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Wikinger und Normannen

DEZEMBER 2020

MITTELALTER DIGITAL

Einleitung 1

Über Wikinger: Im Interview mit Prof. Dr. Rudolf Simek 2

Ausstellung ›Die Normannen‹: Im Interview mit Dr. Viola Skiba 8

Graphic Novel ›Hammaburg: Im Interview mit Jens Natter 20

Like a Viking: Im Interview mit Steel, Blood and Love‹ 27

Wikinger und Normannen: Eine Einleitung Tobias Enseleit

“Wikinger” in der altnordischen Literatur Zuzana Stankovitsová

Wikingerschätze – Ein Glücksfall für die Münzgeschichte Sebastian Steinbach

Das Mittelalter und seine Rezeption: Medievalism Nicolas Huss

Wikinger im modernen Brettspiel Lukas Boch und Anna Klara Falke

Lucky Leif und die bärtigen Männer – Wikinger in Rock und Metal Christian Peters

Ragnar Loðbrók Isn’t Real: The Limits of Treating Sagas Like History Adam Bierstedt

Das Mittelalter im Videospiel: ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ Tobias Schade und Tobias Enseleit Mittelalter Digital Themenheft Wikinger und Normannen

Einleitung

Die Geschichte der Wikinger und Normannen hat nicht nur die mittelalterliche Welt maßgeblich beeinflusst – bis heute haben sie ihre Spuren hinterlassen. Wir widmen uns in den nächsten vier Wochen der wechselhaften Geschichte dieser Menschen aus dem Norden, schauen uns an, auf welche Weise und aus welchen Gründen sie uns bis heute faszinieren, und haben mit Menschen aus Wissenschaft und Popkultur gesprochen, die sich intensiv mit ihnen auseinandersetzen. Am Ende des 8. Jahrhunderts traten die Normannen als Plünderer und Räuber das erste Mal ins Bewusstsein des westlichen Europas. Ihre Raubzüge verheerten Städte und Klöster und lösten eine Zeit kriegerische Auseinandersetzungen aus, die aber schon bald von kulturellem und religiösem Austausch begleitet wurden. Am Ende dieser Entwicklungen standen für die Nordmänner die Annahme des christli- chen Glaubens und die Errichtung von Herrschaftsbereichen in ganz Europa. Von der Norman- die aus, dem Landstrich in Nordfrankreich, der nach ihnen benannt ist, eroberten die Norman- nen nun als christliche Ritter im Laufe des 11. Jahrhunderts nicht nur die englische Insel, son- dern auch weite Teile Süditaliens und ganz Sizilien, bevor sie im Rahmen der Kreuzzüge bis ins Heilige Land zogen. Wie gelang es den Normannen zwischen den Polen kriegerischer Eroberung und kultu- reller Toleranz weit entfernt von ihrer Heimat und vor der eigenen Haustür so erfolgreich Fuß zu fassen? Wie setzten sie ihre Herrschaft durch, auf welche Weise integrierten sie lokale Be- sonderheiten und wie gestaltete sich ihr Umgang mit anderen Kulturen und Religionen? Wie funktionierten Gesellschaft und Herrschaft und welche Weltvorstellungen hatten Wikinger und Normannen? Können wir gar Einblick in ihren historischen Alltag gewinnen? Und welches Bild haben wir heute von ihnen? Also, Hörnerhelme aufgesetzt und ab ins Drachenboot: Die Reise beginnt!

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Über Wikinger

Im Interview mit Prof. Dr. Rudolf Simek

Rudolf Simek ist Professor und Lehrstuhlinhaber für Ältere Germanis- tik mit Einschluss des Nordischen an der Rheinischen Friedrich-Wil- helms-Universität Bonn. Als Skandinavist und Germanist hat er sich in den letzten Jahrzehnten wie kaum ein anderer mit Wikingern und Nordmännern beschäftigt. Daneben hat er sich ausgiebig mit der Kul- tur der Germanen und mittelalterlichen Fabelwesen und Monstern aus- einandergesetzt, die bis heute unser Bild eines fantastischen Mittelal- ters prägen.

Mittelalter Digital: Lieber Herr Simek, ich glaube, man sagt nichts Falsches, wenn man Sie als Koryphäe auf dem Gebiet der Wikinger- und Normannenforschung bezeichnet. Allein in den letzten Jahren haben Sie rege zu diesem Themenfeld publiziert. Dieses Jahr erscheint noch die mittlerweile achte Auflage Ihres Einführungsbandes ›Die Wikinger‹, 2018 veröffentlichten Sie ›Die Geschichte der Normannen: Von Wikingerhäuptlingen zu Königen Siziliens‹, 2016 die Monographie ›Vinland!: Wie die Wikinger Amerika entdeckten‹ und 2014 ›Die Schiffe der Wikinger‹. Aufsätze, Herausgeberschaften und Editionen sind in dieser Auflistung gar nicht berücksichtigt, die damit nur die Spitze des Eisberges einer mittlerweile Jahrzehnte währenden Forschungstätigkeit abbildet.

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Eine so tiefgehende Beschäftigung mit einem Thema ist ohne vertieftes persönliches In- teresse gar nicht denkbar; woher kommt Ihre Begeisterung für den Gegenstand, die über Jahr- zehnte hinweg nicht abgeklungen ist?

Rudolf Simek: Ursprünglich schon in den frühen 1970er Jahren von der Begeisterung für Wi- kingerschiffe, über die ich dann später auch meine Dissertation geschrieben habe. Ab da hat mich das Thema nie wieder losgelassen.

Mittelalter Digital: Spätestens mit dem Erscheinen der Serie ›Vikings‹ (seit 2013) sind die Wikinger wieder in das Bewusstsein einer sehr breiten Öffentlichkeit geraten, wobei das Sujet natürlich auch in den Jahren zuvor regelmäßig Gegenstand von populärkulturellen Inszenierun- gen war. Daneben gibt es auf der Grenze zwischen Living History, Popular History und LARP eine große Reenactmentszene. Zusätzlich beanspruchen die Wikinger auch ihren festen Platz in der Kinderunterhaltung, im historischen Roman, in der Rock- und Metalszene und vielen Be- reichen mehr. Verfolgen Sie als ein Fachvertreter, der in der Vergangenheit regelmäßig auch den außer- akademischen Diskurs gesucht hat, intensiver, wie Wikinger und Normannen gesamtgesell- schaftlich verhandelt werden? Wie gehen Sie als Fachmann mit diesen – nicht selten ja recht stereotypen – Vorstellungen um? Haben Sie in den letzten Jahren, bspw. in der Lehre, festge- stellt, ob durch die erfolgreichen Inszenierungen der jüngeren Vergangenheit von Studierenden ein größeres Interesse an das Thema herangetragen wird?

Rudolf Simek: Ja, natürlich verfolge ich das mit Spannung, denn die öffentliche Rezeption spiegelt nicht nur – mit gewisser Verzögerung – den Forschungsfortschritt, sondern wirft auch immer ein Licht auf die allgemeinen Zeitströmungen! Aber so neu ist das Interesse nicht: Seit gut 20 Jahren haben Ausstellungen, Festivals, Dokumentationen und sogar Kinofilme die Wi- kinger in das allgemeine Bewusstsein gerückt – und das Interesse scheint keineswegs nachzu- lassen!

Mittelalter Digital: Nun sind die Bezeichnungen Wikinger und Normannen heute in erster Linie nichts Anderes als Sammelbegriffe für eine Gruppe von Menschen, die wir über Jahrhun- derte fassen können, die in sich überaus differenziert war und die uns in ganz unterschiedlichen Quellengattungen begegnet. Wikinger und Normanne werden als Begriffe gemeinhin mal sy- nonym verwendet, mal als chronologisches und kulturelles Distinktionsmerkmal. Hinzu kommt

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Mittelalter Digital Themenheft Wikinger und Normannen in den Quellen eine ganze Handvoll weiterer, nicht selten synonym verwendeter Bezeichnun- gen wie Dänen (daci, etwa bei Heinrich von Huntingdon oder Dudo von St. Quentin, Danis vel Nortmannis bei Adam von Bremen) oder Heiden (gentib in den Annalen von Ulster), während wir ab einem gewissen Punkt – etwa bei Heinrich von Huntingdon, einem Chronisten des 12. Jahrhunderts – ein durch gemeinsame Geschichte und Abstimmung begründetes „normanni- sches“ Zusammengehörigkeitsgefühl fassen können. Was ist eigentlich ein Wikinger und was ist ein Normanne und inwiefern haben sie sich als Angehörige eines Volkes, einer gens (lat. Geschlecht, gemeinsame Abstammung) empfunden?

Rudolf Simek: In verschiedenen Perioden und unterschiedlichen Sprachen sind die beiden Be- griffe jeweils anders besetzt. Aber aus heutiger wissenschaftlicher Sicht sind Wikinger Seeräu- ber aus Skandinavien (allenfalls noch alle Skandinavier der Wikingerzeit), die Normannen aber nur die Skandinavier, die sich in der Normandie niedergelassen hatten. Nach drei Generationen sprachen sie Französisch, waren durchwegs Christen und begannen von hier aus ihre Expansion nach England und Italien im 11. Jahrhundert – also schon gegen Ende der Wikingerzeit.

Mittelalter Digital: Die methodischen Herausforderungen, sich dem Thema zu nähern, sind aufgrund der differenzierten Quellenlage, dem Bezeichnungswirrwarr und anderen Gründen mehr recht komplex. Wie haben Sie als Autor von Einführungs- und Überblicksbänden sowohl zu den Wikingern als auch den Normannen diese Schwierigkeiten wahrgenommen und wie haben Sie diesem äußerst heterogenen Gegenstand einen einheitlichen Rahmen gegeben?

Rudolf Simek: Die Terminologie ist wichtig und man sollte immer mit den Begriffen beginnen – Eigenbezeichnungen oder Fremdbezeichnungen. Vor den historischen Entwicklungen kom- men für mich die Wörter in den Quellen.

Mittelalter Digital: Wikinger bzw. Normannen gehören zu den umtriebigsten Völkern (sofern man diesen Begriff verwenden will) des Mittelalters. Von Skandinavien nach England, Irland und Schottland, über den Atlantik nach Grönland und Amerika, nach Frankreich und Deutsch- land, nach Russland und Byzanz, nach Sizilien und bis ins Heilige Land – Nordmänner haben in der ganzen bekannten Welt und darüber hinaus Handlungsbeziehungen geknüpft und eigene Herrschaften errichtet. Woher kam dieser über Jahrhunderte verspürte Drang, die heimischen Gestade zu verlassen und zu neuen Ufern aufzubrechen?

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Rudolf Simek: Dafür gibt es ein ganzes Bündel von Gründen, ohne dass man einen davon überbewerten sollte: Klimatische Veränderungen waren es jedenfalls sicher nicht oder jeden- falls nicht allein!

Mittelalter Digital: Sehr konkrete Vorstellungen vom Aussehen, Verhalten und den Lebens- gewohnheiten von Wikingern werden uns bereits von Kindesbeinen an vermittelt: Drachen- boote, Hörnerhelme, Met- und Bierhörner, raue Feste, Raub und Plünderungen – der Wikinger an sich scheint ein ziemlich bärbeißiger Geselle gewesen zu sein. All diese Allgemeinplätze und Klischees zu verwerfen oder zu bestätigen, ist hier nicht der Platz. Trotzdem möchten wir die Gelegenheit nutzen, mit Ihnen einige wenige sehr verbreitete Allgemeinplätze zu diskutieren. Aussehen und Alltagsleben der Wikinger sind in unserer Vorstellungswelt heute konkret besetzt: Zottelbärte, Undercuts, rasierte Kopfseiten, Gesichts- und Körpertätowierungen sind Common Sense in vielen Bereichen der Wikingerdarstellung, sei es in der Serien- oder Video- spiellandschaft oder im LARP und Reenactment. Wissen wir heute aus Quellen wie sich Wi- kinger zu einem bestimmten Zeitpunkt modisch und optisch gegeben haben?

Rudolf Simek: Vieles, was heute in Filmen oder der Reenactor-Szene als wikingisches Ausse- hen präsentiert wird, ist entweder reine Phantasie oder blanker Unsinn. Über die farbenpräch- tige, mitunter orientalisch angehauchte Kleidung von Wikingerhäuptlingen wissen wir aus Fun- den recht gut Bescheid, aber Tätowierungen und eigentümliche Haarschnitte sind Unfug: im Gegenteil, Bilddokumente etwa auf Runensteinen zeigen uns Männer entweder mit Topfhaar- schnitten oder sehr ordentlichem schulterlangen Haar, Frauen mit einem sehr langen Zopf: je- denfalls keine lächerlichen Seitenrasuren o.ä. Nur eines hat sich endlich erfolgreich durchge- setzt, nämlich die Erkenntnis, dass die Wikinger keine Hörnerhelme trugen.

Mittelalter Digital: Folgt man den aktuellen Darstellungen in der Populärkultur, ist es auffäl- lig, dass die Frauen der Wikinger eine weitaus emanzipiertere Rolle innegehabt haben sollen als die Frauen in den christlichen Reichen. Die Schildmaid Lagertha aus der Serie ›Vikings‹ etwa gehört bei Fans zu den beliebtesten Figuren, und auch im neuen ›Assassin’s Creed: Val- halla‹ besteht die Möglichkeit, eine Frau zu spielen (was am eigentlichen Spielinhalt allerdings nichts ändert). Funde in Wikingergräbern hochgestellter Frauen weisen mitunter Waffen und Rüstzeug auf, jüngst hatte ein Artikel auf Welt.de mit dem Titel „Starke Frauen führten sogar

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Wikingerheere in die Schlacht“ die gleichberechtigte und emanzipierte Rolle von Frauen her- auszustellen versucht. Aus welchen Quellen speisen sich diese Vorstellungen emanzipierter, ja „moderner“ Frauen und wie sind sie zu bewerten?

Rudolf Simek: Ein vereinzeltes Frauengrab mit Waffen und zwei spätmittelalterliche Sagas mit Heerführerinnen sind aus wissenschaftlicher Sicht eine allzu dünne Grundlage für eine all- gemeine Interpretation! Auch falls es wirklich kämpfende Frauen gegeben haben sollte, sahen sie sicher nicht aus wie Lagherta. Allerdings: Ein starkes Selbstbewußtsein skandinavischer Frauen, wie es ja noch heute in Skandinavien spürbar ist, mag durchaus darauf zurückzuführen sein, dass die Frauen bei monate- oder jahrelanger Abwesenheit der Männer sich durchaus ei- genverantwortlich um Haus und Hof kümmern mussten.

Mittelalter Digital: Eine große spirituelle Anziehungskraft besitzt bis heute – auch in Abgren- zung zu christlichen Glaubensvorstellungen und -konzepten – Walhall, der jenseitige Ort, den sich Krieger durch Schlachtentod verdienen können. Hier treffen Vorstellungen eines langwei- ligen Lebens im Himmel und einer ewig andauernden Party in Walhalla aufeinander. Welche Rolle spielt Walhall in der Kultur der Wikinger und was macht Ihres Erachtens die ungebro- chene Faszination an diesem Konzept aus?

Rudolf Simek: Nun, das sehe ich ganz anders. Dieses Kriegerparadies war ja nur den im Kampf gefallenen Männern zugedacht – sicherlich auch damals ein recht kleiner Bevölkerungsanteil – und selbst die hatten, wie uns die ältesten Quellen zu Walhall von der Mitte des 10. Jahrhunderts zeigen, eher Angst, dort hinzukommen: schließlich herrschte in Asgard Odin, ein notorisch un- verläßlicher Gott. Für die meisten Menschen – vor allem Frauen – war der christliche Himmel ohne Sorgen und Hunger ein viel attraktiverer Ort: endlich ein Platz, an dem Gerechtigkeit herrscht.

Mittelalter Digital: Wikinger und Normannen scheinen heute vielen Menschen noch etwas zu sagen zu haben. Ihr Leben und ihre Taten stellen Projektionsflächen für ganz unterschiedliche Wünsche, Interessen und Ängste dar. Was haben wir Ihres Erachtens Wikingern und Norman- nen in historischer Perspektive zu verdanken und was ist ihre „Botschaft“ an uns heute?

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Rudolf Simek: Jeder sucht und findet natürliches Anderes in der Wikingerzeit, und ich kann Tendenzen zur Zivilisationsflucht in die Vergangenheit auch gut nachvollziehen. Aber mir sa- gen die Wikinger erstens: Die Welt ist klein, und auf ihr gibt es trotzdem viel zu entdecken! Und zweitens: Habt nicht so viel Angst!

Mittelalter Digital: Haben Sie einen Lieblingswikinger, eine Lieblingswikingern bzw. Lieb- lingsnormannen, eine Lieblingsnormannin?

Rudolf Simek: Liebling vielleicht nicht, aber die faszinierendste Gestalt ist für mich der nor- wegische König Harald der Harten und sein Leben zwischen Norwegen, Kiev, Byzanz und dem Nahen Osten, bis zu seinem Tod 1066 beim Versuch, auch noch England zu erobern: Mich wundert, dass es über ihn immer noch keinen Spielfilm gibt. Mittelalter Digital: Abschließend interessiert uns natürlich, welche Projekte Sie in naher Zu- kunft verfolgen. Aktuell arbeiten Sie, wenn ich das richtig sehe, unter anderem an eine Über- tragung isländischer Sagas ins Deutsche.

Rudolf Simek: Ja, noch im November werden im Kröner Verlag der 2. und 3. Band unserer „Sagas aus der Vorzeit“ erscheinen, die ich seit drei Jahren mit Bonner Studenten übersetzt habe: Über 1000 Seiten abenteuerliche Sagas aus dem Mittelalter, die in der Wikingerzeit spie- len und besser als viele moderne Fantasyromane sind. Die darin beschriebene phantastische Welt voller Heldentum und Magie hat nämlich einen enormen Vorteil gegen heutige Fantasy- Welten: Es ist unsere eigene Welt, aber vor 1000 Jahren!

Mittelalter Digital: Lieber Herr Simek, noch einmal ganz herzlichen Dank für Ihre Bereit- schaft, uns aus Ihrer Warte die Wikinger und Normannen näherzubringen! Wer sich nun einge- hend mit dem Thema auseinandersetzen möchte, findet einschlägige Werke bei uns in der Me- diathek. Viel Freude beim Lesen und bei der Entdeckung der Welt der Wikinger und Norman- nen!

Das Interview führte Tobias Enseleit.

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Ausstellung ›Die Normannen‹

Im Interview mit Dr. Viola Skiba

Regelmäßig lenken in ganz Deutschland große und aufwendige Ausstellungen das Inte- resse auf die Epoche des Mittelalters. Aktuell laufen in den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim die Vorbereitungen für eine Sonderausstellung zur Geschichte und Kultur der Normannen, die coronabedingt verschoben werden musste und voraussichtlich vom 8. September 2022 bis 26. Februar 2023 zu sehen sein wird. Bis dahin ist es zwar noch ein wenig hin; aber wir haben die Gelegenheit genutzt, mit Dr. Viola Skiba, die als Projekt- leiterin die Ausstellung verantwortet, über die Idee und die Konzeption der Ausstellung und ihr Interesse an den Normannen zu sprechen.

Mittelalter Digital: Liebe Frau Skiba, herzlichen Dank für Ihre Bereitschaft, uns einige Ein- blicke in die Konzeption der nächsten großen mittelalterlichen Sonderausstellung ›Die Nor- mannen‹ zu geben, die voraussichtlich ab September 2022 in den Reiss-Engelhorn-Museen in Mannheim gezeigt wird. In den letzten Jahren gab es dort bereits einige aufwendige Mittelal- terausstellungen, 2006 etwa – um nur einige zu nennen – ›Saladin und die Kreuzfahrer‹, 2010/2011 ›Die Staufer und Italien‹, 2012/2013 ›Benedikt und die Welt der frühen Klöster‹ oder 2017/2018 ›Reformation! Der Südwesten und Europa‹. Sie sind die Projektleiterin der Ausstellung ›Die Normannen‹. Ganz naiv gefragt: Wie sieht Ihr Arbeitsalltag aus und welche Bereiche umfasst die Projektleitung?

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Das Plakat zur Ausstellung ›Die Normannen‹, die von Dr. Viola Skiba organisiert wird.

Viola Skiba: Zunächst darf ich vorausschicken, dass ich mich sehr über Ihr Interesse freue, mehr über die Genese und Vorbereitung einer großen Sonderausstellung zu erfahren, die ein sehr langwieriger und kreativer Prozess ist. Das hat zum einen mit der Herkunft der Leihgaben, zum anderen aber mit der Art zu tun, wie wir in den Reiss-Engelhorn-Museen arbeiten. Wir versuchen nämlich, unsere großen Ausstellungsthemen in die Forschung einzubinden, sorgfäl- tig zu recherchieren, Netzwerke zu knüpfen und selbst einen Beitrag zur Forschung zu leisten. Das kostet natürlich Zeit, macht die Arbeit aber auch sehr vielfältig. Für mich ist die Projektarbeit nur ein Teil meiner Arbeit, aber der welcher mir persönlich am meisten Spaß macht. Neben der inhaltlichen Komponente umfasst die Projektleitung natürlich auch organi- satorische Aufgaben wie die Anleitung des Teams, Erstellung von Zeitplänen, Koordinierung von Prozessen und die Budgetplanung. Begonnen hat alles 2018 mit der Erstellung einer wissenschaftlichen Konzeption, d.h. dem kulturhistorischen Rahmen und Hintergrund für die Ausstellung, die dann im Austausch mit dem historischen Seminar der Universität Heidelberg und der gemeinsamen Forschungs- stelle für Geschichte und kulturelles Erbe weiterentwickelt wurde. Anschließend wurde ein – in diesem Fall sehr junges – Projektteam zusammengestellt und mit dem Aufbau einer Objekt- datenbank begonnen. Parallel dazu wurde auf Basis der wissenschaftlichen Konzeption ein ers- ter Entwurf für den Ausstellungsrundgang erstellt, was auch mediale Umsetzungen beinhaltet.

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Normannen als Kirchenzerstörer und -förderer: Die Ruine der Abtei von Jumièges (Bild 1), einst eines der mächtigsten Klöster der Normandie. Zunächst von den Wikingern zerstört, wurde das Kloster von den Normannen wiederaufgebaut und stark geför- dert. Victor Hugo bezeichnete die Überreste der Abtei als „schönste Ruine Frankreichs“. Die Kathedrale von Palermo (Bild 2) wurde 1184/1185 im normannisch-arabischen Stil errichtet und beherbergt u.a. die Gräber Rogers II., Konstanzes von Hauteville und Friedrichs II. (Bildnachweise: © rem, Foto: Viola Skiba).

In einer zeitgemäßen Ausstellung sind ja nicht nur authentische historische Objekte zu sehen, sondern auch Filme, digitale Modelle, Hörstationen oder interaktive Module – und in jedem Element steckt wieder viel Arbeit und Planung. Dieser Teil der Vorbereitungen wird zwar vor- wiegend von uns im Museum betrieben, wird aber auch von außen begleitet, denn für viele Spezialfragen – etwa zu Architektur, Kunst oder Grabungsergebnissen – braucht es Experten und spezielle Expertise, die von uns in die Planung aufgenommen, oft aber erst noch „übersetzt“ werden muss. Das Thema der Normannen bringt es mit sich, dass unsere Experten überall in Europa verstreut sind, was die Sache noch einmal interessanter macht. Unser wissenschaftlicher Bei- rat – ein Expertengremium, das uns bei der Arbeit berät und unterstützt – ist entsprechend mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus sechs Ländern besetzt. Sie alle verbindet die Forschung und das Interesse an der normannischen Welt. Jetzt habe ich schon sehr viel berichtet und doch nur einen Teil unserer Arbeit angerissen. Natürlich dürfen wir auch das zentrale Element jeder Ausstellung nicht vergessen: die Objekte. Sie werden recherchiert, erfasst, manchmal auch von unseren Experten vorgeschlagen und müssen dann angefragt werden. Auch das ist ein längerer Prozess, der sich je nach Land, in dem sich die leihgebende Institution befindet, sehr unterschiedlich und teilweise ziemlich bürokratisch gestalten kann – und bei weitem nicht immer bekommt man dann auch, was man

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Mittelalter Digital Themenheft Wikinger und Normannen gerne haben möchte, so dass stets nachjustiert werden muss. Je näher die Ausstellung rückt, desto mehr Aufgaben kommen auf uns zu und umso mehr Mitarbeiter des Museums sind involviert.

Die von den Normannen geförderte Abtei auf dem Mont-Saint-Michel zählt heute zu den berühmtesten Sehenswürdigkeiten Frankreichs (Bildnachweis: © rem, Foto: Viola Skiba).

Mittelalter Digital: Wikinger und Normannen sind ein Teil des gegenwärtigen mittelalterli- chen Kosmos, der viele Menschen interessiert und deshalb in der Medienlandschaft aktuell vielfältig ausgebreitet wird. Wie kam es zu der Entscheidung, eine Sonderausstellung speziell zu den Normannen in die Wege zu leiten? Gibt es im musealen Betrieb bestimmte Spielregeln, nach denen mögliche Themen aufkommen, diskutiert und deren Umsetzung letztlich beschlos- sen werden? Gab es im Findungsprozess alternative bzw. konkurrierende Themen und spielt die Kategorie des öffentlichen Interesses an einem Thema bei der Entscheidungsfindung eine Rolle?

Viola Skiba: Das ist eine interessante Frage, die Sie hier anreißen. Natürlich orientieren sich Museen bei ihrer Themenwahl häufig an aktuellen Themen und Fragestellungen – oft greifen sie auch Jubiläen oder Jahrestage auf. Das birgt natürlich die Gefahr – bei prominenten Daten –, dass sich Museen Konkurrenz machen, wenn sie ähnliche Themen aufgreifen. Ganz deutlich war das etwa in der Zeit des Reformationsjubiläums zu sehen. Viele Museen haben zu diesem Thema Ausstellungen gemacht und dabei um dieselben Objekte und dieselben Besucher konkurriert. Neben dem Aufgreifen von Jubiläen sind Ausstellungsmacher aber auch auf der Suche nach Themen, die nicht nur für ein großes Publikum spannend sind, sondern auch neu und

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Mittelalter Digital Themenheft Wikinger und Normannen innovativ. In diese Kategorie fällt die Normannen-Ausstellung, die nicht an einen Jahrestag gebunden ist, sondern vielmehr in eine Lücke in der Museumslandschaft stößt. Nie zuvor gab es im deutschsprachigen Raum eine Ausstellung, die sich den Normannen in all ihrer Komple- xität widmet und eine faszinierende historische Thematik mit der Gegenwart zu verbinden weiß. Die Normannen waren nämlich eine hochmobile Gruppe, die zwischen Kulturen und Traditionen zu navigieren wusste. Mobilität, Migration, Integration und Transkulturalität waren Teil ihrer Geschichte.

Der Kreuzgang des Doms zu Monreale in Sizilien zählt mit seinen 228 einzigartigen Säulenpaare heute zu den UNESCO-Welt- erbestätten (Bildnachweise: © rem, Foto: Viola Skiba).

Einmal mehr lässt sich an diesem Thema zeigen, wie vielfältig, bewegt und bunt die mittelal- terliche Welt war – und das ist es, was uns Ausstellungsmacher besonders reizt. Der Themen- findungsprozess in Museen ist in der Regel sehr individuell, und natürlich spielt auch das Po- tential eines Themas sowie das angenommene Besucherinteresse eine wichtige Rolle bei der Entscheidung in die Ausstellungsplanung zu gehen. Das stand in diesem Falle bei uns aber gar nicht zur Debatte, denn – seien wir ehrlich – allein der Titel übt doch schon einen besonderen Reiz aus und weckt Assoziationen. Für mich persönlich geht mit der Normannen-Ausstellung ein Traum in Erfüllung und die positiven Rückmeldungen und spontanen Reaktionen sowohl innerhalb des Museums als auch außerhalb ermutigen mich und meine Kolleginnen und Kollegen sehr.

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Jedes Kapitell des Kreuzgangs von Monreale ist detailreich mit Ornamenten oder narrativen Szenen versehe. Ein besonders inte- ressantes Kapitell zeigt auf seinen vier Seiten Darstellungen, die mit den vier zentralen Religionen in Verbindung gebracht wer- den können: das lateinische Christentum, das Christentum östlicher bzw. byzantinischer Prägung, das Judentum und der Islam (Bildnachweis: © rem, Foto: Viola Skiba).

Mittelalter Digital: 2022 klingt heute noch so weit weg; aber gut Ding will Weile haben, und ich kann mir vorstellen, dass es viel Zeit braucht, um eine Ausstellung von der ersten Idee bis zur konkreten Realisierung umzusetzen, zumal die aktuelle Situation nicht die einfachste ist. Auf der Museumswebseite ist bereits zu lesen, dass Besucher „anhand 300 hochkarätiger Leih- gaben aus großen europäischen Sammlungen“ tiefer in die Geschichte und die Kultur der Nor- mannen eintauchen können. Damit scheint die Umsetzung der Ausstellung bereits sehr konkret zu werden. Wie findet man die für eine Ausstellung unentbehrlichen Ausstellungsstücke und gibt es bestimmte Exemplare, die Sie unbedingt zeigen möchten und die daher bereits während der Konzeption im Hinterkopf einen Platz hatten? Welche Rolle spielen dabei Kooperationen, wie Sie sie etwa mit dem Museumsverband ›Réunion des Musées Métropolitains‹ in Rouen (also einem „au- thentischen“ Normannenstandort) unterhalten? Dürfen Sie schon verraten, welche Highlights in der Ausstellung zu sehen sein werden?

Viola Skiba: Sie haben vollkommen recht. 2022 klingt nach sehr viel Zeit, aber die geht schnel- ler vorbei als gedacht und tatsächlich hätten wir sogar schon im Herbst 2021 eröffnen sollen – und dann kam Corona. Das hat vieles nicht einfacher gemacht, insbesondere weil viele Kolle- ginnen und Kollegen in Museen anderer europäischer Länder deutlich stärker in ihrer Arbeit behindert sind, als es bei uns glücklicherweise der Fall ist. Manche Häuser sind derzeit nur

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Mittelalter Digital Themenheft Wikinger und Normannen schwer oder überhaupt nicht erreichbar. Die Kommunikation verzögert sich dadurch enorm und die ist wichtig, denn es gibt viel zu organisieren, bevor ein Objekt auf Reisen gehen kann.

Das 22 m lange Oseberg-Schiff (Bild 1) war einst Teil eines mit reichen Beigaben versehenen wikingerzeitlichen Schiffsgrabs und wurde 1904 unter einem Grabhügel in Norwegen entdeckt. Heute befindet es sich im Viking Ship-Museum in Oslo. Bild 2: Farbige Rekonstruktion eines Runensteins in Jelling, Dänemark (Bildnachweise: © rem, Foto: Viola Skiba).

Was die Auswahl der Exponate angeht, ist dies ein längerer Prozess. Klar gibt es ikonische Stücke, die man zu diesem Thema in einer Ausstellung haben will, darunter auch Stücke, von denen man weiß, dass man sie nicht bekommen kann, wie z.B. den Mantel Rogers II. in der Wiener Schatzkammer, der grundsätzlich nicht verliehen wird. Aber darüber hinaus versuchen wir Ausstellungsmacher natürlich, auch neue und eher unbekannte oder gar erst neu entdeckte Stücke zu präsentieren, und um diese zu finden, sind wir auf den Austausch mit Wissenschaft- lerinnen und Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen sowie mit Museumsleuten, die Be- stände zum Thema Normannen kennen, angewiesen. Wir versuchen im Vorfeld eines derartigen Großprojekts auch die zentralen Orte und musealen Institutionen zu besuchen, die als Leihgeber in Frage kommen. Das haben wir auch bei den Normannen getan und waren bereits 2019 in der Normandie unterwegs. Auf derartigen Reisen bekommt man ein Gefühl für die historischen Orte, entdeckt das eine oder andere potenzielle Exponat und knüpft vor Ort Kontakte. So war es auch in Rouen und Caen der Fall. Tatsächlich konnten wir dort mit unserem Projekt so überzeugen, dass die Réunion des Musées Métropolitains sogar für eine weitergehende Kooperation gewonnen wer- den konnten und zusammen mit dem Musée de Normandie in Caen im Anschluss an die Prä- sentation in Mannheim die etwas verkleinerte und adaptierte Normannen-Ausstellung sowie eine Schau zu Mythos und Rezeption (Caen) zeigen werden.

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Das Grab Wilhelm des Eroberers in der Abbaye aux Hommes in Caen, das über die Jahrhunderte mehrfach geschändet wurde (Bildnachweis: © rem, Foto: Viola Skiba).

Das ist eine wunderbare Entwicklung, die aber auch symptomatisch ist für das Interesse, auf das das Projekt europaweit stößt. Bereits jetzt haben wir zudem Zusagen von herausragenden Objekten erhalten, die das gesamte Spektrum normannischer Geschichte abdecken: Waffen aus der Normandie, ein kostbares Reliquienkästchen aus Nordspanien, das ein Zeugnis kultureller Verschmelzung darstellt. Ja, das ist nicht sonderlich bekannt, aber die Normannen waren auch im Nordosten der iberischen Halbinsel aktiv und begründeten kurzzeitig in Tarragona sogar ein eigenes Prinzipat.

Die Abbaye aux Hommes oder Abbaye Saint-Étienne wurde von Wilhelm dem Eroberer in Caen gegründet (Bildnachweis: © rem, Foto: Viola Skiba).

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Die Vatikanische Bibliothek, ein Leihgeber der unsere Ausstellungen häufig mit besonderen Highlights unterstützt, ist ebenfalls wieder mit fünf kostbaren Handschriften dabei und aus Bari kommen eine Votivkrone Rogers II. und eine Plakette, die seine Königskrönung durch den Heiligen Nikolaus darstellt nach Mannheim. Auch Alltagsgegenstände, archäologische Funde, Textilien und Kunsthandwerk werden den Weg nach Mannheim antreten. An vielen Stellen ist der Leihverkehr aber noch im Gang und aufgrund der Pandemie-Lage nicht ganz einfach.

Mittelalter Digital: Vom 15. bis 17.10.2020 wurde im Rahmen der Ausstellungskonzeption eine wissenschaftliche Tagung unter dem Titel ›Norman Connections: Normannische Verflech- tungen zwischen Skandinavien und dem Mittelmeer‹ veranstaltet, in deren Rahmen namhafte Fachvertreter zu ganz unterschiedlichen Spezialthemen referiert haben (das Tagungsprogramm findet sich hier). Der Titel der Tagung verrät wie deren Zusammenfassung das besondere Inte- resse an der Mobilität und der Anpassungsfähigkeit der Normannen, die sich in vielen Ecken Europas und darüber hinaus häuslich eingerichtet haben.

Gorm der Alte und Harald Blauzahn errichteten in Jelling zwei Grabhügel, die 1994 in die Weltkulturerbe-Liste der UNESCO aufgenommen wurden. Die Runensteine und eine zwischen den Grabhügeln errichtete Kirche dokumentieren den Übergang vom Heiden- zum Christentum (Bildnachweis: © rem, Foto: Viola Skiba). Wikinger als Miniatur (Bildnachweis: © Biblio- thèque nationale de France, Paris).

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Wie kam es zu der spezifischen Ausrichtung des Themas, die Mobilität und die soziale, kultu- relle und religiöse Anpassungsfähigkeit der Normannen in den Fokus zu rücken, und wie darf man sich den Einfluss dieser Tagung auf die Konzeption und Umsetzung der Ausstellung vor- stellen? Geben die dort gehaltenen Vorträge einen generellen Orientierungsrahmen vor oder wurden die Themen auf die spezifischen Bedürfnisse der Ausstellung – etwa im Hinblick auf einen Ausstellungskatalog – hin konzipiert?

Viola Skiba: Wie auch bei vorangegangenen Projekten der Reiss-Engelhorn-Museen stellt eine wissenschaftliche Fachtagung einen integralen Bestandteil der Ausstellungsvorbereitung dar. Wir verstehen unsere Ausstellungen als Beitrag zur Wissenschaftsvermittlung, aber gleichzeitig auch als eigenständigen Forschungsbeitrag. Um dies zu erreichen, ist die wissenschaftliche Einbindung der Projektarbeit sehr wichtig. Insofern erlaubt ein Blick auf das Tagungsprogramm auch einen Blick auf thematische Schwer- punkte der Ausstellung. Die Ergebnisse der Tagung fließen in einen wissenschaftlichen Essay- band ein, der den Ausstellungskatalog begleiten wird, und geben darüber hinaus Impulse für die weitere Ausstellungsplanung. Tagung und Ausstellung sind demnach konzeptionell verschränkt.

Das an einer Seine-Schleife gelegene Chateau Robert le Diable kontrollierte im 11. / 12. Jahrhundert den Zugang nach Rouen (Bildnachweis: rem, Foto: Viola Skiba).

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Die Ausrichtung auf besondere Mobilität und Anpassungsfähigkeit der Normannen resultiert daraus, dass diese als besondere Stärke verstanden werden können. In unserer Ausstellung wol- len wir zeigen, dass sie wichtige Faktoren waren, die die Normannen in vielen Bereichen enorm erfolgreich machten. Zugleich bietet diese Schwerpunktsetzung auch die Möglichkeit, an die Gegenwart anzuknüpfen. Mobilität, kultureller Austausch, Wissenstransfer, Kommunikation und Integration sind Begriffe, die die aktuelle Lebenswirklichkeit berühren. Zugleich sind sie aber auch wichtige Begriffe für die Beschreibung normannischer Geschichte.

Mittelalter Digital: Dass die Inhalte einer musealen Ausstellung dieser Art einen fachwissen- schaftlichen Anspruch verfolgen, muss nicht extra betont werden. Nichtsdestoweniger sind die meisten Besucher aber keine Experten, sondern tragen ganz unterschiedliche Erwartungshal- tungen und Erfahrungshorizonte ins Museum, die sich in aller Regel stärker dem populärkultu- rellen Diskurs als dem fachwissenschaftlichen verdanken. Inwieweit spielen diese weiter ver- breiteten Allgemeinplätze und Stereotype, die zu Wikingern und Normannen kursieren, für die Ausstellung eine Rolle und wie begegnen Sie der Schwierigkeit, populärkulturelles Interesse und fachwissenschaftliches Expertenwissen einander anzunähern?

Viola Skiba: Unser Ziel ist es, eine Ausstellung zu schaffen, die alle anspricht und für jeden etwas bietet. Ich bin ebenfalls der Meinung, dass ein wissenschaftlicher Anspruch und Allge- meinverständlichkeit sich nicht ausschließen müssen. Es geht uns vielmehr darum, die Erkennt- nisse unterschiedlicher Disziplinen zu einem schillernden Ganzen zusammenzufügen, mit her- ausragenden Exponaten in Bezug zu setzen und ästhetisch zu verbinden, so dass ein Besuch gleichzeitig Wissensvermittlung, Spaß und Genuss bietet. Und selbstverständlich bedeutet das auch, dass wir uns im Vorfeld mit den Erwartungen oder Vorkenntnissen unserer Besucher auseinandersetzen, was die Populärkultur mitein- schließt. Gerade die Populärkultur schafft es, Interesse zu wecken und emotional zu packen, was berücksichtigt werden sollte.

Mittelalter Digital: Abschließend: Interessieren Sie Wikinger und Normannen auch im priva- ten Bereich und wenn ja, auf welchen Wegen rezipieren Sie das Thema?

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Das Grab Rollos, des Begründers der Dynastie der normannischen Herzöge, befindet sich mit weiteren bedeutenden Grablegen in der Kathedrale von Rouen, der ersten Hauptstadt der Normandie (Bildnachweis: © rem, Foto: Viola Skiba).

Viola Skiba: Ja, ich interessiere mich auch privat für die Normannen, was ja letztendlich auch zur Idee für die Ausstellung geführt hat. Als Mediävistin bin ich natürlich auch fachlich etwas vorbelastet, denn früher oder später stolpert man da über die Normannen. Vor einigen Jahren habe ich eine phantastische BBC-Dokumentation zum Thema Normannen gesehen und im Ur- laub wandele ich – besonders in Süditalien und England – gerne auf normannischen Spuren.

Mittelalter Digital: Liebe Frau Skiba, vielen Dank für die spannenden Blicke hinter die Kulis- sen. Wer sich bereits jetzt schon etwas über die Ausstellung informieren möchte, kann die Web- seite der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim besuchen.

Das Interview führte Tobias Enseleit.

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Graphic Novel ›Hammaburg‹

Im Interview mit Jens Natter

Wikinger kennen wir aus Funk und Fernsehen. Sie machen aber auch die Comicwelt un- sicher. Jüngst hat der Hamburger Illustrator, Karikaturist und Schnellzeichner Jens Nat- ter mit seiner Graphic Novel ›Hammaburg‹ die Missionstätigkeit des Hl. Ansgar und den Wikingerüberfall auf das frühe Hamburg anschaulich ins Bild gefasst. Wie er sich das Thema erschlossen hat und wie er bei seinem Projekt vorgegangen ist, darüber haben wir mit ihm gesprochen.

Jens Natter hat forschungsnah, aber mit einem Augen- zwinkern in seiner Graphic Novel ›Hammaburg‹ das Frühmittelalter zum Leben erweckt (Bildnachweis: © Jens Natter).

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Mittelalter Digital: Lieber Herr Natter, Sie haben im letzten Monat Ihre neueste Graphic Novel ›Hammaburg‹ veröffentlicht. Protagonist ist der Missionsheilige Ansgar, der im 9. Jahrhundert mit der Bekehrung von Heiden im Norden betraut wurde und der noch heute als „Apostel des Nordens“ erinnert wird. Wie kam es dazu, dass Sie sich gerade für dieses Thema entschieden haben und worum geht es in ›Hammaburg‹?

Jens Natter: Mein Interesse lag dabei weniger auf Ansgar. Ich hatte eher dabei im Blick, dass es sich um Hamburgs erste spannende Episode handelt. Es geht darum, dass Hammaburg als Missionsstandort an Bedeutung gewinnt, was aber nach ersten Erfolgen letztendlich mit dem Wikingerüberfall genau in der Katastrophe endet, die eigentlich mit den Plänen für Hammaburg verhindert werden sollte. Ich liebe es, mich mit den Dingen zu befassen, die an meinem Wohnort vor langer Zeit passiert sind. Insbesondere wenn eine solche Dramaturgie bereits von der Geschichte vorgege- ben ist.

Cover von Jens Natters jüngst erschienener Graphic Novel ›Hammaburg‹ (Bildnachweis: © Jens Natter).

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Mittelalter Digital: Insgesamt drei Jahre Recherche und Arbeit sind in ›Hammaburg‹ geflos- sen. Sie haben historische Stätten besucht und Fachleute konsultiert, unter anderem den Lan- desarchäologen Dr. Rainer-Maria Weiss, der die jüngsten Ausgrabungen an der Hammaburg verantwortet hat. Was haben Sie sich alles angeschaut und wieso war es Ihnen wichtig, Ihre Graphic Novel auf möglichst fundierte Füße zu stellen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, dass Sie selbst nicht vom Fach sind?

Jens Natter: Mich begeistern immer historische Stoffe, die neben einer guten Erzählung auch die wesentlichen Fakten beinhalten. Wenn eine gute Geschichte auf einem wahren Fundament steht, hat diese für mich eine umso längere und stärkere Wirkung. Selbst bei Asterix, wo ja der historische wahre Inhalt überschaubar ist, habe ich bereits als Kind in Lexika nachgelesen, was es mit diesem Cäsar wirklich auf sich hatte. Da lag der Anspruch nahe, den aktuellen For- schungsstand so weit wie es geht mit in meinen Comic ein zu beziehen. Und da ich als Laie naturgemäß bei null anfing, bin ich eben auch alles abgelaufen, ohne vorher zu wissen, was ich davon später alles brauchen werde. Das fing mit Beratungsgesprächen bei Herrn Weiss im Archäologischen Museum an und ging dann über Recherchetrips wie zum Kloster Corvey mit seinem karolingischen Westwerk bis zur rekonstruierten Wikingersiedlung Haithabu weiter. Dabei bin ich mal zielgerichtet los- gefahren, weil mir mal wieder Anschauungsmaterial ausgegangen war, aber oft konnte ich auch beim Familienurlaub noch das ein oder andere Museum mitnehmen, wie zum Beispiel die Wi- kingerschiffe in Oslo oder die hölzerne Slawenfestung in Groß-Raden. Meist gab es immer irgendetwas vor Ort zu finden, was nicht in den Büchern stand.

Nebeneinanderstellung von Skizze und Reinzeichnung (Bildnachweis: © Jens Natter).

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Mittelalter Digital: Rainer-Maria Weiss scheint, so klingt es jedenfalls im Radiointerview an, das Sie mit dem NDR geführt haben, sehr angetan von Ihrem Projekt – sonst hätte er wahr- scheinlich auch nicht ein Vorwort zu Ihrem Buch beigesteuert. Wie haben Sie die Zusammen- arbeit mit Wissenschaftlern erlebt? Galt es anfangs, Hürden aus dem Weg zu räumen, oder sind Sie mit Ihrer Idee offene Türen eingerannt?

Jens Natter: Das lief eigentlich ganz entspannt. Nach einer ersten Eingangsberatung und wich- tigen Literaturtipps seitens Herrn Weiss ging das Ganze seinen Weg. Ich habe im Vorfeld of- fenbar sehr sauber gearbeitet, denn bei den regelmäßigen Seitenkontrollen, die ich ins Archäo- logische Museum geschickt habe, gab es kaum etwas zu beanstanden, weswegen es auch zu der entsprechenden unterstützenden Beglaubigung wie dem Vorwort kam.

Mittelalter Digital: Archäologische Forschung ist das eine – haben Sie abseits davon andere Wissenschaftsbereiche angezapft? Haben Sie sich persönlich mit Primärquellen auseinander- gesetzt, z.B. mit Rimberts ›Vita sancti Ansgari‹? Wie sah die Übertragung von wissenschaft- lich-fundierter historischer Erkenntnis in das Medium Graphic Novel konkret aus?

Jens Natter: Ich habe eine deutsche Übersetzung der Vita Ansgari zu Hause, die ich natürlich mehrmals durchgelesen habe. Natürlich habe ich mir Quellen aus allen Richtungen besorgt, nicht nur archäologische Fachbücher. Vom fachlichen Standpunkt aus waren die Publikationen von kirchlicher Seite aus nicht hilfreich. In Bezug auf christliche Weltanschauung und auch kirchlichen Sprachgebrauch haben sie aber dem Projekt durchaus genützt. Was die Übertragung betrifft, gab die Geschichte bereits einen spannenden Leitfaden vor. Ich musste diesen nur eben kreativ umsetzen. So habe ich, um die Spannung zu halten, mit wechselnden Zeitfenstern gearbeitet. Als Protagonist bot sich Ansgar an, weil er in der Phase der Hammaburg, die ich beschreibe, eh schon der Hauptakteur ist. Dennoch brauchte ich neben historischen Personen noch 2-3 weitere erfundene Charaktere, die mir halfen, die Erzählung rund zu kriegen.

Mittelalter Digital: Im Jahr 845 wurde die Hammaburg von Wikingern geplündert, ein ein- schneidendes Ereignis, das auch Eingang in Ihre Graphic Novel gefunden hat. Wie haben Sie sich allgemein den Wikingern und speziell diesem Ereignis angenähert? Gab es durch die jüngs- ten Ausgrabungen neue Erkenntnisse?

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Ansgar stößt nicht bei allen sofort auf Begeisterung (Bildnachweis: © Jens Natter).

Jens Natter: Neben den bereits erwähnten Trips nach Haithabu oder ins Wikingerschiffmu- seum in Oslo gab es immer wieder Möglichkeiten, mit Original-Anschauungsmaterial in Be- rührung zu kommen (z.B. mit sehr prächtigen Runensteinen auf Bornholm). Fachlich haben mir insbesondere der 600-seitige Wälzer ›Spurensuche Haithabu‹ von Kurt Schietzel,aber auch das Bilderbuch ›Die Leute von Birka‹ vom ›Petterson und Findus‹-Zeichner Sven Nordqvist gehol- fen, wie man sich illustrativ mit den Wikingern befassen kann. Bei ›Hammaburg‹ erzähle ich in zwei zeichnerischen Varianten von den Wikingern. Ein- mal gibt es eine fachlich stimmige halb-realistisch gezeichnete Version, die über das Leben in einem Wikingerdorf berichtet. Wenn die Wikinger jedoch in dem Comic auf Angriff schalten, habe ich mir erlaubt, ein wenig die „zeichnerische Sau“ rauszulassen. Womit ich jetzt nicht auf blutiges Gemetzel umgeschaltet habe, sondern die Bedrohung in einer fast dämonenhaften Ver- sion gemalt habe. Die Ausgrabungen in der Hammaburg sorgten eigentlich nicht für einen bestimmten Aha- Effekt, da ich ja ohne Vorwissen und durch die entsprechenden Museumsempfehlungen gleich an die richtigen aktuellen Auswertungen geraten bin. Interessant war dabei höchstens, was alles

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Mittelalter Digital Themenheft Wikinger und Normannen widerlegt wurde, was lange Zeit in Hamburg von der Hammaburg angenommen wurde. Zum Beispiel, dass diese von Karl dem Großen gegründet wurde, obwohl es dabei schon deutlich früher am selben Ort eine Sachsenfestung gab.

Mittelalter Digital: Als Zeichner und Illustrator stehen Sie vor der großen Herausforderung, alles Gezeigte bis ins letzte Detail darstellen zu müssen. Empfanden Sie es als Last oder als Problem, einen bestimmten, selbst auferlegten Anspruch an Authentizität einhalten zu müssen? An welchen Stellen sind Sie dabei an Grenzen gestoßen und an welchen haben Sie allgemeine bzw. populärkulturelle Vorstellungen mit einfließen lassen? Jens Natter: Sagen wir so, es gibt einfachere Zeiten als das frühe Mittelalter, wenn man einen stimmigen Comic zeichnen will. Und sobald ich interpretieren muss, begebe ich mich schon auf dünnes Eis. Da tauchen dann so Fragen auf wie: Gab es eigentlich schon Kirchtürme? Vie- les, was man als Laie vom Mittelalter allgemein annimmt, gab es frühen Mittelalter nicht. Dabei brauche ich Unmengen von Bildmaterial in allen möglichen Perspektiven, um die Story anse- henswert zu machen. Nur Köpfe zu zeichnen, wäre langweilig. Die Hintergründe müssen ja auch stimmen. Also schon alles ganz schön kniffelig. Aber letztendlich wurde das Projekt dadurch für mich auch spannend. Die Wikinger in dem bereits genannten Bedrohungsstil haben da schon für eine gewisse Entlastung gesorgt, weil an diesen Stellen die zeichnerische Interpretation vor der Authentizität Vorrang hatte. Da habe ich als Zeichner dann natürlich die Gesamtkomposition im Blick.

Mittelalter Digital: Einer Ihrer Ansprüche war, sowohl Kinder als auch Erwachsene in der Rezeption anzusprechen. Wie schwierig ist es, gerade im Hinblick auf die Kategorie Authenti- zität verschiedene Rezeptionsgruppen anzusprechen, die womöglich ganz unterschiedlich in der Geschichtskultur verankert sind?

Jens Natter: Es stimmt, ich habe versucht, da mehrere Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Im Bereich des Mittelaltercomic gibt es fast nur reine Fantasieprodukte. Im Gegensatz zur neu- eren Geschichte, wo ganz viele toll gemachte Graphic Novels zu finden sind. Mein Gedanke war, jedem ab zehn Jahren bis ins hohe Alter, der sich für Hamburgs Anfänge interessiert, eine spannende, humorvolle Comicgeschichte zu bieten, bei der auch die wesentlichen Eckpunkte stimmen. Ausgangslage war sicherlich dabei, dass mein Sohn ca. zehn Jahre alt war, als ich die Arbeit zu Hammaburg begann. Ich dachte mir, wie schön es wäre, wenn Kinder und Erwach- sene gemeinsam in einem solchen Buch eine Epoche entdecken können.

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Mittelalter Digital: Zum Abschluss: Welches Detail hat Sie im Rahmen Ihres Projekts persön- lich besonders interessiert oder beeindruckt?

Jens Natter: Mich hat an der ganzen Geschichte beeindruckt, wie sehr die ganzen Umbrüche, die damals in Europa stattfanden, sich auch in einer für damalige Verhältnisse eher abgelegenen Region ablesen lassen.

Mittelalter Digital: Lieber Herr Natter, ganz herzlichen Dank für Ihre Zeit. Wer nun neugierig geworden ist, findet weitere Informationen auf der Webseite von Jens Natter.

Das Interview führte Tobias Enseleit.

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Like a Viking

Im Interview mit ›Steel, Blood and Love‹

Bis heute gibt es weltweit zahlreiche Menschen, die von der Kultur der Wikinger so fas- ziniert sind, dass sie in ihrer Freizeit das Leben von Wikingern in LARP (Live-Action- Roleplay) oder Reenactment nachempfinden möchten. Wir haben mit Jeannine und Se- bastian gesprochen, die sich in den sozialen Netzwerken mit großem Aufwand fotogra- fisch als Wikinger inszenieren.

Mittelalter Digital: Liebe Jeannine, lieber Sebastian, ihr beide betreibt den äußerst erfolgrei- chen Instagram-Kanal ›Steel_blood_and_love‹. Einer großen Fangemeinde (knapp 11.000 Follower) präsentiert ihr dort regelmäßig Einblicke in euer sehr aufwendig inszeniertes „Leben“ als Wikinger. Vielleicht könnt ihr euch zunächst kurz vorstellen und uns erzählen, woher eure Passion für Geschichte und speziell die Wikinger herrührt.

Steel, Blood and Love: Wir sind Jeannine und Sebastian, sind 26 und 27 Jahre alt und wohnen in der schönen Schweiz. Seit fast acht Jahren sind wir ein Paar. Kennengelernt haben wir uns durch das Handyspiel ›Hobbit‹, da sind wir per Zufall in derselben Allianz gelandet und haben angefangen miteinander zu schreiben. Neben dem Wikinger-Dasein sind wir noch in einer Gug- genmusik (Karnevalsmusikverein).

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Jeannine und Sebastian.

Vor ca. 2,5 Jahren haben wir unsere Instagramseite @steel_blood_and_love erstellt und seit- dem shooten wir quer durch die Epochen. Wir beide sind seit klein auf von der Geschichte fasziniert. Sebastian mehr von der Geschichte des 20. Jahrhunderts und Jeannine mehr vom Mittelalter. Zudem ist Jeannine ein totaler Fantasyfan. Durch den Besuch eines Mittelaltermar- kes im Jahr 2015 hat das Mittelalterfieber dann auch Sebastian gepackt. Seitdem teilen wir das Interesse am Mittelalter. Bei den Wikingern sind wir vor allem hängen geblieben, da das Bild, das wir von den Wikingern haben, nicht korrekt ist. Wenn wir an Wikinger denken, denken wir an furchtlose Krieger mit Hörnern auf den Helmen und Fellen über den Schultern. Auch wir hatten dieses Bild – es wird uns ja von Hollywood so vermittelt. Aber sie waren auch Seefahrer und Händler. Je mehr wir uns diesem Thema widmeten, desto mehr faszinierte uns diese Zeit. Als wir dann angefangen haben, Serien wie ›Vikings‹ oder ›The Last Kingdom‹ zu schauen, hat es uns kom- plett gepackt. Auch wenn diese Serien nicht authentisch sind und nicht das richtige Leben von damals zeigen, haben sie etwas Fesselndes. Mit den Wikingern kam dann auch das Interesse in der nordischen Mythologie. Thor, Odin, Heimdall und Co. waren für uns bislang nur Figuren aus den Marvel-Filmen.

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Mittelalter Digital: Wenn ihr einer fremden Person erklären solltet, was ihr auf eurem Kanal macht, was würdet ihr antworten? Welchen Stellenwert nimmt das „Wikinger-Dasein“ in eurem Leben ein? Welche Aspekte faszinieren euch besonders? Ist das Ganze noch ein Hobby oder schon mehr?

Steel, Blood and Love: Wenn jemand nachfragt, was wir machen, sagen wir immer, dass wir Mittelalter- und Fantasybilder machen. Wir entführen die Betrachter in eine andere Zeitepoche. Dabei versuchen wir die Bilder so darzustellen, dass sie selbst eine Geschichte erzählen. Für uns hat das Wikinger-Dasein einen hohen Stellenwert eingenommen. Allein schon dadurch, dass wir uns sehr mit dem Thema Wikinger befassen. Uns fasziniert es immer wieder, etwas Neues darstellen zu können. Schlussendlich sind ja immer nur wir beide auf den Bildern, einfach immer mit anderen Gewandungen und eventuell mit anderen tierischen Begleitern. Des Weiteren fasziniert uns das „einfache“ Leben von damals. Einfach mal um ein Feuer sitzen mit Freunden und über Gott und die Welt reden. Solche Sachen gehen in unserer Zeit leider unter und werden viel zu selten gemacht. Natürlic h ist auch das Kulinarische nicht zu vergessen. Ab und zu kochen wir auch Rezepte nach „Wikinger-Art“. Rezepte dazu finden wir im Internet oder in Facebook-Gruppen. Jeannine in- vestiert mittlerweile auch viel Zeit mit Nähen und Sticken und setzt sich viel mit den histori- schen Schnitten, Mustern und Symbolen auseinander. Wir investieren viel Zeit in das Ganze. Ein Hobby würden wir das Ganze nicht mehr nennen. Mittlerweile ist es eine Leidenschaft geworden.

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Mittelalter Digital: Es gibt international ja eine recht rege und vernetzte Viking-Reenactment- szene. Zählt ihr euch dazu und könnt uns einen Einblick geben, was das überhaupt ist und was man dort so macht?

Steel, Blood and Love: Nein, wir zählen uns nicht dazu. Viele unserer Gewandungen sind eher LARP-Gewandungen, also Fantasy – sie sind nicht authentisch. Viking-Reenactment heißt, dass man die Wikinger so darstellt, wie sie damals gelebt haben. Am besten kann man seine Gewandung und Interpretationen noch mit archäologischen Funden belegen. Wir haben ein paar Gewandungen, die historisch inspiriert sind, also ein paar historisch korrekte Elemente enthal- ten. Aber obwohl wir viel über die Wikinger wissen, wie sie gelebt und sich gekleidet haben, sind unsere Wikingerdarstellungen nicht authentisch und haben einige Fantasy-Elemente (Schulterfelle, Armschützer etc.). Viel ist von Filmen oder Serien inspiriert. In Zukunft möchten wir auf jeden Fall etwas mehr in die Reenactment-Richtung gehen und unsere Reichweite nutzen, um die Leute etwas über die „richtigen“ Wikinger aufzuklären.

Mittelalter Digital: Das Interessenspektrum eures Instagram-Kanals umreißt ihr mit: viking • medieval • fantasy • wasteland: Das sind ja Kategorien, die irgendwie miteinander zusammen- hängen und dann doch wieder recht unterschiedlich sind. Wie nähert ihr euch den Wikingern und woher gewinnt ihr Informationen und Inspirationen? Sebastian z. B. könnte ja 1 zu 1 in ›Vikings‹ mitspielen. Spielt Forschungsliteratur für euch eine Rolle?

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Steel, Blood and Love: Ja, wir haben ein großes Spektrum an Bildern. Wer ein bisschen durch unser Profil scrollt, findet auch noch ein paar Bilder von unserem die „Schöne und das Biest“- Cosplay. Das Kostümieren und in andere Rollen zu schlüpfen ist uns beiden bereits in die Wiege gelegt worden. Seit klein auf sind wir Fasnächtler und lieben die fünfte Jahreszeit im Jahr. Uns gefällt ein breites Spektrum, und das zeigen wir auch gerne. Um es kurz zu sagen, machen wir das, was uns gefällt. Wir haben auch schon überlegt, ein Piratenshooting zu ma- chen, aber da fehlen uns noch ein paar Requisiten. Aber von allen Themen, die wir darstellen, ist das Thema Wikinger, das was uns am liebsten ist.

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Inspirationen finden wir überall: Filme, Serien, Pinterest, Social Media etc. Manchmal inspi- rieren uns auch unsere Gewandungen oder die Locations. Man stellt aus Langeweile was Neues zusammen und hat gleich ein Bild im Kopf, das man umsetzen möchte. Oder wir richten unsere Darstellung nach den Locations aus. Also dass wir zuerst die Location haben und danach die Gewandung aussuchen. Eine Wikingerdarstellung passt zum Beispiel nicht in eine spätmittel- alterliche Burg. Informationen zu den Wikingern holen wir aus dem Internet oder aus Dokumentations- filmen. Forschungsliteratur spielt für uns keine große Rolle.

Mittelalter Digital: Auf den ersten Blick erkennt man den großen Aufwand, der in euren Ge- wandungen, Ausrüstungsgegenständen und Waffen steckt. Auf eurem Kanal findet man auch Stories, in denen Jeannie selbst Kleider näht. Gleichzeitig verweist ihr immer wieder auf Shops und Hersteller, über die sich die gezeigte Kleidung beziehen lässt. Wie viel von euren Sachen stellt ihr selbst her? Wie wichtig ist euch, dass eure Kleidung und Gegenstände möglichst au- thentisch sind, und gibt es Hersteller, die eures Erachtens solche Sachen anbieten?

Steel, Blood and Love: Wie bereits erwähnt, sind wir bestrebt, darin immer etwas Neues dar- zustellen. Darum haben wir auch eine große Auswahl an Gewandungen und Requisiten. Der größte Teil von unserer Ausrüstung ist gekauft. Teilweise fehlt einfach die Zeit, um alles selbst herzustellen. Jeannine gibt sich immer Mühe, neue Outfits zusammenzustellen. Wenn wir am Wochenende ein Fotoshooting haben, fängt sie bereits Mitte Woche an, alles zusammenzustel- len, damit es stimmig ist und etwas Neues. Bis zum Wochenende stellt sie dann alles noch ein paar Mal um, bis die mit dem Ergebnis zufrieden ist.

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Wenn mal nichts Passendes da ist, greift Jeannine zur Nähmaschine und näht kurzerhand selbst was Passendes. Jeannine ist der kreative Kopf mit Zauberhänden von uns beiden. Wenn sie eine Idee hat, dann setzt sie es auch um und gibt sich nicht zufrieden, bis es so aussieht, wie sie es sich vorstellt. Manchmal will man auch einfach etwas Einzigartiges haben, etwas, das nicht alle anderen auch haben. Es gibt Gewänder, die haben viele im Schrank, da möchte man sich ein bisschen abheben und etwas Individuelles haben. Zudem erfüllt es einem schon ein bisschen mit Stolz, wenn man etwas Selbstgenähtes trägt und nicht etwas von der Stange. Jeannine hat auch schon gekaufte Kleider mit einer Stickerei versehen, damit es sich von den anderen unter- scheidet. Authentizität spielt dabei keine große Rolle. Zuletzt hat Jeannine für unser „Outlander“-Shooting ein Kleid genäht. Sie hatte nichts Passendes für ein 18. Jahrhundert-Shooting und anstatt sich etwas zu bestellen, hat sie lieber selber zu Nadel und Faden gegriffen und sich ein Kleid genäht. Auch weitere Projekte sind geplant. Aber natürlich kaufen wir auch nach wie vor noch Gewandungen und Accessoires von Händlern und Onlineshops. Wenn uns was gefällt, dann kaufen wir es auch gerne. Es gibt aber auch Händler, die authentische Einzelanfertigungen machen. Ein Beispiel ist ›Thorids Gewandungen‹. Sie stellt alles in Handarbeit mit sehr viel Liebe zum Detail her. Lei- der haben wir noch nichts bei ihr gekauft, aber ihre Arbeiten sehen toll aus. Natürlich gibt es auch andere Handwerker, die maßgefertigte und handgemachte Werke anbieten. Alle aufzuzäh- len, würde aber den Rahmen dieses Interviews sprengen.

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Aber auch von der Stange kann man schon gute Kleidung kaufen. Besonders wenn man erst am Anfang von Reenactment ist und/oder nicht das nötige Geld hat, um sich die Gewandungen und Accessoires anfertigen zu lassen, oder wenn einem das Können fehlt, sich die Kleider selber zu nähen. Hierzu eignen sich ›Leonardo Carbone‹ oder ›Burgscheider‹. Beide haben tolle Basics, aus welchen sich gute Wikingergewandungen zusammenstellen lassen.

Mittelalter Digital: Wilde Flüsse, alte Wälder, Burgruinen: Ihr legt auch viel Wert auf die Orte und Kulissen, in denen fotografiert wird. Wie findet ihr passende Locations und wo seid ihr schon überall gewesen?

Steel, Blood and Love: Die meisten Locations auf den Bildern sind in der Schweiz und finden wir per Zufall. Wir halten immer die Augen offen nach schönen Orten, die uns die Natur schenkt. Sei es beim Wanden, Spazieren oder wenn wir mit dem Auto unterwegs sind. Oft stolpern wir auch im Internet über Locations. Aber auch unserer Freunde und Familie helfen uns, neue Locations zu finden, und empfehlen uns großartige Orte. Auch die Fotografen haben ihre Geheimtipps. Wir waren jedoch auch schon in Deutschland zum Shooten. Besonders in der Region rund um Dortmund. Wir haben da einige Wikinger- und Fotografenfreunde, die wir ab und zu besu- chen. Zudem findet dort jedes Jahr der ›Phantastische Lichter Weihnachtsmarkt‹ (PLWM) statt, den wir gerne besuchen. Es ist immer eine schöne Stimmung dort und ein etwas anderes Weih- nachtserlebnis. Leider fällt auch dieser dieses Jahr Corona zum Opfer.

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Aber auch in unserem Urlaub können wir nicht aufs Shooten verzichten. Letztes Jahr haben wir einen zweiwöchigen Roadtrip durch die Normandie und die Bretagne gemacht. Natürlich hatten wir auch einen Teil unserer Gewandungen dabei, damit wir die eindrücklichen Landschaften, Ruinen, Schlösser, Megalithen und Steinreihen auf unsere Weise bildlich festhalten konnten.

Mittelalter Digital: Die Beliebtheit von Wikingern ist aktuell ja nicht von der Hand zu weisen: Was glaubt ihr, macht das Thema für uns Menschen heute so attraktiv? Und was fasziniert eure Fans speziell an eurem Kanal?

Steel, Blood and Love: Serien wie ›Vikings‹, ›Berserkers‹ oder ›The Last Kingdom‹ sind sehr populär. Auch das neue ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ pusht den Hype um die Wikinger. Das Bild von den furchtlosen Wikingern und tapferen Schildmaiden scheint die Leute zu faszinieren. Wir denken, dass die Abwechslung unserer Bilder unseren Kanal interessant macht. Wir haben viele verschiedene Outfits und versuchen immer etwas anderes darzustellen. Auch unsere tierischen Shooting-Partner, wie zum Beispiel Rentiere, Schottische Hochlandrinder, Greifvö- gel oder Wolfshunde helfen uns dabei, andere Szenen darzustellen und machen viele Fotos noch spannender. Wir achten auch immer darauf, dass unser Feed immer abwechslungsreich ist.

Mittelalter Digital: Würdet ihr gerne einmal Urlaub bei den „echten“ Wikingern machen? Wenn ja, welche Zeit und welchen Ort würdet am liebsten besuchen?

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Mittelalter Digital Themenheft Wikinger und Normannen

Steel, Blood and Love: Es wäre spannend einmal zu sehen, wie das Leben damals wirklich war. Jedoch denke ich, dass wir uns das Leben bei den Wikingern viel schöner vorstellen als es wirklich war. Daher würde ich sagen, dass ein Urlaub sicherlich spannend wäre, aber wir wären genau so froh, wieder in unserer Zeit zu leben. Jeannine würde gerne den Alltag beobachten. Also einfach ein Teil in einer Wikingersiedlung sein und die Handwerkskünste der Wikinger anschauen und sich das Wissen ein bisschen aneignen. Sebastian würde gerne bei einem Schlachtzug dabei sein. Speziell beim Angriff auf die Sachsen 793 n. Chr.

Mittelalter Digital: Nun geht es mit großen Schritten auf den Winter zu. Zieht ihr euch nun auch erst einmal in eure Methalle zurück? Was habt ihr Spannendes für die Zukunft geplant?

Steel, Blood and Love: Ein Rückzug ist sicherlich nicht geplant. Vielmehr freuen wir uns auf die kalte Jahreszeit. Denn auch der Winter hat seine schönen Facetten. Generell ist der Winter, neben dem Herbst, unsere Lieblingsjahreszeit. Der Schnee hat immer etwas Magisches. Wir haben auch bereits ein paar Shootings im Winterzauber geplant. Wir sind jetzt schon an einem Punkt, von dem wir niemals gedacht hätten, dass wir sowas jemals erreichen werden. Ein Ende ist auf jeden Fall noch nicht in Sicht. Was die Zukunft bringt, werden wir sehen.

Mittelalter Digital: Ihr Lieben, ganz herzlichen Dank für die tiefen Einblicke in eure Welt!

Das Interview führte Lukas Boch.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger und Normannen: Eine Einleitung (Tobias Enseleit)

Wikinger und Normannen: Eine Einleitung

von Tobias Enseleit

Unheil versprechende Drachenboote, bärtige Mordbuben, metgeschwängerte Nächte, tapfere Schildmaiden, Mord und Todschlag – kein mittelalterliches Themenfeld erfreut sich gesamtgesellschaftlich derzeit so großer Beliebtheit wie die Wikinger und Norman- nen. Die gesamte Medienlandschaft wird von ihnen heimgesucht: ›The Last Kingdom‹ und ›Vikings‹ fesseln seit Jahren Serienfans, zahlreiche unbekanntere Produktionen überschwemmen in ihrem Fahrwasser die Filmsparte, mit ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ steht brandaktuell die Videospiellandschaft in Flammen und in einer regen Reenactment- Community wird das Frühmittelalter wieder zum Leben erweckt. Das Interesse an Wi- kingern und Normannen und die Beschäftigung mit ihnen ist groß. Wir nähern uns aus- gehend vom populärkulturellen Diskurs überblicksartig dem Thema.1

Wikinger und Normannen in heutiger Vorstellung

Die eingangs skizzierten Vorstellungen sind breites Allgemeingut. Wir haben im Hinblick auf Wikinger und Normannen (von Wikingern wahrscheinlich noch mehr als von Normannen; zur Definition und Unterscheidung gleich mehr) heute ganz konkrete Vorstellungen von ihrem

1 Vgl. einführend zu dem Thema aus der Fülle der Literatur Simek 2005; Ders. 2008; Houben 2012; Plass- mann 2008.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger und Normannen: Eine Einleitung (Tobias Enseleit)

Aussehen, ihrem Lebensstil, ihrer Kleidung, ihren Waffen, den Gegenständen, die sie herge- stellt und verwendet haben. Geflochtene Zöpfe, Undercuts, Tätowierungen im Gesicht und auf dem Körper, Lidschatten und Schulterfelle – selbst das letzte Detail ist uns augenscheinlich. Doch sind Vorstellungen von Geschichte alles andere als in Stein gemeißelt. Sie spiegeln jeweils aktuelle Fragestellungen, gesellschaftliche Narrative und Moden wider. Sie werden da- mit von jenen, die sich mit Geschichte auseinandersetzen, immer wieder neu konstruiert. Dabei können ältere Traditionslinien genauso eine Rolle spielen wie neue wissenschaftliche Erkennt- nisse und Einflüsse aus anderen Bereichen. Dass die ohnehin schwierige Kategorie der „historischen Wirklichkeit“ oder „Wahrheit“ immer wieder neu ausgehandelt wird, lässt sich schnell an den Differenzen in den Geschichts- vorstellungen verschiedener Generationen erkennen. Trugen etwa die raubeinigen, prinzipien- treuen Wikinger in ›Prinz Eisenherz‹ (USA 1954; Regie: Henry Hathaway) noch ihre modi- schen Hörnerhelme und frönten ›Die Wikinger‹ (USA 1958; Regie: Richard Fleischer) mit ih- ren zotteligen Bärten noch Saufgelagen und Frauenraub, so haben sich die Inszenierungen der letzten Jahrzehnte im selbst postulierten Anspruch, Geschichte authentischer und realistischer darzustellen, von der Theateraufmachung der früheren Jahre weit entfernt.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger und Normannen: Eine Einleitung (Tobias Enseleit)

Unser Bild von den Wikingern ist im steten Wandel begriffen. Die hörnerhelmtragenden Wikinger aus ›Prinz Eisenherz‹ (Bild 1) entspringen unserem Empfinden nach direkt der Klischeekiste, die tätowierten Gesellen aus ›Vikings‹ (Bild 2) (noch) nicht. Gleichzeitig spielt in der komplexen Gemengelage, in der unsere Geschichtsvorstellungen konstruiert werden, auch der fantasti- sche Bereich eine Rolle. Im Videospiel ›Baldur’s Gate 2‹ etwa (Bild 3), das auf dem Regelwerk von ›Dungeons & Dragons‹ basiert, gibt es als spielbare Charakterklasse den Berserker als Spezialisierung des Barbaren. Dass in diesem Beispiel der Berser- ker noch ein Zwerg ist und gleichzeitig einen modischen Hörnerhelm trägt, schließt den Rezeptionskreis.

Kulminationspunkt dieser facettenreichen Entwicklung, die viele Etappen in allen Bereichen der Medienlandschaft (dazu zählt auch der riesige Fantasybereich) zu passieren hatte, ist die Serie ›Vikings‹ (Kanada / Irland 2013; Idee: Michael Hirst), die seit ihrer Erstausstrahlung im Jahr 2013 wiederum viele nachfolgende Wikingerinszenierungen beeinflusst hat. Solche „Su- perspreader“, die auch etablierte Darstellungstraditionen durchbrechen können, lassen sich im Großen und Kleinen immer wieder beobachten. Sie entstehen dadurch, dass sie medienüber- greifende Darstellungsflüsse kanalisieren, zu etwas überzeugendem Homogenem zusammen- führen und dergestalt unter dem Label des Authentischen mit großer Strahlkraft weiterverbreiten. Aufgrund ihrer großen Rezeption und der aggressiven und überzeugenden Vermarktung, das Dargestellte sei besonders authentisch und auf dem neuesten Stand wissenschaftlicher Er- kenntnis, beeinflussen solche Produktionen gesamtgesellschaftlich Vorstellungen von Ge- schichte und prägen auf diese Weise unsere Geschichtskultur, insbesondere auch deshalb, weil wir gemeinhin möglichst authentischen Darstellungen ein hohes Maß an Qualität zugestehen. Wir möchten wissen, wie es wirklich war, und so sind Produktionen, die ein authentisches Er- lebnis versprechen, für uns besonders attraktiv. Nicht zuletzt deshalb und aufgrund der weit geringeren Strahlkraft wissenschaftlicher Arbeiten, die sperriger, aufwendiger, für viele entwe- der langweiliger oder aufgrund fachlicher Hürden gar nicht zu rezipieren sind, sind entspre- chende populärkulturelle Inszenierungen auch ins akademische Visier von Geschichtsdidaktik, Public History und Fachwissenschaften geraten.

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Was dann geschieht, läuft nach dem immer selben Schema ab: Zuerst wird eine groß angekündigte, millionenschwere und als besonders realistisch beworbene Produktion veröffent- licht. Unzählige Menschen rezipieren sie, vornehmlich auch unter der für die qualitative Be- wertung wichtigen Frage, wie authentisch, historisch korrekt, triftig (die Synonyme sind Le- gion) das Gezeigte sei. Einzelaspekte werden kurz darauf in Fanforen, auf YouTube und Reddit rauf- und runterdiskutiert, (vermeintliche) Experten geben ihrerseits ihre Meinung ab, und Mo- nate oder gar Jahre später finden dann fundiertere Einschätzungen Eingang in Fachliteratur – zu einem Zeitpunkt, wo das Besprochene schon längst aus der allgemeinen Wahrnehmung wie- der verschwunden oder ersetzt worden ist. Die Debatte um Authentizität, Echtheit und Realismus wird also vornehmlich in der brei- ten, schnelllebigen Öffentlichkeit geführt, und das in besonderer Wechselwirkung mit dem Be- reich der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Geschichte. Insbesondere „authentische“ Produktionen werben damit, dass Fachmänner und -frauen am Entstehungsprozess beteiligt wa- ren. Ihr Einfluss auf das Endprodukt fällt in vielen Einzelfällen aber mehr als marginal aus, wodurch sie eher als Werbeschilder denn als wirkliche Fachberater fungieren (vgl. dazu etwa Zimmermann 2008).

Versprochener (böse Zungen würden sagen: vorgegaukelter) Realismus als vermeintliches Qualitätsmerkmal wie hier beim Vi- deospiel ›Kingdom Come: Deliverance‹ (2018) von Warhorse Studios ist im Marketing keine Seltenheit.

Wissenschaftliche Erkenntnisse fließen in aller Regel dort ein, wo sie bereits vorhandene Er- wartungshaltungen und Sehgewohnheiten nicht torpedieren. Und eben jene Erwartungshaltun- gen und Sehgewohnheiten der (geldgebenden) Rezipienten, die sich wiederum wie dargestellt vornehmlich aus breitenwirksamen Inszenierungen generieren, sind es, denen Produzenten in erster Linie gerecht werden wollen und müssen.

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Für die Darstellung des „entzweiten“ Mittelalters (vgl. Oexle 1992) hat sich etwa das Bild einer düsteren, gewalttätigen, gleichzeitig aber auch heldenhaften Epoche durchgesetzt (das war früher einmal anders) – dort, wo heute keine finsteren Kirchenmänner ihr Unweisen trei- ben, wo keine Gliedmaßen abgehackt, keine Frauen geschändet und Intrigen gesponnen wer- den, dort werden Erwartungshaltungen unterlaufen und Rezipienten irritiert. In der Forschung hat sich daher in der Auseinandersetzung mit populärkulturellen Medien der Begriff der Au- thentizitätsfiktion etabliert. Unsere Geschichtsbilder verdanken sich also vornehmlich ihren populärkulturellen In- szenierungen (und ihrer oft viele Jahrzehnte alten Traditionslinien), weniger dem Schulbetrieb oder dem akademischen Bereich (die jeweils freilich wieder ihren oft nur kleinen Anteil an jenem großen Ganzen haben). Diesen Umstand kann man (muss man aber nicht) bedauern, benennen sollte man ihn aber in jedem Fall. Geschichtliche Themen waren seit je her und sind heute auch immer Projektionsfläche für verschiedene Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse, wodurch sie entsprechend inszeniert werden müssen (vgl. Huss 2020). So finden Wikinger und Normannen Eingang in die Kinderunterhaltung, sind Bestandteil seichter Erotikliteratur, gelten als tapfere Verteidiger einer ethnisch reinen Kultur oder stellen die ersten, an fremden Bräuchen interessierten Globalisierer dar. Diese verschiedenen Lesarten ein und desselben Gegenstandes schließen sich strenggenommen in vielen Aspekten gegenseitig aus und verdanken sich unter- schiedlichen Bedürfnissen, Geschichte zu verstehen, zu adaptieren und zu präsentieren.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger und Normannen: Eine Einleitung (Tobias Enseleit)

Nicht erst heutzutage werden Aspekte der Wikinger in mehr als grenzwertigen Niederungen verwendet, sei es – in historischer Perspektive – im Nationalsozialismus (Bild 1 zeigt die auf Grundlage des Runenalphabets entstandene Doppelsig-Rune der Schutzstaffel, die in rechten Kreisen heute noch Symbolwert besitzt) oder heute in der Memekultur des Internets. Bezeichnender Weise müssen dafür ungefragt auch bekannte Gesichter aus populärkulturellen Inszenierungen herhalten, wie etwa der Schau- spieler Clive Standen (Bild 3), der den Wikinger Rollo in der Serie ›Vikings‹ spielt.

In Mainstream-Produktionen möchten wir Protagonisten, mit denen wir uns identifizieren kön- nen (daher werden sie meist von attraktiven Menschen mit gesunden Zähnen gespielt, daher ist auch das Mittelalter heute voller starker, emanzipierter Frauen), Themen behandelt sehen, die uns auch in der Alltagswirklichkeit umtreiben (daher die große Beschäftigung mit Freiheit auch in Mittelalterproduktionen), oder Bösewichte, die uns erschaudern lassen (in unserer säkularen Gesellschaft nicht selten verkörpert von folterwütigen und geldgierigen Vertretern der Institu- tion Kirche). All diesen Vorgaben sind entsprechend auch jene Produktionen unterworfen, die sich möglichst authentisch und realistisch geben. Ihrem Anspruch, historische Wirklichkeit darzu- stellen, kann man nicht zuletzt deshalb nur mit Skepsis begegnen. „Problematisch“ sind solche Produktionen einerseits auch deshalb, weil sie selbst nicht transparent machen, worin sich ihr Anspruch begründen soll (etwa indem aufgezeigt wird, welche Quellen und Sekundärliteratur rezipiert und auf welche Weise diese adaptiert wurden), und andererseits, weil sie – anders als etwa Parodien – die Grenzen zwischen Fiktion und Fakten (sofern es sie überhaupt gibt) ver- schwinden lassen. Es sollte daher bei einer sinnvollen wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht darum gehen, aufzuzeigen, was einer Produktion nun realistisch ist und was nicht (hier verstrickt man

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger und Normannen: Eine Einleitung (Tobias Enseleit) sich ohnehin nur in Grabenkämpfen), sondern vielmehr um die Frage, auf welche Weise und mit welchen Mitteln uns eine Produktion überzeugt, authentisch und realistisch zu sein. Das mag auf den ersten Blick wie methodische Haarspalterei wirken, entbindet aber davon, Insze- nierungen unter diesem Gesichtspunkt als falsch oder richtig und damit als schlecht oder gut zu bewerten und sensibilisiert weit stärker für die Rezeptions- und Adaptionsmechanismen, denen unser geschichtskultureller Betrieb auf verschiedenen Ebenen unterworfen ist.

Wer waren die Wikinger und Normannen?

Nachdem wir nun gesehen haben, dass unsere Wikinger im Grunde genommen heute genauso konstruiert und damit so realistisch bzw. unrealistisch sind wie die hörnerhelmtragenden Wi- kinger unserer Großelterngeneration sind, zeichnen wir – im gebotenen Rahmen – nach, was wir aus fachwissenschaftlicher Sicht über Wikinger und Normannen aussagen können. Wir haben nun bereits in aller Ausführlichkeit und mit aller Selbstverständlichkeit die Begriffe „Wikinger“ und „Normannen“ verwendet. Tatsächlich birgt aber bereits ihre Verwen- dung aus zwei Gründen die ersten Schwierigkeiten. Wieso? Erstens war die Kultur der Wikin- ger in ihrer Frühzeit (dazu gleich mehr) nahezu schriftlos. Historiographie Werke aus jener Zeit existieren von ihnen nicht; wohl aber von christlichen Autoren aus den umliegenden Reichen, die über die Wikinger geschrieben haben. Damit können wir abseits von archäologischen Quel- len und einigen Runenschriftstücken die „frühen“ Wikinger vornehmlich nur „von außen“ be- trachten, aus der Warte von Männern, die in Gemeinschaften lebten, die eine andere Kultur, Sprache und Religion als die Wikinger hatten, über keine oder nur geringe Einblicke in deren Alltagsleben verfügten und zu allem Überfluss von diesen noch überfallen wurden. Viele In- formationen insbesondere aus dem Kultur-, Kult- und Alltagsleben der Wikinger entstammen späteren skandinavischen Quellen wie z.B. den sog. Sagas. Die Beschäftigung mit ihnen ist aufgrund ihrer zeitlichen Entfernung und ihrer literarischen Form mit methodischen Schwierig- keiten verbunden, insbesondere dann, wenn man aus ihnen belastbare Anhaltspunkte gewinnen möchte, wie das Leben der Wikinger vorher ausgesehen mag. Ein Zweites kommt hinzu: Obwohl heute selbstverständlich in Gebrauch, wird der Begriff „Wikinger“ in Quellen im Vergleich sehr selten verwendet. Im Letzten ist nicht einmal geklärt, was der Begriff etymologisch genau bedeutet, wobei er gemeinhin mit „Seeräuber“ übersetzt wird (Stankovitsová 2020 beschäftigt sich ausführlicher mit dem Begriff „Wikinger“). Die al- lermeisten lateinischen Quellen sprechen stattdessen von „Normannen“ oder bezeichnen die Männer, die aus Skandinavien kamen, um zu brandschatzen, zu plündern und später eigene

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Herrschaften zu errichten, zusammenfassend als Dänen, Heiden oder Piraten (während östliche Quellen den Begriff Rus‘ verwenden). Quellennäher wäre es demnach, nicht von Wikingern, sondern von Normannen zu spre- chen. Stattdessen hat sich heute eingebürgert, mit Normannen vornehmlich jene Nachfahren skandinavischer Einwanderer zu bezeichnen, die sich erst in der Normandie (denen sie ihren Namen verdankt) und in der Folge in vielen Regionen Europas niedergelassen und sich dabei gleichzeitig den hiesigen kulturellen Gegebenheiten angepasst haben – indem sie etwa die vor- herrschende Sprache oder den christlichen Glauben annahmen.

Wikinger und Normannen sind in der Welt weit herumgekommen: Die violetten Bereiche zeigen die ursprünglichen Siedlungs- bereiche, die blauen die späteren Landnahmen (Bildnachweis: © Mediatus (H.J.), CC BY-SA 3.0).

Mit den Begriffen Wikinger und Normannen werden heute also Bevölkerungsgruppen benannt, die – vereinfacht gesprochen – zwar eine gemeinsame Vergangenheit und Herkunft teilen, chro- nologisch aber aufeinander folgen und kulturell, sprachlich und religiös unterschiedlich situiert sind: Dort die heidnischen Skandinavier, die seit Ende des 8. Jahrhunderts die umliegenden Reiche heimgesucht haben, hier deren Nachfahren, die außerhalb von Skandinavien eigene Herrschaften erstritten und dabei eine tiefgreifende kulturelle Veränderung erfahren haben. Während die Wikinger heute grundlegend noch stark barbarische Aspekt aufweisen, stellen die Normannen die höfischen Ritter par excellence dar (auch wenn sie ungeachtet dessen in der Populärkultur auch wieder hervorragende Bösewichte abgeben können). Wikinger und Normannen sind also für uns gut handhabbare Sammelbezeichnungen, die dabei helfen, die facettenreiche und lange Geschichte der Männer und Frauen aus dem Norden zu vereinfachen und so zu bewältigen. Tatsächlich lässt sich in den Quellen ein „normannisches

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Zusammengehörigkeitsgefühl“ erahnen. Das heißt aber im Umkehrschluss nicht, dass Wikinger und Normannen als ein homogener, blutsverwandter „Volkskörper“ angesehen werden dürfen. Vielmehr handelte sich um Personenverbände, die zwar durch die Klammer einer gemeinsamen Sprache, Kultur und Religion zusammengehalten wurden, dabei aber auch immer offen waren, Fremdes und Nützliches zu inkorporieren. Nicht zuletzt deshalb verwundert es auch nicht, dass in zahlreichen Fällen Wikinger gegen Wikinger und Normannen gegen Normannen gekämpft haben.

Das Zeitalter der Wikinger

Die Wikingerzeit lässt man gemeinhin mit dem Jahr 793 n. Chr. beginnen. Zwar gab es bereits in den Jahren zuvor vereinzelte Überfälle von Skandinaviern, aber der Angriff auf das berühmte Kloster Lindisfarne in diesem Jahr stellt nicht nur in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung ein einschneidendes Ereignis dar, sondern bildet auch den Auftakt für eine bisher nie dagewe- sene Reihe von immer regelmäßiger durchgeführten Übergriffen, die sich in den folgenden Jahrzehnten und Jahrhunderten zu regelrechten Invasionen ausdehnten, von denen besonders die englische Insel sowie die fränkischen Reiche betroffen sein sollten.

Mit dem Tod Haralds des Harten und der Vernichtung seiner norwegischen Armee endet 1066 das Zeitalter der Wikinger. Die Darstellung aus dem 13. Jahrhundert zeigt die Kombattanten als hochmittelalterliche Ritter (Bildnachweis: Matthäus von Paris, Vita Eduards des Bekenners, Cambridge, Cambridge University Library, MS Ee.3.59, 13. Jh., f. 32v).

Blutiger Endpunkt der Wikingerzeit einerseits und gleichzeitig triumphaler Auftakt der nor- mannischen Erfolgsgeschichte ist das Jahr 1066. In diesem Jahr fanden auf englischem Boden in kurzer Abfolge zwei Geschichte schreibende Schlachten statt: bei Stamford und bei

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Hastings. In beiden versuchte der angelsächsische Herrscher Harald II. Godwinson sein König- reich gegen Invasoren zu verteidigen. Bei Stamford Bridge, wenige Kilometer östlich der Stadt York in Nordengland, gelang ihm dies noch gegen den norwegischen König Harald den Harten, der mit seinen Kriegern von den Angelsachsen überrascht wurde. Die vernichtende Niederlage der Norweger beendete die von Skandinavien, wo sich in der Zwischenzeit selbst größere Herr- schaftsverbände ausgebildet hatten, ausgehenden Invasionsambitionen. Lediglich knapp drei Wochen später wurde das geschwächte Heer Haralds von den Krie- gern des normannischen Herzogs Wilhelm bei Hastings vernichtet. Harald Godwinson fand den Schlachtentod, während Wilhelm als Eroberer weiter nach London zog und sich die Königs- krone aufsetzte. Ein einschneidendes und weitreichendes Ereignis für die englische Geschichte, während sich zur selben Zeit bereits ursprünglich aus der Normandie stammende Normannen in Süditalien etablierten und bis ins Heilige Land zogen. Während also das Zeitalter der Wikin- ger sein Ende fand, stand jenes der Normannen erst an seinem Anfang.

Aufbruch in die Welt – die Wikingerschiffe

Die Gründe, aus welchen Skandinavier am Ende des 8. Jahrhunderts ihre Heimat verließen, um in umliegenden Ländern für Furore zu sorgen, sind bis heute nicht restlos geklärt. Zogen sie los aufgrund von Überbevölkerung und Versorgungsengpässen? Spielten Fehden auf Leben und Tod oder Verbannungen eine Rolle? Waren Abenteuerlust, Ruhmsucht und Beutegier die Aus- löser? Waren die Plünderfahrten gleichzeitig Initiationsriten junger Männer? Wahrscheinlich spielten alle Gründe im langen Zeitalter der Wikingerraubfahrten mal mehr, mal weniger eine Rolle. Als gesichert kann gelten: Die Wikinger zogen in die Fremde, weil sie es konnten.

Ob es sich bei den Seereisen aber nun um militärische Expeditionen oder Handelsreisen, Entdeckungsfahrten oder Kolonisationsunternehmen handelte, das Schiff war für alle wi- kingerzeitlichen Aktivitäten unabdingbar und kann zweifellos als eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen für die skandinavische Expansion der Wikingerzeit gewertet werden.

– Simek 2005, S. 38.

Ausschlaggebend dafür, dass sie große Entfernungen überhaupt überbrücken konnten, waren ihre Boote und Schiffe, für die sie bis heute berühmt sind. Erst die Entwicklung (hoch)seetüch- tiger und schneller Segelschiffe ermöglichte es, Menschen und Material sicher und zielgerichtet zu transportieren. Segel wurden in Skandinavien irgendwann zwischen dem 6. und 8. Jahrhun- dert eingeführt und zeitigten Geschwindigkeiten, die selbst deutlich über der Reisegeschwin- digkeit motorisierter Schiffe zu Beginn des 20. Jahrhunderts lagen. Auf diese Weise dauerten

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Heutzutage hat man einige Wikingerschiffe wie das sog. Oseberg-Schiff, ein Prunkschiff aus Norwegen aus dem 9. Jahrhundert, gefunden und mitunter nachgebaut (Bildnachweise: © Hofi0006, CC BY-SA 3.0; Petter Ulleland, CC BY-SA 4.0).

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Gesteuert wurden die Schiffe mit einem achtern an der Steuerbordseite befestigten Ruder, wäh- rend die Kriegsschiffe über die ganze Länge hinweg auf beiden Seiten Ruderlöcher aufwiesen, die dann genutzt wurden, wenn man Mast und Segel, wie etwa in einem Gefecht, nicht einge- setzt werden konnten. Die flachkielige Konstruktion der Schiffe, die dadurch über kaum Tief- gang verfügten, erlaubte das Anliegen auf flachen Stränden und den Transport über Land mit- hilfe von Rollen. Die Schiffe Wikinger boten auf diese Weise eine hohe Flexibilität, insbeson- dere bei militärischen Manövern. Die Annalen von St. Bertin berichten etwa für das Jahr 837 anschaulich davon, wie Wi- kinger blitzschnell Ortschaften überfallen und plündern und sich beim ersten Anzeichen von Ärger wieder zurückziehen:

Ea tempestate Nordmanni inruptione solita Frisiam inruentes, in insula quae Vualacra di- citur nostros imparatos adgressi, multos trucidaverunt, plures depraedati sunt. Et ali- quamdiu inibi commorantes, censu prout libuit exacto, ad Dorestadum eadem furia per- venerunt, tributa similiter exegerunt. Quibus imperator auditis, pretermisso memorato iti- nere, ad Noviomagum castrum vicinum Dorestado properare non distulit. Cuius adventu Nordmanni audito, continuo recesserunt.

– Grat / Vielliard / Clémencet 1964, S. 21.

Die Nordmänner fielen zu seiner Zeit mit ihrem üblichen Überraschungsangriff in Fries- land ein. Als sie auf einer Insel namens Walcheren über unser unvorbereitetes Volk herfie- len, schlachteten sie viele ab und plünderten noch mehr. Sie blieben eine Zeit lang auf der Insel und erhoben so viel Tribut, wie sie wollten. Dann fielen sie mit derselben Wut über Dorestad her und forderten auf dieselbe Weise Tribut. Als der Kaiser von diesen Angriffen erfuhr, verschob er seine geplante Reise nach Rom und eilte unverzüglich zum Fort Nim- wegen in der Nähe von Dorestad. Als die Nordmänner von seiner Ankunft dort erfuhren, zogen sie sich sofort zurück.

Doch die Wikingerschiffe waren nicht nur bloße Kriegs- und Transportfahrzeuge; ihr Einsatz spielte für die Kultur der Wikinger eine entscheidende Rolle. Aufwendig gestaltet und verziert, waren an den Stevenenden Drachenhäupter genauso verbreitet wie jene anderer (mythologi- scher) Kreaturen, denen die Schiffe – jedenfalls nach Ausweis der Skaldendichtung – ihren Namen verdanken konnten, wie z.B. ulfr elfar (Wolf der Flüsse) oder Ormr inn langi (Lange Schlange) (vgl. knapp Simek 2005, S. 47).

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Eindrucksvolles Zeugnis für die Sachkultur des 11. Jahrhunderts ist der berühmte Teppich von Bayeux, der die Geschichte der normannischen Eroberung Englands aus Sicht der Sieger zeigt. Auch die Schiffe der Normannen, mit denen sie von der Nor- mandie aus über den Ärmelkanal nach Südengland übergesetzt sind, verfügten nach Ausweis des Teppichs über gestaltete Häupter.

Die Schiffe der Wikinger bildeten als technische High-End-Produkte die Grundvoraussetzung für ihre Expansion. Ihre Schnelligkeit und Flexibilität ermöglichten es den Wikingern, selbst entlegene Orte zu erreichen, andere Bevölkerungsgruppen überraschend zu überfallen und Ver- geltungsmaßnahmen ausweichen zu können.

Von Räubern zu Eroberern

Der Zeitraum, den wir heute als Wikingerzeit bezeichnen, lässt sich grundlegend in drei Phasen einteilen, die sich zeitlich oder regional durchaus überlagern konnten: a) Saisonale Raubzüge: Spätestens nach dem Überfall auf das Kloster Lindisfarne setzte im Rhythmus der Jahreszeiten eine Welle regelmäßig stattfindender Plünderfahrten ein, zuerst in England, mit etwas Verspätung ab 834/35 auch vermehrt im Frankenreich. Die Raubzüge waren so erfolgreich, da es keine organisierte Zentralgewalt gab, die eine koordinierte Vertei- digung hätte organisieren können. Das Überraschungsmoment, die Schnelligkeit der Wikinger und die relative Hilflosigkeit der lokalen Herrscher taten ihr Übriges. b) Überwinterungen: Immer wieder waren auf Inseln gelegene Stätten wie Lindisfarne oder die Handelsstadt Dorestadt Ziel von Wikingerangriffen. Wikinger nutzten Inseln aber auch regelmäßig als Stützpunkte. Diese waren einerseits für sie gut zu erreichen und boten ausrei- chend Schutz vor Feinden sowie die Möglichkeit zur Flucht, andererseits ließen sich auf diese Weise Flüsse und Wasserstraßen – die wichtigsten Handels- und Kommunikationswege der

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Zeit – beherrschen. Nach und nach etablierten sich gestützte Standorte, die auch in den Winter- monaten nicht aufgegeben wurden.

In Frankreich und England markieren die Überwinterungen den allmählichen Übergang von den Plünderfahrten zum Eroberungskrieg, und vom Eroberungskrieg zu permanenter Siedlung. Aus diesen Eroberungszügen gingen insgesamt drei skandinavische Reiche her- vor: das irische um Dublin, das englische Danelag, und, am erfolgreichsten und dauerhaf- testen, das normannische Herzogtum Normandie.

– Simek 2005, S. 52. c) Landnahmen: Eben diese Landnahme läuteten einen neuen Abschnitt im Zeitalter der Wi- kinger ein. Aus den Räubern, die in den schönen Monaten des Jahres auftauchten und zügig wieder verschwanden, wurde für die einheimischen Mächte nun eine Macht, die nicht länger nur lästig war, sondern zur existentiellen Bedrohung avancierte. Besonders merkten dies die englischen Inseln, von den Orkneys und Shetlands, bis nach Schottland, Irland und zu den an- gelsächsischen Reichen Nord-, Mittel- und Südenglands. Die Land(über)nahme der Wikinger hat dort bis heute Einfluss auf Ortsnamen und das Erbgut der Bevölkerung. In England begannen die Überwinterungen zwischen den Jahren 850 und 865, die schließ- lich im großen heidnischen Heer mündeten. Bereits 866 wurde York in Northumbria von Wi- kingern erobert, 872 bis 874 das Königreich Mercia. Einzig das Königreich Wessex unter sei- nem König Alfred konnte erfolgreich Widerstand leisten, sodass sich im Jahr 886 Alfred von Wessex und die Skandinavier darauf einigten, das Land unter sich aufzuteilen, in einen süd- westlichen angelsächsischen und einen nordöstlichen skandinavischen Teil, das sog. Danelag („dänisches Recht“). Versuche der Wikinger, tiefer in West- und Südengland Fuß zu fassen, wurden von Alfred zerschlagen, der bei seinem Tod 899 geschafft hatte, die skandinavische Expansion zum Erliegen zu bringen. Populärkulturelle Inszenierungen der Wikingerzeit spielen aktuell vornehmlich in diesem Zeitraum der geographischen und kulturellen Umwälzung. Mit dem 10. Jahrhundert begann dann unter Alfreds Sohn Edward die Rückeroberung des Danelags, der 920 als König von Northumbria anerkannt wurde. Auch wenn es immer wieder zu politischen Veränderungen kam, mehrten sich die Überfälle von Wikingern erst wieder ab 980. Die Angelsachsen sahen sich gezwungen, einen temporären Frieden mit immer horrende- ren Geldsummen zu bezahlen (dem „Danegeld“), bis der Däne Sven Gabelbart, der übrigens Christ war, mehrere Invasionen nach England führte. Sie endeten mit der Vertreibung des am- tierenden Königs Æthelred und der Krönung Svens 1013, der damit bis zu seinem zeitnahen Tod im Februar 1014 König von England war.

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Noch erfolgreicher sollte in der Folge sein Sohn Knut sein, der die Eroberung Englands abschloss, nach dem Tod seines Bruders König von Dänemark und schließlich auch von Nor- wegen wird. Als weitsichtiger Staatsmann, Förderer der Kirche und dreifacher König darf er wohl als mächtigster Wikinger aller Zeiten gelten. Doch sein Vermächtnis währte nicht lange. Nachdem seine drei Söhne gestorben waren, wurde mit Eduard dem Bekenner nochmals ein Angelsachse zum König Englands ausgerufen, dessen Tod das Schicksalsjahr 1066 für die eng- lische, französische wie skandinavische Geschichte einläuten sollte. Auch das Frankenreich geriet seit dem ausgehenden 8. Jahrhundert immer wieder ins Vi- sier der Wikinger. Hier machten sich die Nordmänner insbesondere das Machtvakuum zu Nutze, das nach dem Tod Karls des Großen 814, spätestens mit der Absetzung Ludwigs des Frommen 833 zu spüren war, sodass ab 841 sowohl auf der Seine als auch auf der Loire Wi- kingerflotten ihr Unwesen trieben. 845 plünderten Wikinger zum ersten Mal Paris. Die Raubzüge rissen in den folgenden Jahrzehnten nicht ab, wobei es den Franken immer besser gelang, die Verteidigung ihrer Länder zu organisieren, bis sie zu Beginn des 10. Jahr- hunderts auf die folgenschwere Idee kamen, Wikingern Land zur Ansiedlung anzubieten unter der Auflage, eben jenes Land und damit alle dahinter liegenden Länder gegen andere Wikinger zu verteidigen. Im Jahr 911 schloss der Frankenherrscher Karl der Einfältige mit dem Wikinger (wahrscheinlich Dänen) Rollo den Vertrag von Saint-Clair-sur-Epte (vgl. Hattenhauer 1990). Rollo ließ sich taufen, nannte sich Robert und erhielt ein Gebiet am Unterlauf der Seine als Lehen, das er und seine Nachfolger zum Herzogtum Normandie formen sollten – von wo aus die Normannen gut 150 Jahre später England erobern sollten (vgl. zur Christianisierung der Normannen Kaufhold 2000). Wie selbstbewusst die normannischen Herzöge ihre eigene Geschichte formten, zeigt eine – mit Sicherheit nie so stattgefundene – Szene aus der Normannengeschichte des Dudo von St. Quentin, der im 11. Jahrhundert als Hofchronist tätig war und den Vertragsabschluss zwischen Rollo, der bei ihm bereits anachronistisch den Herzogtitel führt, und den Franken so schildert:

Statim Francorum coactus verbis, manus suas misit inter manus regis, quod nunquam pater eius, et avus, atque proavus cuiquam fecit. Dedit itaque rex filiam suam, Gislam nomine, uxorem illi duci, terramque determinatam in alodo et in fundo, a flumine Eptae usque ad mare, totamque Britanniam de qua posset vivere. Rolloni pedem regis nolenti osculari di- xerunt episcopi: Qui tale donum recipit, osculo debet expetere pedem regis. Et ille: Nun- quam curvabo genua mea alicusus genibus, nec osculabor cuiuspiam pedem. Francorum igitur precibus compulsus, iussit cuidam militi pedem regis osculari. Qui statim pedem re- gis arripiens, deportavit ad os suum, standoque defixit osculum, regemque fecit resupinum. Itaque magnus excitatur risus magnusque in plebe tumultus.

– Lair 1865, S. 169.

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Von den Worten der Franken angespornt, legte er sofort seine Hände zwischen die Hände des Königs, was weder sein Vater noch sein Großvater, noch sein Urgroßvater für einen Menschen getan hatten. Daraufhin gab der König seiner Tochter Gisla zur Frau desselben Herzogs, und er gab das bestimmte Gebiet vom Fluss Epte bis zum Meer als Allod und Besitz, und dazu die ganze Bretagne. Rollo war nicht bereit, dem König den Fuß zu küssen, und die Bischöfe sagten: - Wer ein solches Geschenk annimmt, sollte so weit gehen, dem König den Fuß zu küssen. Und er antwortete: - Ich werde niemals meine Knie vor irgendeinem Mann beugen, und ich werde niemals den Fuß eines Mannes küssen. Und so befahl er, angespornt durch die Gebete der Franken, einem seiner Krieger, den Fuß des Königs zu küssen. Und der Mann ergriff sofort den Fuß des Königs, hob ihn zum Mund und pflanzte einen Kuss darauf, während er stehen blieb, und warf den König so flach auf den Rücken. Da erhob sich großes Gelächter und ein großer Aufschrei im Volk.

Wenn wir uns hierzulande mit Wikingern und Normannen beschäftigen, haben wir insbeson- dere ihre Raubzüge und Invasionen in England und im Frankenreich vor Auge. Gleichwohl gehört es mittlerweile zur Allgemeinbildung zu wissen, dass nicht Christoph Kolumbus der erste war, der Amerika entdeckte – sondern bereits 500 Jahre vor ihm ein Wikinger mit Namen Leif Eriksson. Über seine Entdeckungsreisen wissen wir wenig genug. Aber über Island und Grönland ist er – so viel gilt heute als gesichert – bis nach Vinland (Weinland) gereist und hat dort einige Zeit verbracht.

Leif Eriksson entdeckt Amerika – Gemälde des norwegischen Malers Christian Krogh aus dem Jahr 1893 (Bildnachweis: © Public Domain).

Zu festen Landnahmen haben die Reisen jedoch nicht geführt, zumal Nachahmerfahrten am Widerstand der indigen indianischen Bevölkerung gescheitert sind. So gut wie alles, was in den letzten Jahrzehnten an vermeintlichen Artefakten der Wikingerfahrten in Amerika aufgetaucht

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger und Normannen: Eine Einleitung (Tobias Enseleit) ist, hat sich als Fälschung entpuppt – ein Ausweis immerhin dafür, dass die Abenteuerfahrten bis heute faszinieren und kulturell vereinnahmt werden. Spätestens seit der letzten Staffel von ›Vikings‹ sind auch die Reisen und Tätigkeiten von Skandinaviern (vornehmlich von Schweden) in den Osten in die allgemeine Wahrnehmung ge- treten. Hier scheinen sie eher in ihrer Rolle als Händler aufgetreten zu sein, waren Reichsgrün- der und dienten unter der Bezeichnung Waräger als Palastgarde des byzantinischen Kaisers bis zu Eroberung Konstantinopels durch die Kreuzfahrer im Jahr 1204. Wohl berühmtestes Mit- glied der Waräger-Garde war jener „harte“ Harald, der dort in seinem Exil diente, bis er sich den Königstitel zurückerkämpfte und 1066 bei Stamford Bridge beim Versuch, England zu er- obern, den Schlachtentod fand.

Die Religion der Wikinger

Auch wenn es heute anders erscheinen mag; über die heidnische Religion der Wikinger wissen wir wenig genug. Die erste systematische Beschreibung dieser Religion stammt aus der Prosa- Edda aus der Feder von Snorri Sturluson. Zu diesem Zeitpunkt, zum Beginn des 13. Jahrhun- derts, war Skandinavien bereits über 200 Jahre christianisiert, weswegen sich konkrete Rück- schlüsse auf die religiösen Vorstellungen und Praktiken der frühen Wikinger eigentlich verbieten. Wir kennen zwar die Hauptgottheiten Odin, Thor, Freyr und die Göttin Freyja sowie die wichtigsten mythischen Erzählungen (jedenfalls ihrem groben Inhalt nach), wissen etwa, dass die öffentliche Form des Kults das Opfer (oft eines männlichen Tieres) mit entsprechenden Festakten darstellte, viele Aspekte müssen aber mit großen Fragezeichen versehen werden: Gab es tatsächlich Menschenopfer? Wie war das Festjahr strukturiert, wie gestaltete sich der per- sönliche religiöse Kult? Wir wissen es nicht. Selbst ausführliche und anschauliche Berichte wie jene des Bremer Chronisten und Kir- chenmanns Adam, der von dem wikingischen Kultzentrum in Uppsala (in Schweden) berichtet, sind aufgrund ihrer Färbung und Distanz immer mit einer gesunden Portion Skepsis zu betrachten:

26. Dieses Volk besitzt einen besonders angesehenen Tempel in Uppsala, nicht weit vom Ort Sigtuna und von Birka entfernt. In diesem ganz aus Gold gefertigtem Tempel verehrt das Volk die Bilder dreier Götter; als mächtigster hat in der Mitte des Raumes Thor seinen Thronsitz. Den Platz rechts und links von ihm nehmen Wodan und Frikko ein. […] 27. Allen ihren Göttern haben sie Priester zugeteilt, die des Volkes Opfer darbringen. Wenn Seuchen und Hunger drohen, wird dem Götzen Thor geopfert, steht Krieg bevor, dem Wo- dan, soll eine Hochzeit gefeiert werden, dem Frikko. Auch wird alle neun Jahre in Uppsala ein gemeinsames Fest aller schwedischen Stämme begangen. Für dieses Fest wird niemand von Leistungen befreit. Könige und Stämme, die Gesamtheit und die Einzelnen, alle brin- gen ihre Opfergaben nach Uppsala, und es übertrifft jede Strafe an Härte, dass selbst dieje- nigen, die schon das Christentum angenommen haben, sich von diesem Kult freikaufen

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müssen. Die Opferfeier geht folgendermaßen vor sich: von jeder Art männlicher Lebewe- sen werden neun Stück dargebracht; mit ihrem Blut pflegt man die Götter zu versöhnen. Die Leiber werden in einem den Tempel umgebenden Haine aufgehängt. Dieser Hain ist den Heiden so heilig, dass man glaubt, jeder einzelne Baum darin habe durch Tod und Verwesung der Schlachtopfer göttliche Kraft gewonnen. Da hängen Hunde, Pferde und Menschen; ein Christ hat mir erzählt, er habe 72 solche Leichen ungeordnet nebeneinander hängen sehen. Im Übrigen singt man bei solchen Opferfeiern vielerlei unanständige Lieder, die ich deshalb lieber verschweigen will.

26. Nobilissimum illa gens templum habet, quod Ubsola dicitur, non longe positum ab Sic- tona civitate [vel Birka]. In hoc templo, quod totum ex auro paratum est, statuas trium deorum veneratur populus, ita ut potentissimus eorum Thor in medio solium habeat tricli- nio; hinc et inde locum possident Wodan et Fricco. […] 27. Omnibus itaque diis suis attri- butos habent sacerdotes, qui sacrificia populi offerant. Si pestis et fames imminet, Thor ydolo lybatur, si bellum, Wodani, si nuptiae celebrandae sunt, Fricconi. Solet quoque post novem annos communis omnium Sueoniae provintiarum sollempnitas in Ubsola celebrari. Ad quam videlicet sollempnitatem nulli prestatur immunitas. Reges et populi, omnes et singuli sua dona transmittunt ad Ubsolam, et, quod omni pena crudelius est, illi, qui iam induerunt christianitatem, ab illis se redimunt cerimoniis. Sacrificium itaque tale est: ex omni animante, quod masculinum est, novem capita offeruntur, quorum sanguine deos [tales] placari mos est. Corpora autem suspenduntur in lucum, qui proximus est templo. Is enim luctus tam sacer est gentilibus, ut singulae arbores eius ex morte vel tabo immolato- rum divinae credantur. Ibi etiam canes et equi pendent cum hominibus, quorum corpora mixtim suspensa narravit mihi aliquis christianorum LXXII vidisse. Ceterum neniae, quae in eiusmodi ritu libationis fieri solent, multiplices et inhonestae, ideoque melis reticendae.

– Trillmich 1978, V, 26-27, S. 470-473.

Selbst heute weit bekannte Konzepte wie das wikingerzeitliche Jenseits Walhall weisen große weiße Flächen auf:

Walhall (valhöll, eigtl. „Halle der Gefallenen“) bezeichnet ursprünglich das von Gefallenen übersäte Schlachtfeld, aus dem erst spät und unter Einfluss christlicher Paradiesvorstellun- gen das wikingische Kriegerparadies des Wikingermythos wird. Hier werden dann die Ge- fallenen (die sog. einherjar) von den Walküren zu ihren Plätzen in Odins herrlicher Halle geleitet, wo sie den ganzen Tag über kämpfen, abends wieder lebendig beisammen sitzen, Met trinken und Schweinefleisch essen, um am nächsten Tag das gleiche Spiel wieder von vorne zu beginnen – offenbar bis in alle Ewigkeit. Diese nur allzusehr an heute Wikinger- aufführungen erinnernde Vorstellung wurde in dieser Form überhaupt erst im Hochmittel- alter formuliert […], doch reichen auch die Wurzeln derartiger Konzepte nicht weiter als bis vor die 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts zurück.

– Simek 2005, S. 117.

Spätestens mit ihrem längeren Verbleib in anderen Regionen übte das Christentum einen immer größeren Einfluss auf die Wikinger aus. Die Annahme des neuen Glaubens war nicht zuletzt ein Politikum, wodurch das Christentum in einem ersten Schritt insbesondere für die Bevölke- rungselite attraktiv wurde, die sich davon mehr Einfluss und Akzeptanz versprachen. War Skan- dinavien zu Beginn des 9. Jahrhunderts noch heidnisch, begann sich der Einfluss des Christen- tums nach und nach auszuweiten, insbesondere auch durch die Missionsversuche wie jene des

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Hl. Ansgar. Nachhaltigen Durchbruch zeitigten die Bekehrungen von wichtigen skandinavi- schen Herrschern. 965 nahm etwa der Däne Harald Blauzahn den neuen Glauben an, während die Bekehrung Schwedens noch bis zum Ende des 11. Jahrhunderts andauern sollte.

Normannen, die das Christentum annahmen, avancierten rasch zu eifrigen Förderern von Kirche und christlichem Glauben. Die beeindruckende Abtei Mont-Saint-Michel in Nordfrankreich etwa profitierte in hohem Maße von der Förderung durch die nor- mannischen Herzöge (Bildnachweis: pixabay.com).

Der Aufstieg der Normannen

Mit der Belehnung Rollos und der Ausbildung des Herzogtums Normandie entstand eine neue Keimzelle normannischer christlicher Expansion. Bereits vor der Eroberung Englands durch Wilhelm zog es Normannen aus der Normandie in alle Welt. Insbesondere im fernen Süditalien und auf Sizilien fanden die versierten Krieger ein Betätigungsfeld, das sie bald nach ihren Vor- stellungen formen sollten. Denn Süditalien bildete im 11. Jahrhundert einen Flickenteppich rivalisierender Mächte. Byzanz, der Heilige Stuhl, die römisch-deutschen Herrscher, langobardische Fürsten wie auch einfallende Muslime stritten auf überschaubarem Raum um die Vormacht. Entsprechend groß war auf jeder Seite der Bedarf nach fähigen Kriegern. Rasch operierten dort auch normannische Kontingente, welche in wechselhaften Allianzen Profit aus der Situation zogen. Federführend wurden dabei Mitglieder aus der normannischen Familie der Hauteville, die sich auch mit Land bezahlen ließen und in den einheimischen Adel einheirateten. Der Normanne Robert Guiskard (†1085) stieg schließlich mit päpstlicher Anerkennung (die mit Gewalt erzwungen wurde) zum Herzog von Apulien und Kalabrien auf.

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Auch als Kreuzritter traten die Hauteville hervor. Bohemund von Tarent, der älteste Sohn von Robert Guiskard, war einer der Anführer des ersten Kreuzzugs und erstritt sich im Heiligen Land das Fürstentum Antiochia.

Die Normannen griffen von Sizilien aus auf Nordafrika und Malta aus. Dort haben sie bis heute in der Architektur ihre Fingerab- drücke hinterlassen (Bildnachweis: © Eigenes Bild).

Dessen Nachfahre Roger II. wurde drei Generationen später im Jahr 1130 zum König von Si- zilien gekrönt, nachdem Normannen die Insel von den Muslimen zurückerobert hatten. Hier schuf er ein normannisches Königreich, das auch Besitzungen in Nordafrika besaß und sich durch viele kulturelle und religiöse Einflüsse auszeichnete, die dort nebeneinander koexistieren durften. Schließlich ging das normannische Königreich durch Heirat an den römisch-deutschen Herrscher Heinrich VI.

Fazit

Die Geschichte von Wikingern und Normannen ist so facettenreich, dass man mit ihr in den Bibliotheken viele Regalmeter gefüllt hat. Heidnische Seeräuber und christliche Kreuzritter, Kirchenplünderer und Kirchenerbauer, wild und hemmungslos, streng und fromm. Über 400 Jahre Geschichte, die sich von den eisigen Fjorden Norwegens, über die unbekannten Gestade Amerikas bis nach Sizilien, Nordafrika und ins Heilige Land erstreckt. Nicht zuletzt diese große Vielfalt lädt bis heute zur Beschäftigung mit Wikingern und Normannen ein.

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ZITIEREMPFEHLUNG

Tobias Enseleit, Wikinger und Normannen: Eine Einleitung, in: Mittelalter Digital 1, Aus- gabe 2 (2020), S. 29-50.

LITERATURVERWEISE

Primärliteratur

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Lair 1865: Dudo von St. Quentin, De Moribus et Actis primorum Normanniae Du- cum, hrsg. von Jules Lair, Caen 1865.

Trillmich 1978: Adam von Bremen, Bischofsgeschichte der Hamburger Kirche, in: Quel- len des 9. und 11. Jahrhunderts zur Geschichte der hamburgischen Kir- che und des Reiches, neu übertragen von Werner Trillmich, Darmstadt 1978 (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelal- ters 11).

Sekundärliteratur

Hattenhauer 1990: Hans Hattenhauer, Die Aufnahme der Normannen in das westfränkische Reich. Saint Clair-sur-Epte AD 911, Hamburg 1990 (= Berichte aus den Sitzungen der Joachim-Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften).

Houben 2012: Hubert Houben, Die Normannen, München 2012 (= Beck'sche Reihe Wissen 2755).

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Oexle 1992: Otto Gerhard Oexle, Das entzweite Mittelalter, in: Gerd Althoff (Hrsg.), Die Deutschen und ihr Mittelalter. Themen und Funktionen moderner

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Geschichtsbilder vom Mittelalter, Darmstadt 1992 (= Ausblicke. Essays und Analysen zu Geschichte und Politik), S. 7-28.

Plassmann 2008: Alheydis Plassmann, Die Normannen: erobern – herrschen – integrie- ren, Stuttgart 2008 (= Urban-Taschenbücher 616).

Simek 2005: Rudolf Simek, Die Wikinger, München 42005.

Simek 2008: Rudolf Simek, Die Geschichte der Normannen: von Wikingerhäuptlin- gen zu Königen Siziliens, Ditzingen 2008.

Simek 2014: Rudolf Simek, Die Schiffe der Wikinger, Stuttgart 2014.

Stankovitsová 2020: Zuzana Stankovitsová, „Wikinger“ in der altnordischen Literatur, in: Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020), S. 51-56.

Zimmermann 2008: Martin Zimmermann, Der Historiker am Set, in: Thomas Fischer / Rainer Wirtz (Hrsg.), Alles authentisch? Popularisierung der Geschichte im Fernsehen, Konstanz 2008, S. 137-160.

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„Wikinger“ in der altnordischen Literatur

von Zuzana Stankovitsová

Der heutigen allgemeinen Auffassung nach sind Wikinger gleichbedeutend mit den Be- wohnern Skandinaviens während der sogenannten Wikingerzeit (8.-11. Jh., üblicherweise datiert vom Überfall auf das Kloster Lindisfarne im Jahre 793 bis zur Schlacht von Stam- ford Bridge in 1066 datiert). Doch waren alle Skandinavier Wikinger? Haben sie sich selbst so bezeichnet? Was bedeutet die Bezeichnung überhaupt? Im Folgenden werfen wir einen Blick auf das altnordische Wort víkingr und erkunden, welches Bild sich uns in der mittelalterlichen Literatur Skandinaviens darbietet, die eine der wichtigsten Quellen für das Mittelalter im Norden darstellt. Die Herkunft des altnordischen Wortes víkingr ist unklar und unter Forschern umstritten. Es wurde mit dem Substantiv vík („Bucht“) bzw. dem Eigennamen Vík, das die Gegend des Oslofjordes bezeichnet, in Zusammenhang gesetzt. Demzufolge würde es sich auf jemanden beziehen, der sich in Buchten aufhält oder aus dem Oslofjord stammt. Es könnte aber auch eine Verbindung mit dem altenglischen wīc bestehen, das sich aus dem lateinischen vicus („Dorf“, „Siedlung“) herleitet (vgl. De Vries 1977, S. 715-716). Das Wort ist älter als die Wikingerzeit, aber aufgrund der sporadischen Quellen lässt sich die ursprüngliche Bedeutung nicht sicher erschließen. Die frühesten schriftlichen Belege stammen aus der Wikingerzeit: Inschriften auf Runen- steinen und skaldische Dichtung, komplexe Lobgedichte, die von Skalden an norwegischen Königshöfen komponiert wurden. In diesen zeitgenössischen Quellen finden wir oft das

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) „Wikinger“ in der altnordischen Literatur (Zuzana Stankovitsová) feminine Substantiv víking, das sich auf die Tätigkeit, die eigentliche Wikingerfahrt bezieht. So steht auf dem Runenstein DR 334 (in Västra Strö, Skåne, Schweden): „Faðir lét hǫggva rúnar þessar eptir Ǫzur, bróður sinn, er norðr varð dauðr í víkingu“, also „Faðir (hier ein Eigenname) hat diese Runen schnitzen lassen als Erinnerung an Ǫzur, seinen Bruder, der während einer Wikingerfahrt im Norden gestorben ist.“1 Runensteine wurden eben oft als Erinnerung an ver- storbene Familienmitglieder oder Gefährten aufgerichtet. Derselbe Faðir ließ auch einen wei- teren Stein aufrichten (DR 335), diesmal für Bjǫrn „er skip átti með honum“ („mit dem er ein Schiff besaß“)2. Das maskuline Substantiv víkingr kommt in den Runeninschriften interessanterweise am häufigsten als Eigenname vor. Manche haben sich jedoch tatsächlich als Wikinger identifiziert, wie zum Beispiel ein gewisser Tóki. Dieser ließ einen Runenstein in Erinnerung auf Gunnar, den Sohn von Grímr aufrichten, und nannte sich selbst „Tóki víkingr“ (d.h. Tóki der Wikinger). Dies deutet wohl darauf hin, dass er bereist war und für seine Wikingerfahrten in der Gemein- schaft bekannt war – vielleicht war Gunnar, für den er den Stein aufrichten ließ, sein Reisege- fährte, der nicht mehr zurückgekehrt ist?

Der von Tóki gesetzte Runenstein vor der Domkirche in Växjö (Småland, Schweden). Die Inschrift lautet: „Tóki – Tóki víkingr – reisti stein eptir Gunnar, sun Gríms. Guð hiápi sálu hans!“ (Kinander 1961, S. 55- 58) d.h. „Tóki – Tóki der Wikinger – richtete den Stein in Erinnerung an Gunnar, den Sohn von Grímr. Gott helfe seiner Seele!“ (Bildnachweis: Pieter Kuiper, CC BY-SA 3.0).

Runeninschriften sind zwar als zeitgenössi- sche Quellen wertvoll, doch sie sind bis auf einige Ausnahmen knapp und relativ gleich- förmig: in Stein zu ritzen war aufwendig und für längere Texte unpraktisch. Dichtung, Ge- schichten, Mythen, aber auch Gesetze und Genealogien wurden memoriert und mündlich überliefert. Erst die Aufnahme des Christen- tums um die Jahrtausendwende brachte das la- teinische Alphabet und Schriftkultur mit sich. Vor allem in Island führte dies zum

1 Danske Runeindskrifter, http://runer.ku.dk/VisGenstand.aspx?Titel=Västra_Strö-sten_1. 2 Danske Runeindskrifter, http://runer.ku.dk/VisGenstand.aspx?Titel=Västra_Strö-sten_2.

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Aufblühen des Schrifttums: dort produzierte Handschriften wurden im Mittelalter sogar nach Norwegen exportiert (vgl. Karlsson 1979), und der Großteil der bis heute überlieferten altnor- dischen Literatur ist in isländischen Handschriften bewahrt. Neben den mythologischen Erzählungen der Eddas gehören Sagas wohl zu den bekann- testen Gattungen altnordischer Literatur. Der Begriff Saga leitet sich von dem altnordischen Verb segja („sagen, erzählen“) ab und umfasst eine Vielfalt von Genres, die sich thematisch und stilistisch voneinander unterscheiden. Viele Sagas bearbeiten einheimisches Material aus Island und Skandinavien. Die Entwicklung der Sagaliteratur wurde jedoch auch stark von kon- tinentaler Literatur beeinflusst: Die im 11. und 12. Jh. übersetzten Heiligenlegenden (isl. hei- lagra manna sögur) gehören zu den frühesten der Gattung und prägten wesentlich die Entwick- lung des sogenannten Saga-Stils (vgl. Turville-Petre 1953).

Die Flateyjarbók (GKS 1005 fol.), zwischen 1387-1394 geschrieben, gehört zu den größten Pergamenthandschriften Islands und beinhaltet eine Sammlung vorwiegend Königssagas. Die Handschrift ist für isländische Verhältnisse prachtvoll dekoriert: Auf dem Bild zu sehen ist die Initiale, die den Anfang der ›Ólafs saga Tryggvasonar‹ bildet. Nach einer kriegerischen Jugend setzte sich der norwegische König Ólafr (968-1000) für die Christianisierung Islands und Norwegens ein (Bildnachweis: Stofnun Árna Magnússonar í íslenskum fræðum).

Der Wikingerzeit wird vor allem in Königssagas, Isländersagas und Vorzeitsagas behandelt, welche die historische sowie legendäre Vergangenheit Islands und Skandinaviens bearbeiten. Dies, verbunden mit der Annahme, dass die Texte auf mündlicher Überlieferung basieren, führte dazu, dass sie in älterer Forschung als historische Quellen zur Wikingerzeit betrachtet wurden. Zwischen den dargestellten Ereignissen und der Schreibzeit liegen jedoch mindestens 300 Jahre, und der historische Kern ist lediglich ein Element der literarischen Erzählung – und

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) „Wikinger“ in der altnordischen Literatur (Zuzana Stankovitsová) oft nicht mehr recht greifbar. Im Mittelalter waren Geschichtsschreibung und Literatur nämlich nicht so klar getrennt wie heute – diese Ambivalenz ist auch in dem Wort Saga beinhaltet, welches auf Isländisch bis heute sowohl „Geschichte“ als auch „Erzählung“ bedeutet. Moderne Forschung betrachtet die Sagas also eher als Quelle dafür, wie sich Isländer im Hochmittelalter die eigene Vergangenheit vorgestellt haben (vgl. O’Connor 2017). Wie begegnen wir also Wikingern in den Sagas? Ähnlich wie in den Runeninschriften kommt in den Sagas beides die Personenbezeichnung víkingr sowie die Tätigkeit fara í víking vor. Die Wikingerfahrt wird größtenteils positiv oder neutral dargestellt – einige Sagas erwäh- nen, dass Charaktere während des Sommers í víking gefahren sind, um Reichtum zu erwerben (siehe z.B. Egils saga, Kap. 1). Man würde natürlich erwarten, dass dieselben unsere Saga- Wikinger sein werden, doch die Helden werden selten als solche bezeichnet. Ganz im Gegenteil treten víkingar besonders in den Köningssagas und Vorzeitsagas gerne als die Gegner auf, gegen die gekämpft wird, wobei sie oft als nicht näher bestimmte Gruppe dargestellt werden. Je nachdem, wo sich die Handlung abspielt, sind die víkingar nicht unbe- dingt immer Skandinavier. Gemeinsam haben jedoch die meisten, dass sie auf Schiffen unter- wegs und kriegerisch sind – das Wort wird in Sinne von “Seeräuber, Pirat“ benutzt. In den Isländersagas hat die Bezeichnung eine ausdrücklich negative Konnotation bekommen. Cha- raktere die als solche bezeichnet werden, sind oft bösartig und unruhestiftend. Als Beispiel können wir Þórólfr bægifótr aus der Eyrbyggja saga nennen, der als „víkingr mikill“ („ein gro- ßer Wikinger“) vorgestellt wird. Þórólfr erweist sich als gewalttätig, er stiftet Konflikte, und sogar nach seinem Tod bleibt er problematisch – er kehrt als Wiedergänger zurück, greift Men- schen an, tötet Tiere und verwüstet die Höfe in der Gegend. Aus den schriftlichen Quellen ist es eindeutig, dass „Wikinger“ eher eine Tätigkeit als eine Identität darstellte, und demzufolge nicht als Bezeichnung für eine Bevölkerungsgruppe aufzufassen ist. Nur ein Bruchteil der Einwohner Skandinaviens zog auf Wikingerfahrten, um vorübergehende kriegerische Tätigkeit und Handel zu betreiben. Besonders in der Literatur des Hochmittelalters ist es dabei auffallend, dass „Wikinger“ nur selten die eigentlichen Helden bezeichnet und eher für Gegner und Antagonisten reserviert ist.

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Der Isländer Egill Skallagrímsson, wie er in der Handschrift AM 426 fol, 2v (1670-1682) dargestellt wird. Seine Saga beschreibt Egils zahlreichen Abenteurer in Norwegen und den Britischen Inseln. Als Egill im Alter von 7 Jahren bei einem Ballspiel einen anderen Jungen tötet, konstatiert seine Mutter, dass er „víkingsefni“ sei, wörtlich „Wiking-Anwärter“ (Kap. 40). In der Saga ist eine ambivalente Haltung spürbar: Egill ist ein außergewöhnlicher Krieger und Dichter und seine Abenteuer im Ausland werden bewundert, doch in der isländischen Bauergesellschaft ist seine aggressive Persönlichkeit destruktiv.

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ZITIEREMPFEHLUNG

Zuzana Stankovitsová, „Wikinger“ in der altnordischen Literatur, in: Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020), S. 51-56.

Übersicht über Sagagenres

• Heilagra manna sögur (Sagas über Heilige) sind altnordische Übersetzungen konti- nentaler Heiligenlegenden • Konungasögur (Königssagas) erzählen hauptsächlich über norwegische Könige • Fornaldarsögur (Vorzeitsagas) erzählen über Skandinaviens legendäre Vorzeit • Íslendingasögur (Isländersagas) behandeln Ereignisse in Island von der Besiedlung bis zum 11. Jh. • Biskupasögur (Sagas über Bischöfe) handeln von isländischen Bischöfen • Samtíðarsögur (zeitgenössische Sagas) sind hauptsächlich in der Kompilation Sturlun- gensaga überliefert und behandeln die Machtkämpfe in Island im 12. und 13. Jh. • Riddarasögur (Rittersagas) umfassen die im 13. Jh. übersetzte höfische Literatur sowie die davon inspirierten isländischen Märchensagas

LITERATURVERWEISE

Sekundärliteratur

De Vries 1977: Jan De Vries, Altnordisches Etymologisches Wörterbuch, Leiden 1977.

Karlsson 1979: Stefán Karlsson, Islandsk bogeksport til Norge i middelalderen, in: Maal og Minne 1979, S. 1-17.

Kinander 1961: Ragnar Kinander, Smålands Runinskrifter. Sveriges runinskrifter, Bd. 4, Stockholm 1935-61 (= Vitterhets Historie och Antikvitets Akademien).

O’Connor 2017: Ralph O’Connor, History and Fiction, in: The Routledge Research Com- panion to the Medieval Icelandic Sagas, red. von Ármann Jakobsson / Sverrir Jakobsson, London 2017, S. 88-110.

Turville-Petre 1953: Gabriel Turville-Petre, Origins of Icelandic Literature, Oxford 1953.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikingerschätze – Ein Glücksfall für die Münzgeschichte (Sebastian Steinbach)

Wikingerschätze – Ein Glücksfall für die Münzgeschichte von Sebastian Steinbach

Im Hintergrund steht ein Klostergebäude in lodernden Flammen. Umher liegen erschla- gene Mönche in ihrem eigenen Blut. Womöglich kniet noch einer der Kirchenmänner im hohen Gras und erhebt, um sein Leben flehend, die gefalteten Hände zum Himmel. Über und neben ihm sieht man hochgewachsene, bärtige Männer in Kettenhemden mit Schwertern und Äxten bewaffnet. In ihren Armen tragen sie Unmengen an Gegen- stände aus Gold – Kelche, Schalen, Kreuze, Kerzenleuchter und einen Krummstab – zum nahegelegenen Strand. Dort wartet schon das Drachenboot mit seinen rot-weiß ge- streiften Segeln, um die Krieger aufzunehmen und in ihre kalte Heimat im hohen Norden zurückzubringen. Ein Wikingerüberfall… so oder so ähnlich wird er in vielen populär- wissenschaftlichen Darstellungen oder historischen Jugendbuchreihen gerne ins Bild ge- bannt. Die Goldgier und Mordlust der Nordmänner sind hierbei die zentralen Motive. Aber wie sehen „Wikingerschätze“ in der archäologischen Realität aus und warum sind sie ein Glückfall für den modernen Geldhistoriker?

Die Bedeutung der Wikinger für die Münzgeschichte

Die deutsche Numismatik (Münzforschung) verdankt den Wikingern vieles: Ob auf ihren Plün- derungszügen oder Handelsfahrten – die Männer aus dem Norden Europas schleppten Münzen in riesigen Mengen in ihre Heimatländer, wo sie diese im Boden verbargen. Man kann sogar

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikingerschätze – Ein Glücksfall für die Münzgeschichte (Sebastian Steinbach) soweit gehen, zu sagen, dass sich eine deutsche Münzgeschichte des 10. und 11. Jahrhunderts ohne die skandinavischen Schatzfunde nicht schreiben ließe. Eine 1991 im Zuge der Speyrer Salierausstellung erstellte Erfassung der in nord- und osteuropäischen Funden verborgenen Münzen dieser sogenannten „späten Wikingerzeit“ ergab 101.400 deutsche Münzen in skandi- navischen Funden (Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland), 136.000 Münzen in sla- wischen Funden (Polen, Russland und das Baltikum) und lediglich 30.000 Münzen in deutschen Funden (Kluge 1991, S. 9).

Die Habsucht und Plünderwut der Wikinger ist bis in die moderne Gegenwartskultur fest in ihrem geschichtskulturellen Bild verankert. Auch die Actionfigur, die Ubisoft mit dem Release von ›Assassin's Creed: Valhalla‹ anbietet, streicht diesen Aspekt prominent heraus (Bildnachweis: © Ubisoft).

Zwar ist die Anzahl der in Inlandsfunden entdeckten deutschen Münzen (Einzelfunde) in den letzten Jahren durch ein vermehrtes Sondengängertum erheblich gestiegen, an dem Verhältnis von einer im Inland zu acht im Ausland gefundenen Münzen hat sich jedoch nicht wesentlich etwas geändert (Kluge 2007, S. 95). Dabei lösten die deutschen Münzen die bis dahin in Skan- dinavien dominierenden arabischen Münzen (silberne Dirham) ab. Ähnlich hohe Zahlen von etwa 53.750 Fundmünzen erreichen in Nordeuropa nur noch die englischen Münzen. Bei ihnen handelt es sich wohl um eine Folge der zur Abwehr oder zum Freikauf an die Wikinger gezahl- ten „Danegelder“ – der ersten allgemein und regelmäßig erhobenen Steuer des Mittelalters. Vor allem Münzen des Königs Æthelred II. (978-1016) finden sich in den skandinavischen Schatz- funden, von dem auch bekannt ist, dass sich unter ihm die gezahlten Tribute zur stattlichen Summe von über 200.000 Pfund Silber summierten.

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Im Sommer 1999 wurden auf einem Acker bei Slite im Norden der Insel Gotland drei Schatzfunde mit silbernen Münzen, Arm- ringen und Barren gefunden. Insgesamt 65 kg Silber und 20 kg Bronze (Bildnachweis: © Silberhort, W.carter (CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons).

Insbesondere die schwedische Insel Gotland scheint ein „Treasure-Hotspot“ für das Vergraben von Silberschätzen im Frühmittelalter gewesen zu sein – an keinem anderen Ort findet man derart viele Münzen und andere Silberschätze im Boden. Es handelt sich im Wesentlichen um Pfennige (lateinisch Denare) von etwa einem Gramm Gewicht und zwei Zentimetern Durch- messer, der einzigen ausgeprägten Münzsorte jener Zeit. Dieses Phänomen einer weitestgehend im Ausland präsenten deutschen Münzprägung hat in der Geldgeschichte zum Begriff der „Epoche des Fernhandelsdenars“ geführt, womit wir zum eigentlichen Zweck der Verbergung kommen. Der typische Schatzfund eines Wikinger- haushalts enthält bei Weitem nicht nur Münzen – Barren, Ringe, Ketten oder andere Schmuckstücke werden ebenso gemeinsam mit den Münzprägungen verborgen … oder „ver- gesellschaftet“, wie der Numismatiker sagt. Der stattliche Schatzfund von Ocksarve (Kirchspiel Hemse, Gotland) – verborgen nach 999 und entdeckt 1997 – enthielt beispielsweise mehr als 5 Kilogramm Silber, darunter neben Barren, Drähten und Stangen auch 416 Münzen. Von diesem wiederum stammten 393 aus dem Gebiet des Deutschen Reiches (Kluge 2007, S. 93). Die Datierung ergibt sich übrigens aus der jüngsten Münze Bischof Alwichs von Straßburg (999-1001).

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Die Otto-Adelheid-Pfennige wurden um das Jahr 1000 in verschiedenen Münzstätten des Harzraumes geprägt und gelangten zu Hunderttausenden in die skandinavischen Schatzfunde. (Bildnachweis: © Landesmuseum Hannover. Münzkabinett. Inv.-Nr. 01:003:055).

Unter den deutschen Münzen dieses und zahlreicher weiterer Schatzfunde machen mit 198 Stück die sogenannten „Otto-Adelheid-Pfennige“ den bedeutendsten Anteil aus. Es handelt sich um eine um das Jahr 1000 in verschiedenen Münzstätten des Harzraums geprägte Münzsorte mit den Namen OTTO / ODDO und ATHEAHLT / ADELHEIDA auf Vorder- und Rückseite, mit denen wohl Otto III. (983-1002) und seine Großmutter, die Kaiserin Adelheid, gemeint sind, die für den unmündigen König zwischen 991 und 994 die Regentschaft führte. Allerdings wurden die Otto-Adelheid-Pfennige weit über den Tod der beiden hinaus wei- tergeprägt, da sie sich bei Wikinger-Fernhändlern offenbar großer Beliebtheit erfreuten. Inte- ressant ist hierbei, dass die Otto-Adelheid-Pfennige ein kastenartiges Kirchengebäude mit weit ausgezogenen Giebeln zeigen, das in seiner Gestaltung ein wenig an die noch heute vielerorts in Skandinavien zu findenden Holzkirchen erinnert. Bevor im Hochmittelalter der Steinbau ei- nen erneuten Aufschwung erlebte, dürften solche aus Holz errichteten Kirchenbauten auch in Mitteleuropa verbreitet gewesen sein.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikingerschätze – Ein Glücksfall für die Münzgeschichte (Sebastian Steinbach)

Noch heute in Skandinavien erhaltene mittelalterliche Holzkirchen (Stabkirchen) wie diejenige von Borgund (Norwegen) erin- nern in ihrer Bauart an die auf den Otto-Adelheid-Pfennigen abgebildeten Kirchengebäude mit ihren auskragenden Giebeln (Bildnachweis: © Ximonic (Simo Räsänen), CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons).

Repräsentation und Wertanlage

Es ging den Nordmännern also weniger um das Geld in Münzform als vielmehr um das Edel- metall Silber – das in Europa viel seltenere Gold kommt nur äußerst selten vor. Der Begriff Wikingerhaushalt ist hierbei treffend gewählt, denn die Fundsituationen zeigen oftmals einen direkten Zusammenhang mit den Siedlungen und hierbei mit den Wohnkomplexen sozial her- ausragender Persönlichkeiten. Offenbar wurden die Münzen nicht – wie zur gleichen Zeit auf dem Boden des ostfränkisch-deutschen (ottonischen und salischen) Reiches – im Boden als Wertanlage versteckt, sondern an repräsentativer Stelle im Haus ausgestellt. Es ging also nicht um den „Tresor des kleinen Mannes“ im Frühmittelalter, sondern um das Repräsentationsbe- dürfnis erfolgreicher Händler oder Krieger. Apropos: Zwischen handelnden Kriegern und krie- gerischen Händlern in dieser Wikinger-Gesellschaft zu unterscheiden, ist vermutlich wenig zielführend, da die Übergänge fließend waren.

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Eines aber ist auffällig: Während die karolingischen Quellen des 9. Jahrhunderts voll sind von Wikingerüberfällen, berichten die ottonisch-salischen Quellen des 10./11. Jahrhunderts nichts davon. Die riesigen Münzschatzfunden Skandinaviens sind also anscheinend das Ergeb- nis von Handelsaktivitäten und nicht von Plünderungszügen. Der Begriff „Epoche des Fern- handelsdenars“ birgt aber auch eine Gefahr in sich: Möglicherweise wird durch die Überbeto- nung des Verbergungsinteresses der Nordmänner die heimische Geldwirtschaft erheblich un- terschätzt. Denn hierzulande wurden die Münzen regelmäßig (oftmals jährlich) außer Kurs ge- setzt und neue ausgeprägt. Durch den Wechsel von alten und neuen Münzen generierten die jeweiligen Münzherren lukrative Einnahmen. Es lohnte sich also für die Bevölkerung nicht, diese Münzprägungen allzu lange zu horten. Wenn Münzfunde im Inland auftauchen, sind diese dementsprechend meisten räumlich und zeitlich eingeschränkt, was ihren Inhalt betrifft. Bei den Wikingern aber konnten Münzen deutlich länger überleben, da sie ihren Wert – genauer gesagt ihren Edelmetallwert – behielten.

Das vorliegende Exemplar eines Hildesheimer Denars des Bischofs Godehard (1022-1038) zeigt sowohl eine deutliche Verbie- gung als auch einige halbmondförmige Einritzungen, die darauf schließen lassen, dass der Edelmetallgehalt des Stücks unter- sucht wurde. (Bildnachweis: © Landesmuseum Hannover. Münzkabinett. Inv.-Nr. 04:009:029).

Wenn es den Wikingern vorrangig um das Silber ging, dann scheinen deutsche Münzen in be- sonderem Maße ihren Qualitätsstandards entsprochen zu haben – ansonsten wären sie nicht in so großen Mengen verborgen worden. Für sie war der Stempel der Münzprägung ein Qualitäts- siegel für die Reinheit des enthaltenen Edelmetalls. Dass man dem Braten dennoch nicht immer traute, verraten Verbiegungen und Probiermarken auf den Münzen, mit denen man prüfen wollte, ob der Kern der Prägungen ebenfalls aus Silber bestand. Fälschungen kamen also of- fenbar auch schon im Frühmittelalter vor. Auch die Herkunft der Prägungen spricht für einen Zusammenhang mit Handelsaktivitäten: Vorrangig sind es die Exemplare aus Münzstätten

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikingerschätze – Ein Glücksfall für die Münzgeschichte (Sebastian Steinbach) entlang der großen Flüsse (Rhein, Main, Elbe und Donau), als den wichtigsten Verkehrsadern des Reiches, die wir in den Schatzfunden finden. Münzen aus Köln, Mainz oder Trier rangieren dementsprechend auf Spitzenplätzen in den Wikingerfunden. Sie beschwören geradezu Bilder von Drachenbooten herauf, die schwer mit Säcken voller Silber beladen, den Rhein auf dem Weg in die Heimat hinabfahren.

Von der Tauschwirtschaft zur Geldwirtschaft

Was die Wikinger im Gegenzug mitbrachten, ist nicht so leicht zu beantworten, da sich die deutschen Schriftquellen darüber weitestgehend ausschweigen und die Wikinger zu diesem Zeitpunkt noch nichts aufschrieben. Angenommen werden Pelze, Wachs, Holz und Honig als die „Luxusgüter des Nordens“. Auch Sklaven könnten von den Wikingern gehandelt und gegen Münzsilber getauscht worden sein – in Metz befand sich beispielsweise ein lukrativer Um- schlagplatz für den Menschenhandel zwischen dem byzantinischen Osten und dem islamischen Westen. Aus dieser Region stammen sogar mehrsprachige Münzen mit lateinischen, griechi- schen und arabischen Mischlegenden, die sich anscheinend direkt an die internationale Kund- schaft wandten. Im Verlaufe des 11. Jahrhunderts begannen die Wikinger dann parallel zu ihrer Christia- nisierung und zur Entstehung von ersten größeren Königreichen in Nordeuropa mit eigenstän- digen Münzprägungen. Diese ahmten zunächst Gepräge aus den Regionen nach, aus denen zu- vor Münzen importiert worden waren: deutsche und angelsächsische Münzen dienten als Vor- bilder für die ersten norwegischen und schwedischen Silbermünzen. Einige wenige Münztypen zeigen dabei sogar Runeninschriften oder ahmen byzantinische Bilder nach – wahrscheinlich eine Reflektion auf die Wikinger-Leibwache (Waräger) der oströmischen Kaiser. Inwieweit die Münzmeister dabei immer noch den eigentlichen Sinn der kopierten Vor-Bilder verstanden, mag dahingestellt sein. Auch exportierten die Wikinger nun selbst ihre Münzprägung: Im bis dato münzlosen Irland beispielsweise rechnete man zunächst noch in geschlechtsreifen weibli- chen Rindern, bevor in den Wikingersiedlungen entlang der Ostküste (Dublin, Wexford oder Waterford) mit Silberbarren und Silbermünzen bezahlt wurde. König Sithric von Dublin ver- danken wir die erste „irische Münze“ (Hiberno-Norse coin) – eine skandinavische Nachahmung einer angelsächsischen Prägung in Irland.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikingerschätze – Ein Glücksfall für die Münzgeschichte (Sebastian Steinbach)

Bei dem vorliegenden Exemplar handelt es sich um einen Pfennig Heinrichs IV. (1056-1106) aus der Reichsmünzstätte Goslar. Die Rückseite zeigt im Münzbild die Apostel Simon und Judas (Bildnachweis: © Landesmuseum Hannover. Münzkabinett. Inv.-Nr. 01:011:039).

Für die deutsche Geldgeschichte ist dieser Beginn einer „nationalen Münzprägung“ in Nordeu- ropa dagegen fatal: Die salische (1024-1125) lässt sich weitaus schlechter schreiben als die ottonische (919-1024) Münzgeschichte davor, da ab etwa 1050 die Fundüberlieferung deut- scher Münzen in Skandinavien abreißt. Da die Münzen aber lediglich einen OTTO REX oder OTTO IMP[erator] – also König oder Kaiser Otto – nennen und keine Unterscheidung in Otto I. (936-973), Otto II. (973-983) oder Otto III. (983-1002) vornehmen, lässt sich eine genauere Zuweisung oftmals nur über die Untersuchung gemeinsam verborgener Typen in den Schatz- funden erreichen. Das gleiche gilt für die Salierherrscher Heinrich III. (1039-1056), Heinrich IV. (1056-1105) und Heinrich V. (1105-1125), die ebenfalls nacheinander regierten, aber zu einer Zeit, als die Wikinger eben lieber ihr eigenes Geld prägten. Pech für die heutigen Numis- matiker!

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikingerschätze – Ein Glücksfall für die Münzgeschichte (Sebastian Steinbach)

ZITIEREMPFEHLUNG

Sebastian Steinbach, Wikingerschätze – Ein Glücksfall für die Münzgeschichte, in: Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020), S. 57-65.

LITERATURVERZEICHNIS

Sekundärliteratur

Kluge 1991: Bernd Kluge, Deutsche Münzgeschichte von der späten Karolingerzeit bis zum Ende der Salier (ca. 900-1125), Sigmaringen 1991.

Kluge 2007: Bernd Kluge, Numismatik des Mittelalters. Band 1: Handbuch und The- saurus Nummorum Medii Aevi, Berlin / Wien 2007.

Willemsen 2004: Annemarieke Willemsen, Wikinger am Rhein 800-1000, Stuttgart 2004.

BILDNACHWEIS

Hortfund aus der Wikingerzeit, Portable Antiquities Scheme (CC BY-SA 2.0).

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Das Mittelalter und seine Rezeption: Medievalism (Nicolas Huss)

Das Mittelalter und seine Rezeption: Medievalism

von Nicolas Huss

„[H]istory isn’t the same thing as the past”

– Kaufman / Sturtevant 2020, S. 3.

Wer Geschichte sagt, muss auch Vergangenheit sagen

Diesen Satz gilt es zu internalisieren, wenn wir über „Geschichte“ und „Vergangen- heit“ sprechen. Vor allem gilt er dann, wenn wir die „Vergangenheit“ nutzen – sei es im privaten, akademischen oder öffentlichen Raum. Insbesondere die Epoche des Mit- telalters ist wie keine andere Epoche erfunden und umgedeutet worden, um sie dann wieder neu zu erfinden. Das „Mittelalter“ und die Menschen, die sich der Epoche wid- men, bedingen sich gegenseitig. Zur Annäherung an dieses Zusammenspiel von Men- schen und historischer Epoche – also wie das Mittelalter adaptiert, rezipiert und in- szeniert wird – hat sich in der englischsprachigen Forschung der Begriff Medievalism etabliert. Dieser liefert uns Struktur und Klarheit, wenn wir darüber sprechen, wie und warum bestimmte Personen, Gruppen, Institutionen oder Medien „das Mittelal- ter“ nutzen. Methodisch, könnte man sagen, befindet sich die Medievalism-Forschung in der Nachbarschaft der Public-History sowie der Geschichtsdidaktik, besitzt aber auch einen stark kulturtheoretischen Zuschnitt. Im Folgenden wollen wir uns den ein- zelnen Facetten der Mittelalterrezeption widmen. Die Beispiele stammen dafür – pas- send zur Themenwoche – vor allem aus der sogenannten „Wikinger-Zeit“.

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Das Herauswachsen aus Kinderschuhen

Im Gegensatz zur englischsprachigen Forschung, lag das Thema bei deutschsprachigen Histo- riker:innen, Literatur- und Kulturwissenschaftler:innen sowie Archäolog:innen nicht so stark im Fokus. Das könnte unter anderem damit zusammenhängen, dass sich die Fachwissenschaf- ten erst in den letzten Jahren vermehrt neuen Medien öffneten. Lange Zeit schien und scheint es unter dem Diktat von E- und U-Kultur (ernste und unterhaltende Kultur, respektive auch Hoch- und Popkultur) tabu, sich akademisch wie nicht akademisch mit Computerspielen, Serien und Comics zu beschäftigen. Weiterhin standen, hat man sich mit Rezeption des Mittelalters beschäftigt, fast immer „Nationalmythen“ wie der Nibelungenmythos im Vordergrund.1 Aufgrund der altnordischen Überlieferungen waren hier die Wikinger auch immer schon mit im (Drachen-)Boot. Allerdings setzt hier ein Wandel ein: Die einzelnen mediävistischen Fachwissenschaften beschäftigen sich vermehrt trans- wie interdisziplinär mit der (post)modernen Rezeption von Geschichte. Vorrei- ter sind hier neben der Museologie vor allem die Game-Studies.

Was ist und meint Medievalism denn nun genau?

Schaut man sich die sehr umfangreichen und schon in zahlreichen Bänden existierende Reihe Journals in Medievalism an, zeigt sich, wie schwer es seit je her ist, eine zutreffende Definition für den Begriff und das Phänomen Medievalism zu finden. Auch wir werden im Folgenden lediglich einen Vorschlag unterbreiten, wie wir in Zukunft über bestimmte Einzelgegenstände differenziert sprechen können. Nach Leslie J. Workman ist Medievalism alles, was „das Mittel- alter“ konstruiert (vgl. Petersen 2009, S. 36-37). Das ist recht nahe an dem, was Jörn Rüsen unter Geschichtskultur versteht (vgl. Rüsen 1994, S. 5). Demnach, und das knüpft an das Ein- gangszitat an, ist jegliche Beschäftigung mit dem Mittelalter, auch die wissenschaftliche Aus- einandersetzung, zunächst einmal nichts anderes als Medievalism; dies bedeutet implizit auch, dass selbst eine quellengestützte und methodischen Prinzipien verpflichtete Beschäftigung nicht zu einer Erkenntnis führt, wie es denn im „Mittelalter“ wirklich gewesen sei. Wir können uns zwar so objektiv wie möglich der Vergangenheit nähern, was aber umso schwieriger wird, je weniger Quellen uns bereitliegen. Deshalb ist Geschichte stets eine Kon- struktion von Vergangenem und diese Konstruktion beruht im Idealfall auf der Beschäftigung mit vorhandenen Quellen. Vergangenheit ist das Vergangene an sich und die Geschichte das

1 Vgl. hierzu Karg 2008; Müller 1989 und Sieber 2017.

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Reden, Schreiben und Berichten über die Vergangenheit. Deshalb, als nebenstehender Apell, sollten wir uns von „Historischer Korrektheit“ verabschieden und besser von „Historischer Plausibilität“ sprechen, wenn es uns darum geht, etwas detailgetreu rekonstruieren zu wollen. Dies alles ist und bleibt aber an sich eine Form von Medievalism; so eben auch die wis- senschaftliche Beschäftigung mit dem Mittelalter (vgl. Toswell 2009, S. 69). Es zeigt sich im Folgenden, dass der Begriff viele einzelne Facetten hat, weshalb eine Binnendifferenzierung unabdingbar ist. So schlägt Elisabeth Emery vor zwischen „scientific“, „dogmatic“ und „crea- tive Medievalism“ zu unterscheiden (vgl. Emery 2009, S. 82-83). Ähnlich hat dies bereits Ulrich Müller vorgeschlagen, wenn er zwischen produktiver, reproduktiver, wissenschaftlicher und politisch-ideologischer Rezeption trennt (vgl. Müller 1986, S. 508). Ich halte solche Untergliederungen für sehr sinnvoll, da sie uns Medievalism als Methode2 verstehen lässt und wir uns auf diese Weise vor allem der Intention der Produzierenden annä- hern. Die Ebene der Produktion ist bei der Analyse von Medievalisms ebenso wichtig wie die Ebene der Rezeption, da ohnehin beide miteinander verschmelzen: Produktion ist Rezeption ist Produktion. Es geht darum, dass wir verstehen, warum und wie jemand sich „dem Mittelalter“ nähert, es dekonstruiert und neu konstruiert. Für die Auseinandersetzung mit dieser Problematik schlage ich die nachfolgenden Kate- gorien vor, die sich an den oben genannten Binnengliederungen orientieren, sie aber neu ordnen und ergänzen, da die nachfolgende Neustrukturierung zum einen den Neomedievalism, also die aktive Neubearbeitung bereits bestehender Medievalisms ausklammert und zum anderen zu ein- dimensional im wissenschaftlichen Kontext ausgelegt werden, wobei das eskapistische Mo- ment bestimmter Rezeptionen des Mittelalters oft zu kurz kommt. Im Zentrum steht immer die Intention (sowohl bei der Produktion als auch Rezeption) hinter dem Medievalism. Außerdem verstehe ich die folgenden Kategorien als fluide; ein spe- zieller Fall von Medievalism kann eine, mehrere oder alle Formen annehmen. Grenzen ver- schwimmen zwar, aber die Einzelintentionen bestimmter Darstellungen des Mittelalters treten deutlicher hervor. Auch hilft uns eine Neuausrichtung die zuvor angesprochenen künstlich ge- schaffenen Grenzen zwischen Pop- und Hochkultur auszublenden. Der Fokus auf die Intention macht es möglich Wertungen, wie etwa, ob Medievalisms „gut“ oder „schlecht“, respektive „korrekt“ oder „inkorrekt“ sind, zunächst auszuklammern. Folgende vier Kategorien, die aller- dings keiner Reihenfolge oder Hierarchie unterliegen, schlage ich vor:

2 Vgl. „The common denominator among the multiple, interdisciplinary forms of medievalism takes is method: how and why various individuals and institutions have chosen to engage with the Middle Ages” (Emery 2009, S. 78).

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• Idendity–related Medievalism (Identitätsbezogener Mediävalismus) • Escapistical Medievalism (Eskapistischer Mediävalismus) • Objectivity-related Medievalism (Objektbezogener Mediävalismus) • Neomedievalism (Neomediävalismus)

Identity-related Medievalism

Die politische oder gar ideologische Inbesitznahme des Mittelalters und seiner Rezeption ist vor allem immer eines: identitätsbezogen. Und wenn Geschichte wichtig für die Identitätskon- struktion ist, ist sie auch immer politisch. Denn jede:r ist politisches Subjekt, egal wie unpoli- tisch man sich verhält, denn auch diese Einstellung ist wiederum ein politisches Statement. In diese Kategorie fallen alle Aspekte der Mittelalterrezeption, die auf die eine oder andere Art politisch-programmatisch sind und/oder die Identität der Produzierenden beinhalten und die der Rezipierenden bedingen. Dabei geht es vor allem um das, was man auch kulturelle oder historische Identität nennen kann. Diese ist stark bedingt durch unser „kulturelles Gedächtnis“3. Identität ohne „Geschichte“ ist nur schwer vorstellbar. Im extremen Fall können bestimmte Aspekte des Mittelalters dazu benutzt oder dafür missbraucht werden, bestimmte ideologisch-politische Statements durch- und umzusetzen. Die Vergangenheit wird in diesem Fall als Legitimationsmittel instrumentali- siert. Das wird vor allem dann fatal, wenn damit Ausgrenzung, Abgrenzung und Abwertung bestimmter marginalisierter Gruppen miteinhergehen, die nicht dem Identitätskonstrukt einer anderen Gruppe entspricht. Die Historie deutschsprachiger Mittelalterrezeption ist hier enorm vorbelastet; was mit- unter ein Grund sein kann, warum das Thema ausgespart wird (vgl. Gallé 2017, S. 11). Ein Beispiel: In den USA wurde die sogenannte „Vinland-Fahne“ bereits in den frühen 2000er- Jahren von White-Supremacists und Neonazis verwendet.4 Ursprünglich wurde die Fahne von Peter Steele, dem Gitarrist der Doom-Metal Band ›Type-O-Negative‹, entworfen. Die Farben entsprechen den Farben des Bandlogos und der Albencover und sollen das nordische Erbe, den Bezug zur Natur und zum Sozialismus repräsentieren (vgl. Sturtevant 2017). Der Intention der ursprünglichen „Erfinder“ der Fahne ist noch keine politische Agitation, aber definitiv schon eine Identitätskonstruktion auf Basis des Mittelalters vorzuwerfen.

3 Begriff nach Assmann: vgl. Assmann 1988, S. 9-19. Vgl. hierzu auch Huss 2018. 4 Vgl. Anti-Defamation League Hate Symbols Database, Vinland Flag. URL: https://www.adl.org/educa- tion/references/hate-symbols/vinland-flag (Stand: 28.11.2020).

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Die sogenannte „Vinland-Flagge“ (Bildnachweis: © Urocyon, CC BY-SA 3.0).

Hier kommen nun also die Wikinger ins Spiel. Der Name „Vinland“ ist die altnordische Be- zeichnung für Teile des nordamerikanischen Kontinents.5 Die Textquellen dazu sind vor allem die beiden sogenannten ›Vinland-Sagas‹ (Textedition: Ebel 1973). Ohne hier näher ins Detail gehen zu wollen: Bezeichnend für die Historiographie über „Wikinger“ ist, dass hier ursprüng- lich literarische Texte als historische Quellen ernst und somit altnordische Literatur als „histo- rische Fakten“ wahrgenommen werden. Das ist natürlich mit Vorsicht zu genießen, da man die literarische Eigenheit weiterhin berücksichtigen muss; viel ernster jedenfalls als beispielsweise deutschsprachige Heldensagen des Mittelalters. Die altnordische Skaldendichtung überschnei- det sich nicht nur im Stoffkreis, sondern auch im Hinblick auf Gattungsmerkmale stark mit der mittelhochdeutschen Heldenepik. Interessant ist nun, dass eben zu Beginn des neuen Millenniums die extreme Rechte in den USA diese Fahne für sich entdeckt hat. Dies hat soweit geführt, dass die Alt-Right Bewe- gung die „Vinland-Fahne“ mit der Reichskriegsflagge des Dritten Reichs und dem Logo von ›4-Chan‹ (einem englischsprachiges Imageboard) kombiniert zu einer „Flag of Kekistan“ (ich verzichte hier bewusst auf eine Darstellung).6 Wie kommt es, dass aus seiner zunächst „harmlosen“ Bebilderung einer Doom-Metal Band das Symbol einer Allianz aus Rassisten und Internettrollen wurde? Die Attraktivität liegt in beiden Fällen in dem Identitätsbezug zu den „Wikingern“, die als direkte Vorfahren verstan- den werden. So abstrus diese Konstruktionen auch sind, so stark ist ihre Wirkung.

5 Zur „Entdeckung“ Vinlands durch die Wikinger vgl. unter anderem Simek 2016. 6 Vgl. Hatewatch Staff, Flags and Other Symbols Used By Far-Right Groups in Charlottesville, in: Hate- watch (2017), URL: https://www.splcenter.org/hatewatch/2017/08/12/flags-and-other-symbols-used-far- right-groups-charlottesville (Stand: 27.11.2020).

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Die Vorstellung von einem Mittelalter, insbesondere der sogenannten „Wikingerzeit“ als „geordnete“ Epoche, in der noch alles unkompliziert gewesen sei und jede vermeintlich homo- gene Kultur ihre eigenen Kulturraum hatte, wirkt auf Ethnopluralist:innen (Vertreter der „Neuen Rechten“, die ethnische Homogenität in Gesellschaft und Staat anstrebt) sehr anzie- hend. Die „Wikinger“ stellen dabei für weiße Nordamerikaner:innen auch den einzigen mittel- alterlich-historisierbaren Abstammungsmythos dar. Dank der oben vorgenommenen Kategorisierung können wir aber jede einzelne Erschei- nung so einordnen, dass wir Peter Steele nicht in denselben Topf mit Neonazis werfen müssen. Identity-related Medievalism ist per se nichts Gefährliches, wird aber problematisch, sobald dieser eben missbräuchlich zur Ausgrenzung und Diskriminierung genutzt wird.

Escapistical Medievalism

Kommen wir zu etwas Erfreulicherem. Nicht nur aus politischen oder ideologischen Gründen ist das Mittelalter attraktiv; sondern auch zur Alltagsflucht. Als vielschichtige Projektionsfläche kann fantasiert und ausprobiert werden – vor allem im spielerischen Sinne wie in klassischen Video- und Brettspielen, Re-Enactement oder Live-Action-Roleplaying (LARP).7

Die romantische Vorstellung vom Mittelalter als unkorrumpierte, naturnahe und im besten Sinne bodenständige Zeit lädt zum Eskapismus ein (Bildnachweis: pixabay.com).

Solcher Eskapismus ist nicht zu belächeln oder als Randerscheinung abzutun, sondern hat seine Berechtigung. Man muss sich nur selbst hinterfragen, wo sich in den eigenen Alltagsflüchten

7 Vgl. hierzu auch Ortenberg-West-Harling 2010, S. 2 und Gallé 2017, S. 21-22.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Das Mittelalter und seine Rezeption: Medievalism (Nicolas Huss) das Mittelalter versteckt. Insbesondere die Wikinger sind hier aktuell immer wieder Bezugs- punkt, wie die vermehrte popkulturelle Beschäftigung à la ›Vikings‹ oder ›AC: Valhalla‹ zeigt. Eine mögliche Erklärung hierfür ist die „Zeitlosigkeit“ der Epoche durch ihre Sagengestalt oder besser gesagt aus Sicht eines germanistischen Mediävisten: ihrer „Heldenzeit“ (vgl. Kragl 2007).

Ragnar in Staffel 1 und Staffel 4 im Vergleich (Bildnachweis: © Spinalli313, C-BY-SA: Staffel 1, Folge 1 „Initiationsriten“; © Rome20, C-BY-SA: Staffel 4, Folge 8 „Der Landweg“).

So zeigen populäre TV-Serien wie ›Vikings‹, dass die Zeit an die Helden gekoppelt ist;8 reale Zeitverhältnisse spielen eine untergeordnete Rolle. Das ist, nebenbei bemerkt, nichts anderes als mittelalterlich-heldenepischer Erzählstil. Eigentlich vergehen zwischen den in der Serie dar- gestellten historischen Ereignissen von Staffel 1 und Staffel 4 beispielsweise mehr als 80 Jahre; Protagonist Ragnar Lodbrock steht aber, auch wenn minimal gealtert, weiterhin in vollem Saft. Messbare Zeit spielt in Heldenepen eine untergeordnete Rolle; ein historisch-narratologisches Spezifika, das die Serie ›Vikings‹ ebenfalls nutzt.

8 Übrigens eine Eigenheit mittelalterlichen Erzählens, vgl. Störmer-Caysa 2010, S. 362.

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Der Flucht aus dem Alltag hilft ein solcher Umgang mit Zeit ungemein: diese soll hinten- anstehen, bestimmt sie doch den Alltag der Rezipierenden schon zu genüge. Ob nun TV-Serien, Filme, Viking-Metal, Comics und : Geschichten von Wikinger-Held:innen begeistern. Grund dafür ist neben der „Zeitlosigkeit“ der Epoche eben auch deren Rolle als Sehnsuchtsort; ein Ort der Freiheit, der Naturverbundenheit und Spiritualität, aber auch ein Ort von klaren gesellschaftlichen Strukturen und Rangordnungen. Die Welt ist „einfach“; noch nicht so kom- pliziert wie unsere globalisierte Welt und funktional-differenzierte Gesellschaft heute. Dass eine stratifikatorisch-differenzierte (hierarchisch organisierte) Gesellschaft der Ka- tegorie „Freiheit“ widerspricht ist egal, denn Freiheit gilt ohnehin nur für die vermeintlich pri- vilegierten (potenten) Gruppen (Adlige, Reiche und Warlords), welchen man sich als (weiße:r) Rezipient:in verbunden fühlt oder fühlen soll. Aber auch das hobbymäßige Schlüpfen in be- stimmte historische Kostüme oder Rollen zählt hier natürlich dazu. Hierzu später mehr, wenn wir uns damit beschäftigen, wie die einzelnen Kategorien neben- und ineinander wirken können.

Objectivity-related-medievalism

Als dritte Kategorie kommt nun erneut die Wissenschaft in Spiel; aber nicht nur. Objektbezo- genheit meint hier vor allem den Versuch, das Mittelalter so plausibel (oder um das Unwort zu verwenden: korrekt) wie möglich darzustellen. Diesen Anspruch verfolgt natürlich einerseits die Wissenschaft, auch wenn wir als Wissenschaftler:innen (meistens) nicht mehr den Ansprü- chen Leopolds von Ranke nachhängen, Geschichte so zu erzählen, „wie es eigentlich gewesen“ ist. (Ranke 1974, S. VII) Der Versuch, die Vergangenheit an sich zu rekonstruieren, kann aber, wie eingangs erwähnt, nur mit Annäherung auf Basis der uns vorhandenen Quellen gelingen. Auf einem anderen Blatt steht das „Wie“ der Annäherung. Besonders eindrucksvoll zeigt die Beschäftigung mit den Wikingern, wie ganz unterschiedliche Disziplinen international in- einandergreifen und sich gegenseitig bereichern können. Berühmt sind hier vor allem die trans- disziplinären Forschungen wie die zur „Kriegerin von Birka“ (vgl. Hedenstierna-Jonson u.a. 2017) oder zum Beenden des Mythos von „blonden Wikingern“ (vgl. Ashot Margaryan u.a. 2020). Hier finden dann auch kulturwissenschaftliche Disziplinen wie Gender-Studies und auch Postcolonial-Studies ihre Anknüpfungspunkte. Doch nicht nur die Wissenschaft verfolgt den Anspruch sich der „Historischen Wirklich- keit“ anzunähern. Wikinger-Reenactementgruppen auf der ganzen Welt wollen „ihre“ Epoche so gut es geht rekonstruieren und begeben sich dabei, obgleich in aller Regel wissenschaftliche Laien, in die Untiefen von Museen, Archiven und Forschungsliteratur. Solche Varianten von „Citizen-Science“ versuchen daher ebenfalls, die eigene Beschäftigung mit der Vergangenheit

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Das Mittelalter und seine Rezeption: Medievalism (Nicolas Huss) mit wissenschaftlichem Standard zu verbinden und unterliegen dennoch weiterhin weitestge- hend dem Irrtum, die Vergangenheit, so wie sie wirklich gewesen sei, rekonstruieren zu können. Für Laien wie auch für die Wissenschaft ist es wichtig zu verstehen, dass die Rekonstruktion der Vergangenheit maximal ein Konsens darüber sein kann, was die plausibelste und objek- tivste Annäherung an das Mittelalter sei.

Neomedievalism

Im Rahmen der letzten Kategorien schauen wir uns an, was passiert, wenn nicht das „Mittelal- ter“ als historische Epoche rezipiert, umgearbeitet oder missbraucht wird, sondern dezidiert bereits vorhandene Medievalisms. Es geht dabei um eine meta-reflexive Sichtweise auf Medi- evalisms und das Konstrukt „Mittelalter“ an sich. Hier besteht eine enge Verbindung zur Post- moderne,9 da Neomedievalisms ein durchaus neueres Phänomen in der Geschichte der Mittel- alterrezeption darstellen. Grundlage ist weniger die Bezugnahme auf die Vergangenheit, son- dern die Bezugnahme auf bereits bearbeitete Vergangenheit, folglich „Geschichte“. Dekonstruktivismus, Feminismus und Postkolonialismus sind hier einschlägige Stich- wörter. Es geht einerseits um ironische Überblendung, andererseits um das Thematisieren ak- tueller politischer und gesellschaftlicher Entwicklungen. Das Mittelalter wird dadurch als The- menfeld auch inklusiver. Man arbeitet sich an bereits vorhandenen Vorstellungen vom Mittel- alter ab (vgl. Coote 2010, S. 29-32). Ein Beispiel: In der -Adaption des Mangas ›Vinland-Saga‹ wird bereits in der ers- ten Folge (›Vinland-Saga‹ 1,1) das Thema Sklaverei aufgegriffen und verhandelt. Das Thema an sich ist nicht das, was es diesen Teil der Episode zu einem Neomedievalism macht, sondern die Präsentation des Themas; demnach das „Wie“ der Erzählung und nicht das „Was“. Der als gewalttätiger und unbesiegbarer Heros eingeführte Vater (Thors) des Protagonis- ten (Thorfinn) verschont in der Episode das Leben eines vor seinem Haus gefundenen Sklaven, der einem benachbarten Jarl gehört. Selbstverständlich hat dies einerseits mit der Sympathies- teuerung in Bezug auf die Charaktere zu tun. Thors ist ein sanfter Riese, der nun der Gewalt abgeschworen hat.

9 „Neomedievalism is one way of doing medievalism, one that requires certain philosophical and technolog- ical shifts in order to exist at all. Yet while medievalism can exist perfectly independently at any point in time, neomedievalism, despite its seeming ahistoricity, is historically contingent upon both medievalism itself and the postmodern condition” (Kaufman 2010, S. 2).

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Thorvinns Schwester findet den im Schnee begrabenen, aber noch lebenden Sklaven (Bildnachweis: © Wit Studio).

Andererseits ist dies eine Art von Neomedievalism, da hier ein Thema verhandelt wird, das „klassische“ Medievalisms der Wikingerzeit gerne aussparen, weil ein Held, der – ähnlich ei- nem Dietrich von Bern – erst als gewaltsamer unbesiegbarer Krieger und gleichzeitiger Zaude- rer eingeführt wird, nun auch mit (post)modernen Idealen eines Helden aufgeladen wird. Soll heißen: Der „Wikinger-Held“ Thors wird hier entgegen der Darstellung von Wikinger-Helden als reine Rauf- und Saufmaschinen mit fragileren Charakterzügen versehen; ein Charakter also, der auch auf heutige gesellschaftliche Fragestellungen zugeschnitten ist. Neben diesem Aspekt der Geschlechterrolle wird dies an einem Thema wie der Sklaverei verhandelt, das durch den „postcolonial turn“ wieder verstärkt problematisiert und thematisiert wird.

I‘m not a princess, I‘m a Schieldmaiden…

Wichtig ist nun, nachdem wir uns die vier Kategorien von Medievalisms erschlossen haben, zu betonen, dass diese nun rein theoretisch innerhalb von einem Phänomen, einer Inszenierung von Geschichte, existieren können. Dazu will ich das Beispiel der Schildmaid aufgreifen. Die ersten mehr oder weniger popkulturellen Vertreterinnen finden sich unter anderem in den Opern Richard Wagners. Den mitunter größten Einfluss auf das heutige Bild der Schildmaiden haben, vor allem in Bezug auf die breite Öffentlichkeit, wohl die Figur Eowyn aus der Fantasytrilogie ›Der Herr der Ringe‹ und mittlerweile wohl auch die Figur der Lagertha aus ›Vikings‹. Wie können wir nun in der Schildmaid unsere vier Kategorien erkennen?

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Amalie Materna als Brunhild (Bildnachweis: Joseph Albert, Publicity photo for first production of Der Ring Des Nibelungen in 1876-08-??, Gemeinfrei).

Ich beginne mit dem Escapistical Medievalism. Dieser zeigt sich neben den vielen Film- und Serien-Adaptionen vor allem in der Reenactement- und LARP-Szene. Der Typus der Schild- maid, die sich in einem männlich dominierten Umfeld durchzusetzen weiß, ist eine populäre Rolle, die natürlich, vor allem für nicht-männliche Personen, einen hohen Rezeptionsanreiz bietet. Online-Shops bieten hier mitunter gleich das ganze Set an.10 Auch auf „massentauglicheren“ Events wie Mittelaltermärkten sind Schildmaiden oft zu entdecken. Ebenso tritt sie immer wieder als vorgefertigte Charakterschablone im „Pen und Paper“-Rollenspiel und in MMORPGs auf. Im Hinblick auf den Objectivity-related Medieva- lism ist hier das oben bereits erwähnte Grab von Birka im akademischen wie nicht akademi- schen Bereich immer wieder Dreh- und Angelpunkt, wenn es um die Frage geht, welchen Stel- lenwert Kriegerinnen in der Kultur und Gesellschaft der Wikinger innegehabt haben. So bieten archäologische Funde wie dieser die Interpretationsmöglichkeit, Schildmaiden „historisch“ plausibel werden zu lassen.

10 Vgl. https://www.battlemerchant.com/tag/schildmaid.html (Stand: 25.11.2020).

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Aber auch ein weitgehend neutrales Beispiel wie dieses ist nicht frei von politischem Missbrauch. Einerseits gibt es beispielsweise Re-Enactementgruppen, die in Bezug auf ver- meintlich „historische Fakten“ nicht-männliche Personen aus dem Kreis bestimmter nachspiel- baren Figuren und Rollen exkludieren wollen. Andererseits gibt es aber auch heute in der Neuen Rechten die Stilisierung von Frauen als Kriegerinnen und Valkyren; als Verteidigerinnen der Traditionen (vgl. Kaufman / Sturtevant 2020, S. 90-92). Eine kürzlich erschienene Recherche von Correctiv zeigt auf, wie verbreitet die Wikinger-Germanen-Romantik bei Influencerinnen aus dem neu-rechten Spektrum ist.11 Letzteres ist natürlich an und für sich auch eine Form des Neomedievalism. Zum Abschluss wollen wir hier jedoch die positiven Seiten des Neomedievalism Schild- maid aufgreifen. Denn durch ihn wird losgelöst von der Frage nach historischer „Korrektheit“ eine Teilhabe an (post)modernen Rezeptionen des Mittelalters für nicht-männliche Personen ermöglicht; vor allem mit den oben erwähnten Beispielen aus Film und Serie gibt es starke Identifikations- und Vorbildfiguren. Wikinger:innen müssen also nicht immer nur muskelbe- packte haarige Männer sein, die sich ihren Weg durch Feindesscharen schnetzeln. Im Sinne des Neomedievalism darf hier jede:r als Schildmaid mitschnetzeln; sei es auf einer Wiese im spie- lerischen Kampf, in gemütlicher Runde auf dem Papier oder im virtuellen Raum von Tamriel (die Welt der ›The Elder Scrolls‹-Reihe) oder Thedas (die Welt der ›Dragon-Age‹-Reihe). Bei jeglicher Form der Aneignung vom „Mittelalter“ – wie hier im Speziellen Facetten der soge- nannten „Wikingerzeit“ – sind die oben kategorisch aufgezeigten Dimensionen von Medieva- lism sukzessive mitzudenken.

11 Vgl. Kein Filter für Rechts, URL: https://correctiv.org/top-stories/2020/10/06/kein-filter-fuer-rechts-insta- gram-rechtsextremismus-frauen-der-rechten-szene (Stand: 22.11.2020).

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ZITIEREMPFEHLUNG

Nicolas Huss, Das Mittelalter und seine Rezeption: Medievalism, in: Mittelalter Digital 1, Aus- gabe 2 (2020), S. 66-81.

LITERATURVERZEICHNIS

Primärtexte

Ebel 1973: Die Vínlandsagas. Ausgewählte Texte zur Entdeckung Amerikas durch die Wikinger. Mit Anmerkungen und Glossar, hrsg. von Else Ebel, Tü- bingen 1973.

Sekundärtexte

Assmann 1988: Jan Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: Ders. (Hrsg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt am Main 1988, S. 9-19.

Emery 2009: Elisabeth Emery, Medievalism and the Middle Ages, in: Studies in Me- dievalism 17 (2009), S. 77-85.

Gallé 2017: Volker Gallé, Vom finsteren zum bunten Mittelalter – eine Einführung, in: Ders. (Hrsg.), Vom finsteren zum bunten Mittelalter. Wissenschaftli- ches Symposium der Nibelungenliedgesellschaft und der Stadt Worms vom 16. bis 18. Oktober 2015 im Wormser Kultur- und Tagungszentrum, Worms 2017, S. 7-13.

Hedenstierna-Jon- Charlotte Hedenstierna-Jonson u.a., A female Viking warrior confirmed son u.a. 2007: by genomics, in: American Journal of Physical Anthropology 164, 4 (2017), S. 853-860. Huss 2018: Nicolas Huss, Ist das Mittelalter oder kann das weg? Zur Debatte um Authentizität in Kingdom Come: Deliverance, in: PAIDIA (2018), URL: https://www.paidia.de/ist-das-mittelalter-oder-kann-das-weg- zur-debatte-um-authentizitaet-in-kingdome-come-deliverance (Stand: 22.11.2020).

Karg 2008: Ina Karg (Hrsg.), Nibelungen-Rezeption, Bielefeld 2008.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Das Mittelalter und seine Rezeption: Medievalism (Nicolas Huss)

Kaufman 2010: Amy S. Kaufman, Medieval Unmoored, in: Studies in Medievalism 19 (2010), S. 1-11.

Kaufman / Sturte- Amy S. Kaufman / Paul B. Sturtevant, The Devil’s Historians: How Mod- vant 2020: ern Extremists Abuse the Medieval Past, Toronto 2020.

Kragl 2007: Florian Kragl, Gibt es eine Heldenzeit? Vergangenheitskonzeptionen in hoch- und spätmittelalterlicher Literatur, in: Ders. / Johannes Keller (Hrsg.), Heldenzeiten – Heldenräume: Wann und wo spielen Heldendich- tung und Heldensage? 9. Pöchlarner Heldenliedgespräch, Wien 2007 (= Philologica Germanica 28), S. 61-86.

Margaryan u.a. Ashot Margaryan u.a., Population genomics of the Viking world, in: Na- 2020: ture 585 (2020), S. 390-396.

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Weitere Links zu Online-Ressourcen

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Kein Filter für Rechts, URL: https://correctiv.org/top-stories/2020/10/06/kein-filter-fuer- rechts-instagram-rechtsextremismus-frauen-der-rechten-szene.

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MEDIENVERZEICHNIS

›Vikings‹: ›Vikings‹ (Kanada & Irland seit 2013; Idee: Michael Hirst).

›Assassin’s Creed: Valhalla: Ubisoft Montreal: ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ (Montreuil 2020, Ubisoft).

›Vinland-Saga‹: ›Vinland-Saga‹ (Japan 2019; Drehbuch: Hiroshi Seko / Kenta Ihara).

›Vinland-Saga‹ 1,1: Regie: Shūhei Yabuta: ›Somewhere Not Here‹, in: ›Vinland-Saga‹ (Japan 2019; Drehbuch: Hiroshi Seko / Kenta Ihara), Staffel 1, Folge 1.

›Herr der Ringe‹: ›Der Herr der Ringe‹ (Filmtrilogie) (USA / Neuseeland 2011-2003, Regie: Peter Jackson).

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Monster, Trolle, Wikinger in der isländischen Sagaliteratur (Rebecca Merkelbach)

Monster, Trolle, Wikinger:

Das Monströse in der isländischen Sagaliteratur

von Rebecca Merkelbach

Die mittelalterliche Sagaliteratur Islands blickt mit einigem zeitlichen Abstand zurück auf die Wikingerzeit.1 In diesem Rückblick, der irgendwo zwischen Erinnerung und Ima- gination anzusiedeln ist, werden nicht nur die Besiedlung Islands, die Gründung der is- ländischen Gesellschaft und die Christianisierung des Landes reflektiert, sondern auch viele paranormale und monströse Wesen, die die Landschaften und Erzählungen bevöl- kern. In diesem Artikel möchte ich eine Einführung in die „Monsterwissenschaft“ geben, einige Ansätze vorstellen, und die trollischen Monster der Isländersagas beleuchten. Was macht diese Wesen aus? Wie werden sie dargestellt? Und inwiefern können wir sie als monströs bezeichnen? Monstrosität ist ein komplexes Thema, und ich kann hier nur ei- nige generelle Punkte ansprechen. Ich hoffe aber, mit diesem Beitrag das Interesse an Monstern und/in den Isländersagas zu wecken. Aber was sind überhaupt Monster? Das Wort monstrum wird etymologisch mit demonst- rare, „zeigen, aufzeigen“ und monere, „warnen“ in Verbindung gebracht. Das Monster ist also

1 Die Sagas existieren in verschiedenen Gattungen: Isländersagas handeln von der Besiedlung und Gründung Islands im 9. bis 11. Jh.; Vorzeitsagas spielen in Kontinentalskandinavien, dem Baltikum und den britischen Inseln in einer grauen Vorzeit; Märchensagas sind beeinflusst von höfischen Traditionen und deshalb in Europa, Asien und Afrika angesiedelt; Königssagas erzählen die Geschichten der norwegischen Könige. Alle Sagas entstehen ab ca. dem 12. Jh., die Isländersagas v.a. zwischen dem 13. und 15. Jh. Mit ihnen werden wir uns hier hauptsächlich befassen.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Monster, Trolle, Wikinger in der isländischen Sagaliteratur (Rebecca Merkelbach) ein Wesen, das vor etwas warnt und auf Dinge jenseits seiner selbst hindeutet. Im Mittelalter wurden mit dem Begriff monstrum vor allem Wesen bezeichnet, die aus antiken und spätantiken gelehrten Traditionen bekannt waren. So schrieben bereits Plinius der Ältere, Augustinus von Hippo und Isidor von Sevilla über monstra und bezeichneten mit ihnen hybride Wesen, die entweder aus Mensch und Tier zusammengesetzt sind oder deren Körper durch Deformationen von der menschlichen Norm abweichen. Darunter befinden sich Hundsköpfige genauso wie Blemmyae, die ihr Gesicht auf der Brust tragen, oder Sciapoden, die auf einem großen Fuß hüpfen. Diese Wesen gehören alle zu den sogenannten Wundervölkern.

Gattungen des Monströsen (Bildnachweis: Livre des merveilles du monde, BnF ms fr 1377, 27r).

Weil diese Wesen in der gelehrten Literatur der Spätantike und des Mittelalters mit dem Begriff benannt wurden, aus dem unser modernes „Monster“ wurde, haben manche Wissenschaftler argumentiert, dass nur diese Form von Monstrosität im Mittelalter auch als solche bezeichnet werden kann. Dagegen wendet sich jedoch die moderne Monsterforschung. Bereits 1996 publi- zierte Jeffrey Jerome Cohen das kulturwissenschaftliche Manifest ›Monster Culture ( Theses)‹, in dem er eine transhistorische und transkulturelle Monstertheorie aufstellt. Zentrale Feststellungen sind hier vor allem, dass der hybride Körper des Monsters ein kulturell nutzbarer Körper ist: Durch seine Funktion als etwas, das mahnt und aufzeigt, wird das Monster lesbar im Kontext seiner Entstehung. Zudem hält Cohen fest, dass Monster sozio- kulturelle Grenzen bewachen: Wer ihnen zu nahekommt, wird entweder getötet oder selbst zum Monster. Wichtig ist hier, dass Cohens Theorien und viele darauf aufbauende Publikationen sich weiter um körperliche Monstrosität drehen – andere Formen des Monströsen sind erst ein- mal nicht greifbar. Zudem ist hier das Monströse dichotom dem Menschlichen gegenüberge- stellt. Bereits Margrit Shildrick schlägt aber in ihrer Monographie ›Embodying the Monster‹ eine andere Monsterkonzeption vor:

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Monster, Trolle, Wikinger in der isländischen Sagaliteratur (Rebecca Merkelbach)

In place of a morality of principles and rules that speaks to a clear-cut set of binaries setting out the good and the evil, the self and the other, normal and abnormal, the permissible and the prohibited, I turn away from such normative ethics to embrace instead the ambiguity and unpredictability of an openness towards the monstrous other [...] to contest the binary that opposes the monstrous to the normal.

– Shildrick 2001, S. 3.

Ihrer Ansicht nach ist das Monströse also keinesfalls eine absolute, essentielle und durch binäre Opposition zum Menschlichen gekennzeichnete Kategorie, und diese wichtige Beobachtung bietet auch eine Grundlage für meinen Ansatz.

Monster in den isländischen Sagas

Wie ist das nun in den isländischen Sagas? Wenn wir uns hier auf die monstra der gelehrten Tradition beschränken, sieht der Stoff sehr dünn aus. Nur in Eiríks saga rauða, einer der beiden Vinlandsagas, die die Reise nach Nordamerika und den Besiedlungsversuch einiger Isländer und Grönländer beschreiben, treffen wir einen einfætingr, „Einfuß“ – einen Sciapoden. Dessen Auftauchen zeigt deutlich, dass isländische Sagaschreiber versiert in den gelehrten Traditionen des Kontinents waren und wussten, dass man in solch „exotischen“ und weit entfernten Ländern mit monströsen Wesen rechnen musste. Allerdings ist er in der Gattung der Isländersagas der einzige seiner Art.2 Bedeutet das also, dass diese Texte sich nicht mit Monstrosität befassen? Hier hilft uns ein Blick in indigene, isländische Monsterbezeichnungen weiter. Der wohl am häufigsten gebrauchte Begriff für potentiell monströse Wesen ist troll oder tröll, also Troll.3 Allerdings ist dieser Begriff im Mittelalter weitaus weitläufiger und unschärfer als sein moder- nes Äquivalent. Wo wir uns heute die Trolle skandinavischer Volksmärchen vorstellen – also Höhlenbewohner, die Menschen auflauern –, sahen mittelalterliche Isländer eine Reihe ver- schiedener Wesen. Ármann Jakobsson schreibt:

A troll may be a giant or mountain-dweller, a witch, an abnormally strong or large or ugly person, an evil spirit, a ghost, a blámaðr, a magical boar, a heathen demi-god, a demon, a brunnmigi or a berserk.

– Jakobsson 2008, S. 52.4

2 In ›Yngvars saga víðförla‹, die den Vorzeitsagas zugerechnet wird, findet man noch andere Monster aus der gelehrten Tradition, wie z.B. Zyklopen. 3 Andere Begriffe sind dólgr und óvættr, die man beide mit Ungetüm übersetzen kann. 4 Als blámaðr, wortwörtlich „schwarzer Mann“, werden zumeist Figuren bezeichnet, die sowohl rassifiziert als auch paranormal konnotiert sind. Sie tragen also verschiedene Merkmale der Monstrosität. Zu ihnen vgl. Vídalín 2020.

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Diese Wesen haben alle eins gemein: Sie weichen von einer angenommenen Norm menschli- cher Erfahrung ab, in dem meisten Fällen durch einen Übertritt in Dimensionen (wie Magie, Berserkergang, oder gar eine untote Existenz), die gewöhnlichen Menschen nicht zugänglich sind. Das definiere ich als paranormale Konnotation. Im Folgenden werde ich vor allem dieje- nigen Trolle diskutieren, die menschlich sind oder es einmal waren: Wiedergänger, Berserker und Zauberkundige. Abschließend will ich kurz auf höhlenbewohnende Trolle und monströse Tiere eingehen. Abgesehen von ihrem geteilten Zugang zum Paranormalen ist diese Gruppe von mögli- chen Trollen jedoch so divers, dass sie uns wenig Auskunft darüber geben, was ein Troll ei- gentlich ist. Was sie uns stattdessen jedoch sagen ist, was ein Troll tut: Jakobsson hält fest, dass „a troll may be categorized by trollish behaviour“ (Jakobsson 2008, S. 52). Doch was ist trollisches Verhalten? Um diese Frage zu beantworten, wenden wir uns nun endlich einigen Beispielen aus den Sagas zu. Wiedergänger eignen sich hier besonders gut, da sie durch ihren untoten Zustand – durch die Überschreitung einer Grenze, die nie überschritten werden sollte – besonders eindeutig als monströs angesehen werden können. Als Untote sind sie per Definition hybride Wesen, was uns Aufschluss über ihren Zustand gibt. Doch die Be- zeichnungen, die wir in den Sagas gewöhnlich für diese Wesen finden, sagen ebenfalls wieder mehr über das aus, was sie tun, als das, was sie sind. So werden sie als reimleikar, „Spuk“, bezeichnet und als aptrgöngur, „Wiedergänger“.5 Verhalten ist somit eine Grundlage für Monstrosität in dieser Literatur, und da Verhalten nicht absolut ist, eröffnet sich die Möglichkeit, die Monster der Isländersagas mit Shildricks Konzept von ambiger und fluider Monstrosität zu lesen. Doch dazu später mehr. Zunächst wollen wir uns ein Beispiel aus der ›Eyrbyggja saga‹ ansehen, einen besonders bösartigen Wiedergänger, um Erkenntnisse über das Verhalten von Monstern oder Trollen zu gewinnen. Und hier finden wir dann auch die versprochenen Wikin- ger. Denn Þórólfr bægifótr,6 einer der drei schlimmsten Untoten der Isländersagas,7 fuhr in sei- ner Jugend zur Wiking, bevor er in Island siedelte.

5 Die Forschung hat sie häufig als draugar bezeichnet (Sg. draugr), aber dieser Begriff wird in der Sagalite- ratur sehr selten verwendet und sollte deshalb vermieden werden. Seine häufige Verwendung, die sich mitt- lerweile auch in der Populärkultur wiederfindet (vgl. die Draugr in ›The Elder Scrolls V: Skyrim‹), liegt sicherlich daran, dass draugur im modernen Isländischen „Geist“ oder „Untoter“ bedeutet. 6 „Krummbein“; er erhielt diesen Beinamen, nachdem eine Duellverletzung nicht richtig verheilte. 7 Die anderen sind Víga-Hrappr Sumarliðason in ›Laxdæla saga‹ und Glámr in ›Grettis saga‹.

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Beginn der ›Viktors saga og Blávus‹, einer Märchensaga (Bildnachweis: AM 471 4to, fol. 96v).

Das Verhalten, das für ein von Gewalt und Dominanzstreben geprägtes Wikingerleben nötig ist, scheint er allerdings nicht ganz hinter sich lassen zu können: Er erlangt sein Land in Island durch ein Duell mit einem kinderlosen alten Mann. Danach verbringt er sein Leben vor allem damit, seinen Sohn Arnkell zu manipulieren und ihn gegen den machthungrigen Goden Snorri auszuspielen. Im Alter wird Þórólfr immer schwieriger im Umgang. Als Arnkell sein Spiel nicht mehr mitspielen will, stirbt Þórólfr aus Wut und Frustration, aufrecht sitzend und mit offenen Augen. William Sayers sagt dazu, „it is as if he implodes” (Sayers 1996, S. 250). Arnkell wird gerufen, schließt dem Toten die Augen und bricht die Wand ein, um den Körper hinauszutragen. Dieses Motiv finden wir auch in ›Egils saga‹ – es sollte wohl dazu dienen, den Toten zu verwirren, damit er, falls er nicht ruhig in seinem Grab liegen bleibt, den Weg zurück nicht mehr finden kann. Arnkells Impuls war der richtige, denn kurz nachdem Þórólfr begraben wurde, erfahren wir, dass Þórólfr lá eigi kyrr („nicht ruhig lag“; Sveinsson / Þórðarson 1935, S. 93). Er beginnt damit, einen Schafhirten zu plagen, der kurz darauf stirbt – und nun zusam- men mit Þórólfr spukt. Selbst seine Witwe lässt Þórólfr nicht in Ruhe, und auch sie erscheint daraufhin in seinem Gefolge. Þórólfr reitet das Dach, tötet Vieh und Diener und macht allen das Leben auf dem Hof unmöglich. Sogar Wildtiere sind nicht vor ihm sicher, und Vögel, die auf seinem Grabhügel landen, sterben sofort. Wir haben es hier mit einer Dimension bösartiger Energie zu tun, die ihres Gleichen sucht. Schlussendlich bleibt Arnkell nichts Anderes übrig,

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Monster, Trolle, Wikinger in der isländischen Sagaliteratur (Rebecca Merkelbach) als den Leichnam seines Vaters an einem weiter von den Siedlungen entfernten Ort zu begra- ben. Solange Arnkell am Leben ist, verhält sich Þórólfr ruhig.8 Besonders interessant sind hier zwei Aspekte: die Ansteckungskraft des Monsters, und seine Interaktion mit der Gesellschaft, denn beide Aspekte finden sich auch in anderen Wieder- gängergeschichten wieder. ›Eyrbyggja saga‹ interessiert sich scheinbar besonders für diese Wesen, denn Þórólfr ist nicht der einzige seiner Art, der in dieser Saga erscheint. Kurz nach- dem Þórólfr (zumindest vorläufig) besiegt wird – im Winter nach der Christianisierung des Landes – finden die sogenannten Fróðárundur statt, die Wunder vom Hof Fróðá. Neben einigen anderen Begebenheiten bestehen diese auch aus einer mysteriösen Krankheit, die in mehreren Wellen einen Teil der Bewohner des Hofes tötet. Finden wir hier Parallelen zu unserer eigenen momentanen Situation? Ich hoffe nicht! Denn die Opfer dieser Epidemie kommen kurz darauf alle von den Toten zurück und übernehmen den Hof. Zu ihnen gesellen sich zudem Ertrunkene, und die beiden Gruppen von Wiedergängern bewerfen sich über das zentrale Feuer hinweg mit Schlamm. Den lebenden Bewohnern bleibt nichts Anderes übrig, als sich in einem kleineren Nebengebäude einzurichten. Auch hier ma- chen die anwesenden Wiedergänger also den Alltag der Lebenden unmöglich. Sie nehmen ihnen zwar nicht Leben oder Vieh, sondern Wärme und Licht, doch beides ist im langen islän- dischen Winter absolut überlebenswichtig. Die Interaktion mit den Lebenden ist hier weniger destruktiv als in Þórólfrs Fall, aber auch diese Wiedergänger sind sehr hartnäckig. Erst eine Kombination aus einem sogenannten Türgericht und Exorzismus – also gesetzlich-soziale und religiöse Maßnahmen – verbannen sie erfolgreich.

Beserker

Monströse Ansteckung – wie schon von Cohen erwähnt – sowie die Disruption des (Über-)Le- bens durch das Monster stellen somit im Fall von Wiedergängern zentrale Aspekte von trolli- schem Verhalten dar. Wie sieht das bei anderen Monstern aus? Berserker, beispielsweise, tau- chen meist als Räuber auf, bedrängen Bauern und fordern sie zu Duellen heraus, deren Gewin- ner nicht nur Kontrolle über den materiellen Besitz des Bauern bekommt, sondern vor allem

8 Nachdem der Gode Snorri Arnkell hat töten lassen, fängt Þórólfr wieder an zu spuken. Der Bauer Þóróddr verbrennt den unverwesten Körper des Wiedergängers, doch dabei wird einige Asche gegen einen Stein geblasen. Eine Kuh leckt die Asche auf und gebiert kurz darauf ein extrem großes Kalb. Die alte Pflege- mutter des Bauern warnt ihn, dass dieses Kalb trollisch ist, doch er hört nicht auf sie. Aus Gier zieht er das Kalb groß, doch es wird mit der Zeit immer schwieriger zu kontrollieren. Schlussendlich tötet es Þóroddr und versinkt in einem Sumpf – erst das ist das wirkliche Ende von Þórólfr.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Monster, Trolle, Wikinger in der isländischen Sagaliteratur (Rebecca Merkelbach) auch über die Frauen in seiner Familie. Da sie die Fähigkeit besitzen, sich in Berserkerwut zu ver- setzen – was sie dem Paranormalen nahebringt –, gewinnen sie diese Duelle natürlich in der Regel. Nur wenn ein Held auftaucht, um sie zu bekämpfen, können sie besiegt werden. Neben dem menschlichen und wirtschaftlichen Schaden, den Berserker anrichten, wenn sie Frauen vergewaltigen, Bauern töten und deren Besitz an sich reißen, ist es vor allem ihre sexuelle Ge- walt, die sie so gefährlich macht. Denn durch ihre Vergewaltigung von Frauen riskieren sie die Verbreitung ihrer Monstrosität. So liegt die Fähigkeit, sich in Berserkerwut zu bringen, in der Natur, eðli, eines Menschen,9 und diese scheint vererbbar zu sein. In ›Svarfdæla saga‹ entführt Snækollr Ljótsson, der Sohn eines Berserkers, Þórarna, die Schwester von Þorsteinn.10 Einige Jahre später schickt Þórarna die beiden Kinder, die Snækollr gezeugt hat, zu ihrem Bruder nach Island. Vor allem der Sohn, Klaufi, stellt sich schnell als äußerst problematisch heraus, und Þorsteinn kann ihn bald nicht mehr kontrollieren. So dauert es nicht lange, bis auch Klaufi das erste Mal zum Berserker wird. Zudem legt auch er sexuell übergriffiges Verhalten an den Tag und bringt mit List die schöne Yngvildr in seine Gewalt. Klaufi ist ein Sonderfall unter den Sagamonstern. Nachdem Yngvildr seinen Tod herbeigeführt hat, bleibt auch er nicht ruhig in seinem Grab liegen, und selbst die Enthauptung seines Leichnams – sonst ein sehr effektives Mittel gegen Wiedergänger – hält ihn nicht davon ab, weiter zu spuken. Erst am Ende der Saga, als sein Körper verbrannt wird, gibt Klaufi endlich Ruhe. Zwischenzeitlich hat er jedoch dafür gesorgt, das soziale Gefüge in Svarfaðardalr zu sprengen. Ansteckung und disruptive Interaktion sind also auch hier Merkmale trollischen, monströsen Verhaltens.

Zauberkundige

Bislang haben wir vor allem Beispiele gesehen, in denen Monstrosität auch körperlich erklärbar ist. Die meisten Wiedergänger sind extrem stark – so stark, dass sie selbst für Grettir, den stärks- ten Mann Islands, eine Bedrohung darstellen.11 Berserker verfügen ebenfalls über extreme kör- perliche Kräfte, die sie in der Berserkerwut freisetzen können. Handelt es sich hier also nur um eine weitere Spielart körperlicher Monstrosität, wie Cohen sie beschreibt?

9 So in ›Eyrbyggja saga‹ (Sveinsson / Þórðarson 1935, S. 61), und ›Vatnsdæla saga‹ (Sveinsson 1939, S. 97). 10 Snækollr selbst wird nie als Berserker bezeichnet, aber da seine männlichen Verwandten Berserkerwut zeigen, ist anzunehmen, dass Klaufi daher diese paranormale Fähigkeit hat. 11 Grettir kämpft mit vielen verschiedenen Monstern – Wiedergängern, Berserkern, und Trollen – und man könnte ihn fast als professionellen Monsterjäger bezeichnen. Glámr, einer der oben beschriebenen bösarti- gen Wiedergänger, schafft es dennoch, Grettir fast zu überwältigen und ihn in einem schwachen Moment zu verfluchen.

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Wenn wir uns einen weiteren menschlichen Trolltypus ansehen, lautet die Antwort ganz klar: nein. Denn Zauberkundige werden körperlich nie näher beschrieben, und in ihrem Fall ist es ihre Kontrolle über paranormale Mächte, die gewöhnlichen Menschen nicht zugänglich sind, die sie trollisch und monströs macht. Magie funktioniert allerdings etwas anders als die beiden anderen Formen von Monstrosität. Auch wenn wir Familien von Zauberkundigen in den Sagas finden, scheint Magie nicht vererbbar, sondern lernbar zu sein. Um mit dieser Form von „Trol- lischsein“ angesteckt zu werden, muss also eine gewisse Freiwilligkeit vorliegen. Zudem ist Magie selbst nicht unbedingt negativ konnotiert – es ist eher die Frage, wofür man sie einsetzt.12 Dennoch werden Zauberkundige immer mit Skepsis und Ambivalenz behandelt, und das scheint berechtigt, denn wir finden in den Sagas kaum Beispiele positiver Magie. Stattdessen sind Geschichten wie die der Familie von Kotkell, Gríma und ihren Söhnen typisch, die wir in ›Laxdæla saga‹ finden. Diese vier Zauberkundigen stehlen von den örtlichen Bauern, die aber wegen der paranormalen Kräfte der Familie nicht an sie herankommen. Mit diesen Kräften erreichen sie auch, dass der Gode der Region seine schützende Hand über sie hält, denn zum Ausgleich unterstützen sie ihn. Erst als sie mit Magie den jüngsten Sohn eines einflussreichen Mannes umbringen, scheint eine Grenze überschritten: Alle vier werden exekutiert. Einer der beiden Söhne, Stígandi, schafft es jedoch, vor seiner Hinrichtung einen fruchtbaren Hang zu verfluchen, der seitdem brachliegt. Auch hier sehen wir also wieder die Macht monströser Interaktion und die gesellschaftliche und wirtschaftliche Disruptivität ihrer Handlungen. Da gesellschaftliche Transgression und Disruption sowie Ansteckung die Hauptmerk- male dieser Form des „Trollischseins“ sind, spreche ich auch von sozialer Monstrosität – das heißt, Monstrosität am Rande von und gegen die Gesellschaft. Das baut schlussendlich auf Jen- nifer Nevilles Beobachtungen zu Monstrosität in der altenglischen Literatur auf. Sie stellt fest:

Monsters intrude into and threaten human society. This is important: monsters do not threaten individuals only, but society as a whole.

– Neville 2001, S. 112.

In diesen Literaturen gilt: Menschlich ist, wer sich menschlich verhält. Wer hingegen seine paranormalen Kräfte gegen die Gesellschaft einsetzt, wird zum Troll. Doch woher wissen wir eigentlich, dass wir bei diesen Wesen wirklich von Monstrosität sprechen können? Nur die

12 Divinatorische Magie, also Magie, die für Zukunftsvorhersagen gebraucht wird, wird meist sehr positiv dargestellt, wie beispielsweise in ›Eiríks saga rauða‹. Es ist effikatorische Magie, also Magie, die eine Zu- standsveränderung beabsichtigt, die zu problematischen Zwecken eingesetzt wird.

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Zuschreibung des Begriffs „Troll“ ist vielleicht nicht ausreichend. Zudem stellt Asa Simon Mittman fest,

[A] monster is not really known through observation; how could it be? How could the viewer distinguish between “normally” terrifying phenomena and abnormally terrifying monstrosity? Rather, I submit, the monster is known through its effect, its impact.

– Mittman 2012, S. 6.

Wir müssen also den Effekt des Monsters auf die von ihm betroffenen Menschen untersuchen. Hierfür eignet sich in den Isländersagas die allgegenwärtige öffentliche Meinung, die regelmä- ßig die Taten und Eigenschaften von Figuren innerhalb der Erzählwelt der Sagas bewertet. Ein Beispiel für diese Bewertung potentiell monströser Figuren ist die Szene, in der Þórólfr das erste Mal wiedergeht:

Eptir dauða Þórólfs bægifóts þótti mǫrgum mǫnnum verra úti þegar er sólina lægði. En er á leið sumarit, urðu menn þess varir að Þórólfr lá eigi kyrr; máttu menn þá aldri í friði úti vera þegar er sól settisk. […] Svá gerðisk mikill gangr at þessu, at maðr þorði at beita upp í dalinn. Opt heyrðu menn úti dunur miklar um nætr í Hvammi; urðu menn ok þess varir, at opt var riðit skálanum.

Nach dem Tod Þórólfrs schien es vielen Menschen, dass es schlecht sei, nach Sonnenun- tergang draußen zu sein. Und als der Sommer verging, bemerkten die Leute, dass Þórólfr nicht ruhig lag. Die Menschen konnten auch nie nach Sonnenuntergang in Frieden draußen sein. […] So schlimm wurde seine Wiedergängerei, dass kein Mensch es wagte, sein Vieh weiter oben im Tal grasen zu lassen. Oft hörten die Leute in der Nacht laute Geräusche beim Hof Hvammr. Sie bemerkten auch, dass die Halle oft geritten wurde.

– Sveinsson / Þórðarson 1935, S. 93-94; Übersetzung: Rebecca Merkelbach.

Der Fokus auf die Wahrnehmung der Menschen ist offensichtlich: Wir sehen die ganze Szene durch ihre Augen, nehmen an ihrer Angst teil. Ähnliche Szenen, in denen die Wahrnehmung der Öffentlichkeit fokussiert werden, gibt es im Kontext der meisten anderen Trolle und Mons- ter ebenfalls – nur bei Zauberkundigen ist die Bewertung teilweise ambivalenter (vgl. dazu Merkelbach 2017). Doch wenn Monstrosität generell von Verhalten und dessen Bewertung ab- hängt, ist es, wie Shildrick vorschlägt, keine absolute Größe. Stattdessen scheint es so, als ope- riere die soziale Monstrosität der Isländersagas auf einer Skala, einem Spektrum unterschiedli- cher Aktionen und Interaktionen, die wiederum unterschiedlich bewertet werden. Ich konnte hier nur einige Beobachtungen zur sozialen Monstrosität, wie sie in den Islän- dersagas dargestellt wird, darlegen und mit wenigen Beispielen erläutern. Wer gerne noch mehr zu Trollen und den Monstern der Sagas erfahren will, dem empfehle ich die Arbeiten von Ár- mann Jakobsson (vor allem seine Monographie ›The Troll Inside You‹, Jakobsson 2017) sowie mein eigenes Buch ›Monsters in Society‹ (Merkelbach 2019), in dem ich auch versuche, die

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Frage zu beantworten, warum mittelalterliche Isländer so von diesen monströsen Figuren fas- ziniert waren. Abschließend möchte ich aber noch auf höhlenbewohnende Trolle und monströse Tiere zu sprechen kommen, denn auch diese Spielarten des Monströsen finden wir in den Isländersa- gas. Als einzige Saga ist ›Bárðar saga Snæfellsáss‹ aus der Perspektive von Trollen geschrieben. Ihr Held und seine Nachkommen sind alle Trolle, die versuchen müssen, sich in der Welt der Menschen zurecht zu finden. Allerdings scheitern sie am Ende an ihrer Aufgabe: Bárðr tötet seinen Sohn Gestr, weil dieser zum Christentum übertritt, und die Tochter Helga verschwindet ganz aus der Erzählung. Diese Trolle werden natürlich um einiges sympathischer dargestellt als dies in anderen Isländer- und Vorzeitsagas der Fall ist, und ihre Geschichte ist, in ihrer Tragik, nicht beispiel- haft für die Darstellung höhlenbewohnender Trolle in der Sagaliteratur. Meistens treten sie als Antagonisten von Sagahelden auf, und ihre extreme Darstellung entbehrt nicht einer gewissen Komik. Gerade Trollfrauen sind in ihrer Körperlichkeit und offensichtlich sexualisierten Dar- stellung von besonderem Interesse (vgl. dazu Friðriksdóttirs 2013). Monströse Tiere treten seltener auf als höhlenbewohnende Trolle und Riesen. In ›Finn- boga saga‹ finden wir allerdings einen Bären, der wegen seiner disruptiven Interaktion sogar zum Geächteten erklärt wird. Ihm wird also eine beinah monströse agency zugeschrieben, die wir bei wilden Tieren sonst selten finden, und in seiner Interaktion mit dem Sagahelden Finn- bogi zeigt er sich so auch sehr anthropomorph. Eindeutiger sind jedoch Drachen, die wir nicht nur aus der nordischen Mythologie kennen. Fáfnir ist vielleicht der Urvater all derer, die sich aus Habgier auf ihr Gold legen und in Drachen verwandeln, doch ähnliche Fälle finden wir auch in anderen Gattungen der mittelal- terlichen isländischen Literatur – und diese finden dann ihren Weg in die Isländersagas. In ›Hálfdanar saga Eysteinssonar‹, einer Vorzeitsaga, verwandeln sich Valr und seine Söhne Köttr und Kisi auf die übliche Art in Drachen (köttr und kisi, Katze und Kätzchen). Die Isländersaga ›Gull-Þóris saga‹ berichtet dann, wie der Isländer Þórir nach Norwegen reist und diese Drachen bekämpft. Doch der Gewinn von Drachengold scheint auch für Þórir nicht ohne Konsequenzen zu bleiben, denn am Ende seiner Saga wird berichtet, dass er sich wohl ebenfalls auf seine Goldkisten gelegt hat. Seitdem sehen Menschen manchmal einen Drachen über den Westfjor- den kreisen.

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Fazit

Monstrosität in den Isländersagas ist also mehr als nur Trolle und Wikinger, auch wenn diese die Grundlage bieten. Sie ist komplex, vielschichtig und tritt in ganz unterschiedlichen Formen, Wesen und Eigenschaften auf. Ihre soziale Dimension ist vielleicht nicht überraschend in einer Gattung, die für ihren anscheinenden Sozialrealismus bekannt ist. Das Monströse ist somit Teil des narrativen Gefüges, der Erzählwelt der Isländersagas. Doch auch darüber hinaus finden wir Monster: Die Vorzeitsagas sind reich an Trollen, Drachen, Berserkern und heidnischen Göttern, während rassifizierte Monster wie die blámenn vor allem in Märchensagas häufiger auftreten. Ob diese auch im Rahmen meiner Überlegungen zu sozialer Monstrosität gelesen werden kön- nen, muss aber noch untersucht werden. Abschließend bleibt die Frage: Gibt es Monster wirklich? Ich antworte mit Cohen: „Surely they must, for if they did not, how could we?” (Cohen 1996, S. 20) Monster sind unsere Gegenstücke, die Externalisierung all dessen, das wir fürchten und aus unserer eigenen Natur verbannen wollen. Ich hoffe deshalb, dass der Umgang mit den Monstern früherer Zeiten und anderer Kulturen uns auch ermöglicht, unsere eigenen Monster kennenzulernen, zu bekämpfen, und zu überwinden.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Monster, Trolle, Wikinger in der isländischen Sagaliteratur (Rebecca Merkelbach)

ZITIEREMPFEHLUNG

Rebecca Merkelbach, Monster, Trolle, Wikinger: Das Monströse in der isländischen Sagalite- ratur, in: Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020), S. 82-94.

LITERATURVERZEICHNIS

Primärliteratur

Böldl 2011: Isländersagas, 5 Bände, hrsg. von Klaus Böldl, Frankfurt a. M. 2011.

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Sveinsson / Eyrbyggja saga, in: Íslenzk fornrit IV, hrsg. von Einar Ól. Sveinsson / Þórðarson 1935: Matthías Þórðarson, Reykjavík 1935.

Sveinsson 1939: Vatnsdœla saga, in: Íslenzk fornrit VIII, hrsg. von Einar Ól. Sveinsson, Reykjavík 1939.

Sekundärliteratur

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Friðriksdóttirs 2013: Jóhanna Katrín Friðriksdóttirs, Women in Old Norse Literature: Bodies, Words, and Power, New York 2013.

Jakobsson 2008: Ármann Jakobsson, The Trollish Acts of Þorgrímr the Witch: The Meanings of troll and ergi in Medieval Iceland, in: Saga-Book 32 (2008), S. 39-68.

Jakobsson 2017: Ármann Jakobsson, The Troll Inside You: Paranormal Activity in the Me- dieval North, punctum books 2017.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Monster, Trolle, Wikinger in der isländischen Sagaliteratur (Rebecca Merkelbach)

Merkelbach 2017: Rebecca Merkelbach, Volkes Stimme: Interaktion als Dialog in der Kon- struktion sozialer Monstrosität in den Isländersagas, in: Monika Unzei- tig / Nine Miedema / Angela Schrott (Hrsg.), Stimme und Performanz in der mittelalterlichen Literatur, Berlin 2017, S. 251-275.

Merkelbach 2019: Rebecca Merkelbach, Monsters in Society: Transgression, Alterity, and the Use of the Past in Medieval Iceland, Kalamazoo / Berlin 2019.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger im modernen Brettspiel (Anna Klara Falke / Lukas Boch)

Wikinger im modernen Brettspiel

von Anna Klara Falke und Lukas Boch

Unter den modernen populärkulturellen Medien, die das Thema „Wikinger“ behandeln, darf das Medium der Brettspiele heutzutage nicht mehr ausgelassen werden.1 Während zu digitalen Spielen bereits eine stark wachsende Forschung existiert2, gibt es trotz der steigenden Beliebtheit von Brettspielen bisher in diesem Bereich kaum Forschung (vgl. etwa Bernsen / Meyer 2020). Dabei sind Brettspiele genau wie digitale Spiele ein Zeugnis unserer Zeit, in dem sich Vorstellungen und Normen einer Gesellschaft widerspiegeln – die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Medium erscheint daher lohnenswert. Ein möglicher Ansatz, wie eine historische Auseinandersetzung mit Brettspielen erfolgen kann, wird im Folgenden gegeben und anhand von drei Spielen mit Wikinger-Setting exemplarisch angewandt.

1 Dass Brettspiele in der heutigen Gesellschaft eine immer größer werdende Beliebtheit und Verbreitung erlangen, zeigt sich unter anderem daran, dass mittlerweile jedes Jahr zur ›SPIEL‹ in Essen, der größten Messe für analoge Spiele, um die 1500 Neuerscheinungen präsentiert werden. 2020 musste die ›SPIEL‹ digital stattfinden trotzdem konnte dank einer extra programmierten Internetseite mehr als 400 Ausstellern aus 41 Ländern sowie hunderttausende Menschen zum Spielen zusammengebracht werden. 2 Im deutschsprachigen Raum ist dabei der Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele hervor- zuheben und ein guter Anlaufpunkt für Interessierte, vgl. https://gespielt.hypotheses.org/tag/akgwds (Stand: 02.12.2020).

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Geschichtsbilder in Brettspielen

Bevor im Folgenden drei Spiele mit Wikinger-Setting genauer vorgestellt werden, müssen zu- nächst einige grundlegende theoretische Überlegungen zum Medium des Brettspiels erläutert werden. Am Anfang steht die Frage nach der Sinnhaftigkeit einer wissenschaftlichen Beschäf- tigung mit der Darstellung von Geschichte in Brettspielen. Grundlegend für unsere aktuelle Forschung ist das Konzept der Geschichtskultur, das ur- sprünglich auf den Historiker und Kulturwissenschaftler Jörn Rüsen zurückgeht (Rüsen 1994). Demnach vermitteln alle Medien, die ein irgendwie geartetes historisches Setting bedienen, ein bestimmtes Bild von Geschichte. Dabei ist völlig unerheblich, ob dieses Bild dem Stand der historischen Forschung entspricht. Dieses vermittelte Geschichtsbild hat direkten Einfluss auf die Vorstellungen der Menschen von Geschichte bzw. auf ihr Geschichtsbewusstsein3 – daher ist es lohnend, sich wissenschaftlich mit diesen Geschichtsbildern auseinanderzusetzen, auch um mögliche Klischees und Stereotypen aufzudecken. Bei unserer Untersuchung von Geschichtsbildern in Brettspielen geht es also nicht vor- nehmlich darum, zu prüfen, ob Geschichtsbilder „triftig“, das heißt im Sinne der historischen Forschung dargestellt werden, sondern welche Bandbreite von Inszenierungen existiert und welche Aussagen über eine Epoche damit verbunden werden. Doch wie kann man Brettspiele mit historischem Setting und die darin vermittelten Geschichtsbilder überhaupt untersuchen?

Definition An erster Stelle steht eine Definition des Mediums Brettspiel. Für diesen Beitrag wird ein Brett- spiel grundlegend als ein analoges Spiel definiert, in dem ein/e oder mehrere Spieler:innen nach definierten Regeln zusammen oder gegeneinander bestimmte Ziele erreichen müssen. Das Spe- zifische am Brettspiel ist der Spielplan, der es von einem Kartenspiel wie ›Doppelkopf‹ bzw. von einem reinen Würfelspiel wie ›Kniffel‹ unterscheidet. Dabei muss allerdings festgehalten werden, dass auf der größten Webseite, die sich mit analogen Brettspielen beschäftigt, dem BoardGameGeek, auch Kartenspiele besprochen wer- den.4 Im Deutschen gibt es zudem den Begriff Gesellschaftsspiel, der den Vorteil hat, dass auch Karten- und reine Würfelspiele mitgedacht werden.5 Neben dieser allgemeinen Definition ist

3 Auch wenn es hier immer noch an empirischen Untersuchungen fehlt, hat jüngst Giere 2019 einen ersten Beitrag für das Medium des Videospiels geliefert. 4 https://boardgamegeek.com/ (Stand: 25.11.2020). Bei dieser Seite handelt es sich um die weltweit größte Onlinecommunity für analoge Spiele. 5 Ein erster Versuch einer generellen Definition findet sich bei Bernsen / Meyer 2020, S. 238.

96 Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger im modernen Brettspiel (Anna Klara Falke / Lukas Boch) noch herauszustellen, dass jedes Brettspiel ein Setting, sprich eine Thematik, sowie ein Regel- werk aufweist. Das Setting kann ganz abstrakt sein, aber eben auch historischen Themen abbilden.

Komponenten eines Brettspiels Ein Brettspiel besteht aus verschiedenen Komponenten, die jeweils auf ihre Art zur Vermittlung des Settings und damit einhergehend eines Geschichtsbildes beitragen können. Um die Fülle der unterschiedlichen Komponenten zu gliedern, folgt eine Auflistung von wichtigen Elemen- ten, die gerade für die hier durchgeführte Untersuchung von Bedeutung sind.

1. Die Box

Jedes Brettspiel besitzt eine eigene Box oder Schachtel. Deren Aufgabe ist es einerseits, das Spielmaterial aufzubewahren. Andererseits ist die Box aber auch die Komponente eines Brett- spiels, die potentielle Käufer:innen als erstes sehen und somit die Kaufentscheidung maßgeb- lich beeinflusst – die Box sollte also ansprechend gestaltet werden. Neben dem Titel des Spiels findet sich daher auf dem Deckel der Box in den meisten Fällen ein Cover, das das Setting des Spiels in Szene setzt. Über das Cover einer Box lassen sich bereits Rückschlüsse über das im Spiel vermittelte Geschichtsbild ziehen. Je nach Farbge- bung und verwendeten Motiven sowie Stil des Covers wird dem / der Käufer:in somit direkt ein Eindruck von dem Spiel vermittelt. Die Unterseite oder der Boden der Box zeigt meist ein Bild des aufgebauten Spiels bzw. des Materials, um einen ersten Eindruck des Inhalts zu ver- mitteln. Zudem findet sich hier eine kurze Beschreibung des Spiels und des Settings.

2. Das Spielmaterial

In der Box befindet sich das Spielmaterial, das zum Spielen benötigt wird. Auch wenn sich Spiele in Bezug auf ihre Ausstattung stark unterscheiden, lassen sich doch grundlegende Kom- ponenten festhalten, die immer wieder auftauchen:

• Das Spielbrett oder der Spielplan

Der Plan oder das Brett lässt ein Spiel erst zum Brettspiel werden. Die Pläne existieren in einer unübersehbaren Fülle an verschiedenen Variationen. Pläne können von abstrakten Organisati- onsflächen für das Spielmaterial bis hin zu detaillierten Karten von dem jeweiligen Setting eines Spiels verschiedenste Dinge darstellen und abbilden. Das Spielbrett wird dabei in der Regel von allen Spieler:innen bespielt und ist somit eigentlicher Ort der Interaktion.

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• Spielertableau

Einige Spiele beinhalten zusätzlich zum Brett oder Spielplan in der Mitte des Tisches für jede/n Spieler:in ein eigenes Tableau. Dieses kann ähnlich wie das Spielbrett gestaltet sein. Der Un- terschied zum Spielplan in der Mitte ist allerdings, dass das Spielertableau ausschließlich von einem/r Spieler:in selbst genutzt wird.

• Spielfiguren

Spielfiguren können in unterschiedlichsten Formen erscheinen. Beispielsweise können die Sol- daten oder Arbeiter eines Spielers mit einfachen Holzscheiben oder durch detaillierte Plastikfi- guren, die mittels eines 3D-Druckers hergestellt wurden, dargestellt werden. Besonders bekannt sind die Meeple6, welche als erstes im Spiel ›Carcassonne‹ (Klaus-Jürgen Wrede, Hans im Glück 2000) auftraten und seitdem in vielen weiteren Spielen Verwendung finden. Der Meeple hat sich mittlerweile als eine Art Symbol der Brettspielszene7 etabliert.

• Marker

In vielen Spielen können die Spieler:innen Ressourcen sammeln. Diese werden durch Marker dargestellt. Auch hier geht die Bandbreite der Darstellungen stark auseinander: Es kann sich um einfache Plättchen aus Pappe handeln oder aber um detailliert ausgearbeitete 3D-Objekte. In vielen Spielen wird bspw. Silber / Geld / Gold durch Münzen dargestellt.

• Plättchen

Zusätzlich zu den Markern kann es Plättchen geben, welche angebaut werden können. Bei- spielsweise werden Landschaften mit Wegen oder Gebäude häufig mit Plättchen integriert.

• Karten

Viele Brettspiele beinhalten zusätzlich zu den Spielfiguren und Markern noch Karten, die ent- weder Ressourcen oder bestimmte Aktionen abbilden. Der Vorteil an Karten ist dabei, dass sie leicht vor Mitspieler:innen geheim gehalten werden können und so eine strategische Tiefe in Regelwerken eröffnen.

6 Als Namensgeberin der Meeple gilt Alison Hansel. Bei einer Partie ›Carcassonne‹ soll sie im Jahre 2000 die Worte „me“ und „People“ zusammengezogen haben. Vgl. https://boardgamegeek.com/thread/119726/- why-are-they-called-meeples (Stand: 25.11.2020). 7 Sei es auf den Profilbildern von Brettspiel-Accounts auf YouTube oder den sozialen Netzwerken oder als Maskottchen von Messen oder Podcasts.

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• Textbeigaben

Jedes Brettspiel besitzt ein eigenes Regelwerk, das überhaupt erst den Rahmen für das Spiel definiert. Abgedruckt sind diese Regeln in den meisten Fällen in einem gesonderten Heft. Die- ses Regelheft besitzt zudem zu Beginn häufig einen kurzen Text, der das Setting des Spiels erläutert. Je nach Spiel können im Regelheft beizeiten sogar noch weiterführende Informatio- nen zu dem Setting des Spiels enthalten sein. So finden sich im Spiel ›Die Staufer, Gefolge von Heinrich dem IV.‹ (Andreas Steding, Hans im Glück 2014) Erklärungen zu der Zeit des Mittelalters, sogar Literaturtipps, mit deren Hilfe sich interessierte Spieler:innen weitere Informationen zur Zeit der Staufer aneignen kön- nen. Weiterführende Informationen können aber auch in einem gesonderten Heft zusätzlich zum Regelheft beigelegt werden. Diese Zusammenstellungen der verschiedenen Spielmaterialien erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.8 Für die in diesem Artikel vorgestellten Spiele und dem Ziel, das Wikin- gerbild der verschiedenen Spiele zu skizzieren, reicht die Terminologie aber aus.

3. Regelwerk

Doch damit nicht genug: Das Spezifische an Brettspielen im Unterschied zu Filmen oder Bü- chern ist, dass man als Spieler:in selbst aktiv handeln muss. Die Grenzen dieses aktiven Han- delns werden durch das Regelwerk definiert, und obwohl jedes Spiel nach anderen Regeln funk- tioniert, gibt es doch bestimmte Mechanismen, die immer wieder auftreten. Ein Beispiel für einen Mechanismus ist der sogenannte Worker-Placement-Mechanis- mus. Darunter versteht man eine Mechanik, in der Spieler:innen Aktionen durch das Einsetzen von Spielfiguren (den Workers) auf bestimmte Felder durchführen. Die Art der Aktionen un- terscheiden sich dabei je nach Spiel, aber die grundlegende Idee findet sich in einer ganzen Reihe von Spielen. Bei der Komponente Regelwerk gilt es zu untersuchen, inwiefern der / die Autor:in es schafft, das Setting des Spiels im Regelwerk abzubilden.9

8 Diese Definition beruht auf dem Vortrag von Lukas Boch auf der diesjährigen ›SPIEL.Digital‹ mit dem Titel „Das Mittelalter im modernen Brettspiel. Potenziale für die historische Forschung und die Spielebran- che?“. Ein differenziertes Schema ist aktuell in Arbeit und soll demnächst publiziert werden. 9 Bernsen / Meyer 2020, S. 247-248, 250 betonen Beispiele der Austauschbarkeit des Themas bei Spielen, bei denen keine Verbindung von Regelwerk und Setting zu finden ist. Das historische Setting wird hier als Mittel genutzt, um abstrakte und komplizierte Spielregeln einfacher zu erklären und insgesamt interessanter zu gestalten.

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Die Analyse eines Geschichtsbildes in Brettspielen

Mithilfe der aufgeführten Komponenten (Box, Spielmaterial und Regelwerk) hat der / die Au- tor:in10 des Spiels die Möglichkeit, das Setting authentisch11 wirken zu lassen. Überraschend häufig wählen Autor:innen dabei ein historisches Setting.12 Für eine umfassende Analyse der Geschichtsbilder in Brettspielen scheint es daher unumgänglich, alle aufgeführten Komponen- ten zu berücksichtigen. Im Folgenden werden drei Brettspiele, die sich mit der Thematik „Wi- kinger“ beschäftigen, nach den vorgestellten Komponenten untersucht, um das in ihnen vermit- telte Bild der Wikinger herauszuarbeiten. Da es eine Fülle an verschiedenen Brettspielen zum Thema „Wikinger“ gibt13, aber unmöglich alle hier im Detail untersucht werden können, musste eine Auswahl getroffen werden: Dabei fiel die Wahl auf ›Blood Rage‹ (Eric M. Lang, ›Blood Rage‹, Assmodee 2016), ›Ein Fest für Odin‹ (Uwe Rosenberg (Almanach: Gernot Köpke), ›Ein Fest für Odin‹, Feuer- landspiele 2016) und ›Räuber der Nordsee‹ (Shem Phillips, ›Räuber der Nordsee‹, Garphill Games 2016). ›Blood Rage‹ war das erste Brettspiel, welches als Großprojekt über Kickstarter finanziert werden konnte, zudem erhielt das Spiel eine Vielzahl an Preisen.14 ›Räuber der Nord- see‹ wurde 2017 zum Kennerspiel des Jahres nominiert, und der Autor Shem Phillips hat in seinem Verlag ›GarphillGames‹15 eine große Menge an Spielen mit historischen Settings ver- öffentlicht. ›Ein Fest für Odin‹ stellt im Unterschied zu den meisten Spielen mit Wikinger- Setting bewusst das Alltagsleben der Wikinger dar und qualifiziert sich allein dadurch für diese Untersuchung. Es werden lediglich die Grundspiele untersucht – zu jedem einzelnen der drei Spiele gibt es mindestens eine Erweiterung.

10 Ein Interview mit Reiner Stockhausen, dem Autor von ›Orléans‹, zeigt eindrücklich, wie Autor:innen sich der historischen Thematik annähern können, vgl. Lukas Boch, Das Mittelalter im Brettspiel: Im Interview mit Reiner Stockhausen, in: Mittelalter Digital 10/2020. Online abrufbar unter: https://mittelalter.digital/ar- tikel/das-mittelalter-im-brettspiel-im-interview-mit-reiner-stockhausen/1 (Stand: 23.11.2020). 11 Der Begriff der Authentizität ist höchst problematisch: Während er in der Vergangenheit als Beleg für eine wahre oder richtige Darstellung verwendet wurde, hat sich mittlerweile in der Geschichtswissenschaft die Erkenntnis durchgesetzt, dass Authentizität immer subjektiv ist. Ob etwas für eine Person authentisch ist, hängt maßgeblich von der eigenen Sozialisation bzw. dem eigenen Kenntnisstand über den jeweiligen Gegen- stand zusammen. Zum Aspekt der Authentizität in digitalen Spielen vgl. Salvati / Bullinger 2013, S. 153-163, hier vor allem S. 157-158. 12 Vgl. zur Beliebtheit eines historischen Settings Bühl-Gramer 2014 sowie Bernsen / Meyer 2020, S. 239. 13 Allein dieses Jahr neu herausgekommen sind u. a.: Jon Manker, ›Pax Viking‹, Ion Game Design 2020; Richard Mikalsen, ›Vikingjar‹, SB Games AS 2020; Jason C. Hill, ›Shadows of Brimstone: Gates of Val- halla‹, Flying Frog Productions 2020. 14 Eine Auflistung findet sich unter https://boardgamegeek.com/boardgame/170216/blood-rage (Stand: 10.11.2020). 15 Einen guten Überblick kann man sich auf der Webseite des Verlages verschaffen: https://garphill.com/ (Stand: 22.11.2020).

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Bei der Analyse der Brettspiele werden zunächst die Spiele einzeln vorgestellt, sprich das Setting sowie grundlegende Regeln erläutert. Auf dieser Grundlage wird die Umsetzung des Settings und damit das vermittelte Geschichtsbild untersucht. Dabei wird die Umsetzung des Geschichtsbildes in der Box des Spiels (1), dem eigentlichen Spielmaterial (2) und dem Regel- werk (3) je separat analysiert. Zum Schluss geben Anna und Lukas ihre persönlichen Einschät- zungen zu den Spielen.

Analyse des Wikingerbildes in den Spielen ›Blood Rage‹, ›Ein Fest für Odin‹ und ›Räuber der Nordsee‹

Blood Rage

Autor Eric M. Lang Henning Ludvigsen / Mike McVey / Künstler Adrian Smith Verlag Cool Mini Or Not / Guillotine Games Spieleranzahl 2-4 Spielzeit 60-90 Min. Genre Strategie Spielmechanismus Draft, Areacontrol Erscheinungsjahr 2015 Altersempfehlung ab 14 Jahren

Bildnachweis: © Anna Falke, ›Blood Rage‹.

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Setting

›Blood Rage‹ (dt. Blutrausch) bedient sich dem Setting der nordischen Mythologie. Das Ende der Welt – Ragnarök – ist im vollen Gange. Jede/r Spieler:in übernimmt die Rolle eines Wikin- gerstammes und muss sich in den letzten Tagen der Welt seinen Platz in Walhall erkämpfen. Dabei haben die Spieler:innen die Möglichkeit, zusätzlich zu ihren sterblichen Kriegern auch Ungeheuer aus der Sagenwelt ins Feld zu führen, beispielsweise einen Zwerg oder einen Feu- erriesen.

Wie funktioniert es?

Eine Partie ›Blood Rage‹ geht über insgesamt drei Runden, die als Zeitalter bezeichnet werden. Wer am Ende des letzten Zeitalters auf der Ruhmesleiste am weitesten vorne liegt, gewinnt das Spiel. Jedes Zeitalter besteht hierbei aus sechs Phasen. Zu Beginn jeder Runde draften16 die Spieler:innen ihre Karten, mit denen sie in den folgenden Zügen ihre Aktionen ausführen kön- nen. Die Karten bestimmen dabei maßgeblich die Möglichkeiten in den nachfolgenden Zügen.

Kampfkarten (rot), Auftragskarten (grün), Aufwertungen (schwarz) (Bildnachweis: © Lukas Boch).

So gibt es Kampfkarten (für Effekte während Kampfhandlungen, bspw. Erhöhung der eigenen Stärke), Auftragskarten (Aufträge, die Ruhmespunkte bringen, wenn sie am Ende eines Zeital- ters erfüllt sind), Aufwertungen (Verbesserungen der eigenen Spielfiguren) und Monsterkarten (die Möglichkeit, zusätzlich einzigartige Monster zu rekrutieren). Die Karten sind jeweils

16 Unter Draften versteht man einen Mechanismus, bei dem man aus einer Auswahl von Karten jeweils eine Karte zieht und dann die übrigen Karten an den/die nächste/n Spieler:in weitergibt. Dieser Vorgang wird so lange wiederholt, bis jede/r Spieler:in eine bestimmte Anzahl an Karten gezogen hat.

102 Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger im modernen Brettspiel (Anna Klara Falke / Lukas Boch) einem der nordischen Götter zugeordnet. Während Karten von Thor besonders hohe Unterstüt- zung in Kämpfen bieten, erlauben Karten von Loki, dass man zusätzliche Punkte für das Ster- ben eigener Figuren erhält. Nach dem Draft folgt die Phase der Aktionen: Es gibt verschiedene Aktionen, die immer eine bestimmte Anzahl an Wutpunkten kosten. Wenn die Wutleiste aufgebraucht ist, können keine weiteren Aktionen durchgeführt werden. Neben dem Ausspielen von Karten und dem Bewegen eigener Figuren kann man zudem einen Kampf beginnen. Dafür wird die Stärke der im jeweiligen Gebiet positionierten Figuren der Spieler:innen zusammengezählt und zusätzlich durch Handkarten ergänzt, die während des Kampfes ausgespielt werden dürfen,. Wer die höchste Stärke hat, gewinnt – die Figuren der übrigen Spieler:innen gehen alle nach Walhall. In der dritten Phase werden alle Handkarten bis auf eine abgeworfen. Daran anschließend werden die Aufgabenkarten aufgedeckt und überprüft, ob die Anforderungen erfüllt wurden und entsprechend Belohnungen verteilt. In Phase Fünf fällt eines der neun Gebiete Ragnarök zum Opfer: Alle Figuren, die sich in dem entsprechenden Gebiet befinden, kommen nach Wal- hall und geben je nach Zeitalter eine bestimmte Anzahl an Siegespunkten. Für den Rest des Spiels ist das zerstörte Gebiet nun nicht mehr bespielbar. Walhall ist die sechste und letzte Phase eines jeden Zeitalters: Alle Figuren, die sich in Walhall befinden, kommen zurück in den Vorrat der Spieler:innen.

Analyse des Settings und des damit verbundenen Geschichtsbildes

Box: Bereits das Cover der Box samt Titel fasst das Setting gut zusammen: Ein bärtiger mus- kelbepackter Krieger in Rüstung, Schild und Axt läuft dem/der Betrachter:in entgegen, während hinter ihm die Landschaft von Rauch und aufbrechender Lava verdeckt wird. Auch die Be- schreibung des Spiels auf der Rückseite der Box zeichnet ein eindeutiges Bild: „Während Rag- narök das Land verschlingt, machen die Wikinger, was sie am besten können: Invadieren und plündern und in epischen Schlachten kämpfen und sterben.“ In dem Spiel werden demnach eindeutig der kriegerische und mythologische Aspekt des Wikingerlebens thematisiert – beson- ders der ehrenvolle Tod, der nach Walhall führt. Spielmaterial: Das Spielmaterial von ›Blood Rage‹ ist äußerst aufwendig gestaltet. Das gilt sowohl für den detaillierten Spielplan, der sich am Aufbau des aus der Edda überlieferten Kosmos der nordischen Götterwelt orientiert, inklusive des Weltenbaums Yggdrasil im Mittel- punkt, als auch für die insgesamt 49 sehr detaillierten 3D-Plastikfiguren. Bei der Auswahl der Monster haben die Entwickler des Spiels darauf geachtet, sich an der nordischen Sagenwelt zu orientieren.

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Verschiedene 3D-Miniaturen aus ›Blood Rage‹ auf dem Spielplan. Troll (ganz links), Valkyre (ganz rechts) (Bildnachweis: © Lukas Boch).

So gibt es Trolle, Zwerge aber auch Walküren. Die Figuren können von der Qualität mit denen von sogenannten Tabletop-Strategiespielen17 mithalten und werden dementsprechend auch von Fans des Brettspiels aufwendig bemalt. Bei der Darstellung ist außerdem hervorzuheben, dass jeder der vier Stämme unterschiedliche Krieger besitzt und nicht alle den gleichen Standard- krieger ins Feld führen.

Regelwerk: ›Blood Rage‹ gelingt es auf vielfältige Weise, Regelwerk und ein ganz spezifisches Wikinger-Setting zu verbinden. Die Aktionen in Phase Zwei bezahlen die Spieler:innen bei- spielsweise mit Wutpunkten – hiermit schließt man an das Bild der in Raserei verfallenden Wikinger an, deren einziges Ziel es ist, Ruhm in den letzten Tagen der Welt zu erlangen. Auch die Idee eines immer kleiner werdenden Spielfelds wird sehr stimmig mit dem voranschreiten- den Untergang der Welt, Ragnarök, erklärt. Am beeindruckendsten ist allerdings der Einsatz von Walhall.

17 Bei Tabletop-Strategiespielen treten Spieler mit selbst zusammengebauten und bemalten Miniatur Armeen gegeneinander an. Von Brettspielen unterscheiden sich das Genre Tabletop dadurch, dass man seine Figu- ren auf selbst gestalteten Schlachtfeldern gegeneinander ins Feld führt, zum Bewegen nutzt man dabei Maßbänder. Es gibt also kein Spielbrett im eigentlichen Sinne. Der Historische Vorläufer der Tabletop- Strategiespiele sind die sogenannten Wargames oder zu Deutsch Kriegsspiele, die ursprünglich vom preu- ßischen Militär zur Ausbildung ihrer Offiziere genutzt wurden. Für eine der wenigen wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema vgl. Hilgers 2008.

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Walhall existiert in ›Blood Rage‹ als eigene Zone abseits des eigentlichen Spielfelds. Stirbt während einer Runde eine Figur, sei es in der Schlacht oder während der Phase Ragnarök, kommen dir Figuren nicht direkt zurück in den Vorrat des Besitzers, sondern werden zunächst in Walhall gesammelt. Erst in der sechsten und letzten Phase eines Zeitalters kehren alle Figu- ren aus Walhall zurück in den Vorrat ihrer Besitzer:innen. Während einer Partie kann man durch Aufrüstungskarten extra Siegespunkte erlangen, wenn Figuren in der Phase Walhall zu- rück in den Vorrat der Spieler:innen kommen. Durch diesen Mechanismus kann es passieren, dass man, anstatt Kämpfe gewinnen zu wollen, lieber möglichst viele eigene Krieger nach Walhall schickt (also sterben lässt), um viele Siegespunkte zu erlangen. Dieser äußerst ungewöhnliche Mechanismus in einem Eroberungs- spiel wird durch die Idee von Walhall plausibel gemacht.

Fazit ›Blood Rage‹ gelingt es wie keinem anderen Brettspiel, den Stereotyp des blutrünstigen Wikin- gers, dessen einziges Lebensziel darin besteht, durch einem ruhmreichen Tod nach Walhall zu kommen, zu erzeugen. Wichtig ist, dass das Spiel nicht für sich beansprucht, historisch zu sein. ›Blood Rage‹ nimmt vielmehr die Geschichten der norwegischen Sagas mit all ihren Mythen und Helden und schafft es, dieses Bild in ein passendes Regelwerk zu übertragen. Das aber macht ›Blood Rage‹ richtig gut. Positiv ist auch zu bewerten, dass einem das Spiel verschiedene Möglichkeiten zum Sieg bereithält. Man muss sich nicht unbedingt darauf konzentrieren, mög- lichst viele Schlachten zu gewinnen. Ganz im Gegenteil, auch mit anderen Taktiken, bspw. bewusst Schlachten zu verlieren, um möglichst viele Figuren nach Walhall zu bringen, kann man das Spiel am Ende gewinnen. Wer also ein spannendes Eroberungsspiel sucht und Gefallen findet an norwegischen Sa- gen und Sagas sowie stereotypischen Wikinger à la ›Vikings‹ oder ›Pathfinder‹, ist mit ›Blood Rage‹ gut beraten. Wenn man sich allerdings für die historischen Wikinger interessiert, sollte man lieber die Finger von ›Blood Rage‹ lassen.

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Ein Fest für Odin

Uwe Rosenberg (Almanach: Autor Gernot Köpke) Künstler Dennis Lohausen Verlag Feuerlandspiele Spieleranzahl 1-4 Spielzeit 30 Min. / Spieler Genre Strategiespiel Spielmechanismus Worker-Placement, Puzzle Erscheinungsjahr 2016 Altersempfehlung ab 12 Jahren

Bildnachweis: @ Anna Klara Falke, ›Ein Fest für Odin‹.

Setting

Der Autor selbst beschreibt das Spiel als eine „Saga in Form eines Gesellschaftsspiels“: Die Spieler:innen reisen in die Welt der Wikinger. Neben dem Handeln, Jagen und Plündern, um an wichtige Rohstoffe und Schätze zu gelangen, spielen dabei auch der Bau von Häusern und die Eroberung neuer Inseln eine wichtige Rolle. Aber auch das tägliche Leben wird nachge- stellt, denn Runde für Runde muss ein Festmahl für Odin angerichtet werden, um die Bevölke- rung zufrieden zu stellen. Gewonnen hat am Ende derjenige, dessen Besitz am meisten wert ist.

Wie funktioniert es?

Das Spiel verläuft über sechs bzw. sieben Runden, die wiederum in jeweils zwölf Phasen un- terteilt sind. In der Hauptphase, der Phase Aktionen, setzen die Spieler:innen reihum ihre

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Spielfiguren auf jeweils ein Aktionsfeld – die Anzahl der Wikinger kann hierbei variieren.18 Wichtig ist, dass jedes Aktionsfeld nur einmal genutzt werden darf. Pro Runde erhält man einen Wikinger hinzu, d. h., dass sich mit fortschreitender Rundenzahl auch die Möglichkeiten der Spieler:innen erhöhen. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher Aktionen, mit denen bestimmte Waren erhalten oder getauscht werden können – dabei muss man, um bestimmte Aktionen ausführen zu kön- nen, zunächst ein Handelsschiff – Knorr – in seinem Besitz haben. Außerdem kann man Über- fälle durchführen, plündern und jagen, wofür teilweise ein Drachenschiff, also ein Kriegsschiff, benötigt wird. Beim Jagen oder dem Kampf ist es zeitweise von Nöten, zu würfeln, um die Aktion erfolgreich durchführen zu können. Das Würfelergebnis kann durch die Ausrüstung des Schiffs und durch das Ablegen von Waffenkarten oder passenden Ressourcen beeinflusst werden.19

Der Aktionsplan von ›Ein Fest für Odin‹ (Bildnachweis: © Lukas Boch).

Mit den Schiffen können Wikinger außerdem auch auswandern: Dadurch verliert man keine Spielfiguren, aber die benötigten Ressourcen für das Festmahl werden verringert. Zudem kön- nen mit den Schiffen weitere Inseln entdeckt werden. Durch das Ziehen und Ausspielen von Ausbildungskarten können weiter Siegpunkte generiert werden.

18 ›Ein Fest für Odin‹ bedient sich hierbei dem klassischen Worker-Placement-Mechanismus. 19 Beim Plündern benötigt man Steine und Schwerter, beim Jagen hingegen Bögen, Fallen und Holz.

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Das Ziel ist es, im Heimatplan möglichst viele Felder mit grünen und blauen Warenmar- kern sowie Schätzen zu belegen – hier tritt der Puzzle-Mechanismus auf, da die Marker unter- schiedlich geformt sind und möglichst geschickt platziert werden müssen. Ein wichtiger Aspekt ist zudem die Tiervermehrung: Es können Tiere gehalten werden, die sich vermehren und wei- tere Vorteile sowie Siegespunkte einbringen. Gelbe und rote Nahrungsmarker müssen für das Festmahl, welches am Ende jeder Runde stattfindet, bereit gehalten werden, wobei zu beachten ist, dass die roten Marker einen ungesunden Lebensstil widerspiegeln und nicht in zu großer Menge für das Festmahl genutzt werden sollten.

Das Spielertableau. Ziel ist es, den zu Beginn leeren Plan (links) möglichst effektiv zu füllen (rechts). Dabei müssen bestimmte Regeln beachtet werden (Bildnachweis: © Lukas Boch).

Analyse des Settings und des damit verbundenen Geschichtsbildes

Box: Die Box zeigt eine Gruppe Wikinger beim Festmahl: Sie sitzen um einen reich gedeckten Tisch und haben ihre Trinkhörner erhoben. Die klassischen Hörnerhelme sind hier nicht vor- handen, allerdings werden die Wikinger in einer stark romantisierten Form abgebildet: Alle tragen prachtvolle Bärte und aufwendige Gewänder. Damit wird das Setting des Spiels, jede Spielrunde ein Festmahl anzurichten, deutlich visualisiert. Im Hintergrund sind einige Holz- und Steinbauten erkennbar sowie ein Wald und Ge- birge. Die Darstellung zweier Raben liefert einen Anhaltspunkt an Hugin und Munin, die zwei Raben des Gottes Odin, und somit einen Verweis auf die nordische Mythologie. Im Vorder- grund ist ein Trinkhorn mit einer Verzierung abgebildet: Darauf erkennt man Krieger, die ein neues Land erobern. Somit ist eine Anspielung an das Plündern und Erobern gegeben – aber der Fokus ist deutlich auf das friedvolle Beisammensein und das Alltagsleben gelegt.

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›Ein Fest für Odin‹, aufgebaut für eine Partie zu viert (Bildnachweis: © Anna Klara Falke).

Spielmaterial: Mit einem Gewicht von etwa 3 kg wird eine ganze Fülle an Material geboten. Durch beigelegte Ordnungskästen und kleine Klarsichttüten stellt das Sortieren des Materials aber kein Problem dar. Nur wenige Ressourcen, nämlich Holz, Erz und Stein, sind durch 3D- Objekte wiedergegeben. Auch die Wikinger sind kleine Holzfiguren, die jedoch kein Charak- teristikum der Wikinger darstellen. Alles Weitere ist durch Marker und Plättchen angezeigt. Die Handelsschiffe tragen blau-weiße Segel, während die Kriegsschiffe rot-weiße Segel besitzen. Die Waren- und Nahrungsmarker zeigen eine Vielzahl unterschiedlicher Objekte, bspw. Runensteine, Trinkhörner, Kohl, Schmuck und Pelz. Die Schätze zeigen wertvolle Ob- jekte, wie etwa eine Kriegsaxt, ein goldenes Kruzifix und die englische Krone. Das Geld ist durch gräuliche Plättchen wiedergegeben, auf denen ein Schiff abgebildet ist. Bereits im Regelheft gibt der Autor tiefe Einblick zu seinem Verständnis der Wikinger und zum dem spezifischen Setting. So klärt der Autor über die Ursprünge des Wortes Wikinger auf (Stankovitsová 2020) und bemüht sich um eine Differenzierung des Begriffs: „Wenn die Nordmänner der damaligen Zeit einen Raubzug begannen, sagten sie, dass sie zu einem „Viking“ aufbrachen. Die Vorfahren der heutigen Skandinavier waren aber nicht nur Seeräuber, sondern auch Entdecker und Staatengründer.“

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Die im Spiel enthaltenen Waren. Orange Vegetarisch, Rot Fleisch, Grün Handwerk, Blau Handelswaren (Bildnachweis: @ Lukas Boch).

Doch damit nicht genug: Es gibt zusätzlich einen Anhang als Nachschlagewerk, in dem eine Karte der eroberten Gebiete der Wikinger abgebildet ist. Das wirklich Besondere ist aber, dass neben dem eigentlichen Autor Uwe Rosenberg hier ein weiterer Autor, nämlich Gernot Köpke, auftritt – dieser hat sich durch Internetrecherchen intensiv mit der Wikinger-Thematik ausei- nandergesetzt und einen umfassenden „Almanach“ als Ergänzung beigesteuert. Darin werden Begriffe, die in dem Spiel genutzt werden, erklärt und historisch eingeordnet. Hier finden sich auch Zitate aus historischen Quellen, die einen Eindruck des Settings vermitteln.

Regelwerk: Einige Aspekte des Settings wurden hier auch in dem Regelwerk umgesetzt. Grundlegend ist der Mechanismus, erst Schiffe bauen zu müssen, um mit deren Hilfe neue In- seln zu erobern und auf Plünderzüge zu gehen: Ein Mechanismus, der eben besonders gut zur Wikinger-Thematik passt. Dazu gehört auch die Funktion des Auswanderns, die ebenfalls nur mit Schiffen möglich ist. Interessant ist hier auch, dass die Vorliebe des Autors für Bohnengerichte insofern um- gesetzt wurde, als diese sich in der Nahrung für das Festmahl der Wikinger wiederfinden: Das Bohnengericht ist ein gelbes Nahrungsmittel, das also gesund ist, während die typischen mit den Wikingern assoziierten Nahrungsmittel wie Fleisch und Met rot sind, die damit also unge- sunde Nahrungsmittel darstellen. Diese Aspekte verknüpfen das Setting direkt mit dem Regel- werk und spiegeln Aspekte des Lebens der Wikinger wider.

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Fazit

Ein ›Fest für Odin‹ zeigt eindrücklich, dass man durch Brettspiele auch ein differenziertes Bild historischer Zusammenhänge, hier anhand der Wikinger, erzeugen kann. Natürlich ist auch in ›Ein Fest für Odin‹ Plündern eine Aktion, um an Siegespunkte zu kommen. Gleichzeitig sind aber der Handel, die Jagd und die Seefahrt präsent. Die Idee, mit dem Spiel das Alltagsleben der Wikinger darzustellen und den Spieler:innen die Möglichkeit zu geben bei Interesse ein- zelne Aspekte der Wikinger in dem beigelegten Almanach direkt nachlesen zu können, macht das Spiel für historisch Interessierte besonders spannend. Die schier unendlichen Möglichkeiten, die das Spiel bietet, sind zu Beginn schwer zu überblicken – ein taktisches Vorgehen ist hier besonders wichtig, da man sich auf eine Vorge- hensweise festlegen sollte. Dabei helfen einem die zusätzlichen Ausbildungskarten. Definitiv braucht man hier eine Runde, um in die Mechaniken einzusteigen, dann hat man aber ein sehr vielseitiges und gelungenes Spiel.

Räuber der Nordsee

Autor Shem Phillips Künstler Mihajlo Dimitrievski Verlag Schwerkraft Verlag Spieleranzahl 2-4 Spielzeit 60-90 Min. Genre Strategiespiel Spielmechanismus Worker-Placement Erscheinungsjahr 2015 Altersempfehlung ab 12 Jahren

Setting

Als Wikinger sammeln die Spieler:innen Proviant und heuern Mitglieder für ihre Mannschaft an, um Richtung Norden zu Raubzügen aufzubrechen. Ziel der Plünderungen sind Häfen, Au- ßenposten, Klöster (wie könnte es anders sein?) und Festungen – neben Rohstoffen wie Gold, Stein und Nutztieren können sich dort auch Walküren befinden, die ein Mitglied der Crew kos- ten. Ziel ist es, den Wikingerfürsten am meisten zu beeindrucken: Dies gelingt durch Plünde- rungen und das Darbringen von Tribut.

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Bildnachweis: @ Anna Klara Falke, ›Räuber der Nordsee‹.

Wie funktioniert es?

Zunächst wird das Beutegut in einen Beutel gesammelt, um zufällig auf die zu plündernden Orte verteilt zu werden. Jedem/r Spieler:in steht zu Beginn eine Wikingerfigur zur Verfügung, die er/sie zunächst nur im Dorf für Aktionen einsetzen kann: Durch verschiedene Aktionen können bspw. Silber oder Proviant eingenommen werden, neue Handkarten für die Schiffscrew gezogen werden und ähnliches. Die Handkarten können auf zwei Arten eingesetzt werden: Bei der Ratshalle kann eine einmalige Ratshallenaktion, die sich je nach Handkarte un- terscheidet, durchgeführt werden. Bei der Baracke ist es hingegen möglich, Wikinger Karten für die angegebenen Kosten für seine Crew anzuheuern. Im Langhaus werden Darbringungen erbracht, das heißt, dass dort Beutegut gegen Siegpunkte getauscht werden. Nach jeder Aktion wird eine Wikingerfigur vom Spielplan genommen – diese kann dann im nächsten Zug genutzt werden. Die Wikingerfiguren besitzen drei unterschiedliche Farben (schwarz, grau und weiß), die für unterschiedliche Aktionen genutzt werden können. Wenn Crewmitglieder, Proviant und Silber gesammelt haben, kann das Plündern losge- hen. Dabei ist entscheidend, wie stark die Crew ist – mehr Stärke bringt oft auch mehr Sieg- punkte. Neben der Beute befinden sich Walküren in den Orten. Wenn eine Walküre aufgenom- men wird, stirbt ein Crewmitglied, gleichzeitig rückt man aber auch auf der Walkürenleiste nach oben, was am Ende Siegpunkte bringt.

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Während einer Partie ›Räuber der Nordsee‹ (Bildnachweis: © Anna Klara Falke).

Umsetzung des Settings

Box: Das Cover von ›Räuber der Nordsee‹ informiert den/die mögliche/n Käufer:in des Spiels eindrücklich über das im Spiel enthaltene Setting. Auf einem Langschiff der Wikinger, das direkt durch den Drachenkopf und die rot-weiß gestreiften Segel zu erkennen ist, warten meh- rere grimmig dreinblickende Nordmänner (und -frauen). Rundschilde, Speere und Äxte, blaue Tätowierungen und sogar Hörnerhelme – kein Klischee des populärkulturellen Wikingerbildes wird ausgelassen. Unterstrichen wird das Ganze durch den unverkennbaren Comicstil des Il- lustrators Mihajlo Dimitrievski.

Spielmaterial: Das Spielbrett von ›Räuber der Nordsee‹ ist zweigeteilt: Im Süden liegt eine Wikingersiedlung. Dort finden sich verschiedene Orte (darunter ein Langhaus und eine Schmiede), und über das Meer erreicht man eine Landschaft im Norden, in dem sich verschie- dene Orte zum Plündern finden, darunter Klöster und Festungen. Das Plündergut ist in Form kleiner Holzobjekte dargestellt. Diese unterscheiden sich in Form und Farbe. Besonders schön sind die Münzen, welche tatsächlich aus Metall bestehen. Die Handkar- ten zeigen bunt illustrierte Figuren: Die Wikinger sind größtenteils blau tätowiert, haben rote Haare und Bärte und sind oft muskelbepackt – es kommen aber auch hager dargestellte Figuren vor. Frauen sind ebenfalls vertreten, als Schildmaid, Bogenschützin oder beleibte Schmuckver- käuferin.

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Oben: Crew Mitglieder, v. l. n. r. Schildmaid, Berserker, Rächer. Unten: Münzen: Der Autor des Spiels hat sich beim Design von echten Münzfunden inspirieren lassen. Zu Münzschätzen aus der Wikingerzeit vgl. Steinbach 2020 (Bildnachweis: © Lukas Boch).

Setting und Regelwerk: Deutlich findet sich in diesem Spiel ähnlich wie bei ›Blood Rage‹ die Walhall-Mythologie in den Regeln wieder: Die Walküren bringen den Tod eines Crewmit- glieds, doch haben einige Karten Sondereffekte, durch die das Sterben vorteilhaft ist. So kann bspw. der Berserker beim Tod immer wieder auf die Hand genommen werden. Interessant ist in diesem Kontext der Hinweis darauf, dass der Tod bei einem Raubzug erfolgen muss – also nur der Tod im Kampf bringt Vorteile. Die Walkürenmarker stellen dabei sogar eine Möglichkeit dar, das Spiel zu gewinnen: Für jedes Crewmitglied, das auf dem Raubzug durch einen Walküremarker stirbt, rückt man auf der Walküre-Marker-Leiste vorwärts. Am Ende erhält man hier je nach Fortschritt auf der Leiste nochmal Siegespunkte.

Fazit

Die Kombination der Nachstellung des eher alltäglichen Lebens, bei dem in dem eigenen Wi- kingerdorf zunächst für genügend Proviant und weitere Güter gesorgt werden muss, um dann erst nach gründlicher Vorarbeit zu Plünderungen aufbrechen zu können, funktioniert in ›Räuber der Nordsee‹ sehr gut. Zudem unterstützt der Aufbau des Spielplans das Setting in hervorra- gender Weise. Beeindruckend sind die aufwendigen Münzrepliken, die dem Spiel beiliegen – obwohl sie für den Mechanismus des Spiels nicht relevant sind, helfen sie dabei, das Wikingersetting

114 Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger im modernen Brettspiel (Anna Klara Falke / Lukas Boch) authentisch wirken zu lassen. Die Darstellung der Wikinger scheint sich stark an der Netflix Serie „Vikings“ zu orientieren. Dies wird besonders deutlich an der Gestaltung des Covers der Box.

Resümee und Ausblick

Es konnte gezeigt werden, dass jedes der drei Spiele andere Schwerpunkte bei ihrem Wiking- ersetting betonen – sei es der mythologische Aspekt mit Walhall in ›Blood Rage‹, das Alltags- leben in ›Ein Fest für Odin‹ oder die Seefahrt und das Plündern in ›Räuber der Nordsee‹. Jedes der Spiele betont dabei andere Aspekte des Wikingerbildes, doch gelingt es allen durch die Ver- bindung der verschiedenen Spielkomponenten, ihre Inszenierung überzeugend wirken zu lassen. Dabei ist hervorzuheben, dass sich die Autoren keinesfalls nur an historischen Quellen orientieren, sondern vielmehr auf Bilder zurückgreifen, die aus anderen populärkulturellen Me- dien wie beispielsweise Spielfilmen bekannt sind. Für das Spielempfinden ist es interessanter Weise in erster Linie nebensächlich, ob ein Spiel tief in die Klischeeschublade greift und auf diese Weise kokettiert oder – wie im Falle von ›Ein Fest für Odin‹ – einen Bildungsanspruch verfolgt, der bis ins Regelwerk greift. Die Möglichkeiten, Geschichte zu inszenieren, sind – das konnte in diesem Rahmen le- diglich skizziert werden – nahezu endlos. Inwiefern Gesellschaftsspiele tatsächlichen Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein ausüben, bedarf der empirischen Untersuchung. In jedem Fall wird man Produzent:innen wie Rezipient:innen ein Maß an Abstraktionsvermögen zugestehen dürfen, sodass die Inszenierung von Klischees nicht als Ausdruck von Unwissenheit, sondern eher als lustvolles Spiel mit verbreiteten Vorstellungen zu verstehen ist.

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ZITIEREMPFEHLUNG

Anna Klara Falke / Lukas Boch, Wikinger im modernen Brettspiel, in: Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020), S. 95-117.

LITERATURVERWEISE

Sekundärliteratur

Bernsen / Meyer Daniel Bernsen / Till Meyer, Gesellschaftsspiele, in: Felix Hinz / An- 2020: dreas Körber (Hrsg.), Geschichtskultur – Public History – Angewandte Geschichte. Geschichte in der Gesellschaft: Medien, Praxen, Funktio- nen, Göttingen 2020, S. 238-260.

Bühl-Gramer 2014: Charlotte Bühl-Gramer, „Per Brettspiel in die Vergangenheit“. Histori- sche Realität in Spielwelten, in: Public History Weekly 2:25 (2014), URL: https://public-history-weekly.degruyter.com/2-2014-25/per-brett- spiele-die-vergangenheit-historische-realitaet-spielwelten/ (Stand: 18.11.2020).

Giere 2019: Daniel Giere, Computerspiele – Medienbildung – historisches Lernen: Zu Repräsentation und Rezeption von Geschichte in digitalen Spielen, Frankfurt a. M. 2019.

Hilgers 2008: Philipp von Hilgers, Kriegsspiele. Eine Geschichte der Ausnahmezu- stände und Unberechenbarkeiten, München / Paderborn 2008.

Rüsen 1994: Jörn Rüsen, Was ist Geschichtskultur? Überlegungen zu einer neuen Art, über Geschichte nachzudenken, in: Klaus Füßmann (Hrsg.), Historische Faszination. Geschichtskultur heute, Köln u. a. 1994, S. 3-26.

Salvati / Bull- Andrew J. Salvati / Jonathan M. Bullinger, Selective Authenticity and the inger 2013: Playable Past, in: Matthew W. Kapell / Andrew B. R. Elliot (Hrsg.), Playing with the Past. Digital Games and the simulation of History, Bloomsbury 2013, S. 153-163.

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Stankovitsová 2020: Zuzana Stankovitsová, „Wikinger“ in der altnordischen Literatur, in: Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020), S. 51-56.

Steinbach 2020: Sebastian Steinbach, Wikingerschätze – Ein Glücksfall für die Münzge- schichte, in: Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020), S. 57-65.

MEDIENVERZEICHNIS

Eric M. Lang, ›Blood Rage‹, Assmodee 2016.

Andreas Steding, Die Staufer. ›Im Gefolge von Heinrich IV.‹, Hans im Glück 2014.

Uwe Rosenberg (Almanach: Gernot Köpke), ›Ein Fest für Odin‹, Feuerlandspiele 2016.

Shem Phillips, ›Räuber der Nordsee‹, Garphill Games 2016.

Jon Manker, ›Pax Viking‹, Ion Game Design 2020.

Richard Mikalsen, ›Vikingjar‹, SB Games AS 2020.

Jason C. Hill, ›Shadows of Brimstone: Gates of Valhalla‹, Flying Frog Productions 2020.

Klaus-Jürgen Wrede, ›Carcassone‹, Hans im Glück 2000.

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Lucky Leif und die bärtigen Männer –

Wikinger in Rock und Metal

von Christian Peters

Karikatur aus dem ›Daily Inter-Ocean‹ vom 31. Juli 1893 (Bildnachweis: © Nasjonalbiblioteket Oslo).

„The Honor of Belonging to the Viking Race“ – Medievalism und skandinavische Identität

Lange bevor er zur Zielscheibe postkolonialer Ikonoklasmen wurde, war Christoph Co- lumbus bereits von anderer Seite in diskursive Bedrängnis gebracht worden: Im Vorfeld der Weltausstellung 1893 in Chicago, die mit dem vierhundertsten Jahrestag von Colum- bus‘ Landung auf Hispaniola mehr oder minder in eins fiel, regte sich Unmut bei den skandinavischen Einwanderern, von denen am Austragungsort und in den umgebenden Staaten des Mittleren Westens, insbesondere aus Norwegen, im Laufe des Jahrhunderts viele eine neue Heimat gefunden hatten. Überzogen sei die Anerkennung für den Genue- sen Columbus, der den Kontinent nur durch Zufall und mehr schlecht als recht mit einer für wildere Gewässer völlig ungeeigneten südländischen Besatzung gefunden habe, und unbegründet daher auch der Stolz der italoamerikanischen Bevölkerung der noch nicht allzu alten Nation, deren Sozialstruktur sich durch rasante Industrialisierung ebenso wie durch den Zuzug von Millionen Migranten aus nicht-angelsächsischen Regionen Europas dramatisch veränderte und damit intensive Aushandlungsprozesse um ethnische vs. nati- onale Identität ebenso wie kulturelle Vormachtstellung zeitigte.

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Schon 1837 hatte auf dem frühen Auswandererschiff Aegir der ehemalige Theologiestu- dent Ole Rynning anlässlich der Feiern zum 17. Mai, dem norwegischen Nationalfeiertag in direktem Rückgriff auf die Sagas gedichtet, man befinde sich auf der Fahrt zu den fernen Strän- den von „Vínland it góða“ (vgl. Semmingsen 1980, S. 27). Auf der anderen Seite des Atlantiks schickte sich die werdende norwegische Nation Ende des 19. Jahrhunderts an, die Personal- union mit der schwedischen Monarchie zu lösen und ein souveräner Staat zu werden, der eben- falls um Identität und Selbstbestätigung rang. In einem frühen Beispiel historischen Re-enact- ments schufen daher norwegische und norwegisch-amerikanische Enthusiasten im Verbund Tatsachen, indem sie mit der Überfahrt eines Viking getauften Nachbau des gut zehn Jahre zu- vor ausgegrabenen Gokstad-Schiffs von Christiania (dem späteren Oslo) über Bergen nach New York und Chicago dem Columbianismus beherzt die Schau und die Diskurshoheit zu stehlen versuchten. Und das regional zumindest mit Erfolg: Der Chicagoer ›Inter-Ocean‹ begleitete das Projekt mit detaillierter Berichterstattung und bot der norwegisch-amerikanischen Nationalromantik rund um die Wikingerfahrten ein Sprach- rohr. So berichtete das Blatt bereits am 22. Juli 1892 über die Ankündigung aus Norwegen, mit einem Nachbau des Gokstad-Schiffes den Atlantik überqueren und zur Weltausstellung segeln zu wollen, unmittelbar verbunden mit einem Verweis auf die immer noch herausragende see- männische Gewandtheit der Norweger und dem Topos der „hardy Norsemen“. Bereits im Ja- nuar des gleichen Jahres hatte der Sunday Herald die norwegische Ankündigung des Nachbaus zum Anlass genommen, in dem Artikel ›Two Great Ericssons. Famous Benefactors to America‹ über Leif und seiner modernen „Nachfahren“ zu berichten. Der andere “great Ericsson”, den der Titel verspricht, ist der schwedische Ingenieur John Ericsson, dem der Autor des Artikels aufgrund des Namens eine „unbroken line of ancestry“ mit Leif attestiert. John Ericsson war Erfinder der Schiffsschraube und hatte in den 40er-Jahren des 19. Jh. einige Kriegsschiffe für die USA gebaut, die im Bürgerkrieg erfolgreich gegen Konföderiertenschiffe gekämpft hatten (vgl. The Sunday Herald, 31. Januar 1892). In die Behauptung des Primats der Entdeckung Amerikas wird zugleich mittels einer Art von intellektueller Präfiguration die besondere Kompatibilität des skandinavischen Menschen- typs für bestimmte, wesentliche Aspekte des angloamerikanischen Selbstverständnisses einge- schrieben: Der Wikinger verkörpert Fortschrittsoptimismus, Entdeckergeist, Freiheitsdrang – und Republikanismus, wie eine Rede zeigt, die die Rasmus B. Anderson, der Verfasser einer populären und vielfach neu aufgelegten Streitschrift zur Kontroverse (America Not Discovered by Columbus), bei der 50-Jahrfeier der norwegischen Einwanderung nach Amerika 1875 in

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Chicago hielt. Dort insistiert Anderson1, es sei vor allem der Wunsch nach Autonomie und Selbstbestimmung gewesen, der den „Republikaner Leif Eriksson“ und seine Mannen über den großen Teich geführt habt. Emblematisiert wird die Kontroverse, die sich schließlich auch in einer Zahl gefälschter Runensteine, die um 1900 vielerorts im Mittleren Westen zum Vorschein kamen, niederschlug, in einer Karikatur aus dem Inter-Ocean vom 31. Juli 1893, genau zur Halbzeit der Weltausstellung, in der eine entnervte Personifikation der Geschichtswissenschaft auf die Uhr sieht, während sie die in einen Boxkampf verwickelten Leif Eriksson und Christoph Columbus ermahnt, sie befänden sich bereits in der 401. Runde ihres Kampfes. Diese umfängliche Einleitung um eine transatlantische Kuriosität der Geschichtskultur in der Hochphase des Nationalismus einem Beitrag über Wikinger im Metal voranzustellen, scheint in zweifacher Hinsicht nicht völlig abseitig: Zum Einen illustriert die Anekdote bzw. das Anekdotenbündel in einem isolierten und verhältnismäßig fernen Kontext sowohl die wir- kungsvollsten und geläufigsten populärkulturellen und -wissenschaftlichen Topoi im Hinblick auf das Phänomen „Wikinger“ als auch die zahlreichen sachfremden ideologischen, politischen und kulturellen Rahmungen, mit denen sich diese Topoi, insbesondere über das Schweigen „der Wikinger“ selbst hinweg (vgl. Stankovitsová 2020), befrachten lassen: Wikinger lieben ihre eigene Freiheit und weisen anderen den Weg zu der ihren, trotzen den Naturgewalten, mit denen sie in einem engeren Bunde stehen als die verweichlichten Menschen des Südens, ihr Entde- ckergeist lässt sie zum Wohle aller die Welt erschließen und die Mittel dazu ersinnen, ihre politische Gesinnung ist untadelig und nimmt die Segnungen der politischen Aufklärung vor- weg – vieles davon werden wir bei unserem Gang durch die Diskographie dieses Beitrages wiedererkennen, manches wird der Metal ketzerisch in sein grimmiges Gegenteil verkehren.

Messermigration mit Surfbrett und Kruzifix – Einmal Vinland und zurück (Led Zeppelin, Robert Calvert, Jethro Tull)

Der zweite Beweggrund für den ausufernden Prolog ist vielleicht noch wichtiger: Die Vermäh- lung von Wikingertopik und Rockmusik findet zunächst und ganz dezidiert an den fernen Ge- staden von „Vinland dem Guten“ statt. Die Geschichtsschreibung der Rockmusik ist sich recht einig, dass die erste Begegnung des Musikgenres mit den Seefahrern des mittelalterlichen Nor-

1 „Vi søgte fulkommen Frihed og Selvstændighed og fandt den i et Land, som vore Forfædre først havde opdaget under Republikaneren Leif Eriksons Ledelse.“ Zitiert nach Øverland 1998, S. 154.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) dens in einem Stück Rockmusik Led Zeppelins ›Immigrant Song‹ vom Album ›III‹ (1970) voll- zogen wird. Der Song spielt einerseits auf seinen Entstehungskontext im Rahmen der Islandtour der Band im Sommer 1970 an, wenn es heißt:

We come from the land of the ice and snow, from the midnight sun where the hot springs flow,…

Kontextualisiert werden diese Verse, die sich durchaus auch auf die anstehende Rückkehr von der Tour hätte beziehen können, in einem mittelalterlichen Setting, das aus dem „We“ des Sän- gers Robert Plant ein „We“ namenloser Wikinger auf dem Weg nach Amerika macht:

The hammer of the gods will drive our ships to new lands to fight the horde, sing and cry: Valhalla, I am coming. On we sweep with threshing oar, our only goal will be the Western shore.

Wie es die zitierten Verse bereits andeuten und spätere bestätigen („tales of gore“, „tides of war“, „We are your overlords“), ist das Bild des Wikingers hier das eines brutalen Eroberers, dessen Gewalt nur beizukommen ist, wenn man ihm mit Einigkeit und Entschlossenheit begeg- net („For peace and trust can win the day despite of all your losing.“). Led Zeppelin erneuern in ihren Wikingern, die mit Gewalt als Instrument und göttlicher Sanktionierung im Rücken ein neues Land im Westen erobern wollen, durch den Titel aber zugleich als schwach und heimatlos kontrapunktiert werden, eines der wesentlichen abendländischen master narratives, das begin- nend mit Aeneas, der aus dem brennenden Troja nach Hesperien, dem „Westland“ oder dem „Land des Abendsterns“ flüchtet, in die Geschichte menschlichen Strebens ein klares Telos in Verbindung mit einem kontinuierlichen Westwärtsdrang legt, der sich erst in der amerikani- schen frontier erschöpft. Fünf Jahre später, 1975, wird dieser Gedanke pointiert und auf LP-Länge gebracht von einem der faszinierendsten und eigenwilligsten Konzeptalben der an faszinierenden und eigen- willigen Konzeptalben nicht armen Rockmusik der 70er-Jahre: Robert Calvert, als Sänger der in Metal-Kreisen nicht nur als frühe Wirkungsstätte des nachmaligen Motörhead-Gründers Lemmy Kilmister verehrten Space Rock-Band Hawkwind prosopographisch für die Geschichte des Metal nicht unerheblich, legte zugleich eine Zahl von Soloalben vor, darunter eben 1975 ›Lucky Leif and the Longships‹, das sich, der Titel lässt es bereits erahnen, der Entdeckung Amerikas durch Leif Eriksson widmet und dessen Cover ein Drachenboot ziert, das die Flagge

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) der USA als Segel gehisst hat. Musikalisch eine Mischung aus Folk, Rock und experimentelle- ren Ansätzen, geht es inhaltlich deutlich über die weitgehend erzählende Textwelt von Led Zeppelins ›Immigrant Song‹ hinaus.

Albumcover und Rückseite von Robert Calvert, Lucky Leif and the Longhships (1975, © United Artists, Bild: https://www.dis- cogs.com/de/Robert-Calvert-Lucky-Leif-And-The-Longships/release/1336860).

›Lucky Leif and the Longhships‹ ist eine parabelhafte Geschichtstravestie, die eine textlich in hohem Stil angelegte Schilderung der Fahrt Leif Erikssons und seiner Gefährten und des Ver- suchs, in Amerika Fuß zu fassen, mit Bezügen zur amerikanischen Gegenwart und ihren sozi- alen und kulturellen Phänomenen und Schattenseiten verschneidet. So sticht das eröffnende ›Ship of Fools‹ voll „Landratten“ („landlubbers“) in die See, die in Imitation altnordischer Pa- raphrasen als „whale‘s-highway“ umschrieben wird, seine Besatzung ist im dritten Stück vom unbedingten Glauben an ihre göttliche Sendung beseelt:

The mighty Midgard-serpent's tail heading for the gods alone know where did writhe, and rise up like a flail heading for the gods know where. So heave me heroes, heave and haul. Valhalla hails thee, one and all.

– ›Voyaging to Vinland‹

Die eddische Kosmogonie wird in einem mit Stimmeffekten beinahe zur Unhörbarkeit entstell- ten spoken word-Zwischenspiel (›The Making of Midgard‹) referiert und im abschließenden ›Ragna-Rock‹ wird der apokalyptische Horizont, der topisch über hinter allen Imaginationen der Welt der Wikinger steht, eindringlich beschworen und mit der Aussicht auf die Geburt einer neuen Welt verwoben:

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Clouds of angry blackness rise and fissures of a mighty size appear in both the earth and skies, as Fenrir breaks his shackles. Ragnarok, the Skalds of old all warn. Ragnarok, a new world shall be born, shall be born.

Doch diesem hohen, episch-eddischen Stil stehen Misstöne und comic reliefs gegenüber. ›Brave New World‹, das fünfte Lied, stellt das idiotische Staunen über eine Welt, die als unbewohnt angenommen wird, dar, das folgende ›Magical Potion‹ macht den Sprecher zum Feigling, der sich ohne einen Zaubertrank nicht auf das Schiff gen Westen traut, und ›Moonshine in the Mountains‹ verweist im Anschluss nicht nur auf das Wesen dieses „Zaubertranks“, sondern auch auf die white trash-Kultur mit ihren Schwarzbrennereien, die einst aus den heldenhaften Eroberern Vinlands hervorgehen wird. Eine kolonialismuskritische Dimension wird danach durch den ›Storm Chant of the Skraelings‹ eröffnet, in der die Ureinwohner, die hier unter dem Begriff, den die Sagas für sie verwenden, auftreten, ihre eigenen göttlichen und animistischen Unterstützer anrufen, um sich der Wikinger zu erwehren. Ob Lucky Leif und seine Gefährten in Calverts Historientravestie Erfolg haben, mithin also einen alternativen Geschichtsstrang be- gründen oder nicht, bleibt offen – wessen Welt im ›Ragna-Rock‹ untergeht, ist unklar, dass eine neue Welt entstehen wird, jedoch nicht. Und diese neue Welt entspricht der amerikanischen Gegenwart der 1970er mit vielen ihrer Dämonen – zu denen auch die popularisierte Gegenkul- tur der Westküste, der (vor-)letzten frontier, zählt: In einem so naheliegenden wie irrwitzig komischen Wortspiel parodiert das zweite Lied ›The Lay of the Surfers‘den Surfrock‹ der Beach Boys:

Barbarians, bar, bar, barbarians Barbarians, bar, bar, barbarians Barbarians, bar, bar, barbarians The world is our oyster, the pearl's in our hands.

In Entsprechung zum hier karikierten extraktivistischen Selbst- und Sendungsbewusstseins zeigt das rückwärtige Cover des Albums eine Freiheitsstatue mit Hörnerhelm, die auf einem im Ozean schwimmenden frühneuzeitlichen Globus ihre Fackel balanciert. Die Weise, auf die Cal- verts Album die Geschichte der Entdeckung Amerikas durch nordeuropäische Seefahrer – de- ren Nachweis ja erst knapp 15 Jahre vorher durch die Funde von L’Anse aux Meadows erbracht worden war2 – in todernsten Pathos mit absurd parodierter Americana verschneidet und damit

2 Vgl. den Überblick über die archäologischen Befunde in Ledger / Girdland-Fink / Forbes 2019, S. 15341.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) die Wikinger zur Karikatur von Imperialismus und American exceptionalism macht, dies pas- senderweise genau 100 Jahre nachdem Rasmus Anderson Leif Eriksson zum Republikaner er- klärt hatte, ist in der Geschichte der Rockmusik ohne Nachahmer geblieben. Aufgrund seiner kaleidoskopartigen Vielschichtigkeit hätte das Album besser an das Ende unseres Durchgangs durch die Wikinger in Rock und Metal gepasst – dass es seinen Anfang bildet, zeugt vom Aus- nahmestatus von Projekt und Künstler. Doch wie begründet sich eigentlich das Interesse des frühen Hardrock und seiner Prota- gonisten am Sujet? Dafür werden sowohl kultursoziologische Ursachen als auch literaturge- schichtliche Koinzidenzen in Anschlag gebracht: Hardrock entstand am Ende der 1960er-Jahre, als auch die moderne Fantasyliteratur mit ihrem Archegeten J.R.R. Tolkien und seiner nordisch- germanisch-keltisch inspirierten Welt einen immensen Boom erlebte. Zugleich speiste sich das Milieu der Fans der neuen Strömungen in der Rockmusik oft aus Kreisen, die auch Gefallen an sowohl Fantasyliteratur und -filmen, -comics etc. als auch Rollenspielen im sword & sorcery- Gewand fanden, sodass sich die einzelnen Szenen und Subkulturen gegen- und wechselseitig neues Publikum zutrieben, das die kulturellen Manifestationen der jeweils anderen formal und inhaltlich in die eigenen implementierte.3 Wir werden zu diesen Überlegungen noch zurück- kehren müssen, wenn es darum gehen soll, die Motivik und Ikonographie aktueller Beispiele von Metal mit Wikingern als Sujet aufzuschlüsseln, zumal der Pool der überlappenden Subkul- turen eher noch größer und die Grenzen durchlässiger geworden sind, zumal beflügelt von neuen Leit- und Massenmedien als Trägern (vgl. Peters / Enseleit 2017, S. 9-11). Kehren wir jedoch noch einmal zurück zu den Anfängen: Im gleichen Monat wie ›Lucky Leif and the Longships‹ erschien auf dem Album ›Minstrel in the Gallery‹ der britischen Pro- grockband Jethro Tull mit ›Cold Wind to Valhalla‹ erstmals ein Song einer international popu- lären Rockband, der schon im Titel auf ein altnordisches Sujet hinweist oder hinzuweisen scheint. Das Lied thematisiert die Walküren als diejenigen Wesen, die die ehrenvoll Gefallenen nach Walhall führt. Eine von ihnen wendet sich stellvertretend für die Gruppe an eine nicht namentlich genannte junge Frau und fordert sie auf, sich den Walküren anzuschließen: „And ride with us young bonny lass / with the angels of the night.“ Zwischen dem Refrain in Form der Beschwörung, doch bitte eine der ihren zu werden, die jeweils leicht abgewandelt wird, beschreibt die Sprecherin das mythologische Aufgaben- spektrum einer Walküre, dies allerdings in grotesken und ironisierenden Zügen, die entweder ins Phantastische oder ins Banale oszillieren: Als Reittier dient ein „out-size unicorn“ und zum „breakfast with the gods“ werden Trockenfischreste mit Branntwein gereicht, es ist kalt und

3 Vgl. Trafford / Pluskowski 2010, S. 59-60; Trummer 2020, S. 42 (am Beispiel des Epic Metal).

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) trostlos im alt gewordenen Walhall und so nimmt es den Hörer schließlich nicht wunder, zu erfahren, dass es „Thor’s trusty hand maidens“ zunehmend schwer fällt, Helden zu finden, die sie mit sich nehmen könnten, und sie schließlich „empty-handed to Valhalla“ heimkehren. Das Pathos, mit dem Led Zeppelin in ihrem anderen altnordisch eingefärbten Song ›No Quarter‹ (auf dem Album ›Houses of the Holy‹, 1973) in die Worte „The winds of Thor are blowing cold“ gießen, scheinen Jethro Tull hier motivisch zu ironisieren mit einem der mitleidigen Lächerlichkeit preisgegebenen Walhall, während gleichzeitig die Obsoleszenz eines Tugen- dethos vorgeführt wird, das sein Ideal im Heldentod auf dem Schlachtfeld sieht (vgl. Peters 2017, S. 179-183). Das bedeutet nicht, dass Jethro Tull, die von vielen Metal-Bands entweder aufgrund des Gitarrenspiels von Martin Barre oder aufgrund der schamanisch-okkultistischen Züge ihrer Folkrock-Phase in den späten 1970er-Jahren als Einfluss genannt werden, Wikingergeschichten nicht auch mit ernsthaftem tragischem Pathos erzählen könnten: Auf dem 1982 erschienen Al- bum ›Broadsword and the Beast‹ thematisiert mit ›Broadsword‹, dem Stück, das die B-Seite der Schallplatte eröffnet und damit den Albumtitel in umgekehrter Reihenfolge wiederauf- nimmt, erstmals ein Rocksong auch die Normanneneinfälle in Europa. Die drei Strophen des Liedes haben zwei unterschiedliche Sprecher, die jeweils die Perspektive von Verteidiger und Angreifer bei einem normannischen Überfall auf die Küste mutmaßlich Großbritanniens ein- nehmen.

Rückseitiges Cover von Jethro Tull, Broadsword and the Beast (1982, © Chrysalis, Scan aus Privatbesitz).

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Der Sprecher der ersten Strophe, die in der dritten wieder aufgenommen wird, erblickt „dark sails on the horizon“ und lässt sicher zweierlei reichen: Sein titelgebendes „broadsword“ und sein „cross of gold as a talisman“, letzteres wohl nicht getragen als Zeugnis eines Glaubens im modernen Sinne, sondern von seinem Besitzer verstanden als magisch-animistischer Kultge- genstand. Womit er kämpft, ist nun deutlich, danach erläutert der Sprecher auch, wofür: „Get up to the roundhouse on the cliff-top standing. / Take women and children and bed them down.“ Die zweite Strophe wechselt die Perspektive zu dem seefahrenden Angreifer und offenbart, dass er nicht nur die gleichen Gegenstände mit sich führt, Breitschwert und Goldkreuz, sondern dass es auch bei ihm Frau und Kinder sind, die sein Handeln motivieren. Zwar ließe sich die Nennung des Goldkreuzes auch als einfacher Verweis darauf, dass hier Christen über Christen herfallen (sc. was sie nicht sollten) deuten lassen, aber das erschiene doch als eine recht ober- flächliche Aussage. Vielmehr lassen sich die genannten Gegenstände – neben Kreuz und Schwert auch das „roundhouse“, ein schottisches Radhaus – als die einzigen archäologischen Befunde lesen, aus denen sich die durchaus bittere Geschichte, die das Lied entwirft, rekonstru- ieren lassen könnten, alles Übrige ist bewusst entweder ephemer und aufgrund seiner Materia- lität nicht geeignet, als Zeugnis zu überdauern – etwa der Stoff des Segels, die Wolken und der Wind – oder ohnehin immateriell wie das familiäre Pflichtgefühl oder die Figur eines „motherland“. Auf dieser metaliterarischen Ebene lohnt es sich indes auch, wieder zu der zunächst ver- worfenen plakativen Moral des Texts zurückzukehren: Die Gleichartigkeit der Formulierungen belegt eine Gleichartigkeit des archäologischen Befunds in der wissenschaftlichen Systemati- sierung, der einzigen Möglichkeit, vorschriftliche „Kulturen“ überhaupt als solche voneinander abgrenzen zu können. Der Heroismus des eisenzeitlichen Wikingers und seines entweder kel- tischen oder angelsächsischen Opfers beschränkt sich also auf den sehr basalen Leidensdruck, für die eigene Familie sorgen zu können, das „hard heart“ ist kein Wesenszug, er muss um Tapfer- und Grausamkeit als Rüstzeug für sich und seine Gefährten bitten. Auf der musikali- schen Ebene spiegelt sich das in einem melancholischen Pathos, das nicht untypisch für diese Phase im Schaffen von Jethro Tull ist, in ›Broadsword‹ aber sicher auf die Spitze getrieben wird und mit symphonischen Synthesizern, einer schleppenden, gleichförmigen Rhythmik und ge- tragenem Gesang, der ebenso wie die Gitarren mit viel Hall belegt ist, gewisse Bauformen vor- wegnimmt, die später für den eigentlichen charakteristisch sein werden – ohne jedoch eine direkte Beeinflussung unterstellen zu wollen. Als Jethro Tull 1982 ihren vielleicht „metallischsten“ Song veröffentlichten, hatte sich, ausgehend von der sogenannten „New Wave of British Heavy Metal“ in den vorausgehenden ca. fünf Jahren auch das zu formieren begonnen, was man fortan als (Heavy) Metal in einem

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) engeren Sinn bezeichnen würde. Die spezifische Zusammensetzung der Hörerschaft des neuen Genres (dazu s.o.) führte zu einer hohen Aufnahmebereitschaft für Sujets, die sich im Grenz- bereich von Fantasy, sword & sorcery aus Comics und Rollen- sowie bald darauf auch Video- spielen und mittelalterlicher Geschichte bewegten. Mit dem ersten Beispiel für eine Band, die mit ihrer Bemühung von Wikinger-Topoi mitten ins Herz dieser Hörerschaft zielte, wird unser historisch-genetischer Durchgang enden und einem systematischen Ansatz weichen, der die unüberschaubare Zahl von Metalbands mit Bezügen zu Wikingern, nordischer Mythologie etc. anhand von Fallbeispielen bestimmten kultursoziologischen und geschichtskulturellen Identi- fikations- und Selbstdarstellungsinteressen zuordnet.

Re-Sound the Horn: Barbarisch-heroischer Eskapismus und Epochenromantik im Epic Metal (Manowar, DoomSword)

Die 1980 gegründete US-amerikanische Heavy Metal-Band ›Manowar‹ gilt vielen innerhalb wie außerhalb der Subkultur mittlerweile als ein groteskes Abziehbild aller Klischees und Ste- reotype, die Genre wie Szene zu bieten haben, was die selbsternannten ›Kings of Metal‹ (so der Titel eines Albums von 1988) aufgrund der extremen Pointierung bestimmter, durch sie selbst wesentlich mitkanonisierter Elemente in der musikalischen Darbietung, vor allem aber auch in der setzkastenhaften textlichen und paratextuellen Ästhetik ihrer Musik, jedoch zugleich zu ei- nem zuverlässigen Gradmesser davon macht, was inner- und außerhalb der Grenzen einer im- pliziten Regelpoetik textlicher und kultureller Referenzsysteme im Metal macht – oder, um es griffiger zu fassen: Wenn ›Manowar‹ ein Thema verhandeln, kann davon ausgegangen werden, dass es im Spektrum des metallisch Sagbaren liegt, zumal in den 1980er-Jahren. Es dauerte nur bis zum zweiten Album der Band (›Into Glory Ride‹, 1983), dass auch das mittelalterliche Skandinavien in ihre Musik Einzug hielt. Unzweifelhaft beeinflusst vom Erfolg des ersten ›Conan‹-Films mit Arnold Schwarzenegger im Jahr zuvor, legte sich auch die Band ein offen und ironiefrei zur Schau getragenes Image des „Barbarischen“ zu, das sich in der visuellen Gestaltung des Albums ebenso wie in den Bühnenoutfits der Band niederschlug: Len- denschurze aus Fell, Leder und halbphantastische Hieb- und Stichwaffen gehören zu den Re- quisiten, mit denen ›Manowar‹ unterstrichen, dass sie ihre Musik als eine prähistorische Urge- walt im Groschenromanformat verstehen. Entsprechend fällt das textliche Programm aus:

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Albumcover von Manowar, Into Glory Ride (1983, © Music for Nations, Bild: https://manowar.com/music/into-the-glory-ride/) und Sign of the Hammer (1984, © 10 Records, Bild: https://manowar.com/music/sign-of-the-hammer/).

Die Welt wird mit selbstgerechter Gewalt überzogen, sei es im Sattel eines Choppers (›War- lord‹, dem einzigen Song mit Bezügen zur modernen Welt), als apokalyptischer Dämon (›Re- velation [Angel of Death]‹), als rachsüchtiger Wiedergänger (›March for Revenge [By the Sol- diers of Death]‹) oder einfach vermöge des wesenseigenen ›Hatred‹. Wesentlich ist für unsere Betrachtung das vierte Stück des Albums, ›Gates of Valhalla‹. Dort eröffnen ›Manowar‹ Wal- hall, das in Jethro Tulls ›Cold Wind to Valhalla‹ konjunkturbedingt kurz vor der Schließung stand, mit Macht für den Metal neu („Valhalla – the gods await me. /Open wide thy gates, embrace me, / great hall of the battle slain, / with sword in hand.“) und etablieren das Themen- feld des Altnordischen als Topos für den Metal. Der Sprecher scheint bereits in der Schlacht gefallen zu sein („Death’s chilling winds blow through my hair“) und rüstet sich nun für den Einzug in Walhall und die Gegenwart Odins, innerlich wie äußerlich: Jenes, wenn der Sprecher seinen eigenen Sinn für das Erhabene stimu- liert, indem er die erworbene Unsterblichkeit kontempliert, dieses durch den Verweis auf die Waffen, die er mit sich nimmt. Der Text des Liedes ist eine in ihrer suggestiven Wirkung sehr gelungene Aneinanderreihung von Gemeinplätzen des Heldentods eines Wikingers und eines sword & sorcery-Tugendethos, die die inhaltlichen Widersprüche vergessen macht: Befindet der Sprecher sich nun mit seinem Schwert in Walhall oder mit einer Axt als Wache vor dem Tor? Ist ihm nicht bewusst, dass ihm eben nicht „endless time“ winkt, wenn er schon im nächs- ten Vers den „final battle cry“ (sc. anlässlich Ragnaröks) erhebt? Plausibilität und Kohärenz der Darstellung sind natürlich nicht der Maßstab, an dem eine Band wie ›Manowar‹ die Qualität ihrer Texte gemessen wissen will. Der im Kampf gefallene Wikinger, der nun an Odins Seite Platz nimmt, ist nur ein weiterer sehr wirkungsvoller Avatar

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) eines barbarischen Heldentypus, der Erfüllung darin findet, solitär zu kämpfen und zu sterben und sich dabei zugleich in guter Gesellschaft derjenigen wähnen kann, die ein vergleichbarer Tugendhorizont in den Heldentod geführt hat. Der eröffnende Song ›Blood of My Enemies‹ des Folgealbums ›Hail to England‹ (1984) nimmt diesen Faden wieder auf, indem ein Refrain, der schon beim zaghaftesten Versuch einer Deutung in Absurdität zerfällt, dessen einzelne Be- standteile aber eine Suggestivkraft weit über ihre Summe hinaus erzeugen, erneut auf die Per- spektive eines Einzugs in Walhall anspielt:

Strong wind, magic mist – to Asgard the Valkries fly. High overhead they carry the dead, where blood of my enemies lies.

Im dritten Stück des Albums, ›Kill with Power‹, das als einziges nicht im getragenen Duktus, sondern schnell und aggressiv dargeboten wird, dient abermals Odin als Gewährsmann für die Rechtschaffenheit des eigenen affektgeladenen Schlächtertums:

To the war god Odin you will pray and the curse of weapons shall Remain. On the blood of all our fathers – on their weapons we now swear to avenge – not lament. Give the false ones death.

Das im selben Jahr erschienene Folgealbum stellten ›Manowar‹ emblematisch unter das Patro- nat des nordischen Donnergottes Thor, indem sie ›Sign of the Hammer‹ zum Titelstück machten und das Albumcover auch in der bandtypischen Semiotik des Unmittelbaren genau das zeigt: Das Symbol eines Hammers, vielleicht nicht ohne provokationsfreudigen Hintersinn piktogra- phisch mit Adlerflügeln stilisiert, weiß gerahmt auf rotem Hintergrund.4 Das dritte Stück des Albums ist dem nordischen Donnergott gewidmet und feiert nicht, wie zuvor, den menschlichen Krieger, der sich die Gesellschaft der Götter im Heldentod erwirbt, sondern den Gott selbst anhand eines diffusen Katalogs seiner Taten und Fähigkeiten, von denen mythographisch zuord- bar nur der Kampf gegen Riesen („I watched as he shouted / To the giants that died that day. / He held up his hammer high and called Odin for a sign.“) und seine Verfügung über das Wetter sind. In dem Moment, da dem Gott textlich geboten wird „Lift your cape so that you might fly“ erscheint auch ein weiterer Einfluss mit dem eddischen Thor überblendet zu werden, nämlich der Held aus der Marvel-Comicreihe ›The Mighty Thor‹ aus den 1960er-Jahren. Über die fol- genden Alben schwindet das Themenfeld von Wikingerkriegern und nordischen Göttern, nach

4 Zu mögliche kryptofaschistischen Denk- und Darstellungsmustern bei ›Manowar‹ vgl. Spracklen 2020, S. 76-77.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) einer Votivgabe von Waffen an Odin in ›The Crown and the Ring‹ (›Kings of Metal‹, 1988) (vgl. Peters 2017, S. 184), weitgehend aus dem Blickfeld von ›Manowar‹, womöglich auch, weil sich andere Manifestationen des Heldentypus, der in Aristie und unausweichlichem Un- tergang seine Erfüllung findet, verhandelt werden.5 Letztlich benötigt die heroische Autosug- gestion von ›Manowars‹ Textwelten aber ab einem bestimmten Zeitpunkt auch keinen narrati- ven Anker mehr, ihre semantische Kombinatorik aus Gewalt, Ehre und Stahl genügt sich selbst. Dass die Band, bzw. ihren kreativen und wirtschaftlichen Kopf, Bassist Joey de Maio, der Gegenstand nie losgelassen hat, wird mit dem zunehmenden Fokus auf altnordische Themen mit den Alben der 2000er-Jahre (insbesondere das um Odin kreisende Konzeptalbum ›Gods of War‹, 2007) deutlich, mehr noch aber damit, dass de Maio mit der Benennung seines Tonstu- dios in „Villa Wahnfried“ auch offenlegt, in welcher intellektuellen Traditionslinie seine ro- mantisch gefilterte Wikingerbegeisterung steht. Doch auch wenn ›Manowar‹ nach den Alben in der ersten Hälfte der 1980er-Jahre nie wieder zu dem Sujet zurückgekehrt wären – die die Szene im Übrigen in einer auffällig vormo- dern anmutenden Periodisierung gewissermaßen in eine „rechtschaffene“ und eine „fehlgelei- tete“ Phase mit anhaltender Diskussion über die Epochenzäsur als die kanonischen erachtet –,6 so hätte ihr Einfluss auf das Subgenre des Epic Metal doch die Auseinandersetzung mit dem mittelalterlichen Norden in einer spezifisch tragisch-heroischen Brechung doch auf Dauer in die Gattungsgeschichte implementiert (vgl. Trummer 2020, S. 39-40). Zeugnis davon legt, unter Heerscharen von Nachahmern (nicht nur ›Manowars‹, auch andere Bands, insbesondere ›Manilla Road‹, werden im Epic Metal als Gründerfiguren mit be- sonderer Ehrerbietung betrachtet), besonders beredt eine italienische Band ab: ›DoomSword‹ aus dem industriell geprägten lombardischen Varese veröffentlichten 1999 ihr eponymes erstes Album. Eine Gruppe von drei Stücken in der Mitte des acht Lieder umfassenden Albums macht anschaulich, welchen Stellenwert Sujets mit Bezug zur Wikingerära für eine Band wie ›DoomSword‹ haben: Das vierte Lied ›One Eyed God‹, in dem ein Zwiegespräch zwischen Thor und Odin mit der programmatischen Ankündigung „But so many enemies will taste the hammer / of the viking hearts‘ fiery banner“ zu einem Refrain überleitet, der wie bei ›Manowar‹

5 So etwa im homerischen Zweikampf von Hektor und Achilles in dem 28-minütigen Eröffnungsstück auf dem Album ›The Triumph of Steel‹ (1992), den populären war chiefs der letzten aufbegehrenden nordame- rikanischen Indiandergruppen (›Spirit Horse of the Cherokee‹ auf demselben Album) oder dem gunslinger des Wilden Westens (›Outlaw‹, auf dem Album ›Louder than Hell‹, 1996). 6 Zu den Modi szeneinterner Periodisierung in vormodernen Formen vgl. die Fallstudie von Swinford 2019, S. 121-134. Zur Illustration der Periodisierungs- und Reinheitsdiskurse in der Szene mögen auch Titelthe- men in Metalzeitschriften wie "Waren die Neunziger wirklich so schlimm?", Deaf Forever 21 (2018) oder "Asphyx – Die reine Lehre des Death Metal" in der jüngsten Ausgabe desselben Magazins, Deaf Forever 39 (2020) dienen.

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Heldenmut im Kampf zum Nachweis der Verwandtschaft mit den altnordischen Göttern macht, wird gerahmt von zwei Stücken, die ihre Thematik aus dem Bereich der high fantasy beziehen. Das dritte Stück ›Helm’s Deep‹ behandelt die gleichnamige Schlacht im zweiten Band von Tolkiens ›Herr der Ringe‹, das fünfte trägt den Titel ›Return to Imrryr‹ und bezieht seine Inspi- ration aus dem Romanzyklus des britischen Fantasyautors Michael Moorcock über den tragi- schen Antihelden Eric von Melniboné.7 Auf dem ersten Album ist die nordische Mythologie für ›DoomSword‹ also in erster Linie ein austauschbares Repertorium von pathetisch inszenier- baren Heldengeschichten, in die die textlichen Sprecherinstanzen sich qua heroischer Filiation einschreiben können. Der Schwerpunkt verschiebt sich mit dem folgenden Album ›Resound the Horn‹ (2002), moderne Belletristik verschwindet als literarischer Bezugsrahmen aus den Texten der Band. Das Titelstück, auf dem Album an letzter Stelle und das eröffnende ›Shores of Vinland‹ geben die neue Stoßrichtung vor, ›DoomSword‹ definieren sich ab diesem Punkt ihrer Diskographie wesentlich über (germanisch ) nordische Sujets, mit gelegentlichen Einsprengseln keltischer Mythen (auf ›Resound the Horn‹ etwa in Form des zweiten und des vorletzten Stücks ›Onward into Battle [On the March Again]‹ und ›The Early Days of Finn McCool‹) und einem weiter erheblichen Anteil an Texten, in denen ohne spezifisches kulturellen oder historischen Refe- renzsystem mit vormodernem Waffenarsenal gekämpft und Ruhm errungen wird (z.B. ›The DoomSword‹ oder ›For Those Who Died with Sword in Hand‹). Bemerkenswert ist die Darstellung der Entdeckung Amerikas durch Leif Eriksson und die gescheiterte Besiedlung im Eröffnungsstück: „under Leif’s Christian command“ landen die Wikinger an der Küste des Landes, dessen Name nicht genannt, auf den durch den Hinweis „full of grapes“ aber etymologisch angespielt wird – der Sprecher begnügt sich lieber mit dem Met in seinem Horn, der – hier mag die Muttersprache des Sängers Deathmaster mit idromele Pate gestanden zu haben – im Metal erstmalig mit dem griechisch-lateinischen hydromel. Der Sprecher selbst scheint von Anfang an nicht einverstanden mit der Abwendung von den alten Göttern zu sein, der einhergeht mit einem Verrat an den daheimgebliebenen Angehörigen („Leif sought a blessing for our souls / under his sign we abandoned our folks.“), und so nimmt er nimmt Genugtuung zur Kenntnis, dass die Heimfahrt mit einer Abkehr vom neuen christlichen Gott, unter dessen Patronat die Fahrt irrigerweise gestellt worden war, einhergeht:

7 Moorcocks Arbeiten sind für den Epic Metal immens einflussreich, in einer jüngeren Wiederbelebung des Genres hat sich mit ›Eternal Champion‹ gar eine Band nach einer seiner Figuren benannt. Moorcock zeichnete überdies in den 1970er-Jahren für das textliche Konzept bei ›Hawkwind‹ verantwortlich, die uns oben bereits als Betätigungsfeld für Robert Calvert, den Schöpfer von ›Lucky Leif and the Longships‹, begegnet sind.

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The hammer triumphant, the cross now is torn, my viking heart still has faith! Twice a winter, we missed our beloved who did enlight the way to return? Mighty Thor, bring me back home.

Nun ist eine Palinodie auf die Christianisierung Skandinaviens aufgrund eines abgebrochenen Kolonisationsunterfangens bar jeder historischen Rückversicherung, was das Framing des Liedtextes aber umso augenfälliger macht: Eine Band, die Wikinger als unbesieg- und -beirr- bare Barbarenkrieger imaginiert, muss zwei potenziell ehrenrührige Aspekte entweder be- schweigen oder rationalisieren, nämlich die Tatsache, dass auch Wikinger bisweilen fliehen und dass sie außerdem schon recht bald nach ihrem Eintritt in das historische Bewusstsein der außerskandinavischen Welt den christlichen Glauben übernommen haben. In ›DoomSwords‹ Gleichung werden beide Aspekte miteinander aufgelöst, indem unterstellt wird, dass Wikinger nur dann schwach und von Versagen bedroht sind, wenn sie ihre alten Götter verraten. Vor diesem Hintergrund wird auch der (im Song ebenfalls nicht vorkommende) Titel des Titelstücks ›Resound the Horn‹ zu einer stärker programmatischen Ansage. Der Liedtext selbst ist ein topischer Lobpreis des Heldentods in der Schlacht, mit dem der Sprecher sich Wohlwol- len Odins und Fortleben in Walhall zu sichern vermeint, wie er auch schon auf den frühen Alben ›Manowars‹ zu finden war. Nehmen wir allerdings an, dass Sänger und Texter Death- master hier ebenfalls bei der Wahl des für ihn fremdsprachlichen Vokabulars in gewissem Maße von seiner italienischen Muttersprache beeinflusst war, wo risuonare transitiv bedeutet, etwas erneut erklingen zu lassen, so können wir ›Resound the Horn‹ auch als „Re-Sound the Horn“ lesen, als Imperativ an den Hörer, die im Text imaginierte Schlacht über die Epochengrenze hinweg zu seiner eigenen zu machen, mithin die Hinwendung zu dem, was als der Tugendho- rizont der altnordischen Religion imaginiert wird, in Analogie zur Apostasie des Vinlandfahrers aus dem ersten Stück mitzuvollziehen. Folgerichtig feiert das nachfolgende Album ›Let Battle Commence‹ (2003) auch intensi- ver als jedes andere Album von ›DoomSword‹ die Blütephase des kanonischen Wikingerbildes als das eines Gewalt und Tod bringenden Barbaren: Das eröffnende ›Heathen Assault (Burn Jorvik to the Ground)‹ thematisiert die Eroberung Yorks durch Ivar Lodbroksson und scheint sich in der Tat eher an der ›Ragnars saga loðbrókar‹ zu orientieren als an dem Historienfilm ›Die Wikinger‹ (1958), der den Gegenstand popularisiert hatte: Der – für die Lust des Metal an der Gewaltekphrase natürlich hochwillkommene8 – Blutadler als Bestrafung für König Aelle

8 Vgl. etwa auch den gleichnamigen Song von ›Amon Amarth‹ von deren Album ›Deceiver of the Gods‹ (2013).

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) kommt im Film nicht vor, wohl aber in ›Blood Eagle‹, dem sechsten Stück des Albums – die enorm erfolgreiche kandadisch-irische Fernsehserie ›Vikings‹ ist erst zehn Jahre nach der Ver- öffentlichung von ›Let Battle Commence‹ gestartet. Die Ästhetisierung von kriegerischer Ag- gression erfährt im dritten Stück ›Woden’s Reign‹ ihre Pointierung durch die Aussage „This viking horde is beauty and death.“

Albumcover von DoomSword, Resound the Horn (2002, © Dragonheart Records, Bild: https://www.discogs.com/de/DoomS- word-Resound-The-Horn/release/4315551) und Let Battle Commence (2003, © Dragonheart Records, Bild: https://en.wikipe- dia.org/wiki/Let_Battle_Commence).

Auf den folgenden Alben ›My Name Will Live On‹ (2007) und ›The Eternal Battle‹ (2011) wird die Wikingerthematik narrativ etwas zurückgenommen, einerseits zugunsten eines Fokus auf keltische Mythologie, andererseits rückt aber auch die auf ›Resound the Horn‹ aufgewor- fene Idee von ererbter vs. angenommener Identität sowie Abkehr und Umkehr wieder in den Blickpunkt. Als italienische Band arbeiten sich ›DoomSword‹ auf diesen beiden Alben mit sichtlicher Genugtuung an den Niederlagen der römischen Legionen in ›Gergovia‹ (52 v. Chr., zweites Lied auf ›My Name Will Live On‹) und in der ›Varusschlacht‹ (9 n. Chr., Eröffnungs- stück auf ›The Eternal Battle‹) ab. In Interviews betont Sänger Deathmaster seine lombardische gegenüber seiner italienischen Identität und bemüht dafür sogar die langobardische ›Origo gen- tis‹ aus dem 7. Jahrhundert und deren kritische Wiedergabe in der Langobardengeschichte des Paulus Diaconus etwa ein Jahrhundert später (vgl. Nedoma 2005, S. 349-440). Dass dort das Demonym Langobarden mit einer Weisung des Gottes Godan erklärt wird, ist, wiewohl ohne signifikanten Rückhalt in anderen Quellen, nicht nur von der nationalromantischen Mediävistik des 19. Jahrhunderts begeistert aufgenommen worden, sondern dient auch Deathmaster dazu, sich als Lombarde in einer heroischen Genealogie mit den odintreuen Langobarden zu sehen.

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DoomSword stammen ja aus der Lombardei, die, wie du vielleicht weißt, ihren Namen vom germanischen Stammen der Langobarden hat, die wiederum ihren Namen von Odin selbst übernommen haben – nachzulesen im Ursprungsmythos der Langobarden in der ‚Ge- schichte der Langobarden‘ von Paulus dem Diakon, 774 nach Christus. Nicht viele Orte können das von sich sagen! Die Wikinger fielen ja so ziemlich überall ein und ließen sich nieder, […] sodass wirklich ganz Europa eine starke Verbindung zu den Wikingern hat.

– Große Geschichtsstunde [Interview mit DoomSword], in: Deaf Forever 38 (2020), S. 46-47.

Auch wenn Paulus Diaconus die Ursprungslegende eher süffisant belächelnd wiedergibt – Deathmasters ›origo gentis‹ qua Epic Metal ist gewissermaßen eine doppelte, seine Men- schwerdung als Metalfan und -musiker vollzieht sich durch Einschreibung in einen Kanon aus gattungsspezifischen Topoi und Sujets, die sich nicht so sehr durch die historische Wirklichkeit der referenzierten Epochen selbst anbieten wie durch die Tatsache, dass das thematische Feld bereits durch frühere, als Gründerhelden verehrte Vertreter des Genres, urbar gemacht wurde. Zugleich stellt die Welt der Wikinger und Germanen aber ein hinreichend großes Identitätsan- gebot dar, um in einer zweiten Ebene die Menschwerdung als „Langobarde“ sinnstiftend mit der Musik zu verknüpfen und zumindest rudimentär wissenschaftlich zu autorisieren – das legt zumindest Deathmasters Bedürfnis, auf Paulus Diaconus zu verweisen nahe. Der postmoderne Eklektizismus, mit dem hier überkommene Welt- und Selbstdeutungsschemata der Vormo- derne zur Generierung einer eigenen Identität amalgamiert werden, ist von Nohr für den Metal zutreffend als „transmoderne Sinnstiftung“ gefasst worden (vgl. Nohr 2012, S. 318-320). Doch die Übernahme von nationalromantisch aufgeladenen ethnologischen Großthesen im Falle der odintreuen norditalienischen „Langbärte“ offenbart noch eine weitere wesentliche Tradition moderner Geschichtsaneignung, die – wie im nachfolgenden Kapitel zu zeigen sein wird – nicht nur für ›DoomSword‹ virulent ist. Das skandinavisch-germanische Mittelalter ›DoomSwords‹ ist – zumindest visuell – ein in der Nationalromantik des 19. Jahrhunderts ge- neriertes. Die ikonographische Ausstattung gehört zum sinnstiftenden Wesenskern des Para- texts im Metal (vgl. Vestergaard 2019, S. 21-34), zumal als einer Szene, in der das Albumformat zu den nach wie vor gewürdigten musikalischen Makrostrukturen zählt (ökonomisch wie ide- ell). Jedes der hier näher thematisierten Alben wird geziert von einem Gemälde der Spätroman- tik (oder der nationalistisch geprägten akademischen Kunst) des 19. Jahrhunderts. Eine prominente Rolle nimmt hier vor allem der norwegische Maler Peter Nicolai Arbo ein, dessen Werke die Cover der für unsere Betrachtung entscheidenden beiden Alben zieren: ›DoomSword‹ zeigte noch ein Detail aus Füsslis ›Thor im Kampf mit der Midgardschlange‹ (1790), ›Resound the Horn‹ einen durch das Bildformat bedingten Ausschnitt aus Arbos Dar-

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) stellung St. Olavs vor der Schlacht von Stiklestad (o. J.) und ›Let Battle Commence‹ den Goten- könig Gizur zu Pferde (›Gizur fordert die Hunnen heraus‹, 1886). Das Cover von ›My Name Will Live On‹ ziert, der angesprochenen Wendung gegen die italienisch-römische Identität ge- mäß, ein Historiengemälde des französischen Malers Lionel Royer, das die Übergabe der Waf- fen des Vercingetorix an Julius Caesar darstellt (1899). ›Gergovia‹ wird damit zum program- matisch dominanten Stück des Albums und ordnet die historische Darstellung zugleich in Ver- bindung mit dem Albumtitel wieder einem tragisch-heroischen Tugendethos unter, wie es seit ›Manowar‹ charakteristisch für den Epic Metal ist: Auch eine Geschichte der Sieger, so die implizierte Deutung, kommt nicht umhin, den moralischen Triumph des Unterlegenen einzuräumen. Kurios ist in diesem Kontext vor allem die Auswahl des Coverbildes für ›Resound the Horn‹, das den nachmalig Heiligen Olaf vor der Schlacht von Stiklestad zeigt, die ja nicht nur die Durchsetzung des Christentums in Norwegen vollendete, der Religion also, der in ›Shores of Vinland‹ noch das Scheitern der Kolonisation Amerikas angekreidet wird, sondern auch dem christlichen König Olaf II. die größtmögliche – verbatim – Kanonisation seines Nachruhms einbrachte.

Der bartlose Alkuin, ein lachender Riese und die Sehnsucht nach dem wahren Norden (Bathory, Thyrfing, Enslaved)

Der Umfang, den unser Durchgang durch den wikingerbegeisterten Metal und Hardrock, errei- chen konnte, ohne dass auch nur eine einzige Band aus Skandinavien in den Blick rücken konnte, zeugt von der enormen Attraktivität und Adaptierbarkeit des Sujets weit über die geo- graphischen Grenzen der Weltregion, der sich das Phänomen „Wikinger“ verdankt, hinaus. Doch scheint die Nennung Arbos ein sinnfälliger Anlass, auch Metalbands aus Skandinavien Gehör und Aufmerksamkeit zu schenken, um analysieren zu können, inwieweit die identitäts- stiftenden Kräfte altnordischer Topoi anders, mehr oder weniger auf diejenigen wirken, die sich in einer direkten Genealogie zu den Völkern des alten Nordens wähnen können – und es auch immer wieder taten, wie die Einleitung dieses Beitrags gezeigt hat. Denn auch wenn die „Nordic renaissance“ des 18. und 19. Jahrhunderts ihren Ausgang nicht in Skandinavien nahm (erinnern wir uns auch an das Füssli-Gemälde auf dem Cover des ersten ›DoomSword‹-Albums) (vgl. Ljøgodt 2012, S. 142-143), so wurde sie doch sowohl in Schweden als auch insbesondere im unabhängigkeitsbestrebten Norwegen zu einer kulturfor- menden und politisch legitimierenden Kraft im 19. Jahrhundert. Sobald die zugehörigen Denk- figuren um Autonomie und Freiheit zu kreisen begannen, wurde die Christianisierung zu einem

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) bestimmenden – und angesichts des ebenfalls legitimierenden protestantischen Bekenntnisses der nordischen Monarchien nicht unproblematischen – Aspekt des Diskurses. Diesen Ball nimmt der skandinavische Metal früh und enthusiastisch auf, ließen sich da- mit doch die ebenfalls topische antireligiösen Polemiken des sich musikalisch wie ästhetisch radikalisierenden Metal in den frühen 1980er-Jahren (samt Entstehung von Subgenres wie Black und Death Metal) mit nationalen Alleinstellungsmerkmalen innerhalb der globalen Szene verbinden. Die schwedische Band ›Bathory‹, im Wesentlichen das Soloprojekt des Sängers und Multiinstrumentalisten Thomas Forsberg (aktiv allein unter dem Pseudonym Quorthon), ist ei- ner der einflussreichsten Akteure dieses Prozesses.9 Nach drei frühen Alben zwischen 1984 und 1987, die sich der Ausformung eines möglichst extremen und prononciert satanistischen Zwei- ges des verschrieben hatten, der von der britischen Band ›Venom‹ (zumindest no- minell per entsprechend betiteltem Album 1982) begründet, aber eher im Sinne einer Okkultis- mustravestie betrieben worden war, wandte sich Quorthon für eine weitere Dreiergruppe von Alben (›Blood Fire Death‹, 1988; ›Hammerheart‹, 1990; ›Twilight of the Gods‹, 1991) dezidiert und ausschließlich Themenfeldern zu, die im Skandinavien der Wikingerzeit und der nordi- schen Mythologie angesiedelt sind. Vor seinem frühen Tod 2004 kehrte Quorthon mit den pro- grammatisch betitelten Alben ›Nordland I‹ (2002) und ›Nordland II‹ (2003) abermals beherzt zu dem Sujet zurück. Die Alben von 1988 bis 1991 gelten als Gründungsdokumente dessen, was später Viking Metal genannt werden würde, und liefern Blaupausen für einen stark narrativierten, auf Gene- rierung und Zelebrierung einer nordischen Identität abzielenden, Zugang zum extremeren Me- tal. Äußerlich wird der Wandel in der Programmatik durch das Cover von ›Blood Fire Death‹ unmittelbar evident, das ein Gemälde von abermals Peter Nicolai Arbo (›Asgårdsreien‹, 1872) ziert. Das mittlere Album ›Hammerheart‹ spielt jede erdenkliche weltanschauliche Facette einer nordischen Nationalromantik in der Trias aus „heroic wars, fight and […] untamed nature“ (von Helden 2010, S. 257-258) durch, beginnend mit einem heroischen Wikingerüberfall auf eine wehrlose Stadt aus der Perspektive eines Kriegers, der sich für den Abschluss seines Krieger- lebens eine Feuerbestattung zur See wünscht (›Shore in Flames‹) über den Finalnexus allen Handelns altnordischer Helden, ›Valhalla‹, dem durch die väterliche Vermittlung erlernten Res- pekt vor der nordischen Natur (›Baptised in Fire and Ice‹),10 dem durch den Vater abgenomme- nen Gelöbnis, mit dem Schwert in der Hand und Odin im Herzen für die Heimat einzustehen (›Father to Son‹), einer Reprise der Sehnsucht nach Valhalla (›Song to Hall Up High‹), einer

9 Zur Stellung ›Bathorys‹ in der Genese des Viking Metal vgl. Hassemer 2012, S. 251-252. 10 Zum Topos der Fragilität der unberührten nordischen Natur vgl. Sellheim 2016, S. 511-512.

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Reprise des erhabenen Schauers vor der nordischen Natur, diesmal erweitert um Odins Raben (›Home of Once Brave‹) hin zu einem der populärsten Stücke der Band, ›One Rode to Asa Bay‹, zu dem sich Quorthon und seine Plattenfirma 1990 auch einen relativ aufwändigen Vide- oclip leisteten, der versucht, die Texthandlung ins Bild zu setzen.

Albumcover von Bathory, Blood Fire Death (1988, © Under One Flag, Bild: https://www.discogs.com/de/Bathory-Blood-Fire- Death/release/564798).

Diese thematisiert die Christianisierung Skandinaviens als Endpunkt des zuvor ausgemalten Bildes einer idealen Welt von Tugend, Schönheit und Ehre. Das Christentum kommt in Gestalt eines Priesters mit bewaffneter Eskorte „from a foreign land“, dessen wenig kriegerisches (d.h. maskulines) Erscheinungsbild ohne Bart, dafür aber mit purpurner spitzenbesetzter Robe einen schroffen Gegensatz zu den ungeschlachten nordischen Kriegern bildet.11 Markiert wird der Gegensatz zwischen alter und neuer Religion durch wiederholte Erwähnung von Hammer und Kreuz. In kürzester Zeit gelingt es den Neulingen, die Bewohner der eponymen „Bucht von Asa“ zu bekehren und zu unterjochen, samt Bau einer Kirche und großzügig zum Viertel auf- gerundeten Kirchenzehnt. Nicht alle sind einverstanden: „A man of pride with the Hammer told new God / to build his house on own“, doch die Stimme dieses Aufrechten wird alsbald zum Schweigen gebracht und zur Kirchweihe sieht ein greiser Dorfbewohner noch in der Ferne in einer Mirage die Drachenboote fortsegeln, bevor er es aus dem Wald orakeln hört: „...people of Asa land, it's only just begun...“. Die Namensgebung des fiktiven Ortes „Asa Bay“ enthält eine doppelte Anspielung: Zum einen widmete Quorthon den Song dem skandinavisch-amerikanischen Fantasyau- tor C. Dean Andersson, der unter dem Pseudonym „Asa Drake“ Mitte der 1980er-Jahre einen

11 Zur Ikonographie des christlichen Missionars in dem Song vgl. Spracklen 2020, S. 99.

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Zyklus aus drei Romanen in einer altnordischen, von Magie durchwirkten Fantasiewelt spielen ließ. Quorthon offenbart hier also die zeitgenössische (low-)Fantasy-Literatur als eine Inspira- tionsquelle, die dazu beigetragen hat, den dargebotenen Topoi der Wikingerzeit eine narrative Form zu geben samt klarer Helden-/Schurken-Schemata und Elementen des Wunderbaren. An- dererseits steht der Ort natürlich als „Asenbucht“ stellvertretend für die Summe der vorchrist- lichen Kulte, deren Ende durch die korrupte, gewalttätige Expansion eines effeminierten fremd- ländischen religiösen Machtapparates in dem Song imaginiert wird. Es wird unmittelbar er- sichtlich, dass für einen Musiker, der sich seine eigene ethnische oder kulturelle Identität über sein Geschichtsbewusstsein zur Vormoderne erschließt, andere Aushandlungstechniken not- wendig sind, als sie in der naiv-comichaften Brutalität des Epic Metal zutage treten: Wie ein früher Humanist, der im 14. Jahrhundert auf die Ruinen Roms blickt, muss ein skandinavischer Rockmusiker, der sich in einer heroischen Filiation als Teil desselben Volkes erfinden will wie die Wikinger, zur Kenntnis nehmen und literarisch verarbeiten, dass die Epo- che, die er als Idealzustand menschlichen Seins preist, zugrunde gegangen ist, um eine zumin- dest ideelle Renaissance dieser Epoche intellektuell viabel machen. Reibung wird im Falle der bärtigen Männer von Asa Bay unweigerlich der Umstand erzeugen, dass gegen das Christentum als effeminierte Sklavenreligion polemisiert wird, zugleich diese effeminierte Sklavenreligion aber offenkundig den Sieg über die freiheitsliebenden Musterkrieger davongetragen hat. In seiner traumatischsten Phase hat der Anfang der 1990er-Jahre florierende norwegische Black Metal, bzw. einige seiner Protagonisten, die Schmach der Christianisierung als Imperativ verstanden, sie auch materiell zu revidieren: In den Jahren 1992-1996 wurden über 50 Brand- anschläge auf Kirchen, bevorzugt auf mittelalterliche Stabkirchen verübt, während von den Tä- tern bzw. ihren musikalisch aktiven Weggefährten die Reinheit des Nordens und der Hass auf Christentum, Moderne und Aufklärung zelebriert wurde.12 Auf beiden Seiten des skandischen Bergrückens gab es jedoch auch Bands, die die narra- tive und mimetische Seite des von ›Bathory‹ vorgegebenen Modells verfolgten und dem Viking Metal seine kanonische Textwelt und Ästhetik verliehen, die bis zur Gegenwart ein großes Pub- likum anspricht, wenn auch in einer grotesk überpointierten Form und ausgeübt durch eine an- dere Generation von Bands. Zwei der Gruppen, die in den 1990er-Jahren den Grundstein dafür gelegt haben, wollen wir uns nun kurz zuwenden, da vor allem ihre graduelle Abwicklung einer nachahmenden Wikingerprogrammatik für unsere Analyse von Belang ist: ›Enslaved‹ aus Nor- wegen und ›Thyrfing‹ aus Schweden.

12 Vgl. Trafford / Pluskowski 2010, S. 63-64; Peters 2017, S. 193-194.

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Beide adoptierten zu Beginn ihrer Bandkarriere enthusiastisch die von ›Bathory‹ vorge- zeichnete Poetik eines identitätsstiftenden und -wahrenden nordischen extremen Metal und lie- ßen es auch im visuellen und performativen Bereich ihres Schaffens nicht an plakativen Be- kenntnissen dazu fehlen, wie etwa das Cover von ›Enslaveds‹ drittem Album ›Eld‹ (= „Feuer“, 1997) belegt (vgl. Trafford / Pluskowski 2010, S. 66). Das vollständig in norwegischer Sprache verfasste, für den internationalen Markt aber mit Übersetzungen im Textheft ausgestattete Al- bum wird von einem gut 16 Minuten langen Stück über das Epochenjahr der Normannenära eröffnet: ›793 (Slaget om Lindisfarne)‹. Der Text schildert zunächst in der dritten Person den Überfall einer Gruppe von Wikingern aus den westnorwegischen Regionen Rogaland, Horda- land und Agder auf die ahnungslosen christlichen Opfer, deren brutales Ableben mit sichtlicher Freude an der Gewalt beschrieben wird („Sverdslag knuste kristmanns skalle“ = „Schwerthieb zertrümmerte des Christen Schädel“), um dann in die erste Person zu wechseln und den Angriff auf Lindisfarne perspektivisch auszuweiten auf ein Zeitalter, in dem „wir, die Könige des Nor- dens“ herrschten und „an Midgards Gestaden Schlachten gewannen“, bis Verrat und Schwäche sie auf die Knie gezwungen hätten. Der Schuldige ist schnell ausgemacht, christliche Nächsten- und Feindesliebe („Veik er den som fiender elsker“). Orientierung, Identität und Gruppenzuge- hörigkeit werden im gemeinsamen textlichen Erleben des paganen Übergriffs auf die schwache christliche Welt und „Unterdrücker“ gestiftet (vgl. Heesch 2010, S. 74-76).

Albumcover von Enslaved, Eld (1997, © Osmose Productions, Bild: https://osmoseproductions.bandcamp.com/album/eld).

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Das fünfte Stück ›For lenge siden‹ („Vor langer Zeit“) vertieft die antichristliche Polemik, in- dem es der „Seuche aus dem Süden“ („Pesten fra sør“) vorwirft,13 dass dem Nordlänger we- senseigene „Recht des Stärkeren“ („sterkes lov“) vergessen gemacht zu haben. Doch, so die kämpferische Selbstermunterung, die Rache für das Niederbrennen der alten Tempel und den Mord an den Vorfahren, ist in Sicht: „Vi skal ta tilbake / Det som engang var vårt.“ („Wir werden uns zurückholen / was einst unser war.“). Der letzte Vers erweitert in einer Anspielung zugleich den Albumtitel einer etwas früher aktiven norwegischen Black Metal-Band, Burzum, die es als Betätigungsfeld des Kirchenbrandstifters, Mörders und Rechtsradikalen Christian ‚Varg‘ Vikernes zu zweifelhafter Berühmtheit gebracht hat (der Titel des 1993 erschienenen Albums ist ›Det som engang var‹) und erinnert dabei nicht nur an den Umstand, dass die Grat- wanderung eines Metal, der historisch-ethnographische Diskurse aufnimmt und ideologisch wendet, hin zur völkischen Szene stets eine brisante war und ist,14 sondern auch erneut daran, dass historische Sujets nicht unmittelbar, sondern meist schon über Vektor musikalischer Idole innerhalb der Genregeschichte auf die Bands gekommen sind. Umso größer scheint bisweilen das Bedürfnis nach quellenkundiger Authentifizierung und Autorisierung:15

Albumcover von Thyrfing, Thyrfing (1998, © Hammerheart Records, Bild: https://hammerheart.bandcamp.com/al- bum/thyrfing).

13 Zu Neopaganismus als antimodernem Reflex vgl. Leichsenring 2012, S. 299. 14 Vgl. zur Verknüpfung von nordischer Identität und nationaler Souveränität als möglicher Kapsel für Rechtsextremismus Taylor 2010, S. 163-164 und die Auseinandersetzung mit identitären Denkfiguren in Peters 2017, S. 203-207. 15 Zu Authentizitätsstrategien im Viking Metal vgl. Hassemer 2012, S. 252. Zur komplexen Frage nach der einer musikalisch authentischen „Mittelalterlichkeit“ Hagen 2019, S. 145-156.

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Die schwedische Band ›Thyrfing‹ hatte auf ihrem selbstbetitelten Debütalbum (1998) noch in fast rührend plakativer Diktion im Namen einer Wikingerexpedition, diesmal erwartungsgemäß aus Schweden, die Weisung ›Set Sail to Plunder‹ ausgegeben und dabei ebenfalls auf den Ge- walt-Schwäche-Dualismus abgehoben (bei ihnen ist gar das ganze Land der Christen „feeble“):

A viking and his warriors built a dragonship. They're going out to conquer a feeble land. Heavily armed with swords, axes and shields the Swedes set sail for weaker ground.

Zwei Alben später, auf ›Urkraft‹ (2000), scheint das Bemühen um Distinktion durch ein gewis- ses Maß an historischer Akkuratesse größer geworden zu sein: Der Song ›Sweoland Conqueror‹ nimmt abermals die Wikingerüberfälle auf Europa zum Gegenstand:

They set the world ablaze, usurpers of Ethelred's British Isles, conquerors of western Frankia, And crushers of Irish strongholds.

Ungeachtet der stereotypen Schilderung der kriegerischen Aggression ist der Text wesentlich komplexer angelegt als ›Set Sail to Plunder‹. Die seefahrenden Krieger werden mythologisch- genealogisch in das Geschlecht Odins und seiner Brüder, die den Urriesen Ymer getötet haben, um aus seinem Leichnam die Welt zu erschaffen, eingeschrieben und dadurch wird auch eine typologische Erklärung für den inhärenten Drang der Krieger aus „Sweoland“ zu Mord und Totschlag geliefert:

The flesh of a giant bears the mark of their tribe and his blood carried them forth to glory.

Das mittelalterliche Europa kann in der Folge nur fassungslos bezeugen, wie sich die archety- pische Gewalttat der Kosmogonie in den Unternehmungen der Wikinger als Erben Odins, Viles und Ves immer wieder erneuert. Gewährsmann für dieses entsetzte Staunen ist niemand Gerin- geres als Alkuin, der Hoflehrer und „bildungspolitische“ Berater Karls des Großen, der, nicht zuletzt aufgrund seiner Herkunft aus York (das ›DoomSword‹ ja weiter oben schon in Schutt und Asche gelegt haben) in reger Korrespondenz mit seinen Landsleuten stand, weshalb sein Brief an König Æthelred zu den wichtigsten zeitgenössischen Textzeugen für den Überfall aus Lindisfarne zählt – und ›Thyrfing‹ räumen Alkuins Darstellung die zweite Hälfte des Liedtextes

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) ein.16 Sie zitieren den absoluten locus classicus für die christliche Sicht auf das Wüten der Nor- mannen, den sie typographisch auch als Zitat absetzen:

Never before has such terror appeared, as we now have suffered from a pagan race… …nor was it thought possible that such an inroad from the sea could be made. Shrines were desecrated, ornaments were plundered The bodies of saints were trampled The blood of priests was spilled.

Nun ist die von Alkuins Text an einigen Stellen abweichende Übersetzung natürlich nicht ›Thyrfings‹ eigene, sondern stammt aus einem populärwissenschaftlichen, vielfach aufgelegten Buch des Angelsachsenhistorikers John Marsden (vgl. Marsden 1993, S. 34). Eingespielt wird außerdem als pseudogregorianischer Chor mehrmals das pseudoepigraphe ›Normannengebet‹ „A furore Normannorum libera nos domine“.17 Die Stimme der christlichen Opfer der Norman- nenzüge wird in diesem Fall also zu Gehör gebracht, weil sie durch den Nimbus der quellen- mäßigen Verbürgung und der suggestiven Aura des Lateinischen die mythische Überhöhung der normannischen Aggression authentifiziert. Das folgende ›Home Again‹ scheint einen Wan- del in der Bewertung von Krieg und Gewalt als identitätsstiftendem Handeln anzudeuten, wenn einer der Krieger in der 1. Person seine Heimkehr als ein müder, gealterter Mann schildert, der die besten Jahre seines Lebens fern der Familie zubringen musste und nun voller Zärtlichkeit die Natur seiner Heimat (Tyresö, einem Vorort von Stockholm, erwartungsgemäß Heimatstadt der Band ›Thyrfing‹) beschreibt. Ob tatsächlich programmatisch dadurch eingeleitet oder nicht, auf den folgenden Alben verschiebt sich der Fokus, narrativ imaginierte Geschichte und Mythen weichen einer philoso- phischeren Ausdeutung nordischer Mythologie. Dies gipfelt im letzten Stück, dem Titelstück, des aktuellsten ›Thyrfing‹-Albums ›De Ödeslösa‹ (= „Die Schicksalslosen“, 2013), in dem der erste Morgen nach der Erschaffung der ersten Menschen Aske und Embla geschildert wird und das schon im Songtitel angelegte Fehlen eines Telos im Wesen der Stammeltern des Menschen- geschlechts wie eine Palinodie auf die Idee eines genealogischen Imperativs zur Gewalt in ›Sweoland Conqueror‹ erscheint. Eine Scharnierstelle, die uns anschließend auch noch einmal zu ›Enslaved‹ zurückführen wird, bildet dabei das 2002 erschienene Album ›Vansinnesvisor‹ (= „Lieder des Wahnsinns“), das die Band überwiegender in schwedischer Sprache verfasste

16 Alkuin, Epistulae 16, in: MGH Epp. 4, ed. Ernst Dümmler, 42-43,5: “[…] numquam talis terror prius apparuit in Brittannia, veluti modo a pagan gente perpessi sumus, nec eiusmodi navigium fieri posse puta- batur. Ecce ecclesia sancti Cudhberti sacerdotum Dei sanguine apsersa, omnibus spoliata ornamentis, locus cunctis in Brittannia venerabilior, paganis gentibus datur ad depredandum. 17 d’Haenens 1967, S. 198. Vgl. Sellheim 2016, S. 513.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) als das vorhergehende ›Urkraft‹. Umso mehr fällt einer von nur zwei englischsprachigen Songs ins Auge, ›The Giant’s Laughter‹, das das Textheft als eine Übertragung des Gedichtes ›Jätten‹ des romantischen Dichters Esaias Tegnér (1782-1846) ausweist. ›Thyrfing‹ übersetzen die ers- ten vier Strophen, um das Lied in einem nationalromantischen Weckruf, den der titelgebende zynische Riese an die Jugend des Nordens richtet, enden zu lassen:

Why to be innocent, daughter of Embla? Behold, in the beast's embrace the flower has withered. Why are you fighting for your land, youth of the north? They sold your father's grave for the petty gold?

Es ist bemerkenswert, dass einer der beiden englischsprachigen Songs ausgerechnet ein im Ori- ginal schwedisches Gedicht ist, Fremdgut in der eigenen Textwelt, dessen besonderer Status durch die Übersetzung noch betont wird. Ohne den Songtext noch einer – sicherlich ergiebigen – Prüfung im Hinblick auf den Wandel des Bildes von der epochenübergreifenden ethnischen Kontinuität in den Texten einer prononciert als Viking Metal-Band gestarteten Gruppe unter- ziehen zu müssen, soll hier für uns im Fokus stehen, dass ›Thyrfing‹ mit der Offenlegung ihrer Inspirationsquelle erstmals die Gewordenheit ihres eigenen romantischen Bildes vom Norden zum Thema machen. Nicht mehr die in groben Pinselstrichen gemalten Gewaltexzesse der Wi- kinger als imaginierte historische Realie stehen im Vordergrund, sondern die facettenreiche, sprachlich komplexe und von intellektgeschichtlich gewachsenen Deutungsbedürfnissen ge- steuerte philosophische Reflexion.

Albumcover von Dark Forest, Oak, Ash & Thorn (2020, © Cruz del Sur Music, Bild: https://darkforest-uk.bandcamp.com/al- bum/oak-ash-thorn).

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Das ist keine Prärogative des Viking Metal: ›Dark Forest‹, eine britische Band, die über Imagi- nationen von keltischer Geschichte und Mythologie intensiv das eigene Erbe als Briten vermit- telt und damit in gewisser Weise auf der „Opferseite“ der Normannenzüge und auch schon der angelsächsischen Landnahme steht, reflektiert die romantische Brechung ihrer mythisch-histo- rischen Sujets: Der Titel des jüngsten Albums ›Oak, Ash & Thorn‹ spielt auf ein Gedicht Ru- yard Kiplings an, den ›Tree Song‹ aus ›Puck of Pook’s Hill‹ (1906), in dem die Ehrwürdigkeit der Bäume Englands an ihrer Anciennität gemessen wird. Maßstab ist dabei die mittelalterliche, prominent etwa in Geoffrey von Monmouths ›Historia Regum Britanniae‹ festgehaltene,18 ge- nealogische Fiktion einer trojanischen Abkunft der Briten (von einem eponymen Hektorsohn Brutus nämlich). Den drei Bäumen, die schon vor dem Fall Trojas bzw. der Ankunft von Aeneas und Brutus an ihrem jeweiligen Zielort Britannien begrünt haben sollen, stellt das Albumcover einen römischen, einen angelsächsischen und einen normannischen Krieger gegenüber. Gitar- rist Christian Horton zitiert im Text des Titelsongs nicht nur aus dem Gedicht Kiplings, sondern verweist auch in Interviews freimütig darauf.19 ›Dark Forest‹ wenden Kiplings zur Hochphase englischer Hegemonie verfassten Lobpreis britischer Resilienz in ein tragisches Opferbewusst- sein, Identität wird daraus generiert, als imaginierte Ethnie unter auswärtiger imperialer Ag- gression gelitten zu haben.

Albumcover von Enslaved, Axioma Ethica Odini (2010, © Indie Recordings, Bild: Scan aus Privatbesitz) sowie Titelseite der lateinisch-isländischen Erstausgabe des ›Hávamál‹ (1665, Bild: © BSB München).

Einen ähnlichen Weg wie ›Thyrfing‹ sind vielleicht noch prononcierter ›Enslaved‹ gegangen, die sich nach ›Mardraum – Beyond the Within‹ (2000) für zwei Alben (›Monumension‹, 2001, und ›‹, 2003) analog zu ihrer Hinwendung zu Einflüssen aus dem Progressive

18 Vgl. Griscom 1929, 1, 14-15. Vgl. den ausführlichen Überblick zu der Tradition mit weiterer Literatur in Peters 2018, S. 17-18, Anm. 7. 19 Zurück zur Natur [Interview mit Dark Forest], in: Deaf Forever 35 (2020), S. 120-121.

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Rock fast vollständig von ihrer Identität als Viking Metal-Band lösten und auf dem 2004 er- schienenen ›Isa‹ (= „Eis“) programmatisch mit Songs wie ›Return to Yggdrasil‹ an ihre Refe- renzsysteme aus den 1990er-Jahren anknüpften, implementieren diese aber in anthropologisch- philosophischer (z.B. ›Thoughts Like Hammers‹ auf ›Riitiir‹, 2012) oder gelegentlich esoteri- scher Form (etwa die Meditationen ›Thurisaz Dreaming‹ und ›Nauthir Bleeding‹ auf ›‹, 2015). Eine Schlüsselrolle, ganz ähnlich ›Thyrfings‹ Tegnér-Adaptation, nimmt hier das Album ›Axioma Ethica Odini‹ (2010) ein. Hier muss erneut nicht näher auf die Texte des Albums eingegangen werden – auch wenn Verse wie „Beware the glory tales […] Let the elders enlighten the path / They have cried for you / They have died for you.“ sich durchaus als Para- digmenwechsel im Verhältnis zur Erbmasse der Vormoderne lesen lassen könnten. Schon der Albumtitel, der als Ringkomposition auf die Struktur des Albums appliziert wird (›Ethica Odini‹ eröffnet die erste Hälfte des Albums, ›Axioma‹ die zweite), ist weniger ein Verweis auf das altnordische Mittelalter, sondern auf das, was die Geistesgeschichte der Frühen Neuzeit daraus gemacht hat: Unter dem Titel ›Ethica Odini‹ erschien die Hávamál, die Sammlung der Odin zugeschriebenen Spruchweisheiten aus der poetischen Edda, 1665 erstmals in zweispra- chiger, lateinisch-isländischer Ausgabe und wurde damit dem wissenschaftlichen Diskurs des barocken Europa übereignet.20 Auch wenn romantische Dichtung und frühneuzeitliche Altertumskunde Islands zwei sehr unterschiedliche historische Betätigungsfelder des menschlichen Intellekts sind, so sind doch ›Thyrfings‹ ›Jätten‹ und ›Enslaveds‹ ›Ethica Odini‹ letztlich zwei Ausprägungen dessel- ben Bedürfnisses nach Neuaufstellung im Viking Metal – mit den Worten des ›Thyrfing‹-Sän- gers Thomas Väänänen zu ›Vansinnesvisor‹-Zeiten: „But my interest certainly runs deeper than buying a Mjölner and claiming to be a viking”.21 An die Stelle einer normannischen translatio imperii samt scheinbar bruchloser christlicher Erbschuld gegenüber dem alten Norden und sei- nen Nachfahren tritt das Bewusstsein, dass die textlichen Bezugssysteme der Bands schon weit vor ihrer Zeit unter wechselnden ideengeschichtlichen Vorzeichen diskursiviert wurden und diese Diskursivierungen geraten nun statt des Gegenstands „an sich“ modellhaft ins Blickfeld. Nicht mehr mythologisierte ethnische Überlegenheit gibt den Ton an, sondern reflektierte kul- turelle Deutungshoheit – wie es der Titel des jüngsten Albums von ›Borknagar‹, einer norwe- gischen Black Metal-Band, die den Thorshammer pro forma immer noch im kalligraphierten

20 Ethica Odini pars Eddae Saemundi vocata Haavamaal una cum eiusdem appendice appellato Runa Capi- tule a multis exoptata nunc tandem Islandice et Latine in lucem producta est per Petrum Joh. Resenium, Kopenhagen: Gödeanus 1665. 21 https://www.voicesfromthedarkside.de/interview/thyrfing/ (ohne Datierung; Stand: 01.12.2020).

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Bandlogo trägt, ansonsten aber vor allem progressive Rockmusik fabriziert, emblematisiert: ›True North‹ (2019). Vor dem Hintergrund einer explodierenden Popularität des Viking- und Pagan- Metal in den späten 2000er-Jahren einerseits und der stets an den Rändern des Genres lauernden Gefahr des Rechtsextremismus andererseits kann dies als künstlichere Selbstbehauptungsstrategie zwi- schen Banalisierung und Radikalisierung insbesondere norwegischer Black Metal-Bands ge- wertet werden, die sich immer stärker als Teil des bürgerlichen Kulturbetriebs verstehen und entsprechende Kanonisationsprozesse durchlaufen.22

now everyone choose your side – Sozialutopie und innerweltlicher Chiliasmus am Ende der Dinge

Zu den größten Profiteuren des eben erwähnten Booms im Viking Metal zählte die schwedische Band ›Amon Amarth‹, die in den vergangenen 15 Jahren kontinuierlich zu einer der erfolg- reichsten Metalbands der Welt geworden ist und ihren Stil dabei graduell von melodischem Death Metal zu eingängigerem Heavy Metal mit immer noch charakteristischem gutturalem Gesang („growls“) gewandelt hat. Die Band aus Göteborg hat ihren Namen zwar dem Werk Tolkiens entlehnt, frönt jedoch schon seit dem ersten Album ›Once Sent from the Golden Hall‹ (1996) ausschließlich den für diese Studie relevanten Sujets: Wikinger und die Götter des Nordens. Schon in den ersten beiden Songs werden unter anderem die mittlerweile sattsam bekann- ten Topoi der exzessiven Gewalt gegenüber dem Christentum als Rache und Befreiungsschlag (›Ride for Vengeance‹) und der heroischen Fahrt mit dem Drachenboot (›The Dragon’s Flight across the Waves‹) bedient. Zugleich verweisen die Darstellungen der tapferen Krieger auch immer wieder aus den Texten heraus auf die fünfköpfige Band, deren erzählerische Avatare die Wikinger in den Texten sind, so z.B. in ›Victorious March‹ („Ten heavy feet / walk the blood- soiled ground. / With rhythm these / five warriors march.“), ‚Friends of the Suncross‘ („We are five of us / friends of the suncross, / strong and brave to the grave.“) oder im abschließenden Titelsong („Five horsemen in armour bright / waiting in the flashing light / looking down upon the field, / here Vikings fight with axe and shield.“).

22 Hier ist etwa an Auftritte der Band ›Satyricon‹ mit dem norwegischen Nationalorchester, Schulprojekte zur nordischen Mythologie der Band ›Helheim‹ oder zuletzt einer Dokumentationsreihe des Regionalsenders ›TV Haugaland‹ zu denken, die die Bandgeschichte von ›Enslaved‹ als ein Stück Heimatgeschichte erzählt.

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Albumcover von Amon Amarth, Once Sent from the Golden Hall (1998, © Metal Blade Records, Bild: https://amonamarth.bandcamp.com/album/once-sent-from-the-golden-hall) und Versus the World (2002, © Metal Blade Rec- ords, Bild: https://amonamarth.bandcamp.com/album/versus-the-world).

Auch das Albumcover zeigt die Silhouetten von Fünf Männern vor dem, was dann vermutlich das Tor zur goldenen Halle in Asgard ist. Anstatt eine heroische Filiation entwerfen, geben die Texte also vor, dass ›Amon Amarth‹ im Moment der performativen Verwirklichung ihrer Mu- sik tatsächlich zu den Wikingern werden, von denen sie singen. Die antichristliche Polemik als Spielwiese für die im Death Metal topischen Gewaltphantasien schwindet im Laufe der folgen- den Alben: So widmen sich auf dem zweiten und dritten Album ›The Avenger‹ (2000) und ›The Crusher‹ (2001) immerhin noch drei bzw. fünf Songs (›Bleed for Ancient Gods‹, ›The Last with Pagan Blood‹ und ›God, His Son and Holy Whore‹ bzw. ›Bastards of a Lying Breed‹, ›Masters of War‹, ›The Sound of Eight Hooves‹, ›Annihilation of Hammerfest‹ und ›Releasing Surtur’s Fire‹) der Konfrontation von altem und neuem, rechtem und falschem Glauben. Ab dem vierten Album ›Versus the World‹ (2002) tritt dieser Aspekt zurück zugunsten von historischen und mythologischen Narrativen oder Saga-Nacherzählungen. Durch die Kollaboration mit der Re- Enactment-Gruppe ›BlóðVitniR – Die Jomswikinger‹ (vgl. Heesch 2010, S. 74-75) für Büh- nenshows und deren Zurückspiegeln in das Konzeptalbum ›Jomsviking‹ (2016) wird aber auch der Aspekt der performativen Verwirklichung des in den Texten Geschilderten wichtiger. Das bahnt sich jedoch schon mit dem genannten ›Versus the World‹ an, dessen Eröff- nungsstück ›Death in Fire‹ uns hier noch einen näheren Blick wert sein soll. Prima vista ist der Song nicht viel mehr als eine – musikalisch immens wirkungsvolle – Schilderung der letzten Dinge in der nordischen Mythologie: Ragnarök in seinem erhabenen Schrecken, alles brennt, kämpft, stirbt. Die ersten vier Strophen werden jeweils abgeschlossen von dem nur im ersten Wort variierten Vers „Live/fight/burn/die for honor, glory, death in fire!“. Bevor nun der aus- sichts-, aber nicht sinnlose Kampf der kosmischen Auflösung, dem Auseinanderbrechen der

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Welt(en) weicht, ergeht eine eigenartige Weisung an eine gedachte zweite Person, die schon zuvor in den Ermahnungen „Always charge, never bend, […] make your stand“ und „Total war is here, / face it without fear.“ präsent war, denn nun heißt es:

Forces of chaos is on the move. Everyone, choose your side! And know the end is coming soon, the day for all to die.

Diese eigenwillige Formulierung im Hinblick auf ein durch Schicksalsmächte vorgegebenes eschatologisches Ereignis kann uns als Schlüssel dienen, um besser zu verstehen, wie die viel- fach absurd scheinenden, aber trotz ihrer Topikalität oft minutiös und immer mit großer Detail- verliebtheit ausgearbeiteten Textwelten und Bezugssysteme in dem Schaffen der hier vorge- stellten Bands zu verstehen sind. In der Logik des mythologischen Ereignisses wäre der apoka- lyptische Weltenbrand schließlich ein schmerzlich zu später Zeitpunkt, um sich für eine Seite zu entscheiden, und die Entscheidung wäre auch nicht in Form einer spontanen Willensbildung, sondern durch ein Leben von Tugend und kriegerischem Opfermut getroffen worden. Auflösen lässt sich dieser Widerspruch nur mit dem deiktischen Charakter des Metal:23 ›Amon Amarths‹ Ragnarök ist nicht die ferne eschatologische Perspektive einer Mytho- logie, so wie auch die fünf Wikinger des ersten Albums nicht die typologischen oder genealo- gischen Urahnen der Band waren, sondern die Band selbst – Ragnarök ereignet sich in dem Song, jedes Mal, wenn er von der Band (ggf. als Tondokument) gespielt und von den Hörern mitvollzogen wird. Seine höchste Erfüllung erlangt dieser performante Weltenbrand natürlich im Livevortrag, in der Gemeinschaft möglichst vieler Fans, die mit der Band für 4 Minuten und 54 Sekunden den von Lautstärke, Requisite und darstellendem Spiel gestützten Fiktionalitäts- kontrakt schließen, dass nun Ragnarök ist und man sich für die richtige Seite entschieden hat. Damit ist das polare Gegenteil von dem erreicht, was wir im vorherigen Kapitel bei ›Thyrfing‹ und ›Enslaved‹ in ihrer jüngeren Phase beobachtet haben, wo die Stufen geistesgeschichtlicher Aneignung von Altnordischem mitgedacht und der Hermeneutik dienstbar gemacht werden. Das heißt nicht, dass ›Amon Amarth‹ Schwächen in der realienkundlichen und literarischen Kontextualisierung aufweisen – im Gegenteil, insbesondere ihre erzählenden Texte (wie etwa die beiden Teile von ›Loke’s Treachery‹ auf ›With Oden on Our Side‹, 2006, und ›Surtur Ri- sing‹, 2011) zeugen sowohl von Recherche als auch von einem genuinen literarischen Aus- druckswillen. Was aber einen Song wie ›Death in Fire‹ auszeichnet, ist seine Fähigkeit, Kos- misches nicht nur zu erzählen, sondern auch stattfinden zu lassen.

23 Vgl. Masciandaro 2015, S. 1-16. Vgl. auch Deanna 2010, S. 49-51 zum Tragisch-Ekstatischen im Metal.

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Noch deutlicher als bei ›Amon Amarth‹ wird dies bei den ebenfalls schwedischen ›Un- leashed‹, die ebenfalls als konventionelle Death Metal-Band begonnen haben, die Wikingerthe- matik dann allmählich auf die genretypischen Textwelten aus sadistischen Gewalt- und kosmi- schen Vernichtungsphantasien aufmoduliert haben. In der von ›Unleashed‹ über die Länge mehrerer Alben jüngeren Datums (›Odalheim‹, 2012; ›Dawn of the Nine‹, 2015; ›The Hunt for the White Christ‹, 2019) entsponnenen Geschichte trennt nicht Ragnarök die Spreu vom Wei- zen, sondern der Widerstand einer Gruppe freiheitsliebender Krieger aus „Svithiod“ gegen „White Christ“, der sich die aus dem Weltenbrand neu erstandene Welt zu Eigen machen will.

Albumcover von Unleashed, The Hunt for White Christ (2019, © Napalm Records, Bild: https://unleashed.bandcamp.com/album/the-hunt-for-white-christ).

Das von ›Unleashed‹ entworfene Narrativ ist eine Art eddischer fan fiction, in der auf die Vor- stellung, dass der weltenzerstörende Endkampf am Ende der Zeit zugleich Geburtsstunde einer neuen Welt ist, eine story world aufgesattelt wird, die sich zu ungefähr gleichen Teilen aus nordischer Mythologie und Wikingertopik, comichafter Action- und Superheldengeschichte und einer allegorisierten Rekapitulation des eigenen Wirkens als Band samt Verneigung vor den Fans in verschiedenen Regionen Europas und der Welt speist. Die Welt, und zugleich das Album, mit dem die seit 1989 aktive Band die Handlung eröffnet, trägt den Namen ›Odalheim‹ (2012) – ein sprechender und in gewisser Weise tautologischer Name, bezeichnet das Präfix „odal-“ doch das Erbrecht auf den eigenen Besitz. Die Krieger aus „Svithiod“, die Avatare der Band und ihr Gefolge, haben sich, so wird impliziert, die Welt nach Ragnarök rechtmäßig er- worben und müssen ihren Anspruch darauf nun gegen eine Organisation namens „White Christ“ verteidigen, die ihren Namen, wie uns das Textheft zu ›Odalheim‹ informiert, einem gängigen Epitheton von Jesus Christus in der altnordischen Literatur verdanke. Tatsächlich findet sich der „Hvíta-Kristr“, dem auch schon ›Amon Amarth‹ in ›Ride for Vengeance‹ (auf ›Once Sent

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) from the Golden Hall‹, 1998) als Terminus an lediglich zwei zeitgenössischen Belegstellen in der skaldischen Literatur, was jedoch, ganz ähnlich wie bei der Etymologie von ›DoomSwords‹ Langobarden oben, die nationalromantische Philologie des 19. Jahrhunderts nicht davon abge- halten hat, den Begriff als ein geläufiges Epitheton für den Heiland aus der Zeit der Konversion zu werten (vgl. Busigyn 2011, S. 1-2). ›Unleasheds‹ „White Christ“, der alle Züge eines comichaften Superschurken trägt, die zugleich eine große Schnittmenge mit den topischen Gräueltaten der Christianisierung, wie wir sie oben bereits im skandinavischen Viking Metal kennengelernt haben, aufweist: Von seinem Hauptquartier in „Jorsala“, dem altnordischen Namen Jerusalems, aus befiehlt der „White Christ“, die Heimstätten Unschuldiger zu plündern und ihre Frauen zu schänden. Unter Auf- bietung aller Kräfte und mit tatkräftiger Unterstützung ihrer Verbündeten aus aller Welt, von den Angelsachsen über die Maya zu den römischen Legionen gelingt es dem Widerstand, den Krieg in die Heimat des Feindes zu tragen (›The Hunt for the White Christ‹, 2019), die Klage- mauer einzureißen, hinter der er sich verschanzt und schließlich die Welt von seinem Joch zu befreien. Nach der Vernichtung des „White Christ“ ist die Welt ein plurales, tolerantes Utopia für Rechtschaffene aller Kulturen. Wenig wird hier ernst gemeint sein, bis auf ein diffuses Be- kenntnis zur eigenen Musik, ihren Hörern – die Weltreise der Widerstandskämpfer dürfte Tour- neen der Band und den Kontakt mit ihren Anhängern in den jeweiligen Regionen der Welt kodieren – sowie zum Lebensstil des Rockmusikers im Allgemeinen (dass die Helden auf Mo- torrädern unterwegs sind, versteht sich von selbst), doch macht das die Nutzung von altnordi- schen Authentizitätsmarkern umso prägnanter: Ihren rudimentären, antireligiösen Humanismus überblendet die Band einerseits mit einer plakativen, bunten Actionhandlung, beides wird an- dererseits aber durch Topographie und Terminologie an die Identität der Band als einer skan- dinavischen Viking-Death Metal-Band gebunden.

Sandalenfilmwaräger und mediävistische Geschichtsaugmentierung

Eine Band, die ihre Wikingergeschichten in frappanter Weise in Akkuratesse interessierter his- torischer Laien, Leidenschaft für klassische Monumentalfilme und eine einfache, aber präg- nante und empathische Charakterzeichnung einbettet, sind die Finnen ›Turisas‹. Nach einem ersten Album (›Battle Metal‹, 2004) das noch etwas unentschieden zwischen historischen und phantastischen Sujets mit dem gelegentlichen Trinklied dazwischen stand, wandte sich die Band, bzw. ihr Sänger und kreativer Kopf Mathias Nygård, für zwei (bzw. zweieinhalb, wenn man die Skizzensammlung ›Turisas 2013‹, 2013 hinzurechnet) Alben einem speziellen Zweig

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) unseres Gegenstands zu, den Warägerzügen nach Byzanz, der Warägergarde am oströmischen Kaiserhof und der Desertion des nachmaligen norwegischen Königs Harald III. Ashley Walsh zeichnet in einer brillanten Analyse nach, wie nicht nur auf einer textlichen, sondern auch auf einer gattungspoetologischen Ebene die Warägeralben von ›Turisas‹ ein komplexes Geflecht an Querverweisen zwischen den erzählenden und beschreibenden Texten der beiden fraglichen Alben und verschiedensten für die Warägerzüge und die mit den Warägern in Kontakt kom- menden Kulturräumen kulturellen und literarischen Markern konstruieren.

Albumcover von Turisas, Stand Up and Fight (2011, © Century Media, Bild: Scan aus Privatbesitz).

Ausgangspunkt hierfür ist eine gesprochene Passage im ersten Stück von ›The Varangian Way‹, wo die Biographien der Teilnehmer der Expedition als „strands of different lengths“ bezeichnet werden, womit eine Spur zu den taettir gelegt wird, die Walsh an verschiedenen Stationen der Reise verfolgt und aufschlüsselt (vgl. Walsh 2013, S. 71-76). Auch aus mediävistischer und byzantinistisch-kunsthistorischer Perspektive sind ›Turisas‹ bereits eingehender beleuchtet worden (vgl. Bosselmann-Ruickbie 2018), daher sollen sich die knappen Ausführungen zu den Warägeralben hier beschränken auf die Problematisierung und Subvertierung des Bildes vom grausamen, unerschütterlichen Krieger oder zumindest der unbeirrbaren, disziplinierten Kampfmaschine des oströmischen Kaisers – wie es etwa das kurz nach ›The Varangian Way‹ veröffentliche Stück ›Varyags of Miklagard‹ vom ›Amon Amarth‹ (auf ›Twilight of the Thun- der God‹, 2008) vermittelt. Das zweite Stück des zweiten thematischen Albums ›Stand Up and Fight‹ (2011) trägt den Titel ›Take the Day!‹ und beschreibt die Begegnung der Warägergarde

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) mit einem nicht näher präzisierten feindlichen Heer im Osten, das offenbar alle regulären Trup- pen der Byzantiner bereits aufgerieben hat. Der Songtext setzt ein mit dem Warten der in die erste Schlachtreihe entsandten Waräger:

Long is the hour for the waiting man. The front line is to be ours, awaiting the command. Some sit silently on the floor, bemused and empty-gazed, I go through my gear once more, already knowing all is in place.

Die Subversion der Gattungskonvention ist kongenial: Von allen Gemütszuständen, in denen der Viking Metal seine barbarischen Helden darstellen kann, selektieren ›Turisas‹ diejenigen, die sich am allerwenigsten für den altnordischen Heroen ziemen, weil sie genuin unheroisch sind: Ungeduld, Nervosität und Langeweile. Auch wird das obligatorische Waffenarsenal an- gedeutet, aber nicht genannt, sondern lapidar mit dem Verweis, dass alles da sei, wo es hinge- höre, abgetan und auf das Unbehagen des Sprechers über das, was in der klassischen Topik des Viking Metal Quell höchstens Entzückens sein müsste, den möglichen Tod in der Schlacht nämlich, zurückreflektiert. Es sind die byzantinischen Truppen, die den Warägern überhaupt erst ihr heroisches Selbstverständnis eingeben – indem sie in ihnen den Typus des Viking Me- tal-Kriegers sehen, der zu sein die Charakterzeichnung des Songs ihnen verweigert hat:

Scattered remains of our own troops, we meet as we advance: "Turn around while you can fools, you won't stand a chance" But deep within their eyes you see, hope mixed with respect They're here, the men from beyond the sea, the fight is not over yet.

Erst durch die hoffnungsvolle Projektion von stereotypen Kategorien auf die „Männer von jen- seits des Meeres“ werden sie zu dem, was das Genre von ihnen verlangt, wenn der Refrain sie im Chor singen lässt: „Bring it on – we are not afraid!“. Mit großer Freude subvertieren ›Turi- sas‹ weitere Gattungskonventionen, wenn sie etwa dem ehernsten Antagonismus im Viking Metal den Boden entziehen, indem es im ersten Lied ›The March of the Varangian Guard‹ – zutreffenderweise – von der Warägergruppe heißt: „There’s men of the cross and the hammer […] Diversity is what unites us.“ oder das unmissverständlich am peplum-Klassiker ›Ein Kampf um Rom‹ (1968) inspirierte Cover von ›Stand Up and Fight‹ erstmals in der Geschichte des Metal Wikinger für eine Kirche (nämlich die Hagia Sophia) kämpfen lässt. Schon die ›Mi- klagard Overture‹, der letzte Song des Vorgängeralbums ›The Varangian Way‹ löst die aus- und abgrenzende Binarität geographisch-ethnographischer Identitätszuschreibungen auf: „In astonishing colours the East meets the West […] My sun rose in the North and now sets in the South.“ Auch in anderer Hinsicht ist die durch das Sujet der Musik gestiftete Bandidentität eine hybride: Wie bei Amon Amarth und Unleashed gibt es Querverweise zwischen Performanz und

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Ikonographie der Band als kollektiver Bühnen-persona einerseits und der erzählten, in diesem Fall historisch lokalisierten Handlung der Texte:

Guards of glory and of might, red as blood and black as night.

Der ironische Anachronismus ist aber ein doppelter:24 Nicht nur fingiert die – byzantinistisch hervorragend informierte – Band eine Uniform für die Warägergarde,25 sie gleicht sie auch der Maske und Kostümierung ihrer eigenen Bühnenshows an, wie sie sich schon darboten, bevor die Warägerzüge thematisch in den Blickpunkt der Band gerückt sind. Insgesamt gibt es also vier Faktoren, die im Zusammenspiel die Sonderstellung einer Band wie ›Turisas‹ im altnor- disch engagierten Metal ausmachen: Helden, die keine Typen sind, sondern in moderner Er- zähltechnik ausgeleuchtet werden, bewusste Offenlegung der Instanzen, durch die das eigene Wikingerbild gebrochen ist, ein doppelbödiges Spiel mit der Übereinstimmung von performen- der Band und erzählten Figuren und schließlich der – im ursprünglichen, auf- nicht abwerten- den, Wortsinn – „dilettantische“ mediävistische Enthusiasmus, mit dem die Band bzw. ihr Kopf sich in die byzantinische Geschichte eingearbeitet und sich selbst befähigt hat, mal mehr, mal weniger subtil Nachweise der eigenen Gelehrsamkeit mit Narrativ und Ästhetik der entfalteten Textwelt zu verweben. Autorisierung durch mediävistische Sachkenntnis erfolgt aber nicht nur durch engagierte Laien, die aus der musikalischen Betätigung heraus Expertise anstreben, sondern wir finden mit einem letzten Paar an Beispielen ebenfalls den umgekehrten Fall vor, dass Vertreter fachlich affiner wissenschaftlicher Disziplinen Ergebnisse oder auch nur „Beifang“ ihrer Forschung in den Metal hineintragen. Die deutsch-isländische Band ›Árstíðir Lífsins‹ wird konzeptionell im Wesentlichen getragen von zwei deutschen Musikern, die beide Teil des institutionellen geis- teswissenschaftlichen Betriebs sind bzw. waren: Marcel Dreckmann war Dozent für nordische Philologie an der WWU Münster und Stefan Drechsler bekleidet derzeit eine Graduiertenstelle an der Universität Bergen (Norwegen). Beide sind Spezialisten für die altnordischen Sprachen, Drechsler ist in seinen Forschungen spezialisiert auf die kodikologische Überlieferung altislän- discher Literatur. Das professionelle Expertenwissen wird auf den Alben der Band umgesetzt in ambitio- nierte Textkonzepte, die sich inhaltlich und formal an der Literatur des mittelalterlichen Skan- dinaviens bedienen. Ein Interview Drechslers mit metal.de legt beredtes Zeugnis davon ab.26

24 Zu Metachronismen im Metal vgl. Barratt-Peackock / Hagen / Walter 2019, S. 137-144. 25 Die es in der hier suggerierten „Uniformität“ wohl nie gegeben hat, vgl. Dawson 2015, S. 84. 26 https://www.metal.de/interviews/arstidir-lifsins-interview-mit-stefan-zu-saga-a-tveim-tungum-ii-eigi- fjǫll-ne-firdir-408161/ (Stand: 03.12.2020).

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Der Bandgründer und Multiinstrumentalist skizziert die inhaltlichen Grundlinien des jüngst veröffentlichten zweiten Teils eines umfangreichen Doppelalbums mit dem Titel ›Saga á tveim tungum II: Eigi fjǫll né firðir‹ (›Saga in zwei Sprachen II: Weder Berg noch Fjord‹, 2020), das die fiktive Geschichte eines aus Island exilierten Geschwisterpaars, das getrennt wird und erst auf dem Schlachtfeld von Stiklestad wiedervereint ist, als die Schwester den Bruder dort gefal- len auffindet. Der überspannende historische Kontext ist also auch hier die Christianisierung Skandinavien und die Rolle des nachmalig Heiligen Olaf in den damit einhergehenden gesell- schaftlichen und kulturellen Umbrüchen. Das Album ist, wie die anderen Veröffentlichungen der Band auch,27 im besten Sinne ein multimedialer Professorenroman, auf dessen wissen- schaftliche Tiefenschärfe Drechsler sichtlich stolz ist, denn neben dem – für wikingerkundige Metalfans beinahe schon trivialen – historischen Hintergrund sind es vor allem die formalen Muster der altnordischen Literaturgeschichte, die der Musiker hervorhebt.28 Drechsler weiß um das seiner gelehrten Expertise geschuldete Alleinstellungsmerkmal unmittelbarer Quellenkunde als Inspiration für die Textkonzepte der Band und grenzt sie poe- tologisch – für unsere Überlegungen besonders prägnant – von zwei konventionellen Wegen des Zustandekommens altnordischer Referenzsysteme im Metal ab: Einerseits den tradierten Topoi des Metal selbst („Diese Komplexität würde ich ungerne missen, um etwa heutigen Stan- dards von Heavy Metal-Texten entsprechen zu wollen.“) und andererseits der populärwissen- schaftlichen oder -kulturellen Vermittlung („Nein, wir verwenden keine Literatur und Dich- tung, die nicht aus dem Mittelalter stammt.“) Mit diesem unbedingten Streben nach Authenti- zität, das sich aus einem wissenschaftlich hergeleiteten Vorrecht des Primärtexts begründet, ist das bisher überwiegende hermeneutische Schema auf den Kopf gestellt: Nicht mehr der Metal bedient sich der Wikinger, um sich selbst und seine Akteure deuten zu können, sondern die Primärtexte und der intellektuell redliche Umgang mit ihnen greifen auf den Metal als Exege- seinstrument zurück. Die deutsch-dänische Neofolk-Band ›Heilung‹ (die auf großen Metal-Fes- tivals spielt) bezeichnet ihre ritualistische Selbstverrätselung in der Polyglossie mittelalterlicher

27 Sowie auch anderer Projekte der beteiligten Musiker: Dreckmann und Drechsler haben in der Band ›Wöl- jager‹ erstmals das Münsterländer Platt für den Black Metal erschlossen und Dreckmann vertonte im jüngs- ten Album seiner Band ›Helrunar‹ (›Vanitas Vanitatvm‹, 2018) barocke Dichtungen von Andreas Gryphius. 28 „Aufgrund der christlich-kämpferischen Ausrichtung des [ersten, Anm. CP] Albums, haben wir viele christliche, altnordische Synonyme (heiti) und Paraphrasen (kennings) benutzt, sowie entsprechende skal- dische Poesie und Beschreibungen aus den Königssagas. […] Im zweiten Teil der beiden Alben haben wir eine Vielzahl heidnischer Umschreibungen verwendet, die der eddischen und skaldischen Poesie entstam- men, welche tief in dem mythologischen Verständnis der damaligen Gesellschaft begründet liegen. Dies verleiht dem Album einen gewissen vorchristlich-religiösen Touch. […] Wir verwenden skaldische Poesie bereits seit unserem ersten Album, zum selben Zweck. Ab davon ist die Skaldik, ähnlich wie die eddische Poesie, sehr ästhetisch und spiegelt absolut vergleichslos die behandelte Zeit wider“.

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Sprachstufen als „augmented history of the early middle ages“29 – ein vielsagender Terminus, der sich auch auf die faszinierende Herangehensweise von Árstíðir Lífsins anwenden ließe: In einem post-geschichtsbewussten Zeitalter kann Metal als multimediales performantes Ereignis zwischen Musiker und Hörer in einmaliger Prägnanz suggerieren, „wie es eigentlich gewesen ist“ (Ranke).

Schlussbetrachtung30

Metal ist mit heiligem Ernst praktizierte Unterhaltungsmusik, Metal fühlt sich an kein Decorum außerhalb der szeneeigenen Konventionen gebunden, Metal ist ein musikwirtschaftlich wichti- ger – und dank des anachronistischen Starrsinns seiner Hörer, Tonträger zu erwerben stabiler – Faktor, Metal ist neben Kriminalromanen und Konsumgüterdesign der wichtigste kulturelle Export des zeitgenössischen Skandinavien – jeder einzelne dieser Faktoren würde es schon rechtfertigen, eine geschichtskulturelle Fallstudie zu einem beliebigen Gegenstand oder zu ei- ner beliebigen Epoche vorzunehmen – wenn womöglich auch nicht in dem Umfang, in dem es hier geschehen ist. Doch hinzu kommt noch der Umstand, dass Metal und das Mittelalter, dass Metal und der mittelalterliche Norden augenscheinlich so fest miteinander verwachsen sind, dass man das eine selten ohne das andere bekommt, wenn man den Blick nur ein wenig über die akademische Mauerzinne hebt. Zugleich werden „the swords, the fantasy, the sexism and the outrageous histrionics“ als Kennzeichen des Metal kaum irgendwo so gut sichtbar wie dort, wo er eine thematische und ästhetische Allianz mit den Wikingern eingeht – doch sollte unser Durchgang gezeigt haben, dass hinter dieser Allianz mehr steckt als das deplorable letzte Aufgebot eines weißen, männli- chen ancien régime, das sich vergebens gegen die postkoloniale, postpatriarchale neue Welt

29 Diese Figur scheint zentral für das Selbstverständnis der Band geworden zu sein, ist sie doch mittlerweile auch der Name ihres Instagram-Accounts geworden: https://www.instagram.com/amplifiedhis- tory/?fbclid=IwAR1is9DzPQawqMCbGLo39w3qQARZkP1NA0e21F8aoM257bm85lXuG8v1QRc (Stand: 03.12.2020). Mit ihrer authentizitätsfixierten Herangehensweise stehen ›Heilung‹ bei Weitem nicht allein da. So musizieren etwa auch die aus norwegischen Black Metal-Musikern zusammengesetzten ›Wardruna‹ im und mit der Natur: Einige Lieder sind im Wald statt im Studio aufgenommen und greifen auch auf die dortigen Materialien als Instrumente(nersatz) zurück. Dass ihr Schaffen durch Beteiligung am Soundtrack von ›Vikings‹ (›Fehu‹ auf dem Album ›Yggdrasil‹, 2013) wiederum auch einer großen popkul- turellen Öffentlichkeit geläufig ist, illustriert die vielfachen künstlerischen und pragmatischen Verschrän- kungen zwischen künstlerischem Elitismus und Breitenkultur. Der erste Song des genannten Albums ›Yggdrasil‹ ›Rotlaust tre fell‹ („Ein Baum ohne Wurzel fällt“) bringt die sehr stark mit der nordischen Natur verknüpfte (s.o.) Sehnsucht nach Schaffung einer ethnisch-kulturellen Identität sinnbildlich auf den Punkt. 30 Natürlich ist auch dieser umfangreiche Durchgang dennoch höchst selektiv geblieben: Dass etwa Bands wie die färöischen ›Tyr‹, an deren Diskographie sich ein permanenter Aushandlungsprozess zwischen au- tochthoner Standortbestimmung mittels etwa traditioneller Kettentänze und Einbringung in die ökonomi- sierte popkulturelle Wikingertopik ablesen lässt, nicht zur Sprache gekommen sind, liegt auch an der da- hingehend bereits recht komfortablen Forschungslage, vgl. Ashby / Scofield 2015 und Christensen 2019.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Wikinger in Rock und Metal (Christian Peters) aufbäumt, das Karl Spracklen, der Urheber jener süffisanten, aber durchaus zutreffenden Zu- standsbeschreibung, dahinter wähnt.31 Schon aufgrund der für die Subkultur spezifischen Be- harrungs- und Kanonisierungsprozesse, aber auch dank der Durchlässigkeit für ein enorm di- verses Spektrum an unterschiedlichen Expertisen und Erfahrungswirklichkeiten an ihren Rän- dern gibt es den Wikinger im Metal genau so wenig wie es den Metal gibt. Vielmehr sehen wir den mittelalterlichen Norden als Projektionsfläche für Identitäten, Gruppenkodizes und Geschichtsbilder ebenso wie als eine reine Kulisse für anderweitige, for- mal oder inhaltlich gegenwartsbezogene Narrative und Deutungsmuster, als enthusiastisches Ausleben einer mediävistischen Laienbetätigung und für die Anreicherung der eigenen wissen- schaftlichen Expertise. Was den Metal als geschichtskulturelles Forschungsfeld so faszinierend macht, ist dass er im Kern eine Spielart der Popkultur ist, die sich selbst aber wahrnimmt und über sich Rechenschaft ablegt im Modus des kollektiven Gedächtnisses bürgerlicher Hochkul- tur und so immer wieder Zeitkapseln des Geschichtsbewusstseins einer bestimmten breitenkul- turellen Ära generiert, die von den Folgegenerationen der Szene kreativ aufgenommen und neu ausverhandelt werden, sodass sich mit Fortbestehen des Phänomens Metal immer komplexere, vielschichtigere und reflektiertere Zugänge zu einer populären Facette des Mittelalters ausge- bildet haben, vom überdrehten Machismo eines Conan-haften Beutegreifers über die ethnogra- phische Sehnsucht, auch südlich der Alpen Sohn des Nordens sein zu können, die barocke Eso- terik der Ethica Odini und die mit unmittelbar mittelalterlicher Stimme sprechende Neoskaldik des Black Metal hin zu hollywoodhaften Breitwandwarägern im heißen Staub Kleinasiens.

31 Spracklen 2015, S. 373. Letztlich bezichtigt Spracklen den Viking und Pagan Metal insgesamt einer unbe- wussten Komplizenschaft in der Fortschreibung der Unterdrückung der Frau und des globalen Südens durch die heteronormative Ordnung des Westens (ebd. 365-370). Der entgegengesetzte Pol des Spannungsfeldes an Deutungen wird von Gonzalez 2019, S. 122-130 abgesteckt, die am Beispiel der Metalszene in den lateinamerikanischen Ländern herausarbeiten, dass Latinos die Romantisierung eines vorchristlichen Skan- dinaviens als eine emanzipatorische, kolonialismuskritische Botschaft erleben und als Solidarisierungsan- gebot einer ebenfalls von christlichen Westeuropäern marginalisierten Kultur verstehen können.

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ZITIEREMPFEHLUNG

Christian Peters, Lucky Leif und die bärtigen Männer – Wikinger in Rock und Metal, in: Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020), S. 118-163.

DISKOGRAPHIE

Amon Amarth, Once Sent from the Golden Hall (1998) Amon Amarth, The Avenger (1999) Amon Amarth, The Crusher (2001) Amon Amarth, Versus the World (2002) Árstíðir Lífsins, Saga á tveim tungum II: Eigi fjǫll né firðir (2020) Bathory, Blood Fire Death (1988) Bathory, Hammerheart (1990) Bathory, Twilight of the Gods (1991) DoomSword, DoomSword (1999) DoomSword, Let Battle Commence (2003) DoomSword, My Name Will Live On (2007) DoomSword, Resound the Horn (2002) DoomSword, The Eternal Battle (2011) Enslaved, Axioma Ethica Odini (2010) Enslaved, Eld (1997) Enslaved, In Times (2015) Enslaved, Isa (2004) Enslaved, Riitiir (2012) Jethro Tull, Broadsword and the Beast (1982) Jethro Tull, Minstrel in the Gallery (1975) Led Zeppelin, Houses of the Holy (1973) Led Zeppelin, III (1970) Manowar, Gods of War (2007) Manowar, Hail to England (1984) Manowar, Into Glory Ride (1983) Manowar, Kings of Metal (1988) Manowar, Sign of the Hammer (1984)

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Robert Calvert, Lucky Leif and the Longships (1975) Thyrfing, De Ödeslösa (2013) Thyrfing, Thyrfing (1998) Thyrfing, Urkraft (2000) Thyrfing, Vansinnesvisor (2002) Turisas, Stand Up and Fight (2012) Turisas, The Varangian Way (2007) Unleashed, Dawn of the Nine (2015) Unleashed, Odalheim (2012) Unleashed, The Hunt for the White Christ (2019)

LITERATURVERZEICHNIS

Primärliteratur

Griscom 1929: Geoffrey von Monmouth, Historia Regum Britanniae, ed. A. Griscom, London / New York 1929.

Sekundärliteratur

Ashby / Scofield Steven P. Ashby / John Scofield, »Hold the Heathen Hammer High«: 2015: Representation, Re-enactment and the Construction of ›Pagan‹ Heritage, in: International Journal of Heritage Studies 21/5 (2015), S. 493-511.

Peackock / Ha- Ruth Barratt-Peackock / Ross Hagen / Brenda S. Gardenour Walter, gen / Walter Finding the Past in the Present and the Present in the Past, in: Ruth Bar- 2019: ratt-Peacock / Ross Hagen (Hrsg.), Medievalism and Metal Music Stud- ies: Throwing Down the Gauntlet, Bingley 2019 (= Emerald Studies in Metal Music and Culture), S. 137-144.

Bosselmann- Antje Bosselmann-Ruickbie, Heavy Metal Meets Byzantium! Contact be- Ruickbie 2018: tween Scandinavia and Byzantium in the Albums "The Varangian Way" (2007) and "Stand Up and Fight" (2011) by the Finnish Band Turisas, in: Falko Daim u.a. (Hrsg.), Menschen, Bilder, Sprache, Dinge: Wege

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Ragnar Loðbrók Isn’t Real (Adam Bierstedt)

Ragnar Loðbrók Isn’t Real:

The Limits of Treating Sagas Like History

von Adam Bierstedt

Ragnarr Loðbrók is perhaps the most famous Viking in modern consciousness. Between History Channel’s ›Vikings‹ and ›Assassin’s Creed: Valhalla‹, this 9th century Scandina- vian king dominates the image of an egalitarian society, where a farmer can, through his own brilliance, perform famous deeds and becomes a renowned, conquering king, whose death causes his sons and loyal drengir to invade and conquer most of England in the Great Viking Army.

There’s just one small problem – This Viking King, as we imagine him, didn’t exist.

In this post, I’ll examine all the evidence for Ragnarr Loðbrók’s existence and legend, begin- ning with the sagas and then looking at continental evidence. I use it here as a gateway to briefly consider how we can use the Norse sagas as historical sources more broadly, and the centuries- long adaptation of the Vikings into legend.

The Norse sagas about Ragnarr

Any discussion of Ragnarr should begin with the best-known versions of his tale, found in 13th and 14th century Scandinavia. There are two main versions of his life, two found in prose sagas,

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Ragnar Loðbrók Isn’t Real (Adam Bierstedt)

›Ragnars saga loðbrókar‹ and ›Þáttr af Ragnarssonum‹. The former is found in the manuscript NKS 1824b-4 to immediately following ›Völsunga saga‹, which has been interpreted as a sort of prequel saga to it – there are many structural parallels in e.g. Ragnarr’s death and that of Gunnar Gjúkason at the hands of king Atli. Both of these sagas agree in the main details – Ragnarr is the son of the legendary Sigurðr Hring, the king of Denmark. An ambitious young noble eager for renown, his chance comes when the daughter of the king of the Geats, Þora, is trapped by a pet snake that has grown into a dragon. To protect himself, Ragnarr boils a hide shirt and trousers in pitch, making invulner- able armor, and giving him his byname (which literally translated as “Hairy Trousers”, though Fuzzypants is both more fun and still quite accurate!) When it is revealed he did the deed, he is married to Þora, and they have two sons before Þora dies of illness. Griefstricken, King Ragnarr abandons Denmark to go raiding, and it is on a raid in Nor- way that he meets a beautiful farm-maiden, who is eventually revealed to be Áslaug, the daugh- ter of Sigurðr of the Völsungs and the Valkyrie Brynhildr. He is enamored of her, and after some trials, rathey are married, having four children: Ívarr beinlausi, Björn járnsíða, Hvítserkr (White-shirt), and Sigurðr Ormr-i-auga. These four avenge the death of Ragnarr’s sons at the hands of the Swedish king Sigtrygg, and Ragnarr incorporates the land into his Scandinavian empire. Ragnarr’s death occurs some years later, as his sons are raiding in the Holy Roman Em- pire and Italy. He, growing jealous of them, decides to conquer England using only two ships. Áslaug warns him against this, but weaves a white shirt for him that will protect him from harm. He is captured by the king of Northumbria, Ælla, and because he refuses to tell Ælla who he is, he is thrown into a pit full of snakes – at first the shirt protects him, but then Ælla’s men remove it and he then dies. His sons, on hearing of this, invade England and, thanks to Ívarr’s trickery, capture Ælla, execute him horribly by “marka örn á baki honum sem inniligast, ok þann örn skal rjóða með blóði hans." [carving an eagle on his back the most precisely, and then the eagle shall turn red with his blood], and continue to conquer England. The other main tradition is found in Saxo Grammaticus’ ›Gesta Danorum‹, dating to around 1000. This has a significantly, though not entirely, different narrative arc. Ragnar is still the son of Sigurðr Hring, but his first wife was Lagertha, a female warrior who fought in his army as he avenged his grandfather’s death – she gave birth to two unnamed daughters and a son named Fridlef (Friðleif). Ragnar eventually divorces her after the same dragon-slaying and marries Þóra, with whom he has many children: Rathbarth, Dunvat, Sivard, Bjorn, Agner, and Ivar – he eventually has another son, Ubba, out of wedlock after Þóra dies of illness.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Ragnar Loðbrók Isn’t Real (Adam Bierstedt)

Ragnar ravages across Europe, including conquering England, Scotland, and Ireland, de- feating Charlemagne in battle in Saxony, conquering the Hellespont, and subduing the Saami people of Bjarmaland. Ragnar’s reign across Europe is not peaceful, as his sons fall in battle, and one Harald (most likely supposed to be Harald klak, who visited the court of Louis the Pious in 815) continues to raise revolts in Denmark. Eventually, Ella, the son of the king of England before Ragnar conquered the country, captures Ragnar, drops him a pit of snakes, and Ivar and his brothers avenge his death before dividing up his lands. These two main legendary strands clearly are derived from the same oral traditions – Ragnar’s winning of Þóra is practically identical, as is his death in Northumbria. However, they are just as clearly not identical nor historical – Lagertha, despite her prominence in the televi- sion show, is likely an invention by Saxo, and one which fits into a type of saga trope of the meykonungr, or Maiden-king (Su 2019) – a warrior-woman who sets a challenge for the male hero, who overcomes them and marries her, often against her will. She, therefore, likely is an invention from contemporary literature, introduced by Saxo to the narrative. Additionally, the two strands appear to be completely unaware of the historical King Ælla – the so-called ›Anglo- Saxon Chronicle‹ states that in 867, “there was much dissension in that nation among them- selves; they had deposed their king Osbert, and had admitted Ælla, who had no natural claim.” He is not a king, the son of a king, who ruled for many years over the Northumbrians – he was a pretender to the throne that was embroiled in a civil war. A third example from ›Ragnars saga‹ and ›Þáttr af Ragnarssonum‹ comes in the patently absurd claim that Ívarr founded the city of London (in the þáttr) or York (in the saga) – both are founded by the Romans several centuries earlier. As such, it’s clear that the narratives as they are preserved in these late sources are not fully historical. While these two strands represent the main narratives surrounding Ragnarr, they are not the only ones to mention him. Ragnar Loðbrók is mentioned in the 12th century ›Íslendingabók‹ as the father of Ívarr, who killed St. Edmund, and in ›The Book of Settlements‹ as the ancestor of one particularly prominent family in Breiðafjörður. Additionally, there are two skaldic po- ems that are related to the Ragnar legend – ›Ragnarsdrápa‹, composed by Bragi Boddason, supposedly in Ragnar’s honor, and ›Krákumál‹, which purports to be Ragnar’s death poem, and references Þóra and Áslaug by name. The former is one of the oldest known pieces of skaldic poetry, but doesn’t actually mention Ragnar by name, while the latter poem is found in the same manuscript as ›Ragnars saga‹ and ›Völsunga saga‹, but probably predates them, with scholarly consensus generally dating it to the 12th century, and therefore part of the oral tradition that also

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Ragnar Loðbrók Isn’t Real (Adam Bierstedt) produced the other versions of the Ragnar legend. As such, neither of them provide any sort of independent corroboration of Ragnar’s existence. All of these sources, save ›Ragnarsdrápa‹, share the same issue – they postdate Ragnar’s death by some four hundred years. While they are all participating in or derived from older oral traditions, both ›Ragnars saga‹ and the ›Gesta Danorum‹ freely fabricate material, and have not been taken as straightforwardly historical for over a century (Ó Corráin 1979, p. 284). It is therefore worth looking to Non-Norse sources for further evidence of the existence of Ragnar.

Medieval Continental Sources for Ragnarr and his sons

While there is a fairly diverse set of sources that touch upon the Ragnar legend and its historic- ity, they can be divided into two groups, those that discuss the 845 siege of Paris and those that describe the “Ragnarssons” and the Great Viking Army. The 845 sack of Paris is recorded in a few Frankish sources. They all describe a certain Reginherus as the leader of the warband, who sacks the city. However, a disease outbreak of some kind killed him later that year. According to the ›Annals of St. Bertin‹, which does not mention Ragnar by name, says:

Nevertheless, so that the pagans should no longer go unpunished in falsely accusing the most all-powerful and most provident Lord of improvidence and even powerlessness, when they were going away in ships loaded with booty from a certain monastery which they had sacked and burned, they were struck down by divine judgement either with blindness or insanity, so severely that only a very few escaped to tell the rest about the might of God.

– Nelson 1991, p. 61.

Nortmanni , alveo Sequanae remenso, maria repetunt, cuncta maris loca finitima diripiunt, vastant atque incendiis concremant. Sed licet peccatis nostris divinae bonitatis aequitas ni- mium offensa taliter christianorum terras et regna attriverit, ne tamen etiam pagani impro- videntiae aut certe impotentiae Dominum omnipotentissimum ac providentissi-mum in- pune diutius insimularent, cum a quodam monasterio [Sithdiu nomine] direpto incensoque oneratis navibus repe-darent, ita divino iudicio vel tenebris caecati vel insania sunt perculsi, ut vix perpauci evaderent, qui Dei omnipotentis iram ceteris nunciarent.

– Waitz 1883, p. 33.

This Reginherus appears to 1) be related to King Horik of Denmark and 2) a very successful war leader, but apart from this one mention, very little of his life is known – it has been argued that he had a short-lived alliance with Charles the Bald, but this is still uncertain (Lukman 1976). A vast majority of the references to Ragnar or to Loðbrók (the two names never occur together outside of Scandinavia) refer only to their sons, particularly Ívarr the Boneless. The "Ragnarssons," particularly Ivarr beinlausi, Halfdanr (possibly bynamed Hvitserkr), and Bjorn Ironside (but probably less Sigurðr snake-in-the-eye – he's mentioned exactly once

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Ragnar Loðbrók Isn’t Real (Adam Bierstedt) in a non-Norse source) are considered to be historical figures due to their presence in records from outside of Scandinavia. Ivarr is attested in Early English and Irish annals (usually as Yngvar, an older form of the name), Hálfdanr is attested in annals and in charter evidence from Northumbria, Bjorn Ironside is found in Frankish and Galician annals, and the voyage he led into the Mediterranean alongside Hásteinn is attested in Islamic sources. With such a wide- ranging set of sources, it's hard to deny that these leaders are historical. They seem to have referred to themselves as brothers, and Asser’s ›Life of Alfred‹ refers to them as such. In the Irish tradition, there are only two potential mentions of Ragnar: One in the ›Cogad Gáedel re Gallaib‹, where Hálfdanr is recorded as the son of “Ragnaill” and one in the 12th century ›Fragmentary Annals‹, which preserves a tale similar to ›Ragnars saga‹. Meanwhile, Adam of Bremen refers to Ívarr as “the son of Lodparchus” in the 1070s, while the ›Annals of St. Neots‹ lists a “Raven Banner” as being woven by the “daughters of Lodebroche,” who are the sisters of Hingwar and Hubbe (i.e. Ívarr and Ubba).

Rök Runestone, Östergöland, Sweden, which records a story potentially related to Ragnar (Credit: © Bengt Olof ÅRADSSON, CC BY 1.0 https://creativecommons.org/licenses/by/1.0, via Wikimedia Commons).

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Ragnar Loðbrók Isn’t Real (Adam Bierstedt)

This Loðbrók, however, may not even be male! While Adam of Bremen’s Lodparchus is clearly a male name, a runestone at Maeshowe in the Orkney Islands reads “This mound was built before Lodbrok’s. Her sons, they were bold. Those were real men, such as they were.” The Old Norse is highly unambiguous about Loðbrók being a female name, and Rory McTurk has pro- posed, on the basis of this, that a poem in the main redaction of ›Ragnars saga‹ should be rein- terpreted to read “Loðbróka’s sons” instead of the usual “Loðbrók’s sons”. If we accept this runestone as reflecting historical reality, then Ragnar Loðbrók’s identity is case further into doubt. Certainly, whoever he may have been most likely did not wear re- markably fuzzy pants, and there is no particular reason beyond the legendary tradition to link him to the kings of the Great Viking Army. Even so, it is tempting to conclude that he is an amalgamation of these two real people – Rory McTurk argues as such in his 1976 and 1991 studies of ›Ragnars saga‹. There was some Ragnar, he just wasn’t as great a king as the sagas claim he was.

Sagas as History

There are many fundamental inconsistencies with the narrative of Ragnar Loðbrók: The two Scandinavian strands have impossible errors in chronology and plot to each other and to Con- tinental sources, including Ælla’s reign and death, and even who all the Ragnarssons were (Hálfdanr is notably absent from the saga tradition). The Continental sources never link Re- ginherus to their focus on the Ragnarssons. It is entirely possible that the two are related, but it is inherently somewhat speculative. Moreover, Reginherus is never associated the dubiously- sourced Lodparchus of Adam of Bremen, making it untenable to argue for a single Ragnar Loðbrók at any point before the 12th century. Any historical figure there was bears little resem- blance to the saga narrative that we know. Even Rory McTurk, in the same breath as he postu- lates a conflation of the historical figures as described above, he acknowledges that he views Ragnar Loðbrók “as a legendary figure, not a historical one.” (McTurk 1991, p. 1) However, that does not mean that ›Ragnars saga‹ is useless as a historical source! Every saga genre has some information about the culture, values, and indeed sometimes events of the 9th century, such as a raid on the Italian town of Lúna, led by Björn járnsíða! However, as Jóhanna Katrín Fríðriksdóttir notes, we have to be careful to sift through the layers of invention in order to get there (Fríðriksdóttir 2020). The Legendary sagas, the genre to which our prose sagas fit into, are by and large less historical than others. As such, the best way to treat these

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Ragnar Loðbrók Isn’t Real (Adam Bierstedt) texts is as a form of early historical fiction. Saxo and the author of ›Ragnars saga‹ freely com- bine folklore, previous written accounts, and their own inventions for the sake of their story. The stories being told, though, are in some way resonant and are copied numerous times in the following centuries. The sagas, therefore, serve as an inconsistent source for the Viking Age and an excellent source for post-Viking mentalities. The legendary King Ragnarr was cemented in the Icelandic cultural context by the 12th century, as both ›Íslendingabók‹ and ›Landnámabók‹ trace the ancestry of prominent Icelanders to sons of Ragnar Loðbrók, and the former dates the discovery of Iceland to the martyrdom of St. Edmund at the hands of Ívarr beinlausi. The legend, therefore, explains cultural concerns and the prominence of certain Icelanders through the projection. The narrative of the son of a king who leaves his home and in a different country wins fame and renown, and whose sons repeat that feat on a much larger scale, offers great resonance to the Icelandic founding mythol- ogy, as high-ranking Norwegian nobles fled Haraldr harfagri’s court to seek renewed renown in Iceland. In the 14th century, after Iceland’s annexation by the Norwegian king, it serves a slightly different purpose. The saga points towards a unified, powerful Scandinavia, dominant on the European stage. As Hákon IV and Valdemar I brought in new forms of literature and French courtly culture, it is easy to imagine a sort of soft backlash to that, hearkening back to an imag- ined golden age of specifically Scandinavian importance.

Ragnars saga in NKS 1824 b 4to, c. 1400 (Credit: © Gilwellian, Public domain, via Wikimedia Commons).

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Ragnar Loðbrók Isn’t Real (Adam Bierstedt)

Finally, the main manuscript of the saga dates to c. 1400. At this point, the political context of Scandinavia looked different yet again, and Ragnar fits a new purpose. In 1397, Denmark and Norway (including Iceland) unified in the Kalmar Union, bringing the two kingdoms to- gether for the first time since the 11th century. ›Ragnars saga‹ here can be read as sort of aspirational – it imagines a time when a unified Scandinavia, under the Danish crown, achieved cultural renown for a time. It also could be seen as a warning to the new queen of arrogance and reaching beyond her measure, as Ragnar’s jealousy of his sons leads to his death and his kingdom’s disintegration. The political contexts therefore plausibly influence the composition and copying of Ragnar’s legend, proving that throughout the Middle Ages, this great Viking leader had something people could relate to. It’s appropriate, therefore, that Ragnar Loðbrók of all the Vikings is the one who has achieved the highest renown in the 21st century. Ragnar, himself an imaginary perfect Viking, has been parsed through American success stories, turning from a nobleman by birth to a farmer, who through his own talents becomes a giver of rings and leader of men. He, to modern capitalist society just as to medieval Icelanders, is the manifestation of our founding mytholo- gies and ideals. Regardless of whether or not he is based on any historical figures, that makes the saga of him and his fuzzy pants worth telling.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Ragnar Loðbrók Isn’t Real (Adam Bierstedt)

ZITIEREMPFEHLUNG

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Das Mittelalter im Videospiel: ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ (Tobias Enseleit / Tobias Schade)

Das Mittelalter im Videospiel:

›Assassin’s Creed: Valhalla‹

von Tobias Enseleit und Tobias Schade1

Das Videospiel ist längst in den Olymp der Medienlandschaft aufgestiegen. Sie werden zu Kosten produziert, die selbst die aufwändigsten Filmproduktionen in den Schatten stellen, und fesseln ein Millionenpublikum über einen weit längeren Zeitraum als ein Blockbus- terabend. Nicht zuletzt deshalb ist das Medium, seit seinen Kinderschuhen auch Träger geschichtlicher Inhalte, in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus von Fachwissen- schaft, Geschichtsdidaktik und Game Studies gerückt.2 Insbesondere die Spielereihe ›Assassin’s Creed‹ ist aufgrund von vermeintlicher Breitenwirkung und historischer Au- thentizität in der Ausgestaltung in das Visier akademischer Beschäftigung geraten. Mit dem aktuellen Ableger ›Valhalla‹ lässt die Reihe Spieler und Spielerinnen nun in das früh- mittelalterliche England des 9. Jahrhunderts eintauchen.3

1 Dieser Beitrag entstand von Seiten Tobias Schades im Rahmen des Teilprojekts C07 ›Authentizität als Ressource‹ des SFB 1070. Er dankt der Deutschen Forschungsgemeinschaft und dem SFB 1070 RESSOUR- CENKULTUREN der Universität Tübingen für ihre Unterstützung. 2 Vgl. einführend zu dem Medium jüngst Breiner / Kolibius 2019; aus mediävistischer Perspektive einfüh- rend Enseleit / Peters 2017. Obwohl inhaltlich veraltet Heinze 2012, dessen Cover Altaïr aus dem ersten Teil von ›Assassin’s Creed‹ ziert. 3 Vgl. etwa Schlechtweg-Jahn 2012, S. 151-168; Ders. 2015; Giere 2019, S. 176-339; Hausar 2014.

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Realismus und Authentizität als vermeintlicher Ausweis von Qualität

Dem „Echten“ liegt ein eigener Zauber inne – für eine qualitative Bewertung populärkultureller Inszenierungen mit historischem Sujet ist die Frage nach ihrer Authentizität ein maßgeblicher Aspekt, die an jede Neuerscheinung wieder neu herangetragen wird. Was „echt“ ist, ist gut – sowohl für den Unterhaltungsbereich als auch im pädagogischen Kontext. Davon ausgehend sind vornehmlich unter der Fragestellung „Wie realistisch / authentisch ist das Spiel wirklich?“ in den letzten Wochen zahlreiche Blogbeiträge, Zeitungsartikel, Forendiskussionen und You- Tube-Videos auch zu ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ erschienen. Nun ist „Authentizität“ ein komplexer Begriff, der sich davor sträubt, mit vermeintlichen Synonymen wie „Realismus“ oder „historische Wirklichkeit“ in Kongruenz gebracht zu wer- den. Obgleich „ein Schlüsselbegriff im Umgang mit Geschichte“ (Pirker / Rüdiger 2010, S. 14) und gerade im Hinblick auf populäre Darstellungen von Vergangenheiten regelmäßig heraus- gefordert, wurde und wird in verschiedenen Kontexten ausgiebig diskutiert, was „Authentizi- tät“ eigentlich sei, was sie ausmacht, warum sie bedeutend ist und wie diese zu bestimmen sei.4 Aus einer konstruktivistischen Perspektive ist Authentizität den Dingen nicht inhärent. Stattdessen wird sie materiellen und immateriellen Dingen zugeschrieben. Sie wird subjektiv empfunden, diskursiv verhandelt und dient mitunter auch als Referenzpunkt. Dies nicht nur im Hinblick auf die Frage nach „wahrer“ oder „korrekter“ Darstellung von Vergangenheiten in populären Geschichtskulturen (vgl. Pirker / Rüdiger / Klein 2010), sondern etwa auch im Kon- text personaler Authentizität – der Suche nach dem „echten“ Selbst – und damit auch im Hin- blick auf „einzigartige“ Erfahrungen und „besondere“ Erlebnisse. Für Museen, Denkmalpflege und das Kulturerbe besitzen hingegen „materielle Authentizität“ und „Räume des Authenti- schen“ eine Relevanz (vgl. dazu Saupe 2017): Das Museum gilt etwa als „Ausstellungsort au- thentischer Objekte par excellence, die durch ihre Präsentation eine Fetischisierung erfahren“ (Saupe 2015) – hier werden Nachbildungen und Originale präsentiert – und auch bei der Beur- teilung von Kulturerbe erscheinen die „Authenticity“ bzw. „Echtheit” „[...] as the essential qua- lifying factor concerning values”5.

4 Vgl. zur „Authentizität“ u.a. im musealen, historischen und archäologischen Kontext beispielsweise bei Crew / Sims 1991; Lowenthal 1992; Bendix 1997; Jones 2010; Jones / Yarrow 2013; Fitzenreiter 2014; Saupe 2015; Saupe 2017; Sabrow / Saupe 2016. 5 ICOMOS 1994, §10; Im ›The Nara Document on Authenticity‹ (1994) wird von der „authenticity“ gespro- chen (https://www.icomos.org/charters/nara-e.pdf), in der deutschsprachigen Version des DNK wird diese primär mit „Echtheit“ übersetzt (http://www.dnk.de/_uploads/media/174_1994_UNESCO_NaraDoku- ment.pdf; Stand: 10.12.2020).

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Das Bedürfnis nach „Authentizität“ – verbunden mit „[...] einer intensiven Suche nach dem vermeintlich »Echten« und dem Bestreben, das »Wahre« und »Originale« zu rekonstruie- ren und zu erhalten“ (Sabrow / Saupe 2016, S. 7) – scheint ein Phänomen unserer Zeit6: Lo- wenthal beschreibt einen „cult of authenticity“, der das moderne Leben durchdringe (Lowenthal 1992, S. 184). Wahlweise wird „Authentizität“ auch als Sehnsuchtspunkt einer entfremdeten Gesellschaft (vgl. Seidenspinner 2007, S. 8; 12) oder auch als letzter Wert in der Postmoderne (vgl. Assmann 2012) interpretiert. Authentizität ist zwar nicht messbar bzw. zu bestimmen – aber dennoch ist es möglich, sich ihr anzunähern, indem mit Authentizitätsvorstellungen verbun- dene Zuschreibungen und Praktiken (vgl. Saupe 2015, S. 15) sowie der Effekt des Authentischen (vgl. Lethen 1996, S. 205; 209) untersucht oder beschrieben werden. Im Hinblick auf Videospiele finden Authentizitätszuschreibungen auf verschiedenen Ebenen statt: einerseits durch die Programmierer und Entwickler7, die bei der Erstellung der Spielewelt eine Deutungsmacht haben und bestimmen, wie diese aussehen wird; andererseits durch Beraterinnen und Berater, die das Entwicklungsteam mit Expertenwissen unterstützen – oder aber diese virtuell konstruierten Welten nach Veröffentlichung des Spiels reviewen, ana- lysieren oder bewerten. Hier wird also deutlich, was Crew und Sims schon 1991 im Hinblick auf museale Ausstellungen postulierten: „Authenticity is not about factuality or reality. It is about authority. Objects have no authority; people do” (Crew / Sims 1991, S. 163). Doch Authentizitäten werden nicht nur autoritativ erklärt, behauptet oder beansprucht, sie entstehen auch durch Rezeptionsvorgänge8 – und wirken erst durch den Konsum und die Rezeptionen. Denn die Rezipienten entscheiden, welche Bedeutungen eine mögliche Authenti- zitätserwartung für sie überhaupt hat. Und erst dann können Darstellungen beim Spielen au- thentisch wirken oder als authentisch wahrgenommen werden – oder eben nicht. Authentizi- tätsvorstellungen werden demnach auch durch die Erwartungshaltung und den Erfahrungshori- zont bestimmt: Dabei sind nicht nur Wissenskonzepte oder Geschichtsbilder relevant, die Vor- wissen und Vorbilder darstellen – als Teil des kulturellen Gedächtnisses (vgl. Assmann 1988) – sondern auch Ästhetiken, Emotionen und Spiel- und Sehgewohnheiten von Rezipienten.

6 Vgl. Bendix 1997; Seidenspinner 2007, S. 2; Pirker / Rüdiger 2010, S. 19; Sabrow 2016, S. 43. 7 Dort, wo nicht anders angegeben, inkludiert für uns das generische Maskulinum auch alle anderen Ge- schlechteridentitäten. 8 Etwa durch Rezeptionen in digitalen und analogen Kontexten: durch funktionale Nachbauten oder die Er- stellung materieller Kopien, durch Merchandise sowie die Erstellung von Digitalisaten; diese Rezeptionen können ihrerseits auch wieder zu Autoritäten werden und Wahrnehmungen beeinflussen; hierzu ist auch ein Beitrag des Autors (T. Schade) zu Authentizitätsvorstellungen und Rezeptionsvorgängen im Hinblick auf Replikate und materielle Nachbauten archäologischer Schiffsfunde (am Beispiel der „Bremer Kogge“) in Vorbereitung.

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Sehr beliebt, um Authentizität zu erzeugen, ist in der gesamten Medienlandschaft die Adaption von „echter“ Überlieferung. Da ist es nebensächlich, dass wie hier im Spiel Miniaturen, die eigentlich in höchst wertvollen und seltenen Handschriften enthalten sind, als Bild oder Poster in jeder dritten Bauernkate hängen. Rezipienten nehmen das Dargestellte, obwohl dem ursprünglichen Kontext vollkommen entfremdet, unterbewusst als authentisch wahr (Bildnachweis: © Ubisoft).

Wenn Authentizitäten, wie hier vorgestellt, aber weniger mit einer „Wirklichkeit“ bzw. „Tat- sächlichkeit“ zusammenhängen, sondern vielmehr aus einem Netzwerk von Autoritäten, Re- zeptionen, Wissensbeständen, Erwartungen und Emotionen heraus entstehen, dann sind die Fra- gen, was denn nun authentisch sei und wie authentisch etwas sei, falsch gestellt. Vielmehr muss die Vergleichsfolie in den Fokus gerückt werden, die für die meisten Menschen in der Beschäf- tigung und im Umgang mit populärkulturellen Inszenierungen von Geschichte entsteht.

Es sollte daher bei einer sinnvollen wissenschaftlichen Auseinandersetzung nicht darum gehen, aufzuzeigen, was an einer Produktion nun realistisch ist und was nicht (hier ver- strickt man sich ohnehin nur in Grabenkämpfen), sondern vielmehr um die Frage, auf wel- che Weise und mit welchen Mitteln uns eine Produktion überzeugt, authentisch und realis- tisch zu sein. Das mag auf den ersten Blick wie methodische Haarspalterei wirken, entbin- det aber davon, Inszenierungen unter diesem Gesichtspunkt als falsch oder richtig und da- mit als schlecht oder gut zu bewerten und sensibilisiert weit stärker für die Rezeptions- und Adaptionsmechanismen, denen unser geschichtskultureller Betrieb auf verschiedenen Ebe- nen unterworfen ist.

– Enseleit 2020c, S. 34-35.

In diesem Kontext hat sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit modernen Insze- nierungen von Geschichte daher der Begriff der „Authentizitätsfiktion“ etabliert, der dafür sen- sibilisiert, dass diese Inszenierungen nie „authentisch“ oder „realistisch“ sein können, nichts- destoweniger aber so auf Rezipienten wirken können (vgl. Pirker / Rüdiger / Klein 2010). In diesem Zusammenhang spielen auch Beschäftigungszeiträume und -intensität eine große Rolle;

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Das Mittelalter im Videospiel: ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ (Tobias Enseleit / Tobias Schade) sofern, um beim Thema zu bleiben, die Wikingerzeit in der Schule überhaupt Erwähnung fin- det, so wird sie quantitativ rasch von der Rezeption beliebter Serien wie bspw. ›Vikings‹ ein- geholt (alle Folgen zu schauen, würde fast 70 Stunden dauern), die qua im Medium liegenden Inszenierungsmöglichkeiten weit intensiver und immersiver sind als jeder Schulbuchtext. Vorstellungen von Geschichte – gemeinhin also das, was als Geschichtsbewusstsein ver- standen wird – entstehen für die meisten in der freizeitlichen Beschäftigung mit Populärkultur – und nicht in einer methodengestützten Auseinandersetzung mit Primär- und Sekundärliteratur (wobei die Grenzen im Einzelfall selbstverständlich völlig anders gezogen werden müssen). Durch die enorme Breitenwirkung manch populärkultureller Medien, die sich wiederum auf die Darstellung nachfolgender Produktionen auswirken, werden auf diese Weise gesamtgesellschaft- liche Vorstellungen (also Geschichtskultur) geprägt. Für den Bereich der Wikinger übernimmt diese Rolle die Serie ›Vikings‹, die Vorgängerdarstellungen von Wikingern und Barbaren auf- greifend auf zahlreiche andere Bereiche der Medienlandschaft ausstrahlte (etwa in den LARP- oder Videospielbereich) – mit entsprechenden Konsequenzen für ›Assassin’s Creed: Valhalla‹, die uns im Folgenden beschäftigen werden:

Kulminationspunkt dieser facettenreichen Entwicklung, die viele Etappen in allen Bereichen der Medienlandschaft (dazu zählt auch der riesige Fantasybereich) zu passieren hatte, ist die Serie ›Vikings‹ (Kanada / Irland 2013; Idee: Michael Hirst), die seit ihrer Erstausstrahlung im Jahr 2013 wiederum viele nachfolgende Wikingerinszenierungen beeinflusst hat. Solche „Superspreader“, die auch etablierte Darstellungstraditionen durchbrechen können, lassen sich im Großen und Kleinen immer wieder beobachten. Sie entstehen dadurch, dass sie me- dienübergreifende Darstellungsflüsse kanalisieren, zu etwas überzeugendem Homogenem zusammenführen und dergestalt unter dem Label des Authentischen mit großer Strahlkraft weiterverbreiten“.

– Enseleit 2020c, S. 31.

Nach eindrücklichen cinematischen Sequenzen, in denen bärtige Wikinger (unter ihnen Titel- held Eivor) einen von angelsächsischen Kriegern bewachten Strand stürmen, bringt der Trailer zu ›Valhalla‹ das vornehmliche Werbeversprechen auf den Punkt: „Live like a Viking, Think like Viking, Fight like a Viking, Conquer like a Viking“, was im eindrücklichen Slogan kulmi- niert: #LIKEAVIKING. Hier wird die Benchmark formuliert, an der sich der Spielinhalt letzten Endes zu messen hat: Rezipienten schlüpfen im Spiel in die Haut eines „echten“ Wikingers, dessen Lebensgefühl in Kampf und Eroberung enggeführt wird. Um die Erwartungshaltungen der Rezipienten dabei nicht zu unterlaufen, sucht das Spiel den Schulterschluss mit prägenden Wikingervorgängern. Damit steht ›Valhalla‹ freilich nicht allein; doch bei aller produzenten-

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Das Mittelalter im Videospiel: ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ (Tobias Enseleit / Tobias Schade) seitigen Authentizitätsbeteuerung ist die ›Assassin’s Creed‹-Reihe seit Beginn ein Paradebei- spiel für den Rekurs und die inhaltliche Adaption populärkultureller Vorgänger (vgl. auch Ense- leit 2020).9

Orientierung in einer fremden Welt

Für das Worldbuilding von ›Valhalla‹ ist auf diese Weise durch andere populärkulturelle Wi- kingerinszenierung der Boden bereitet, und das Spiel gestaltet sich so, dass sich Rezipienten gleich von Beginn an „zu Hause“ fühlen. Verspricht der gesprochene Prolog über den Tod des Urriesen Ymir oberflächlich noch etwas Neues und durch den Rekurs auf Mythologisches et- was „Authentisches“, so wirft uns die Spielhandlung gleich darauf in eine uns bekannte Welt: In einer bis unters Dach gefüllten Festhalle wird gesungen, gefeiert und gesoffen, bis Böse- wichte den ausgelassenen Festakt in ein blutiges Schlachtfest verwandeln, das den erzähleri- schen Auftakt des Spiels bereitet. Verrat, Intrigen, Kampf, Tod und Rache – all diese Aspekte bringen wir dank ausgiebigen Couchdrückens mit Wikingern in Zusammenhang. Irritiert oder unterbrochen wird diese Bestätigung des Erfahrungshorizonts auch in der Folge nie. Denn fast schon kongenial spinnen die Entwickler die Rezeptionstradition weiter, die insbe- sondere durch die Serie ›Vikings‹ grundgelegt wird. Gleich in der ersten Spielstunde darf Eivor kämpfen, wetttrinken, in freier Natur eine umtriebige Witwe beglücken und einen der ehemaligen und mittlerweile gealterten Gefährten des berühmten Ragnar zum Duell fordern. Bedienen erste Aspekte noch die Vorstellung protzig zur Schau gestellter (heute hieße es „toxischer“) Männlich- keit (oder Weiblichkeit, die in ›Valhalla‹ eine Gleichsetzung erfährt, s.u.), die gemeinhin mit Wi- kingern assoziiert wird, so bettet die Begegnung mit Ragnars Gefährten die Erzählhandlung in einen Kontext, der Wikingerfans durch Serienerfahrung mehr als bekannt ist, aber durch die zeit- liche Verschiebung um einige Jahre dennoch ausreichend Potenzial für etwas Neues birgt. Für die meisten ›Vikings‹-Rezipienten liegt ihre gemeinsame „Zeit“ mit dem Serien-Rag- nar dabei genauso in der Vergangenheit wie für Eivor die Geschehnisse um den Videospiel- Ragnar, sodass auf Ebene der Erzählhandlung die Rezeptionserfahrung der Spieler und Spiele- rinnen, die sie im Medium Serie gemacht haben, reaktualisiert werden können. So berichtet etwa ein weiterer Gefährte Ragnars, der sich in England als Fischer niedergelassen hat, in einem Nebensatz von dessen „bäuerlichem“ Interesse an gutem Boden und spielt damit auf engstem Raum auf die vornehmliche Ambition des Serien-Ragnars an, der zu Beginn selbst Bauer war,

9 Vgl. für den Trailer https://youtu.be/ssrNcwxALS4 (Stand: 10.12.2020).

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Was wäre das Wikingerleben ohne Raub und Plünderung? Die im Trailer gemachten Versprechen „Fight and Conquer like a Viking“ werden durch die Plünderung in Spielmechanik übersetzt. Gemeinsam mit unserer Räuberbande überfallen wir Klöster und Dörfer, die uns das notwendige Baumaterial liefern, um unsere eigene Siedlung zu erweitern. Das Plündern und Brandschat- zen sind indes alternativlos; weder kann mit den Opfern in Verhandlungen getreten noch können ihnen Tribute abgepresst wer- den. So gehen wie auf dem Bild regelmäßig Siedlungen in Feuer und Rauch auf, ohne dass Interessen gewaltfrei durchgesetzt werden können – wodurch die Inszenierung der Nordmänner und-frauen auf das Kämpferische enggeführt werden (Bildnachweis: © Ubisoft).

Der stereotype Wikinger ist so hart im Nehmen, dass er auch eine Zeit mit Axt im Schädel übersteht, wie eines der sog. „Welter- eignisse“ im Spiel zeigt. Männlichkeit oszilliert hier zwischen überbordender Tapferkeit und einem hohen Grad an Tumbheit, die in Kombination selbst fatale körperliche Zustände wenigstens eine Zeitlang auszublenden wissen (Bildnachweis: © Ubisoft).

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Das Mittelalter im Videospiel: ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ (Tobias Enseleit / Tobias Schade) nach England aufzubrechen. Auf diese Weise entsteht für viele Rezipienten ein wohliges Ge- fühl von Nostalgie. Und nicht ohne Hintergedanken begegnen die Spieler und Spielerinnen in England auch den Söhnen Ragnars, Ubba und Ivar, die wir als Figuren sogleich zuordnen können. Das gesamte Worldbuilding ist so knapp gehalten, dass Rezipienten eben jene Vorerfah- rungen mitbringen müssen; eine tiefergehende erzählerische Hinführung findet weder im „his- torischen“ Norwegen und England noch im „mythologischen“ Asgard statt. Ohne viel Federle- sens treffen wir dort Freya, Thor und Loki, die dank der Marvel-Verfilmungen derart im kol- lektiven Gedächtnis verankert sind, dass sie einerseits einer Einführung entbehren und zuguns- ten einer individuellen Note gleichzeitig optisch ganz anders gestaltet werden können. Insbe- sondere durch diesen Wiedererkennungseffekt wird zu einem guten Teil das Gefühl von Au- thentizität erzeugt. Mehr durch unsere Seh- und Rezeptionsgewohnheiten im populärkulturellen Bereich denn durch Schulunterricht oder Museumspädagogik hat sich also ein gewisses Set an „Mar- kern“ etabliert, mit dem wir „Mittelalter“ oder „Wikinger“ (aber auch alle anderen Epochen und Themen) über die gesamte Medienlandschaft hinweg identifizieren können. Der Hörner- helm etwa, freilich sofort als Klischee und „unhistorisch“ erkennbar, verweist noch heute, ins- besondere in Medien für Kinder und in Parodien, einwandfrei auf den Themenkomplex „Wi- kinger“. Durch eben jene Marker finden Rezipienten einen möglichst niedrigschwelligen Zu- gang zu neuen medialen Erzählwelten (vgl. Enseleit 2017, S. 91-98).

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Auch wenn in ›Valhalla‹ die Architektur Asgards weniger futuristisch ist, führt dort wie im Comic-Blockbuster ›Thor: Tag der Entscheidung‹ (USA 2017; Regie: Taika Waititi) die Regenbogenbrücke Bifröst über den beginnenden Ozean zu einem zentra- len Hochbau – eine Darstellungsart mit langer Tradition. Die zahlreichen Unterschiede in der Darstellung werden so in ein be- kanntes Landschaftssetting gebettet (Bildnachweis: © Ubisoft).

Zentrale Identifikationsfigur im Videospiel ist gemeinhin der Avatar, die Heldenfigur (oder eine entsprechende Figurengruppe, wie wir es auch aus den Medien Spielfilm, Serie oder Ro- man kennen). Sie ist Dreh- und Angelpunkt der Erzählhandlung und führt die Rezipienten in und durch die Spielwelt. Bei ›Valhalla‹ übernimmt diese Rolle der Wikinger (wahlweise die Wikingerin) Eivor, die wir nach einiger Zeit im Spiel in einem erst zu errichtenden Frisier- und Tätowierungsgebäude auch unseren optischen Wünschen gemäß anpassen dürfen – mit be- zeichnenden Möglichkeiten, die zwar ebenso der Klischeekiste entspringen wie gerade genann- ter Hörnerhelm, aber aktuell von Rezipienten nicht in diese eingeordnet werden.

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Mit nur wenigen Klicks lässt sich Spielfigur Eivor verschiedenen Figuren aus ›Vikings‹ im Hinblick auf Haartracht und Körper- tattoos nachempfinden. Abseits der Frage, wie „authentisch“ solche Frisuren und Verzierungen waren, lässt sich der Avatar so gestalten wie Rezipienten es aus der wirkmächtigsten Wikingerinszenierung der letzten zwanzig Jahre gewohnt sind – ganz gleich, ob einem Undercut oder Zottelbart gefälliger sind (Bildnachweis: © Ubisoft / History Channel).

›Assassin’s Creed: Valhalla‹ erfindet im intermedialen Vergleich das Rad freilich nicht neu. Zahlreiche Orientierungshilfen innerhalb der Spielwelt kennen wir aus anderen Vertretern des Mediums, Serien oder Spielfilmen. Das betrifft beispielsweise die Möglichkeit zur Unterschei- dung von Figurengruppen durch die Zuweisung eindeutiger Kleidung, Heraldik oder Waffen. ›Valhalla‹ funktioniert hier genauso wie seine Serienpendants. Während wie in den Serien ›Vikings‹ oder ›The Last Kingdom‹ Wikinger im kämpferi- schen Kontext direkt durch ihre auffällige Haar- und Barttracht und den Verzicht auf Helme identifizierbar sind, sind ihre Widersacher gleich durch einen gegenteiligen Kleidungs- und Bewaffnungsstil erkennbar (vgl. Enseleit 2020b). Auch die Farbgebung spielt hier eine nicht unwesentliche Rolle; tragen die Wikinger aus Eivors Rabenclan und ihre Verbündeten unisono ein modisches Meerblau und zeichnen sich die Wikinger Harald Schönhaars durch grüne Trach- ten aus, so kleiden sich die angelsächsischen Soldaten neutraler in erdende Töne. Auch die Landschaftsgestaltung hilft, sich auf den ersten Blick zurecht zu finden. Topo- grafie spielt in diesem Kontext genauso eine Rolle wie die Kategorien Klima und Wetter (nicht zuletzt deshalb findet im nächsten Jahr der ›International Medieval Congress‹ in Leeds zum Thema „Climate“ statt). Die schnee- und eisbedeckte Fjordlandschaft Norwegens kann sich kaum deutlicher von der „grünen“ Insel England abheben, deren einzelne Regionen wiederum individuell gestaltet sind. So ist beispielsweise East-Engla (die Bezeichnung in der deutschen Synchronisation für Ostanglien, die durch die leicht abgeänderte Schreibweise sogleich Au- thentizität erzeugen soll) geprägt von verheerten und menschenleeren Landstrichen, die von Ruinen bedeckt und von wilden Wölfen bewohnt sind.

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Selbst während Belagerungsschlachten verzichten „unsere“ Wikinger auf einen angemessenen Kopfschutz. Eivors Helm ist standardmäßig „blindgeschaltet“, kann nach Belieben aber angezeigt werden. Für Spieler und Spielerinnen, die Wert daraufle- gen, nervig: Das muss mit jedem Neustart des Spiels abermals gemacht, was klickfaule Rezipienten eher mit einem „helmlosen“ Eivor spielen lässt (Bildnachweis: © Ubisoft).

Die angelsächsischen Soldaten hingegen sind durch ihre Helme zu erkennen, wohingegen ihre Anführer wie im Spielfilm und Serie zwecks einfacher Identifizierbarkeit auf eben jenen auch verzichten können. Tatsächlich hilft diese klare Gruppenzuord- nung durch Kleidung, Farben und Helme, sich im hektischen Kampfgetümmel besser zu orientieren und Feind und Freund aus- einanderzuhalten (Bildnachweis: © Ubisoft).

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Es ließen sich zahlreiche Details in der Inszenierung aufführen, die in anderen Medienarten grundgelegt wurden und dank intermedialer Verknüpfung nur folgerichtig auch Eingang ins Videospiel und damit auch in ›Valhalla‹ finden. Seit Jahrzehnten leben erfolgreiche Action- filme von atemberaubenden Explosionen, die nur zu gerne auch Geschichts- bzw. Mittelalter- produktionen anreichern. Werden in der eröffnenden Schlacht des Antikenspektakels ›Gladia- tor‹ (USA 2000; Regie: Ridley Scott) die Germanen mit römischen Brandbomben traktiert oder in ›Robin Hood‹ (USA 2010; Regie: Ridley Scott) das Tor der Burg Châlus-Chabrol mittels Pechbeuteln in Brand gesetzt, so wird das Frühmittelalter ›Valhallas‹ durch omnipräsente ex- plosive Vasen, die bei Kontakt durch Schwert oder Pfeil die Umgebung verheeren, ein feuriges. Insbesondere die in die Haupthandlung integrierten Belagerungen werden durch Tore und Mau- ern aufbrechende Explosionen abgekürzt. Das ist in der Rezeption kurzweilig und actionreich, blendet aber den oft zähen und durch lange Wartezeiten geprägten Belagerungsalltag komplett aus – sofern die Anlagen überhaupt befestigt waren. Durch die skizzierte intermediale Erfah- rungskette irritieren diese atemberaubenden Explosionen das Authentizitätsempfinden der meisten Rezipienten aber nicht. Doch nicht nur die optischen und erzählerischen Parallelen, die ›Valhalla‹ in die Serien- landschaft aufweist, sind frappierend. Authentizität lässt sich nämlich auch durch die Akustik erzeugen, und es ist bei allem, was wir bisher aufgezeigt haben, nicht mehr überraschend, dass sich mit dem Norweger Einar Selvik, dem ehemaligen Drummer der Black-Metal-Band ›Gor- goroth‹ und dem Gründer der Gruppe ›Wardruna‹, jemand für den Soundtrack von ›Valhalla‹ (mit)verantwortlich zeigt, der bereits als Komponist für ›Vikings‹ tätig war (vgl. Peters 2020, insbesondere S. 155, Anm. 29). Auf diese Weise werden auch Hörerfahrungen angesprochen, die durch die Serie bereits mit dem Lable des „Authentischen“ versehen sind. In der YouTube-Beschreibung des Haupt- themas äußern sich die Verantwortlichen Sarah Schachner, Jesper Kyd und bereits erwähnter Einar Selvik so10:

The theme carries the weight of protagonist Eivor’s personal conflicts and overarching journey throughout the game. What feelings were you trying to inspire and evoke with Assassin’s Creed Valhalla’s Main Theme?

Sarah Schachner: We wanted the atmosphere of the theme to instantly transport the listener to another time and place, filled with mystery and uncertainty. There are Norse instruments, but they are used in a more modern way. The theme represents Eivor’s journey, as well as the Vikings’ hope for a better life as they move further south into the Anglo-Saxon regions [of England].

10 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=bApSPN-5TxQ (Stand: 11.12.2020).

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Landschaft und Klima helfen bei der Orientierung in der Spielwelt. Inwiefern Eivors Dorf im Hinblick auf seine topographische Lage der Stadt Kattegat in ›Vikings‹ nachempfunden ist, darf jeder selbst entscheiden. England hingegen besticht durch viel Grün und antike Ruinen (Bildnachweis: © Ubisoft).

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Jesper Kyd: We wanted to evoke Eivor's journey, what drives her, and the bond she has with her family. Eivor is searching for something, and this longing to find it and resolve it is a key element reflected in the melody and mood ideas I contributed to the theme.

Einar Selvik: The hope was to make something that reflected or created an overall arc of the theme of the game. The game is set in such dramatic times, and so the emotional aspect of it is something I wanted to elevate with my contributions. Generally, I think it made a lot of sense to bring all the game´s composers together for such a central piece, allowing the song to further reflect the different expressions the players will encounter throughout the game.

Wir begegnen in ›Valhalla‹ also einem bunten Konglomerat verschiedener mittelalterspezifi- scher wie wikingerspezifischer Inszenierungsmodalitäten, die im langen Entwicklungskanal verschiedener intermedialer Darstellungsvarianten nach und nach ihre aktuelle und Authentizi- tät suggerierende Form erhalten haben. Wie diese Inszenierungsmodalitäten in ›Valhalla‹, von denen wir nun einige kennengelernt haben, zu verstehen und einzuordnen sind, möchten wir an drei Themenkomplexen noch einmal spezifisch engführen.

Genderfragen und Frauenrollen

Wenn uns die aktuellen populärkulturellen Inszenierungen der Wikingerzeit eines zeigen, dann, dass die Wikingerfrau eine hochgradig emanzipierte Position in ihrer Gesellschaft eingenom- men hat. Auf Augenhöhe mit den Männern standen ihnen grundsätzlich dieselben Betätigungs- felder offen: Krieg, Handwerk, Handel und Herrschaft. Die Figur der Schildmaid mag der au- genscheinlichste Ausdruck dieses modernen Vorstellungskomplexes sein. ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ bricht mit dieser Rezipientenerwartung nicht. Im Gegenteil: Nach dem erzählerischen Intro haben Spieler und Spielerinnen die Möglichkeit, als männlicher oder weiblicher Eivor zu spielen. Auswirkungen auf die Erzählung hat diese Entscheidung nicht. Ob Eivor ein Mann oder eine Frau ist, ist abseits der Figurendarstellung völlig belanglos. Selbst während des Spiels lässt sich die eingangs getroffene Entscheidung beliebig oft revidie- ren. Mit einem männlichen Eivor begonnen, lässt sich das Spiel durch wenige Klicks mit einer weiblichen Eivor fortführen. Geschlecht wird auf diese Weise zur optischen austauschbaren Schablone. Dadurch verhält sich ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ in diesem Aspekt ein wenig anders als seine Vorgängerteile. Änderte sich im Vorgänger ›Odyssee‹ durch die Wahl des Geschlechts die Erzählung immerhin insofern, als auch das Geschlecht des Antagonisten von dieser Wahl

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Das Mittelalter im Videospiel: ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ (Tobias Enseleit / Tobias Schade) abhängig war (Held und Gegenheld werden durch ein Zwillingspaar unterschiedlichen Ge- schlechts dargestellt), kannten die ersten Teilen der Serie nur männliche Protagonisten. Nach Vorwürfen wegen Sexismus, der im Unternehmen Ubisoft geherrscht habe und auch Auswir- kungen auf die Frauenfiguren in nachfolgenden Teilen der Serie gezeitigt haben soll, entschie- den sich die Verantwortlichen von ›Valhalla‹ allem Anschein nach dafür, durch inhaltliche Gleichsetzung von Mann und Frau möglichst reibungslos das Politikum Gender zu umschiffen.11 Die Möglichkeit zur Geschlechtswahl erweitert einerseits den potenziellen Spielerkreis und bedient dabei andererseits die verbreitete Erwartungshaltung, dass Wikingerfrauen „ihren Mann standen“. Inwiefern die beliebige Austauschbarkeit von Mann und Frau unter Genderge- sichtspunkten auch nur einem der Geschlechter gerecht wird, mag jeder für sich beantworten.12 Großes erzählerisches Potenzial, dem Rollenverständnis von Mann und Frau und ihren qua Ge- schlecht gegebenen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung in den dargestellten Gesellschaf- ten des Frühmittelalters nachzugehen, bleibt jedoch ungenutzt.

Selbst bei Festen tragen Wikingerinnen – hier Eivors Mutter, die auf diese Weise direkt als Kämpferin eingeführt wird – Ketten- hemd. Dies irritiert im Medium Videospiel nicht, zumal Helden in Rollenspielen auch meist in voller Kriegsmontur zu Bett ge- hen (Bildnachweis: © Ubisoft).

Wenn die Frauen der Wikinger tatsächlich so viel gleichberechtigter gewesen sind als ihre an- gelsächsischen oder fränkischen Pendants, hätte dann eine Frau als kriegerische Anführerin ei- nes Wikingerclans bei Angelsachsen nicht große Irritationen auslösen müssen? Irritationen, die wunderbar hätten inszeniert und in Spielhandlung übersetzt werden können – unabhängig von der Frage, wie „authentisch“ dieser Grad an Emanzipation wirklich gewesen war. Das ist bei

11 Vgl. etwa https://www.gamestar.de/artikel/assassins-creed-sexismus,3360069.html (Stand: 10.12.2020). 12 Vgl. Cheauré / Paletschek / Reusch 2013; Sveningsson 2012; Zaremba 2012.

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›Assassin’s Creed: Valhalla‹ – wie übrigens in den Serieninszenierungen der letzten Jahre – nicht geschehen. Ein Grund dafür mag im konzeptionellen und entwicklungstechnischen Aufwand lie- gen, das Spiel aus dem Blickwinkel einer Wikingerfrau – jedenfalls zum Teil – umzuschreiben. Ein anderer Grund ist, dass sich auch die Angelsächsinnen im Spiel in diesem Gesichts- punkt nicht von den Skandinavierinnen unterscheiden. In der Spielhandlung wird jedenfalls nicht die Schere zwischen dem angelsächsischen Mütterchen am Herd und der axtschwingen- den Kriegeramazone aus Norwegen aufgemacht. Frauen unterscheiden sich im Frühmittelalter von ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ nicht grundlegend von den Männern, obgleich die meisten Herrscherfiguren männlich sind und die kriegerische Seite der Skandinavierinnen insbeson- dere durch die im Spiel inszenierten Plünderungen eigens unterstrichen wird. Bezeichnender Weise finden wir auf angelsächsischer Seite ein recht groteskes Pendant zur Wikingerkriege- rin: die Nonne. Mehrmals im Spiel begegnen uns Nonnen, die alles andere als zimperlich sind: In einer Kirchenruine tötet eine Schwester mit eigenen Händen Heiden und opfert sie am nahestehenden Altar – freilich stirbt sie beim Versuch, auch den Helden / die Heldin zu ermorden. Eine Äbtis- sin und ihre Nonnen schrecken nicht davor zurück, eine Gruppe schwerbewaffneter Räuber anzugreifen, die zuvor den Äbtissinnenstab entwendet haben. Eivor, mit dessen / deren Hilfe die Halunken erfolgreich überwunden werden, gibt sich vom Kampfgeist der Geistlichen schwer beeindruckt. Diese Inszenierungen sind umso bemerkenswerter, als die Männer im mo- nastischen Kontext jede Art von fortitudo missen lassen. Oft übergewichtig, fliehen sie krei- schend und mit erhobenen Armen, sobald die Wikinger in Erscheinung treten. Geschlechterrollen tangieren auf diese Weise auch den Bereich des Religiösen, ohne dass das Dargestellte in irgendeiner Form anderweitig kontextualisiert würde. Eine Inkluse, die be- reits seit mehreren Jahren unter einer Kirche lebt, überzeugt Eivor mit zwei Sätzen (sofern der notwendige Charisma-Wert vorhanden ist) davon, dass ihr geistlicher Lebensweg Unsinn ist. Hier werden (weibliche) geistliche Lebenskonzepte kontextlos bis in die Skurrilität getrieben, ohne dass die didaktischen und inszenatorischen Möglichkeiten von Alterität, welche die Be- schäftigung mit mittelalterlicher Geschichte bietet, genutzt würden.

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„Starke“ Frauengestalten begegnen uns in ›Valhalla‹ permanent, sei es als einfache Kriegerinnen oder respekteinflößende An- führerinnen, wie hier im Bild bei der Versorgung von Kriegsverwundeten. Problematisiert oder kontextualisiert wird dies jedoch an keiner Stelle im Spiel (Bildnachweis: © Ubisoft).

Generell irritiert die Darstellung von Religion und Gesellschaft auf einigen Ebenen. Die grund- legende Schere zwischen Heiden- und Christentum wird zwar auf-, aber nie fruchtbar gemacht. Zu einem guten Teil ist dies dem „mythischen“ Hintergrund Eivors geschuldet, der eine inhalt- liche Annäherung an den christlichen Glauben per se ausschließt. Spannend wäre die Möglich- keit eines Glaubenswechsels mit der Darstellung des entsprechend religiös-liturgischen Kon- texts und möglichen erzählerischen Konsequenzen allemal gewesen – etwa dadurch, dass eine conversio bei der Verbündetengewinnung Eivor in angelsächsischen Kreisen ein ganz anderes Standing gegeben hätte. So bleibt der Bereich des Religiösen zum großen Teil reine Kulisse, die in regelmäßigen Abständen aufgebrochen wird, in historischer Perspektive aber meist irri- tiert. So beobachten wir nach unserer Ankunft in England im Vorbeifahren vom Schiff aus wie im Fluss eine Taufe genommen wird, während die Hochzeit des Angelsachsen Oswald, den wir im Spiel zur Krone Ostangliens verhelfen, mit einer Dänin zwar in einer christlichen Kirche stattfindet; die Trauung wird dann aber von einem bärbeißigen Wikinger durchgeführt, während der „liturgische“ Rahmen der Zeremonie darin besteht, dass sich die Frischvermählten mit Tier- blut gegenseitig durch das Gesicht malen. Auch der profane Bereich weist in den Nebenquests, den sog. „Weltereignissen“, einige Skurrilitäten auf: Dort Angelsachsen und Dänen, die an einem lauschigen See einen Freikör- perkult begründen und sich der freien Liebe hingeben, hier immer wieder Minierzählungen, die Blähungen und Körpergestank zum Gegenstand machen. Ob in diesen Darstellungen der au-

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Das Mittelalter im Videospiel: ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ (Tobias Enseleit / Tobias Schade) genzwinkernde Schulterschluss zwischen dem Menschen des Frühmittelalters und dem der Mo- derne hergestellt oder die Epoche klischeegemäß als möglichst infantil dargestellt werden soll, ist wohl eine Frage der Lesart. Mit Blick auf die Wikingerfrauen steht indes auf einem ganz anderen Blatt, ob die „ech- ten“ Frauen der Wikinger seinerzeit tatsächlich so große Freiheit genossen haben wie es uns ihre populärkulturellen Pendants vormachen. Emanzipierte Wikingerinnen bieten in Film, Se- rie, Roman und anderenorts selbstverständlich ein großes Identifikationspotenzial für ein mo- dernes weibliches Publikum. Unter archäologischen Gesichtspunkten werden zurzeit (einige) Frauenbestattungen diskutiert, in denen Waffen beigegeben wurden – mit einiger Breitenwir- kung.13 Handelte es sich bei diesen Frauen um Kriegerinnen – oder nicht? Mit Blick auf die historiographische Überlieferung gibt es indes wenig Grund zur Annahme, dass sich die Frauen der Wikinger derart auf Augenhöhe mit ihren Männern befunden haben, wie dies aktuell in populärkulturellen Medien der Fall ist. Dass ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ nicht mit der Vorstellung von emanzipierten Wikinge- rinnen bricht, ist verständlich und auch der Erwartungshaltung der Rezipienten geschuldet, die durch ›Vikings‹ und ›The Last Kingdom‹ (und anderen mehr) „gelernt“ haben, dass Wikinge- rinnen auch hauptberuflich Kriegerinnen sein konnten – die Figur der Lagertha gehört nicht grundlos zu den beliebtesten Charakteren in ›Vikings‹, deren Konzept in Serien wie ›Norse- men‹ augenzwinkernd persifliert werden kann. Jüngst hat auch Aurelia Brandenburg ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ unter der Frage nach der Inszenierung von Männlichkeit untersucht und ist dabei zu Ergebnissen kommen, die sich mit den hier gemachten decken (vgl. Brandenburg 2020). Solch gender-zentrierten Betrachtun- gen bieten sich für ein vertieftes Verständnis von populärkulturellen Medien und ihrer Wirkung an, gelangen aber immer dann an ihre Grenzen, wenn sie die historische Perspektive des Ge- genstandes nicht erfassen. Ein intensives Augenmerk legt Brandenburg auf die Quest-Reihe um den jungen Oswald, der im Spielverlauf und mit Hilfe von Eivor König von Ostanglien wird (s.o.). Sie streicht dabei richtig heraus, dass Oswald erst das Erlernen und dann das Ausüben von Gewaltanwendung zur Herrschaft qualifiziert. Ihre Ableitung, dass auf diese Weise das Spiel gegensätzlich verschiedene Typen von Männlichkeit inszeniert (hier die „diplomatischen“ Sachsen, dort die „gewalttätigen“ Wikinger) greift zwar für diesen Teil des Spiels, aufs Ganze gesehen aber zu kurz, nicht zuletzt deshalb, weil auch die Sachsen zahlreiche Figuren in ihren

13 Vgl. etwa https://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/schweden-wikinger-krieger-von-birka-war-eine- frau-a-1166985.html (Stand: 11.12.2020).

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Reihen haben, die sich über Gewalt konturieren. Dabei greift auch die historische Perspektive zu kurz (obwohl ihr Beitragstitel anderes suggeriert). Brandenburg schließt mit dem Fazit, das implizit auch als Kritik verstanden werden soll, im Spiel werden „Konzepte von heterosexueller cis-Männlichkeit aneinander gemessen […] und – wie für digitale Spiele typisch – aktives und kämpfendes Heldentum zum Ideal stilisiert“; sie verliert in diesem Kontext aber kein Wort darüber, dass für die Durchsetzung von Herrschaft insbesondere im Frühmittelalter Gewaltanwendung und die Inszenierung von Männlichkeit vonnöten und gefordert waren (vgl. etwa Bredekamp 2014; Prietzel 2017). Das Fehlen alterna- tiver Männlichkeitskonzepte kann daher aus einer modernen Perspektive heraus beanstandet werden. Im Hinblick auf die Frage nach dem Grad von Authentizität des Dargestellten sind die Entwickler aber in diesem Punkt nah am historischen Gegenstand, wie er sich in den Schrift- quellen widerspiegelt (auch wenn diese nicht zwingend eine „historische Realität“ abbilden müssen) – ganz losgelöst von der Frage, ob dies „aus Versehen“ (weil auch andere populärkul- turelle Inszenierungen Wikinger als gewalttätig darstellen) oder mit Authentizitätsanspruch (da angelsächsische Herrscher auch Gewaltakteure waren, von denen viele eines gewaltsamen To- des gestorben sind) geschehen ist. Für eine fundierte Einschätzung populärkultureller Ge- schichtsinszenierungen sollte auch bei gender-zentrierten Fragestellungen der historische Gegen- stand berücksichtigt werden, sofern die Bewertung von historischer Authentizität eine Rolle spie- len soll. Zu Authentizitätsfragen (in diesem Fall spricht das eher gegen eine „realistische“ Abbil- dung von Historie) hat sich der auf der offiziellen Webseite von Ubisoft Thierry Noël geäußert, der dort als Historiker geführt wird und als ideengebender Content Advisor in der Editorial Research Unit tätig war:14

14 Vgl. https://www.ubisoft.com/de-de/game/assassins-creed/valhalla/news-updates/3MqVugCVVB0cL- ydXLn3Xy3/assassins-creed-valhalla-die-geschichte-hinter-der-legende-der-wikinger(Stand: 10.12.2020).

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Auf diese Weise in einem Kontext legimitiert, der die historischen Hintergründe hinter dem Spiel zu erklären verspricht, finden Wikingerinnen im Spagat zwischen – jedenfalls marketing- technisch postulierter – „historischer Authentizität“ und zu erfüllender Rezipientenerwartung ihren Platz in ›Assassin’s Creed: Valhalla‹. „Historisch“ ist diese Inszenierung jedenfalls nur im Hinblick auf die Medientradition, wodurch ihr aber mit einem Streich Zweierlei gelingt: die Rezipienten in ihren Seh- und Konsumgewohnheiten nicht zu irritieren und die gesellschaftli- chen Debatten um die Rolle von Frauen, die gerne auch an historische Gegenstände herange- tragen werden, nicht herauszufordern.

Schriftlichkeit und Oralität

Das Mittelalter unterscheidet sich in zahlreichen Aspekten von unserer heutigen Zeit, insbeson- dere im Grad der Literarizität der Menschen. Während wir heute in einer auf Schriftlichkeit basierenden Gesellschaft leben, war im Mittelalter – verallgemeinernd gesprochen – der Zu- gang zu eben jener für lange Zeit nur einer kleinen Bildungselite vorbehalten, die – jedenfalls im Frühmittelalter – vornehmlich aus Geistlichen bestanden hat. Die Quellenlage ist in dieser Hinsicht dünn genug, aber sicher ist die Annahme nicht falsch, dass bis ins Spätmittelalter hinein selbst der Adel zum großen Teil illiterat war, also weder schreiben noch lesen konnte (vgl. etwa Grundmann 1978).

Bereits in den ersten Spielminuten erleben wir Eivors Kammer als vollgestopft mit Schriftrollen, die sogar auf dem Fußboden gelagert werden. Wirklich wertvoll können sie damit implizit nicht sein. Aber auch die anderen Haushalte in Norwegen sind alles andere als schriftlos – erstaunlich für eine Region und eine Zeit, aus denen schriftlich nichts überliefert ist (© Bildnachweis: Ubisoft).

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Kommunikation und Informationsaustausch fußten damit auf völlig anderen Grundlagen, und insbesondere der Zeitraum, den wir als Wikingerzeit bezeichnen, stellt insofern „finsterstes“ Mittelalter dar, als Quellen es nur spärlich erhellen – die Skandinavier selbst haben in diesem Zeitraum vom 8. bis 11. Jahrhundert abseits von Runenritzungen keine Schriftquellen hinter- lassen. Ganz anders verhält es sich in ›Assassin’s Creed: Valhalla‹. Denn sowohl die angelsächsische als auch die norwegische Bevölkerung pflegt einen völ- lig alltäglichen Umgang mit Schriftlichkeit. In einfachen Bauernkaten findet Eivor Tagebücher, in denen Bauern von ihren Erlebnissen berichten. Briefe geben vielerorts Einblicke in jüngere Vergangenheit anderer Spielfiguren. Schriftrollen stapeln sich unbeaufsichtigt Wände empor. Illiterarität wird wie im Übrigen Mehrsprachigkeit im Spiel an keiner Stelle thematisiert. Für jede Figur scheint das Schreiben und Lesen selbstverständlich zu sein. Während viele historische Mittelalterromane die Lesefähigkeit der Protagonisten als et- was Außergewöhnliches (wodurch diese gleichzeitig mehr Identifizierungspotenzial für die Le- ser bieten) inszenieren oder Spielfilme wie Richard Thorpes ›Ivanhoe‹ (USA 1952) die Lese- unfähigkeit des Helden explizit herausstreichen, so wird dem Thema in ›Valhalla‹ keine Be- deutung zugemessen. Das paradoxe Resultat: Die Omnipräsenz von Schrift und Schriftstücken steigert das Authentizitätsempfinden der Rezipienten.

Selbst Fahndungsschreiben werden in der norwegischen Wildnis achtlos mit Messern an Bäumen befestigt. Dass das Schreiben die Optik einer mittelalterlichen Handschrift imitiert, steigert die gefühlte Authentizität stärker als sein Vorhandensein sie schwächt (Bildnachweis: © Ubisoft).

Denn die Rezipienten sind in aller Regel viel weniger mit dem Umstand, dass die frühmittelal- terlichen Gesellschaften vornehmlich orale Gefüge waren, vertraut als mit dem Umgang mit anderen Videospielen im Allgemeinen und Rollenspielen im Speziellen. Denn in den meisten

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Genrevertretern, die zu einem guten Teil aus dem Fantasybereich stammen, ist eine omniprä- sente Schriftlichkeit gang und gäbe: Zauberbücher, Spruchrollen, Briefe und Codices unter- streichen dort viel mehr das Gefühl von Mittelalterlichkeit als es zu torpedieren. Zwar sind in Fantasywelten angesiedelte Vertreter freier in ihrer Ausgestaltung und haben es ggf. leichter, Rezipienten von ihrer inneren Stringenz zu überzeugen – der Zugkraft dieser Jahrzehnte alten medieninhärenten Gestaltungstradition können sich dann aber auch „histori- sche“ Vertreter kaum entziehen, zumal etablierte Spielmechaniken wie das Journal / Tagebuch oder die Worldmap grundlegend im Medium der Schriftlichkeit verortet sind. Aus diesem Umstand heraus fühlen sich Spieler und Spielerinnen von ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ trotz oder gerade wegen Schriftlichkeit gleich zu Hause. Das schriftliche Questlog gibt wie gewohnt Auskunft über den Stand der derzeitigen Aufgaben im Spiel, die per Knopf- druck aufrufbare Karte ermöglicht eine mühelose Orientierung in der riesigen Spielwelt, Briefe und Tagebücher, auch wenn sie von Bauern geschrieben sind, geben kleine Hintergrundinfos, welche eine inhaltliche Tiefe vermitteln und die Spielwelt als „echt“ empfinden lassen. Auf diese Weise erreicht ›Valhalla‹, obwohl es den Aspekt der Schriftlichkeit in histori- scher Perspektive auf die denkbar „falscheste“ Art abbildet, einen hohen Grad an Immersion, der sich aus der (oft jahrelangen) Spielerfahrung der Rezipienten speist. Die Alternative würde spielmechanisch (jedenfalls für „casual“-Gamer) eine Katastrophe bedeuten: Ohne Weltkarte müsste die Orientierung in der Landschaft über völlig andere Parameter funktionieren mit ent- sprechenden Konsequenzen für ein gelungenes Leveldesign, ohne Tagebucheinträge bräuchten Spieler und Spielerinnen entweder ein lückenloses Gedächtnis oder müssten es analog parallel zur Spielhandlung selbst anlegen – Spieleveteranen werden sich erinnern, dass es solche Zeiten tatsächlich in der Frühphase des Mediums schon einmal gab.

Die virtuelle Welt – ein Abbild der materiellen Welt?

In ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ beginnt das Spiel (nach dem Intro) im Jahr 872 n. Chr. in einer norwegischen Kleinregion – in Rygjafylke (dem heute norwegischen Rogaland). Dort muss Eivor, wahlweise männlicher oder weiblicher Held des Spiels, den Ort Avaldsnes aufsuchen, um ihre / seine Crew aus der Gefangenschaft des Erstlingsantagonisten Kjotve zu befreien.15

15 Eivor selbst soll zu Beginn in die Sklaverei verkauft werden; ihre /seine Crew darf hingegen, laut einem Schreiben von Kjotve an Rikiwulf, im Rahmen einer Kulthandlung („blood-sacrifice“) geopfert werden. „Sklaven“ und „Menschenopfer“ sind kontrovers diskutierte Themen: Zwar sind beide Aspekte aus schrift- lichen Quellen bekannt, jedoch gestaltet sich der archäologische Nachweis grundsätzlich schwierig.

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Neben der Weltkarte als Spielmechanik wird die Handlung in ›Valhalla‹ über eine strategische Planungskarte vorangetrieben, auf der Spieler und Spielerinnen entscheiden können, welches angelsächsische Königreich sie als nächstes heimsuchen möchten. Auch hier stehen die Medientradition und Zugänglichkeit im Fokus, während „Authentizität“ in diesem Fall keinerlei Rolle spielt (Bildnachweis: © Ubisoft).

Selbst im strömenden Regen bleiben Schriftträger (wie übrigens auch Schuppenpanzer) achtlos im Schlamm und Dreck liegen. Die Comicskizze im Hintergrund, die den bahnbrechenden Schlachtplan illustriert, eine Festung gleichzeitig von zwei Seiten anzugreifen, zeigt, welche Funktion Schriftlichkeit im Spiel einnimmt. Das Authentizitätsempfinden der meisten Rezipienten wird auf diese Weise wahrscheinlich nicht tangiert. (Bildnachweis: © Ubisoft).

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Das historische Avaldsnes stellte einen besonderen Platz dar, der insbesondere in der altnordi- schen Literatur erwähnt wird, archäologisch aber erst in jüngerer Zeit mehr Beachtung findet.16 Bekannt sind die dort errichteten Grabhügel, in denen Bestattungen nachzuweisen waren, die teilweise in die Bronzezeit, teilweise in die Eisenzeit und die Wikingerzeit datieren. Hier wird aber auch ein royal manor vermutet, der Nachweis einer wikingerzeitlichen Elite fußt v.a. aber auf literarischen Überlieferungen.17 Für die im Spiel relevante Zeitspanne (Site Period IV: c. AD 600-900) fehlen klare Haus- befunde, mutmaßlich wurde aber eine für ältere Zeiten nachgewiesene Hofstelle weitergenutzt (vgl. Østmo /Bauer 2018, S. 92-94). Denn aus den Perioden davor (SP III) sowie danach (SP V) sind Gebäude archäologisch bekannt: etwa Bootshäuser, ein Langhaus und eine mögliche Halle (vgl. Østmo /Bauer 2018b, S. 133-135). An diesem Platz manifestierte sich vermutlich eine „Elite“. Dieser gehörte u.a. der norwegische König Harald Schönhaar (Haraldr hárfagri) an, der den zeitlich späteren Sagas zufolge in Avaldsnes residiert haben soll (vgl. Mundal 2018, S. 37). Auch in ›Valhalla‹ spielt Harald Schönhaar eine Rolle: Er tritt als König auf, der norwegische Gebiete unter seiner Vorherrschaft einen möchte. Die fiktionalisierten Ereignisse um den his- torischen König Harald Schönhaar nehmen im Spiel die tatsächlichen Zentralisierungsprozesse späterer Zeiten vorweg, motivieren aber die Spielhandlung. Unter diesen Vorzeichen einer „Reichseinigung“ wenden sich Eivor und sein / ihr Stief- bruder Sigurd gemeinsam mit Gefährten und Gefährtinnen von ihrer Heimat in Norwegen ab und segeln Richtung England. Hintergrund ist ein Streit zwischen Sigurd und seinem Vater, Styrbjorn, einem lokalen Herrscher, der sich König Harald unterordnen möchte: die Zeit des Kampfes sei vorbei, meint Sigurds Vater, Friede sei nötig. Der junge Sigurd, der sich um sein Erbe und sein Geburtsrecht als König betrogen sieht, erhofft sich daher eine Zukunft in Eng- land: Er möchte sich sein eigenes Reich erobern. Die anfängliche Zeit in Norwegen dient im Spiel also als Prolog vor dem Aufbruch nach England, wobei die Auslöser für eben jene Aben- teuerfahrt auf Autonomiebestrebungen und Ruhmsucht enggeführt werden. Trotzdem ist die Region Rygjafylke als Landschaft, sowohl naturräumlich als auch kul- turell, detailliert dargestellt. In dieser virtuellen Welt kann Eivor agieren und auch mit dieser interagieren: Tiere können gejagt und erlegt sowie Felsen erklettert werden, ebenso kann Eivor auch in einige (aber nicht alle) Häuser eintreten sowie auf diese klettern und von Dach zu Dach

16 Vgl. Skre 2018, S. V; abgesehen von Grabhügeln, die schon im 18. und 19. Jahrhundert untersucht wurden, vgl. dazu Østmo / Bauer 2018c, hier S. 229. 17 Zu den Forschungen in Avaldsnes vgl. Skre 2018 sowie Skre 2018b.

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Das Mittelalter im Videospiel: ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ (Tobias Enseleit / Tobias Schade) springen. Die Fortbewegung durch diese Welt, etwa durch Wasser und Schnee, zeitigt akusti- sche und visuelle Effekte und ebenso erzeugen Tag-Nacht-Wechsel sowie Polarlichter eine vi- suell eindrückliche und realistisch anmutende Atmosphäre. Aus archäologischer Perspektive sticht insbesondere die (digitalisierte) materielle Kultur ins Auge: Diese umfasst sowohl Werkzeuge und Bewaffnung, Fibelschmuck, Kleidung und Körperschmuck der Menschen als auch verschiedene Gebäude, Zäune, Palisaden, Hafenstruk- turen, Wege und Schiffe sowie zumindest einen Runenstein. Die hier virtuell dargestellte ma- terielle Kultur zeichnet sich stellenweise als äußert detailreich aus und trägt auf diese Weise ebenfalls zu der visuell dichten Atmosphäre bei. Daneben sind im virtuellen Skandinavien auch Alltagssituationen zu beobachten: Men- schen gehen ihren Tätigkeiten nach und sprechen miteinander. Durch die Sprache, d. h. Akzente und Dialekte der Menschen sowie auch durch andere Geräusche aus der Umwelt, die auch durch Mensch-Umwelt-Interaktionen erzeugt werden, sind auch akustische Sinne angesprochen. Aber wie „echt“ oder „realistisch“ kann die virtuelle Wiedergabe einer vergangenen Welt sein? Aus archäologischer Perspektive mag dies durch eine Digitalisierung möglich scheinen, die dicht am materiellen Original bleibt, d.h. am Museumsexponat oder am archäologischen Fund bzw. Befund. Dies ist jedoch nicht so einfach, wie folgende Grundprobleme verdeutlichen:

1. Unterliegt die Archäologie bestimmten Überlieferungslogiken: Nicht alle Dinge, die in histo- rischer Zeit genutzt wurden, sind heute überliefert. Nicht alles wurde seinerzeit verloren, in Ab- fallgruben entsorgt, in Bestattungen beigegeben oder im Boden deponiert – eventuell wurden Dinge auch konsumiert, zerstört, ungenutzt oder vererbt. Und die Dinge, die aber dem Alltag entzogen wurden und in den Boden gelangten, waren dort diversen Zersetzungsprozessen ausge- setzt – so vergeht Holz je nach Boden und Klima, und oft bleiben nur Bodenverfärbungen zurück. Schlussendlich müssen diese so überlieferten Funde aber auch entdeckt, erkannt und geborgen werden, bevor sie bekannt werden.

2. Verweist der archäologische Befund auf den Endzustand eines Prozesses: etwa die verlassene Siedlung oder das angelegte Grab. Die damit einhergehenden Dynamiken müssen interpretiert werden: So sind in der Siedlung mitunter zeitliche und räumliche Entwicklungen zu erkennen, und auch der Anlage des Grabes ging ein Bestattungsvorgang voraus.

3. Kann immer nur eine Annäherung an eine „historische Realität“ erfolgen; wie es wirklich war, ist nie zu erschließen. Denn einerseits fehlen überlieferungsbedingt Daten, andererseits bleiben uns die Gefühlswelten und die Gedanken der damaligen Menschen fremd.

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4. Finden auf Basis materieller Vorlagen Rekonstruktionsversuche statt; Rekonstruktionen, die oft auf Basis von Bodenverfärbungen oder der Kombination verschiedener Quellengruppen durchgeführt werden und die selbstverständlich Interpretationsversuche darstellen. Rekonstrukti- onen entstehen nicht nur aus archäologischen Daten, sondern werden um historische Daten, his- torische Analogien, fiktive Elemente und Plausibilitäten bzw. moderne Erfahrungswerte ergänzt. Hier spielen selbstverständlich auch Geschichtsbilder hinein – und ihrerseits können diese so „konstruierten“ Abbilder aufgrund ihrer visuellen Wirkmacht auch auf archäologische Deutungen rückwirken und Interpretationen von Befunden gegebenenfalls beeinflussen.

Auch in ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ sind solche Rekonstruktionen, Rekombinationen, Histori- sierungen und Interpretationen zu erkennen. Nachfolgend stehen beispielhaft zwar nur im Spiel dargestellte Gebäude, Schiffe sowie Arbeitsweisen im Fokus der Betrachtung, aber auch bezüg- lich anderer Elemente sind Abgleiche mit dem archäologischen Material grundsätzlich möglich.18 Das genau Aussehen der wikingerzeitlichen Siedlungen ist zum Beispiel ungewiss. Avaldsnes stellt zwar einen archäologisch und historisch bekannten Platz dar, jedoch fehlen für die Zeit, in der das Spielgeschehen stattfindet, Daten. Scheinbar orientieren sich die Häuser im virtuellen Avaldsnes an den modern rekonstruierten Häusern der Wikingerzeit, die heute im ›Vikinggard‹ nahe Avaldsnes stehen19 – dort finden sich ein Langhaus, ein Bootshaus, ein Rundhaus und auch Grubenhäuser, von denen einige, zumindest auf Basis visueller Eindrücke, als Vorlage für die Darstellungen im Spiel gedient haben könnten. Diese heute rekonstruierten Häuser sollen Vorbildern der Wikingerzeit um 900 n. Chr. entstammen. Die räumliche Verortung der virtuellen Orte Avaldsnes und Stavanger zueinander ent- spricht nicht der räumlichen Lage der beiden historisch bzw. archäologisch bekannten Orte. Raum- und Zeitkonzepte entsprechen also nicht der Realität, sofern es sich bei den beiden Orten im virtuellen Rygjafylke nicht um komplett fiktive Orte handeln sollte – im Videospiel durch- aus nichts Unübliches, sind „realistische“ Distanzen im Medium weder akkurat abzubilden noch spielmechanisch sinnvoll. Das historische Stavanger, immerhin eine der ältesten Städte Norwegens, war zu der Zeit, in der ›Valhalla‹ spielt, sicherlich nicht so „urban“ geprägt wie das Spiel suggeriert. Womöglich existierte hier u.a. im 10. Jahrhundert ein „sentralgård“ mit

18 Dies betrifft etwa die Darstellung archäologisch bekannter Fibeltypen (Schalenfibeln, Scheibenfibeln usw.), teils aber mit historisierter bzw. anachronistischer Fibelzier, aber auch Abweichungen in der Be- waffnung. So existieren etwa nur sehr wenige archäologische Nachweise von Kettenhemdresten und Hel- men aus der Wikingerzeit (beides etwa bekannt aus einem Grab im norwegischen Gjermundbu): Eventuell wurden Kettenhemden und (eiserne) Helme seinerzeit auch kaum genutzt oder aber sie sind so selten be- kannt, weil sie weiter- oder umgenutzt und nicht als Beigaben in Bestattungen deponiert wurden bzw. sich nicht erhalten haben. Vgl. für Informationen zu den Funden aus Gjermundbu: https://www.khm.uio.no/be- sok-oss/vikingskipshuset/vikingtid/vapen-og-gullskatter/vapen/gjermundbu.html (Stand: 10.12.2020). 19 Informationen zum rekonstruierten „Wikingerhof“ auch mit Bildern sind im Internet abzurufen: https://avaldsnes.info/en/vikinggard/ (Stand: 10.12.2020).

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Das Mittelalter im Videospiel: ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ (Tobias Enseleit / Tobias Schade) besonderer Bedeutung. Aber erst zeitlich später wurde Stavanger Stadt und Bistumssitz (vgl. Brendalsmo / Paasche 2017, S. 119-123). Und so ist auch die Darstellung eines „tempelartigen“ Gebäudes bei Stavanger anachro- nistisch. Auch wenn vorchristliche „Kultplätze“ und „Kulthäuser“ archäologisch mitunter dis- kutiert werden, gleichen das virtuell dargestellte Gebäude – und auch die Hütte der Völva – visuell den christlichen Stabkirchen, die für Norwegen (erst) seit dem 12. Jahrhundert nachge- wiesen sind.

Ein Beispiel für norwegische Stabkirchen steht in Borgund (Lærdal). Anders als im Spiel dargestellt, handelt es sich bei diesen Bauten um christliche Kirchen (Bildnachweis: © Simo Räsänen, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons).

Neben möglichen materiellen sowie visuellen Referenzen wirken auch Details der virtuellen Häuser in der Wahrnehmung: Einige der Dachschindeln scheinen unsauber gesetzt, teilweise fehlen sie, teilweise wächst Gras zwischen diesen; einzelne Hölzer sind krumm, zum Teil schei- nen Bearbeitungsspuren sichtbar. Einige Häuser wirken verfallen und von Pflanzen zugewu- chert – in einzelnen Räumen hängen Spinnenweben. In der Landschaft stehen Ruinen, und Ge- bäude werden renoviert. Dies sind alles Merkmale, die eine Alters-Anmutung sowie zeitliche Dynamiken suggerieren und dadurch „realistisch“ wirken. Da die meisten wikingerzeitlichen Bauten seinerzeit aber aus Holz errichtet wurden, sind oberirdisch keine Spuren mehr erhalten – ein archäologischer Nachweis von Hausresten ist

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Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020) Das Mittelalter im Videospiel: ›Assassin’s Creed: Valhalla‹ (Tobias Enseleit / Tobias Schade) demnach häufig einem Zufall geschuldet. Oft sind Pfostengruben oder Wandgräbchen nachzu- weisen, über die Hausgrößen, Aufbauten, Wandverläufe und Raumaufteilungen rekonstruiert werden. Wie die Wände oder Dächer etwa aussahen, kann nur aus spärlichen Funden und Glücksfällen rekonstruiert werden.20 Aufgrund der Überlieferungsbedingungen, modern über- bauter Flächen oder kleinflächig durchgeführter archäologischer Untersuchungen existieren häufig nur ausschnitthafte Siedlungspläne. Viele Vorstellungen und Darstellungen von Häusern und Siedlungen der Wikingerzeit sind daher als Interpretationsversuche zu verstehen und blei- ben in Teilen spekulativ. Macht es die Darstellung aber weniger richtig oder ihre Wirkung we- niger authentisch? Wahrscheinlich nicht: Denn solche Häuser könnte es gegeben haben, so oder so ähnlich könnten sie ausgesehen haben. Authentizität wird im Medium Videospiel zu einem guten Teil durch eine möglichst auf- wendige und akkurate Kulisse erzeugt – weswegen der terminus technicus „Kulissenauthenti- zität“ nur folgerichtig ist. Der virtuelle Nachbau historisch nachweisbarer Architektur- und Landschaftsstrukturen steht hierbei an erster Stelle. Was grundsätzlich mehr als zu begrüßen ist, wird insofern problematisch, als im Spiel selbst nicht kenntlich gemacht werden kann, wo nachweisbares Faktum aufhört und Fiktion beginnt – eine Aufschlüsselung für interessierte Kreise findet en Detail herstellerseitig aber auch in einem anderen Format nicht statt.

Das Oseberg-Schiff wurde 1904 in Norwegen entdeckt. Es war Teil einer Bestattung des 9. Jahrhunderts. Rumpfform, Steven sowie Schnitzereien sind gut zu erkennen (Bildnachweis: © Petter Ulleland, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons).

20 Hier sei etwa auf das Beispiel Haithabu in Schleswig-Holstein verwiesen, wo „niedergelegte“ Hauswände dokumentiert werden konnten – ebenso ist der Befund einer Türkonstruktion zu erwähnen; vgl. Schietzel 2014, S. 118-119 sowie S. 124-125.

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Zurück zu ›Valhalla‹: Schiffe sind im Spiel von zentraler Bedeutung; sie sind Transportmittel und werden u.a. auch bei Plünderungen in Szene gesetzt. Dabei sind sie für Spieler und Spiele- rinnen eindeutig als typische Wikingerschiffe zu identifizieren, so wie sie auch aus anderen Darstellungen der Populärkultur bekannt sind: Sie haben eine lang-schmale Form, verfügen über Ruder und Segel, an der Reling sind Schilde befestigt, und die Steven sind mit Schnitze- reien verziert, die ein „Drachenschiff“ erkennen lassen. Archäologisch sind mehrere Schiffs- funde bekannt21, zumeist ist der Rumpf vorhanden, der in der Form durchaus Parallelen mit den hier dargestellten Schiffen aufweist. Es handelt sich um in Klinkerbauweise gefertigte Schiffe mit einem flachen Kiel und hochgezogenen Steven, die gerudert und gesegelt werden konnten.22 Drachenkopf und Schwanz an den Steven, wie virtuell dargestellt, sind zwar archäologisch nicht nachgewiesen,23 jedoch finden sich Hinweise auf eine Stevenzier mit (Tier)Köpfen in Bildquellen wieder.24 Generell sind die Schiffe im Spiel sehr bunt gestaltet und mit Schnitze- reien verziert – jedoch wiederholen sich die Motive, es liegen also kaum Variationen vor. Nicht nur am Beispiel der Häuser und Schiffe, sondern auch an der Kleidung, wird sug- geriert, dass die Vergangenheit bunt und detailreich war – jedoch können solche Erkenntnisse am archäologischen Objekt überlieferungsbedingt nur im Einzelfall dokumentiert werden; un- geachtet des oben beschriebenen Umstandes, dass Kleidung und Farbigkeit auch Distinktions- merkmal und Orientierungshilfe im Spiel darstellen. Aber grundsätzlich sind Schnitzereien (auch geschnitzte Tierköpfe) für die Wikingerzeit nachgewiesen, u.a. aus dem Grabfund von Oseberg25. Und auch wenn heutzutage viele archäologische Dinge aus Holz oder Stein oft farb- los wirken, ist jedoch vorstellbar, dass die Vergangenheit bunt war. Farben sind zumeist zwar nicht mehr erhalten, aber im Kontext anderer archäologischer Beispiele wird eine „bunte“ Ver- gangenheit diskutiert, dies könnte daher auch für die Wikingerzeit spekuliert werden.26

21 Crumlin-Pedersen 2009, S. 236 listet eine Auswahl von acht bekannten Schiffen und zwei Booten aus dem Zeitraum vom 9. bis zum 10. Jahrhundert. 22 Zur „traditionellen“ Bauweise skandinavischer Schiffe der Wikingerzeit, etwa in Klinkerbauweise und mit Eisennägeln, vgl. u.a. Crumlin-Pedersen 2009, S. 235; archäologisch deuten sich aber auch Variationen der Schiffsformen an, eventuell chronologisch und/oder funktional bedingt, vgl. dazu ebd., S. 237-238. 23 Mitunter wird diskutiert, ob am Beispiel des Ladby-Schiffes ein „Drachenkopf“ nachzuweisen sei (https://vikingemuseetladby.dk/kalender/skibsgraven/; Stand: 10.12.2020): Es handelt sich um eiserne spi- ralförmige Verzierungen, die an den Steven gefunden wurden. Diese weisen Ähnlichkeiten mit Merkmalen einer „drachenkopfförmigen“ Gussform aus Birka auf. Falls es sich hier tatsächlich um eine „drachenartige“ Verzierung des Schiffes handeln sollte, dann fiele diese jedoch anders aus, als im Spiel dargestellt (zudem datiert die Bestattung von Ladby, zu der das Schiff gehörte, in das 10. Jahrhundert). 24 Ein prominentes Beispiel stellt der Teppich von Bayeux dar, der jedoch in die 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts datiert. Vgl. für bildliche Darstellungen der Schiffe auch: https://www.bayeuxmuseum.com/en/the-bayeux- tapestry/ (Stand: 11.12.2020). 25 Ein Beispiel für eine dieser Grabbeigaben ist der hölzerne Wagen mit Schnitzereien: https://www.khm.uio.no/english/visit-us/viking-ship-museum/exhibitions/oseberg/the-oseberg-cart/in- dex.html (Stand: 10.12.2020). 26 So waren z.B. auch Statuen aus der Antike bunt, nur passe dies nicht zur „Vorstellung der ‚edlen‘ Antike“: https://www.dw.com/de/bunte-g%C3%B6tter-die-farben-der-antike/a-52207111 (Stand: 10.12.2020); ein

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Zur materiellen Kultur gehören aber nicht nur Baustrukturen und Schiffe, sondern auch andere anthropogene Spuren, die Rückschlüsse auf beispielsweise Abfallentsorgungen, Kon- sum, Ernährungs-, Hausbau-, Wohn- und Arbeitsweisen, Bestattungspraktiken sowie religiöse und sozio-kulturelle Praktiken liefern. Während im virtuellen Avaldsnes, zumindest in einer sehr frühen Mission des Spiels, die Abwesenheit einer Lokalbevölkerung auffällt und nur feind- liche Krieger vorhanden sind, zeichnet sich das virtuelle Stavanger hingegen durch ein detail- liertes Alltagsleben aus. Zumindest der Alltag der nicht-kriegerischen Bevölkerung wird dar- gestellt, die für das Spiel erzählerisch nicht relevant ist (mit Ausnahme einiger Nebenquests). Die Hauptcharaktere sind hingegen Krieger und Kriegerinnen bzw. Angehörige einer Elite. Am Beispiel des virtuellen Stavangers sind dabei nicht nur Köhler bei der Arbeit zu be- obachten, auch Fischer und Fischerinnen sind zu sehen bzw. anhand der zum Trocknen aufge- hängten Netze zu erahnen – anderenorts ernten ein Bauer und eine Bäuerin Getreide und auch Lederbearbeitung kann dort beobachtet werden. Dies sind Tätigkeiten, die generell auch archä- ologisch nachgewiesen werden können, beispielsweise durch Werkzeugfunde – die Darstel- lungsweise ist aber historisiert.

Die Handlung von ›Assassin’s Creed‹ spielt bereits seit dem ersten Teil auf verschiedenen Zeitebenen. Mittels einer Maschine, die dabei hilft, die Erinnerungen der eigenen Vorfahren nachzuerleben, dem sog. Animus, wird eine genetische Zeitreise ermög- licht. Einerseits wird durch diese Zeitsprünge im Spiel die Immersion des Spiels immer wieder durchbrochen und die Fiktion der dargestellten Geschichte kenntlich gemacht; andererseits wird dadurch aber der „historische“ Teil des Spiels authentisiert – denn Erinnerungen müssen gemacht worden sein, bevor man sie nochmals durchleben kann. Sie sind damit „echt“. Und noch auf andere Weise führt ›Valhalla‹ eine neue Ebene von Echtheitslegitimation ein, indem es Archäologie selbst zum Gegenstand der Erzählung macht. Die Nachfahrin Eivors, die dessen / deren Erinnerungen nacherlebt, hat in der Gegenwart das Grab des Prota- gonisten entdeckt, dass mit Fähnchen sauber dokumentiert angesehen werden kann (© Bildnachweis: Ubisoft).

Farbauftrag kann womöglich auch für das Nydamboot des 4. Jahrhunderts spekuliert werden (dazu Bockius 2013, S. 283); am Beispiel der Vasa des 17. Jahrhunderts ist eine Bemalung jedoch bekannt (https://www.vasamuseet.se/en/vasa-history/art; Stand: 10.12.2020).

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Im virtuellen Stavanger werden zudem Schiffe gebaut – die mit einer Ausnahme, alle demsel- ben Modell folgen – und ein Mann wäscht bzw. glättet seine Textilien im Wasser. Glättsteine und Glättgläser sind ebenfalls aus der Archäologie bekannt. Interessanterweise wird eine Tex- tilverarbeitung hingegen nicht dargestellt: Einzig in einer der Visionen Eivors sieht diese / die- ser die Nornen das Schicksal weben – am Webstuhl. Aber in frühmittelalterlichen Siedlungen lässt sich oft eine Textilverarbeitung nachweisen27, Spinnwirtel und Webgewichte stellen daher häufige Funde dar. Insbesondere auch im Hinblick auf Kleidung sowie Segel (immerhin scheint im virtuellen Stavanger ein umfangreicher Schiffbau stattzufinden) nahm die Textilverarbei- tung eine zentrale Rolle ein. Womöglich findet diese aber auch vor Eivor verborgen in den kleinen Hütten statt, deren Dach bis zum Boden reicht. Diese sind nicht betretbar, und könnten vom Aufbau her an Grubenhäuser erinnern – kleine, im Boden eingetiefte Häuser, die in der Archäologie u.a. auch als „Webhütten“ interpretiert werden.28 Ebenfalls fehlen etwa Menschen, die Keramik, Kämme, metallener Schmuck (im Gussverfahren) oder auch Glasperlen herstellen. Wie beschrieben, lässt sich die Frage, wie „authentisch“ ›Valhalla‹ denn nun sei, in die- sem Aspekt nur vordergründig beantworten: So verdeutlicht der Abgleich mit archäologischen Daten zwar, dass für einige Elemente konkrete materielle Vorlagen existierten. Dies betrifft Besonderheiten und singuläre Erscheinungen, wie etwa den Runenstein und die schiffsförmigen Steinsetzungen in Stavanger, aber auch wiederkehrende Merkmale, wie etwa an der Kleidung befestigte Fibeln oder Baumerkmale an Schiffen und Häusern. In anderen Fällen dienten aber historisierte Darstellungen als Vorbilder: Dies betrifft etwa das Äußere der „Wikinger“, hin- sichtlich von Frisuren und Tätowierungen, bekannt aus populärkulturellen Kontexten, die ar- chäologisch aber nicht nachzuweisen sind; dies betrifft aber auch anachronistische Elemente, die im Spiel immer wieder aufgegriffen werden – wie etwa die zeitlich späteren Stabkirchen.

Fazit

Geschichte wird heutzutage in kaum einem Medium so „lebendig“ wie im Videospiel. Die im- mer wieder an einzelne Vertreter herangetragene Frage, wie „realistisch“ und „korrekt“ diese

27 Vgl. Zimmermann 1982, S. 111-144 über den Gewichtswebstuhl; Er mutmaßt (S. 112), dass in den Zeit- raum des frühen Mittelalters (im mittel- und nordeuropäischen Raum) ein „allgemeiner Aufschwung des Textilhandwerks und -handels“ fallen könnte. 28 Vgl. Zimmermann 1982, besonders S. 133-134. Grundsätzlich sind im Hinblick auf Grubenhäuser aber auch andere Funktionen zu diskutieren, vgl. dazu u.a. Schade 2018.

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Inszenierungen seien, ist unter diesem Gesichtspunkt nur folgerichtig. Allein die immer wie- derkehrenden, zum Gutteil ausweichenden Antworten auf diese Frage sprechen Bände: „Zum Teil realistisch, in diesem Aspekt nicht, hier aber schon – jedenfalls irgendwie.“ Dass die Frage nach „historischer Korrektheit“ oder „vollumfänglicher Authentizität“ falsch gestellt und wenig fruchtbar ist, hat unsere Beschäftigung mit ›Assassin’s Creed: Val- halla‹ hoffentlich zeigen können. Auch wenn die Begriffe zu Marketingzwecken immer wieder fallen, da Authentizität Qualität verspricht und deshalb eingefordert wird – eine Beschäftigung mit Geschichte kann immer nur eine mehr oder weniger fundierte Annäherung an eine für im- mer verlorene Vergangenheit bleiben. Sich anzuschauen, auf welche Weise diese Annäherung gestaltet sein muss, um authentisch zu wirken, muss daher die Prämisse sein. Wie vielschichtig und komplex die Beantwortung dieser Fragestellung ist, ist dabei stets vom Einzelfall abhängig. Nicht jedes Spiel (das gilt für Vertreter anderer Medien gleichermaßen) beansprucht Authenti- zität für sich, und zahlreiche Genres können dies qua vorgegebenen Rahmen nicht einmal. Nichtsdestoweniger lassen sich ohne die Kenntnis der intermedialen Tradition populär- kulturelle Medien weder interpretieren noch einordnen – welche Bedeutung diese hat, konnte an ›Valhalla‹ ausführlich aufgezeigt werden. Das vielseitige Wechselspiel zwischen intermedi- alem Rekurs und Adaption „echter“ Überlieferung und dem Postulat von Authentizität, das das Bedürfnis nach eben jener befriedigt, ist es am Ende, was eine überzeugende Authentizitätsfik- tion entstehen lässt – weil es einerseits die Rezipienten in ihrem Erfahrungshorizont begegnet und dabei andererseits eine Beschäftigung mit „echter“ Geschichte verspricht.

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ZITIEREMPFEHLUNG

Tobias Enseleit / Tobias Schade, Das Mittelalter im Videospiel: ›Assassin’s Creed: Valhalla‹, in: Mittelalter Digital 1, Ausgabe 2 (2020), S. 174-211.

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Bildnachweis

Startbild: © Ubisoft, Pressekit.

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