SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

Ein Opernhaus für eine Stadt - Die Hamburger Gänsemarkt - Bühne 1678 – 1738 Folge II: Reinhard Keiser oder: Oper als politischer Kommentar

Mit Sylvia Roth

Sendung: 19. September 2017 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2017

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SWR2 Musikstunde mit Sylvia Roth 18. September - 22. September 2017 Ein Opernhaus für eine Stadt - Die Hamburger Gänsemarkt - Bühne 1678 – 1738 Folge II: Reinhard Keiser oder: Oper als politischer Kommentar

Signet

Einen wunderschönen guten Morgen von Sylvia Roth. Ich begrüße Sie zur zweiten Folge unserer Woche über die Hamburger Oper am Gänsemarkt – heute widmen wir uns unter anderem Reinhard Keiser und den politischen Inhalten seiner Werke.

Musik 1: Johann Sigismund Kusser: Fanfare aus der Suite Nr. 4 in C-Dur (1'07) Aura musicale Leitung: Balász Mate M0340419 003

Hamburg, 1702. Zwischen St. Nicolai und St. Katharinen stochert Piet, der Fleetenkieker, den Müll aus dem Fleet. Dass wegen seiner vielen kleinen Wasserkanäle, den Fleeten, gerne mit Venedig verglichen wird, ist ja schön und gut – aber was da alles an Müll zum Vorschein kommt, sobald bei Ebbe der Wasserspiegel sinkt! N Haufen Schiet ... Nicht nur, weil alle meinen, von ihren Häusern aus direkt in die Fleete hinein ihre Notdurft verrichten zu müssen – auch sonst ziehen die Kanäle magisch alles an, was nicht hineingehört. Manchmal immerhin Wertvolles – davon leben Fleetenkieker wie Piet schließlich – aber heute sieht das n büschn mager aus mit der Beute: Piet stochert mit seinem langen Stab erst einen einzelnen Schuh aus dem Schlick, dann ein durchgerostetes Hufeisen und schließlich ein Buch. E-r-i-n-d-o, setzt Piet sich mühsam die verschwommenen Buchstaben zusammen, Lesen hat er nie wirklich gelernt – dafür aber messerscharfes Kombinieren: Das muss eines dieser Textbücher aus der Opera sein, ahnt Piet, er weiß, dass zumindest die Leute in den Logen, die mit den teuren Karten, während der Vorstellung die gesungenen Texte bei Kerzenlicht mitlesen.

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Aber müssen sie die Hefte danach ausgerechnet ins Fleet werfen? Verärgert spuckt Piet Richtung Schlick– und befördert das Libretto in sein Boot zu dem anderen Müll.

Musik 2: Johann Sigismund Kusser: Suite für Instrumentalensemble Nr. 3 Passepied (0'50) Les Enchantants Leitung: Klaus Westermann M0345165 029

1702, als Piet durch die Hamburger Fleete streift, besteht die Oper am Gänsemarkt seit gut 20 Jahren – und da sie ein beeindruckendes Pilotprojekt ist, lassen die Nachahmer nicht lange auf sich warten: 1693 zieht einer ihrer ersten Komponisten, Nicolaus Adam Strungk, nach Leipzig um und gründet dort, inspiriert von der Gänsemarktbühne, das zweite städtische Opernhaus auf deutschem Boden – Telemann wird es einige Jahre später als Student kennen lernen. Und auch in Braunschweig sieht man bald nicht mehr ein, wieso es nur bei Hofe Opern- Vergnügungen geben soll und eröffnet ebenfalls ein städtisches Unternehmen. Nach und nach also bildet sich, ausgehend von Hamburg, ein Opern-Netzwerk in deutschen Landen, das auch wieder zurück an die Alster strahlt. So etwa kommen aus Braunschweig im Laufe der 1690er Jahre zwei Komponisten an den Gänsemarkt, die beide, auf je unterschiedliche Weise, neue Impulse bringen: Reinhard Keiser und Johann Sigismund Kusser.

Musik 3: Johann Sigismund Kusser: Suite für Instrumentalensemble Nr. 2 Gigue à l'Angloise (1'17) Les Enchantants Leitung: Klaus Westermann M0345165 015

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Johann Sigismund Kusser leitet vor seiner Zeit am Gänsemarkt nicht nur das Braunschweiger Opernhaus, sondern studiert auch sechs Jahre lang bei Jean- Baptiste Lully in Paris – wo er den französischen Stil mit seiner üppigen, abwechslungsreichen Orchestrierung kennen lernt. Dass er diesen auch für seine eigene Musik übernahm, konnten wir soeben an Auszügen aus seinen Instrumentalsuiten hören, gespielt vom Ensemble „Les Enchantants“ unter Klaus Westermann.

Die in Frankreich gelernte Wertschätzung des Orchesters sucht Kusser auch am Gänsemarkt umzusetzen – und für die Hamburger Musiker brechen damit harte Zeiten an ... Kusser „ließ alle Leute, vom größesten bis zum kleinesten, die unter seiner Aufsicht stunden, zu sich ins Haus kommen, sang und spielte ihnen eine jede Note vor, wie er sie gern herausgebracht wissen wollte“, berichtet später in seinem „Vollkommenen Capellmeister“. „Alles zitterte und bebte fast vor ihm, nicht nur im Orchester, sondern auch auf dem Schauplatze“ – Mattheson meint damit die Bühne; „da wusste er manchem seine Fehler mit solcher empfindlichen Art vorzurücken, daß diesem die Augen dabei oft übergingen.“

Musik 4: Johann Sigismund Kusser: Arie aus der Oper Erindo Wo bleibst du, mein Leben (2'38) Ute Kreidler (Gesang) Collegium Flauto e Voce CD: Du angenehme Nachtigall, Vogelarien und Liebeslieder des Barock, Carus 83.344, LC 3989

Ute Kreidler mit einer Arie aus Johann Sigismund Kussers Schäferspiel „Erindo“, zart begleitet vom Collegium Flauto Voce.

Mögen die Musiker auch bibbern – Kussers strenge Arbeitsmoral leitet eine Professionalisierung am Gänsemarkt ein, sowohl im Orchester als auf der Bühne: Die Instrumentalisten erhalten solistische und konzertierende Aufgaben, die man zwar bereits in der italienischen Oper kennt, in der deutschen aber noch nicht. Zum

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ersten Mal erscheint durch Kusser etwa die Oboe als konzertierendes Soloinstrument in einer Arie – das Orchester ist also nicht mehr nur Begleiter, sondern auch lebendiger Dialogpartner der Gesangsstimme. All diese Impulse liefern beste Voraussetzungen für Reinhard Keiser, als er, ebenfalls aus Braunschweig kommend, 1697 Kusser als Kapellmeister ablöst. Wie kein anderer zuvor wird er die Oper am Gänsemarkt prägen.

Musik 5: Reinhard Keiser: Der geliebte Adonis Arie des Gelon, Ein Mägdlein und ein Orgelwerk (2'53) Jan Kobow (Tenor) United Continuo Ensemble CD: Telemann and the Leipzig Opera. Co-Produktion Deutschlandradio Kultur, Panclassics PC 10237, LC 01554

Ein Mägdlein und ein Orgelwerk, die gleichen sich, müssen doch beide fleißig „befingert und bespielt“ werden ... Aus einer der frühesten erhaltenen Opern, die Reinhard Keiser für den Gänsemarkt schrieb: Eine Arie aus „Der geliebte Adonis“, gesungen von Jan Kobow.

Reinhard Keiser, 1674 im sächsischen Teuchern geboren und an der Thomasschule in Leipzig ausgebildet, ist Anfang Zwanzig, als er von Braunschweig nach Hamburg übersiedelt. Und: Er trifft zu turbulenten Zeiten an der Alster ein. Denn neben dem außenpolitischen Dauerbrenner, der Bedrohung durch die Dänen, brodelt es gewaltig im Inneren der Stadtrepublik: Der Rat und die Bürgerschaft, die zwei Parteien des Hamburger Politsystems, liefern sich erbitterte Kämpfe. Korruptionsvorwürfe, Kompetenzgerangel, und hastu nich gesehn. Nachdem es der Bürgerschaft gelungen ist, den Rat abzusetzen und die Stadt zwei Jahre lang zu regieren, schlagen die Ratsherren 1686 zurück: Die Anführer der aufständischen Rebellen werden geköpft, gevierteilt und in ihren filetierten Einzelteilen am Millerntor aufgehängt.

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Drastische Abschreckungsmaßnahmen also, die aber lediglich das Symptom, nicht den Herd des Konflikts bekämpfen. Es gärt weiter – und für das Opernhaus am Gänsemarkt bleiben diese innerstädtischen Wirren nicht ohne Einfluss: Zunehmend wird in den dort gespielten Werken die lokale Tagespolitik kommentiert. Ein Opernhaus für eine Stadt? Dieser Anspruch zeigt sich immer mehr auch auf inhaltlicher Ebene.

Musik 6: Reinhard Keiser: Masaniello furioso oder die neapolitanische Fischer-Empörung Masaniello: „Ihr krachenden Grüfte“ (1'10) Michael Schopper (Bass) Fiori musicali Leitung: Thomas Albert CD: Reinhard Keiser, Masaniello furioso, Radio Bremen, cpo 999 110-2, LC 8492

Mit „Masaniello furioso oder die neapolitanische Fischer-Empörung“ verfassen Reinhard Keiser und sein Librettist Barthold Feind 1706 eine Oper, in der eine Volksfigur im Zentrum der Handlung steht – Masaniello, gesungen von Michael Schopper.

Der Stoff geht auf historische Ereignisse im Neapel des Jahres 1647 zurück: Tommaso Aniello, genannt Masaniello, ein neapolitanischer Fischer, lanciert einen Volksaufstand gegen die repressiven spanisch-habsburgischen Herrscher, wobei es ihm tatsächlich gelingt, die Abschaffung der halsabschneiderischen Zölle durchzusetzen – zu einem hohen Preis allerdings: Schon kurz nach seinem Triumph ereilt Masaniello der Wahnsinn – und die Hinrichtung. Nur scheinbar liegen diese neapolitanischen Ereignisse weit entfernt von Hamburg. Denn zur Entstehungszeit von Keisers Oper hält die aufständische Bürgerschaft weiterhin die ganze Stadt in Atem ...

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Musik 7: Reinhard Keiser: Masaniello furioso oder die neapolitanische Fischer-Empörung Masaniello: „Ihr knallenden Schläge“ (1'15) Michael Schopper (Bass) Fiori musicali Leitung: Thomas Albert CD: Reinhard Keiser, Masaniello furioso, Radio Bremen, cpo 999 110-2, LC 8492

„Viel besser tot als unterdrückt“, mit diesen Worten begründet Masaniello sein politisches Engagement gegen die Aristokratie. Sein Charakter ist wild, aber sympathisch, er kämpft für das Richtige, für die Freiheit.

Doch: Im Vergleich zu den Adligen, die in der Oper auftreten, wirkt Masaniello geradezu brutal und ungeschlacht. In einer Reihe von Liebes-Verwirrungen, die neben der politischen Handlung herlaufen, werden die Aristokraten in ihren emotionalen Nöten gezeigt – und wirken somit menschlicher als die Volksfigur Masaniello. Vor allem Mariane, die um ihren von den Rebellen entführten Geliebten trauert, ruft durch ihren Gesang Mitleid hervor.

Musik 8: Reinhard Keiser: Masaniello furioso oder die neapolitanische Fischer-Empörung Rezitativ und Arie der Mariane, „Ti perdei“ (3'05) Barbara Schlick (Sopran) Fiori musicali Leitung: Thomas Albert CD: Reinhard Keiser, Masaniello furioso, Radio Bremen, cpo 999 110-2, LC 8492

Barbara Schlick sang die Arie der Mariane aus Reinhard Keisers „Masaniello furioso“. Ein berührender Einblick in eine leidende Seele.

Am Ende wird Masaniello hingerichtet, genau so, wie die Aufständischen in Hamburg. Nu aber ma Budder bei die Fische: Kann das ein Zufall sein? Oder ist die

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Gänsemarktoper womöglich nichts anderes als ein Sprachrohr des Rates? Ein Forum der Ratsherren für politische Erziehungsbotschaften an das Volk? In jedem Fall gilt Librettist Barthold Feind, hauptberuflich eigentlich Advokat, als Gegenspieler der Rebellen – und dementsprechend verstehen die Hamburger sein Textbuch als Warnung gegen die Aufständischen. Ja, er gerät damit sogar so sehr ins Kreuzfeuer der politischen Wirren, dass eine Puppe mit seinen Gesichtszügen öffentlich verbrannt wird und er aus Hamburg fliehen muss. Dennoch wäre es verkürzt, „Masaniello furioso“ als Propaganda-Oper gegen die Aufständischen zu lesen. Die große psychologische Tiefe von Keisers Musik führt dazu, dass beide Seiten, beide Parteien nahe rücken: Die Art und Weise, wie der anfangs so kraftvolle Held Masaniello am Ende in den Wahnsinn schlittert, macht ihn zur tragischen Figur. So geht das Accompagnato-Rezitativ, mit dem Masaniello in die geistige Umnachtung driftet, nicht nur unter die Haut, sondern dient auch als Vorbild für spätere Wahnsinns-Szenen, wie sie etwa in den Orlando-Opern von Vivaldi oder Händel zu finden sind.

Musik 9: Reinhard Keiser: Masaniello furioso oder die neapolitanische Fischer-Empörung Recitativo accompagnato und Arie, „Verzagte Räuber! Schämt euch!“ (2'30) Michael Schopper (Bass) Jelle Dreyer (Bariton) Fiori musicali Leitung: Thomas Albert CD: Reinhard Keiser, Masaniello furioso, Radio Bremen, cpo 999 110-2, LC 8492

„Ich eile nicht mehr zu Schiffe, sonst muss ich ertrinken“ – Michael Schopper in der Wahnsinnsszene des Masaniello.

Nicht nur die außerordentlich enge Verknüpfung von Kunst und Politik macht Keisers Oper so bemerkenswert, sondern auch die Fähigkeit, innere und äußere Konflikte auf die Spitze zu treiben – der Kern eines jeden guten Dramas. Tatsächlich ist auffallend, wie intensiv der ästhetische Diskurs ist, der zu Beginn des 18. Jahrhunderts am Gänsemarkt geführt wird: „Wir leben in einem Seculo, in

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welchem (...) die meiste Laster für Tugenden gehalten werden, daher wird eine große Scharffsinnigkeit erfordert, den Charakter einer jeden Person in einem Schauspiel wohl zu unterscheiden,“ formuliert Barthold Feind 1708 in seinen „Gedancken von der Opera“. Sowohl Feind als auch Keiser ist daran gelegen, möglichst individuelle, einzigartige Charaktere zu zeichnen, wobei auch Kategorien wie Glaubwürdigkeit eine Rolle spielen: „Je schärffer die Ideen, und vollkommener diese Gemüths= Bildungen, nach dem wahren Zustand des Menschen, sind, (...) je natürlicher, ungezwungener und besser sind sie“.

Wichtigste Aufgabe sei es, so Feind, die Zuschauer mitzureißen und zu berühren – auf textlicher, musikalischer und auch auf darstellerischer Ebene. „Wo keine Aktiones sind, da wird es auf dem Teatro sehr frieren“, bringt Feind es auf den Punkt. Der mimische Ausdruck allein genügt nicht – schon gar nicht bei den damaligen Beleuchtungsverhältnissen – nein, die Darsteller sollen mit vollem Körpereinsatz agieren. Insbesondere die Buffo-Sänger müssen wahre Allround-Künstler sein, sich nicht nur als Singschauspieler, sondern auch als Instrumentalisten, Tänzer und Akrobaten unter Beweis stellen. – Und für diese Lebendigkeit im Ausdruck ist Reinhard Keiser genau der richtige Komponist.

Musik 10: Reinhard Keiser: Sinfonia zur Oper Croesus (4'54) Akademie für Alte Musik Berlin Leitung: René Jacobs CD: Reinhard Keiser, Croesus, Harmonia Mundi, HMC 901714.18, LC 7045

Die Ouvertüre zur Oper „Croesus“ – in der SWR2 Musikstunde gespielt von der Akademie für Alte Musik unter René Jacobs.

Der musikalische Reichtum von Keisers Musik, der unter anderem in dieser Ouvertüre hörbar wird, eröffnet eine neue Ära am Hamburger Gänsemarkt. „Keisern seine Sätze sind galant, verliebt und zeigen alle Leidenschaften, deren Gewalt das menschliche Herz am meisten unterworfen ist“, lobt der in Hamburg lebende Musiktheoretiker Johann Adolph Scheibe. „Ungeachtet der ungemeinen

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Menge seiner praktischen Arbeiten hat er sich doch niemals wiederholet. Er hat allemal singbar, natürlich, ausdrückend und neu geschrieben“.

Dabei sind Keisers Ausdrucksmöglichkeiten nicht nur vielfältig, sondern zeugen auch von größtem musikdramatischem Gespür. Es gelingt ihm, tiefe Seelenbilder auszuloten – und zugleich durch und durch derb zu sein. In seinem 1711 komponierten „Croesus“ laviert sich ein komischer Diener namens Elcius über die Bühne, der als temperamentvoller Hamburger Straßenverkäufer Brillen, Mausefallen, Siegellack, Poloneser Würste, neue Lieder und vieles mehr feilbietet.

Musik 11: Reinhard Keiser: Croesus, Szene „Elcius, „Brill, Brill“ (1'30) Kurt Azesberger (Tenor) Akademie für Alte Musik Berlin Leitung: René Jacobs CD: Reinhard Keiser, Croesus, Harmonia Mundi, HMC 901714.18, LC 7045

Haben Sie Ihr Portemonnaie schon gezückt? Kurt Atzesberger als Straßenverkäufer Elcius aus Reinhard Keisers „Croesus“. Elcius verkauft nicht nur alles, er verspottet im Laufe der Oper auch alles: die Liebe, den Krieg, ja, sogar die Schminke.

Hatten wir anlässlich von „Masaniello furioso“ die Gänsemarkt-Bühne kurzzeitig als politisches Propagandainstrument des Rats in Verdacht, so sieht bei „Croesus“ schon wieder alles ganz anders aus. Eine Oper über jenen reichen lydischen Herrscher, der nichts als seinen Besitz liebt – aufgeführt in einer Stadt, die von wohlhabenden Kaufleuten und hoch solventen Pfeffersäcken nur so strotzt, das kann doch kein Zufall sein ... Die Kritik, die Reinhard Keiser und sein Librettist Lukas von Bostel am Materialismus der Hamburger Patrizier üben, ist mehr als deutlich: Erst als Croesus auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden soll, begreift er, dass Geld nicht glücklich macht.

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Musik 12: Reinhard Keiser: Croesus, Arie des Croesus, „Niemand kann aus diesen Ketten“ (2'15) Roman Trekel (Gesang) Akademie für Alte Musik Berlin Leitung: René Jacobs CD: Reinhard Keiser, Croesus, Harmonia Mundi, HMC 901714.18, LC 7045

In tiefer Trauer, Es-Dur, erkennt Croesus alias Roman Trekel, dass Reichtum ihn nicht aus der Gefangenschaft und drohenden Hinrichtung befreien kann. René Jacobs dirigierte die Akademie für Alte Musik Berlin.

Eine von Keisers beliebtesten Opern, die am Gänsemarkt über zwanzig Jahre hinweg immer wieder gespielt wird, ist die Oper „Fredegunda“. Eigentlich der Gattung der Zauberopern entstammend, weist auch dieses Keiser-Werk politische Züge auf: Denn die magischen Mittel, die die Zauberin Fredegunda, Geliebte des französischen Königs Chilperich, einsetzt, dienen letztlich dem Ausbau ihrer Macht. Was die Zeitgenossen jedoch am meisten an „Fredegunda“ lieben, sind die Momente von Show-Effekt und Wunderwelt: Sämtliche bühnentechnischen Register des Gänsemarkts werden bei der Inszenierung des Werks gezogen – Hexen und Furien fliegen durch die Luft, Wagen schweben vom Schnürboden herab, den Höhepunkt bildet eine Zauberhöhle in kunstvollstem Dekor.

Musik 13: Reinhard Keiser: Ouvertüre zur Oper Fredegunda (2'22) Neue Hofkapelle München Leitung: Christoph Hammer CD: Keiser, Fredegunda, Live-Mitschnitt des Prinzregententheaters München Naxos 8.660231-32, LC 05537

Zauberopern wie „Fredegunda“ – wir hörten daraus die Ouvertüre mit der Neuen Hofkapelle München unter der Leitung von Christoph Hammer – sind gefundene Fressen für die Bühnenbildner des Gänsemarkts.

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Sie präsentieren kunstvoll gemalte Prospekte – insbesondere der Braunschweiger Johann Oswald Harms macht mit seinen opulenten Szenografien von sich reden. Doch auch die Kostüme sind äußerst erfindungsreich: Auf einer der wenigen Abbildungen, die aus der Gänsemarkt-Zeit überliefert sind, sieht man Figuren, die statt eines Brustpanzers Waffeleisen umgehängt haben, eine Stallaterne und einen großen Stiefel als Kopfbedeckung tragen oder Bratspieße als Degen an der Seite führen. Beim Versuch, nicht nur möglichst phantastisch, sondern auch möglichst authentisch zu sein, schreckt man nicht einmal vor Blut zurück – die Darsteller verstecken unter ihren Kostümen mit Blut gefüllte Schweinsblasen, und bringen diese Ballons im entscheidenden Moment zum Platzen.

Doch auch innerhalb des Genres der Zauberoper verlässt Reinhard Keiser sich nicht einfach nur auf die spektakulären, dekorativen Momente der Handlung, sondern lotet tiefe psychologische Seelenbilder aus.

Musik 14: Reinhard Keiser: Fredegunda, Arie der Galsuinde, „Lasciami piangere“ (5'15) Joyce di Donato (Sopran) Il Complesso Barocco Leitung: Alan Titus CD: Drama Queens, EMI Virgin Classics, LC 7873

Joyce di Donato als trauernde spanische Prinzessin Galsuinde in Reinhard Keisers Oper „Fredegunda“.

Da das Textbuch von Johann Ulrich von König auf einer italienischen Vorlage, Fredegonda da Silvani, basiert, stolpert man innerhalb des schwerpunktmäßig deutsch gesungenen Werks immer wieder auch über eine italienische Arie.

Überhaupt ist der Umgang mit den Sprachen am Gänsemarkt ein vielfältiger: Die meisten der neu für das Opernhaus komponierten Werke werden auf Deutsch, manchmal sogar Plattdeutsch geschrieben. Bei den aus dem Ausland importierten italienischen oder französischen Opern, handhabt man es recht unorthodox comme

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ci, comme ça: Mal werden sie in Originalsprache gespielt, aber durch einen eigenen deutschen Prolog an die lokale Hamburger Situation angebunden. Mal werden die Libretti komplett ins Deutsche übersetzt – und wieder ein andermal nur die Rezitative. Babylonische Sprach-Gemengelagen in ein und demselben Werk kommen jedenfalls häufig vor.

Schließlich sind die Charaktere, die auf der Bühne aufeinandertreffen, nicht minder gemischt und vielseitig: Vergleicht man die Arie der Galsuinde mit dem Lied des Straßenverkäufers Elcius ist der Unterschied frappant – und offenbart eine enorme musikalische Bandbreite. Der Spagat, den Reinhard Keiser zwischen Volkstümlichkeit und Ernsthaftigkeit schafft, ist beeindruckend: Spielend gelingt es ihm, alle Besucherschichten des Opernhauses anzusprechen, er bietet sowohl den hohen als auch den niederen Ständen Identifikationspotenzial. Und: Er besitzt dabei eine große satirische Kraft, zeigt sich als humorvoller Kommentator des politischen Geschehens in Hamburg. Oper für eine Stadt und Oper aus einer Stadt heraus zu schreiben – für Keiser ein Leichtes. Nicht umsonst bezeichnet sein Kollege Mattheson ihn als „größten Opern-Componist von der Welt“. Ein Jammer, dass er heute fast vergessen ist.

Der Bühne am Gänsemarkt bleibt Keiser bis auf wenige Unterbrechungen von 1697- 1738, also fast vierzig Jahre lang verbunden. Zeitweise fungiert er als Kapellmeister, zeitweise als Direktor, zeitweise ausschließlich als Komponist. Dass er eine Sängerin der Bühne heiratet, Barbara Oldenburg, und aus der Ehe eine Tochter hervorgeht, die ebenfalls als Solistin am Gänsemarkt gefeiert wird, zeigt Keisers Verbundenheit zur Oper auf allen Ebenen.

Musik 15: Johann : Partita für Cembalo in C-Dur GWV 109 und 126, Gigue (0‘50 ) Gisela Gumz, Cembalo Eigenproduktion NDR, Studioaufnahme vom 28.10.1974 NDR M803449001

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Am Cembalo sitzt zu Reinhard Keisers Zeit übrigens ein Musiker, der selbst Opern schreibt und mit ihnen schon bald Erfolge feiert: Christoph Graupner. Er wird in Hamburg entdeckt: Landgraf Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt engagiert ihn nach dem Besuch einer Gänsemarkt-Aufführung vom Fleck weg als seinen Hofkapellmeister. Und so trägt also auch Graupner, der viel von Keiser gelernt hat, dazu bei, den Hamburger Stil auf deutschem Boden zu verbreiten ... Wie sehr die Gänsemarkt-Oper überhaupt als Talentschmiede und Ausbildungsstätte diente, das werden wir morgen genauer erfahren – für heute kündige ich als Abschlussmusik noch eine Arie aus Graupners Oper „Dido, Königin von Karthago“ an, 1707 für den Gänsemarkt geschrieben, in einer Live-Aufnahme aus der Hamburger Laeiszhalle mit Anna Prohaska und dem Ensemble Giardino Armonico.

Und übrigens: Piet, der Fleetenkieker, hat in der vergangenen Stunde einen spektakulären Fund gemacht: Ganz in der Nähe des Erindo-Textbuches steckte im Schlick ein goldener Ring, vielleicht der selben reichen Hand entschlüpft, der auch das Textbuch entronnen war. „Mann inne Tünn“, jubelt Piet. „Ein Hoch auf die Opera!“

Dem bleibt nichts hinzuzufügen ... Machen Sie's gut und bis morgen, Ihre Sylvia Roth.

Musik 16:

Johann Christoph Graupner: Dido, Königin von Karthago Arie der Dido, „Agitato da tempeste“ (2'30) Anna Prohaska Il Giardino Armonico Leitung: Giovanni Antonini Eigenproduktion NDR, Konzertmitschnitt vom 4.12.2015, Laeiszhalle Hamburg NDR M002323100_100

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