SWR2 Musikstunde
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SWR2 MANUSKRIPT SWR2 Musikstunde Ein Opernhaus für eine Stadt - Die Hamburger Gänsemarkt - Bühne 1678 – 1738 Folge II: Reinhard Keiser oder: Oper als politischer Kommentar Mit Sylvia Roth Sendung: 19. September 2017 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2017 Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR. Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen. Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2- Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de SWR2 Musikstunde mit Sylvia Roth 18. September - 22. September 2017 Ein Opernhaus für eine Stadt - Die Hamburger Gänsemarkt - Bühne 1678 – 1738 Folge II: Reinhard Keiser oder: Oper als politischer Kommentar Signet Einen wunderschönen guten Morgen von Sylvia Roth. Ich begrüße Sie zur zweiten Folge unserer Woche über die Hamburger Oper am Gänsemarkt – heute widmen wir uns unter anderem Reinhard Keiser und den politischen Inhalten seiner Werke. Musik 1: Johann Sigismund Kusser: Fanfare aus der Suite Nr. 4 in C-Dur (1'07) Aura musicale Leitung: Balász Mate M0340419 003 Hamburg, 1702. Zwischen St. Nicolai und St. Katharinen stochert Piet, der Fleetenkieker, den Müll aus dem Fleet. Dass Hamburg wegen seiner vielen kleinen Wasserkanäle, den Fleeten, gerne mit Venedig verglichen wird, ist ja schön und gut – aber was da alles an Müll zum Vorschein kommt, sobald bei Ebbe der Wasserspiegel sinkt! N Haufen Schiet ... Nicht nur, weil alle meinen, von ihren Häusern aus direkt in die Fleete hinein ihre Notdurft verrichten zu müssen – auch sonst ziehen die Kanäle magisch alles an, was nicht hineingehört. Manchmal immerhin Wertvolles – davon leben Fleetenkieker wie Piet schließlich – aber heute sieht das n büschn mager aus mit der Beute: Piet stochert mit seinem langen Stab erst einen einzelnen Schuh aus dem Schlick, dann ein durchgerostetes Hufeisen und schließlich ein Buch. E-r-i-n-d-o, setzt Piet sich mühsam die verschwommenen Buchstaben zusammen, Lesen hat er nie wirklich gelernt – dafür aber messerscharfes Kombinieren: Das muss eines dieser Textbücher aus der Opera sein, ahnt Piet, er weiß, dass zumindest die Leute in den Logen, die mit den teuren Karten, während der Vorstellung die gesungenen Texte bei Kerzenlicht mitlesen. 2 Aber müssen sie die Hefte danach ausgerechnet ins Fleet werfen? Verärgert spuckt Piet Richtung Schlick– und befördert das Libretto in sein Boot zu dem anderen Müll. Musik 2: Johann Sigismund Kusser: Suite für Instrumentalensemble Nr. 3 Passepied (0'50) Les Enchantants Leitung: Klaus Westermann M0345165 029 1702, als Piet durch die Hamburger Fleete streift, besteht die Oper am Gänsemarkt seit gut 20 Jahren – und da sie ein beeindruckendes Pilotprojekt ist, lassen die Nachahmer nicht lange auf sich warten: 1693 zieht einer ihrer ersten Komponisten, Nicolaus Adam Strungk, nach Leipzig um und gründet dort, inspiriert von der Gänsemarktbühne, das zweite städtische Opernhaus auf deutschem Boden – Telemann wird es einige Jahre später als Student kennen lernen. Und auch in Braunschweig sieht man bald nicht mehr ein, wieso es nur bei Hofe Opern- Vergnügungen geben soll und eröffnet ebenfalls ein städtisches Unternehmen. Nach und nach also bildet sich, ausgehend von Hamburg, ein Opern-Netzwerk in deutschen Landen, das auch wieder zurück an die Alster strahlt. So etwa kommen aus Braunschweig im Laufe der 1690er Jahre zwei Komponisten an den Gänsemarkt, die beide, auf je unterschiedliche Weise, neue Impulse bringen: Reinhard Keiser und Johann Sigismund Kusser. Musik 3: Johann Sigismund Kusser: Suite für Instrumentalensemble Nr. 2 Gigue à l'Angloise (1'17) Les Enchantants Leitung: Klaus Westermann M0345165 015 3 Johann Sigismund Kusser leitet vor seiner Zeit am Gänsemarkt nicht nur das Braunschweiger Opernhaus, sondern studiert auch sechs Jahre lang bei Jean- Baptiste Lully in Paris – wo er den französischen Stil mit seiner üppigen, abwechslungsreichen Orchestrierung kennen lernt. Dass er diesen auch für seine eigene Musik übernahm, konnten wir soeben an Auszügen aus seinen Instrumentalsuiten hören, gespielt vom Ensemble „Les Enchantants“ unter Klaus Westermann. Die in Frankreich gelernte Wertschätzung des Orchesters sucht Kusser auch am Gänsemarkt umzusetzen – und für die Hamburger Musiker brechen damit harte Zeiten an ... Kusser „ließ alle Leute, vom größesten bis zum kleinesten, die unter seiner Aufsicht stunden, zu sich ins Haus kommen, sang und spielte ihnen eine jede Note vor, wie er sie gern herausgebracht wissen wollte“, berichtet Johann Mattheson später in seinem „Vollkommenen Capellmeister“. „Alles zitterte und bebte fast vor ihm, nicht nur im Orchester, sondern auch auf dem Schauplatze“ – Mattheson meint damit die Bühne; „da wusste er manchem seine Fehler mit solcher empfindlichen Art vorzurücken, daß diesem die Augen dabei oft übergingen.“ Musik 4: Johann Sigismund Kusser: Arie aus der Oper Erindo Wo bleibst du, mein Leben (2'38) Ute Kreidler (Gesang) Collegium Flauto e Voce CD: Du angenehme Nachtigall, Vogelarien und Liebeslieder des Barock, Carus 83.344, LC 3989 Ute Kreidler mit einer Arie aus Johann Sigismund Kussers Schäferspiel „Erindo“, zart begleitet vom Collegium Flauto Voce. Mögen die Musiker auch bibbern – Kussers strenge Arbeitsmoral leitet eine Professionalisierung am Gänsemarkt ein, sowohl im Orchester als auf der Bühne: Die Instrumentalisten erhalten solistische und konzertierende Aufgaben, die man zwar bereits in der italienischen Oper kennt, in der deutschen aber noch nicht. Zum 4 ersten Mal erscheint durch Kusser etwa die Oboe als konzertierendes Soloinstrument in einer Arie – das Orchester ist also nicht mehr nur Begleiter, sondern auch lebendiger Dialogpartner der Gesangsstimme. All diese Impulse liefern beste Voraussetzungen für Reinhard Keiser, als er, ebenfalls aus Braunschweig kommend, 1697 Kusser als Kapellmeister ablöst. Wie kein anderer zuvor wird er die Oper am Gänsemarkt prägen. Musik 5: Reinhard Keiser: Der geliebte Adonis Arie des Gelon, Ein Mägdlein und ein Orgelwerk (2'53) Jan Kobow (Tenor) United Continuo Ensemble CD: Telemann and the Leipzig Opera. Co-Produktion Deutschlandradio Kultur, Panclassics PC 10237, LC 01554 Ein Mägdlein und ein Orgelwerk, die gleichen sich, müssen doch beide fleißig „befingert und bespielt“ werden ... Aus einer der frühesten erhaltenen Opern, die Reinhard Keiser für den Gänsemarkt schrieb: Eine Arie aus „Der geliebte Adonis“, gesungen von Jan Kobow. Reinhard Keiser, 1674 im sächsischen Teuchern geboren und an der Thomasschule in Leipzig ausgebildet, ist Anfang Zwanzig, als er von Braunschweig nach Hamburg übersiedelt. Und: Er trifft zu turbulenten Zeiten an der Alster ein. Denn neben dem außenpolitischen Dauerbrenner, der Bedrohung durch die Dänen, brodelt es gewaltig im Inneren der Stadtrepublik: Der Rat und die Bürgerschaft, die zwei Parteien des Hamburger Politsystems, liefern sich erbitterte Kämpfe. Korruptionsvorwürfe, Kompetenzgerangel, und hastu nich gesehn. Nachdem es der Bürgerschaft gelungen ist, den Rat abzusetzen und die Stadt zwei Jahre lang zu regieren, schlagen die Ratsherren 1686 zurück: Die Anführer der aufständischen Rebellen werden geköpft, gevierteilt und in ihren filetierten Einzelteilen am Millerntor aufgehängt. 5 Drastische Abschreckungsmaßnahmen also, die aber lediglich das Symptom, nicht den Herd des Konflikts bekämpfen. Es gärt weiter – und für das Opernhaus am Gänsemarkt bleiben diese innerstädtischen Wirren nicht ohne Einfluss: Zunehmend wird in den dort gespielten Werken die lokale Tagespolitik kommentiert. Ein Opernhaus für eine Stadt? Dieser Anspruch zeigt sich immer mehr auch auf inhaltlicher Ebene. Musik 6: Reinhard Keiser: Masaniello furioso oder die neapolitanische Fischer-Empörung Masaniello: „Ihr krachenden Grüfte“ (1'10) Michael Schopper (Bass) Fiori musicali Leitung: Thomas Albert CD: Reinhard Keiser, Masaniello furioso, Radio Bremen, cpo 999 110-2, LC 8492 Mit „Masaniello furioso oder die neapolitanische Fischer-Empörung“ verfassen Reinhard Keiser und sein Librettist Barthold Feind 1706 eine Oper, in der eine Volksfigur im Zentrum der Handlung steht – Masaniello, gesungen von Michael Schopper. Der Stoff geht auf historische Ereignisse im Neapel des Jahres 1647 zurück: Tommaso Aniello, genannt Masaniello, ein neapolitanischer Fischer, lanciert einen Volksaufstand gegen die repressiven spanisch-habsburgischen Herrscher, wobei es ihm tatsächlich gelingt, die Abschaffung der halsabschneiderischen Zölle durchzusetzen – zu einem hohen Preis allerdings: Schon kurz nach seinem Triumph ereilt Masaniello der Wahnsinn – und die Hinrichtung. Nur scheinbar liegen diese neapolitanischen Ereignisse weit entfernt von Hamburg. Denn zur Entstehungszeit von Keisers Oper hält die aufständische Bürgerschaft weiterhin die ganze Stadt in Atem ... 6 Musik 7: Reinhard Keiser: Masaniello furioso oder die neapolitanische Fischer-Empörung Masaniello: „Ihr knallenden Schläge“ (1'15) Michael Schopper (Bass) Fiori musicali Leitung: Thomas Albert CD: Reinhard Keiser, Masaniello furioso, Radio Bremen, cpo 999 110-2, LC 8492 „Viel besser tot als unterdrückt“, mit diesen Worten begründet