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Albrecht von Graefe – ein Portrait Berliner Armenaugenarzt und Begründer der modernen Augenheilkunde von Wolfgang Hanuschik

Albrecht von Graefe wurde am 22. Mai Die Villa Finkenherd war ein gesellschaft- Bereits mit 15 Jahren besuchte A. von 1828 im sogenannten „Finkenherd“, licher Treffpunkt der Stadt. Künstler wie Graefe die Berliner Universität, an der er dem Sommersitz der Familie von Graefe A. von Camisso, die Portraitmalerin Ca- Mathematik, Naturwissenschaften, Philo- im Berliner Tiergarten und heutigen Han- roline Bardua und der Bildhauer Christian sophie und schließlich vor allem Medizin saviertel, geboren und starb am 20. Juli D. Rauch trafen sich mit Freunden von A. studierte. Dabei wurde er von Koryphäen 1870 in an Tuberkulose. Sein Vater von Graefe und seinen Schwestern Wan- wie Johannes Müller (Physiologie), Jo- war Karl Friedrich Ferdinand von Graefe, da und Ottilie. Von Graefe gründete dort hannes Dieffenbach (Innere Medizin) und der angesehene erste Direktor der chirur- die „Kamelia“, eine Art nicht schlagen- Rudolf Virchow (Pathologie) unterrichtet. gischen Klinik der Charité, seine Mutter de Studentenvereinigung. Drei Freunde Nach seinem Staatsexamen mit 19 Jah- war Auguste von Alten. A. von Graefe von Graefes studierten ebenfalls Medi- ren fuhr er zur Vertiefung seiner Kennt- besuchte das französische Gymnasium zin und wurden später Assistenzärzte in nisse nach Prag, , Wien und in Berlin, wo er eine besondere Begabung seiner Augenklinik: Adolf Waldau, Eduard – auch um sich darüber klar zu werden, für Mathematik, Physik und Philosophie Michaelis und Julius Ahrend. Mit ihnen welches Fach der Medizin er beruflich zeigte und fließend französisch sprechen verband ihn eine lebenslange Freund- ausüben wollte. In Prag war es Ferdinand lernte. Berühmte Schüler dieses Gymna- schaft, die im anstrengenden beruflichen Arlt, der ihn für die Augenheilkunde ge- siums waren vor ihm Emil du Bois-Rey- Alltag manche Zerreißprobe überstand. In mond, der Begründer der Elektrophysio- der Villa Finkenherd gab es ein Labor, in logie, sowie die Schriftsteller Adelbert dem A. von Graefe als Schüler einmal mit von Camisso und später Kurt Tucholski. Brom experimentierte und bei einem La- borunfall durch giftige Bromdämpfe eine bleibende Kehlkopf- und möglicherwei- se auch Lungenschädigung erlitt. Später führte er in diesem Labor mikroskopische Untersuchungen an Augen von Verstor- benen und Experimente an Kaninchen durch. Manche Entdeckungen in der Au- genheilkunde haben hier ihren Ursprung. Der „Finkenherd“ wurde im Jahr 1943 während einer Bombennacht völlig zer- stört. An diesem Ort steht heute, nahe der Kaiser-Friedrich-Gedächtniskirche, eine

Dr. med. Gedenkstele, die die Deutsche Ophthal- Wolfgang Hanuschik mologische Gesellschaft (DOG) im Jahr Albrecht von Graefe (Litho nach einer Zeichnung von Augenarzt in Berlin 1970 gestiftet hat. Wildt ca. 1863, nachbearbeitet von W.Hanuschik)

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wann. In Paris war er Schüler von Julius Sichel und Louis-Auguste Desmarres, in Wien von Friedrich Jaeger und seinem Sohn Eduard Jaeger. In London lernte er am „Moorfields Eye Hospital“ nacheinan- der den Histopathologen und Augenarzt William Bowman und den Physiologen und späteren Augenarzt Cornelius Don- ders kennen, mit denen er lebenslang wissenschaftlich zusammenarbeitete und freundschaftlich verbunden war. Die- se beiden, zusammen mit Hermann von

Helmholtz und A. von Graefe, gelten als Helmholz-Augenspiegel die „Reformer der Augenheilkunde“ und (Medizinhistorisches Museum der Charité) Begründer der modernen, wissenschaft- lichen Augenheilkunde, die bis dahin ein Im Jahr 1852 eröffnete A. von Graefe an Entdeckungen, die als revolutionär galten Teilgebiet der Chirurgie war. der Unterbaumbrücke am westlichen und das Leben vieler Menschen nachhal- 1849 war H. von Helmholtz in Königsberg Ende in der Karlstraße 46 seine tig positiv beeinflussten. Es war eine Zeit, Professor für Pathologie und Physiologie. Augenklinik. Heute steht dort in der Rein- in der die damals noch unheilbare Tuber- Im Jahr 1850 gelang diesem dort eine be- hardtstraße 58 das Bürohaus „Spree-Eck“ kulose die Menschen bedrohte – mehr deutende Erfindung: der Augenspiegel. am Übergang zu der im Jahr 1996 von noch als heute COVID-19. Sie ereilte vie- A. von Graefe nahm Kontakt zu ihm auf Calatrava neu gebauten Kronprinzen- le Mediziner, die wie A. von Graefe arme und machte seine Kollegen C. Donders brücke. Eine auf dem vorherigen Haus Menschen in großer Zahl behandelten. In und W. Bowman auf den Augenspiegel angebrachte Gedenktafel wurde leider der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts aufmerksam. Er bestellte in Königsberg entfernt. hatte Berlin weniger als 500 000 Einwoh- mehrere Exemplare und schickte ihnen Das 19. Jahrhundert war für die Wissen- ner und endete im Westen am Branden- jeweils ein Exemplar – statt den Augen- schaft und gerade für die Medizin und die burger Tor und an der Unterbaumbrücke. spiegel nur für sich zu benutzen. Augenheilkunde äußerst fruchtbar. In den Die Wohnungsnot war groß, man lebte be- H. v. Helmholtz schuf damit die Grundlage Naturwissenschaften machten Forscher engt und die hygienischen Verhältnisse zu einer besseren Diagnose von Augen- waren katastrophal – so gab es beispiels- erkrankungen. Zuvor scheiterte jeder Au- weise noch keine Kanalisation. Wie müh- genarzt an der schwarzen Pupille – man sam muss Forschung und Wissenschaft konnte nicht in das Augeninnere blicken. gewesen sein, ohne Telefon und Internet, Die Erkenntnisse über den Augenhinter- mit handschriftlichen Briefen. Das Reisen grund stammten von histopathologischen mit der Eisenbahn dauerte lange und war Schnitten. So waren schon damals die unbequem. A. von Graefe kannte noch Drusen der Makula als „Kalkkörner“ be- keine Spaltlampe, kein Tonometer und kannt, jedoch war noch umstritten, ob kein OP-Mikroskop, doch ein Großteil der beim Glaukom der Sehnervenkopf hüge- aktuellen Kenntnisse über Glaukom und lig vorgewölbt oder ausgehöhlt war. Im Augenmuskelstörungen gehen auf seine Archiv für Augenheilkunde veröffentlichte grundlegenden Arbeiten zurück. A. von Graefe im Jahr 1855 die Deutung In seiner Augenklinik in der Karlstraße und des Glaukomschadens an der Papille als an zwei Außenstellen behandelte er En- Retinales Pigmentepithel und Bruch‘sche Membran Exkavation, während zuvor ein Hügel an- mit „Kalkkörnern“ (H. Müller: Anatomische Beiträge de der 1850er Jahre, als er bereits beide genommen worden war. zur Ophthalmologie, 1856 Gr. Arch. Clin. Exp. Ophth.) Stellen als Armenaugenarzt inne hatte,

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In der 3. Etage seiner Klinik nahm er un- wenn es in Paris zum Ausbruch kommen bemittelte Patienten mit Augenerkran- sollte. Gott behüte dich, dies bittet Gott kungen kostenlos auf und galt als sehr täglich deine treue Mutter Auguste.“ Sei- sozial. „Die Atmosphäre der Augenklinik ne Mutter hat ihn, wie wohl kein anderer war Menschenfreundlichkeit und Liebe“, Mensch, in seinem letzten Streben ver- schreibt sein Schüler und Biograph Julius standen. Er aß oft mit ihr zu Mittag und Hirschberg. Auf zeitgenössischen Zeich- verbrachte, wenn es irgendwie ging, nungen sieht man ihn bei der Untersu- abends ein Stündchen bei ihr in der Beh- chung und Behandlung von Patienten. renstraße 46. Als sie am 22. November A. von Graefe veröffentlichte in dem 1857 starb, schrieb er an C. Donders: „… von ihm 1854 gegründeten „Archiv für es ist mir durch den Tod ein Band zerris- Ophthalmologie“, aus dem letztlich das sen worden…ich irre jetzt verwaist umher heutige „Graefes Archive for Clinical and vor der verschlossenen Thüre meines Va- Experimental “ hervor- terhauses, ohnmächtig, aus den leblosen

A. von Graefes Augenklinik am westlichen Ende von ging, mehrere Erstbeschreibungen wie die Wänden alle die Liebe heraufzubeschwö- Berlin, undatiertes Foto vor 1870 (Berliner Medizin- Aushöhlung des Sehnervs bei Glaukom ren, die einst darin wohnte.“ historisches Museum der Charité) durch erhöhten Augeninnendruck, die be- A. von Graefe heiratete am 7. Juni 1862 rühmte periphere Iridektomie bei akutem in der an der Havel gelegenen Sakrower gemeinsam mit sechs Assistenzärzten Glaukom, die Zentralarterienembolie und Heilandskirche die 20-jährige Anna Gräfin pro Jahr bis zu 50 000 Patientinnen und die Stauungspapille bei erhöhtem Hirn- von Knuth aus Dänemark, mit der er fünf Patienten (rund 1500 stationär) und führ- druck. Kinder hatte, zwei der Kinder starben kurz te 1600 Operationen durch – im Übrigen nach der Geburt. Alle Kinder ließ das Ehe- mehr Schiel- und Lid- als Kataraktopera- Graefe initiierte das Gründungs- paar taufen. Er besuchte sonntagvormit- tionen. „Graefe operierte nach strenger treffen der DOG tags oft den evangelischen Gottesdienst. Indikationsstellung, gut vorbereitet und In einem Brief an C. Donders vom 11. Fe- sehr sorgfältig“, „ ... immer mit sorgfälti- Ein erstes von A. von Graefe initiiertes in- bruar 1852 schreibt er: „An Eifer und Liebe ger Analyse jedes einzelnen Falles“, heißt formelles Treffen mit Fachvorträgen und es im Bericht des Chirurgen Ernst G. B. freundschaftlichen Beisammensein von von Bergmann, der damals bei ihm hos- vierzehn Kollegen am 3. September 1857 pitierte. Zu ihm kamen Patienten aus der in Heidelberg gilt als Gründungsdatum ganzen Welt – auch aus Havanna, Sibi- der Deutschen Ophthalmologischen Ge- rien und Ostindien. Prominente Patienten sellschaft (DOG) – der weltweit ersten waren unter anderem Ferdinand Lassalle, Fachgesellschaft in der Augenheilkunde Friedrich Engels und Angehörige der rus- überhaupt. sischen Zarenfamilie. Viele der armen Graefes Urenkel, der Hamburger Internist Patienten waren bereits durch voraus- Ingolf von Graefe, besitzt noch Briefe der gegangene missglückte Operationen an Mutter Auguste von Alten an ihren Sohn einem Auge erblindet. Vormittags hielt er Albrecht. Sie schreibt ihm im Jahr 1849 in einem Hörsaal seiner Klinik Vorlesun- nach Paris, wo er bei Louis-Auguste Des- gen und führte klinische Demonstrationen marres und Julius Sichel hospitierte und durch. Er bildete auf diese Weise über 300 operierte: „Mein lieber Albrecht, du wirst Augenärzte aus. Praktisch alle Lehrstühle deinen Kopf vor deiner Abreise von Pa- der Augenheilkunde in Deutschland wur- ris noch einem geschickten Haarkünstler den nach seinem Tod mit seinen Schülern anvertrauen, damit du nicht mit dem gro- Wartebereich der Augenklinik (Zeichnung von besetzt. ßen Bart hier ankommst, ... sei vorsichtig, C. Arnold, aus der Illustrierten „Daheim“, 1865)

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zur Wahrheit wollte ich Ihnen wenigstens te Graefe-Briefe an seinen Schüler Julius In der Keynote-Lecture des DOG-Kon- ebenbürtig sein, und das andere kommt Jacobson. gresses 2020 warnte der Neurologe ja, wie Shakespeare’s Constabel sagt, von A. v. Graefe war ein beispielhafter, auf- Peter Pramstaller aus Bozen, dass be- Gott.“ opferungsvoller Arzt sowie ein „Arbeits- sonders die Ärzte heute in Gefahr sind, Die DOG würdigt A. von Graefe jährlich tier“ als Wissenschaftler und Pionier der sich bei ihrer täglichen Arbeit zu sehr von während des auf ihn zurückgehenden Augenheilkunde. Er war sehr kollegial wirtschaftlichen und strategischen Über- Kongresses – in diesem Jahr fand der und erholte sich auf langen Bergwande- legungen bestimmen zu lassen, statt sich Kongress aufgrund der Corona-Pandemie rungen im Monte Rosa-Gebirge und am darauf zu fokussieren, dass sie in erster nur online statt. Alle zehn Jahre wird die Mont Blanc, meist gemeinsam mit Freun- Linie der Gesundheit ihrer Patienten ver- Graefe-Medaille an besonders verdiente den und Kollegen. Vier Jahre vor seinem pflichtet sind. A. von Graefe sah seinen Augenärzte weltweit verliehen. Tod erhielt er endlich das Ordinariat für Beruf als Arzt und Wissenschaftler als Augenheilkunde an der Charité, im Jahr Berufung, als Aufgabe, als etwas, wofür Berlin widmete ihm als erstem 1868 wurde ihm, schon deutlich von sei- es sich zu kämpfen und zu leiden lohnte. Zivilisten ein Denkmal ner Krankheit gezeichnet, die Klinikleitung In seiner letzten Ansprache zur Eröffnung übertragen. A. von Graefe und seine Pio- des DOG-Kongresses in Heidelberg im Die Stadt Berlin widmete A. v. Graefe als nierleistung für die wissenschaftliche Au- Jahr 1868 sagte er: „Verschieden sind wir erstem Zivilisten überhaupt ein sehr schö- genheilkunde sowie sein Vorbild als Arzt gewiss in unseren Lebens-Ansichten, … nes Denkmal vor dem Garten der Charité- in einem freien Beruf – nicht wie heute als verschieden auch vermutlich in unseren Mitte in der Schumannstraße. Anlässlich „Vertragsarzt“ in einem weitgehend staat- wissenschaftlichen Überzeugungen – seines 150. Todestages legten dort Hans lich organisierten Gesundheitssystem – eins aber jedenfalls in dem Streben nach Hoerauf und Jens Martin Rohrbach für die ist vielen Medizinern, auch angehenden Wahrheit, in der Kultur des Wissens, in DOG am 20. Juli 2020 einen Kranz nieder. Augenärzten, nicht mehr ohne Weiteres der Liebe zu unserem Fach.“ Eine Vision, Auf dem Doppelgrab des Ehepaars von bekannt. die für die DOG wohl immer gültig bleiben Graefe, neben dem seiner Eltern, auf dem wird. Friedhof Jerusalem und neue Kirche II in Berlin-Kreuzberg, stehen die propheti- schen Worte aus der Bibel: „Es ist das Licht süße und den Augen lieblich, die Sonne zu sehen“ (Prediger 11,7). Pro- phetisch, da aktuelle Studien zur Myo- pieforschung ergaben, dass Jugendliche zur Myopieprophylaxe zwei Stunden täg- lich im Freien bei Tageslicht verbringen sollten. Und was ihn besonders auszeichnet, so schreibt J. M. Rohrbach in seiner sehr lesenswerten Biografie von 2020, war seine Menschlichkeit, seine Wahrhaftig- keit, seine Wissenschaftlichkeit und seine Toleranz. Und I. von Graefe ergänzt, dass er frei von Ressentiments war. An dieser Graefe-Biographie wurde lange gearbei- tet, sie enthält 157 Literaturangaben und als kleine Sensation einige erst im Jahr Albrecht-von-Graefe-Denkmal vor dem Garten der Charité-Mitte 2019 auf einer Auktion in Rom ersteiger- mit Kranz der DOG am 20.7.2020 (Quelle: DOG)

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