolgerungen kommen – ohne numerische Simulationen rechne und Rauschen dass die experimentellen Ergebnisse an sich in dazu gebe, so nehme ich hierfür Zufallszahlen irgendeiner Weise in Frage gestellt werden müss- aus dem Computer. Diese sind vollständig deter- ten. Auf der einen Seite stehen die vielen Patch- miniert und ich könnte sie mir ausgeben lassen, Clamp-Experimente, welche die Stochastik der sodass ich für mein kleines System so etwas wie Ionenkanalaktivierung zeigen. Auf der anderen den Laplace’schen Dämon spielen könnte. Wie die Seite stehen vor allem die oben erwähnten Expe- Zufallszahlen aussehen, ist aber völlig uninteres- rimente von Libet und Haynes. Letztere zeigen sant. Das Entscheidende sind die durch Zufalls- aber zunächst einmal nur, dass im Gehirn Pro- prozesse eingebrachten Fluktuationen, bekannt zesse ablaufen, die offensichtlich mit der Wil- oder nicht, und deren Wechselspiel mit den ge- lensbildung zu tun haben, bevor dieser Vorgang gebenenfalls vollständig determinierten Nichtli- subjektiv bewusst wird. Dass diese Prozesse de- nearitäten des Systems. terminiert sein sollen ist eine Behauptung, die Ist also nicht der freie Wille eine Illusion durch solche Experimente in keiner Weise belegt sondern der Determinismus? Wäre beides, freier werden kann. Der Determinismus wird aus einer Wille und Determinismus, sogar miteinander ver- ganz anderen, rein theoretischen Ecke geholt. träglich, entsprechend der Kompatibilitätstheo- Somit erscheint die Forderung nach einer zu- rie? Oder ist vielleicht beides falsch – sowohl der mindest punktuellen Verankerung einer Theorie Determinismus als die Annahme eines freien Wil- mit experimentellen Daten50 in diesem Fall kaum len? Oder hat Determinismus mit dem freien Wil- erfüllt. Dahingegen lässt sich die Behauptung len überhaupt nichts zu tun? Sicherlich ist der einer den Neuronen inhärenten und unvermeid- Nachweis von Zufallskomponenten und Rauschen baren Stochastik recht gut mit den Ergebnissen in der neuronalen Informationsverarbeitung aus vielen hunderten oder gar tausenden Patch- kein Beweis für den freien Willen – aber genauso Clamp-Experimenten belegen. Deswegen könnte sicher ist, dass die Annahme eines biologischen ich dem Satz von Gerhard Roth51: „… Indetermi- Determinismus kein gutes Argument dagegen nismen, für die es im Gehirn übrigens keinen ist.54 Hinweise gibt …“ eher zustimmen, wenn das „In“ vor dem „Determinismus“ fehlen würde. ||||| HANS A. BRAUN Das Leben hat sich offensichtlich in einem Physiologisches Institut, Bereich entwickelt, in dem es sich eine zumindest Philipps-Universität Marburg makroskopische Unbestimmtheit zunutze machen kann.52 Dieses Prinzip von „Zufall und Notwen- digkeit“ zieht sich anscheinend durch bis in die Grundlagen neuronaler Informationsverarbeitung – und man wird es auch auf höheren Ebenen neuronaler Prozesse nicht los. Makroskopisch meint dabei alles, was oberhalb der Brown’schen Molekularbewegung liegt bzw. unterhalb der für einen Laplace’schen Dämon notwendigen Kennt-

68 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 DETERMINISMUS UND ZUFALL IN DER NEUROPHYSIOLOGIE

ANMERKUNGEN 21 Libet, B.: Do We Have Free Will?, in: Journal of

Consciousness Studies 8-9/1999, S. 47-57; Libet, B.: 1 Aus Kaléko, Mascha: In meinen Träumen läutet es Mind Time, Frankfurt a. M. 2005. Sturm, München 2012. 22 Freeman, A. / Libet, B. / Sutherland, K. (Hrsg): The 2 an der Heiden, U. (Hrsg): Hat der Mensch einen freien Volitional Brain. Towards a Neuroscience of Free Will, Willen? Die Antworten großer Philosophen, Stuttgart New York 1999. 2007. 23 Soon / Brass / Heinze / Haynes: Unconscious deter- 3 Tretter, F. / Grünhut, C.: Ist das Gehirn der Geist? minants of free decisions in the human brain. Grundfragen der Neurophilosophie, Göttingen 2010. 24 Smith: Taking aim at free will. 4 Suppes, Patrick zit. in Keil, G.: Willensfreiheit und 25 Heiden: Hat der Mensch einen freien Willen?; Keil: Determinismus, Stuttgart 2009. Willensfreiheit und Determinismus; Falkenburg: My- 5 Singer, W.: Verschaltungen legen uns fest. Wir sollten thos Determinismus. aufhören, von Freiheit zu sprechen, in: Hirnforschung 26 Tretter / Grünhut: Ist das Gehirn der Geist? und Willensfreiheit, hrsg. von C. Geyer, Frankfurt a. M. 27 Helmrich, H.: Wir können auch anders. Kritik der Libet 2004, S. 30-65; Roth, G.: Worüber dürfen Hirnforscher Experimente, in: Hirnforschung und Willensfreiheit, reden – und in welcher Weise?, in: Hirnforschung und hrsg. von C. Geyer, Frankfurt a. M. 2004, S. 92-97. Willensfreiheit, hrsg. von C. Geyer, Frankfurt a. M. 28 Heisenberg, M.: Is free will an illusion?, in: Nature 2004, S. 66-85. 459/2009, S. 164-165. 6 Prinz, W.: Der Mensch ist nicht frei. Ein Gespräch, in: 29 Koch, C.: Die Zukunft der Hirnforschung. Das Bewußt- Hirnforschung und Willensfreiheit, hrsg. von C. Geyer, sein steht vor seiner Enthüllung, in: Hirnforschung Frankfurt a. M. 2004, S. 20-26. und Willensfreiheit, hrsg. von C. Geyer, Frankfurt 7 Singer: Verschaltungen legen uns fest. a. M. 2004, S. 229-243. 30 Heisenberg: Is free will an illusion? 8 Prinz: Der Mensch ist nicht frei. 31 Libet / Wright / Gleason: Readiness potentials preced- 9 Keil: Willensfreiheit und Determinismus; Falkenburg, ing unrestricted spontaneous pre-planned voluntary B.: Mythos Determinismus. Wieviel erklärt uns die acts; Soon / Brass / Heinze / Haynes: Unconscious Hirnforschung?, Heidelberg 2012. determinants of free decisions in the human brain. 10 Singer: Verschaltungen legen uns fest. 32 Hodgkin, A. L. / Huxley, A. F.: A quantitative descrip- 11 Hille, B.: Ionic Channels of Excitable Membranes, tion of membrane current and its application to con- Sunderland, Mass. 1992. duction and excitation in nerve, in: J. Physiol. 17/1952, 12 Neher, E. / Sakmann, B. / Steinbach, J. H.: The extra- S. 500-544. cellular patch clamp – a method for resolving currents 33 Neher / Sakmann / Steinbach: The extracellular patch through individual open channels in biological mem- clamp. branes, in: Pflugers Arch 375/1978, S. 219-228. 34 Alvarez, O. / Gonzalez, C. / Latorre, R.: Counting Chan- 13 Libet, B. / Wright, E. W. / Gleason, C. A.: Readiness nels. A Tutorial Guide on Ion Channel Fluctuation potentials preceding unrestricted spontaneous pre- Analysis, in: Adv Physiol Educ 26/2002, S. 327-341. planned voluntary acts, in: Electroencephal. and Clin. 35 Tchaptchet, A. / Postnova, S. / Finke, C. u. a.: Model- Neurophysiology 54/1983, S. 322-325. ing Neuronal Activity in Relation to Experimental 14 Soon, C. S. / Brass, M. / Heinze, H.-J. / Haynes, J.-D.: Voltage- / Patch-Clamp Recordings, Brain Res (im Unconscious determinants of free decisions in the Druck), 2013. human brain, in: Nature Neuroscience 11/2008, 36 www.virtual-physiology.com, SimNeuron, Applets. S. 543-545. 37 Ebd. 15 Kornhuber, H. H. / Deecke, L.: Hirnpotentialänderungen 38 Finke, C. / Vollmer, J. / Postnova, S. / Braun, H. A.: bei Willkürbewegungen und passiven Bewegungen Propagation effects of current and conductance noise des Menschen. Bereitschaftspotential und reafferente in a model neuron with subthreshold oscillations, in: Potentiale, in: Pflügers Arch Physiol 281/1965, S. 1-17. Mathematical Biosciences 214/2008, S. 109-121. 16 Libet / Wright / Gleason: Readiness potentials preced- 39 Wiesenfeld, K. / Moss, F.: Stochastic resonance and ing unrestricted spontaneous pre-planned voluntary the benefits of noise. From ice ages to crayfish and acts. SQUIDs, in: Nature 375/1995, S. 33-36. 40 17 Soon / Brass / Heinze / Haynes: Unconscious deter- Russell, D. F. / Wilkens, L. A. / Moss, F.: Use of minants of free decisions in the human brain. behavioural stochastic resonance by paddle fish for feeding, in: Nature 402/1999, S. 291-294. 18 Singer: Verschaltungen legen uns fest. 41 Braun, H. A. / Wissing, H. / Schäfer, K. / Hirsch, M. C.: 19 Smith, K.: Taking aim at free will, in: Nature Oscillation and noise determine signal transduction in 747/2011, S. 23-25. shark multimodal sensory cells, in: Nature 367/1994, 20 Falkenburg: Mythos Determinismus. S. 270-273.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 69 HANS A. BRAUN

42 Singer: Verschaltungen legen uns fest. 43 Kuhn, T. S.: Die Struktur wissenschaftlicher Revoluti- onen, Berlin 1996; Stegmüller, W.: Teleologie, Funk- tionalanalyse und Selbstregulation, Berlin 1969. 44 Adams, D.: Per Anhalter durch die Galaxis, München 2009. 45 Kurzweil, R.: The Age of Spiritual Machines. When Computers Exceed Human Intelligence, New York 1999; Moravec, H.: Robot. Mere Machine to Transcendent Mind, Oxford 1999. 46 Singer, W.: Neuronal Synchrony. A versitile code for the definition of relations?, in: Neuron 24/1999, S. 49-65. 47 Postnova, S. / Voigt, K. / Braun, H. A.: A mathematical model of homeostatic regulation of sleep-wake cycles by hypocretin / orexin, in: J Biol Rhythms 24/2009, S. 523-535. 48 Brooks, R.: Menschmaschinen. Wie uns die Zukunfts- technologien neu erschaffen, Frankfurt a. M. / New York 2002. 49 Bulsara, A. / Gammaitoni, L.: Tuning in to noise, in: Physics Today 1996, S. 39-45. 50 Stegmüller, W.: Theorie und Erfahrung, Berlin 1973. 51 Roth: Worüber dürfen Hirnforscher reden – und in welcher Weise? 52 Monod, J.: Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 1977. 53 Zit. nach Keil: Willensfreiheit und Determinismus. 54 Danksagung: Ich bedanke mich bei Felix Tretter für die Einladung, einen Beitrag zu diesem Band liefern zu dürfen und insbesondere für seine wertvollen Hinweise und seine kritischen, sehr hilfreichen Kommentare. Bei Aubin Tchaptchet bedanke ich mich für die Zusammenarbeit bei der Entwicklung des Lernprogramms „SimNeuron“, das zur Illustration der hier vorgestellten Überlegungen herangezogen wurde.

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NEUROWISSENSCHAFT UND MATHEMATIK

Grundbegriffe, Skalen und Allgemeingültigkeit

J. LEO VAN HEMMEN ||||| Die Mathematisierung neurobiologischer Wirklichkeit erzeugt a priori, aber wie hier gezeigt wird, unberechtigt, einen starken Widerstand. Auf Basis dreier Arbeitshypo- thesen bzw. Thesen wird nun das Tor zur Mathematisierung geöffnet. Erstens, eine mathematische Beschreibung physikalischer oder biologischer Realität braucht geeignete Grundbegriffe, ohne die sie nicht funktionieren kann. Zweitens, jede mathematische Formulierung experimentell vorgegebener Fakten gilt auf einer begrenzten Skala in Raum und Zeit. Drittens, universelle Gültigkeit mathema- tischer Beschreibung ist in der Neurobiologie möglich und gibt es bereits.

VORREDE Skalenhypothese. Drittens, kann eine mathema- Gibt es ein Geist-Gehirn-Problem? Dies ist eine tische Beschreibung allgemeingültig sein, und, Frage, die Philosophen seit Jahrhunderten faszi- wenn ja, wie? Hier bringen wir das Argument vor, niert. Falls es ein Geist-Gehirn-Problem gibt, was dass Universalien auch in der theoretischen Neu- ist dann eigentlich das Problem? Das Gehirn. Ein rowissenschaft existieren, dass Evolution die wichtiger Aspekt der Gehirn-Geist-Problematik Regel bestätigt und dass es sich um ein Gebiet und des Anspruchs der Neurowissenschaften, handelt, in dem noch viel Platz ist für neue, ma- den Menschen in seinem Erleben und Verhalten thematisch initiierte Begriffsbildung, die durch zumindest im Ansatz erklären zu können, hängt eine intensive Wechselwirkung mit dem Experi- mit der Frage zusammen, ob die Neurowissen- ment eingeleitet wird. Schließlich erhält man ei- schaft mathematische Beschreibungen erlaubt, nen tiefen Einblick durch eine sorgfältige Analyse und, ob erwartet werden kann, dass eine Wech- der Weise, in der bestimmte Gehirnstrukturen selwirkung zwischen experimenteller und theore- auf Wahrnehmungs-Input antworten und damit tischer Neurowissenschaft für beide vorteilhaft eine Aktion in der Umgebung eines Tieres veran- ist. In der Tat existiert eine unübersehbare Viel- lassen. zahl an Daten, deren Struktur nur durch mathe- matische Verfahren aufgedeckt werden kann. EINFÜHRUNG: WIE LAUTEN DIE FRAGEN? Es wird hier argumentiert, dass eine Mathe- Die Neurowissenschaft ist eine ziemlich fa- matisierung natürlicher Phänomene niemals von cettenreiche Wissenschaft mit einer überwälti- alleine kommt. Zunächst muss man nämlich ge- genden Menge an Fakten und Begriffen, aber nur eignete Grundbegriffe finden, die mit dem Phä- wenigen allgemeingültigen Leitprinzipien. Eine nomen, das man mathematisch beschreiben und noch geringe Rolle spielt die Mathematik. Die erklären möchte, eng verbunden sind. Zweitens grundlegende Frage, die wir im vorliegenden muss man die geeignete Skala festlegen, auf der Aufsatz betrachten wollen, ist, ob allgemeingül- eine bestimmte Beschreibung gelten kann und tige Prinzipien existieren und, falls ja, ob sie jenseits derer sie nicht gilt. Unterschiedliche durch mathematische Ausdrücke formuliert wer- Skalen lassen unterschiedliche begriffliche und den können. Des Weiteren lohnt es sich, darüber mathematische Beschreibungen zu. Dies ist die nachzudenken, ob die vorherige Frage in einem

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 71 J. LEO VAN HEMMEN

derart allgemeinen Kontext gestellt werden kann. uns Allgemeingültigkeit als eine der mathemati- Wir werden sehen, dass Konzeptualisierung, Ska- schen Beschreibung innewohnende Eigenschaft lierung und Allgemeingültigkeit die drei zur Ori- vorstellen oder hängt sie von der Natur und Aus- entierung nötigen Eckpfeiler sind. Wie sich her- dehnung des Untersuchungsgegenstandes ab? ausstellen wird, beschränken diese auch den Noch bevor wir wirklich loslegen, haben wir Gültigkeitsbereich unserer Argumente, und zwar bereits drei Begriffe kennengelernt, die unserer wesentlich. sorgsamen Aufmerksamkeit bedürfen. Zuerst den Jedes Gebiet der Wissenschaft besitzt seine des Grundbegriffs und wie er geprägt wird, dann eigenen Grundbegriffe basierend auf einer ge- die Skalen, auf denen wir bestimmte Phänomene waltigen Fülle an Tatsachen. Die Wissenschafts- analysieren, und schließlich müssen wir die Fra- geschichte kann uns darüber aufklären, warum ge beantworten, ob Allgemeingültigkeit existiert und wie diese Grundbegriffe zustande kamen und und, wenn ja, was sie bedeutet. Nachdem wir worauf sie hinauslaufen. Wir alle wissen, dass durch Klärung unserer Ideen bezüglich der Rolle Mathematik existiert, und viele von uns wissen von Grundbegriffen, Skalen und Allgemeingültig- sogar um ihre Stärken. Aber können wir und, keit den Boden bereitet haben, werden wir uns wenn ja, wie können wir beim Aufzeigen ihrer der Analyse von Verträglichkeit zwischen Mathe- Bedeutung die Stärke ersichtlich werden lassen? matik und Neurowissenschaft zuwenden. Am Ende Falls die Natur für quantitative Analysen zugäng- dieser Abhandlung stehen Schlussfolgerung und lich ist, so ist Mathematik der einzige Weg, um Ausblick. die Natur zu quantifizieren. Das heißt, sie ist der einzige Weg, um quantitative Theorien zu formu- MATHEMATISIERUNG DER lieren, die beschreiben oder gar vorhersagen, was PHYSIKALISCHEN WIRKLICHKEIT bei geeignet gewählten Anfangs- und Randbe- Prägen von Grundbegriffen und dingungen geschehen wird. Im Grunde bedeutet Unterscheidung von Skalen „quantitativ“ den Gebrauch von Zahlen, um den Wissenschaft ist ein Streben, eine aufklärende Wert der gemessenen oder zu messenden Größen Expedition, um „logische“ Erklärungen für Phäno- festzulegen, und Zahlen sind naturgemäß bereits mene zu finden, die in der uns umgebenden Welt wesentlicher Bestandteil der Mathematik. Man auftreten. Solch ein Streben ist wie die Suche kann 1/7 als natürlich betrachten, da 1 durch eine nach Orientierungspunkten und sodann nach positive ganze Zahl dividiert wird, nicht aber die Aussichten auf eine noch unbekannte Landschaft. Quadratwurzel von 2. Man kann falsche Richtungen einschlagen, die Das Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist, zu zei- zwar Erkenntnisse versprechen, aber ins Nichts gen, dass die Quantifizierung der Natur nicht von führen. Dennoch weiß man erst im Nachhinein, alleine kommt. Wir werden die Physik, insbeson- dass sie „falsch“ waren. Was wir hier nicht ana- dere die Mechanik als konkretes Beispiel nehmen, lysieren werden, aber was man immerwährend um zu verdeutlichen, dass man zuerst passende im Kopf behalten sollte, ist, dass viele gelehrsame Grundbegriffe finden muss, ehe man Naturphä- Streitpunkte, die im Laufe der Wissenschaftsge- nomene in Form einer konkreten mathematischen schichte auftauchten, wie etwa der horror vacui, Beschreibung quantifizieren kann. Dabei werden Epizyklen, minima naturalia, Phlogiston etc., hit- wir auf verschiedene Größenordnungen der Phä- zig debattiert wurden und sich dann früher oder nomene in Raum und Zeit, auch Skalen genannt, später als irrelevant auflösten. Was die Physik stoßen. Es macht einen großen Unterschied, ob betrifft, so sollte der Leser die Literatur1 konsul- wir einen Fußball als Ansammlung von Atomen tieren, um sich zu informieren, was nicht funkti- und Molekülen beschreiben wollen oder als onierte. Im vorliegenden Kontext können wir (normalerweise) runde elastische Hülle. Ist des aber nicht anders, als uns auf das zu konzentrie- Weiteren die Mechanik eine universelle Theorie, ren, was schon funktionierte. um sowohl Fußbälle als auch Kanonenkugeln auf Wie erhält man die mathematische Beschrei- allgemeingültige Weise zu behandeln? In anderen bung eines natürlichen Phänomens? Diese Frage Worten, was bedeutet Allgemeingültigkeit und faszinierte die Griechen schon 500 v. Chr. mit gilt sie immer und überall? Das heißt, können wir Pythagoras und fand ihre Krönung in den tief-

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gründigen Ergebnissen Archimedes’ (Syrakus, Abbildung 1: Simon Stevins Illustration6 des 287-212 v. Chr.). Die Mathematisierung der Natur Vektorcharakters einer Kraft, die aufgrund des ist seither eine faszinierende Frage und daher Gewichts G einer Masse auf einer schiefen Ebene scheint es angemessen, die Geschichte der Wis- auftritt. Wie angezeigt, kann eine Kraft in zwei senschaft und insbesondere die der Physik sorg- Komponenten zerlegt werden. Vektoren wie D fältig zu analysieren. Denn die Physik weist klar und E sowie B als deren Zusammensetzung kön- einen wesentlichen Aspekt auf, der für sich ge- nen entweder komponentenweise entlang der nommen eine sorgfältige Analyse verdient: die kartesischen horizontalen und vertikalen Achse Prägung geeigneter Begriffe in Verbindung mit addiert werden oder man benutzt alternativ die der zugehörigen Mathematik. Parallelogrammregel für die Pfeile D und E, um Bei unserer Analyse werden wir von der funda- B zu erhalten. Somit liegt Stevins Zeichnung in mentalen Studie über die Entwicklung der Mecha- einer zweidimensionalen Ebene, wobei B in nik, ausgeführt von E. J. Dijksterhuis,2 Gebrauch die zwei Vektoren D und E zerlegt ist. machen. Die klassische Mechanik – im Gegensatz zur Quantenmechanik (1924-28) – war das erste und lange Zeit führende Gebiet der Physik und zeigt in beispielhaftem Ausmaß, wie Mathematik in einem physikalischen Bereich zur Anwendung kommt, um Geschehnisse in der Natur, d. h. in „natürlichen“ Phänomenen, zu quantifizieren. Aus diesem Grund war Dijksterhuis’ Wahl ein ausge- zeichneter Schritt und machte seine wichtigste Arbeit3 zu einem Klassiker. Anstelle einer Defini- tion des Begriffs „natürlich“, über die man gut einen gesonderten Aufsatz schreiben könnte, die aber weitgehend vom Geschmack des Autors ab- hängt und damit praktisch keine Bedeutung hat, konzentrieren wir uns darauf, was „klassisch“ im Nun kommt der Grundbegriff, auf den die Phy- Sinne der Newtonschen Mechanik bedeutet. Für sik zwei Jahrtausende7 warten musste, ehe er es alle Details zu den untenstehenden Argumenten, Newton erlaubte, sein zweites Gesetz zu formu- einschließlich Stevin, wird der Leser auf Dijkster- lieren. Wir beginnen mit dem Geschwindigkeits- huis4 verwiesen. vektor v = dr/dt, wobei r der Ortsvektor ist, der im Um das sogenannte zweite Newtonsche Gesetz Allgemeinen von der Zeit t abhängt, also r = r(t). zu verstehen, müssen wir auf Stevin zurückge- Um die Geschwindigkeit zu erhalten, benötigte hen, der im 16. Jahrhundert als erster den Vektor- Newton einen neuen, diesmal mathematischen charakter von Kräften wie der Schwerkraft klar Begriff, nämlich den der Differentiation dr/dt erkannt hat. Grob gesprochen bedeutet das, dass nach der Zeit, welche er und Leibniz unabhängig in dem dreidimensionalen Raum, in dem wir le- voneinander erfanden. Die Einheit der Geschwin- ben, jeder Vektor drei Komponenten besitzt, so digkeit ist, sagen wir, Meter / Sekunde (m/s). Der dass, wenn v = (v1, v2, v3) und w = (w1, w2, w3) Begriff des Vektors und der Vektoraddition, d. h. zwei Vektoren sind, die Summe der Vektoren komponentenweiser Addition, existierte bereits v + w = (v1 + w1, v2 + w2, v3 + w3) ist. Das heißt, für Kräfte und war von Stevin klar vermerkt und wir addieren Vektoren komponentenweise. Was veröffentlicht worden. Wir multiplizieren dann jetzt vielen offensichtlich erscheint, war alles die Geschwindigkeit eines Teilchens mit der Teil- andere als das, als Stevin seine „Grundlagen der chenmasse m, um so den Impuls p = mv zu erhal- Kunst des Wiegens“5 veröffentlichte und den ten. Der Begriff des Impulses war für die Wissen- Vektorcharakter von Kräften klar herausstellte, schaft zu Newtons Zeiten völlig verblüffend. Und der für ihn eine Hypothese war, mit der er die ebenso im Rückblick: Warum soll man eine Grö- physikalische Welt um ihn herum erklären konnte ße der Einheit m/s mit einer anderen der Einheit (siehe Abb. 1). Kilogramm (kg) multiplizieren, um so p = mv zu

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 73 J. LEO VAN HEMMEN

erhalten? Das hat kaum einen Sinn, bevor wir uns Beobachter im 17. Jahrhundert verblüffend war Newtons zweitem Gesetz zuwenden: F = dp/dt mit und eigentlich immer noch ist, dass der Gesamt- F als die Kraft. So einfach das aussieht, warum impuls erhalten bleibt. Aber immerhin können sollte das so sein? Bis heute weiß das niemand, wir jetzt den zugrunde liegenden „Mechanismus“ aber, und das ist die einzige Erklärung, es funkti- sehen, der zur Impulserhaltung führt, falls es oniert und zwar seit Jahrhunderten. Sowohl Im- keine äußeren Kräfte gibt. pulse als auch Kräfte sind Vektoren. Warum? Sie Mehrere Aspekte des vorangegangenen klassi- sind es einfach. Simon Stevin8 schloss schon schen Arguments sind bemerkenswert. Zunächst 1586, dass Kräfte so geartet sind (siehe Abb. 1). sollen die Begriffe Impuls und Kraft auf mecha- Es gibt natürlich auch eine andere Antwort nistische Art interpretiert werden. Nur wenn eine auf die Warum-Frage. Der Mythos von Newtons Kraft wirkt, ändert sich der Impuls und zwar ge- Entdeckung, dass der Impuls der Grundbegriff ist, mäß F = dp/dt. Zugegeben, Impuls und Kraft um mathematisch ein Gesetz zur Beschreibung spielen in der Mechanik eine wesentliche Rolle, der Kraft zu formulieren, ist nicht nur anmutig, aber das ist hier nicht gemeint. Wir wagen nicht, sondern enthält auch die „richtige“ Idee: Als eine Kraft zu definieren, sondern verweisen ein- Newton unter einem Apfelbaum sitzt, wird er von fach auf Abb. 1, um zu zeigen, dass sie real ist, einem herabfallenden Apfel getroffen. Da dessen weil sie verwendet, zerlegt und mit unseren Sin- Impuls innerhalb kurzer Zeit vernichtet wird, muss nen erfasst werden kann. Die Gewichtskraft auf- der Apfel eine Kraft auf Newtons (oder unseren grund einer Masse kann gewogen werden. Wenn eigenen) Kopf ausüben. Bei F = dp/dt anzukom- wir sie fallen lassen, so wie Galileo es angeblich men, ist ein gewaltiger Schritt, aber beim gründ- getan hat, können wir ihre Beschleunigung mes- lichen Studium zum Beispiel Dijksterhuis’9 sorg- sen, ihre Geschwindigkeit und damit ihren Impuls fältiger geschichtlicher Analyse der Entwicklung bestimmen, der vernichtet wird, wenn sie am der Mechanik in den vorangegangenen zwei Jahr- Boden aufschlägt, so dass sie eine Kraft ausübt. tausenden, insbesondere des Jahrhunderts vor Auf diese Weise ist Gravitation der Mechanis- Newton, erkennt man die zugrunde liegende Lo- mus, um Beschleunigung zu erzeugen, so wie der gik. Auf gut Deutsch, Newtons Entdeckung war Impuls der relevante Begriff ist, der die Wirkung keineswegs eine „creatio ex nihilo“. Dank ihrer einer Kraft bei der Erzeugung von Beschleuni- mathematischen Natur öffnete sie jedoch auch die gung zu quantifizieren hat. Tür zu einer mechanistischen Analyse von Phä- Um unsere Argumente auf das Wesentliche zu nomenen, bei denen Kräfte eine wichtige Rolle fokussieren, ohne den Grundbegriff des Impulses, spielen, und dies sogar schon zu Newtons Zeiten. einen Vektor, hätte Newton sein allgemeingül- Was lernen wir von F = dp/dt aus Newtons tiges zweites Gesetz nicht formulieren können. Sicht? Zunächst stellte Newton als Hypothese Wir werden bald auf seine „Allgemeingültigkeit“ auch sein drittes Gesetz auf: actio = -reactio. zurückkommen, akzeptieren sie im Moment aber Wenn sodann zwei Körper 1 & 2 auf einer flachen und erinnern uns einfach zum Beispiel an Archi- horizontalen Ebene ohne Reibung kollidieren, so tektur, die uns tagtäglich die Gültigkeit des zwei- gibt es keine Nettokraft, da die Gravitationskraft ten Newtonschen Gesetzes vor Augen führt, vor- in vertikaler Richtung wirkt und die Summe aller ausgesetzt, dass die Praktiker ihre Hausaufgaben Kräfte in der horizontalen Ebene senkrecht dazu richtig gemacht haben. Wie Dijksterhuis10 über- zu allen Zeiten verschwindet: F1 + F2 = 0. Die Im- zeugend gezeigt hat, benötigte die Physik in der pulse pi befinden sich ebenso in genau derselben Tat zwei Jahrtausende, ehe sie zu der Einsicht Ebene. Wir verwenden nun Fi = dpi/dt für jede der kam, dass Impuls der „richtige“ Grundbegriff ist: Massen, i = 1, 2, und, indem wir das dritte New- F = dp/dt. Nebenbei bemerken wir, dass die meis- tonsche Gesetz anwenden, können wir gar nicht ten Leute das Newtonsche Gesetz in der Form anders, als zu schließen, dass d(p1 + p2)/dt = 0 F = ma kennen, wobei F die Kraft auf ein Teilchen und somit p1 + p2 erhalten bleibt, was Experi- der Masse m ist und a = dv/dt die Beschleuni- mente in der Tat schon vor Newton gezeigt hat- gung mit v als Geschwindigkeit. Da die Masse m ten. Wenn man über dieses Ergebnis eine Minute in der klassischen Mechanik eine Konstante ist nachdenkt, dann kann man erkennen, dass es für und p = mv = mdr/dt, bleibt uns noch F = ma.

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Konzeptualisierung in Form Allgemeingültigkeit prägender Grundbegriffe Wie allgemeingültig ist, sagen wir, das (zweite) Die Geschichte des Konstruierens von Grund- Newtonsche Gesetz? In der klassischen Mechanik begriffen lässt sich faktisch unbegrenzt fortfüh- der Architektur, bei Kanonenkugeln à la Stevin ren. Sie fand einen zwischenzeitlichen Höhepunkt und in der makroskopischen Physik im Allgemei- bei dem Entwurf der Quantenmechanik in den nen hat sich das Gesetz immer als gültig erwie- zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts. Es war sen. Auf atomarer Skala, die acht Größenordnun- Dirac,11 der ihr eine ausgeprägte Formulierung gen (108 mal) kleiner ist, gilt es allerdings nicht. gab, in der Observablen wie etwa der Impuls Stattdessen müssen wir mit Quantenmechanik p = (px, py, pz) und der Ort r, üblicherweise ge- arbeiten, welche über einen völlig anderen For- schrieben als r = (qx, qy, qz), wobei px, qx usw. malismus läuft, der in den Goldenen Zwanzigern Zahlen sind, jetzt zu Operatoren werden, die eine des letzten Jahrhunderts aufgedeckt wurde, aber nichttriviale Kommutator-Relation [qj, pj] = qjpj - nach wie vor extrem nützlich ist. Das heißt, die pjqj = ih/2π erfüllen, wobei j = x, y, z und h das Wissenschaftsgeschichte lehrt uns, dass zumin- Plancksche Wirkungsquantum ist, während alle dest in der Physik mathematische Formulierun- anderen Kommutatoren verschwinden. Aufbauend gen nur auf einer bestimmten Skala in Raum und auf einer Darstellung der Kommutator-Relationen Zeit gelten. hat man die Wellenfunktion à la Schrödinger, die Quantenmechanik kann nicht von der klassi- der Schrödinger-Gleichung gehorcht, so dass man schen Mechanik abgeleitet werden. Ihr mathema- eine dynamische Entwicklung in der Zeit erhält und tischer Formalismus einschließlich der Feinheiten ihre äußerst erfolgreiche Wahrscheinlichkeits- ihrer experimentellen Interpretation, ohne wel- interpretation, insbesondere des Messprozesses, che sie nicht bestehen kann, existiert mit eigener die jetzt „Kopenhagener Deutung“ genannt wird Berechtigung. Lediglich umgekehrt lässt sich die (Born in Göttingen als Vorgänger und insbeson- klassische Mechanik eines makroskopischen Kör- dere Bohr und seine Kollegen an der Universität pers in gewissem Umfang aus der Quantenmecha- von Kopenhagen). Grundbegriffe und ihre inne- nik herleiten, aber die zugrunde liegende Mathe- wohnende mathematische Formulierung durch- matik ist in hohem Maße nichttrivial, um es sachte ziehen somit die gesamte Physik. auszudrücken. Bevor wir weitergehen, ist es vielleicht ganz Das bedeutet, wir müssen verschiedene Skalen gut, die obenstehende Idee des Prägens von unterscheiden: für makroskopische Körper die Grundbegriffen, die eine neue theoretische, d. h. der klassischen Mechanik und für Atome die der mathematische Beschreibung anstoßen, Heisen- Quantenmechanik. Für Elementarteilchen müssen bergs12 „Folge abgeschlossener Theorien“ gegen- wir noch mal acht Größenordnungen herunterge- überzustellen. Wissenschaftsgeschichte zeigt, hen, so dass wir bei Quantenfeldtheorie (QFT) dass Theorien, um erfolgreich zu sein, zwar nicht enden. Und wieder betreten wir ein anderes Re- abgeschlossen sein müssen, aber durch Verwen- gime mit verschiedenen Regeln, die nicht aus der dung ihrer Grundbegriffe eine vollständige mathe- Quantenmechanik hergeleitet werden können. matische Beschreibung der physikalischen und Was den Ursprung des Universums betrifft, müs- im vorliegenden Fall biologischen Realität an die sen wir andere Zeitskalen unterscheiden als die, Hand geben und dabei keine Widersprüche ent- mit denen wir im täglichen Leben vertraut sind. halten sollten. Auf jeder Skala begegnet man neuen Regeln, die Durch ein stetiges Zusammenspiel von mathe- von neuen Grundbegriffen, welche sich nicht von matischer oder, in anderen Worten, theoretischer den „gröberen“ ableiten lassen, herrühren und Beschreibung mit experimenteller Verifikation rei- dennoch eng mit diesen verbunden sind. In der fen physikalische Theorien, bis sie an die Grenzen Regel kann man, wenn man von feineren zu grö- ihrer Gültigkeit stoßen wie etwa Skalen in Raum beren Skalen in der Physik übergeht, einige der und Zeit, außerhalb derer sie ihre Bedeutung ver- mathematischen Gesetze, die auf der „gröberen“ lieren. So wie in Diracs und Heisenbergs Fall, in Skala gelten, herleiten, aber nicht mehr als das dem sich klassische Mechanik auf atomarer Ebene und zwar trotz der gewaltigen Literatur, die ver- als ungeeignet herausstellte. schiedene Aspekte des Übergangs von Quanten-

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 75 J. LEO VAN HEMMEN

feldtheorie zu Quantenmechanik und von Quan- Erstens, Aktionspotentiale oder, kurz, Spikes tenmechanik zur klassischen Mechanik behan- werden durch koordinierte Aktivität vieler Ionen- delt. Nur am Rande sei bemerkt, dass der Begriff kanäle erzeugt. Das Resultat ist ein Spannungs- des „Funktional“-Integrals,13 der damit zusam- impuls mit einer Amplitude von 1/10 Volt (V) und menhängt, dass es über einem Funktionenraum einer Dauer von ungefähr einer Millisekunde (ms). anstatt des üblichen dreidimensionalen Raums Es gibt kaum Zweifel daran, dass einzelne Ionen- definiert ist, physikalisch extrem nützlich ist, kanäle erstaunlich detailliert im Kontext biologi- aber mathematisch noch viele lose Enden hat. scher Physik beschrieben werden können. Wie Kurzum, es existieren Verbindungen, aber es gibt man dann mathematisch präzise das Spike-erzeu- sozusagen keine breite Brücke zurück in Rich- gende Verhalten einer Ansammlung von hunder- tung gröberer Skalen. ten Ionenkanälen erfasst, ist nach wie vor außer Reichweite der theoretischen Neurobiologie und KANN MAN NEUROBIOLOGIE biologischen Physik. Dementsprechend ist die MATHEMATISIEREN UND, WENN JA, WIE? relevante Skala die neuronale und nicht die der Wenn wir bedenken, warum die Physik so er- Ionenkanäle und wir richten unser Augenmerk folgreich war, dann können wir von ihrer reichen auf ein Neuron als Schwellenelement, was be- Erfahrung über die Jahrhunderte lernen:14 Eine deutet, dass es nur dann ein Aktionspotenzial Theorie muss nicht ausschließlich auf experi- generieren kann, wenn sein Membranpotenzial ei- mentell verifizierten Tatsachen bauen, sondern nen Schwellenwert überschreitet. Dieser Begriff kann auch mathematische Prinzipien aufdecken, erwies sich als extrem fruchtbar. Er führte nicht was für den Moment eine Hypothese aufzustellen nur zu formalen oder McCulloch-Pitts17-Neuronen, bedeutet, welche zu einer konsistenten Beschrei- welche in diskreten Zeitschritten von 1 ms arbei- bung von Experimenten führen. Das heißt, vom ten und entweder 1 für aktiv, d. h. Spike-Erzeu- hier vertretenen Standpunkt aus sollte sie einen gung, oder 0 für den inaktiven Zustand ausgeben, Vorhersagewert haben, so dass ein Teil einer sondern auch zu Hodgkin und Huxley,18 deren Theorie durchaus prae facto anstatt post factum Werk ihnen den Nobelpreis einbrachte und eine sein darf und somit zu experimenteller Verifika- überwältigende Fülle an hoch-detaillierten Neu- tion auffordert. Es war genau dieser konstruktive ronenmodellen anstieß. Diese Modelle beschrei- Austausch zwischen Theorie und Experiment, ben viele unterschiedliche Situationen, aber alle der (wohl) die Physik zur Vorzeigeunternehmung weisen effektiv einen Schwellenwert auf und die des zwanzigsten Jahrhunderts gemacht hat. Wer meisten von ihnen spiegeln auf die eine oder könnte bestreiten, dass es für praktisch die ge- andere Weise die mathematische Struktur wider, samte Biologie, die auf quantitative Beschrei- welche von Hodgkin und Huxley entwickelt wur- bung der natürlichen Welt abzielt oder davon de. Die beiden hatten ihr Gleichungssystem zur Gebrauch macht, keine ähnliche Geschichte ge- Beschreibung von Aktionspotenzialen im Riesen- ben wird? axon des Tintenfisches nicht aus Grundprinzipien Ist eine bestimmte Skala gegeben, sagen wir, hergeleitet, sondern es sich schlichtweg anhand die der klassischen Mechanik oder Quantenme- einer komplizierten numerischen Passung (fit) chanik, dann gelten die physikalischen Gesetze ausgedacht. ohne Ausnahme. In der Biologie gibt es allge- Zweitens, Lernen geschieht im Allgemeinen an meingültige Regeln und Mechanismen, aber man den Synapsen im Kontext neuronaler Dynamik. muss mit Ausnahmen leben, welche die Regel Die sogenannte Spike-timing-dependent plasticity „bestätigen“ (engl. exceptions proving the rule),15 (STDP) erwies sich als allgemeingültiger Mecha- denn die Evolution mag Lösungen finden, die in nismus, um synaptisches Lernen zu erklären. einer bestimmten Situation „bessere“ Arbeit leis- Seine Schlüsselidee19 ist das Lernfenster. Für eine ten als die „allgemeine“ Lösung. Um die Aussage erregte Synapse bedeutet das, dass, wenn das zu erläutern, dass in der Neurobiologie auf einer postsynaptische Neuron feuert und der präsynap- geeigneten Skala in Raum und Zeit allgemein- tische Spike geringfügig früher ankommt, die gültige Gesetze existieren, wenden wir uns drei Synapse ihre Arbeit richtig macht, und abhängig anschaulichen Beispielen zu.16 von der Zeitdifferenz zwischen dem Auftreten der

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zwei Spikes wird sie mehr oder weniger verstärkt. 1.000 sind wir mindestens drei Größenordnungen Wenn andererseits der präsynaptische Spike „zu höher und treffen auf ein Gesetz, das nicht aus spät“ kommt, d. h. nachdem das postsynaptische Grundprinzipien hergeleitet werden kann. Des- Neuron feuerte, dann ist die Synapse zu schwä- halb hat das niemand je hergeleitet, aber tat- chen: „Wer zu spät kommt, den bestraft das sächlich gilt es auf der Skala motorischer Aktion, Leben.“ Der wesentliche Bestandteil ist das Lern- welche die neuronale Skala um mehrere Größen- fenster als eine Funktion, welche die Zu- oder ordnungen übertrifft. Abnahme der synaptischen Übertragungsstärke in Abhängigkeit der Ankunftszeiten von prä- und Abbildung 2: Eine gelähmte Frau nutzt Popula- postsynaptischem Spike beschreibt. Die einzige tionsvektoren, um Schokolade zu essen. Dieser Sache, die sich von einem Fall, zum Beispiel Typ Erfolg moderner Neurowissenschaft durch den der Synapse, Gehirnbereich oder Spezies zum Populationsvektor-Algorithmus macht deutlich, nächsten ändert, ist das Lernfenster. Eine gewal- dass ein Gehirn nicht für sich alleine existiert, tige Menge an experimentellen Nachweisen hat sondern sich während der Evolution in enger inzwischen die große Fruchtbarkeit der Idee mit Wechselwirkung mit seiner Umgebung entwi- dem Lernfenster gezeigt. ckelte. Foto mit freundlicher Genehmigung Schließlich wenden wir uns dem dritten Begriff von Prof. Andrew B. Schwartz21 (Motor Lab, zu, der sowohl die Existenz von Allgemeingültig- University of Pittsburgh, PA, USA). keit in der Neurobiologie als auch die Relevanz von Skalen unterstreicht. Es ist die Populations- vektorkodierung20 als Mechanismus zur Erklärung, wie Populationen von Neuronen im motorischen Kortex Bewegungsrichtungen der Muskeln und somit der Gliedmaßen kodieren. Man kann dies wohl das „zweite Newtonsche Gesetz für kortikale Motoneuronen“ nennen. Wie Newtons Gesetz han- delt es sich um eine experimentelle Erkenntnis und basiert auf dem mathematischen Begriff des Vektors. Man ordnet jedem Motoneuron i eine

Vorzugsrichtung, den Einheitsvektor ei, zu. Die resultierende Bewegung, welche durch die neu- ronale Population kodiert wird, ist dann die Vek- torsumme (wie in Abb. 1) der Vorzugsrichtungen der einzelnen Neuronen, multipliziert mit ihrer Daher ist es angebracht, die obige Kodierung

(momentanen) Feuerrate ƒiW . Die Richtung ist also als zweites Newtonsches Gesetz für kortikale Mo- gegeben durch die Summe ∑W i ƒWi ei. So einfach das toneuronen zu bezeichnen. Wir können dies mit aussieht, die Vorhersagekraft dieser Regel ist dem Verhältnis zwischen klassischer und Quanten- beeindruckend und ebenso sein Nutzen für mathe- mechanik vergleichen, da beide eng miteinander matische Modellierung, d. h. theoretische Neuro- zusammenhängen, wir aber die Wirkung nicht wissenschaft und computergestützte Anwendun- aus Grundprinzipien des jeweils gröber- oder gen. Abbildung 2 zeigt eine simple, wenn auch feiner-skaligen Gegenstücks aus herleiten kön- hochkomplexe Demonstration seiner Stärke. nen. Während sich aber in der Quantenmechanik Im vorliegenden Kontext werden die beiden die Skalengröße im Vergleich zur gewöhnlichen, Grundbegriffe der Vorzugsrichtung und der mo- sogenannten klassischen Mechanik verringert, mentanen Feuerrate gepaart und die resultieren- vergrößert sie sich in der Neurowissenschaft, wenn den Vektoren in einer Vektorsumme kombiniert. wir von den Ionenkanälen über ihre Gesamtwir- Wir dürfen uns dies als ein mathematisches Bin- kung der Spike-Erzeugung (Feuern) weitergehen deglied vorstellen, welches die Auswirkung einer zur motorischen Aktion, kodiert durch Populati- Population von kortikalen Motoneuronen be- onsvektoren, deren Skala die einzelner Neuronen schreibt. Bei einem multiplikativen Faktor von um mehrere Größenordnungen übertrifft. Als ein

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 77 J. LEO VAN HEMMEN

Algorithmus und wie in Abbildung 2 veranschau- und an der Hypothese festzuhalten, dass zwi- licht, kann die Populationsvektorkodierung nicht schen Populationsvektorkodierung und Psycho- losgelöst werden vom dem Kontext, für den sie logie mehrere Beschreibungsebenen zu unter- geschaffen wurde: Antriebssteuerung in norma- schiedlichen Skalen liegen. Kurzum, das ist die lerweise feindlicher Umgebung. Skalenhypothese und im Moment wissen wir noch nicht, worum es sich bei diesen Schichten handelt WAS BEDEUTET ALLGEMEINGÜLTIGKEIT? und welche die relevanten Begriffe zur Beschrei- Das zweite Newtonsche Gesetz beschreibt die bung ihres Verhaltens sind. Geschweige denn, Wirkung irgendeiner Kraft F auf irgendein Teil- welche Mathematik, wenn überhaupt, diese Be- chen mit Masse m und Impuls p = mv durch schreibungsebenen bestimmt. Nichtsdestotrotz F = dp/dt. In der Mechanik, Quantenmechanik, scheint es eine relativ sichere Sache, dass sie Optik, Elektromagnetismus, kurz, in der gesamten existieren. Für ein einzelnes Neuron ist seit Physik sind Naturgesetze allgemeingültig. In der Hodgkin und Huxley23 und nach dem frühen Werk Biologie funktioniert Quantifizierung der Natur von Bernstein (1908) und Bonhoeffer (1948) be- geringfügig anders. Obwohl ein Neuron als ein kannt, dass Aktionspotentiale auf die kollektive (näherungsweises) Schwellenelement ein allge- Wirkung von Ionenkanälen zurückgehen, die auf meingültiger Begriff ist, gibt es einen Zoo ma- die Spannung, die sie erfahren, reagieren, und, thematischer Neuronenmodelle,22 beginnend mit dass es einen reichhaltigen Zoo von mathemati- Hodgkin und Huxleys bahnbrechendem Werk 1952, schen Modellen gibt, der dem Zoo von Ionen- dem nur die verblüffende Arbeit K. F. Bonhoeffers kanälen24 entspricht, die in einem bestimmten 1948 vorausging, der die meisten seiner Analysen Neuron existieren. In anderen Worten, ein Akti- einschließlich einer im zweidimensionalen Pha- onspotenzial wird auf einer Skala erzeugt, die senraum in Leipzig während der frühen 1940er- mindestens zwei Größenordnungen über der von Jahre durchführte. In einem nächsten Schritt Ionenkanälen liegt. gelangen wir zu einem Aktuator-Algorithmus Für die kollektive Wirkung vieler kortikaler (Handlungsalgorithmus), der über die Populati- Motoneuronen bei der Erzeugung einer motori- onskodierung für kortikale Motoneuronen zur schen Handlung in einem Muskel wissen wir auch, Verfügung steht. Was steuert dann diese Moto- wie wir ihre Aktion mathematisch beschreiben neuronen? Die aktivierende Aktuator-Geometrie können, so überrascht wir auch sein mögen, je- der kortikalen Motoneuronen weist auf eine Hierar- dem kortikalen Motoneuron eine Vorzugsrichtung, chie hin. Wenn man den Hirnstamm hinunter- einen Einheitsvektor ei, zuzuweisen, dies mit der geht, findet man niedere Motoneuronen (engl. momentanen Feuerrate ƒi zu multiplizieren, um lower motoneurons, LMNs), höhere Motoneuronen Wƒi ei zu erhalten, und die Richtung, die ein Muskel (engl. upper motoneurons, UMNs) … Was kommt veranlasst, durch Summation aller Vektoren ƒW i ei als nächstes? zu ∑i Wƒi ei vorherzusagen. Im Rückblick sieht das Auch in der Biologie ist die Gültigkeit jeder alles vernünftig aus, aber warum sollte es so sein? mathematischen Beschreibung auf eine bestimmte Tatsächlich kann die Populationsvektorkodierung Skala in Raum und Zeit begrenzt. Was Neuronen bereits auf der Wahrnehmungsebene25 gefunden betrifft, so handelt es sich dabei um Schwellen- werden, was die Konsistenz von Grundbegriffen elemente, um sie aber mathematisch zu beschrei- auf Wahrnehmungs- und Handlungsebene gewähr- ben, gibt es sozusagen einen Zoo von mathema- leisten würde. tischen Modellen für einen Zoo von Ionenkanälen in einem Zoo von Tieren. Die Wirklichkeit ist fa- SCHLUSSFOLGERUNG: WARUM ANALOGIE cettenreich und, um es mit einem Ausdruck der SEHR FRUCHTBAR SEIN KANN Maßtheorie zu umschreiben, ein mathematisches In philosophischen Diskussionen der Neuro- Gesetz gilt nun „fast immer“ anstatt „immer“, wissenschaft spielt der Begriff der Skalen noch wobei – für die Experten – das Maß der Ereignisse keine Rolle, obwohl ich behaupte, dass er wichtig, von der Evolution geeicht wird. ja sogar wesentlich ist. Das vorherige Jahrhun- Angesichts all der oben aufgeführten Tatsa- dert hat gezeigt, wie man in der Physik immer chen erscheint es sinnvoller, bescheiden zu sein kleinere Skalen und Theorien entdeckte, die nur

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funktionieren konnten, weil ihre Mathematik in wie etwa Populationsvektorkodierung. Durch ste- enger Verbindung mit zugehörigen physikalischen tig größer werdende Skalen können wir nicht an- Grundbegriffen ersonnen wurde. Diese Theorien ders, als letztlich die Ebene zu erreichen, auf der existieren eigenständig. Für die Neurowissen- wir denken und argumentieren. Aber können wir schaft behaupte ich das Gegenteil, dass man sich letzteres vom Standpunkt der heutigen Neuro- immer größere anstatt immer kleinere Skalen wissenschaft aus verstehen? Nein. Bis jetzt sind vornimmt und sowohl feststellt, dass es für die weder die geeigneten Grundbegriffe noch die neuronale Arbeitsweise auf kleineren Skalen ein entsprechenden mathematischen Beschreibungen subtil funktionierendes chemisches Substrat gibt, verfügbar. Man könnte auf dem Zusatz „bis jetzt“ als auch, dass gleichzeitig ein Evolutionsdruck herumreiten, aber der Gegenstand des vorlie- am Werk ist, um Ausnahmen zur Optimierung be- genden Aufsatzes ist, dass dieses Herumreiten stimmter Randbedingungen zu finden. bedeutungslos ist, während das Finden der „rich- Im vorliegenden Aufsatz hätten wir auf mole- tigen“ Grundbegriffe eine wahre Herausforderung kularer Ebene beginnen können, aber stattdessen darstellt. Durch die Skalenhypothese gewinnen nahm unsere Analyse die Ionenkanäle als ihren wir auch einen Einblick in die Natur dessen, was Ausgangspunkt. Als nächstes kommt die synapti- noch fehlt, und, wie wir uns die fehlenden Ver- sche und neuronale Ebene. Ein Lernfenster be- knüpfungen vorstellen dürfen. Vom jetzigen Stand- schreibt die dynamische Entwicklung synaptischer punkt aus ist das Geist-Gehirn-Problem irrele- Übertragungsstärken auf Basis der Ankunftszei- vant. Ein Gehirn liefert sozusagen die Hardware ten eines präsynaptischen Spikes und der Feuer- für die Gedanken, die zu dem gehören, was wir zeiten des postsynaptischen Neurons und wir Geist nennen, aber die Neurowissenschaft bietet bleiben hier beim einfachst möglichen Kontext. noch kein fundamentales oder mechanistisches Wir erhalten dann eine allgemeingültige mathe- Verständnis dafür, was Gedanken sind und wie matische Beschreibung des Lernens, die auch ein sie entstehen. Das heißt, unser neurowissen- detailliertes Verständnis vieler daraus folgender schaftliches Verständnis ist davon noch einige Lernprozesse erlaubt, wie etwa die Kartenbil- Ebenen entfernt und, über den „Geist“ zu speku- dung. Eine Karte ist eine neuronale Darstellung lieren, ist ebenfalls fraglich. der sensorischen Außenwelt und ist normaler- weise in einem einzelnen anatomischen Kern Wahrscheinlichkeitstheoretisch basierte (Nukleus) geortet. Sie besteht aus vielen Neu- Beschreibungen ronen, wobei „viele“ acht im Fall des Wüsten- Im vorliegenden Kontext stoßen wir auch auf skorpions bedeuten kann und, sagen wir, 10.000 eine andere, probabilistische Beschreibung, die für eine azimutale Schallortungskarte im lamina- häufig unter dem Namen Bayes’sche Wahrschein- ren Nukleus der Schleiereule, eines der berühm- lichkeit läuft, benannt nach dem Pastor Thomas testen Beispiele.26 Karten unterschiedlicher Bayes (1702-1761), der als einer der ersten mit Modalität werden (im Tectum opticum der Wir- bedingten Wahrscheinlichkeiten arbeitete. Nicht beltiere oder dem Colliculus superior der Säuge- mehr und nicht weniger. Es ist aber wichtig zu tiere) integriert und veranlassen Bewegung. Wie erkennen, dass man durch das Einbeziehen von wir sehen, vergrößert sich die experimentelle Wahrscheinlichkeiten ausdrücklich mangelndes Skala stetig. Es gibt keinen Zweifel daran, dass Wissen bezüglich des betrachteten Systems zu- die neuronale Skala von zentraler Wichtigkeit lässt. Dieses Wissen kann auch nicht erworben ist, und, dass sie die Grundlage praktisch aller werden, da man sonst genau das machen und die Überlegungen in der Neurowissenschaft dar- Wahrscheinlichkeiten glücklich weglassen würde. stellt. Anders ausgedrückt bieten Wahrscheinlichkeiten Ebenso gibt es keinen Zweifel daran, dass einen häufig verwendeten Weg, unser Wissen sowohl qualitatives als auch quantitatives Ver- oder vielmehr unseren Mangel an Wissen bezüg- ständnis der Ionenkanäle auf physikalischen lich des betrachteten Systems quantitativ darzu- Gesetzen basiert. Indem wir in der Skala aufstei- stellen.27 Indem man so verfährt, lässt man auch gen, verlieren wir die physikalische Einsicht und die mechanistische Herangehensweise fallen und gewinnen neue neurowissenschaftliche Begriffe ersetzt sie durch eine quantitative Beschreibung,

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was das Gleiche ist wie beim Würfeln oder Mün- AUSBLICK zenwerfen, und für Bayes’sche Probleme um eine Wie ich an anderer Stelle32 im Detail disku- Bedingung erweitert ist, wie für den Münzwurf tiert habe, ist der Ausblick in der theoretischen mit einem österreichischen Euro, bei dem Kopf Neurowissenschaft mindestens so gut wie der in und Zahl offenbar nicht gleich wahrscheinlich der theoretischen Physik. Die Reichweite der auftreten, die Münze also „biased“ ist, und man Neurowissenschaft in Richtung eines Verständ- somit Vorwissen bräuchte, um auf Dauer nicht zu nisses logischer Prozesse ist nach wie vor ziem- verlieren. lich beschränkt, so dass Bescheidenheit hierbei Kurz, auf der Grundlage der Geschichte der mehr als angebracht ist. Es ist, als ob wir zu Physik und einer angemessenen Interpretation28 Newton zurückkehrten, während er unter dem der Art und Weise, auf die Mathematik zur Quan- Apfelbaum sitzt und nachdenkt. Der Apfel fällt tifizierung natürlicher Phänomene benutzt wird, und Newton bemerkt ihn. Die Neurowissenschaft kann man durchaus eine oft detaillierte und quan- kann uns heutzutage viel über Sehen und Greifen, titative Erklärung der biologischen Wirklichkeit gesteuert vom Populationsvektor-Algorithmus,33 erwarten. Das heißt, eine Erklärung der Teile der erklären (vgl. Abb. 2). Mit anderen Worten, wie Biologie, die einer quantitativen Beschreibung Newton den Apfel wahrnimmt und seine Greif- zugänglich sind. Die große Verheißung der Zu- bewegung steuert, ist mittlerweile ziemlich gut kunft ist nicht die „Mathematisierung“ der Biolo- verstanden. Wie die theoretische Neurowissen- gie als solche, sondern die schöpferische Wech- schaft die Fülle der Phänomene in der experi- selwirkung zwischen experimenteller Biologie mentellen Neurobiologie jenseits, sagen wir, der und dem, was man in Analogie zur Physik einfach hier behandelten Beispiele mathematisch erfas- theoretische Biologie oder theoretische Neuro- sen kann, ist ihre entscheidende Herausforde- wissenschaft bezeichnen mag, so dass aus dieser rung. Inspiriert durch die Geschichte der Physik schöpferischen Wechselwirkung neue Grundbe- haben wir nun zumindest eine Vorstellung, worauf griffe hervorgehen. Die Wissenschaftsgeschichte wir Wert legen sollten, auch und gerade wenn al- sagt uns, dass genau das der Schlüssel zum Er- les nicht funktioniert, sowohl in der Biologie als folg ist, nämlich das Finden der richtigen Grund- auch in der Physik.34 begriffe, die mathematische Formulierung ihrer Was können wir dann über Bewusstsein sa- „allgemeingültigen“ Gesetze und die Bestimmung gen? Ist das ein Problem? Nein, es ist überhaupt des Gültigkeitsbereichs in Raum und Zeit. Durch keines, lediglich eine Frage der Definition im Au- ihren Vorhersagewert laden sie zu neuen Experi- ge des Betrachters. Im Kontext der Phänomeno- menten und experimentellen Paradigmen ein, um logie könnte man den Begriff der Definition ihre Gültigkeit herauszufordern – ein Ursprung durch Beschreibung ersetzen. Man kann einen wissenschaftlichen Fortschritts so alt wie der in Satz verwenden (siehe unten), eine Seite, einen der Mechanik.29 Aufsatz35 oder ein Buch.36 Hier ist eine Ein-Satz- Bevor wir zum Ausblick kommen, wäre eine Definition: Bewusstsein ist die Fähigkeit, sich in Bemerkung dazu angebracht, was die jetzigen einer (üblicherweise) feindlichen Umgebung als Argumente nicht bezwecken möchten. Wir argu- autonome Einheit zu handhaben. Natürlich könn- mentieren nicht im Sinne des Paradigmenwech- te man sich beschweren, dass wir jetzt „sich sels von Thomas Kuhn.30 Ein schönes Beispiel für handhaben“ definieren müssen. Autonom agie- Letzteres und von Kuhn extensiv besprochen ist rende Staubsauger zum Beispiel können sich mit die Weise, wie Kopernikus die Sonne anstelle der Sicherheit nicht handhaben, denn der Besitzer Erde als Mittelpunkt des Universums behandelte. zieht den Stecker aus der Steckdose – und das Es gibt keinen Zweifel, dass dies ein Paradigmen- war’s mit der Autonomie. Hier also ein zweiter wechsel ist, aber das hat nichts zu tun mit dem Satz, falls man ihn wirklich benötigt (der derzei- Prägen neuer Grundbegriffe wie im Fall des zwei- tige Autor hält ihn für überflüssig): „Sich hand- ten Newtonschen Gesetzes. Es war Newton, der haben“ bedeutet, auf jede Aktion von Außen an- – mechanistisch gedacht – mit seinem zweiten gemessen zu reagieren, so dass die Unabhängig- Gesetz die Keplerschen Gesetze herleiten konnte, keit gewahrt bleibt. Eine unmittelbare Konse- die dank Kopernikus entstanden waren.31 quenz ist die Definition von Kognition: Kognition

80 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 NEUROWISSENSCHAFT UND MATHEMATIK

ist die Fähigkeit, sich in einer (üblicherweise) ANMERKUNGEN feindlichen Umgebung als autonome Einheit zu handhaben, indem man sich Erfahrungen aus der 1 Dijksterhuis, Eduard Jan: The mechanization of the Vergangenheit zu Nutze macht. Das lateinische world picture, London 1961. Die deutsche Übersetzung „Die Mechanisierung des Weltbildes“ erschien 1956 „cognoscere“ bedeutet gerade „sich Erfahrung in Heidelberg, und für das niederländische Original aus der Vergangenheit zu Nutze machen“. Man „De mechanisering van het wereldbeeld“ (Amsterdam muss sozusagen aus Erfahrung klug werden. In- 1950) erhielt der Autor 1952 den niederländischen dem wir diesen Weg gehen, haben wir zumindest Staatspreis für Literatur (P. C. Hooft Preis); Simonyi, zwei Probleme weniger. Károly: A cultural history of physics, Boston 2012; Smolin, Lee: The trouble with physics, New York 2006. Der Autor ist ein ausgesprochener Kritiker der DANKSAGUNG modernen Stringtheorie. Als solcher ist sein Buch Der Autor bedankt sich herzlich bei drei Per- ziemlich kontrovers, unterstreicht aber die entschei- sonen: Bei seinem Freund und Kollegen Andy dende Bedeutung einer offenen wissenschaftlichen Schwartz, seinem Doktoranden Matthias Krippner Diskussion. und bei seinem Kollegen Felix Tretter, der mit 2 Dijksterhuis: The mechanization of the world picture. der großartigen Tagung zum Thema Homo neuro- 3 Ebd. biologicus und seinem ständigen Engagement 4 Ebd. und Interesse den Anstoß zu diesem Aufsatz ge- 5 Stevin, Simon: De beghinselen der weeghconst, Leiden geben hat. Außerdem zeigt er sich der Hanns- 1586; siehe auch Dijksterhuis: The mechanization of the world picture, Abb. 27, sowie Dijksterhuis, Edu- Seidel-Stiftung für ihre großzügige Unterstützung ard Jan: Simon Stevin: Science in the Netherlands dieses wissenschaftlich herausfordernden und around 1600, Den Haag 1970. spannenden Unterfangens sehr erkenntlich. 6 Ebd. 7 Dijksterhuis: The mechanization of the world picture. ||||| PROF. DR. J. LEO VAN HEMMEN 8 Stevin: De beghinselen der weeghconst. Lehrstuhl für Theoretische Biophysik 9 Dijksterhuis: The mechanization of the world picture. an der Technischen Universität München 10 Ebd.

11 Dirac, Paul Adrien Maurice: Quantum mechanics, Ox- ford, 1. Aufl., 1930, 4. Aufl., 1958. Für eine ausführli- chere Erklärung siehe auch Messiah, Albert: Quantum mechanics, Bd. 1, Kapitel 4, Amsterdam 1961; zu einer reichen Auswahl philosophischer Fragen siehe Esfeld, Michael (Hrsg.): Philosophie der Physik, Berlin 2012. 12 Heisenberg, Werner: Kausalgesetz und Quantenme- chanik, Erkenntnis 2/1931, S. 172-182. 13 Dirac: Quantum mechanics. 14 Dijksterhuis: The mechanization of the world picture. 15 Dieses „proving“ stammt von lat. „probare“, was prü- fen bedeutet; siehe Rall, J. Edward: Proof positive, in: Nature 370/1994, S. 322. Da er „Regel“ und „Theorem“ verwechselt, ist seine Schlussfolgerung jedoch falsch. 16 Die folgenden Beispiele stammen von van Hemmen, J. Leo: Biology and mathematics – A fruitful merger of two cultures, in: Biological 97/2007, S. 1-3. 17 McCulloch, Warren S. / Pitts, Walter: A logical calculus of ideas immanent in nervous activity, in: Bullethin of Mathematical Biophysics 5/1943, S. 115- 133. 18 Hodgkin, A. L. / Huxley, A. F.: A quantitative descrip- tion of membrane current and its application to conduction and excitation in nerve, in: The Journal of Physiology 117/1952, S. 500-544.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 81 J. LEO VAN HEMMEN

19 Gerstner, Wulfram / Kempter, Richard / van Hemmen, J. Leo / Wagner, Hermann: A neuronal learning rule for sub-millisecond temporal coding, in: Nature 383/ 1996, S. 76-78; Markram, Henry / Lübke, Joachim / Frotscher, Michael / Sakmann, Bert: Regulation of synaptic efficacy by coincidence of postsynaptic APs and EPSPs, in: Science 275/1997, S. 213-215. 20 Georgopoulos, Apostolos P. / Schwartz, Andrew B. / Kettner, Ronald E.: Neuronal population coding of move- ment direction, in: Science 233/1986, S. 1416-1419; Velliste, Meel / Perel, Sagi / Spalding, M. Chance u. a.: Cortical control of a prosthetic arm for self-feeding, in: Nature 453/2008, S. 1098-1101. 21 Collinger, Jennifer L. / Wodlinger, Brian / Downey, John E. / Schwartz, A. B. u. a: High-performance neuro- prosthetic control by an individual with tetraplegia, in: Lancet 381/2013, S. 557-564. 22 Koch, Christof: Biophysics of computation, New York, 1999; Ermentrout, G. Bard / Terman, David H.: Mathematical foundations of neuroscience, New York 2010. 23 Hodgkin / Huxley: A quantitative description of mem- brane current and its application to conduction and excitation in nerve. 24 Collinger / Wodlinger / Downey u. a.: High-perfor- mance neuroprosthetic control by an individual with tetraplegia. 25 van Hemmen, J. Leo / Schwartz, Andrew B.: Population vector code – a geometric universal as actuator, in: Biological Cybernetics 98/2008, S. 509-518. 26 Konishi, Masakazu: Listening with two ears, in: Scien- tific American 4/1993, S. 34-41. 27 Finetti, Bruno de: Theory of Probability: A Critical Introductory Treatment, Vol. 1, London 1974. 28 Dijksterhuis: The mechanization of the world picture. 29 Ebd. 30 Kuhn, Thomas S.: The structure of scientific revolu- tions, Chicago 1962, 1979, 1996. 31 Dijksterhuis: The mechanization of the world picture. 32 van Hemmen: Biology and mathematics – A fruitful merger of two cultures. 33 van Hemmen / Schwartz: Population vector code – a geometric universal as actuator; Collinger / Wodlinger / Downey u. a.: High-performance neuroprosthetic control by an individual with tetraplegia. 34 Smolin: The trouble with physics. 35 Chalmers, David J.: What is a neural correlate of con- sciousness?, in: Neural Correlates of Consciousness – Empirical and Conceptual Questions, hrsg. von Thomas Metzinger, Cambridge MA 2000. 36 Koch, Christof: The Quest for Consciousness: A Neuro- biological Approach, Englewood CO 2004.

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EINE EINLADUNG ZUR NEUROPHILOSOPHIE

DAVID KÖPF / MATTHIAS MUNK ||||| Der Beitrag formuliert eine Einladung an die Philosophie zu neuen Formen interdisziplinärer Zusammenarbeit mit den Neurowissenschaften. Diese zielt auf eine neurowissenschaftliche Nutzbarmachung der konzeptionellen Schätze und theorietechnischen Erfahrungen der Philosophie. Ansetzend an der Plastizität des Gehirns wird dazu in Form einer Übertragung der Hegelschen Geistphilosophie auf eine Gehirntheorie ein konkretes Projekt ange- regt und dessen mögliche Einbettung in eine fächerübergreifende mehrdimensionale mediale Anthropologie skizziert.

Die im Folgenden vorgebrachten Überlegungen Neurowissenschaft. Unter Rekurs auf Hegels laden die Philosophie und allgemeiner die Geis- Weiterentwicklung der Kantischen Philosophie tes- und Kulturwissenschaften dazu ein, neuartige versuchen wir diesem Verhältnis eine konstruktive konzeptionelle und theorietechnische Probleme Wendung zu geben. neurowissenschaftlicher Forschung zu nutzen, die 3. Dies führt uns zur Skizze eines neuro-, geis- spezifische Potenz philosophischer und geistes- tes- und kulturwissenschaftlichen Forschungs- wissenschaftlicher Konzepte, Theorien und Me- projekts, das seine Grundidee einer system- und thoden auf naturwissenschaftlichem Feld zum medientheoretischen Wiederholung der hegel- Einsatz zu bringen und zu entfalten. Denn wir schen Logik verdankt. sehen hier faszinierende Möglichkeiten für neu- artige Formen der Kooperation und große Poten- WAS DIE NEUROWISSENSCHAFTEN VON DER ziale für eine wechselseitige Befruchtung. PHILOSOPHIE LERNEN KÖNNEN Wir entwickeln diese Einladung in drei Schrit- Der Gegenstand neurowissenschaftlicher For- ten. schung weist Besonderheiten und Eigenarten 1. Zunächst wenden wir uns als Neurowissen- auf, die die Naturwissenschaften bislang erarbei- schaftler Hilfe suchend an die Philosophie, weil teten, erprobten Methoden und Paradigmen über- wir die Hoffnung haben, dass wir angesichts einer steigen. Dies gilt gleich in mehrfacher Hinsicht. Vielzahl von paradigmatischen, konzeptionellen a) Das lebendige Gehirn (und das wollen wir und begrifflichen Defizite, mit denen wir uns ja letztlich verstehen) nämlich ist ein Phänomen, aufgrund der Besonderheiten unseres Forschungs- dem man mit den Methoden der Physik und gegenstandes konfrontiert sehen, von der Philo- Chemie alleine nicht beikommt. Die exakte Phy- sophie (und weiter gefasst auch von den Geistes- sik stößt bereits beim Drei-Körperproblem an wissenschaften und den Kulturwissenschaften) ihre Grenzen. Mit statistisch vergröbernden Be- forschungsstrategisch Hilfe bekommen könnten. schreibungen, wie die Physik sie seit der Rekon- 2. In einem zweiten Teil erläutern wir eine struktion der Thermodynamik aus der Mechanik logische und methodische Schwierigkeit jeder kennt, wird man dem Gehirn nicht gerecht, denn Form von wissenschaftlicher Selbst-Thematisie- es ist hochgradig organisiert. Für diese Facette rung und Selbst-Aufklärung des Menschen. Wir unseres Forschungsgegenstandes stellt die Phy- erläutern damit unsere Sicht auf die bisher statt- sik leider allenfalls rudimentäre Begriffe zur Ver- gefundenen Dialoge zwischen Philosophie und fügung.

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 83 DAVID KÖPF / MATTHIAS MUNK

b) Das Gehirn ist weiter ein evolutionär ent- f) Diese Merkmale sorgen dafür, dass das standenes System, das nicht in sich stimmig lebendig operierende Gehirn ein je individuelles durchkonstruiert, sondern bricolage-artig zusam- Phänomen ist. Die Gegenstände klassischer Formen mengebaut ist. Es ist nur auf Überlebensfähigkeit von Naturwissenschaften sind aber immer vom lo- und möglichst massive Reproduktion aus, nicht gischen Typ einer Klasse. Das Newtonsche Gesetz aber auf Stimmigkeit hin evolutionär selektiert. gilt nicht für den individuellen Apfel, der Newton Man wird es deshalb nicht in einem ingenieur- vor die Füße gefallen ist, sondern für die Klasse mäßigen Maschinenparadigma erforschen können, aller Massenpunkte in einem Gravitationsfeld. sondern nur mit sehr abstrakten funktionalen Wir wollen wenigstens den ersten der aufge- Begriffen. (Kybernetik, Systemtheorie). Man ver- führten Punkte näher ausführen. Der klassische steht das Gehirn deshalb nur im Kontext seines Wissenstyp der Naturwissenschaften beruht dar- historisch-evolutionären Gewordenseins und der auf, dass man weiß, woraus etwas besteht. Die Einbettungen und Verflechtungen, denen es dabei Hauptarbeit der Forschung ist die Analyse, die unterworfen war. Auflösung des Gegenstands in seine elementaren c) Denn das Gehirn gehört zur Phänomen- Bestandteile. Klassische Phänomene der Natur- klasse „System in Umwelt“. Es ist zwar organisa- wissenschaften sind von der Art, dass man das torisch in sich geschlossen, funktioniert aber nur Wesentliche weiß, wenn geklärt ist, woraus sie eingebettet in einen Körper und eine Umwelt. bestehen. Aus den Eigenschaften der Teile lassen Anders als etwa eine Billardkugel – ein klassi- sich dann die Eigenschaften des Ganzen (re-)kon- sches Paradigma der Physik – hat man es hier struieren. Umgekehrt gesagt: bei diesen Phäno- mit einem Objekt zu tun, das man losgelöst von menklassen kann man die Substanz des Ganzen seiner Einbettung in einen Kontext nicht sinnvoll auf die Merkmale seiner Teile reduzieren. Die behandeln kann. Was das lebendige Gehirn in Hoffnung, dieses Paradigma auch in der Biologie, seiner Funktionalität und Prozesshaftigkeit ist, Anthropologie und Soziologie ins Zentrum stel- lässt sich nur in Bezogenheit und Abgrenzung zu len zu können, hat zahllose unwissenschaftliche seinen Umwelten sagen. Reduktionismen generiert. d) Weiter weist das Gehirn eine hohe – so- Das Gehirn ist eines (vielleicht das zugespitz- wohl phänotypische als auch selbstreferenzielle – teste) von einer ganzen Klasse von Phänomenen, Plastizität auf. Affengehirn und Menschengehirn deren substanzieller Gehalt nicht in ihren Be- sind an vielen Stellen nahezu identisch; welche standteilen, sondern in deren Wechselwirkung Potenz sie entfalten, ist aber hochgradig von ihrer und Organisation liegt. Extremes Beispiel sind sozialen und kulturellen Einbettung abhängig. Algorithmen, die gegenüber unterschiedlichen Selbst innerhalb derselben Kultur ist die indivi- materiellen Implementierungen völlig indifferent duelle Ausprägung extrem von der individuellen sind. Ob die Boolesche Algebra auf einem Sili- Biographie abhängig und offen. Das Gehirn ist ziumchip oder in einem neuronalen Schaltkreis kein „fest-stellbarer“ Gegenstand. Die klassische realisiert wird, ist für die Funktionalität dieses logische Form naturwissenschaftlicher Erkennt- Algorithmus völlig irrelevant. Die Materie und nisse ist die der „Fest-Stellungen“ bzw. des Kon- deren Eigenschaften zählen nicht, sondern allein statierens. Diese Aussageform ist einem Phäno- der Informationsgehalt. Dies führte zu einer neuen men nicht angemessen, zu dessen wesentlichen Wissenschaft, nämlich der Kybernetik. Diese be- und zentralen funktionalen Merkmalen es zählt, fasst sich mit Phänomentypen, in denen Fragen dass es sich ändern kann. nach Zusammensetzung und Substanz keine Rolle e) Schließlich operiert das Gehirn in vielfälti- spielen, sondern nur Information. Man hat gele- ger Form selbstreferenziell. Dies trifft selbst auf gentlich von Software-Gesetzen (im Unterschied seine Plastizität zu. Was das Gehirn wird und wie zu Hardware-Gesetzen) gesprochen, um zu ver- es arbeitet, ist maßgeblich von der Geschichte deutlichen, dass es sich hier um einen anderen seines Selbstgebrauchs abhängig. Es hat also Typ von Gegenständen handelt. sogar autoplastische Qualitäten. Als hochgradig Diese Art von Forschungsgegenstand tauchte selbstreferenzielles System ist es fremdreferen- nicht nur in den Neurowissenschaften, sondern ziell nicht adäquat beschreibbar. vorher schon in der Biologie auf, und wurde auch

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in der Chemie und Physik untersucht. Dissipative nen Bestandteilen und deren raum-zeitlicher Or- Systeme wurden dort thematisiert und etwa mit- ganisation (die mit seiner weitaus wichtigeren hilfe von Nichtgleichgewichts-Thermodynamik funktionalen Organisation nicht unbedingt was bearbeitet. Bereits auf der Stufe der Physik wurde zu tun haben muss). Überhaupt ist es bei einem es nötig, über bloße Ordnungsphänomene (etwa derartig komplexen Gegenstand wie dem Gehirn die Kristallstruktur von Festkörpern) hinauszu- leicht möglich, dass die komplette Forschungs- gehen und komplexere Ordnungsformen, nämlich energie auf der Ebene der Bausteine und deren solche in der Dimension der Zeit, also Prozess- allerelementarsten Wechselwirkungen gebunden strukturen, zu betrachten – etwa um einen Laser wird –ob man nun im Geist des konventionellen zu verstehen (z. B. Haken, „Synergetik“). Hier Wissenschaftsmodells hofft, dadurch den Kern- sprach man dann statt von Ordnung von Organisa- gehalt des Gegenstands eruieren zu können, oder tion. Im Übergangsbereich zwischen Chemie und ob man die Kenntnis der Bestandteile als not- Biologie hat Manfred Eigen eine Organisations- wendige Vorstufe für das Verstehen von deren theorie unter dem Namen „Hyperzyklus-Theorie“ Zusammenwirken betrachtet. Spätestens aber in vorgelegt. Die chilenischen Biologen Humberto dem Moment, in dem Fortschritte der Messtech- Maturana und Francisco Varela haben unter dem nik nicht nur immer feinere Auflösungen erlauben, Stichwort „Auto-Poiesis“ eine Theorie des Leben- sondern immer mehr Faktoren sich gleichzeitig digen entwickelt, in der die zentrale Entität klassi- messen lassen, wird die Frage akut, was denn scher Theorien, nämlich Substanz, durch (Selbst-) das Verhältnis dieser Faktoren zueinander ist, Organisation ersetzt wird. Überhaupt hat es die inwiefern selbige also wechselwirken und funkti- Biologie ja mit Organismen zu tun. Auch andere onal – vielleicht auch kausal wirksam – aufeinan- Wissenschaften mussten das klassische, substanz- der bezogen und ineinander verwoben sind und zentrierte Modell von Naturwissenschaft erwei- ein Ganzes bilden, das maßgeblich durch Organi- tern. So war nicht zuletzt etwa die Klimaforschung sations-Strukturen bestimmt ist. Kurz: Fleißiges maßgeblich beteiligt an einer Theorie „komplexer Datensammeln erspart einem auf Dauer nicht die dynamischer Systeme“. Dieser fächerübergreifen- Entwicklung von Theorie-Paradigmen, welche dem de Trend wurde gelegentlich unter dem Obertitel Organisationsgrad des Gegenstandes angemes- „TOO“ zusammengefasst, zu „Theories of Organi- sen sind und die angehäuften Datensammlungen zation“. All diesen Theorien haftet das Problem gehaltvoll auszuwerten erlauben. an, daß sie mathematisch keinesfalls schon als Betrachtet man diese Entwicklungen im grö- fertige, ausgereifte und abgeschlossene Theorien ßeren historischen Kontext, könnte es scheinen, vorliegen. dass in einer Dialektik von atomistisch-experi- Nun gilt auch für die Entwicklung der Natur- menteller und theoretisch holistischer Forschung wissenschaften, dass das erforscht wird, was man nun nach einer experimentell dominierten Phase erforschen kann. Manchmal erschließen neue wieder Theoriearbeit angesagt ist. Auch die Theorien neue Forschungen, manchmal sind es großen theoretischen Revolutionen in der Physik die empirischen Forschungsinstrumente, die neue (Quantentheorie und Relativitätstheorie) waren Forschungsoptionen eröffnen. Im Fall der Neuro- durch eine vorausgehende experimentell domi- wissenschaften war das Aufkommen der neuen nierte Phase vorbereitet. bildgebenden Verfahren einschneidend. Damit An diesem Wiedereinstiegspunkt in eine Phase konnte man plötzlich in erheblich größerem Um- der neurowissenschaftlichen Theoriearbeit sehen fang empirische Forschung am lebenden Gehirn wir die Chance einer fruchtbaren Kooperation mit betreiben (wenngleich diese nicht-invasive For- der Philosophie verortet. Denn die neurowissen- schung die kybernetische Ebene nicht einschließt schaftlichen Theorie-Instrumente zur Erforschung und damit der direkte Zugang zum neuronalen von komplexen, selbstorganisierenden, selbstrefe- Substrat nach wie vor durch invasive Verfahren renziell operierenden Systemen in den Naturwis- erfolgen muss). senschaften leiden nicht nur darunter, dass ihre Der Fokus neurowissenschaftlicher Forschung mathematische Ausarbeitung unvollständig ist. scheint sich darüber verschoben zu haben: weg Wir rechnen damit, dass viel tiefer, auf einer kon- vom Organisationsgehalt des Gehirns, hin zu sei- zeptionellen und logischen Ebene nämlich, Theo-

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 85 DAVID KÖPF / MATTHIAS MUNK

rieprobleme gelöst werden müssen, wenn eine − JDie Geschichtswissenschaften haben reiche neue Theorie-Konjunktur in den Neurowissen- Erfahrung mit evolutionären Systemen, die schaften über die alte hinauskommen will. Wir kein logisches Zentrum haben und bricolage- haben die Hoffnung, dass es an diesen offenen artig (und oft katastrophenförmig) evolvieren. konzeptionellen Baustellen zu einem Beitrag der − JDie soziologische Systemtheorie (Parsons, Luh- Philosophie und der Geistes- und Kulturwissen- mann) hat am Gegenstandsbereich Gesellschaft schaften kommen könnte. Wir unterstellen nämlich, bereits vorgeführt, wie sich philosophische dass diese denkerischen und wissenschaftlichen (Hegel, Husserl) und naturwissenschaftliche Bemühungen schon viel länger mit Phänomenen (Biologie, Kybernetik, Informationstheorie) beschäftigt sind, die logisch, strukturell und funk- Theorien fruchtbar kombinieren lassen. tional einigen der oben aufgezählten Eigenarten Diese unsystematischen Andeutungen mögen des lebendigen Gehirns verwandt sind. genügen. Wir möchten die Philosophie und die Wir nennen dazu in unsystematischer Form Geistes- und Kulturwissenschaften einladen, sich einige Beispiele: mit den konzeptionellen Instrumenten, die sie in − JBereits die aristotelische Theologie kannte der Auseinandersetzung mit ihren Gegenständen unter dem Stichwort noesis noeseos selbst- erarbeitet haben, und den Erfahrungen, die sie referentielle, vielleicht sogar autopoietische damit gesammelt haben, konstruktiv in den For- Strukturen. schungsprozess der Neurowissenschaften einzu- − JHegel hat mit seinem Geist-Begriff den struk- bringen. turellen Gehalt dieser Theologie wieder auf- genommen und zu einer elaborierten dialek- NEUROWISSENSCHAFTLICHE DEZENTRIERUNG tischen Logik ausgebaut. DER PHILOSOPHIE − JDie christliche Trinitätstheologie muss sich Die Neurowissenschaften sind in zugespitzter schon seit zweitausend Jahren mit vertrakten Form mit einem methodischen Problem konfron- innertrinitarischen Organisationsproblemen tiert, das schon andere Wissenschaften hatten, auseinandersetzen. dort aber nicht ganz so handgreiflich wurde. Dieses − JJede politische Philosophie und jede Gesell- Problem ist zugleich der logische Kern des pro- schaftstheorie hat reichhaltige Erfahrungen blematischen Verhältnisses von Neurowissenschaf- mit Organisationsfragen gesammelt. Von den ten und Philosophie. Wir erläutern es zunächst am hier ausgearbeiteten Paradigmen hat der Beispiel der Psychologie und betrachten dann berühmte KI-Forscher Marvin Minski bereits dessen Zuspitzung in den Neurowissenschaften, Gebrauch gemacht, indem er unter dem Titel um es in einem dritten Schritt konstruktiv zu „Mentopolis“ Gehirne mithilfe des Stadt-bzw. wenden und daraus einen Vorschlag für eine Gesellschafts-Paradigmas zu beschreiben ver- neue interdisziplinäre Forschungsstrategie zu suchte. entwickeln. − JDemokratietheorien müssen sich schon lange Die Psychologie hat eigentlich das Problem, mit Problemen von parallelen „multi-agent- dass in der Psycho-Logie der Mensch zweimal vor- systems“ auseinandersetzen. kommt, in zwei Rollen, die nicht identisch sind, − JJede Form von humanistischer Bildung weiß aber doch derselben Entität zugeschrieben wer- um die Funktion von Erinnerung für die Selbst- den. Der Gegenstand dieser Wissenschaft ist – Korrektur und Orientierung selbstreferenziel- zumindest dem Namen nach und auch wenn ler Prozesse. Die Vermittlung der Geschichte niemand so ohne Weiteres zu sagen weiß, was der Kultur, in die man eingebettet ist, war ihr das denn eigentlich sei – die menschliche Psy- immer zentrales Bildungsanliegen. che. Der Akteur, der diese Wissenschaft betreibt − JDieselbe Bildungstradition hat großen Wert und sich hinter dem zweiten Namens-Bauteil, auf sprachliche Bildung gelegt, weil sie um die dem Logos, verbirgt, ist ebenfalls der Mensch. essenzielle Funktion dieses Mediums wusste, Auf nicht leicht angebbare Weise sind in dieser in dem sich die innerpsychischen, die sozialen Wissenschaft Forschungsobjekt und Forschungs- und die geschichtlichen Vermittlungsprozesse subjekt identisch – und doch verschieden. Damit vollziehen. wird eine Grundbedingung moderner Naturwis-

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senschaft problematisch, nämlich die saubere dieses Verhalten auf neuro-anatomische, -elektri- Trennung des zu erforschenden Objekts vom for- sche und -chemische Faktoren zurückzurechnen. schenden Subjekt. Die Psychologie hat dieses Damit kann man mit handfesten Entitäten ope- Problem in der Form zu entschärfen versucht, rieren. Die neuen Beobachtungsmöglichkeiten der dass sie die Rollen in der sozialen Dimension Neurowissenschaften (bildgebende Verfahren) ha- verteilt hat: ein Mensch (Psychologe) beobachtet ben dies noch zugespitzt. Sie erlauben Einblicke einen anderen Menschen („Probanden“) – und ins lebende und aktuell operierende Gehirn. Jetzt umgeht damit schwer kontrollierbare Rollenkon- kann man psychische Beobachtungen mit neuro- fusionen, indem sie auf „Introspektion“ als For- nalen Beobachtungen korrelieren. Theoretische, schungsmodus lieber verzichtet. Sie wird das also nicht direkt beobachtbare Konzepte können Problem aber nicht wirklich los. Der Psychologe so in den Hintergrund geraten. Man kann ja jetzt muss damit rechnen, dass das, was er am Proban- doppelt empirisch arbeiten – und sich die Theorie den entdeckt, auch für ihn gilt und insbesondere sparen. Nun wird auch Introspektion oder „first auch schon gegolten hat, als er den Probanden person perspective“ wieder wissenschaftsfähig, beobachtet hat, obwohl er zu dem Zeitpunkt weil sie gewissermaßen in zwei Formen auftaucht: noch keine Kenntnis davon hatte und selbiges der beobachtete Proband blickt und horcht und nicht in das Kalkül der methodischen Selbstkon- fühlt in sich hinein – und findet Bilder, Töne, Ge- trolle einbeziehen konnte. Streng genommen ist fühle – und Bedeutungen; und die bildgebenden deshalb nicht auszuschließen, dass gar nicht klar Instrumente schauen in denselben Probanden ist, wem die Struktur des beobachteten Phäno- hinein, indem sie in sein Gehirn blicken – und mens zuzurechnen ist: dem Gegenstand der Be- finden aktivitätsabhängige Durchblutungsmuster obachtung oder der („transzendentalen“) implizi- und Hirnströme. Das eröffnet ganz neue For- ten Struktur des Beobachtungsvorgangs – oder schungsoptionen, birgt aber zugleich neue Ver- gar untrennbar beiden. Zumindest aber wird mit suchungen und Gefahren. diesem methodischen Kniff die Gleichzeitigkeit Im Fall der Psychologie lagen die beiden von Identität und Differenz der „Psyche“ und Sphären sozusagen auf derselben Ebene. Lebens- des „Logos“ methodisch operabel gemacht. Das weltlich liegen Bewusstsein und Erleben einer- „Dasselbe“ wird in Form eines „Dasgleiche“ ver- seits und Beobachtung von Verhalten von Mit- doppelt, die Rollen so getrennt, und die Gleich- menschen andererseits auf derselben Ebene. Es zeitigkeit wird temporalisiert, indem der autolo- kostete methodische Anstrengungen, beides zu gische Rückschluss zeitlich nach der Verteilung trennen und nicht automatisch von Verhalten auf stattfindet. Intentionen zu schließen. Die Neurowissenschaften haben eine analoge Im Fall der Neurowissenschaft ist die Identität Struktur. Gegenstand sind Nervensysteme bzw. und Differenz auf verschiedene Ebenen verteilt: Gehirne, und es sind Menschen, die diese Gehirne Hier (individuelles privates) Bewusstsein, dort unter Zuhilfenahme von technischen Apparaten (empirisch objektiv, d. h. u. a. für alle sichtbar) erforschen. Im Unterschied zur Psychologie wird elektrochemische Impulse und neurochemische die methodisch gebotene Differenz zwischen Effekte. Hier kostet es methodische Anstrengung Forschersubjekt und Forschungsgegenstand jetzt und Selbstaskese, die messtechnisch dingfest nicht einfach nur durch Verdopplung der zu er- gemachten Aspekte nicht zu priorisieren oder gar forschenden Entität in der sozialen Dimension zu verabsolutieren und den anderen Pol zum erreicht, sondern materiell dingfest gemacht. bloßen Epiphänomen zu degradieren. Anders als Psychologie muss der Neuroanatom Zusammengefasst: Der Mensch hat verschie- nicht dabei stehen bleiben, Verhalten zu beob- dene Optionen der Selbst-Erforschung und Selbst- achten. Als „Ana-Tom“ schneidet er den Anderen Aufklärung. Voneinander entkoppelt werden aus einfach auf – und er-schließt sich eine ganz an- diesen Optionen Risiken. Entweder er entkommt dere Welt: Nervensysteme, Nervenzellen, Nerven- dem mythischen Bewusstsein nicht wirklich, son- verbindungen, Neurotransmitter, Hormone. Er muss dern wiederholt nur die Inhalte seiner Imagina- jetzt nicht mehr von Verhalten auf psychische tion (Beispiel Introjektionen in der Psychologie). Innereien schließen, sondern kann versuchen, Er schafft es so nicht, seine Binnenperspektive

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 87 DAVID KÖPF / MATTHIAS MUNK

zu transzendieren und verfehlt die Aufklärungs- transzendentale Subjekt ist neutral und allgemein möglichkeiten durch Wissenschaft. Oder er erliegt und taugt somit als Subjekt von Wissenschaft: den faszinierenden Resultaten seiner Selbst-Objek- immer und für alle gleich und der Empirie gegen- tivierung und hält bunte Bildchen von Gehirn- über vorurteilslos neutral. scans für die eigentliche Wirklichkeit und sein Hegel sah sich zur Entwicklung einer Philoso- Selbsterleben für bloßen Schein. phie genötigt, die die fixe Trennung von empiri- Beide Gefahren lassen sich mit dem Bonmot schem und transzendentalem Subjekt aufgehoben von Robert Spaemann zusammenfassen: „Der hat. Das menschliche Subjekt hat weitergehende Mensch wird / bleibt sich selbst / ein Anthropo- Möglichkeiten, etwas über sich in Erfahrung zu morphismus“. Er verfehlt sich selbst, weil er der bringen, als die tranzendentale Analyse, die Kant Strukturlogik seiner – unmittelbaren oder tech- vorgeführt hat. Das Hegelsche Subjekt operiert nisch vermittelten – Bilder von sich selbst auf nicht fein säuberlich getrennt von der Empirie. den Leim geht, anstatt deren Bann durch wech- Es „ent-äußert“ sich in seinen Handlungen und selseitigen Gebrauch zu durchbrechen. Taten. Hegel hatte den Ehrgeiz zu zeigen, dass Man könnte versucht sein, eine Vielzahl von auch unter diesen Bedingungen Wissenschaft Erfahrungen auf dem Feld des Dialogs zwischen möglich ist, allerdings eine ganz neuen Typs. Neurowissenschaften und Philosophie so zusam- Dieser neue Wissenschaftstyp entspricht einem menzufassen: Überschreitet die Neurowissen- anderen Gegenstand. Kants Philosophie in seiner schaft methodisch unkontrolliert ihre Grenzen, Kritik der reinen Vernunft war die Explikation einer kommt es schnell zu einem materiellen Monis- Form von Wissenschaft, die den Gegenständen mus, in dem alles, was die Philosophie kennt der klassischen Physik angemessen ist. Hegels (Bewusstsein, Geist, Wille, Person) zum Epiphä- Philosophie hingegen arbeitete auf eine Wissen- nomen degradiert wird. Kommt der Neurowissen- schaft hin, die den lebendigen Geist zum Inhalt schaft so ihre andere Seite abhanden, wird sie zu hat. Unter dem Stichwort Geist nahm Hegel so- einem lebenspraktisch irreführenden Szientismus. wohl das individuelle, sich an der Welt abarbeiten- Der Mensch erliegt seinen eigenen Konstrukten. des Bewusstsein als auch die Kollektivdynamik „Der Mensch wird sich selbst zum Anthropomor- von Kultur und Gesellschaft ins Visier. Man darf phismus“, verwechselt also sein technisches Bild vermuten, dass diese Form von Wissenschaft der von sich mit seiner Substanz. Die Philosophie re- Erforschung des Gehirns angemessener wäre, als agiert darauf mit prinzipieller Abgrenzung und die von Kant explizierte klassische Form von Na- mit Apologie. Sie verzichtet auf potente Formen turwissenschaft. der Selbstaufklärung durch Selbst-Entäußerung Hegel konzeptionalisiert Geist als eine „tätige (Objektivierung) und bleibt im „transzendentalen Differenz“, modern gesagt: eine operierende Schein“ ihrer Binnenperspektive gefangen. Kant System-Umwelt-Differenz. „Geist“ und „Materie“ hat viel Mühe darauf verwandt, dies zu entlarven. schreiben sich wechselseitig ineinander ein. Geist So gilt auch hier: „Der „Mensch bleibt sich selbst gibt es nur als einen, der sich einlässt und an der ein Anthropomorphismus.“ Materie abarbeitet. Er ist permanente „Entäuße- Die eigentliche Erkenntnis-Chance scheint nun rung“ bzw. Inkarnation oder Materialisierung – darin zu liegen, die logische Struktur der Gleich- ohne darin je aufzugehen. Das geht nicht als zeitigkeit von Identität und Differenz, die wir als unbeteiligter Beobachter. Der Standort einer sol- Problem oben eingeführt haben, konstruktiv zu chen inkarnierten Differenz ist nicht mehr das wenden und daraus ein besonders elaboriertes Gegenüber oder das Darüber, kein zeitloses, un- Erkenntnis-Instrument zu machen. Wie das geht, geschichtliches, allgemeines „transzendentales kann man in der Philosophie lernen. Subjekt“ (Kant). Der Ort dieser inkarnierten Dif- Kant unterschied ein „transzendentales Sub- ferenz ist ein „In-mitten“. Das Subjekt ist hier jekt“ und ein „empirisches Subjekt“, ein erken- „de-zentriert“. Hier gibt es keinen archimedischen nendes Subjekt und ein erkanntes. Das transzen- Punkt. dentale Subjekt ist strikt transzendent und bleibt Dass man in diesem Involviertsein ohne fixe so von jeglicher Empirie unberührt. Auf diese Bezugspunkte methodisch nicht untergehen muss, Weise ist ein archimedischer Punkt gegeben. Das hat Hegel vorgeführt. Der Schachzug, der dazu

88 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 EINE EINLADUNG ZUR NEUROPHILOSOPHIE

nötig war, bestand darin, das Subjekt aus der 2. Entwicklungsgeschichtlich entstammt das Zentralposition zu entlassen und theorietech- Gehirn senso-motorischen Regelkreisen. Nerven- nisch an dessen Stelle das Medium zu platzieren, systeme sind deshalb zunächst Vermittlungs- in dem sich die „Differenz-Arbeit“ des Subjekts organe zwischen System und Umwelt. In ihnen vollzieht und einschreibt. So wurde aus „Sub- ist eine gattungsgeschichtliche Vermittlungsge- jektphilosophie“ „Geschichtsphilosophie“, weil schichte zwischen System und Umwelt codiert. „Geschichte“ für Hegel der Name für das Gesamt Höherstufige, lernfähige Nervensysteme lassen dessen war, worin Subjektivität operiert, sich mit sich dann als Medien verstehen, in denen indivi- Materie auseinandersetzt und die Resultate die- duell-biographische Vermittlungsgeschichten in- ser Auseinandersetzung eingeschrieben werden. skribiert sind. Der Mensch ist der Gehirnbesitzer, Durch diese Inskription gewinnt die Situation der seiner Umwelt besonders potent gestaltend trotz des Fehlens eines archimedischern Punktes gegenübertritt. Die Vermittlungs-Geschichte seines Stabilität und Form. Aber noch mehr: indem das Eingebettetseins in natürliche und soziale Um- Subjekt sich materiell entäußert und einschreibt, welten hat sich deshalb nicht nur in Sprachen, und das Medium die Inskription bewahrt, kann Bilder, Ritualen und anderen kulturellen Medien das Subjekt auf sich selbst zurückkommen und eingeschrieben, sondern in seine natürliche Um- so – im nachhinein – die „Rückseite des Spiegels“ welt. Mittlerweile spricht man deshalb ja sogar (Konrad Lorenz), also den Teil von sich, der ihm vom Anthropozän. Mehr noch, der Mensch hat in actu verborgen bleiben muss, studieren. An sich materiell künstliche Umwelten gebaut, z. B. dieser Stelle liegt der eigentliche Gewinn des Häuser, Städte, Autos. Im Grunde waren dies die ganzen theorietechnischen Manövers. Themen von Hegels Philosophie. Die in den letz- Dieser Umbau hat Folgen für die Philosophie. ten Jahren neurowissenschaftlich vielfach thema- Der Philosoph kann sich jetzt nicht mehr auf tisierte Plastizität des Gehirns lässt sich hier prinzipielle Erwägungen beschränken und unbe- nun als neuentdeckte Facette einbeziehen. Nach rührt am Rande stehen. Er muss sich auf die kon- Hegel lernt man, was der Mensch ist, indem man krete Dialektik und auf das empirische Material seine kulturell und materiell (Marx) inskribierte einlassen. Philosoph kann jetzt nur noch sein, wer Geschichte entziffert. Die elementaren Fächer sich material auf Wirtschaftsgeschichte, Politik- humanistischer Bildung waren deshalb zu Recht geschichte, Kulturgeschichte, Technikgeschichte, Sprachen und Geschichte. Diesen klassischen Kunstgeschichte, Sprachgeschichte, Ideenge- geisteswissenschaftlichen Medien-Anthropolo- schichte, Religionsgeschichte einlässt. gien lässt sich nun eine neurowissenschaftliche An dieser Stelle brechen wir diesen philoso- Medien-Anthropologie komplementär an die Seite phiegeschichtlichen Exkurs ab. Wir glauben, dass stellen – und damit wären wir an dem Punkt ei- sich daraus dreierlei für das Verhältnis von Philo- nes möglichen neuen gemeinsamen Forschungs- sophie und Neurowissenschaften entwickeln lässt: projektes. Dies werden wir nun abschließend einerseits eine Perspektive für ein vertieftes umreisen. Sich-Einlassen der Philosophie auf die Neurowis- 3. Wir begehen nicht den fahrlässigen Kurz- senschaften, andererseits ein Sich-Öffnen der schluss, uns zu einer Identifikation von Geist Neurowissenschaften für kultur- und geisteswis- oder Bewusstsein einerseits und Gehirn anderer- senschaftliche Denkfiguren, und schließlich ein seits hinreißen zu lassen. Aber wir schlagen vor, neuartiges gemeinsames Forschungsprojekt. das Theoriedesign von Hegels Philosophie des 1. Die Philosophie hat seit der fruchtbaren lebendigen Geistes strukturell zu übernehmen, Dezentrierung des Subjekts durch Hegels Ge- um das lebendige Gehirn besser zu verstehen. schichtsphilosophie eine ganze Reihe von weite- Spätestens seit den Forschungen zur Plastizität ren Dezentrierungen mit durchaus fruchtbaren des Gehirns kann man sagen, das Gehirn sei das Effekten durchlaufen. Wir nennen hier nur die Medium, in dem die Vermittlungsgeschichte des sprachphilosophische Dezentrierung. Wir können Organismus Mensch mit seiner natürlichen und uns vorstellen, dass eine neurowissenschaftliche kulturellen und biographischen Umwelt sich ein- Dezentrierung mindestens genauso fruchtbar sein schreibt. Der Mensch wäre dann ein lebendiges könnte. umweltbezogenes Wesen, das über eine Mehrzahl

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 89 DAVID KÖPF / MATTHIAS MUNK

von Medien verfügt, in die es seine lebendigen selbst- und fremdreferentiellen Prozesse ein- schreiben und darüber Form und Stabilität trotz Lebendigkeit und Offenheit gewinnen kann; ja, mehr noch, ein Wesen, das gleich mehrfach „re- flexions“- und damit selbstkorrektur- und steue- rungsfähig ist. Das lebendige Phänomen Mensch gewinnt demnach äußerlich und innerlich Form: neuronal, sprachlich und allgemein kulturell und technisch-materiell. Für die Neurowissenschaften eröffnet sich mit einer solchen neuronalen Medien-Anthropolo- gie ein faszinierendes Feld. Durch die strukturelle Verwandtschaft der unterschiedlichen genannten Medientheorien zeichnet sich zugleich die verlo- ckende Möglichkeit einer fächerübergreifenden neuro-, geistes- und kultur-wissenschaftlichen Medien-Anthropologie ab. Philosophie wäre dann die Reflexion auf die Einheit der Differenz dieser Anthropologien, aber auch auf die Unhintergehbarkeit und Funktiona- lität der Differenz derselben.

||||| DAVID KÖPF ist Diplomphysiker und wirkt am Institut für Wissenschaftskulturen der evangelischen Kirche, Tübingen

||||| DR. MATTHIAS MUNK ist Projektleiter am Max-Planck-Institut für biologische Kybernetik, Tübingen

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VERANTWORTLICH

Prof. Dr. Reinhard Meier-Walser Leiter der Akademie für Politik und Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München

HERAUSGEBER

Prof. Dr. Siegfried Höfling Diplom-Psychologe, appr. Psychotherapeut; Referent für Technologie, Medien und Kultur, Jugend und Gesundheit, Akademie für Politik und Zeitgeschehen, Hanns-Seidel-Stiftung, München

Prof. Dr. Dr. Dr. Felix Tretter Dep. Psychologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, kbo-Isar-Amper-Klinikum München Ost, Chefarzt, Kompetenzzentrum Sucht, Haar

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 91

Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen

Die „Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen“ werden ab Nr. 14 parallel zur Druckfassung auch als PDF-Datei auf der Homepage der Hanns-Seidel-Stiftung angeboten: www.hss.de/mediathek/publikationen.html. Ausgaben, die noch nicht vergriffen sind, können dort oder telefonisch unter 089/1258-263 kostenfrei bestellt werden.

Nr. 01 Berufsvorbereitende Programme für Studierende an deutschen Universitäten Nr. 02 Zukunft sichern: Teilhabegesellschaft durch Vermögensbildung Nr. 03 Start in die Zukunft – Das Future-Board Nr. 04 Die Bundeswehr – Grundlagen, Rollen, Aufgaben Nr. 05 „Stille Allianz“? Die deutsch-britischen Beziehungen im neuen Europa Nr. 06 Neue Herausforderungen für die Sicherheit Europas Nr. 07 Aspekte der Erweiterung und Vertiefung der Europäischen Union Nr. 08 Möglichkeiten und Wege der Zusammenarbeit der Museen in Mittel- und Osteuropa Nr. 09 Sicherheit in Zentral- und Südasien – Determinanten eines Krisenherdes Nr. 10 Die gestaltende Rolle der Frau im 21. Jahrhundert Nr. 11 Griechenland: Politik und Perspektiven Nr. 12 Russland und der Westen Nr. 13 Die neue Familie: Familienleitbilder – Familienrealitäten Nr. 14 Kommunistische und postkommunistische Parteien in Osteuropa – Ausgewählte Fallstudien Nr. 15 Doppelqualifikation: Berufsausbildung und Studienberechtigung – Leistungsfähige in der beruflichen Erstausbildung Nr. 16 Qualitätssteigerung im Bildungswesen: Innere Schulreform – Auftrag für Schulleitungen und Kollegien Nr. 17 Die Beziehungen der Volksrepublik China zu Westeuropa – Bilanz und Ausblick am Beginn des 21. Jahrhunderts Nr. 18 Auf der ewigen Suche nach dem Frieden – Neue und alte Bedingungen für die Friedenssicherung Nr. 19 Die islamischen Staaten und ihr Verhältnis zur westlichen Welt – Ausgewählte Aspekte Nr. 20 Die PDS: Zustand und Entwicklungsperspektiven Nr. 21 Deutschland und Frankreich: Gemeinsame Zukunftsfragen Nr. 22 Bessere Justiz durch dreigliedrigen Justizaufbau? Nr. 23 Konservative Parteien in der Opposition – Ausgewählte Fallbeispiele Nr. 24 Gesellschaftliche Herausforderungen aus westlicher und östlicher Perspektive – Ein deutsch-koreanischer Dialog Nr. 25 Chinas Rolle in der Weltpolitik Nr. 26 Lernmodelle der Zukunft am Beispiel der Medizin Nr. 27 Grundrechte – Grundpflichten: eine untrennbare Verbindung

ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 93 Nr. 28 Gegen Völkermord und Vertreibung – Die Überwindung des zwanzigsten Jahrhunderts Nr. 29 Spanien und Europa Nr. 30 Elternverantwortung und Generationenethik in einer freiheitlichen Gesellschaft Nr. 31 Die Clinton-Präsidentschaft – ein Rückblick Nr. 32 Alte und neue Deutsche? Staatsangehörigkeits- und Integrationspolitik auf dem Prüfstand Nr. 33 Perspektiven zur Regelung des Internetversandhandels von Arzneimitteln Nr. 34 Die Zukunft der NATO Nr. 35 Frankophonie – nationale und internationale Dimensionen Nr. 36 Neue Wege in der Prävention Nr. 37 Italien im Aufbruch – eine Zwischenbilanz Nr. 38 Qualifizierung und Beschäftigung Nr. 39 Moral im Kontext unternehmerischen Denkens und Handelns Nr. 40 Terrorismus und Recht – Der wehrhafte Rechtsstaat Nr. 41 Indien heute – Brennpunkte seiner Innenpolitik Nr. 42 Deutschland und seine Partner im Osten – Gemeinsame Kulturarbeit im erweiterten Europa Nr. 43 Herausforderung Europa – Die Christen im Spannungsfeld von nationaler Identität, demokratischer Gesellschaft und politischer Kultur Nr. 44 Die Universalität der Menschenrechte Nr. 45 Reformfähigkeit und Reformstau – ein europäischer Vergleich Nr. 46 Aktive Bürgergesellschaft durch bundesweite Volksentscheide? Direkte Demokratie in der Diskussion Nr. 47 Die Zukunft der Demokratie – Politische Herausforderungen zu Beginn des 21. Jahrhunderts Nr. 48 Nachhaltige Zukunftsstrategien für Bayern – Zum Stellenwert von Ökonomie, Ethik und Bürgerengagement Nr. 49 Globalisierung und demografischer Wandel – Fakten und Konsequenzen zweier Megatrends Nr. 50 Islamistischer Terrorismus und Massenvernichtungsmittel Nr. 51 Rumänien und Bulgarien vor den Toren der EU Nr. 52 Bürgerschaftliches Engagement im Sozialstaat Nr. 53 Kinder philosophieren Nr. 54 Perspektiven für die Agrarwirtschaft im Alpenraum Nr. 55 Brasilien – Großmacht in Lateinamerika Nr. 56 Rauschgift, Organisierte Kriminalität und Terrorismus Nr. 57 Fröhlicher Patriotismus? Eine WM-Nachlese Nr. 58 Bildung in Bestform – Welche Schule braucht Bayern? Nr. 59 „Sie werden Euch hassen ...“ – Christenverfolgung weltweit Nr. 60 Vergangenheitsbewältigung im Osten – Russland, Polen, Rumänien Nr. 61 Die Ukraine – Partner der EU

94 ARGUMENTE UND MATERIALIEN ZUM ZEITGESCHEHEN 87 Nr. 62 Der Weg Pakistans – Rückblick und Ausblick Nr. 63 Von den Ideen zum Erfolg: Bildung im Wandel Nr. 64 Religionsunterricht in offener Gesellschaft Nr. 65 Vom christlichen Abendland zum christlichen Europa – Perspektiven eines religiös geprägten Europabegriffs für das 21. Jahrhundert Nr. 66 Frankreichs Außenpolitik Nr. 67 Zum Schillerjahr 2009 – Schillers politische Dimension Nr. 68 Ist jede Beratung eine gute Beratung? Qualität der staatlichen Schulberatung in Bayern Nr. 69 Von Nizza nach Lissabon – neuer Aufschwung für die EU Nr. 70 Frauen in der Politik Nr. 71 Berufsgruppen in der beruflichen Erstausbildung Nr. 72 Zukunftsfähig bleiben! Welche Werte sind hierfür unverzichtbar? Nr. 73 Nationales Gedächtnis in Deutschland und Polen Nr. 74 Die Dynamik der europäischen Institutionen Nr. 75 Nationale Demokratie in der Ukraine Nr. 76 Die Wirtschaftsschule von morgen Nr. 77 Ist der Kommunismus wieder hoffähig? Anmerkungen zur Diskussion um Sozialismus und Kommunismus in Deutschland Nr. 78 Gerechtigkeit für alle Regionen in Bayern – Nachdenkliches zur gleichwertigen Entwicklung von Stadt und Land Nr. 79 Begegnen, Verstehen, Zukunft sichern – Beiträge der Schule zu einem gelungenen kulturellen Miteinander Nr. 80 Türkische Außenpolitik Nr. 81 Die Wirtschaftsschule neu gedacht – Neukonzeption einer traditionsreichen Schulart Nr. 82 Homo oecologicus – Menschenbilder im 21. Jahrhundert Nr. 83 Bildung braucht Bindung Nr. 84 Hochschulpolitik: Deutschland und Großbritannien im Vergleich Nr. 85 Energie aus Biomasse – Ethik und Praxis Nr. 86 Türkische Innenpolitik – Abschied vom Kemalismus? Nr. 87 Homo neurobiologicus – Ist der Mensch nur sein Gehirn?

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