Sport

TENNIS Das Mädchen und sein Offizier Die Beziehung von zu ihrer Mutter galt lange als solides Fundament einer erfolgreichen Sportlerkarriere. Doch seit mehr als zwei Jahren hat die Schweizerin kein Grand-Slam-Turnier mehr gewonnen – weil sie sich nicht konsequent abgenabelt hat?

ennisprofis, das weiß die junge Frau Dass Martina Hingis selbst Niederlagen mit den Zähnen wie aus der Colgate- wie die am vorigen Montag weggrinst, ist TWerbung, droht bisweilen Ungemach. verständlich: Das Weltranglistensystem be- Doch bisher traf es meist die anderen. stätigt sie in ihrem Glauben, von höherem Etwas derangiert saß Martina Hingis, 20, Stand zu sein als alle Konkurrentinnen. deshalb auf einer Couch in ihrem Haus. Schließlich wird sie auch in der Woche Mit einem Sparringspartner, eigens aus nach Wimbledon wie meistens in den letz- Tschechien in das Schweizer Örtchen Trüb- ten vier Jahren auf Platz eins der Besten- bach einbestellt, hatte sie auf dem Hart- liste geführt werden. Tatsächlich profitiert platz, eigens für sie hinter ihrem Anwesen Hingis davon, dass sie mehr Turniere als angelegt, ein paar Bälle geschlagen. Dann das: ein fieses Zwicken im Rücken. Schnell war ein Physiotherapeut zur Stelle, der Zehn Anläufe, kein neuer Titel eine Zerrung feststellte. Er probierte es mit Martina Hingis’ Bilanz bei Grand-Slam-Turnieren seit 1997 Massage und Akupunktur. M Bevor der Physiotherapeut das Haus P Paris wieder verließ, riet er Hingis, eine Decke Wimbledon über die Schultern zu legen. „Dabei hat W sie so gut trainiert wie lange nicht mehr“, N New York 1997 1998 1999 2000 2001 sagte Melanie Molitor, ihre Mutter, die MPWN MPWN MPWN MPWN MPW auch ihre Trainerin ist. Es war der Mitt- Sieg woch vor Wimbledon. Finale Fünf Tage später saß Martina Hingis im Halbfinale Interviewraum des All England Lawn Ten- Viertelfinale nis & Croquet Club. Ihre Augen waren ver- Achtelfinale Melanie Molitor, 43, heult, und ihren Mund umspielte dieses lässt solche Erklärungen 3. Runde herablassend wirkende Grinsen, das sie allerdings nicht gelten. Sie reflexartig aufsetzt, sobald irgendetwas ge- 2. Runde hält der Tochter schon gen sie läuft. 1. Runde seit Beginn der Profikar- Sie, die Queen der Branche, war als Top- riere einen Hang zur Be- Gesetzte in der ersten Runde an der Spa- ihre schärfsten Rivalinnen spielt und dort quemlichkeit vor. Der hat sich in letzter nierin gescheitert, die Punkte sammelt. Zeit vermischt mit einer angespannten 4:6, 2:6 gegen eine kaum bekannte Doppel- Eine groteske Situation, denn die First Seelenlage, wie sie die Wunderkinder des Spezialistin. Im zweiten Satz hatte ihre Lady hängt seit Monaten schwer durch. Ihr Sports irgendwann wohl zwangsläufig Gegnerin sie so gehetzt, dass Hingis in ei- letztes Turnier hat Hingis im Februar in ereilt: Den Twen aus Trübbach drängen ner Spielpause anfing, an ihren Finger- Dubai gewonnen, eine eher drittklassige Sinnfragen. nägeln zu kauen. Majestätsbeleidigung. Veranstaltung. Mehr noch: Seit zehn Grand- Mehrfach schon haben die Selbstfin- Also erwähnte sie die Zerrung. Slam-Turnieren wartet die Schweizerin auf dungsversuche der Martina Hingis zur vor- Das hätte Martina Hingis besser gelas- einen Titel, ihr letzter großer Triumph da- übergehenden Abnabelung von der Mutter sen. In der Abendsendung von BBC läs- tiert vom Januar 1999 bei den Australian geführt. Zurück blieb jeweils die Erkenntnis, terte John McEnroe, für den britischen TV- Open. dass es unermesslich schwierig sein kann, Sender in Wimbledon als Kommentator Nun könnten Wohlmeinende anführen, gleichzeitig erwachsen zu werden und das tätig, an Hingis’ Spiel sei alles irgendwie ge- dass die grazile Grundlinienspezialistin ge- sportliche Niveau zu verbessern. zerrt gewesen. „Plumpe Ausrede“, höhnte gen die muskelbepackten und hoch ge- Der Trouble im Hause Hingis offenbart, auch das Massenblatt „The Sun“ tags dar- wachsenen Verfolgerinnen physisch unter- wie brüchig Mutter-Tochter-Konstellatio- auf und druckte ein Foto, das die Schwei- legen sei. Ihre letzten drei Grand-Slam- nen in der Leistungsgesellschaft des Frau- zerin kurz nach ihrer Ankunft in London, Finals verlor Hingis gegen die Kraftpakete entennis sind. Denn alles, was die Spiele- anscheinend bei bester Gesundheit, beim , und rin für sich beanspruchte, war „ein biss- Fußballspielen zeigte. . chen mehr Raum“.

152 der spiegel 27/2001 Doch irgendwann, wenn die Ziele realisiert sind, bricht der Drang nach Selbständigkeit durch. Zuletzt ge- schah das bei Martina Hingis Ende März. In Miami hatte sie das Halb- finale verloren, was die Mutter mäch- tig in Rage brachte. Taktisch sei das Match eine Katastrophe gewesen, zürnte Melanie Molitor auf Tsche- chisch: „Ich fühle mich wie ein Idiot.“ Das saß. Wenige Tage später ließ Hingis ihre Mutter deshalb in der Schweiz zurück und quartierte sich allein im noblen Eigenheim in Saddlebrook (Florida) ein. Zum neuen Trainer beförderte die Spielerin ihren Sparringspartner Da- vid Taylor, 29. Sie trainierte viel mit dem Australier, und wenn sie nicht gerade bei Turnieren spielte, gönnte sie sich anderweitige Zerstreuung. Irgendwie war ihr nach einer weite- ren Luxuskarosse. Hingis besaß zwar schon einen stattlichen Fuhrpark, aber einen Chevrolet hatte sie noch nicht. Also kaufte sie einen. Dann musste sie vor Gericht. Am Miami-Dade County Circuit Court wurde dem Australier Dubravko Raj- ceviƒ, 46, der Prozess gemacht. Er hatte Hingis zu hartnäckig nachge- stellt und wurde deshalb zu zwei Jah- ren Haft verurteilt. Das Verfahren lief mehrere Tage lang live im Fern- sehen. Bevor Hingis zum ersten Mal im Zeugenstand aussagte, fragte Staatsanwalt Chris Calkin, 31: „Wie fühlen Sie sich?“ Einige Wochen später gab Privat- mann Calkin dem „Miami Herald“ ein Interview. „Ich bin so glücklich wie noch nie im Leben“, bekannte

IAN WALDIE / REUTERS IAN WALDIE der Jurist und eröffnete dem Blatt Weltranglisten-Erste Hingis (in Wimbledon): „Vom Alltag total überfordert“ seine Liebe zu dem Tennisstar: „Sie ist eine fabelhafte Dame.“ Pubertät light, um ein paar Jahre ver- Eltern als Trainer und Förderer ihrer Kin- Die Angebetete schwieg zu der kolpor- spätet. Doch was für Teenager in Durch- der bereits in frühen Jahren eine Symbio- tierten Love-Story. Wenn sie mit Journalis- schnittsfamilien zum Standardprogramm se mit ihrem Nachwuchs ein, die kaum ten sprach, schilderte sie ihr neues Leben. der Entwicklung gehört, hat in der Kunst- Kompromisse erlaubt. Die Sippe, die sich Sie kümmere sich, berichtete sie stolz, um welt des Profisports eine ungleich stärkere von Feinden umgeben sieht, eint das er- die Flüge, die Hotels, den Fahrdienst vom Sprengkraft. Denn in der Regel gehen die klärte Ziel: der Weg an die Spitze. Hotel zum Trainingsplatz und das Bespan- GARY M. PRIOR / ALLSPORT / ACTION PRESS / ACTION M. PRIOR / ALLSPORT GARY Konkurrentin Capriati, Hingis-Mutter Molitor

IAN WALDIE / REUTERS IAN WALDIE Lebenskrise erfolgreich durchgestanden 153 Sport nen ihrer Schläger. Als sei sie zum ersten reist – und, ebenfalls an Nummer eins ge- Mal allein über die Dorfstraße in Trübbach setzt, im Auftaktmatch gegen die Qualifi- gegangen, frohlockte Hingis: „Ich bin jetzt kantin Jelena Dokic umgehend aus dem ein großes Mädchen.“ Wettbewerb geflogen. Doch Ende Mai, kurz vor den French Jetzt scheinen die Rollen wieder klar Open in Paris, hatte sie von ihrer neuen verteilt: Die Mutter liefert die Vorgaben, Freiheit die Nase schon wieder voll. Sie die Tochter führt sie aus. „Als Coach“, sagt kehrte zu ihrer Mutter zurück, mit der sie Melanie Molitor, „bin ich der Exerzier- zuvor, wie sie sagte, fast jeden Tag telefo- Unteroffizier, eine Menschengattung, die niert hatte. ich hasse.“ Branchenkenner hatten die Wendung er- Schon immer war die Frau mit der wartet. „Die meisten Topstars“, sagt Eric Harpo-Marx-Frisur von ungeheurem Ehr- van Harpen, 57, „sind vom Alltag total geiz beseelt, wenn es um die Laufbahn überfordert.“ Der holländische Coach ihres einzigen Kindes ging. Als Martina kennt sich aus mit -Primadonnen – vier Jahre alt war, trennte sich Melanie bis vorigen Sommer trainierte er die Rus- von ihrem Mann und zog vom slowaki- sin Anna Kurnikowa. schen Ko∆ice ins tschechische Ro¢nov. Vier Van Harpen hat sich auf einer üppigen Jahre später heiratete sie einen Schweizer

Terrasse hinter dem Centre Court in den PRESS ZÜRICH / DPA KEYSTONE und wanderte mit der tennisbegabten Schatten gesetzt, wo sich die Profis ent- Tennistalent Hingis, Mutter (1991) Tochter in den Kanton St. Gallen aus – spannen und das exklusive Verwöhnaroma „Die Trennung war ein Fehler“ auch deshalb, weil in der Tschechoslowakei Wimbledons einatmen. Spielerinnen wie die Bedingungen für eine Profikarriere würden ihm mehr imponie- leiert sie nun wieder herunter, es gebe für schlecht waren. ren als die „Preisklasse Hingis“, sagt van sie „keinen besseren Coach“ als ihre Der Masterplan ging auf: Mit 14 wurde Harpen. Die 19 Jahre alte Belgierin, die Mutter. Melanie Molitor verkündet die Pa- Hingis Profi, und als sie 16 Jahre, sechs seit ihrer Halbfinal-Teilnahme in Paris auf role: „Die Trennung war ein Fehler.“ Monate und einen Tag alt war, feierte man direktem Weg in die Weltspitze ist, hat früh Es war der zweite Versuch von Hingis, sie als die jüngste Weltranglisten-Erste al- ihre Mutter verloren und finanziert mit zu ihrer Mutter auf Distanz zu gehen. Der ler Zeiten. Mit 18 hatte das Ausnahmeta- ihren Einkünften die fünfköpfige Familie. erste scheiterte vor zwei Jahren in Wim- lent bereits fünf Grand-Slam-Titel gewon- „Die ist geerdet“, sagt van Harpen, „die bledon. Dort war die Spielerin nach ihrer nen; an Preisgeld kassierte Hingis bisher weiß, was sie will.“ traumatischen Finalniederlage bei den mehr als 16 Millionen Dollar, und die Wer- Hingis wüsste es wohl auch gern. Als gegen Steffi Graf zum ersten beeinnahmen, so schätzen Fachleute, sind habe sie eine Gehirnwäsche hinter sich, Mal überhaupt allein zu einem Turnier ge- etwa viermal so hoch. Während es manche Tennis-Eltern gibt, vor ihr. „Ich bin berühmter als sie. Wenn die wie Peter Graf, Jim Pierce oder Damir sie nicht stark genug sind, ist das ein Dokic ihre Kinder mit diversen Ausfällen Problem.“ ins Gerede brachten, funktionierte das Un- Beinahe neidisch blickt sie auf das der- ternehmen Hingis absolut skandalfrei. Me- zeitige Traumpaar des Tenniszirkus: die lanie Molitor meidet öffentliche Auftritte – Belgierin , 18, Finalistin in Pa- und predigt stattdessen ihr Arbeitsethos: ris, und den Australier Lleyton Hewitt, 20, ein Spitzensportler solle „16 bis 18 Stunden Nummer fünf der Weltrangliste. Hewitt ge- pro Tag dazu verwenden, seinen Körper, nießt beim jüngeren Publikum ein Stan- seine Psyche und seinen Kopf zu pflegen ding, das dem von Hollywood-Helden wie und zu regenerieren“. Leonardo DiCaprio oder Matt Damon Martina, rügt die gestrenge Mama im nahe kommt. Einer wie Hewitt, so sieht Schweizer Magazin „Facts“, habe in ihrer Martina Hingis die Welt, hätte kein Pro- „Experimentalphase diese Faustregel um- blem mit der Königin on Court. gekehrt“. Vielleicht fehlt der greinenden Schwei- Sie wähnt sich auf einer Mission. Per- zerin zum persönlichen Glück aber auch sönlich, sagt sie, wünsche sie Martina „je- nur, erfolgreich eine Lebenskrise durchzu- den Tag eine durchtanzte Nacht mit dem stehen – wie es eine ihrer schärfsten Kon-

Jungen ihrer Wahl“. Sportlich, weiß sie, PRESS / ACTION ALLSPORT kurrentinnen vorgemacht hat. Jennifer Ca- könne Martina dann „am nächsten Tag Tennispaar Clijsters, Hewitt priati, 25, nach dem Sieg bei den Australian nicht richtig trainieren, damit sie das er- „Es ist schwer, einen Freund zu finden“ und den French Open schon jetzt die Spie- reicht, was sie will“. lerin der Saison, orientiert sich nach der Ob die Tennisspielerin Hingis mitzieht, Martina einen jungen Mann, mit dem sie Flucht in Drogen und jahrelangem Müßig- bleibt allerdings offen. Ihr komme es vor endlich nach Lust und Laune lieben, la- gang wieder an den Zeiten, als sie noch 14 allem darauf an, teilte sie Vertrauten un- chen und leben kann.“ war. Sie reist mit Vater, Mutter und Bruder längst mit, „alles unter einen Hut zu brin- Den einen oder anderen, meist Tennis- um die Welt, und von ihrem Freund, dem gen“. Was sie darunter verstehen könnte, profis, hat es indes schon gegeben: den belgischen Tennisspieler Xavier Malisse, hat Mario Widmer, der Lebensgefährte Schweizer Ivo Heuberger, den Spanier hat sie sich getrennt. ihrer Mutter, in einer Zeitungskolumne Julian Alonso, den Schweden Magnus „Für mich gibt es derzeit nur eins“, angedeutet. Norman. Doch das Glück war immer sagte die Spielerin in Wimbledon, die Der ehemalige Sportchef des Schweizer nur von kurzer Dauer. „Es ist schwer auf wundersame Weise wieder in die Boulevardblatts „Blick“, der Hingis als Ma- für mich, einen Freund zu finden“, hadert Weltelite zurückfand: „Tennis, Tennis, nager vertritt, rätselte: „Vielleicht braucht sie. Die Jungs, glaubt sie, hätten Angst Tennis.“ Michael Wulzinger