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DIPLOMARBEIT

Titel der Diplomarbeit „Soziale Sicherheit im unorganisierten Sektor Indiens“

Verfasser Valentin Eisen

angestrebter akademischer Grad

Magister (Mag.)

Wien, 2014

Studienkennzahl lt. Studienblatt: A 057 390 Studienrichtung lt. Zulassungsbescheid: Internationale Entwicklung Betreuerin: Dr. Barbara Rohregger

Danksagung

Mein Dank gilt allen, die mich im Prozess dieser Arbeit und während dieser Zeit unterstützt haben. Ich möchte mich bei meiner Diplomarbeitsbetreuerin Dr.in Barbara Rohregger bedanken, die mir mit Geduld, Motivation und fachlichem Rat zur Seite gestanden ist. Danke auch an das ganze Team Wien, Team Innsbruck, Team Vorarlberg und das großartige Team Johanna, die alle ihren Teil dazu beigetragen haben, dass ich diese Arbeit schreiben konnte. Des Weiteren möchte ich mich herzlich bei Dr. Vijaymohoanan Pillai und den Mitgliedern des Centre for Development Studies Trivandrum bedanken, die mir geholfen haben und mir für Interviews für Verfügung gestanden sind. Danke an meinen Übersetzer Rajesh, der mir geholfen hat Interviews zu führen und danke an alle meine Interviewpartner_innen.

Inhaltsverzeichnis ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS...... 3 1. Einleitung...... 4 1. 2 Methode...... 6 2. Theoretische Aspekte sozialer Sicherheit...... 10 2.1 Definitionen von sozialer Sicherheit ...... 10 2.2 Aufgaben sozialer Absicherung...... 13 2.2.1 Soziale Sicherungsmechanismen im Sinne von „contingent social security“ (CSS) ...... 14 2.2.2 Soziale Sicherungsmechanismen im Sinne von grundlegender sozialer Sicherheit (BSS)...... 15 2.2.3 Arbeitskraftsichernde Komponente sozialer Sicherheit...... 17 2.3. Erklärungsansätze für verschiedene Ausprägungen von Wohlfahrtsmodellen. 17 2.3.1 Klassenmobilisierungs-These...... 19 2.3.2 Pfadabhängigkeit...... 20 2.3.2.1 Relevanz des Konzepts für die Politik...... 21 2.4 Probleme der Etablierung sozialer Sicherungsmechanismen in Entwicklungsländern ...... 23 2.4.1 Der informelle/unorganisierte Sektor ...... 25 2.4.2 Notwendigkeit sozialer Sicherungsmechanismen...... 26 2.4.3 Regressive Umverteilung...... 27 2.5. Neuere Tendenzen in der Diskussion um soziale Sicherheit...... 28 2.5.1 Beispiele neuer politischer Ansätze...... 29 2.6 Der menschenrechtsbasierte Ansatz sozialer Sicherheit...... 31 2.6.1 Relevanz des menschenrechtsbasierten Ansatzes...... 31 2.6.2 Soziale Sicherheit als Grundrecht...... 32 2.6.3 Stärke des rechtsbasierten Ansatzes für Armutsreduktion...... 33 2.6.4 Konzeption menschenrechtskonformer Instrumente...... 34 2.6.5 Targeting vs. Universalität...... 35 2.6.6 Etablierung einer Gender Perspektive...... 37 2.6.7 Finanzierbarkeit einer auf Menschenrechten basierenden minimalen Absicherung ...... 38 2.6.8 Die indische Debatte...... 38 2.6.9 Kritik am menschenrechtsbasierten Ansatz...... 39 3. Empirischer Teil: Sicherungsmechanismen in Kerala und Uttar Pradesh...... 41 3.1 Informelle Sicherungsmechanismen...... 41 3.2 Ergebnisse der Feldforschung...... 43 3.2.1 Familie...... 44 3.2.2 Bildung...... 46 3.2.3 Migration...... 47 3.2.4 Gemeinschaften gegenseitiger Hilfeleistung...... 49 3.2.5 Sparen...... 50 3.2.6 Kredite...... 50 3.2.7 Patronagebeziehungen...... 52 3.2.8 Formelle Sicherungsmechanismen...... 53 3.2.9 Abwesenheit formeller Sicherungsmechanismen...... 55 3.2.10 Recht auf soziale Sicherheit...... 57 3.3 Fazit...... 58 4. Soziale Situation und soziale Sicherung in Indien...... 60 4.1 Indien im Überblick...... 60 4.2 Der informelle Sektor...... 63 4.3 Soziale Sicherungsmaßnahmen für den informellen Sektor in Indien...... 65 4.3.1 Wohlfahrtsfonds...... 65

1 4.3.2 Gruppenversicherungen...... 66 4.3.2.1 Varishta Pension Bima...... 67 4.3.2.2 Jashree Bima Yojana...... 67 4.3.2.3 Universal Health Insurance Scheme (UHIS)...... 68 4.3.3 Berufsgruppenspezifische Programme...... 69 4.3.3.1 Das Programm für Weber_innen...... 69 4.3.3.2 Programm für Bauarbeiter_innen...... 70 4.3.3.3 Programm für Fischer_innen...... 70 4.3.4 Programme für Menschen unter der Armutsgrenze...... 71 4.3.4.1 Rashtriya Swasthya Bima Yojana (RSBY)...... 73 4.3.4.2 Aam Aadmi Bima Yojana (AABY)...... 74 4.3.4.3 National Social Assistance Programme (NSAP)...... 75 4.3.4.4 National Old Age Pension Scheme (NOAPS)...... 76 4.3.4.5 National Family Benefit Scheme (NFBS)...... 77 4.3.4.6 Janani Suraksha Yojana (JSY)...... 77 4.3.5 Fazit...... 78 4.4 Neue Gesetzesinitiativen...... 78 4.4.1 National Rural Employment Guarantee Act, 2005 (NREGA)...... 78 4.4.2 Unorganised Workers Social Security Act, 2008 (UWSSA)...... 80 5. Vergleichende Perspektive von Uttar Pradesh und Kerala...... 86 5.1. Uttar Pradesh und Kerala im Überblick...... 86 5.1.1 Uttar Pradesh ...... 86 5.1.2 Kerala...... 89 5.2 Soziale Sicherungsmodelle in Uttar Pradesh...... 92 5.2.1 Erklärungsversuch für die Entwicklung in Uttar Pradesh...... 94 5.3 Das Wohlfahrtsfondsmodell in Kerala...... 95 5.3.1 Leistungen...... 96 5.3.2 Finanzierung...... 97 5.3.3 Verwaltung...... 99 5.3.4 Kritik am Wohlfahrtsfondsmodell...... 99 5.3.5 Erklärungsversuch für den gesonderten Entwicklungsweg in Kerala...... 101 5.4 Vergleich der Wohlfahrtsmodelle...... 105 6. Conclusio ...... 107 LITERATURVERZEICHNIS...... 115 ABSTRACT (deutsch)...... 125 ABSTRACT (englisch)...... 127 LEBENSLAUF...... 128

2 ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS

AABY Aam Aadmi Bima Yojana ABP Above Poverty Line BIP Brutto Inlands Produkt BJP Bharatiya Janata Party BLP Below Poverty Line BSP Bahujan Samaj Party CCT Conditional Cash Transfer CDS Centre for Development Studies (Trivandrum) CIPM Communist Indian Party (Marxist) CHC Community Health Centres Ebd. Ebenda ICDS Integrated Child Development Service IFMR Institute for Financial Management and Research IGNDPS Indira Gandhi National Disability Pension Scheme IGNWBS Indira Gandhi National Widow Benefit Scheme IIPS International Institute of Population Sciences ILO International Labour Organisation JSY Janani Suraksha Yojana HLPE High Level Panel of Experts LIC Life Insurance Corporation LICs Low Income Countries NCEUS National Commission for Enterprises in the Unorganised Sector NFBS National Family Benefit Scheme NGO Non Governmental Organisation NOAPS National Old Age Pension Scheme NREGA National Rural Employment Guarantee Act NSAP National Social Assistance Programme OBC Other Backward Classes OOP Out of Pocket PDS Public Distribution System PHC Primary Health Centres RSBY Rashtriya Swasthya Bima Yojana SC Scheduled Casts SGRY Sampoorna Grameen Rozgar Yojana SP Samajvadi Party ST Scheduled Tribes TPDS Targeted Public Distribution System UHIS Universal Health Insurance Scheme UP Uttar Pradesh UWSSA Unorganised Workers Social Security Act WHO World Health Organisation

3 1. Einleitung

Indien ist neben China das bevölkerungsreichste Land der Welt, und eine der weltweit größten Volkswirtschaften. In den letzten Jahren ist das Wirtschaftswachstum zwar etwas zurückgegangen, hatte aber in der jüngeren Vergangenheit zweistellige Wachstumsraten. Je nach Ansicht, wie hoch die Armutsgrenze angesetzt werden soll, sind zwischen einem Fünftel und zwei Drittel der Inder_innen von Armut betroffen.

In den letzten Jahren nimmt die Diskussion von sozialen Sicherungsmechanismen als adäquates Mittel zur Armutsreduktion und die Sicherstellung eines angemessenen Lebensstandards immer mehr Platz ein. Soziale Sicherheit in Form von institutionellen Absicherungsmechanismen wurden in Indien schon vor der Unabhängigkeit eingeführt und es gibt bis heute ein gut ausgebautes Netz staatlicher sozialer Absicherung für staatlich Bedienstete und Arbeiter_innen im formellen Sektor. In Indien sind aber lediglich 14 Prozent der Arbeiter_innen im formellen Sektor tätig. Außerdem gibt es Personen, die zwar im formellen Sektor beschäftigt sind, aber informell angestellt sind. Somit kommt der Anteil der informellen Arbeiter_innen auf über 92 Prozent der Arbeitstätigen. (Srivastava 2013:13) Die soziale Absicherung für den überwiegenden Teil der Bevölkerung ist sehr spärlich und besteht hauptsächlich aus Maßnahmen für Menschen unter der nationalen Armutsgrenze. Außerdem gibt es private Versicherungsanbieter_innen, jedoch sind nur etwa ein Zwanzigstel der Inder_innen krankenversichert.

Formelle Sicherungsmechanismen sind also kaum dazu geeignet, soziale Sicherheit für die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung herzustellen, es ist in der Lebensrealität vielmehr eine Vielzahl verschiedener Mechanismen und Beziehungen, die ihr Überleben sichern.

Ende des Jahres 2008 wurde ein Gesetze mit dem Namen „Unorganised Workers Social Security Act“ (UWSSA) von den zwei Kammern des indischen Parlaments beschlossen. Dies ist das erste Gesetz, das sich seit der Unabhängigkeit Indiens mit der Frage der sozialen Absicherung auseinandersetzt. Dass über ein halbes Jahrhundert lang verabsäumt wurde, einen gesetzlichen Rahmen für die soziale Absicherung der großen Mehrheit der Bevölkerung zu schaffen, ist umso bemerkenswerter, wenn man sich die Tatsache vor Augen führt, dass schon in den Grundprinzipien der indischen Verfassung die Aufgabe des Staates

4 festgeschrieben wird, soziale Sicherungsmechanismen für seine Bürger_innen bereitzustellen und das Recht auf eine adäquate Lebensgrundlage zu garantieren.

Dies war für mich Grund genug mich mit der Frage zu beschäftigen, wie der Stand der sozialen Absicherung in Indien ist und inwiefern neue Gesetzesinitiativen, wie das Gesetz zur sozialen Absicherung für unorganisierte Arbeiter_innen, sich auf die Lebensqualität der in Indien lebenden Menschen auswirken können.

In der Auseinandersetzung mit der Thematik wurde schnell klar, dass Indien keineswegs ein homogenes Gebilde ist, sondern dass es in diesem föderalen Staat regional extrem große Unterschiede gibt, was die Lebensqualität der Menschen und die Umsetzung sozialer Absicherungsmaßnahmen angeht. Diese Heterogenität lässt sich sehr deutlich mithilfe einer vergleichenden Perspektive zeigen, in der zwei unterschiedliche Bundesstaaten gegenübergestellt werden. In der vorliegenden Arbeit habe ich Kerala und Uttar Pradesh ausgewählt. Die zwei Bundesstaaten unterscheiden sich in geographischen Merkmalen wie Größe und Klima und in sozialen Merkmalen, bei diesen gibt es zum Beispiel bei Lebenserwartung, Alphabetisierungsrate, Müttersterblichkeit usw. eklatante Unterschiede. In Kerala liegt die Lebenserwartung um zehn Jahre höher als in Uttar Pradesh und auch in andern Indikatoren, die ebenso wichtig für die Einschätzung der Lebensqualität der dort lebenden Menschen sind, zeigt sich in Kerala ein positiveres Bild als in Uttar Pradesh. Darüber hinaus zeigt ein Vergleich dieser beiden Staaten, welche zentrale Rolle die Politik bei der Umsetzung wohlfahrtsstaatlicher Maßnahme spielt: In Kerala gibt es seit den späten Sechzigern die ersten Wohlfahrtsfonds für verschiedene Berufsgruppen, diese haben sich zu einem weit verbreiteten System in dem Bundesstaat etabliert, welches in der Literatur oft als das Kerala Wohfahrtsfondsmodell bezeichnet wird. In Uttar Pradesh gibt es bis heute keine adäquaten Mechanismen sozialer Absicherung für unorganisierte Arbeiter_innen.

5 Diese vergleichende Perspektive bildet auch die Basis für meine Forschungsfragen:

1. Welche formellen und informellen Absicherungsmechanismen gibt es in Kerala und Uttar Pradesh für Menschen im unorganisierten Sektor und welche Auswirkungen haben diese auf die den Lebensstandard der Menschen? 2. Welche Unterschiede in Bezug auf soziale Sicherung für Menschen im informellen Sektor lassen sich feststellen und welche Erklärungen können dafür herangezogen werden? 3. Wie lassen sich diese Maßnahmen aus der Sicht einer menschenrechtsbasierten Perspektive einschätzen und was für eine Bedeutung spielt der rechtsbasierten Ansatzes in diesem Kontext?

1. 2 Methode

Anhanden der theoretischen Literatur werde ich den derzeitigen Stand der Debatte um soziale Sicherung in Entwicklungsländern diskutieren. Es sollen verschiedene Tendenzen und Ansätze diskutiert werden, welche neben wissenschaftlichen Ansätzen auch entwicklungspolitische Ansätze umfassen. Hier werde ich mich unter anderem mit dem menschenrechtsbasierten Ansatz auseinandersetzen, der stark von internationalen Organisationen wie den Vereinten Nationen diskutiert wird, aber auch von der indischen Regierung aufgegriffen wird. Außerdem werde ich theoretische Ansätze diskutieren, die mir geeignet erscheinen um zu erklären wie unterschiedlich sich die Systeme sozialer Sicherheit in Uttar Pradesh und Kerala entwickelt haben. Diese Ansätze sind erstens die Pfadabhängigkeit und damit verbunden die Ideen von „critical junctures“ und „incrasing returns“ und zweitens die Klassenmobilisierungs-These. Den Zustand des sozialen Sicherungssystems in Indien und speziell in Kerala und Uttar Pradesh mache ich einerseits an bestehender Literatur über soziale Sicherung in Indien fest, andererseits an Daten aus verschiedene großflächigen Untersuchungen wie dem Indian Census oder dem National Family Health Survey. Ich werde mich in der Darstellung des bestehenden Sicherungssystems auf die Selbstrepräsentation der nationalen und bundesstaatlichen Regierungen stützen.

6 Außerdem werde ich zwei Bundesstaaten in vergleichender Perspektive gegenüberstellen. Hierbei greife ich sowohl Elemente des institutionellen Ansatzes auf als auch Elemente des gruppenorientierten Ansatzes (Hauser 1991). Ich werde Merkmale der sozialen Entwicklung in den beiden Bundesstaaten beschreiben und gegenüberstellen, und in einem zweiten Schritt erklären, wie sich die Ausbildung sozialer Sicherungsmechanismen auf die jeweiligen Gesellschaften auswirkt, und vice versa die Ausprägung der Gesellschaften auf die Ausgestaltung der Sicherungsmechanismen. Außerdem werde ich die Ergebnisse meiner empirischen Untersuchung in Kerala und Uttar Pradesh in diese Einschätzung mit einfließen lassen.

Ziel meiner Feldforschung ist herauszufinden, welche Maßnahmen Menschen im informellen Sektor ergreifen, um sich gegen eventuelle Risiken abzusichern, beziehungsweise wie sie mit tatsächlich eingetroffenen Krisensituationen umgehen. Mein Interesse dahinter ist im Besonderen herauszufinden, ob sie sich formeller oder informeller Mechanismen bedienen, und welche Mechanismen konkret angewendet werden. Vor allem die informellen Mechanismen sind von großem Interesse, da diese in der Literatur unterrepräsentiert sind.

Während meines dreimonatigen Aufenthaltes in Indien im Sommer 2010 habe ich 30 Interviews durchgeführt, zum größten Teil mit informellen Arbeiter_innen, in denen ich sie in erzählerischer Form zu Themen der sozialen Sicherung befragt habe. 18 der Interviews habe ich in Kerala durchgeführt. Bei 13 davon hat mir ein freiwilliger Mitarbeiter einer lokalen NGO übersetzt, bei zwei ein Mitarbeiter der Lokalregierung, und drei Interviews habe ich auf Englisch gehalten. In Uttar Pradesh habe ich 11 Interviews auf Englisch gehalten und bei einem weiteren hat mir ein Mitarbeiter einer indischen Nichtregierungsorganisation übersetzt. Des Weiteren habe ich einige Expert_inneninterviews mit Mitgliedern des Center for Development Studies in Trivandrum sowie mit einem Mitglied der “National Commission for Enterprises in the Unorganised Sector” und Vertreter_innen von Kommunalregierungen und Nichtregierungsorganisationen durchgeführt.

Ich habe hauptsächlich episodische Interviews durchgeführt. Das sind Interviews, die nach einem groben Leitfaden geführt werden, bei dem Personen dazu aufgefordert werden, Episoden zu bestimmten Lebensabschnitten zu erzählen. Diese Interviews bieten den Interviewpartner_innen einen Rahmen, ihre eigenen Geschichten zu erzählen und zu entscheiden, welche der Geschichten wichtig für sie sind.

7 Dabei richtet sich die Aufmerksamkeit im Interview auf Situationen bzw. Episoden, in denen der Interviewpartner Erfahrungen gemacht hat, die für die Fragestellung der Untersuchung relevant erscheinen. Sowohl die Darstellungsform (Beschreibung oder Erzählung) der entsprechenden Situation als auch die Auswahl von Situationen kann dabei weitgehend vom Interviewpartner nach Gesichtspunkten subjektiver Relevanz gestaltet werden. (Flick 2007:239)

Ich habe mich für die Methode der episodischen Interviews nach Uwe Flick entschieden, da diese sowohl den narrativen Charakter erfüllt und „die Erzählkompetenz der Interviewpartner[_innen]“ (ebd. 2007:239) nutzt, und andererseits eine gewisse Fokussierung des Interviewverlaufs erlaubt. (ebd. 2007:238ff) Diese offene Sichtweise ist dahingehend wichtig, als dass soziale Sicherheit aus einer funktionalen Perspektive (Von Benda-Beckmann 1994) auf vielen verschiedenen Ebenen hergestellt wird, zu diesen gehören sowohl eher konkretere Faktoren wie eine Ebene der institutionellen Bereitstellung, als auch abstrakte oder schwer von außen erkennbare Ebenen wie religiöse Normen und individuelle Wahrnehmung.

Entgegengekommen ist mir bei der Wahl dieser Methode auch, dass sie mir im Kontext der nicht-Muttersprachlichkeit sinnvoll erschienen, da ich die Interviews auf Englisch durchgeführt habe und teilweise mit einem Übersetzer gearbeitet habe. Episodische Interviews haben den Vorteil, keine großen komplexen Geschichten zu verlangen, wie beispielsweise biographische Interviews, da diese Methode des Interviews „an episodisch- situativen Formen des Erfahrungswissens ansetzt.“ (Flick 2007:239)

Das Problem erzählungsgenerierender Interviews – dass manche Menschen größere Schwierigkeiten haben zu erzählen als andere – besteht auch bei diesem Verfahren. Es relativiert sich allerdings dadurch, dass nicht – wie im narrativen Interview – eine umfassende Erzählung, sondern mehrere umgrenzte Erzählungen erbeten werden. (ebd. 2007:244)

Episodische Interviews sind keine klassischen Leitfadeninterviews mit konkreten Fragen. Im Mittelpunkt des episodischen Interviews steht jedoch die kontinuierliche Erzählaufforderung zu gewissen Themen. Dazu wird ein thematischer Leitfaden erstellt, an dem man sich während des Interviews orientiert. Mein Leitfaden der empirischen Interviews orientierte sich an bestimmten Eventualitäten (contingencies), also Risiken, denen die meisten Menschen im Laufe ihres Lebens ausgesetzt sind. Aus diesen möglichen Risiken habe ich einige Hauptthemen abgeleitet, zu denen ich meine Interviewpartner_innen befragt habe, beziehungsweise sie aufgefordert habe, mir Geschichten dazu zu erzählen. Zusätzlich fragte ich die Interviewpartner_innen am Anfang des Interviews darüber, wie ihre Lebens- und Arbeitsumstände sind, um einen gewissen

8 Kontext zu ermitteln. Am Ende des Interviews fragte ich konkret, ob sie schon in Kontakt mit formellen Sicherungsmechanismen gekommen sind und welche Zukunftsvisionen sie für sich beziehungsweise für ihre Familie sehen.

Thematischer Leitfaden:

• Lebens-, und Arbeitsumstände • Krankheit bzw. (Arbeits-) Unfall • (Temporärer) Verlust des Einkommens/der Lebensgrundlage • Hohes Alter • Geburt • Formelle Sicherungsmechanismen • Perspektiven für die Zukunft Ausgewertet wurden die Interviews mit Hilfe einer QDA-Software (Qualitative Data Analysis) nach der zusammenfassenden qualitativen Inhaltsanalyse (Kuckartz 2009). Nach der Transkription wurden die für meine Fragestellung relevanten Passagen der Interviews paraphrasiert und im nächsten Schritt aus dem Material induktiv Kategorien entwickelt, in dem es auf ein bestimmtes Abstraktionsniveau heruntergebrochen wurde (Mayring 2007:74ff). Hier habe ich in mehreren Arbeitsschritten relevante und häufig auftretende Codes geprüft und auf ein höheres Abstraktionsniveau gebracht, um schließlich Schlussfolgerung zu ziehen auf welche sozialen Sicherungsmechanismen die Interviewpartner_innen zurückgreifen.

9 2. Theoretische Aspekte sozialer Sicherheit

Im folgenden Kapitel möchte ich grundlegende Konzepte sozialer Sicherung erläutern. Beginnen werde ich mit einer Diskussion über verschiedene Definitionen sozialer Sicherheit. Hier werde ich die Definition und den Ansatz der International Labour Organisation (ILO) vorstellen und kritisch diskutieren und dann eine weiter gefasste Definition zeigen, die den Ansprüchen der Untersuchung von Entwicklungsländern besser gerecht wird. Anschließend werde ich im zweiten Teil auf die Funktionen und Effekte sozialer Absicherung eingehen. Im dritten Teil werden institutionelle Ansätze von sozialer Sicherheit erörtert, um daraufhin im vierten Unterkapitel zu zeigen, welche Probleme sich bei der Einführung solcher Ansätze für Entwicklungsländer ergeben. Dabei sollen auch Risiken aufgezeigt werden, die sich aus kaum oder schlecht etablierten Sicherungssystemen ergeben. Weiters werde ich Aspekte der Umverteilung diskutieren. Während soziale Sicherungssysteme grundsätzlich den Anspruch haben, eine Umverteilung des Reichtums nach unten zu erreichen, ist dies nicht immer der Fall. Gerade in elitären Wohlfahrtsstaaten ist eine regressiven Verteilung, also eine Umverteilung von unten nach oben gang und gäbe. Im letzten Teil des Kapitels werde ich zum einen neuere Ansätze präsentieren, die vor allem die Stärke sozialer Sicherung als Mittel zur Reduktion von Armut und Vulnerabilität in den Mittelpunkt stellen. Zum anderen werde ich auf einige neuere Beispiele konkreter Pläne und politischer Umsetzungen aus Entwicklungsländern eingehen, in denen es Versuche gibt, soziale Sicherungsmaßnahmen auch Menschen aus dem informellen Sektor zugänglich zu machen.

2.1 Definitionen von sozialer Sicherheit

Die Frage, was soziale Sicherheit ist, ist nicht ganz einfach zu beantworten. Eine besondere Herausforderung dabei ist eine Definition zu finden, die dem komplexen Feld sozialer Sicherheit in Entwicklungsländern gerecht wird und auch nicht-formalisierte Formen sozialer Sicherheit berücksichtigt. Es gibt eine Vielzahl von Definitionen, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Zwei Extreme dieser großen Bandbreite sind einerseits sehr enge Definitionen und anderseits sehr weit gefasste. Erstere verstehen unter sozialer Sicherung nur

10 Sozialversicherungsmodelle oder staatliche Präventionsmechanismen, die als soziale Sicherung gekennzeichnet sind und vom zuständigen Amt eines Landes zu einer gewissen Zeit veranlasst werden, also zum Beispiel formalisierte Gesundheits-, Alten- oder Unfallversicherungen.

„Social security in any country is what the Department of Social Security in that country happens to be doing at the time” (Parrot zit. nach von Benda-Beckmann/Kirsch 1999:24)

Solche Definitionen sind zu eng gefasst und fokussieren nur auf staatliche Interventionen, dadurch wird die Rolle des Marktes, der Familie und nichtstaatlicher Akteur_innen ausgeklammert.

Nach der ILO Definition ist soziale Sicherheit: (a) The provision of benefits to households and individuals (b) through public or collective arrangements (c) to protect against low or declining living standards (d) arising from a number of basic risks and needs. (Van Ginneken 1999:51)

Diese neun Risiken werden in der Social Security Convention No. 102 von 1959 aufgelistet.

In this Convention social security schemes are divided into nine 'branches': they include the statutory provision of (1) medical care, (2) sickness benefit, (3) unemployment benefit, (4) old age benefit, (5) employment injury benefit, (6) family benefit, (7) maternity benefit, (8) invalidity benefit, and (9) survivors benefit. (Midgley 1984:82)

Der zweite wichtige Bestandteil sozialer Sicherung ist, in der Sichtweise der ILO, Einkommenssicherheit und Zugang zu medizinischer Versorgung.

There are two major objects social security should meet according to the ILO, namely 'income security' and 'availability of medical care', which are specifically identified in the ILO Income Security Recommendation, 1944 (No. 67), and the Medical Care Recommendation, (No. 69), respectively, as essential elements of social security. (ILO 2001:14)

In einem anderen Artikel definiert Wouter Van Ginneken soziale Sicherheit als:

[T]he protection that a society provides to individuals and households, to ensure access to basic health care and to guarantee income security, particularly in case of old age, unemployment, sickness, invalidity, work injury, maternity or loss of a breadwinner. Social security basically consists of two components: tax-financed and contributory schemes. (Van Ginneken 2009:29)

Die hier gezeigte Definition sozialer Absicherung hat zwei konkrete Schwächen im Bezug auf Entwicklungsländer. Erstens ist sie eine rein institutionelle. Sie bezieht sich nur auf staatliche und private Organisationen, denen die Rolle der sozialen Absicherung zukommt. Dies ist in Entwicklungsländern oft dahingehend problematisch, als nur ein kleiner Teil der Bevölkerung Zugang zu solchen Mechanismen hat (Midgley/Hosaka 2011:xi). Außerdem wird in dieser

11 Sichtweise nur auf die absichernde Funktion sozialer Sicherheit eingegangen. Soziale Sicherheit hat aber auch eine befördernde Funktion, die besonders im Kontext weit verbreiteter Armut und Vulnerabilität eine große Rolle spielt.

Wie Jean Drèze und Amartya Sen in ihrem Artikel „Public Action for Social Security“ erklären, hat soziale Sicherheit zwei Dimensionen. Einerseits eben diese beschützende Dimension von schlechten oder sich verschlechternden Lebensbedingungen aber anderseits auch eine befördernde Seite. Drèze und Sen nennen diese zwei Funktionen sozialer Sicherung hier „protection“ und „promotion“. Promotion bedeutet, gewisse Möglichkeiten zu schaffen oder Menschen so zu unterstützen, dass diese nicht in die Situation der Unsicherheit geraten, beziehungsweise sich aus ihr befreien können. (Drèze/Sen 1991:3f) Denn die Vulnerablen von heute sind die Armen von morgen, sie leben zwar jetzt nicht unter der Armutsgrenze, sind aber der Gefahr ausgesetzt zu verarmen. (Kannan/Pillai 2007:60)

Armando Barrientos definiert Vulnerabilität in „Social Protection and Poverty“ als die Wahrscheinlichkeit in Zukunft arm zu sein. Es sind also auch Menschen, die heute arm sind, sehr vulnerabel, da diese besonders dem Risiko ausgesetzt sind, dies in Zukunft immer noch zu sein (2010:7). Vulnerabilität bezieht sich aber nicht nur auf Armut, sondern ist allgemeiner gesagt das Fehlen von Beziehungen, Ressourcen, oder Strategien um mit bestimmten Gefährdungen umzugehen.

You are vulnerable to a certain hazard if you have no means of coping with the consequences of that hazard once it has occurred: for example, not being able to afford medical care that can help you regain your health. (ILO 2010:16)

Ein alternativer Ansatz, der der institutionellen Perspektive kritisch gegenübersteht und soziale Sicherheit ganzheitlich betrachtet ist der „functional approach“. In „Social Security between Past and Future“ vertreten Franz und Kebet von Benda-Beckmann (2007:15) eine Definition sozialer Sicherheit, die sowohl formelle als auch informelle Mechanismen der sozialen Sicherung miteinschließt. Soziale Sicherheit wird als eine Qualität der sozialen Beziehungen und Institutionen gesehen, die sich auch in Ideologien, Religionen, Philosophien, Ethiken, politischen Programmen und festgeschriebenen Regeln ausdrückt. Soziale Sicherheit kann sich aber auch auf zwischenmenschliche Interaktionen beziehen, in denen Güter und Dienstleistungen transferiert werden oder Pläne gemacht werden solche Transfers in Zukunft durchzuführen um mit Unsicherheiten umzugehen. (Von Benda- Beckmann 1994:15)

Die Komplexität besteht vor allem darin, dass in Entwicklungsländern nur ein kleiner Teil in

12 festen Arbeitsverhältnissen beschäftigt ist, und die meisten Menschen ihren Lebensunterhalt durch einen Mix an verschiedensten Ressourcen bestreiten, hier gehören sowohl Gelegenheitsarbeiten, selbstständige Tätigkeiten, das Engagement in Klein- und Kleinstunternehmen, etc. dazu, als auch nicht monetär vergütete Tätigkeiten wie Subsistenzwirtschaft oder unbezahlte Haus- und Reproduktionsarbeit. Nur wenige gehen einer geregelten Lohnarbeit nach, und haben „eine“ Versicherung, die im Falle von Krisen den Einkommenserhalt sichert. Es sind viele verschiedene Mechanismen und Beziehungen wie familiäre Beziehungen, Verwandtschaftsbeziehungen oder andere Beziehungen gegenseitiger Hilfeleistung, die soziale Sicherheit gewährleisten. (Rohregger 2010) So eine breit gefasste Definition ist notwendig, um sich den komplexen Mechanismen und Realitäten sozialer Sicherheit in Entwicklungsländern anzunähern und diese zu verstehen (ebd. 2006:27).

2.2 Aufgaben sozialer Absicherung

Die Aufgaben sozialer Sicherheit können in zwei Bereiche aufgeteilt werden: Erstens der Beibehaltung eines gewissen Lebens- und Einkommensstandards und zweitens die Sicherung der grundlegenden Bedürfnisse eines würdigen Lebens.

In einer Situation weit verbreiteter und anhaltender Armut und einem Kontext eines überwiegenden unorganisierten Sektors in Entwicklungsländern muss ein traditionell europäisch geprägtes Konzept sozialer Sicherung überdacht werden. K.P. Kannan und Vijayamoannan Pillai (2007), die sich mit der Situation der sozialen Absicherung in Indien auseinandersetzen, schreiben hierzu, dass soziale Sicherheit zwei verschiedene Funktionen erfüllt. Das sind einerseits im traditionellen Sinn sozialer Sicherungsmechanismen die Strategien der Gesellschaft auf Krisen zu reagieren, diesen Aspekt nennen die Autoren „contingent social security“ (CSS). Andererseits verstehen sie soziale Sicherheit im Sinne einer grundlegenden sozialen Sicherung, also eine „basic social security“ (BSS).

BSS is directly linked to the problem of deficiency of those who are not in a position to access minimum of resources to meet their economic and social requirements for a dignified life in their society. (Kannan/Pillai 2007:6)

13 2.2.1 Soziale Sicherungsmechanismen im Sinne von „contingent social security“ (CSS) Soziale Sicherheit in diesem Sinne heißt, dass sich Menschen vor verschlechternden Lebenssituationen schützen. Hierbei ist wichtig anzumerken, dass es um den Beibehalt eines Lebensstandards geht, unabhängig vom sozio-ökonomischen Status. In Industrieländern ist diese Form der sozialen Absicherung auf verschiedene Weisen etabliert, und zu einem hohen Grad formalisiert. Formalisierte soziale Absicherung in lange etablierten Systemen sozialer Absicherung kann nach Peter Townsend in drei Komponenten eingeteilt werden.

Erstens in breit angelegte Sozialversicherungsprogramme, die festgelegte Beiträge von ihren Mitgliedern einheben. Diese Beiträge werden einerseits vom Lohn der Versicherten abgezogen und andererseits müssen auch die Arbeitgeber_innen beitragen. Im Gegenzug garantieren die Versicherungen Leistungen für die Versicherten und ihre Angehörigen.

Zweitens gibt es durch allgemeine Steuern getragene Beihilfsmechanismen. Solche Beihilfen kommen jenen zu, die einer gewissen sozialen Kategorie zugeordnet werden, wie Alte, Behinderte, oder die auf Grund anderer Umstände als Beihilfsbezieher_innen ausgezeichnet werden, wie etwa Beihilfen für alle Kinder.

Drittens gibt es, meist bedarfsgeprüfte Beihilfen, die ein grundlegendes Minimum an Leistungen oder Einkommen bieten. (Townsend 2009:36)

Solche sozialen Sicherungsmechanismen sollen Arbeiter_innen und ihre Familien vor bestimmten Risiken schützen, die eine Gefährdung für den Lebensstandard darstellen. Diese Risiken können in lebenszyklische Risiken und arbeitsbedingte Risiken unterschieden werden. Erstere sind Eventualitäten, die im Laufe des Lebens eintreffen, so wie Kindheit, Alter oder Schwangerschaft. Zweitere sind Risiken, die besonders im Kontext der Arbeitstätigkeit auftreten oder gefährdend sind. Solche arbeitsbedingten Risiken sind beispielsweise Arbeitslosigkeit, Krankheit und Arbeitsunfälle. (Barrientos 2010:1)

Armando Barrientos (2010) identifiziert neben den oben beschriebenen drei Dimensionen von Townsend eine vierte Ebene, die für die Arbeit der ILO in Bezug auf soziale Sicherheit wichtig ist, das sind Arbeitsmarktregulierungen. Hier sind vor allem Gesetzgebung, Mindestlöhne, Arbeitsbedingungen, Sicherheitsstandards, etc. relevant.

Solche Vorkehrungen, wie die oben genannten formellen Sicherungsmechanismen, sind zwar in den Industrieländern voll etabliert, jedoch in Entwicklungsländern ist deren Ausprägung unterschiedlich stark. (ebd. 2005:2)

14 2.2.2 Soziale Sicherungsmechanismen im Sinne von grundlegender sozialer Sicherheit (BSS) Während Contingent Social Security die Absicherung eines gewissen Lebens- und Wohlstandstatus zum Ziel hat - was auch voraussetzt, dass ein gewisser erstrebenswerter Lebensstandard vorhanden ist - bezieht sich Basic Social Security auf eine Absicherung eines minimalen Standards, der ein menschenwürdiges Leben ermöglicht. Dies ist vor allem für jene Menschen relevant, die nicht in der Lage sind, mit eigenen Mitteln ihre Situation so zu verändern, dass ein angemessener Standard erreicht wird.

In der internationalen Diskussion wird in diesem Zusammenhang oft das Wort „social protection“ gebraucht. (Devereux-Sabathes/Wheeler 2004) Dieser Begriff bezeichnet eher einen Schutz vor schlechten Lebensbedingungen als einen Schutz vor sich verschlechternden Lebensbedingungen.

Nach Devereux und Sabates-Wheeler (2004) ist die Hauptaufgabe sozialer Absicherung (social protection), die Vulnerabilität und Armut zu vermeiden. Das beinhaltet die Bekämpfung von Armut, da arme Menschen besonders davon gefährdet sind, auch in Zukunft arm zu sein; als auch Maßnahmen zu treffen, um zu verhindern, dass Menschen gar nicht erst in eine Situation der Armut kommen, aus der sie sich nur schwer selbst wieder befreien können. Hierzu unterteilen sie in vier verschiedenen Kategorien von Maßnahmen: “protective, preventive, promotive and transformative measures” (2004:9). Damit erweitern sie die Zweiteilung der sozialen Sicherheit in protektive und befördernde Maßnahmen (Drèze/Sen 1991:3). Die vorliegende Definition der beiden Autor_innen beinhaltet sowohl formelle als auch informelle Mechanismen sozialer Absicherung.1

SOCIAL PROTECTION is the set of all initiatives, both formal and informal, that provide: social assistance to extremely poor individuals and households; social services to groups who need special care or would otherwise be denied access to basic services; social insurance to protect people against the risks and consequences of livelihood shocks; and social equity to protect people against social risks such as discrimination or abuse. (Devereux/Sabates-Wheeler 2004:9)

Diese vier Maßnahmen definieren Devereux/Sabates-Wheeler (2004) wie folgt:

1 Hier wird der Begriff „social protection“ verwendet. Oft werden die Begrifflickeiten „social protection“ und „social security“ austauschbar verwendet, und in der Literatur wenig differenziert voneinander eingesetzt. Nach der Definition der ILO wird „social security“ tendenziell eher für einen eng gefassten Begriff der sozialer Sicherheit verwendet, der sich vor allem auf die finanzielle Absicherung ökonomischer Risiken konzentriert. „Social protection“ wird hingegen eher weiter verstanden und hat seinen Fokus mehr auf der Bekämpfung von Vulnerabilität und Armut. (ILO 2010:13; Srivastava 2013:1)

15 • Protektive Maßnahmen bieten Linderung von Armut und Mangel, wo befördernde Maßnahmen nicht helfen. Zu diesen protektiven Maßnahmen gehören Sozialbeihilfen besonders für jene, dich nicht arbeiten und sich nicht selbst versorgen können. Normalerweise sind das zielgerichtete soziale Pensionen für Menschen in hohem Alter oder Behinderte, manchmal auch Beihilfen für Alleinerziehende. Das indische „Indira Gandhi National Old Age Pension Scheme“ ist beispielsweise ein solcher protektiver Mechanismus. Außerdem gehören auch soziale Dienstleistungen, wie beispielsweise Waisenbetreuung dazu.

• Präventive Maßnahmen sind darauf ausgelegt, Armut und Mangel zu vermeiden. Diese Maßnahmen zielen auf Menschen ab, die in Gefahr sind, in Armut zu geraten, oder bereits in Armut geraten sind und Hilfe benötigen um die Rückschläge, die ihre Lebensgrundlage betreffen (livelihood shocks), zu überwinden. Zu solchen Maßnahmen gehören verschiedene Sozialversicherungsprogramme, beispielsweise Pensionssysteme, Gesundheitsversicherungen, Mutterschaftszuschüsse, Kindergeld oder Arbeitslosenunterstützungen. Zu den präventiven Maßnahmen gehören aber auch informelle Mechanismen wie Spargemeinschaften oder Strategien der Risikostreuung wie die Diversifizierung von Einkommen oder der angebauten Produkte in der Landwirtschaft.

• Fördernde Maßnahmen haben zum Ziel, das Einkommen und die Verwirklichungschancen2 zu verbessern. Als Beispiel für solche Programme gelten Kleinkredite oder Programme für die Bereitstellung von Essen in Schulen. Es ist aber nicht ganz unumstritten, ob solche Programme das Konzept sozialer Sicherheit nicht zu weit sehen. Devereux und Sabates-Wheeler sehen die Inklusion dieser Maßnahmen aber als legitim an, insoweit als dass Einkommenssicherung ein Ziel der Programme ist.

• Transformative Maßnahmen haben die Belange von sozialer Gleichheit sowie das Bekämpfen von Ausgrenzungsmechanismen zum Ziel. Dies sind sowohl Maßnahmen wie die gewerkschaftliche Organisation um politische Positionen zu stärken, als auch die Berufung auf Menschenrechte im Falle ausgegrenzter Minderheiten. Aber auch Bewusstseinsbildungskampagnen können als transformative Interventionen gesehen werden. (Ebd 2004:10) 2 Als Verwirklichungschancen verstehe ich hier die Ressourcen und Möglichkeiten um wirtschaftlich tätig zu werden sowie Beziehungen einzugehen, die den Lebensstandard von Personen verbessern können.

16 2.2.3 Arbeitskraftsichernde Komponente sozialer Sicherheit Wohlfahrtsstaatliche Mechanismen werden oft als Zugeständnisse gegenüber Arbeiter_innen gesehen, um deren Bedürfnisse abzudecken. Jedoch bieten soziale Sicherungsmaßnahmen nicht nur Vorteile für Arbeiter_innen, sondern haben auch gesamtwirtschaftlich positive Auswirkungen. In etablierten Wohlfahrtsstaaten wurden Kompromisse zwischen der Arbeiter_innenschaft und den Arbeitgeber_innen gefunden, die beide Seiten tragen können. Townsend schreibt, dass das Kollektivieren von Risiken einerseits zwar große Vorteile für die arbeitende Bevölkerung hat, aber anderseits auch positive Auswirkungen für Arbeitgeber_innen und den Staat. Somit wurde das Mittragen von Versicherungsbeiträgen von den Arbeitgeber_innen als notwendige Kosten der Produktion akzeptiert. (Townsend 2009:37)

Sonja Kurz führt einige gesamtwirtschaftliche Vorteile sozialer Sicherung an. [D]ie Stabilisierung beziehungsweise Erhöhung der Nachfrage und damit der Beschäftigung, die Instandhaltung des Arbeitskräftepotentials und damit der Gewährleistung einer Mindestproduktivität, Wachstums- und Konjunktureffekte durch gesteigerte Produktivität, eine Erhöhung der Sparquote und damit der Investitionsquote sowie die Erhaltung des sozialen Friedens, durch ein hohes Maß an sozialer Zufriedenheit. (Kurz 1999:26)

2.3. Erklärungsansätze für verschiedene Ausprägungen von Wohlfahrtsmodellen

In meiner Arbeit vergleiche ich zwei Bundesstaaten Indiens miteinander. Auf der einen Seite Uttar Pradesh, ein Bundesstaat in dem es fast keine staatlichen Mechanismen soziale Absicherung gibt, und andererseits Kerala, einem Bundesstaat in dem es eine für Indien erstaunlich gute Sozialpolitik und ein sehr ausgeprägtes System an Wohlfahrtfonds für verschiedene Berufsgruppen gibt. Um diesen eklatanten Unterschied verständlich zu machen greife ich auf theoretische Ansätze zurück, welche diese verschiedenen Entwicklungen erklären können.

Es gibt verschiedene Erklärungsansätze für die unterschiedliche Ausprägung von wohlfahrtsstaatlichen Strukturen. Manche dieser Ansätze konzentrieren sich mehr auf systemisch-strukturelle Zusammenhänge, andere wiederum fokussieren auf die institutionelle Ebene, wie beispielsweise die „Demokratie-These“ (Esping-Andersen 1998:26). Systemorientierte Ansätze erklären die Entwicklung von Wohlfahrtsstaaten aus den Umständen heraus, die durch die Industrialisierung entstanden sind, also einer

17 Proletarisierung der Bevölkerung, zunehmender Verstädterung und Erosion bestehender gesellschaftlicher Arrangements sozialer Absicherung (ebd. 1998:25). Modernisierungstheorien gehen davon aus, dass die Gesellschaften in Entwicklungsländern aufgrund einer nachholenden Industrialisierung einen ähnlichen Prozess durchlaufen und sich somit auch wohlfahrtsstaaatliche Strukturen entwickeln. (Rohregger 2010:296) Institutionelle Ansätze sehen die Entwicklung von Sozialstaaten darin begründet, „dass demokratische Mehrheiten Verteilungsmaßnahmen anstreben werden, die die Schwächen und Risiken des Marktes ausgleichen sollen“ (Esping-Andersen 1998:27). In der klassischen Formulierung der „Demokratie-These“ sagt dies aus, dass die bloße Institutionalisierung der Demokratie ausreicht, um umverteilende Maßnahmen zu schaffen. Sie beschäftigt sich jedoch nicht mit der Rolle von gesellschaftlichen Klassen als Akteur_innen in diesem Prozess (ebd. 1998:27). Ein Ansatz, der gerade auf diesen Aspekt fokussiert ist, ist die „Klassenmobilisierungs-These“ (ebd. 1998:29). Erst durch gemeinschaftliches Handeln der Arbeiter_innenklasse werden sozialstaatliche Maßnahmen erreicht. Ein neuerer Ansatz, der auch zur Erklärung sozialstaatlicher Ausprägungen herangezogen werden kann, ist das Konzept der Pfadabhängigkeit. Dieses Konzept beinhaltet strukturelle und institutionelle Elemente und zusätzlich werden politische Mobilisierung und kollektives Handeln als Teil des politischen Prozesses gesehen, welcher die Form von Sozialsystemen bestimmt.

Die beiden erstgenannten Ansätze scheinen mir für den Fall von Indien und speziell für den Vergleich der zwei Bundestaaten Kerala und Uttar Pradesh wenig aufschlussreich. Der strukturalistische Ansatz erscheint mir deswegen ungeeignet, weil in Indien keine Industrialisierung wie in Europa stattgefunden hat und sich größtenteils keine organisierte Arbeiter_innenschaft herausgebildet hat. Den demokratieorientierten Ansatz kann ich deshalb nicht für die vergleichende Perspektive verwenden, da die Etablierung demokratischer Institutionen in den beiden Bundesstaaten zeitgleich stattgefunden hat, jedoch gravierende Unterschiede in der Etablierung von Wohlfahrtspolitiken bestehen. Wenn wir den Vergleich Indien und China heranziehen, ist die positive Auswirkung formaler Demokratie noch fragwürdiger, da trotz eine langen demokratischen Tradition in Indien der undemokratisch regierte Nachbarstaat China in vielen Indikatoren wie Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, etc. besser dasteht (Sen 1997:10ff).

Die Klassenmobilisierungs-These und das Konzept der Pfadabhängigkeit hingegen sind sehr gut geeignet, um die Unterschiede in den Wohlfahrtssystemen der beiden Bundesstaaten zu

18 erklären. Im Folgenden werde ich deshalb genauer auf diese beiden Erklärungsansätze eingehen.

2.3.1 Klassenmobilisierungs-These Die Klassenmobilisierungs-These kommt aus der sozialdemokratischen Schule (Esping- Andersen 1998:29). Sie legt besonderes Augenmerk auf das Machtverhältnis verschiedener Klassen. Die Interessen der Klassen können über Repräsentant_innen in den Parlamenten und politischen Institutionen vertreten und umgesetzt werden. Demokratische Institutionen sind in diesem Ansatz zwar integraler Bestandteil der Umsetzung von Forderungen der Arbeiter_innenklasse, im Unterschied zum institutionellen Ansatz werden demokratische Institutionen aber nicht per se als förderlich für die Entwicklung hin zu einem Wohlfahrtsstaat gesehen. Sondern es bedarf kollektiven Handelns, um diese Interessen durchzusetzen.

Wohlfahrtsstaaten werden in diesem Ansatz aber nicht nur als das Endergebnis gesehen, sondern als dynamische Entwicklung, die ihrerseits wieder die Klassenmobilisierung und Klassensolidarität bedingt. Angenommen wird dabei, dass die Arbeiter_innen aufgrund ihrer Abhängigkeit von der Lohnarbeit in Konkurrenz zueinander stehen. Durch sozialstaatliche Interventionen können solche trennenden Strukturen abgeflacht und überwunden werden. (Esping-Andersen 1998:29)

Soziale Rechte, Einkommenssicherheit, Egalisierung, Armutsbekämpfung - all das, wonach ein universalistischer Wohlfahrtsstaat strebt, stellt eine notwendige Voraussetzung für die Stärke und Einheitlichkeit dar, ohne die kollektive Machtmobilisierung undenkbar ist. (Ebd. 1998:29)

Bei diesem Argument ist zu berücksichtigen, dass dieses aus der sozialdemokratischen Perspektive stammt, in korporatistischen Wohlfahrtsstaaten gibt es sehr wohl eine gezielt eingesetzte Teilung der Gesellschaft durch sozialstaatliche Intervention, um Klassenkoalitionen zu verhindern (Townsend 2007:24). So etwa, dass öffentlich Bedienstete in dem System bevorzugt werden und nicht die gesamte Arbeiter_innenschaft und alle Angestellten in einem Versicherungsmodell integriert sind. Die bestimmenden Faktoren für die Ausprägung wohlfahrtsstaatlicher Strukturen in der Klassenmobilisierungsthese sind der Grad der gewerkschaftlichen Organisation und der Grad der Regierungsbeteiligung von Vertreter_innen der arbeitenden Klasse. (Esping-Andersen 1998:29)

Wenn wir aus dieser Perspektive auf Indien blicken, fällt auf, dass es hier nur zu einem

19 gewissen Grad eine Proletarisierung und Bildung einer gemeinsam agierenden Arbeiter_innenklasse gibt. In Indien werden die informellen Arbeiter_innen, die über 90 Prozent der Arbeitskraft ausmachen, meist als unorganisierte Arbeiter_innen bezeichnet (NCEUS 2007:1). Diese Bezeichnung weist schon deutlich auf das Problem hin, das aus der Perspektive der Klassenmobilisierungs-These in Indien zu erkennen ist. Geregelte Lohnarbeit und feste Anstellungsverhältnisse sind eher eine Ausnahme. Die meisten Arbeiter_innen sind selbstständig wirtschaftlich tätig, oder sind in sehr kurzfristigen Lohnarbeitsverhältnissen involviert. In den letzten Jahren verstärkt sich sogar der Trend in Richtung Informalisierung der Arbeit und die Arbeiter_innenbewegung sieht sich neuen Gefahren ausgesetzt.

Today, workers and their trade unions in are under attack. They are forced to confront escalating unemployment, casusalisation, informalisation, wage and staff cuts, destruction of entire industries, declining health and safety standard, union busting and quite often, the co-option of union leaders by employers, erosion of basis labour rights, militancy from aggressive employers, imposition of unfair labour practices, loss of social protection and safety nets etc. (Kerala State Planning Baord 2009:453f)

Die Gewerkschaftsbeteiligung ist relativ niedrig, nur jede_r vierzehnte indische Arbeiter_in ist Mitglied einer Arbeiter_innenorganisation (LO/FTF Council 2013:1). Ein positives Bild aus der Sichtweise der Klassenmobilisierungs-These zeigt das Beispiel Kerala, wo gewerkschaftliche Organisation und kommunistische Parteien eine lange Tradition haben (Herring 2003:69). In Kerala ist jede_r vierte Arbeiter_in Mitglied in einer Gewerkschaft. (MoSPI 2014:5) In diesem Bundesstaat spiegeln sich die positiven Ergebnisse gut etablierter Sozialpolitik in einer hohen Lebenserwartung, guter Schulbildung und anderen Indikatoren an denen soziale Entwicklung gemessen werden kann.

2.3.2 Pfadabhängigkeit Das Konzept der Pfadabhängigkeit wird in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte dazu verwendet, gesellschaftlichen Wandel zu erklären. Die Pfadabhängigkeit besagt, dass sich solcher Wandel entweder als Abstufung innerhalb eines gewissen Entwicklungspfades ereignet, oder dass ein gravierender Wechsel zwischen Entwicklungspfaden stattfindet. Mit dem Ansatz der Pfadabhängigkeit liegt der Fokus auf verschiedenen Mustern des Wandels, und es kann gezeigt werden, dass die Folgen von politischem Handeln stark von deren „timing“ und dem Einfluss politischer Akteur_innen zu einem gewissen Zeitpunkt abhängen. (Houtzager 2002:3) Dieser Aspekt ist auch wichtig für die vorliegende Arbeit, weil er meiner

20 Ansicht nach ein wichtiges Erklärungsmuster für die sehr unterschiedlichen Entwicklungen in Uttar Pradesh und Kerala bietet.

Eine Annahme der Pfadabhängigkeit ist das Konzept von „increasing returns“, also von Ereignissen, die sich selbst wiederholen und verstärken. Für politische Prozesse heißt das erstens, dass umso früher ein richtungweisender Prozess stattfindet, desto mehr wird dieser sich auf den späteren Verlauf auswirken und zweitens, dass Pfade, die einmal eingeschlagen wurden, schwer rückgängig gemacht werden können, sondern eher vom derzeitigen Standpunkt ein neuer Pfad eingeschlagen wird. Das Rückgängigmachen bereits beschrittener Pfade ist mit hohen ökonomischen und politischen Kosten verbunden. (Pierson 2000:251ff)

Zeitpunkte zu denen vom beschritten Pfad abgegangen wird, oder bahnbrechende Änderungen vorgenommen werden, werden oft durch Krisen des bisherigen Pfades ausgelöst. Diese sogenannten „critical junctures“ sind kritische Momente wie Kriege, Wirtschaftskrisen, Epidemien oder Naturkatastrophen (ebd. 2000:252). Das bedeutet also, dass ausgehend von gleichen Voraussetzungen extrem verschiedene Ergebnisse folgen können und auch, dass die real-politische Situation stark vom zeitlichen Verlauf und der Abfolge politischer Prozesse abhängig ist. Das heißt weiter, dass Entscheidungen während kritischer Phasen Prozesse in Gang setzen, die noch lange nach dieser kritischen Phase wirken werden. Diese “critical junctures” sind meist relativ kurze Zeitfenster im politischen Prozess, können aber bei lang andauernden politischen Veränderungen auch über ein oder zwei Jahre dauern. Je länger solche Phasen sind, umso wahrscheinlicher ist es, dass sie langfristige Auswirkungen haben. (Capoccia 2007:348) Mit der Theorie der kritischen Wendepunkte soll aber kein Automatismus angenommen werden. Kritische Situationen müssen keine entscheidenden Wendepunkte darstellen. Oft werden in solche Situationen auch bestehende Strukturen aufrechterhalten oder gestärkt. Manchmal sind sie aber eben Chancen, um neue Wege einzuschlagen und grundlegende Änderungen vorzunehmen. (ebd. 2007:50f)

2.3.2.1 Relevanz des Konzepts für die Politik Die Pfadabhängigkeit ist ein ursprünglich ökonomisches Konzept, aber aufgrund der Natur des politischen Feldes sind sich-selbst-verstärkende-Prozesse in der Politik besonders relevant. Paul Pierson (2000) streicht besonders folgende vier Punkte heraus, die politische Prozesse anfällig für Pfadabhängigkeit macht.

− Kollektives Handeln spielt in der Politik eine zentrale Rolle, da sie ein umkämpftes

21 Terrain ist, in dem verschiedene Interessen aufeinander treffen. Um Machtverhältnisse zu verschieben, müssen sich Menschen organisieren und gemeinsam auf etwas hinarbeiten. Durch kollektives Handeln können bestehenden Verhältnisse und Strukturen verändert werden. Um Strukturen zu verändern und langfristig kollektive Güter zu produzieren, werden oft Prozesse institutionalisiert.

− Es entsteht eine hohe Dichte an Institutionen. Einmal etabliert haben diese eine starke Tendenz sich zu reproduzieren. Umso länger solche Institutionen etabliert sind, umso größer werden die Kosten sie abzuschaffen oder sie zu ersetzen. Oft werden durch Institutionalisierungen auch Prozesse etabliert, die über die Amtszeit von Träger_innen politischer Ämter hinausgehen, diese Regeln binden in weiterer Folge auch künftige Regierungen.

− Durch das politische System und die Autorität, die Träger_innen politischer Ämter zukommt, werden positive Feedback Prozesse begünstigt und umgekehrt. Durch positive Feedback Prozesse können Machtverhältnisse, die zu Beginn noch relativ ausgewogen sind, sich zu einem Ungleichgewicht der Kräfte auswirken. Auch soweit, dass diese Kräfteverhältnisse so tief in die soziale Ordnung eindringen und verinnerlicht werden, dass dieses Ungleichgewicht fast unsichtbar wird. Besonders wenn Akteur_innen in der Position sind, politische und institutionelle Regeln zu gestalten, führt dies zu sich selbstverstärkenden Machtverhältnissen, wenn diese ihre eigenen und klientelistische Interessen bedienen.

− Dieser Effekt wird befördert durch die Komplexität und Undurchsichtigkeit politischer Institutionen. Durch den komplizierten Aufbau solcher Systeme ist es oft kaum ersichtlich, wer für welche konkreten Schritte verantwortlich ist. Somit ist es schwer, Verbesserungen einzufordern oder Fehler anzuprangern. Korrekturmaßnahmen durch demokratische Prozesse sind bei Wahlen beispielsweise nur sporadisch möglich und nur wirksam wenn gemeinsam gehandelt wird. (Pierson 2000:257ff)

Wie wir sehen werden, ist dieses Konzept für die vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung: eine Hypothese der Arbeit ist, dass die unterschiedliche Entwicklung in Uttar Pradesh und in Kerala stark vom historischen Verlauf und den politischen Strömungen in diesen Bundesstaaten abhängt. Besonders die Entwicklung Keralas lässt sich mit Hilfe der Theorie von „critical junctures“, und „incrasing returns“ erklären, und auch für die Entwicklung Uttar Pradesh gibt es auf dem Konzept der Pfabhängigkeit basierende Modelle, die die spezifische

22 Entwicklung dieses Bundesstaats erklären, wie ich in Kapitel 5.2 genauer ausführen werde.

Ein Beispiel für die Pfadabhängigkeit und „critical junctures“ ausserhab Indiens ist die Einführung einer universellen Krankenversorgung in Thailand. Nach der asiatischen Finanzkrise 1997 wurde 2001 Taksin Shinwatra von der Thai Rak Thai Partei Premierminister Thailands. Während seiner Amtszeit führte er das 30 Bath Modell ein. Eine universelle Gesundheitsversorgung mit 30 Bath Selbsbehalt für alle, außer für Menschen unter der Armutsgrenze mit dementsprechenden Identifikationskarten oder Beamten, die unter dem Civil Servants Medical Benefit Scheme versichert waren. Auch nachdem Taksin Shinawatra durch einen Putsch 2006 sein Amt verlor, wurden die Änderungen hingehend eines universellen Gesundheitssystems nicht rückgängig gemacht, sondern im Gegenteil weiter ausgebaut und der Selbstbehalt von 30 Bath wurde auch fallen gelassen. Dieses Beispiel zeigt also einerseits den Effekt einer „critical juncture“, und andererseits von sich selbst verstärkenden Prozessen. Eine wirtschaftliche Krise und damit auch spürbare Auswirkungen für die Bevölkerung wurde zur Chance ein universelles Gesundheitssystem zu etablieren, und auch nach einem Regierungswechsel wurde diese weitreichende Veränderung nicht zurückgenommen sondern weiter verstärkt. (Tangcharonsathien 2009:310ff)

2.4 Probleme der Etablierung sozialer Sicherungsmechanismen in Entwicklungsländern

Formelle, meist monetäre soziale Sicherungsleistungen sind in Europa und im angloamerikanischen Raum stark ausgeprägt. Trotzdem sind davon relativ wenige Menschen umfasst, wenn wir dies mit der gesamten Bevölkerung Asiens, Afrikas und Südamerikas in Kontext setzen. Van Ginneken schätzt, dass nur etwa 20-30 Prozent der Weltbevölkerung Zugang zu adäquaten sozialen Sicherungsmechanismen hat und zwischen 70 und 80 Prozent in einer Situation permanenter Unsicherheit leben (Van Ginneken 2009:229).

Ein Grund für die geringe Ausbreitung solcher sozialen Sicherungsmechanismen sind unter anderem zu geringe Staatseinnahmen in Entwicklungsländern. In den meisten LICs (Low Income Countries) liegt die Finanzierung sozialer Sicherungssysteme bei ungefähr einem Prozent des BIP, selten sind es zwei Prozent. Zum Vergleich: in Industrieländern liegt die Rate bei ungefähr 14 Prozent. (Townsend 2009:245) Damit soll nicht gesagt werden, dass die

23 Leistungen von Sozialsystemen rein in den Ausgaben, pro Kopf oder im Gesamten, gemessen werden können, jedoch deuten diese Zahlen auf eine massive Unterfinanzierung sozialstaatlicher Maßnahmen hin. Das Gesundheitsnetz in Entwicklungsländern ist oft mangelhaft. Van Ginneken erklärt dies erstens mit der Unterfinanzierung, die oft auch durch Strukturanpassungsprogramme verschuldet wurde, und zweitens durch mangelnde Kapazitäten zur Administration. (Van Ginneken 2009:232)

Verpflichtende beitragsfinanzierte Pensionssysteme gibt es zwar auch in vielen Entwicklungsländern, diese sind aber meist nur für einen geringen Teil der Arbeiter_innenschaft zugänglich. Oft sind wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen wie Mutterschutz, Behindertenbeihilfen oder Pensionen vor mehr als hundert Jahren in kolonialen Strukturen eingeführt und seit dem nur auf einen kleinen Teil der Bevölkerung ausgedehnt worden. In vielen Fällen betreffen diese sozialen Sicherungsmechanismen lediglich staatliche Bedienstete, wie Beamte oder das Militär. Teils gibt es auch soziale Sicherungsmechanismen für Beschäftigte großer Unternehmen. Der größte Teil der Arbeiter_innen in Entwicklungsländern ist aber im informellen Sektor tätig und wird deshalb, ebenso wie ländliche und sehr arme Bevölkerungsschichten, von diesen Sicherungsmechanismen vernachlässigt. (Townsend 2009:245)

Soziale Sicherungsmechanismen, die in Industriestaaten in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts eingeführt wurden und weitgehend gut funktionieren, sind für Entwicklungsländer wie Indien schwer umzusetzen, beziehungsweise nicht praktikabel oder wünschenswert. Eines der Hauptprobleme weshalb solche Mechanismen, die in den Industriestaaten eingesetzt werden, für Indien nicht angemessen sind, ist der hohe Grad an Informalität und Selbstständigkeit der Arbeiter_innen in Indien. Selbstständig beschäftigte haben keine Arbeitgeber_innen, das bedeutet demnach auch dass es nicht möglich ist Versicherungsprämien zwischen Arbeitgeber_in und Arbeitnehmer_in aufzuteilen. Oft gibt es im informellen Sektor keine langfristigen Beschäftigungsverhältnisse über ein oder mehrere Jahre, sondern oft sind die Arbeitsverhältnisse auf Tage oder Saisonen befristet. Außerdem werden im informellen Sektor niedrige Löhne bezahlt, und das oft unregelmäßig. (Kannan/Pillai 2007:24) Diese Merkmale der indischen Wirtschaft führen dazu, dass es vielen Arbeiter_innen kaum möglich ist, regelmäßige Beiträge für Versicherungen zu bezahlen. Ein weiterer Punkt, weshalb Wohlfahrtsmechanismen europäischer Prägung in Entwicklungsländern schwer umzusetzen sind, sind fehlende administrative Strukturen, um

24 soziale Sicherungsmechanimen effektiv und kostensparend zu verwalten, und ein schwer überschaubarer informeller Sektor. Es ist kaum nachzuvollziehen, wer wie viel verdient, oder wer wo beschäftigt ist. Das macht es sehr schwer den Faktor Arbeit zu besteuern, der in Europa einen großen Teil der Staatseinnahmen ausmacht. Ein anderer Punkt, der die Volkswirtschaften in Entwicklungsländern und Industriestaaten unterscheidet, sind die Risiken, denen die Menschen ausgesetzt sind. In Indien ist ein großer Teil der Bevölkerung auf dem Land ansässig und viele leben gänzlich oder teilweise von Subsistenzwirtschaft, dies macht sie sehr anfällig für saisonale Risiken. (Rohregger 2010)

Aus Europa exportierte Systeme sozialer Sicherung sind in den meisten Entwicklungsländern nicht nur schwer umzusetzen, sie können sogar negative Wirkungen zuungunsten der ärmeren Bevölkerung haben, weil sich die Leistungen solcher Systeme hauptsächlich auf lokale Eliten beschränken.

2.4.1 Der informelle/unorganisierte Sektor Der informelle Sektor3 spielt in den meisten Entwicklungsländern eine entscheidende Rolle, wo formelle Beschäftigungsformen die Ausnahme und nicht die Regel sind. Weltweit ist nur etwa ein Viertel der erwachsenen Bevölkerung im formellen Sektor beschäftigt, bei Männern ist es etwa ein Drittel und bei Frauen ein Fünftel. Im südlichen Afrika und in Südasien sind es weniger als 20 Prozent, in Südost- und Ostasien weniger als 40 Prozent, in Nordafrika, dem Mittleren Osten, Lateinamerika und der Karibik weniger als 60 Prozent. (ILO 2010:23) Lange wurde geglaubt, dass in einem Modernisierungsprozess mit zunehmender Industrialisierung in Entwicklungsländern auch der Anteil informell Beschäftigter sinken würde, dies ist aber nicht der Fall und sogar gegenläufige Tendenzen sind zu beobachten. Der Konsolidierungsdruck der 80er und 90er auf Entwicklungsländer führte sogar zu einer weiteren Verstärkung informeller Arbeitsverhältnisse (Rohregger 2010:310). Es müssen also Mechanismen geschaffen werden, die für Beschäftigte im informellen Bereich geeignet und auch zugänglich sind.

Der offiziellen Definition des „Unorganised Workers Social Security Act“ nach gehören alle Betriebe, die unter zehn Angestellte haben und außerdem alle selbständig Tätigen (self- employed) zum unorganisierten Sektor. Unorganisierte Arbeiter_innen sind all jene Lohnarbeiter_innen im unorganisierten Sektor und die, die im organisierten Sektor tätig sind,

3 In Indien wird vermehrt der Begriff „unorganisierter Sektor“ oder „unorganisierte Arbeiter_innen“ verwendet. Es gibt aber in der Literatur keine klare Trennung dieser beider Begriffe, deshalb werde ich „informell“ und „unorganisiert“ synonym verwenden.

25 aber nicht unter gesetzliche Bestimmungen wie den „Employees State Insurance Act“ u.a. fallen. (Ministry of Law and Justice 2008)

Im informellen Sektor gibt es oft keine Arbeitsbedingungen, die eingehalten werden müssen, so wie Arbeitsplatzsicherheit oder regulierte Arbeitszeiten. Des Weiteren handelt es sich oft um prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Damit ist gemeint, dass die Arbeitsplatzsicherheit nicht längerfristig gewährleistet ist. Viele sind auf täglicher Basis angestellt, und können ihre Einkommensquelle von einem auf den anderen Tag verlieren. Ein weiterer problematischer Punkt dieser Arbeitsverhältnisse ist der oft geringe und unregelmäßige Lohn. Dies führt wie schon erwähnt unter anderem dazu, dass sich Arbeiter_innen keine Versicherung leisten können, oder keine regelmäßigen Beiträge bezahlen können.

2.4.2 Notwendigkeit sozialer Sicherungsmechanismen Durch die Abwesenheit eines adäquat ausgebauten sozialen Sicherungssystems entstehen verschiedene schwerwiegende Probleme. Menschen, die sich in unsicheren und vulnerablen Lagen befinden, können durch mehr oder minder schwerwiegende Krisen in Armut gestürzt werden. Soziale Sicherungsmechanismen können dazu beitragen die Vulnerabilität gegenüber bestimmten Gefährdungen zu reduzieren, und die Belastungen, die durch materialisierte Risiken auftreten, zu tragen. (ILO 2010:16) Gesundheitskosten werden beispielsweise in Entwicklungsländern meist aus der eigenen Tasche bezahlt. Es gibt kaum Versicherungen, die solche Ausgaben übernehmen. So kommt es dazu, dass solche „Out-of-Pocket“ (OOP)4 Ausgaben zu katastrophalen Risiken5 für Haushalte oder auch die weitere Familie werden können, besonders bei teuren medizinischen Eingriffen oder lang anhaltenden Krankheitsgeschichten.

In der Abwesenheit von sozialer Absicherung werden Risiken zu Armutsfallen, das Fehlen von kurzfristigen Schutzmechanismen gegen Krisen kann zu langfristigen negativen Konsequenzen führen. Vulnerabilität, also das Fehlen von adäquaten Überwindungstragegien gegenüber Krisen, kann dazu führen, dass Menschen in Notsituationen zu kurzfristigen Strategien greifen, die auf lange Sicht gesehen armutsverstärkende oder armutserhaltende Wirkungen haben. Beispiele für solche „micro-strategies“ sind das Herabsetzen der 4 Out-of-Pocket Ausgaben sind nach der Definition des „Indian Economic Service“ Zahlungen, die direkt von der betroffenen Person oder Familie an den Gesundheitsdienstleister getätigt werden, ohne die Einbindung einer dritten Partei so wie beispielsweise des Staates oder einer Versicherung (IES 1996) 5 Als katastrophal werden OOP Ausgaben bezeichnet, wenn durch die medizinischen Ausgaben die Deckung essentieller Bedürfnisse gefährdet wird. (Pal 2010:1)

26 Nahrungsqualität, das Aufschieben von Gesundheitsausgaben, die Kinder aus der Schule zu nehmen damit sie arbeiten können, oder das Aufgeben individueller Entscheidungsfreiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten zugunsten von Schutz in Patronagebeziehungen. (Barrientos 2010:7)

Soziale Ungleichheit kombiniert mit einem Mangel an sozialen Schutzmechanismen führt in weiterer Folge zu politischen Spannungen. Solche Spannungen, und auch eine Gefährdung der Ressource Arbeitskraft durch soziale Unsicherheit, führt zu wirtschaftlichen Einbußen. (ILO 2011:2)

2.4.3 Regressive Umverteilung Wohlfahrtsstaaten haben neben der Aufgabe, Risiken zwischen verschiedenen Lebensphasen zu verteilen und abzufedern, auch eine gewisse umverteilende Aufgabe, um Ungleichheit zu verringern (Wehr 2009:178). Diese Redistribution findet aber nicht immer von oben nach unten statt, sondern eben auch in die andere Richtung. Regressive Umverteilung kann etwa dadurch geschehen, dass Steuern hauptsächlich als Mehrwertsteuern eingehoben werden, die die arme Bevölkerung stärker betreffen als die reiche. Auch hohe Einkommen, Gewinne oder Besitztümer, die nur gering besteuert werden, führen zu einer regressiven Umverteilung. Außerdem kann es zu so einer Umverteilung kommen, wenn soziale Ausgaben vorwiegend besser gestellten sozialen Schichten zugute kommen. In Indien beziehen vorwiegend Menschen aus dem organisierten Sektor Pensionen und andere staatliche Leistungen, der Großteil der armen und relativ armen Bevölkerung war bis jetzt von solchen Maßnahmen ausgeschlossen. (Lindert 2009:211ff)

Gerade in Entwicklungsländern findet oft eine Umverteilung von den Menschen mit niedrigen Einkommen zu einer relativ reichen Mittelschicht und der Oberschicht statt. In Indien nennt Peter Lindert besonders das Gesundheitswesen, das eine regressive Wirkung zeigt. Er beschreibt drei Beobachtungen an denen dies festgemacht wird: Erstens ist es für Reiche wahrscheinlicher in einer privaten oder einer öffentlichen Einrichtung behandelt zu werden. Zweitens sind die Dienstleistungen in der öffentlichen Gesundheitsversorgung von schlechter Qualität, sodass 40 Prozent der armen Bevölkerung lieber die bis zu achtmal so hohen Preise des privaten Sektors bezahlen, als die billigeren öffentlichen Einrichtungen in Anspruch zu nehmen. Und drittens ist die Ungleichheit dort am höchsten, wo die Armut am stärksten ausgeprägt ist, also in den Kernlandstaaten wie Uttar Pradesh und Bihar. Besser ist die

27 Situation in den reicheren Staaten wie Kerala, Tamil Nadu, Gujarat und Pnujab. (ebd. 2009:216) Soziale Sicherungssysteme sind also nicht neutral, sondern haben sogar einen verstärkenden Effekt auf wirtschaftliche Ungleichheiten und können auf eine Gesellschaft auch zerklüftende Wirkung haben (Midgley 1984:180f).

Lindert honoriert zwar die neuen Initiativen der indischen Regierung als großen Schritt, sagt aber auch, dass diese Maßnahmen den vorwiegend regressiv-umverteilenden Effekt nicht aufwiegen können. (Lindert 2009:216)

Regressive Umverteilungseffekte können auch bei lokal begrenzten Organisationsformen wie den Wohlfahrtsfonds in Kerala verortet werden. Diese werden zu einem Großteil durch Beiträge von informell Beschäftigten finanziert. Manche dieser Wohlfahrtsfonds haben außerordentlich hohe Verwaltungskosten. Diese werden dann zum Teil dafür verwendet, die Beamten zu bezahlen, die den Fonds verwalten. So werden Beiträge informell Beschäftigter dafür verwendet, Arbeitsplätze im formellen Sektor zu bezahlen. (Kannan 2002:25)

2.5. Neuere Tendenzen in der Diskussion um soziale Sicherheit

In der aktuellen entwicklungspolitischen Diskussion wird sozialer Sicherung eine bedeutende Rolle in der Armutsreduktion zugesprochen. Das unterscheidet sich stark von bisherigen Ansätzen. Soziale Sicherung im herkömmlichen Sinn wurde oft als rein einkommenssichernd verstanden. Dieser Wandel lenkt den Fokus stärker auf einen rechtsbasierten Ansatz von sozialer Sicherheit. (Van Ginneken 2009:229)

In den 80er und 90er Jahren wurde vor allem auf ökonomisches Wachstum gesetzt. Hier wurde unter anderem von Seiten der Bretton Woods Institutionen Druck gemacht und Strukturanpassungsprogramme durchgesetzt. Es wurde argumentiert, dass mit steigender Wirtschaftskraft ein „Trickle-Down“ Effekt einsetzen würde und Armut dadurch reduziert wird. Es gab aber schon in den 80ern die Einsicht, dass diese Theorien sich nicht so bewahrheiten und dass hier Nachholbedarf bestand. Jedoch wurde die soziale Komponente weiterhin nur als zweitrangig behandelt und die wirtschaftliche Entwicklung stand nach wie vor im Vordergrund. Mit Anfang 2000 fand die Diskussion über einen „basic social floor“ in der internationalen Arbeitsorganisation Einzug. (Rohregger 2010:305ff)

Der „social protection floor“ soll ein minimales Einkommen für alle sichern, das hoch genug

28 ist, um davon zu leben. Dies soll durch den Transfer von Geld- oder Sachleistungen garantiert werden, so wie zum Beispiel Pensionen für ältere Menschen oder Menschen mit Behinderung, Kinderbeihilfen, Einkommensbeihilfen und/oder Arbeitsprogrammen und Leistungen für Arbeitslose oder erwerbstätige Arme. Zusammen sollen die Maßnahmen des „social protection floor“ sicherstellen, dass alle Menschen Zugang zu grundlegenden Gütern und Dienstleistungen haben. Dies beinhaltet vor allem grundlegende Gesundheitsversorgung, ausreichende Ernährung, primäre Bildung, Behausung sowie Zugang zu sauberem Wasser und Sanitäranlagen. (ILO 2011:4)

Die heutige Debatte ist eine stark auf Rechten basierende. Dieser Ansatz geht davon aus, dass soziale Sicherheit ein Menschenrecht ist und wird vor allem von der ILO, den UN und NGOs vorangetrieben. Aber auch nationale Regierungen beziehen sich auf den menschenrechtsbasierten Ansatz.

Es besteht also ein verstärkter Fokus auf Themen wie Risiken und Vulnerabilität. Dies resultiert aus der Erkenntnis heraus, dass ein Hauptgrund für beständige Armut der Mangel an Optionen um wirtschaftlich aktiv zu werden ist. Dieser wiederum entsteht aus der Situation der Unsicherheit. Hier können soziale Sicherungsmechanismen ansetzen und dazu beitragen, Armut zu verringern indem sie Menschen ermöglichen wirtschaftlich tätig zu werden und gleichzeitig eine absichernde Wirkung haben.

Most preventive mechanisms could be argued to have promotive effects, in the sense that risk reduction enables people to take advantage of opportunities that they would otherwise have been unable to do. (Devereux/Sabates-Wheeler 2004:11)

2.5.1 Beispiele neuer politischer Ansätze Soziale Sicherung in Entwicklungsländern war lange Zeit nur marginal vorhanden, vor allem für den zwar überwiegenden aber vernachlässigten informellen Sektor. In den letzten Jahren zeichnen sich Tendenzen ab, dass sowohl universelle als auch zielgerichtete Hilfsprogramme, die grundlegende Einkommensbeihilfen beinhalten, an Popularität gewinnen.

Mittlerweile gibt es mehrere Pläne um soziale Sicherheit auf den informellen Sektor auszubreiten. Solche Strategien werden von internationalen Organisationen, beispielsweise aus dem Umfeld der Vereinten Nationen gefördert und auch von nationalen Regierungen erarbeitet und eingeführt. Indien ist hierfür nur ein Beispiel.

29 Ein weiteres Exempel ist die Strategie zur langfristigen Ausdehnung sozialer Sicherung, die 2005 von der senegalesischen Regierung beschlossen wurde. Momentan sind dort etwa 17 Prozent der Bevölkerung durch formelle soziale Absicherungen versichert. Die meisten Arbeiter_innen im informellen Sektor sind kaum abgesichert und zwischen 10 und 15 Prozent der Bevölkerung lebt in Extremer Armut. Mithilfe der vorgesehenen Strategie soll die Abdeckung von knapp 20 auf 50 Prozent ausgedehnt werden. Es gibt auch Ideen für eine universelle Alterspension die etwa 1,2 Prozent des BIP kosten würde. (Van Ginneken 2009:232f)

Andere afrikanische Staaten wie Botswana, Lesotho, Mauritius und Namibia zahlen bereits universelle Pensionen. Südafrika vergibt bedarfsgeprüfte Pensionen und Kindergeld. Untersuchungen haben ergeben, dass solche Pensionen zu einer Reduktion von Armut und Hunger geführt haben und den Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung verbessert haben. Einige Schwellenländer haben bereits einen universellen Zugang in gewissen Bereichen sozialer Sicherung erreicht, in anderen Ländern wie Thailand wird gerade daran gearbeitet. Nach der Einschätzung von Wouter van Ginneken haben Schwellenländer im generellen die finanziellen und administrativen Ressourcen eine volle Abdeckung zu erzielen. (Ebd. 2009:232f)

Insgesamt haben über 30 Länder solche Programme eingeführt. Großangelegte Programme gibt es vorwiegend in „Middle-Income Countries“. Vorzeigebeispiele hierfür sind das „Opertunidades“- Programm in Mexico und das „bolsa Familia“ Programm in Brasilien. Beide sind „conditional cash transfer“ (CCT) Programme, das bedeutet, dass die Bezieher_innen die jeweilige Leistung nur bekommen, wenn sie bestimmte Bedingungen erfüllen, also etwa ihre Kinder in die Schule schicken oder regelmäßige medizinische Kontrollen durchführen lassen. „Bolsa Familia“ ist weltweit das größte „cash transfer“ Programm und erreicht um die 11,3 Millionen Einwohner_innen. Das ist ungefähr ein Viertel der brasilianischen Bevölkerung. Die Kosten belaufen sich ungefähr auf 0,4 Prozent des BIP. Ähnliche Programme gibt es in 16 anderen lateinamerikanischen Ländern. (ILO 2010:76)

30 2.6 Der menschenrechtsbasierte Ansatz sozialer Sicherheit

Der menschenrechtsbasierte Ansatz hat eine starke Rolle in der Diskussion um soziale Sicherheit eingenommen. Dieser Ansatz wird vor allem von internationalen Organisationen und Nichtregierungsorganisationen vertreten, spiegelt sich aber auch im offiziellen Diskurs der nationalen Politik wieder. Diese Thematik ist insbesondere für den indischen Kontext relevant. Aus der Perspektive von menschenrechtsbasierten Ansätzen ist die Sozialpolitik in Indien ein Beispiel, das oft zitiert wird. In Indien gibt es zum Beispiel die Einführung eines Gesetzes, das das Recht auf Arbeit garantieren soll (näher dazu im Kapitel 4.3.5.1) und die derzeitige Debatte über das Recht auf Nahrung. Der menschenrechtsbasierte Ansatz sozialer Sicherheit sagt prinzipiell aus, dass jeder Mensch ein Recht auf soziale Sicherheit hat. Dieses Recht wird in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und anderen nationenübergreifenden Dokumenten festgehalten (UN 1948:Art. 22). Die meisten nationalen Regierungen haben dies unterzeichnet und verpflichten sich somit die Menschenrechtsgrundsätze einzuhalten. In diesem Kapitel soll auf diesen Aspekt näher eingegangen werden.

2.6.1 Relevanz des menschenrechtsbasierten Ansatzes Es gibt zwei Gründe weshalb ein menschenrechtsbasierter Ansatz auf soziale Sicherheit besonders im Hinblick auf Entwicklungs- und Transformationsländer wichtig ist. Seine Relevanz erklärt sich ersten aus dem Potential, das ein menschenrechtsbasierter Ansatz für die Verringerung von Armut hat (Barientos 2010:1), und zweitens aus der Verpflichtung soziale Sicherung zu garantieren, die aus der Anerkennung der Menschenrechte erwächst. Durch die Unterzeichnung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und anderer internationaler Übereinkommen, die soziale Sicherheit als Recht festlegen, verpflichten sich die Staaten dazu, diese Rechte für ihre Bürger_innen sicherzustellen. Der Staat wird als Hauptverantwortlicher gesehen, wenn es darum geht die Menschenrechte sicherzustellen, aber auch alle anderen einflussreichen sozialen, politischen und ökonomischen Kräfte innerhalb eines Landes haben eine gemeinsame Verantwortung dafür, dass allen Menschen ihre Rechte zuteil werden. Außerdem trägt auch die Internationale Gemeinschaft eine Verantwortung dafür, dass die Menschenrechte überall auf der Welt eingehalten werden. (Van Ginneken 2011:3)

31 Soziale Sicherheit, Entwicklung und Menschenrechte dürfen nicht getrennt voneinander betrachtet werden. Diese drei Faktoren hängen voneinander ab und bedingen sich gegenseitig (Van Ginneken 2009:229). Wenn Entwicklung nicht nur als makroökonomisches Wachstum in Form einer Steigerung des BIPs gesehen wird, sondern auch als die Beseitigung von allen Unfreiheiten und von Vulnerabilität (Kannan/Pillai 2007:6), besteht eine enge Verknüpfung von Armutsreduktion, sozialer Sicherheit und Menschenrechten. Diese besteht darin, dass erstens soziale Sicherheit ein Menschenrecht ist und somit allen Menschen zusteht, dass zweitens soziale Sicherungsmechanismen zunehmend als effektives Mittel zur Armutsreduktion gesehen werden und drittens, dass die Berufung auf Menschenrechte ein starkes Mittel ist, um Maßnahmen zur Armutsreduzierung und sozialen Absicherung einzufordern und umzusetzen.

2.6.2 Soziale Sicherheit als Grundrecht

Human rights are ‘basic moral guarantees that people in all countries and cultures allegedly have simply because they are people’. (Fagan 2006)

Erstmals wurde soziale Sicherheit in Artikel 22 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert:

Everyone, as a member of society, has the right to social security and is entitled to realization, through national effort and international co-operation and in accordance with the organization and resources of each state, of the economic, social and cultural rights indispensable for his dignity and the free development of his personality. (UN 1948)

Eine weitere wichtige Grundlage ist die Erklärung des „International Convenant on Economic, Social and Cultural Rights“ von 1966. Hier wird festgeschrieben, dass alle teilnehmenden Staaten, darunter auch Indien, das Recht auf soziale Sicherheit anerkennen.

Article 9 - The State Parties to the present Convenant recognize the right of everyone to social security, including social insurance. (OHCHR)

Der rechtsbasierte Ansatz nimmt also den Staat und andere Akteur_innen (Sepúlveda/Nyst 2012:18) in die Verantwortung die Menschenrechte umzusetzen. In der Erklärung der Rechte des Kindes heißt es beispielsweise:

The State Parties shall recognize for every child the rights to benefit from social security, including social insurance, and shall take the necessary measure to achieve the full realization of this right in accordance with their national law. (Townsend 2009:35)

32 Auch die indische Verfassung fordert in Artikel 41 der Leitprinzipien den Staat auf, Maßnahmen zu setzen um das Recht auf Arbeit, das Recht auf Bildung, und das Recht auf öffentliche Unterstützung im Falle von Arbeitslosigkeit, Alter, Krankheit, und Behinderung sicherzustellen.

Article 41: The state shall, within the limits of its economic capacity and development, make effective provision for securing the right to work, to education and to public assistance in cases of unemployment, old age, sickness, disablement etc. (Ministry of Law and Justice 1954)

Soziale Sicherheit ist einerseits ein Recht an sich, und andererseits auch ein Weg um andere Rechte, wie das Recht auf Gesundheit oder das Recht adäquat ernährt zu sein, umzusetzen.

2.6.3 Stärke des rechtsbasierten Ansatzes für Armutsreduktion Armut ist ein multidimensionales Phänomen, das weit über den Mangel an Einkommen hinausgeht. Das „Committee on Economic, Social and Cultural Rights“ definiert Armut als:

[A] human condition characterised by the sustained or chronic deprivation of the resources, capabilities, choices, security and power necessary for the enjoyment of an adequate standard of living and other civil, cultural, economic, political and social rights (CESCR 2001)

Der Begriff der Armut bezeichnet also aus dieser Sichtweise nicht nur einen Mangel an wirtschaftlichen Mitteln, sondern definiert sich auch durch einen Mangel auf sozialer, kultureller oder politischer Ebene (Sepúlveda/Nyst 2012:17). Soziale Sicherungsmaßnahmen können auf allen hier genannten Ebenen Veränderungen bewirken, wenn sie mit menschenrechtlichen Grundsätzen übereinstimmen und richtig konzipiert sind.

Menschenrechte können auf drei Arten zur Reduktion von Armut beitragen. Erstens kann ein menschenrechtsbasierter Ansatz ein normatives Gerüst darstellen, um Armut praktisch zu reduzieren, zweitens ergibt sich daraus die gesetzliche Verpflichtung dies zu tun, und drittens kann es politisch unterstützend genutzt werden um Zustimmung für armutsreduzierende Maßnahmen zu erzielen. (Ebd.)

Der menschenrechtsbasierte Ansatz sieht Individuen als Inhaber_innen von Rechten an, die somit legitime Forderungen gegenüber dem Staat haben. Diese wiederum und andere gesellschaftliche Akteur_innen haben Pflichten, für die sie zur Verantwortung gezogen werden können. Somit richtet der rechtsbasierte Ansatz seinen Fokus auf die Ermächtigung der armen Bevölkerung und weg von einer Perspektive von Wohltätigkeit und Bedürftigkeit. (Ebd. 2012:18)

33 Aus der Sicht des menschenrechtsbasierten Ansatzes haben Staaten die Verantwortung allen Individuen den Zugang zu grundlegenden Rechten und einem adäquaten Lebensstandard zu garantieren.

Human rights does not allow the principle of progressive realisation to be used as an excuse to justify sustained levels of chronic or extreme poverty, but rather endows States with an immediate minimum core obligation to ensure the satisfaction of, at the very least, minimum essential levels of all economic, social and cultural rights. These minimum essential levels are those which are crucial to securing an adequate standard of living through basic subsistence, essential primary health care, basic shelter and housing, and basic forms of education – elements which together comprise a social protection floor – for all members of society. (Sepúlveda/Nyst 2012:18)

2.6.4 Konzeption menschenrechtskonformer Instrumente Magdalena Sepúlveda und Carly Nyst (2012) erarbeiten in ihrer Publikation „The Human Rights Based Approach to Social Protection“ wie aus einer menschenrechtsbasierten Perspektive soziale Sicherungsmechanismen gestaltet werden können.

Wichtig für die Einführung von sozialen Sicherungsmechanismen, die Menschenrechte nicht verletzen, sind unter Anderem adäquate gesetzliche Rahmenbedingungen auf nationaler Ebene. Erst mit der Umsetzung der internationalen Verträge in nationales Recht werden die Rechte innerhalb des Staates für die Bürger_innen einklagbar. Ohne die Schaffung eines rechtlichen Rahmens für die Etablierung sozialer Sicherungssysteme ist es wahrscheinlich, dass es zu Problemen mit der Transparenz und Kontinuität kommt. Solche Probleme sind etwa, dass es schlecht nachvollziehbar ist, wem Leistungen zustehen, und wer für ihre Bereitstellung verantwortlich ist. Wichtig ist des Weiteren, dass Maßnahmen längerfristig verfolgt werden und die Bezieher_innen nicht beispielsweise nach dem Auslaufen des Pilotstadiums allein stehen gelassen werden. (Ebd. 2012:27)

Eine rechtliche Verankerung von sozialen Sicherungsmaßnahmen ist essentiell für eine positive Umsetzung. Bezieher_innen müssen wissen wer für die Umsetzung solcher Programme verantwortlich ist. Dadurch soll gesichert werden, dass Programme sozialer Sicherung nicht für populistische und klientelistische Zwecke missbraucht werden. Ebenso ist eine langfristige rechtliche Etablierung von Programmen notwendig, um vorausschauend planen zu können und eine adäquate Finanzierung sicherzustellen. (Ebd. 2012:28)

Ein weiterer wichtiger Aspekt bei der Implementierung von sozialen Sicherungsmaßnahmen ist die Nicht-Diskriminierung. Die Mechanismen müssen so gestaltet werden, dass sie niemanden, dem Leistungen zustehen, ausschließen, vor allem nicht Menschen, die aus

34 vielfachen Gründen ohnehin gesellschaftlich diskriminiert werden. Programme, die beispielsweise komplizierte schriftliche Anmeldungen erfordern, diskriminieren Menschen, die nicht lesen und schreiben können. Sehr oft sind dies Frauen oder Angehörige indigener Völker, die aufgrund von anhaltender Diskriminierung oft nicht alphabetisiert sind oder keine entsprechenden Identifikationsdokumente haben. Ein anderes Beispiel, bei dem besonders vulnerable Personen diskriminiert werden können ist, wenn der Bezug von Leistungen mit langen Wegstrecken oder schwerer körperlicher Arbeit verbunden ist. (Ebd. 2012:42ff)

Ein mit den Menschenrechten zu vereinbarendes Programm muss auch sicherstellen, dass der Zugang für alle gewährleistet ist, die berechtigt sind es zu nutzen. Das Beispiel des kenianischen „Hunger Safety Net Program“ zeigt, wie bestimmte Gruppen ausgeschlossen werden können, da in der Praxis mehr als acht Prozent der Bezieher_innen länger als vier Stunden und der Durchschnitt über 90 Minuten laufen muss um die Leistungen zu beziehen (ebd. 2012:43). So lange Wege erschweren wiederum den Zugang für Menschen mit eingeschränkter Mobilität, sei es aus Alter oder weil es Frauen sind die Fürsorgeverpflichtungen haben und somit örtlich gebunden sind.

2.6.5 Targeting vs. Universalität Soziale Sicherungsmaßnahmen können entweder universell, also für alle Menschen in einem bestimmten Rahmen geltend sein, oder auf bestimmte Gruppen der Gesellschaft beschränkt werden. Als Targeting wird die Auswahl einer mehr oder weniger kleinen Zielgruppe bezeichnet. Diese Einschränkung wird meist damit argumentiert, dass soziale Sicherungsmaßnahmen innerhalb eines gewissen finanziellen Rahmens gestaltet werden müssen, und nationale Budgets beschränkt sind. Dieser Diskurs wurde vor allem aus einem liberalen Wohlfahrtsverständnis heraus geprägt. Stark in dieser ökonomischen Schule verankert sind internationale Finanzinstitutionen wie die Weltbank und der Internationale Währungsfonds. Diese verknüpfen die Vergabe von Krediten an Bedingungen, die das Einschränken wohlfahrtsstaatlicher Maßnahmen und Politiken der offenen Märkte beinhalteten. (Van Oorschot 2002:171ff) Ein Beispiel für eine solche Anpassung in Indien ist der Wechsel von einem universellen System in dem subventioniert Güter vergeben wurden, dem Public Distribution Service (PDS), hin zu einem zielgerichteten System, dem Targeted Public Distribution Service (TPDS). Das PDS wurde in seiner heutigen Form in den 1960er Jahren eingeführt, es wurden Reis, Weizen und andere ausgewählte Güter in „fair price shops“

35 verkauft. 1997 wurde es im Zuge von Strukturanpassungsprogrammen zu einem zielgerichteten Programm umgeformt. Das TPDS unterscheidet zwischen Menschen unter einer national festgesetzten Armutsgrenze, also „Below Poverty Line“ (BPL), und Menschen über dieser Armutsgrenze, „Above Poverty Line“. Zur Bestimmung, wer unter und wer über der Armutsgrenze ist, werden absolute Einkommensgrenzen und andere Faktoren, so wie der Beruf oder der Besitz von Land oder langlebiger Güter wie Fahrzeugen, Fernsehern, etc. mit einbezogen. Menschen mit BPL-Karten bekommen subventionierte Nahrungsmittel. Der Wechsel hin zu einem zielgerichteten Programm hat aber nicht dazu beigetragen, dass mehr arme Menschen von diesem System profitieren, außerdem hat dieser Wandel auch nicht zu einer Verringerung der Nahrungsmittelsubventionen beigetragen, sondern diese sind sogar gestiegen. (Mane 2006)

Nach dem „Human Rights Based Approach to Social Protection“ von Sepúlveda und Nyst sind universelle Maßnahmen, also Mechanismen die allen zugänglich sind, besser dazu geeignet nicht diskriminierend zu sein als zielgerichtete Programme, die bestimmte Bedingungen voraussetzen. Auch Programme, die die Leistungsbezieher_innen nach groben Kategorien auswählen, wie etwa nach dem Alter oder Geschlecht, sind gut dazu geeignet keine Menschenrechte zu verletzen. Soziale Sicherungsmechanismen, die ihre Bezieher_innen nach dem Einkommen oder Lebensstandard identifizieren, sind oft undurchsichtig. Targetingmechanismen, die notwendig sind um die jeweiligen Zielgruppen ausfindig zu machen, verursachen hohe Kosten. Targeting ist aber nicht an sich ein Widerspruch zu Menschenrechten. Um nicht widersprüchlich zu sein, müssen Targetingmechanismen für alle einsehbar und nachvollziehbar sein. Dann können Menschen, die vielleicht bezugsberechtigt sind, dies prüfen und Menschen, die keine Leistungen bekommen, sehen aufgrund welcher Kriterien entschieden wird. (Ebd. 2012:39)

Von einem menschenrechtsbasierten Standpunkt aus wiegen Exklusionsfehler stärker als Inklusionsfehler. Es ist also immer schlimmer, wenn Menschen, die anspruchsberechtigt sind, aufgrund verschiedener Zugangsbarrieren ausgeschlossen werden, als wenn Menschen durch zu weit gefasste Kriterien mit eingeschlossen werden. (Ebd. 2012:40)

Einen Vorteil universeller Mechanismen sehen Sepúlveda und Nyst darin, dass sie den gesellschaftlichen Zusammenhalt tendenziell fördern, wohingegen zielgerichtete Mechanismen diesen gefährden können indem sie fiktive Trennungen der Gesellschaft vornehmen.

36 While universal programmes have the potential to contribute to social solidarity, methods that target income or poverty levels can impact negatively on community cohesion. Inevitable inclusion and exclusion errors, coupled with a community’s difficulty in understanding the complex methodology utilised in selecting beneficiaries, can create tensions and divisions in the community that could increase conflict and unrest and ultimately translate into violations of numerous rights, including the personal security of community members. The likelihood of intra-community tensions and divisions is especially high when targeting methods are used in communities where everyone lives in a situation of poverty, and almost imperceptible differences separate the poorest from those who are a little better off. (2012:39)

Aber auch in universellen Programmen können ausschließende Mechanismen wirksam sein, so kann beispielsweise eine schriftliche Anmeldung erforderlich sein, dies schließt Analphabet_innen aus. Des Weiteren können bei Arbeitsbeschaffungsprogrammen, auch wenn sie universell sind, diejenigen ausgeschlossen werden, die nicht in der Lage sind harte körperliche Arbeit zu verrichten. (Ebd. 2012:44)

2.6.6 Etablierung einer Gender Perspektive Außerdem sollen aus einem rechtsbasierten Ansatz heraus soziale Sicherungsmaßnahmen eine geschlechtsspezifische Perspektive haben, sodass diese Programme nicht zur Konservierung oder Verstärkung von stereotypen Geschlechterverhältnissen beitragen oder zu Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts führen.

Clearly, social protection instruments designed for many categories of women must include a substantial “transformative” element, in the sense that power relations between men and women become more balanced. (Devereux/Sabates-Wheeler 2004:9)

Frauen zu den Bezieherinnen von Leistungen zu machen, wie es beispielsweise bei „conditional cash transfers“ oft gemacht wird, bedeutet jedoch noch nicht, dass diese Maßnahme geschlechtsbedingten Ungleichheiten entgegenwirkt. Durch solche Maßnahmen können stereotype Rollenzuschreibungen und die reproduktive Rolle von Frauen verstärkt werden. (Cook/Razavi 2012:23f) Aus einer Gender-Perspektive muss auch in Betracht gezogen werden, dass Arbeit nicht geschlechtsneutral ist. Zum Beispiel sollte in Public Work Programmen darauf geachtet werden, dass nicht nur kraftintensive Arbeit angeboten wird, und dass es auch eine Betreuung für Kinder während den Arbeitszeiten gibt. Eine solche gibt es zum Beispiel im Indischen „National Rural Emplyoment Guarantee Scheme“. (Sepúlveda/Nyst 2012:32ff)

37 2.6.7 Finanzierbarkeit einer auf Menschenrechten basierenden minimalen Absicherung Ein Argument, das immer wieder gegen universelle, staatlich organisierte Sicherungssysteme vorgebracht wird ist, dass solche Systeme finanziell nicht tragbar seien und eine unzumutbare Belastung für die nationalen Budgets darstellen. Dies liegt aber oft mehr am politischen Willen zur Umsetzung als an den verfügbaren finanziellen Mitteln (Sepúlveda/Nyst 2012:38). Die ILO hat mehrere Studien veröffentlicht, die sich mit der Finanzierbarkeit von sozialen Sicherungsmechanismen in Entwicklungs- und Transformationsländer beschäftigen. (ILO 2008) Das Konzept, das diesen Berechnungen zu Grunde liegt, ist der Ansatz eines „social protection floor“.

Die ILO argumentiert, dass ein solcher „social protection floor“ Ansatz in den meisten Ländern finanzierbar wäre. Das zu Grunde liegende Modell der ILO Studie beinhaltet vier Grundelemente. Erstens eine universelle Pension für alte und behinderte Menschen, zweitens grundlegende Kinderbeihilfe, drittens allgemeinen Zugang zu einer grundlegenden Gesundheitsversorgung und viertens Sozialbeihilfen oder ein Arbeitsprogramm mit 100 Tagen bezahlter Arbeit im Jahr. Die geschätzten Kosten eines solchen Absicherungspaktes für Indien belaufen sich auf 3,7 Prozent des BIP, diese Zahl wurde für das Jahr 2010 errechnet. (ILO 2008:23)

Magdalena Sepúlveda, die UN Sonderberichterstatterin für Extreme Armut sieht die Bereitstellung einer grundlegenden, nicht beitragspflichtigen sozialen Absicherung, nicht als eine politische Option an, sondern als gesetzliche Verpflichtung im Kontext internationaler Gesetzgebung (Sepúlveda/Nyst 2012:18)

2.6.8 Die indische Debatte Die Fragen nach Gerechtigkeit und sozialer Inklusion, die stark mit dem menschenrechtsbasierten Ansatz verknüpft sind (Rohregger 2010:312), spiegeln sich im indischen Diskurs in der Debatte um „inclusive growth“ wieder. Seit dem elften Fünfjahresplan (2007-2012) findet sich die Strategie des inklusiven Wachstums in den Plänen der indischen Regierung wieder (Planning Commission 2006). Auch im zwölften Fünfjahresplan der “Indian Planning Commission” wird inklusives Wachstum als eine zentrale Entwicklungsstrategie verstanden (Planning Commission 2013b). Die „Planning Commission“ versteht die Aufgabe der Regierung darin, makroökonomisches Wachstum zu

38 sichern und gleichzeitig durch verschiedene politische Interventionen dafür zu sorgen, dass dieses Wachstum einer breiten Bevölkerungsschicht zugute kommt. Als eine der Hauptaufgaben wird gesehen, den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung, sauberem Wasser, etc. zu fördern. (Planning Commission 2006:2) Ein besonderes Augenmerk gilt in der Strategie des inklusiven Wachstums besonders benachteiligten Gruppen wie Menschen aus niedrigen Kasten, indigener Bevölkerung und Geschlechterungleichheiten (Planning Commission 2008:2).

Der elfte Fünfjahresplan sah einen akuten Bedarf für ein inklusives soziales Sicherungssystem, weil nur sechs Prozent der informellen Arbeiter_innen durch formelle Sicherungsmechanismen abgesichert sind und die große Mehrheit von ihnen mit schwerwiegenden Problemen zu kämpfen haben. (Ebd. 2008:152)

A large majority of them face the problem of ‘deficiency’ or capability deprivation (of basic needs) as well as the problem of ‘adversity’ (arising out of such contingencies as sickness and accidents). (ebd.)

Im Kontext inklusiven Wachstums werden soziale Sicherungsmechanismen für den unorganisierten Sektor sowohl positiv für Individuen und Familien gesehen, als auch förderlich für makroökonomische Wachstumsziele, weil fortbestehende Armut sowohl die Produktivität als auch die Kaufkraft breiter Gesellschaftsschichten hemmt. (Ebd.)

2.6.9 Kritik am menschenrechtsbasierten Ansatz Der menschenrechtsbasierte Ansatz kann auch kritisch gesehen werden. Ein problematischer Aspekt, weshalb Kritik am menschenrechtsbasierten Ansatz geübt wird, sind die Probleme in der Umsetzung. Die Etablierungsmechanismen sind sehr begrenzt vorhanden. Institutionen, die Menschenrechte stark in ihrer Agenda vertreten, wie die Vereinten Nationen, haben keine Sanktionsmechanismen. Außerdem sind internationale Abkommen, in denen Menschenrechte festgeschrieben werden und deren Umsetzung gefordert wird, in ihrer Definition sehr vage. So werden Staaten dazu angehalten ein adäquates Minimum an Rechten zu gewährleisten, und dieses nur soweit es im Rahmen national vorhandener Mitteln möglich ist. So lässt dieser Ansatz sehr viel Spielraum offen, was also zum Beispiel „angemessen“ bedeutet und inwieweit die Ressourcen eines Staates zur Umsetzung von Rechten belastet werden können. (Katsui 2008:10) Der menschenrechtsbasierte Ansatz ist mit dem Problem konfrontiert, dass soziale und kulturelle Rechte oft eher als wünschenswerte Ziele formuliert werden, als dass

39 sie in konkrete Rechtsansprüche verpackt werden.

In contrast to the civil-political rights that are legally enforceable, economic and social rights (‘welfare rights’) are often represented as statements of desirable goals, not as real ‘rights’. That is, they are treated as largely aspirational rather than as imposing immediate duties. It should, however, be noted that the most basic of the welfare rights are the right to life: the right to an adequate standard of living, the right to primary health care, and the right to public education. These three rights are of fundamental interests, because “they are closely related to the right to life – the most basic of all human rights.[...]“ (Kannan/Pillai 2007:6)

Außerdem wird der menschenrechtsbasierte Ansatz kritisch gesehen, weil er sich in seiner Umsetzung negativ auswirken kann. So kann die Etablierung von Rechten als das Ziel einer Entwicklung missverstanden werden, dabei sollen die etablierten Rechte ein Mittel sein, um bessere Lebensbedingungen zu schaffen. (Katsui 2008:11) Die reine Etablierung von Rechten auf rhetorischer und politischer Ebene bedeutet nicht automatisch, dass sie sich auch in einer Verbesserung der tatsächlichen Lebensumständen der Menschen widerspiegelt. Somit wird eine Verbesserung vorgespielt, wo eigentlich keine stattgefunden hat.

Der menschenrechtsbasierte Ansatz wird auch dafür kritisiert, in seiner Rhetorik eine konfrontative Wirkung zu haben. Wenn durch gestellte Forderungen die Positionen der behördlichen Vertreter_innen gefährdet sind, ist es unwahrscheinlich, dass eine gute Kooperation zustande kommt. Es kann aber im Interesse von sozialen Bewegungen sein, mit den Behörden zu verhandeln und durch kleine Verhandlungserfolge Verbesserungen zu erzielen. Außerdem gibt es im rechtsbasierten Ansatz wegen seiner starken Konzentration auf den Staat als Schuldbringer und eigentlichen Akteur in der Herstellung soziale Sicherheit wenig Platz für die Beteiligung von gemeinschaftsbasierten Ansätzen. (Mitlin/Patel 2005:23)

40 3. Empirischer Teil: Sicherungsmechanismen in Kerala und Uttar Pradesh

3.1 Informelle Sicherungsmechanismen

Im folgenden gehe ich nun auf informelle Sicherungsmechanismen ein, die in der Praxis eine große Rolle spielen. In der Literatur wird oft zwischen formeller sozialer Absicherung und „informeller“ oder „nicht-formeller“ Absicherung unterschieden (Midgley 2011:1f). Als formelle Mechanismen werden meist staatliche und privatwirtschaftliche Maßnahmen bezeichnet, als informelle oder nicht-formelle Sicherungsmechanismen gelten Beziehungen gegenseitiger Hilfestellung, die oft auf lange etablierten Solidaritätsnetzwerken beruhen. Internationale Organisationen wie die Weltbank oder die ILO haben eine institutionelle Sichtweise auf soziale Sicherheit. Diese geht von einem hierarchischen und antagonistischen Verhältnis zwischen informellen und formellen Sicherungsmechanismen aus. Informelle soziale Sicherungsmechanismen und deren wichtige Rolle werden zwar zunehmend beachtet, es gibt jedoch eine klare Präferenz zu formellen und staatlichen Mechanismen, da diese als effektiver und weitreichender angesehen werden. Diese binäre Sicht bietet aber keine adäquate Grundlage für eine Analyse (Rohregger 2010). Um dieses komplexe Phänomen zu verstehen, bietet sich der funktionale Ansatz von Franz und Keebet von Benda-Beckmann (1994) an. Dieser geht davon aus, dass soziale Sicherheit ein integraler Bestandteil sozialer, kultureller und ökonomischer Beziehungen ist. Soziale Sicherheit wird hierbei als Phänomen verstanden, das in verschiedenen Ebenen sozialer Organisationsformen und des sozialen Wandels verankert ist. (Rohregger 2006:25)

Franz und Keebet von Benda-Beckmann identifizieren sechs verschiedene Ebenen, auf denen sich soziale Sicherheit manifestiert. Erstens eine religiöse und ideologische Ebene, auf der die grundlegende Ethik sozialer Sicherheit festgeschrieben wird. Zweitens sehen sie eine Ebene der institutionellen Bereitstellung, auf dieser manifestieren sich Strukturen wie das System eines Sozialstaates, oder soziale Institutionen wie die Familie oder größere Verwandtschaftsbeziehungen. Drittens heben sie die Ebene der individuellen Wahrnehmung heraus. Dabei gehen sie davon aus, dass die eigene Wahrnehmung darüber, was eine Gefahr für die persönliche soziale Sicherheit darstellt, von gesellschaftlichen oder gesetzlichen Normen abweichen kann. Viertens erwähnen die beiden Autor_innen die Ebene der

41 tatsächlichen sozialen Beziehungen. In dieser Ebene ist wichtig, welche Beziehungen wirklich gelebt werden und nicht ob diese gesellschaftlichen oder gesetzlichen Normen entsprechen. Die Art der Beziehungen ist vielfältig, das können also familiäre Beziehungen sein oder Beziehungen in Patronage-Konstellationen. (Von Benda-Beckmann 1994)

Des Weiteren sind in vielen Beziehungen die Rollen nicht statisch verteilt, sondern die Aufgaben von Anbieter_in und Empfänger_in von sozialer Sicherheit können im Laufe der Zeit wechseln. Die fünfte Ebene ist die der sozialen Praktiken. Auf dieser Ebene werden Rechte und Pflichten umgesetzt und erfüllt, und tatsächliche Bedürfnisse befriedigt. Die sechste und letzte Ebene ist die der sozialen und wirtschaftlichen Konsequenzen. (Von Benda- Beckmann 1994:14, Rohregger 2006:25ff)

Arbeiter_innen leben in einer komplexen Realität, und bestreiten ihr Leben durch einen Mix aus Einkommensquellen. Diese bergen auch eine Vielzahl verschiedener Risiken und verlangen so ein komplexes System sozialer Absicherung. Dieses komplexe System ist ein Mix aus verschiedenen Ressourcen und Beziehungen sozialer Sicherheit. In Diesem spielen staatliche Institutionen zwar auch eine Rolle, jedoch sind es oft informelle Mechanismen wie Familie, Arbeiter_innengemeinschaften und solidarische Netzwerke, die soziale Sicherheit erzeugen. Soziale Sicherheit ist hier kein Zustand, der einmal erzeugt wird, sondern ein Prozess, der einer permanenter Aushandlung unterliegt. (Von Benda-Beckmann 1994, Rohregger 2010:299f) Wie die verschiedenen Ressourcen sozialer Sicherheit verteilt sind, hängt auch von individuellen Faktoren wie Geschlecht, Alter, Klasse und Status ab (Von Benda-Beckmann 1994:9). Nicht-formalisierte Systeme haben keine vertraglich festgeschriebenen Regeln als Grundlage, sondern basieren auf einer lange etablierten moralischen Tradition und sind stark informell reglementiert. (Kurz 1999:47f) Alle sozialen

Sicherungsmechanismen basieren auf „kulturellen und religiösen Idealen und Ideologien“6 (Von Benda-Beckmann 1994:14), die in moralischen und gesetzlichen Verpflichtungen festgeschrieben sind. Hier bestehen und wirken verschiedene moralische Richtlinien und Rechtssysteme nebeneinander, also zum Beispiel religiöses Recht, traditionelles Recht und staatliche Gesetze (ebd. 1994:19). Die traditionellen Ressourcen sozialer Sicherung sind die Familie, Verwandtschaft, Freunde, religiöse Institutionen, die Dorfgemeinschaft und Patronagebeziehungen (ebd. 1994:9); sowie Gemeinschaften, die sich durch eine gemeinsame Arbeit kennzeichnen. Informelle Formen sozialer Sicherheit können neben den oben beschriebenen Solidaritätsnetzwerken zum Beispiel auch rotierende Sparzirkel oder Mikro-

6 Eigene Übersetzung

42 Versicherungen sein. In der neueren Literatur werden solche Mechanismen auch unter „mutual aid associations“ zusammengefasst (Midgley 2011:16). Solche Gemeinschaften gegenseitiger Hilfeleistung werden zum Teil auch stark institutionalisiert, wie beispielsweise die der indischen Frauengewerkschaft SEWA (Schuster 2005). Auch das Wohlfahrtsfondsmodell in Kerala illustriert, wie informelle Systeme sozialer Sicherheit zum Teil formalisiert werden. Hier herrscht also nicht nur eine Fluktuation in der Nutzung von formellen und informellen Systemen, sondern die Grenzen zwischen diesen beiden Systemen sind fließend. Der funktionale Ansatz bietet also eine umfassende Perspektive darauf, wie soziale Sicherungsmechanismen funktionieren, genutzt werden und zusammenspielen.

3.2 Ergebnisse der Feldforschung

In meiner empirischen Feldforschung habe ich in episodischen Interviews großteils informelle Arbeiter_innen befragt, wie sie mit schwierigen Lebensituationen umgehen. Ich habe 30 episodische Interviews geführt, 18 in Kerala und zwölf in Uttar Pradesh.

In Kerala kamen fünf meiner Interviewpartner aus Fischerfamilien, zwölf der 18 befragten Personen leben im ländlichen Bereich, sechs der interviewten Personen leben in der Stadt. Die meisten Personen im ländlichen Bereich lebten in kleinen einstöckigen Häusern mit drei bis vier Zimmern. Die Anzahl der Familienmitglieder im Haushalt liegt im Schnitt zwischen drei und vier Personen. Keine der interviewten Personen hat sich selbst als arm bezeichnet. Ein Interview habe ich mit einer Frau aus einer Gruppe gemacht, die aus einer SC/ST Familie kommt. Drei der interviewten Personen haben selbst eine Migrationsgeschichte oder jemanden mit Migrationsgeschichte in der Familie. Drei Personen, die ich interviewt habe, waren entweder öffentlich Bedienstete oder lebten im gleichen Haushalt mit jemandem, der im öffentlichen Dienst stand.

In Uttar Pradesh habe ich die meisten Interviews im städtischen Umfeld geführt, vier in Kanpur, drei in Lucknow, und zwei während einer Busfahrt nach Alahabad. Drei Interviews habe ich im ländlichen Bereich geführt. Die Anzahl der Personen, die in dem Haushalt der interviewten Personen leben, schwankt von eins bis sieben. Vier der Interviewpartner_innen würde ich als eher reich bezeichnen, zwei Personen besitzen viel Land oder kommen aus Familien, die viel Land besitzen, eine Person besitzt eine Fabrik mit über 100 Angestellten,

43 eine weitere Person hat ein sehr gut gehendes Geschäft und eine Tochter, die in den USA studiert. Auch in Uttar Pradesh hat sich, ebenso wie in Kerala, keine der interviewten Personen selbst als arm bezeichnet. Drei Personen die ich in Uttar Pradesh interviewt habe, waren Arbeitsmigranten. Ziel der Interviews war es herauszuarbeiten, welche Strategien die Befragten haben um Unsicherheiten zu überwinden. Als wichtigste Mechanismen zur Vermeidung beziehungsweise Überwindung von Krisen stellten sich die folgenden Faktoren heraus, auf die ich sogleich jeweils noch einzeln näher eingehen werde: Familie, Bildung, Migration, Gemeinschaften gegenseitiger Hilfeleistung, Sparen, Kredite, Patronagebeziehungen und formelle Mechanismen.

3.2.1 Familie Die Familie ist die wichtigste Gemeinschaft gegenseitiger Hilfeleistung. Sie hat einen sehr hohen Stellenwert in der Gesellschaft. In einem Interview mit K. P. Kannan, Professor am Center for Development Studies Trivandrum und Mitglied der „National Commission for Enterprices in the Unorganised Sector“, erklärt er, dass die Familie in Indien und in ganz Asien einen sehr viel höheren Stellenwert hat als in Europa. In Indien ist die eigene Identität viel stärker mit der Familie verbunden, und nicht so stark individuell bestimmt.

Because the family values are very much rooted […] Not only in India, in all Asia the role of family acting is very different than the role of family in the west. Of course in the west you have gone through a very different kind of transition. But […] my identity very much is related to my family. We don't think from an individualistic point of view. We think on our families. And we don't save for ourselves, we save for our families. (Interview K. P. Kannan)

Ein wichtiger Punkt in der familiären Fürsorge ist das Sorgen für die Eltern. Oft leben diese im Haushalt von einem ihrer Kinder, oder werden von ihren Kindern finanziell unterstützt. Großeltern übernehmen dafür auch Aufsichtsfunktionen für die Kinder der erwerbstätigen Familienmitglieder.

Dieser große Familienzusammenhalt wird als sehr wertvoll angesehen, das Modell der Kernfamilie (nuclear family) wird dem entgegengestellt. (Interview K1, K14)

Because of the globalization the former family forms are slowly getting ruptured. In former times we had a valid family: father, mother, children, grandfather, grandmother [...] If you look at the former structure of families 30 or 40 years ago, there were 40, 50 familymembers. If you didn't have such a big family you were suffering. Nowadays we live in a nuclear family. Here in Kerala live more and more old people and the number of old-age homes is growing. Some years ago there was no need for old-age homes, 30 to 40 people were in one family, or at least ten

44 people. Some of the familymembers had a job, others didn't, there was no problem with that. Because the whole family was living together.

Dieser Interviewausschnitt zeigt, dass die Großfamilie einen starken Wert darstellt, weil diese als Sicherungsnetz unter Anderem für das Alter gesehen wird. Die Großfamilie ist aber gefährdet und es gäbe deswegen immer mehr Altenheime, die früher nicht notwendig waren.

Eine Episode, die die Funktion der Familie als Sicherungsnetz in Zeiten von Arbeitslosigkeit beschreibt, ist die von einem Mann, mit dem ich auf der Straße in Kanpur ins Gespräch gekommen bin. Ashutosh ist gerade arbeitslos und lebt jetzt wieder mit seinen Eltern, seinen drei Brüdern und seiner Schwester in einer Wohnung in Kanpur. Davor hat er in Thailand im Handel gearbeitet, bis sich dort die wirtschaftliche Situation verschlechtert hat. Er hat mir auch davon erzählt wie er in Thailand eine schwere Durchfallerkrankungn hatte. Dort wurde er unentgeltlich im Krankenhaus behandelt. (Interview U1) Er ist nach Thailand emigriert und hat dort gearbeitet solange die Situation dort wirtschaftlich gut war. Als aber gesundheitliche und wirtschaftliche Probleme aufgetreten sind ist er wieder zurückgezogen, weil er in Thailand zwar eine gewisse soziale Absicherung in Form eines universell zugänglichen Gesundheitssystems erlebte, aber dort keinen familiären Rückhalt hatte. Dieses Beispiel zeigt neben der zentralen Bedeutung der Familie als Institution sozialer Sicherheit auch die Gefährdung, die Migration mit sich bringt, nämlich den temporären Verlust direkter Unterstützung durch das nahe soziale Umfeld.

Neben der engen Familie gehört auch die erweiterte Familie zum Netzwerk in dem soziale Sicherungsmechanismen wirken. Besonders im Falle großer finanzieller Belastungen helfen auch Menschen aus der weiteren Verwandtschaft. Damit sind jene gemeint, die durch Familienbande verbunden sind und nicht im selben Haushalt leben. Im Fall von Baresh, einem etwa 80 jährigen Ayurveda Doktor in Talikulam, unterstützen sein Sohn, sein Schwiegersohn und seine Brüder ihn, um für die Kosten seiner Operation aufzukommen. Bei Deviani, einer 65 Jährigen Frau in Trissur waren es ihre Brüder, die für die Kosten ihrer Brustoperation aufkamen. (Interview K7, K15)

Von einem ähnlichen Fall berichtete mir Sandaho Nees, ein Arzt in Bithoor, Uttar Pradesh. Sein Vater erkrankte schwer und die Familie musste Arztkosten von 150.000 Rupien (etwa 30.000 Dollar) bestreiten. Er sagte, dass er dafür Rücklagen gehabt hat. Er kommt aus eine wohlhabenden Familie, so sagte er, dass sein Bruder viel Geld habe und ihn nach dem Tod des Vaters unterstützt hat (Interview U7).

45 Diese Fälle zeigen, wie das familiäre Netz und die erweiterte Familie als Sicherungsmechanismus im Falle teurer medizinischer Behandlungen fungiert. In allen diesen Fällen waren die behandelten Menschen ältere Personen, die nicht mehr arbeitstätig waren. Deshalb gehe ich davon aus, dass von den Familienmitgliedern nicht erwartet wurde, dass die Unterstützung für die Behandlungskosten zurückgezahlt werden würde. Diese Familienunterstüzung ist als Geschenk zu sehen oder als soziale Verpflichtung, die innerhalb der Familie einfach geleistet werden muss. In allen Fällen war genug Geld vorhanden um die, zum Teil sehr teuren, Behandlungen zu bezahlen. Wenn dies nicht der Fall wäre, müssten sich die Familien stark verschulden, oder eine Behandlung der auftretenden Krankheit käme erst gar nicht in Frage.

Eine andere Form familiärer Hilfe sind Unterstützungs- und Pflegeleistungen. Ein Beispiel hierfür bietet Krishna, eine Frau in einem Dorf in Rae Bareli. Sie erzählte mir, dass sie in der letzten Woche vor dem Interview krank wurde und ihre Schwester aus dem Nachbardorf gekommen sei um ihr zu helfen. (Interview U2) Diese Form der Hilfeleistung impliziert, dass genügend Ressourcen in Form von Zeit vorhanden sind. Die Schwester von Krishna konnte für ein paar Tage zu ihrer Schwester zu fahren. Solche Systeme gegenseitiger Hilfeleistung setzen also auch voraus, dass Zeit relativ flexibel eingeteilt werden kann.

3.2.2 Bildung Im Kontext von sozialer Sicherheit ist Bildung ein extrem wichtiges Thema in Kerala. Sie trägt auf vielfältige Weise zur Erzeugung einer sicheren Lebensgrundlage bei. Mit höherer Bildung steigt die Chance auf einen besser bezahlten Beruf. Somit kann sich Bildung positiv auf die Zukunft von Kindern auswirken und damit auch auf die Verbesserung des Familieneinkommens.

Außerdem wird Bildung für die Kinder als Altersvorsorge verstanden. Ein Fischer erzählte mir auf die Frage, wie er seinen Lebensunterhalt bestreiten wird, wenn er alt ist und nicht mehr arbeiten kann, von seinen Kindern.

I have three sons and one daughter and they all received an education. Now they are all married and my sons work abroad, beeing rich men. Before my retirement all children were financially fit, therefore I was really happy. (Interview K3)

Bildung ist auch in Uttar Pradesh ein wichtiger Faktor zur Sicherung der Familie. Auf die Frage hin wie Krishna, eine Frau in einem Dorf in Uttar Pradesh, sich ihr Leben im Alter

46 vorstellt, antwortet sie, dass ihre Kinder Bildung erhalten und sie hofft, dass die Zukunft gut ist. (Interview U2)

Eine weitere Weise, wie Bildung oder ein höherer Wissensstand zur sozialen Sicherheit beiträgt, ist, dass sie zur Reduzierung von Risiken führen kann. Viele Berufe, die einen niedrigen Bildungsstandard voraussetzen, sind mit hohen Risiken verbunden, so etwa die Fischerei oder das Palmenklettern. Bildung kann hier den Wechsel in eine weniger gefährliche Berufssparte ermöglichen. Der Vater meines Übersetzers in Kerala hatte zum Beispiel erst vor kurzem seinen Beruf gewechselt. Er war bis vor einem halben Jahr Fischer und arbeitet jetzt in einem Zeitungsvertrieb (Interview K1). Das Fehlen solcher Alternativen auf Grund eines geringen Bildungsstands hingegen zwingt Menschen zum Teil dazu, Berufe mit hohem Risiko auszuüben, wie mir ein Fischer erzählte.

It is a dangerous work because you can never be sure about the sea, sometimes a tsunami happens [...]. But the ultimate reason is that I don't know any other work, therefore I am also forced to work as a fisherman although it is a dangerous work. (Interview K3)

Außerdem kann Bildung ein Mittel zur Förderung der intergenerationellen Mobilität sein. Als intergenerationelle Mobilität wird bezeichnet, wenn ein Kind einen anderen Beruf oder einen höheren Bildungsstand als seine Eltern hat (Hnatkovska 2013:446). Maghan, der Besitzer eines Lederwarengeschäfts in Kanpur, erzählte mir, dass schon sein Vater dieses Geschäft hatte. Daraufhin frage ich ihn, ob sein Sohn dann auch in das selbe Geschäft einsteigen würde. Aber Maghan antwortet mir, dass sein Sohn studiere und irgendeine andere Arbeit machen werde. Irgendwo, egal ob in Indien oder im Ausland. (Interview U3)

Aufklärung und Information können auch dazu beitragen, Risiken bei der Arbeit zu vermeiden. Ein Fischer berichtete mir, dass es früher oft zu Unfällen in der Nacht kam, weil große Schiffe die Fischerboote nicht sahen. Heutzutage wissen sie, dass sie Warnlichter benutzen können. (Interview K1)

3.2.3 Migration Ein wichtiges Mittel zur Steigerung und Diversifizierung des familiären Einkommens ist Arbeitsmigration (Von Benda-Beckmann 1994:29f). Migration ist ein wichtiger Mechanismus der sozialen Absicherung, beispielsweise dadurch, dass er Zugang zu Arbeit schafft. Er schafft aber auch neue Unsicherheiten, da Migrant_innen durch die räumliche Trennung auch keinen Zugang zu ihrem familiären sozialen Sicherungsnetz haben (ebd.).

47 Arbeitsmigration ist in Kerala ein weit verbreitetes Phänomen. Für diese Form der Migration ist Bildung eine wichtige Voraussetzung. Innerhalb Indiens findet Arbeitsmigration oft in die finanziellen Zentren im Inland statt. Für Arbeitsmigrant_innen aus Kerala sind die Golfstaaten ein auffallend beliebtes Ziel, vor allem auf Grund des hohen Lohnniveaus. Dabei sind besonders hoch gebildete Arbeitskräfte gefragt. 2007 gab es 1,9 Millionen Migranten_innen. Das entspricht fast einem Fünftel der arbeitenden Bevölkerung in Kerala. Die meisten von ihnen migrierten in die Golfstaaten, und zwar waren es 1998 95 Prozent, 2007 war es noch jeder neunte von zehn Migrant_innen. (Kerala State Planning Board 2009:474) Rücküberweisungen von Migrant_innen aus dem Golf machen fast ein Viertel des Nettoinlandsprodukts aus (Kerala State Planning Board 2009:447). Viele Familien werden durch ihre in den Golfstaaten arbeitenden Verwandten unterstützt. So hat zum Beispiel der Nachbar meines Übersetzers zwei Söhne, die in den Golfstaaten arbeiten. Diese sorgen für ihn und seine Frau. “I have two sons and both are working in the gulf, now I am not depending on his work.” (Interview K2)

Bei den Migrationsströmen innerhalb Indiens ist zu unterscheiden zwischen solchen Migrant_innen, die in meist weit entfernte Zentren migrieren um dort zu arbeiten und solchen, die sich zwar verhältnismäßig nahe an ihrem ursprünglichen Zuhause befinden, aber sehr wohl für eine längere Zeitdauer an ihrem Arbeitsplatz verweilen. Auch innerhalb von Kerala gibt es Migrationsbewegungen. Fischer_innen arbeiten in der Hochsaison dort, wo es am meisten Fische gibt. Hier gibt es gemeinschaftliche Mechanismen zu Geldtransfers, damit die Familien der Fischer_innen versorgt sind.

During the time of work, I stayed in many different areas and districts, more than one month mostly. I stayed in Calicut, a place where there was a lot of work. I mean we were caching more and more fish and got more money. But we did not have something to keep the money. We get the money and we give it to a person which goes to the native places and distributes that money to every family. Otherwise the family would die, I mean they would be starving without any food and so on. That is a good method that one person distributes the money. (Interview K3)

Solche informellen Mechanismen zum Geldtransfer gibt es auch im Fall von Ziegelbrenner_innen in Uttar Pradesh. Krishnas Mann arbeitet das halbe Jahr in Lucknow in einer Ziegelbrennerei. Während er weg ist, kommt immer wieder jemand von dort und bringt das Geld in sein Dorf in Rae Bareli, das etwa 50 Kilometer von Lucknow entfernt ist. (Interview U2)

Auf der einen Seite wird durch die Migration eines Familienmitglieds das familiäre Netzwerk erweitert und die Einkommensquellen diversifiziert, auf der anderen Seite haben die

48 Migrant_innen an den Orten, an denen sie arbeiten, oft keine starken sozialen Netzwerke. Außerdem kann die Migration von Familienmitgliedern die soziale Sicherheit der ganzen Familie schwächen. In solchen Fällen wird durch Migration die Familie von ihrem hauptsächlich verdienenden Mitglied getrennt. Dies würde ihr die Lebensgrundlage entziehen, gäbe es nicht informelle Sicherungsmechanismen wie Geldkuriere.

Ashutosh, ein jetzt arbeitsloser ehemaliger Arbeitsmigrant, erzählte mir, dass er in Thailand gearbeitet hat. Nach dem Tsunami 2006 und der Ausbreitung der Hühnergrippe hat er Thailand verlassen, weil die wirtschaftliche Situation schlechter geworden ist und er dort, wie er sagte, keinen sozialen Rückhalt hatte.

I came from Thailand after the tsunami, the tsunami happend on 26th December […] and two months later I came back. After the tsunami the markets crashed, each and everything was crashed, damaged […] there is no place for business anymore. So I came back, the real reason was that the chickenpox was spreading in Thailand at that time. I got fear that I would die there so I came back, I have nobody in Thailand […], I don't know anyone. (Interview U1)

Ich interviewte einen Mitarbeiter einer großen Firma in Allahabad, die über 2000 Beschäftigte hat. Seine Familie lebt in Delhi. Einmal im Monat besucht er seine Familie. Er erzählte mir, dass er nach einem Seminar im Rahmen des Unternehmens viele Freunde gefunden hat, davor aber keine Freunde in Allahabad hatte. Diese Episode lässt darauf schließen, dass er in der Stadt, in der er arbeitet, nur wenig sozialen Rückhalt hat. (Inteview U11)

3.2.4 Gemeinschaften gegenseitiger Hilfeleistung Neben familiären Netzwerken gibt es auch Nachbarschaftsnetzwerke als Systeme gegenseitiger Hilfestellung. Dies gilt sowohl für Dorfgemeinschaften als auch für den städtischen Bereich (Midgley 2011:4). Formen gegenseitiger Hilfeleistungen können zum Beispiel Unterstützung bei Bauarbeiten oder bei der Ernte sein, die gemeinsame Nutzung von Lagerorten (Midgley 2011:2), oder das Ausleihen kleiner Geldbeträge etwa für Perioden des Lohnausfalls oder zur Deckung medizinischer Kosten. Des Weiteren gibt es Zusammenschlüsse auf der Ebene gemeinsamer Berufe. Menschen des gleichen Berufsstandes organisieren sich oft, um mit Hilfe gegenseitiger Unterstützung Risiken abzufedern. Diese können formelle, stärker institutionalisierte Strukturen haben, meist handelt es sich jedoch um einen losen Zusammenschluss von Menschen, die in einem begrenzten geographischen Raum denselben Beruf ausüben.

Ein Beispiel hierfür aus meinen Interviews ist eine Episode über eine junge Familie in Kerala.

49 Der junge Fischer ertrank auf See, nachdem er ins Wasser gesprungen war um die Netze zurecht zuziehen. Die Hinterbliebenen bekamen aus einem staatlich organisierten Wohlfahrtsfonds eine Abfindung von 500.000 Rupien, und dieselbe Summe wurde auch von Fischern aus der Umgebung gesammelt.

Life already lost, but his family is save, because is ready to pay 5 lakhs for the family. And other related workers are ready to collect money, another 5 lakhs, his family is save. (Interview K1)

Dieses Beispiel zeigt auch sehr schön die Überschneidung verschiedener sozialer Sicherungsmechanismen, und die Bedeutung von formellen und informellen sozialen Sicherungsmechanismen für die Menschen in Indien. Dabei sind informelle Sicherungsmechanismen mindestens so wichtig wie die formellen.

3.2.5 Sparen Ein weiterer Mechanismus um mit Krisen umzugehen sind Geldreserven, die für besonderen finanziellen Bedarf ausgegeben werden können. Ein Fischer erzählte mir auf die Frage, wie er über schwierige Zeiten gekommen ist, dass er Ersparnisse hatte und diese dafür benutzt hat (Interview K3). Ein ähnlicher Fall ist Anita, eine alleinerziehende Schneiderin aus Trissur. Sie erzählte mir, dass sie zwar nie krank war, aber eine Operation an der Gebärmutter vornehmen lassen musste. Diese hat sie aus ihren Ersparnissen bezahlt. (Interview K14)

3.2.6 Kredite Kredite sind ein verbreitetes Mittel um bestimmte Krisen zu überwinden. Diese werden entweder von Verwandten, Freund_innen, Arbeitskolleg_innen, Patron_innen, oder professionellen Geldverleiher_innen aufgenommen.

Das Ausleihen kleiner Geldbeträge kann über Situationen des akuten Bedarfs hinweghelfen, zum Beispiel bei Unfällen. Unfälle stellen eine doppelte Belastung dar, erstens durch die verursachten medizinischen Kosten und zweitens durch die Belastung, welche durch den Lohnausfall entsteht. Der Vater meines Übersetzers erzählte mir in einem Interview, dass er einen Unfall hatte und einige Zeit nicht arbeiten konnte. In dieser Zeit hat er Kredite von Freunden aufgenommen.

50 I fell down from the boat and got injured. An injury in the head. My cofishers helped me and brought me to the hospital. There they saw that the injury was serious and I got transfered to Ernakulam hospital and treated by a head specialist. I rested for one month then I started working again. Friends helped me, I borrowed money from them during a particular time. I borrowed it and after some time I was able to pay it back. My friends lend me the money only under the condition that I would pay it back. (Interview K1)

Außerdem gibt es private Geldverleiher_innen, die das auf wirtschaftlicher Basis machen. Krishna, eine Frau aus einem Dorf im Bezirk Rae Bareli in Uttar Pradesh, berichtete mir, dass sie in Situationen in denen wenig Einkommen da ist oder mehr Geld gebraucht wird, kleine Kredite aufnimmt. Dafür gibt es in ihrem Dorf einen Geldverleiher, der fünf Prozent Zinsen verlangt. (Interview U2)

Eine andere Personengruppe von denen Fischer_innen Kredite beziehen, sind die Bootsbesitzer_innen (Interview K3, K5). Diese werden oft in Situationen von Einkommensausfällen genutzt. Bootsbesitzer_innen sind, da sie wichtige Produktivmittel besitzen in einer besseren Position als Fischer_innen. Sie sind meistens die Arbeitgeber_innen der Fischer_innen. Dadurch haben sie eine Art Patron_innenstatus, der auch mit impliziert, dass sie eine gewisse Schutzfunktion für ihre Klient_innen erfüllen müssen. Auf Patronagebeziehungen im Allgemeinen werde ich weiter unten noch genauer eingehen. Solche Situationen können zum Beispiel auf Grund einer schlechten Saison auftreten oder auch durch staatlich verordnete Fischereiverbote während der Laichzeit. Bootsbesitzer_innen werden auch um Kredite gebeten, wenn Hochzeiten anstehen und somit großer finanzieller Bedarf besteht. Oft wird in solchen Fällen das Geld nicht zurückbezahlt, sondern als eine Art Vorschuss gehandhabt und der Fischer verpflichtet sich zum Beispiel, bis zum Ende der Saison für den kreditgebenden Bootsbesitzer zu arbeiten.

There is a deal between the owner and the employee. At the starting of closing day, the employees can get money from the owner. They buy money from the owner for happenings like a marriage or something else. If they need more money, they ask the owner. The owner gives me the money for that, it's a contract, between the owner and the employee. The employee gets the money and that employee has to work until the end of the year, it's a contract. A Bank is not available and they don't know how to use a bank. If they want money they have to work. The ultimate resource of money is the owner. (Interview K3)

Eine weitere Form von Krediten, hier eingesetzt als promotives Mittel, sind staatlich subventionierte Kredite an Selbsthilfegruppen. Auf diese werde ich im Unterpunkt formelle Sicherungsmechanismen noch weiter eingehen.

51 3.2.7 Patronagebeziehungen Des Weiteren zählen auch Patronagebeziehungen zu den Ressourcen sozialer Absicherung (Okamoto 2011:47). Solche Beziehungen sind gekennzeichnet durch eine Hierarchie zwischen den Beziehungspartner_innen. Diese hierarchischen Unterschiede manifestieren sich oft im unterschiedlichen Zugang zu ökonomischen, sozialen oder politischen Ressourcen. Patronagebeziehungen sind oft durch den Austausch von Arbeit gegen sozialen Schutz oder Zugang zu Land geprägt. Die hierarchisch untergeordneten Personen stehen in einer Art Abhängigkeit zu seinem/ihrem Paton_in. Beispiele hierfür sind die Beziehungen zwischen „Landlords“, also den Besitzer_innen von Grundstücken, und Pächter_innen, oft sind das landlose Bäuer_innen und Bauern, oder Beziehungen zwischen Bootsbesitzer_innen und Fischer_innen. Im indischen Kontext wird oft der Begriff des „Landlordism“ verwendet, dieser bezeichnet die Vormachtstellung von Familien, die im Besitz von viel Land sind, und die Beziehung dieser Gesellschaftsschicht zu landlosen Arbeiter_innen. Diese Beziehung spiegelt auch das Kastenverhältnis von hohen zu niedrigen Kasten wieder. (Sandbrook 2007:66ff)

Diese Beziehungen sind aber nicht einseitig, es haben auch die Patron_innen gewisse sozial verankerte Verpflichtungen gegenüber ihren Klient_innen, nämlich diese in schwierigen Situationen zu unterstützen (Kannan/Pillay 207:8). Allerdings ist ein Merkmal dieser ungleichen Beziehungen, dass die Rechte und Verpflichtungen der beiden Parteien nicht festgeschrieben sind, sondern eine gewisse Beliebigkeit besteht, was die Position der Klient_innen schwächt, da oft das direkte Überleben von der Gunst der Patron_innen abhängt da diese die ultimative Einkommensquelle sind (Interview K3).

Patronagebeziehungen können auch in der Politik bestehen, besonders wenn aufgrund von schlechter Kontrolle politischer Organe diese einen großen Entscheidungsspielraum haben. Diese Patronagebeziehungen können sich auch entscheidend auf den Erhalt von sozialen Leistungen auswirken (Sepúlveda/Nyst 2012:60).

So when offseason it is their duty to help them, […] they will give the money back when the season comes. (Interview K5)

Hier gibt es einen Austausch von materiellen Gütern für politische Unterstützung (Sandbrook 2007:47) Durch solche Vorgänge wird aber auch die hierarchische Beziehung zwischen Patron_in und Klient_in aufrecht erhalten und weiter verstärkt. In extremen Fällen kann dies zu einer Verschuldungsspirale und andauernden Arbeitsverpflichtungen führen. In Indien wird dies als „Bonded Labour“ bezeichnet. Diese Art der Arbeitsverpflichtung ist dadurch

52 gekennzeichnet, dass die Schulden nicht mehr abbezahlt werden können, oder die Bedingungen des Schuldverhältnis nicht festgelegt sind und einseitig von den Gläubiger_innen bestimmt werden. Bonded Labour wurde 1979 im „Bonded Labour System (Abolition) Act“ abgeschafft, in der Praxis bestehen solche Beziehungen aber immer noch. Es gibt hierzu auch ein nationales Programm um so gebundene Arbeiter_innen zu entschulden und zu befreien. (Ministry of Labour and Employment 2012:79)

3.2.8 Formelle Sicherungsmechanismen Formelle Mechanismen sozialer Sicherung sind im unorganisierten Sektor in Indien zwar vorhanden, aber nur wenig weit verbreitet. In Kerala haben diese eine längere Tradition und weitere Ausbreitung als in Uttar Pradesh. Die Interviews, die ich durchgeführt habe, zeigen, dass es formelle Sicherungsmechanismen gibt und auch einige meiner Interviewpartner_innen erzählten mir, dass sie gewisse institutionalisierte Versicherungen haben. Aber nur in wenigen Episoden sind formelle Mechanismen ausschlaggebend für die Überwindung einer kritischen Situation. Sowohl in Uttar Pradesh als auch in Kerala sind formelle Sicherungsmechanismen kaum geeignet, informelle Systeme gänzlich zu ersetzen. Sie können diese aber entscheidend unterstützen.

Der Vater meines Übersetzers war die letzten 35 Jahre als Fischer tätig. Jetzt ist er 56 Jahre alt, und erzählt mir, dass er sobald er 60 ist eine Pension bekommt. (Interview K1). Diese Pensionen aus dem Wohlfahrtsfonds für Fischer_innen sind jedoch sehr gering. Sein Nachbar, der ebenso Fischer war und schon über 60 ist, bekommt eine Pension von nur 250 Rupien im Monat, das entspricht etwa einem Viertel der staatlichen Armutsgrenze, oder etwa ein Tageslohn einer ungelernten Landarbeiter_in in Kerala (Kerala State Planning Board 2009:388). Dies ist gerade genug, um den Nahrungsbedarf für eine Person zu subventionierten Preisen zu decken (Sato 2004:300). Er und seine Frau werden aber von seinen zwei Söhnen, die in den Golfstaaten arbeiten, unterstützt. „Now I'm 60 years old and I get 250 rupees old age pension, only 250 rupees.“ (Interview K2)

Die Pension, die er aus dem Wohlfahrtfonds bekommt kann mehr als Unterstüzung des Familieneinkommens gewertet werden, denn als Maßnahme die ein würdiges Leben im Alter garantiert.

Einige meiner Interviewpartner_innen haben auch private Versicherungen. Es sind verschiedenste Versicherungsmodelle vertreten, also sowohl Lebensversicherungen als auch

53 Vorsorgefonds und Pensionsversicherungen. Die meisten Personen, die ich interviewt habe und die eine private Versicherung haben, sind bei der indischen Life Insurance Corporation, einer Versicherungsgesellschaft, die in staatlichem Besitz ist, versichert. Alle Personen, die eine private Vorsorgen haben, kommen aus eher gut gestellten Familien. (Interview K4, K16, K18, U5, U7)

Es gibt auch Maßnahmen für besonders förderungsbedürftige Gruppen. Ein Interview habe ich mit einer Selbsthilfegruppe von Frauen aus SC/ST Familien gemacht, die einen subventionierten Kredit von der Lokalregierung bekommen haben. Den Kredit haben die Frauen in eine Maschine investiert, mit der sie Halsketten und Armbänder produzieren. (Interview U2) Dieses Beispiel zeigt eine der Maßnahmen, die von der indischen Regierung gesetzt werden um Personen aus benachteiligten Gruppen dabei zu unterstützen selbstständig wirtschaftlich aktiv zu werden. 7

Manche meiner Interviewpartner_innen sind oder waren im formellen Sektor beschäftigt und haben somit eine staatlich geregelte soziale Absicherung. Unter dem Employees State Insurance Act werden alle Unternehmen mit mehr als zehn Arbeiter_innen dazu verpflichtet, ihre Arbeiter_innen anzumelden und Beiträge zu bezahlen. Die Maßnahmen, die in diesem Gesetz verankert sind, sind erstens medizinische Versorgung und zweitens Unterstützungszahlungen im Fall von Krankheit, Mutterschaft, Behinderung, Pensionierung, sowie im Fall es Todes Unterstützungen für Verwandte und Begräbniskosten. (Kannan/Pillai 2007:18f)

Sicherungsmechanismen für Arbeiter_innen im unorganisierten Sektor gibt es in beispielsweise in Fällen, in denen berufsgruppenspezifische Programme auf bundesstaatlicher Ebene wirksam werden. Diese stellen verschiedene Mechanismen zur Verfügung, wie beispielsweise Programme für saisonalen Lohnausfall, Lebensversicherungen und Alterspensionen. Auf diese berufsgruppenspezifischen Maßnahmen der sozialen Absicherung des Kerala Wohlfahrtsfondsmodells werde ich weiter unten noch genauer eingehen. Zugang zu solchen Maßnahmen aus Wohlfahrtsfonds hatten nur drei der von mir interviewten Personen, diese waren alle Fischer.

7 Das Kudumashree Programm ist ein Mikrofinanzprogramm, das 1998 in Kerala eingeführt wurde (Kerala State Planning Board 2009:321).

54 3.2.9 Abwesenheit formeller Sicherungsmechanismen Wie oben erwähnt, gibt es verschiedene formelle Sicherungsmechanismen, diese sind aber nur wenigen zugänglich. Es gibt sowohl staatliche Pensionen aus Wohlfahrtsfonds für bestimmte Berufsgruppen, als auch private Versicherungen. Andere wiederum bekommen staatliche Vorsorgen, weil sie im formellen Sektor arbeiten.

In vielen Fällen sind solche institutionalisierten Mechanismen aber nicht zugänglich. Einige meiner Interviewpartner_innen gaben an, keine staatlichen Absicherungsmechanismen zu haben, oder in konkreten Situationen gehabt zu haben. (Interview K1, K3, K7, K10, K14, K15, K16, 17, K18, U1, U2) Auch Anita, eine Schneiderin, gibt an, durch kein staatliches Programm abgesichert zu sein, sie hat aber eine private Lebensversicherung. Es gibt allerdings einen Wohlfahrtsfonds für Schneider_innen, in dem sie aber nicht Mitglied ist. (Interview K14) Die Mitgliedschaft in den keralesischen Wohlfahrtsfonds ist prinzipiell freiwillig, und es gibt verschiedene Gründe wieso Arbeiter_innen nicht von dem jeweiligen Wohlfahrtfonds erfasst werden, etwa weil die angebotenen Leistungen nicht den Bedürfnissen entsprechen oder zu hohe Beiträge verlangen. Manche der Absicherungsmechanismen sind erst in der jüngeren Vergangenheit eingeführt worden, dies kann auch ein Grund sein, weshalb sie nur wenige Miglieder haben. Ein Fischer, der Vater meines Übersetzers, meinte, dass es solche Mechanismen früher nicht gab, heute aber schon.

Nothing, nothing in the past. Today it has changed, now insurance is available for fishermen, but some years back there was no insurance available. There wasn't anything the fishermen had. […] Now they are OK. But I stopped with this work because of the past, the past was very bitter, very bad. (Interview K1)

Dass soziale Sicherungsmechanismen nur wenig verbreitet sind, liegt unter anderem daran, dass sie für einen Großteil der Bevölkerung nicht leistbar sind. Ein arbeitsloser Mann in Uttar Pradesh meint hierzu, dass Inder_innen mit sehr schweren Bedingungen zu kämpfen, und oft nicht einmal genug zu essen haben. Deswegen können sie sich soziale Absicherung einfach nicht leisten.

No social cover, nobody has […]. Listen, we are Indians and we are living under very tough conditions. This burns and it burns like hell, bloody […]. We live under hard conditions, we don't have enough money to feed us. How could we have social securities like this? Insurance, we can't afford it. Indians cannot afford it. The normal people of India, they cannot afford this. (Interview U1)

Ein Arzt aus Bhitoor erzählte mir, dass seine Kund_innen nicht versichert sind. Bei ihm bezahlen alle bar. Das sei so, weil das eine ländliche Gegend ist und weil die Menschen wenig

55 Wissen über Gesundheitsversicherungen haben. Auf die Frage, ob seine Kund_innen Versicherungen haben antwortet er:

No, because we are in a rural area so we lack of knowledge, education. So we do not know about […] medical insurance. [...] It´s popular in cities. […] We give only cash money, its is a rural area. (Interview U7)

Es ist also nicht nur der Mangel an ökonomischer Beitragsfähigkeit zu Versicherungen, sondern auch ein Mangel an Information über die Existenz, und den konkreten Nutzen von Versicherungsmechanismen, der Menschen davon abhält, auf diese zurück zu greifen. Der Vater des Arztes in Bithoor, den ich interviewt habe, starb vor kurzem nachdem er lange krank war. Die Behandlungskosten von 150.000 Rupien hat die Familie durch Rücklagen bezahlt. Er selbst hat jetzt nach dieser Erfahrung eine private Gesundheitsversicherung. (Interview U7) Dieses Beispiel zeigt, dass auch eine gute Bildung und ausreichende finanzielle Mittel nicht unbedingt dazu führen, dass formelle soziale Vorsorge getroffen wird. In diesem Beispiel führte erst das Erlebnis einer hohen finanziellen Belastung durch medizinische Kosten in der eigenen Familie dazu, dass der Arzt selbst eine Krankenversicherung einging. Auch im städtischen formellen Sektor gibt es Fälle, in denen es keine medizinischen Absicherungsmechanismen für die Arbeiter_innen gibt, auch wenn dies die gesetzlichen Rahmenbedingungen vorschreiben: Samir, der Besitzer eines Papierwarengeschäfts in Kanpur, erzählte mir, dass er eine Fabrik mit etwa hundert Beschäftigten hat, und dass seine Arbeiter_innen keine Unterstützung für medizinische Leistungen bekommen, wenn sie krank sind. (Interview U5) Unternehmen, die mehr als 10 Beschäftigte haben, werden dem organisierten Sektor zugeschrieben und wären nach dem „Employees State Insurance Act“ verpflichtet, ihre Arbeiter_innen anzumelden, welche ein Recht auf medizinische Versorgung und Unterstützungszahlungen, wie oben beschrieben, haben. Es gibt aber auch für Arbeiter_innen im organisierten Sektor in vielen Fällen keine Krankenversicherungen oder Lohnfortzahlungen im Falle krankheitsbedingter Arbeitsunfälle. Auch wenn solche Maßnahmen gesetzlich geregelt sind fehlt doch eine flächendeckende Kontrolle, die deren Umsetzung garantiert.

56 3.2.10 Recht auf soziale Sicherheit Keine der Personen, die ich interviewt habe, hat in irgendeiner Weise zum Ausdruck gebracht, dass es Leistungen gibt die ihr zustehen würden, sie diese aber nicht bekommt. Es wird also nicht als zentrale Aufgabe der Regierung gesehen, solche Leistungen zu erbringen. Ich habe zum Beispiel einen alten Ayurveda Arzt gefragt ob er je irgendeine staatliche Unterstützung bekommen hat, er sagte mir, dass er nie eine solche bekommen habe aber auch keine gebraucht hätte. Er hat mir aber auch erzählt, dass er vor ein paar Jahren eine sehr teure Operation hatte und seine Familie ihm geholfen hat diese zu bezahlen (Interview K7). Das Beispiel zeigt die geringe Erwartungshaltung gegenüber staatlichen Organisationen als Schuldbringer_innen. Ganz anders ist das Bild in den Interviews, die ich mit verschiedenen Mitgliedern von Nichtregierungsorganisationen und Wissenschaftler_innen gemacht habe. Eine Mitarbeiterin von Lokmitra, einer lokalen NGO, schilderte mir, dass die von der Regierung veranlassten Maßnahmen oft erst auf Druck durchgeführt würden. Sie erzählte von einem Fall in einem Dorf im Bezirk Rae Bareli (UP), wo die Regierung Ärzt_innen dazu angestellt hat, um in die Dörfer zu gehen um dort Impfungen durchzuführen. Diese Dienstleistungen wurden aber lange Zeit nicht erbracht, bis sich Mitglieder des Dorfes organisiert haben und gemeinsam ihre Forderung in der lokalen Verwaltung eingebracht haben. Dieses Vorgehen hat schlussendlich dazu geführt, dass die Forderungen auch erfüllt wurden. (Interview Mitarbeiterin Lokmitra) Dieses Beispiel zeigt die Diskrepanz zwischen theoretischen Rechten und der wirklichen Umsetzung. Die Arbeit vieler NGOs setzt an diesem Punkt an, Aufklärung darüber betreiben, welche Rechte beispielsweise den Bewohner_innen eines Dorfes zustehen. Ein entscheidendes Problem, das diesen Unterschied zwischen theoretischen Rechtsansprüchen und tatsächlichen Leistung verursacht, ist einerseits der Mangel an Monitoring, aber andererseits auch, dass die Rechte nicht aktiv eingefordert werden. Dies hängt natürlich oft damit zusammen, dass sich die Menschen ihrer Rechte nicht bewusst sind. (Interview Hari Ram)

57 3.3 Fazit

Es gibt also eine Vielzahl von Beziehungen und Strategien zur Überbrückung und Überwindung von Krisen. Die wichtigste Institution hierbei ist die Familie, die einen zentralen Platz im Leben und Überleben einnimmt. Andere Beziehungen, die sehr wichtig sind, sind die zu Verwandten, Freund_innen, Arbeitgeber_innen und Arbeitskolleg_innen. Als sehr wichtige kurzfristige Strategie zur Überbrückung von Krisen hat sich das Ausleihen kleiner Geldsummen gezeigt. Kleine Kredite sind besonders bei Menschen üblich, die von Saisonalität betroffen sind, wie in den Beispielen oben Fischer_innen oder die Familie eines Ziegelbrenners. Einige schaffen sich finanzielle Rücklagen, die sie zur Bewältigung von schweren Situationen verwenden. Dies ist allerdings nur dann möglich, wenn die Einkommensverhältnisse so hoch sind, dass sie den täglichen Konsum abdecken und darüber hinaus noch Mittel übrig sind. Formelle soziale Sicherungsmechanismen sind zwar verfügbar und einige der Menschen, die ich interviewt habe, haben auch solche. Diese decken aber oft nur einzelne Risiken ab und das auch nur mäßig. Wenige bekommen staatliche Unterstützungen, das sind vorwiegend Fischer_innen, die kleine staatliche Pensionen bekommen und in einem Wohlfahrtsfonds organisiert sind. Diese Pensionen sind aber bei weitem nicht ausreichend, um das eigene Überleben im Alter sicherzustellen. Viel wichtiger sind informelle Mechanismen der Unterstützung, vor allem die Familie spielt eine entscheidende Rolle, in ihr werden Leistungen erbracht, ohne eine direkte Gegenleistung zu erwarten, sie ist die zentrale Institution sozialer Absicherung.

Allen Fällen ist aber gemeinsam, dass es Überschneidungen auf den verschiedenen Ebenen sozialer Sicherheit gibt. Ein Beispiel an dem sich diese Überschneidungen schön zeigen lassen sind die Interviews mit einem Fischer und seinem Sohn: Auf der Ebene der Werte und Ideologien spielen sowohl ein traditionelles Idealbild der Großfamilie in der mindesten drei Generationen in einem Haushalt leben eine Rolle, als auch ein europäisch geprägtes Bildungskonzept. Für den Vater ist ganz klar, dass er seinen Kindern Bildung zukommen lässt, dass diese eine lukrative Arbeit finden, und in weiterer Folge ihn und den Rest der Familie unterstützen. Auf der Ebene der institutionellen Bereitstellung findet sich sowohl die Institution der Familie, als auch privatwirtschaftlich organisierte Versicherungsunternehmen wieder, bei denen der Sohn eine Versicherung hat, auf der Ebene der Beziehungen spielen sowohl familiäre Beziehungen, und auch Beziehungen zu Arbeitgeber_innen, etwa wie erwähnt in der Person eines Bootsbesitzers, von dem der Vater Geld geliehen hat um

58 schwierige Situationen zu überwinden. (Interview K3, K4)

Es werden verschiedene soziale Beziehungen und Praktiken gleichzeitig eingesetzt und diese sind auch miteinander verknüpft. Dies zeigt zum Beispiel der oben beschriebene Fall eines verstorbenen Fischers, für dessen Familie gleichzeitig ein staatliches Instrument eine Abfindung bereitstellt, und auch eine informelle Solidaritätsgemeinschaft für die Familie sorgt. Es agieren also unterschiedliche Personen und Personengruppen auf verschiedenste Weisen zusammen und nutzen dabei unterschiedliche Mechanismen um so etwas wie soziale Sicherheit zu schaffen. Und dabei werden formelle als auch informelle Mechanismen miteinander verbunden. (vgl. Rohregger 2006:28)

59 4. Soziale Situation und soziale Sicherung in Indien

Im Folgenden werde ich die demographische Situation Indiens skizzieren. Hierbei beziehe ich mich erst auf die nationale Gesamtsituation, um danach die momentane Lage der sozialen Absicherungsmechanismen im informellen Sektor darzustellen und die neuen Initiativen der indischen Regierung zu diskutieren. Darauf folgend werde ich die Lebens- und Gesundheitssituation in zwei ausgewählten Bundesstaaten, nämlich Kerala und Uttar Pradesh darstellen, um diese in Beziehung zueinander setzen zu können.

4.1 Indien im Überblick

Indien ist mit 1,2 Milliarden Menschen das zweitbevölkerungsreichste Land neben China. Es besteht aus 28 Bundesstaaten und beherbergt eine Vielzahl verschiedener Sprachen. Neben Hindi, das 41 Prozent der Inder_innen sprechen, gibt es 22 andere offizielle Sprachen und viele weitere Dialekte und Mischformen. Englisch ist neben Hindi eine der Amtssprachen (Ministry of Home Affairs 2001). Indien ist nach den USA, der EU und China die viertgrößte Volkswirtschaft weltweit. Das meiste Geld wird im Dienstleistungssektor umgesetzt, den zweitgrößten Anteil an der Wirtschaftsleistung hat der Industriesektor und an dritter Stelle steht der Agrarsektor. Der tertiäre Sektor trägt zu 58,2 Prozent zum Bruttoinlandsprodukt bei (Ministry of Finance 2012:211) und der sekundäre Sektor macht etwas mehr als ein Viertel des BIPs aus. Der landwirtschaftliche Sektor trägt mit 14,1 Prozent zum BIP bei (ebd.:173). Mehr als die Hälfte (53 Prozent) der Arbeiter_innen sind im Agrarsektor tätig, ein Viertel im Servicesektor und knapp ein Viertel in der Industrie (Ebd.:216). Der Anteil der arbeitenden Bevölkerung liegt bei 39,1 Prozent der Gesamtbevölkerung, 25,6 Prozent der Frauen sind arbeitstätig, bei Männern liegt der Anteil mit 51,7 Prozent deutlich höher.(Census of India 2001). Die indische Wirtschaft wies in der Vergangenheit hohe Wachstumsraten auf. In den Jahren 2009-10 und 2010-11 lag die Wachstumsrate bei 9,3 Prozent beziehungsweise 8,6 Prozent. Im Finanzjahr 2011-12 fiel die Wachstumsrate auf 6,2 Prozent, 2012-13 auf 5 Prozent (Ministry

60 of Finance 2012:1). Indien wird nach dem Klassifikationssystem der Weltbank, das Ländern nach dem pro Kopf Einkommen in Gruppen einteilt, als „Lower-Middle-Income-Country“ bezeichnet (World Bank 2011:vii), und ist, wie oben erwähnt, eine der größten Wirtschaftsmächte weltweit. Der größte Teil der Bevölkerung lebt in ländlichen Gebieten und ist von der Landwirtschaft als primäre Einkommensquelle abhängig (Ministry of Labour & Employment 2013:75). Etwa zwei Drittel der Inder_innen, 60 Prozent, sind im erwerbsfähigen Alter, 35 Prozent der Bevölkerung sind unter 15 Jahren und 5 Prozent über 65 Jahre alt (IIPS 2007:xxix). Die durchschnittliche Lebenserwartung in Indien liegt bei 63,5 Jahren (UNDP 2011:16). Die Kindersterblichkeitsrate in Indien ist relativ hoch, verglichen etwa mit Indiens großem Nachbarstaat China. Sie liegt mit 44,6 Todesfällen von Kleinkindern auf 1.000 Lebendgeburten mehr als dreimal so hoch wie die in China; dort sind es 12,1 (WHO 2011). Die Sterblichkeitsrate der unter Fünfjährigen liegt in Indien sogar bei 74 Kindern auf 1000 Lebendgeburten, die vor dem vollendeten fünften Lebensjahr sterben (IIPS 2007:180). In China unterscheidet sich diese Ziffer nicht stark von der Kindersterblichkeitsrate und liegt bei 15 Kindern von 1.000 Lebendgeburten (WHO 2011). Diese beiden Indikatoren für Indien variieren erheblich zwischen ländlichen und städtischen Gebieten. Am Land sind sie höher als in der Stadt. Auch zwischen den einzelnen Bundesstaaten gibt es große Unterschiede, wie wir weiter unten noch sehen werden. Die Müttersterblichkeitsrate in Indien liegt bei 254 auf 100.000 Geburten. Dieser Wert liegt in China mit 40 deutlich niedriger (Hogan et al. 2010:1614). Die Einkommensungleichheit, gemessen am Gini-Koeffizienten, ist in Indien sehr hoch. Das Land hat einen Gini-Koeffizient von 0,617 und liegt somit auf Platz 129 in der Liste aller Länder. China weist im Vergleich eine sehr niedrige Einkommensungleichheit auf, hier liegt der Gini-Koeffizient bei 0,209 und das Land somit auf Platz 35 (Ministry of Finance 2012:270). Der Zugang zu medizinischer Versorgung ist oft nicht gegeben und die Spitalsdichte ist gering. Auf 1.000 Inder kommt im Schnitt weniger als ein Krankenhausbett. Die meisten bevorzugen eine private medizinische Versorgung vor einer staatlichen. Staatliche Krankenhäuser sind zwar billiger, oft ist aber keines in der näheren Umgebung erreichbar. Weitere Gründe, welche für die Präferenz privater Einrichtungen ausschlaggebend sind, sind die schlechte Qualität der Dienstleistungen sowie die langen Wartezeiten in öffentlichen Einrichtungen. In den Städten sind es 70 Prozent, in ländlichen Bereichen 63 Prozent der

61 Behandlungen, die der private medizinische Bereich durchführt (IIPS 2007: 463). Die Einschulungsrate liegt bei 72 Prozent der Kinder im Volksschulalter und bei 51 Prozent für den Sekundärschulbereich. Nur 55 Prozent der Frauen zwischen 15 und 49 können lesen und schreiben, bei den Männern sind es 78 Prozent. In einer jüngeren Altersgruppe (15-19) liegen die Werte höher, nämlich bei 74 Prozent für Frauen und 89 Prozent für Männer (Census of India 2011:xxx). Mehr als die Hälfte der indischen Frauen wird jünger verheiratet als erlaubt. Das gesetzliche Mindestalter liegt bei 18 Jahren für Frauen und 21 Jahren für Männer. Im Schnitt heiraten Inderinnen jedoch mit 17,2 Jahren. Männer heiraten im Schnitt sechs Jahre später als Frauen. Bundesstaaten mit hohem Heiratsalter, wie beispielsweise Kerala, haben niedrige Geburtenraten, im Gegensatz dazu haben Bundesstaaten mit niedrigem Heiratsalter eine hohe Geburtenrate. Diese Faktoren hängen in weiterer Folge auch mit anderen Indikatoren wie etwa der Haushaltsgröße zusammen. Die Geburtenrate liegt im Durchschnitt bei 2,7 Kindern pro Frau. In ländlichen Bereichen ist sie mit drei Kindern pro Frau deutlich höher als in den Städten (2,1 Kinder pro Frau). Die Geburtenrate korreliert negativ mit dem Einkommen: Arme Haushalte bekommen tendenziell mehr Kinder als reiche (Census of India 2011:xxxi). Offizielle indische Quellen sprechen von einer Armutsrate von 21,9 Prozent. Diesen Quellen zufolge hat sich die Armutsrate gegenüber dem Finanzjahr 2004-05 verringert, damals wurde der Anteil der Bevölkerung, die unter der Armutslinie leben, noch mit 37 Prozent angegeben (Planning Commission 2013a:2). Diese Daten werden jedoch von anderen Quellen als zu niedrig angesehen. Die geringe nationale Armutsrate würde das wahre Ausmaß der Armut verschleiern. So meint etwa Srivastava dazu: „However, many studies and expert groups have held that the current poverty line thresholds are too low and that the levels of deprivation and vulnerability in India are much higher [...].” (2013:11). Tatsächlich ist die indische Armutsgrenze sehr niedrig angesetzt. Sie ist von Staat zu Staat unterschiedlich, liegt aber ungefähr bei 1.000 Rupien pro Monat im städtischen und 816 Rupien im ländlichen Bereich. Das sind etwa 33, respektive 27 Rupien am Tag, was weit unter der von der Weltbank verwendeten Grenze für Extreme Armut von 1,25 US Dollar am Tag liegt. Bei dem momentanen Kurs sind etwa 60 Rupien ein Dollar, das heißt also, dass die indische Armutsgrenze bei etwa einem halben Dollar am Tag liegt. Daher sind demnach 32,7 Prozent der Inder_innen arm. Des Weiteren leben fast zwei Drittel der Inder_innen unter der internationalen Armutsgrenze von weniger als zwei US Dollar pro Tag (Kannan 2010:24; Weltbank 2010).

62 Armut ist in Indien auch sehr stark durch die soziale Herkunft geprägt. Der Großteil der Bevölkerung, der unter der nationalen Armutsgrenze lebt, kommt aus wenig privilegierten Gesellschaftsschichten. In offiziellen Statistiken werden diese als „Scheduled Casts“ (SC) und „Scheduled Tribes“ (ST) bezeichnet. Gemeint sind damit Menschen aus niedrigen Kasten oder indigene Stammesbevölkerung. Auch nach über 60 Jahren seit Verbot des Kastenwesens und der Entwicklungsbemühungen gehören Menschen aus „Scheduled Casts“ und „Scheduled Tribes“ immer noch zur verletzlichsten Bevölkerungsschicht und haben eine schwache wirtschaftliche Basis (Kerala State Planning Board 20120:33). Daneben gibt es die sogenannten „Other Backward Classes“ (OBC) und andere Minderheiten. Zu diesen gehören beispielsweise benachteiligte religiöse Minderheiten wie Muslime. Es sind oft mangelnde Bildung, schlechte Bildungschancen und soziale Ausgrenzung, die Angehörige dieser Schichten von einem sozialen und ökonomischen Aufstieg ausschließen. Menschen aus unteren Kasten und Angehörige indigener Bevölkerungsgruppen sind daher oft die Zielgruppe sozialstaatlicher Maßnahmen. 27 Prozent der Menschen dieses Gesellschaftssegments haben Karten, die bestätigen, dass sie unter der Armutsgrenze leben, sogenannte „Below Poverty Line Cards“ (Census of India 2011:xxxi). Diese Karten berechtigen sie zum Bezug gewisser Wohlfahrtsleistungen. Trotz hohem Wirtschaftswachstum verbessern sich wichtige Indikatoren menschlicher Entwicklung nur langsam, dies hängt auch stark mit der Struktur des Arbeitsmarktes in Indien zusammen (Srivastava 2013:11f).

4.2 Der informelle Sektor

Der indische Arbeitsmarkt ist stark durch Informalität und die Beschäftigung im Agrarsektor geprägt, wie folgendes Zitat zeigt:

These features of the economy are closely linked with the nature of the workforce in India which is characterized by extreme inequalities in outcomes and incomes, predominance of agriculture and self- employment, and informality. (Srivastava 2013:12).

Nach der Untersuchung des „National Sample Survey“ arbeiten 465 Millionen Menschen in Indien, 28 Millionen davon arbeiten im formellen Sektor und eine überwältigende Mehrheit von 437 Millionen im informellen Sektor. Über die Hälfte der Beschäftigten im unorganisierten Sektor (246 Millionen) sind in der Landwirtschaft tätig und gut 10 Prozent

63 (44 Millionen) der Menschen sind in der Bauwirtschaft tätig (Ministry of Labour & Employment 2009:89). Der Rest ist in der Produktion, im Handel, im Transport, in der Kommunikation oder im Dienstleistungsbereich tätig. Ein Großteil des unorganisierten Sektors sind Heimarbeiter_innen, Tagelöhner_innen oder selbstständig Beschäftigte. Oft ist informelle Arbeit stark von den Jahreszeiten abhängig. Einerseits ist das bedingt durch die enge Verbindung des informellen Sektors mit der Landwirtschaft, andererseits gibt es auch Tätigkeiten, die während langer Monsunregen nicht durchgeführt werden können. So haben Ziegelfabrikarbeiter_innen nur sechs Monate im Jahr Arbeit, da während der Regenzeit diese Arbeit nicht möglich ist (Ministry of Labour & Employment 2013:75). Auch der Fischfang ist saisonabhängig, hier gibt es Bestimmungen, die den Fischfang etwa während der Laichzeit verbieten. Die Arbeiter_innenschaft im informellen Sektor genießt kaum arbeitsrechtliche oder soziale Sicherheiten. Zum Beispiel haben weniger als fünf Prozent der Menschen im unorganisierten Sektor eine Krankenversichung (IIPS 2007:435). Soziale Sicherungsmechanismen wie sie in Europa etabliert sind, sind vor dem Hintergrund einer vorwiegend informellen Arbeiter_innenschaft nicht möglich, da diese Formen der Absicherung auf Arbeitgeber_innenbeiträgen, der Besteuerung von Löhnen usw. aufbauen und daher einen hohen Formalisierungsgrad erfordern. Selbstständige haben oft keinen regulären Lohn. Außerdem gibt es keine institutionalisierte Aufteilung der Versicherungsbeiträge zwischen Arbeitgeber_innen und Arbeitnehmer_innen, die die Arbeitgeber_innen dazu verpflichten Beiträge zu leisten. Das Hauptproblem, welches viele dieser Menschen in eine vulnerable Position bringt, ist jedoch ein zu geringer Lohn für die geleistete Arbeit. Es besteht ein gravierender Lohnunterschied zwischen dem organisierten und dem unorganisierten Sektor (Bhalotra 2003:25). Der gesetzliche Mindestlohn ist abhängig von Bundesstaat, Berufsgruppe und Qualifikation. Auch für einige Berufssparten des informellen Sektors wurde ein gesetzlicher Mindestlohn festgelegt. Dieser liegt zwischen 166-279 Rupien am Tag (Ministry of Labour & Employment 2012a:59). Es gibt aber auch ein nationales Mindestlevel von 66 Rupien pro Tag, das keinesfalls unterschritten werden darf (Belser/Rani 2010:15). Diese gesetzlich festgelegte Grenze gilt auch für den unorganisierten Sektor. Der nationale Mindestlohn wird aber nicht immer eingehalten. Bei über der Hälfte der informellen Lohnarbeiter_innen wird der Mindestlohn unterschritten. Auch Selbstständige arbeiten großteils zu einem geringeren Lohn. Das hat zur

64 Folge, dass Armut nicht unbedingt mit Arbeitslosigkeit in Verbindung steht, sondern auch Erwerbstätige sind von Verarmung betroffen (Srivastava 2013:13).

4.3 Soziale Sicherungsmaßnahmen für den informellen Sektor in Indien

Wie schon oben erwähnt, ist der Großteil der sozialen Sicherungsmechanismen für den organisierten Sektor ausgelegt. Es gibt jedoch auch Sicherungsmechanismen für den informellen Sektor, diese haben in den letzten Jahren immer mehr Menschen erreicht. Ich werde in der folgenden Ausführung auf die Maßnahmen eingehen, die auf zentralstaatlicher Ebene eingeführt wurden. Es gibt auf nationalstaatlicher Ebene einige Maßnahmen, die der sozialen Absicherung von Menschen im informellen Sektor dienen sollen. Die meisten davon sind auf die Menschen zugeschnitten, die unter der Armutsgrenze leben. Hier werde ich nur auf die wichtigsten Maßnahmen und Programme eingehen, da die Liste sehr lang ist. Es gibt auch Programme die auf bundesstaatlicher Ebene etabliert wurden. Wie diese ausgeprägt sind ist regional sehr unterschiedlich. Auf solche Programme in Kerala und Uttar Pradesh werde ich später genauer eingehen.

4.3.1 Wohlfahrtsfonds Es gibt fünf gesetzlich verankerte Wohlfahrtsfonds: für Minenarbeiter_innen, für Arbeiter_innen in Steinbrüchen, für Beschäftigte im Erzabbau, für Beedi-Dreher_innen und einen für Filmarbeiter_innen. Diese Wohlfahrtsfonds existieren in ganz Indien, unabhängig von einzelnen Initiativen auf bundesstaatlicher Ebene wie etwa in Kerala. Leistungen aus diesen Fonds sind etwa ein Zuschuss für den Kauf von Brillen in der Höhe von 150 Rupien, bei Tuberkuloseerkrankungen gibt es bis zu 750 Rupien für Lebenserhaltungskosten. Im Falle von Herzerkrankungen oder einer Nierentransplantation können bis zu einer Million Rupien von dem jeweiligen Wohlfahrtsfonds bereitgestellt werden. Insgesamt profitieren 4,4 Millionen Familien von solchen Wohlfahrtsfonds (Pillai/Kannan 2007:26). Der Wohlfahrtsfonds für Beedie-Dreher_innen ist mit 4,2 Millionen Mitgliedern der größte Fonds und bietet auch die weitreichendsten Leistungen. Neben den eben genannten

65 Leistungen sind Beedie-Arbeiter_innen zusätzlich über das sogenannte „General Insurance Scheme“ versichert. Diese Versicherung bietet eine Abfindung von 3.000 Rupien im Falle eines natürlichen Todes, 25.000 Rupien im Falle eines Unfalltodes oder einer dauernden Behinderung und 12.500 Rupien bei andauernder, aber nur partieller Beeinträchtigung. Dieses “General Insurance Scheme” beinhaltet auch eine Wohnbauförderung in der Höhe von bis zu 40.000 Rupien (Pillai/Kannan 2007:26f). Der Fonds wird durch eine Abgabe auf Beedis finanziert, diese beträgt fünf Rupien auf 1000 gefertigten Beedis und wird von den Arbeitgeber_innen bezahlt. Der Wohlfahrtsfonds für Beedi-Arbeiter_innen ist aber nur für jene vorgesehen, die in Beedi-Fabriken angestellt sind. Viele Beedi-Dreher_innen und besonders Frauen arbeiten allerdings von Zuhause aus und fallen nicht unter die absichernden Maßnahmen dieses Fonds (Kannan 2010:16).

4.3.2 Gruppenversicherungen Gruppenversicherungen sind Versicherungen, die nicht von Einzelpersonen abgeschlossen werden, sondern von mehr oder weniger großen Gruppen. Gruppenversicherungen haben den Vorteil gegenüber individuellen Versicherungen, dass die Prämien, die die einzelnen Mitglieder zahlen müssen, im Vergleich zu Einzelversicherungen niedriger sind und somit einer breiteren Bevölkerungsschicht der Zugang zu Versicherungen ermöglicht wird. In Gruppenversicherungen wird von den Versicherungen nicht für jede einzelne Person ein Risikoprofil geschneidert, sondern es wird angenommen, dass sich die Risikoverteilung innerhalb der Gruppe ausgleicht und so haben alle Mitglieder einer Gruppe die gleiche Beitragsverpflichtung. Für junge und gesunde Versicherungsnehmer_innen könnten also individuelle Versicherungen günstiger kommen, da diese in einer Gruppenversicherung das geschätzte Risiko älterer oder krankheitsgefährdeter Gruppenmitglieder mittragen. Ein Punkt, der für Gruppenversicherungen in Entwicklungsländern spricht ist, dass die Verwaltung der einzelnen Versicherungen und der Zugang zu diesen erleichtert wird. Mit dem Mangel an Information, der auf beiden Seiten besteht, kann durch das Instrument der Gruppenversicherung besser umgegangen werden (Drechler/Jütting 2005:50). Der Mangel an Information von Seiten der Versicherungsnehmer_innen besteht darin, dass sie nicht wissen, dass es Sicherungsmechanismen gibt und welche Vorteile diese haben. Dadurch, dass oft eine gewisse Gruppengröße gefordert ist, sind auch potentielle Versicherungsnehmer_innen daran interessiert, mehrere Menschen in ihrem Umfeld für so ein Versicherungsmodell zu gewinnen.

66 Es kommt zu einer niederschwelligen Informationsverbreitung. Auf Seiten der Versicherungsanbieter_innen besteht der Mangel an Information darin, dass es wenige Informationen über die Zielbevölkerung und die Einzelpersonen gibt. Durch Mechanismen der Gruppenversicherung kann dieser Informationsmangel besser überbrückt werden, dadurch dass sich die Risiken innerhalb einer Gruppe besser verteilen und besser eingeschätzt werden können. Solche Versicherungsmechanismen werden im indischen Kontext dazu eingesetzt, Personen unter oder knapp an der Armutsgrenze bzw. Personen aus dem informellen Sektor besser erreichen zu können. Diese Versicherungen werden von privatwirtschaftlich organisierten Versicherungsunternehmen getragen. Die Finanzierung unterscheidet sich je nach Programm, einige werden aber neben den Beiträgen der Gruppenmitglieder auch von der Regierung mitfinanziert (Sarkar 2004:126). Es gibt verschiedene Gruppenversicherungen, die von der Regierung unterstützt werden. Einige werden von der privatwirtschaftlich organisierten „Life Insurance Corporation“ verwaltet, andere hingegen von bundesstaatlichen Departments. Gruppenversicherungen beinhalten meistens eine Lebensversicherung, eine Versicherung im Fall von Behinderungen und gewisse Unterstützungen für Gesundheitsprobleme (Pillai/Kannan 2007:27). Beispiele für solche Gruppenversicherungen sind das Varishta Pension Bima, das Jashree Bima Yojana und das Universal Health Insurance Scheme.

4.3.2.1 Varishta Pension Bima Das „Varishta Pension Bima“ ist ein Programm für Arbeiter_innen im unorganisierten Sektor über 55 Jahren. Das Modell wird gänzlich durch Beiträge der Bezieher_innen finanziert. Die Bandbreite der investierten Summe liegt zwischen 33.335 und 266.665 Rupien. Die Bezieher_innen bekommen nach ihrer Pensionierung jährlich 9 Prozent des investierten Betrags als monatliche Pension ausbezahlt. Die Pensionen liegen also bei 250-2.000 Rupien im Monat (Pillai/Kannan 2007:27), das sind etwa 3-25 Euro. Zum Vergleich: die nationale Armutsgrenze liegt bei 1.000 Rupien im Monat.

4.3.2.2 Jashree Bima Yojana Ein anderes Programm, das auf Menschen unter der Armutsgrenze abzielt, ist das „Jashree Bima Yojana“ (2000) der Life Insurance Corporation. Der Beitrag für die Versicherung liegt bei 200 Rupien im Jahr, die Hälfte davon wird von der Regierung aufgebracht. Im Falle eines

67 natürlichen Todes werden 20.000 Rupien an den/die Begünstigte ausbezahlt. Bei einem Unfalltod oder einer permanenten Behinderung liegt der Betrag, den der/die Versicherte bekommt bei 50.000 Rupien. Bei einer partiellen Beeinträchtigung gebührt dem/der Versicherten nur die Hälfte dieses Betrags. In Anspruch genommen werden kann dieses Gruppenversicherungsmodell von Gruppen mit mindestens 25 Mitgliedern. Solche Gruppen werden meist in der Region von Partnerorganisationen wie etwa Panchayats, lokalen NGOs oder Selbsthilfegruppen identifiziert (Pillai/Kannan 2007:27f).

4.3.2.3 Universal Health Insurance Scheme (UHIS) Das Programm ist eine Gruppenversicherung in der sich hundert oder mehr Familien zusammenfinden müssen, um eine Versicherung abschließen zu können. Dieses universelle Gesundheitsversicherungsprogramm wurde von den vier Versicherungen des öffentlichen Dienstes 2003 eingeführt. Seit 2004-05 ist das „Universal Health Insurance Scheme“ (UHIS) nur für Personen und Familien unter der Armutsgrenze zugänglich (ILO 2006:45f). Die Prämien können entweder für einzelne Personen oder für Familien bezahlt werden. Einzelpersonen bezahlen 165 Rupien, Familien mit bis zu fünf Mitgliedern 248 Rupien und Familien mit bis zu sieben Personen 330 Rupien im Jahr. Ein Drittel der Prämien wird von den Versicherten eingezahlt, die restlichen zwei Drittel werden von der indischen Regierung zugeschossen (New India Assurance Company 2009). Die Leistungen des „Universal Health Insurance Scheme“ beinhalten bis zu 30.000 Rupien für stationäre Behandlungen, eine Versicherung im Falle des Todes durch einen Unfall in der Höhe von 25.000 Rupien und Kompensationszahlungen bei einem Einkommensausfall in der Höhe von 50 Rupien für eine Dauer von bis zu 15 Tagen (Kannan/Pillai 2007:29). Nach einer Untersuchung der ILO hat das UHIS, das ursprünglich zehn Millionen Menschen in kurzer Zeit erreichen wollte, eine eher bescheidene Abdeckung. Mit Stand 2004 waren 400.000 Familien über dieses Programm versichert. Gründe für die geringe Ausbreitung des Programms werden unter Anderem darin gesehen, dass die Leistungen nicht ideal auf die Bedürfnisse der Zielgruppen zugeschnitten ist. Es werden zum Beispiel im Fall von ambulanten Behandlungen keine Leistungen bezahlt. Dies ist besonders problematisch, da ambulante Behandlungen den größten Faktor für katastrophale Gesundheitsausgaben ausmachen und für Menschen in unteren Einkommensschichten sehr relevant sind. Auch Leistungen im Falle einer Mutterschaft sind in diesem Modell nicht

68 vorgesehen und die Behandlung andauernder gesundheitlicher Beeinträchtigungen, die vor dem Eintritt in das Versicherungsprogramm schon bestanden haben, werden nicht bezahlt (ILO 2006:46ff). Die Rolle dieses Programms wurde vom Rashtriya Swasthya Bima Yojana (RSBY) übernommen, auf das im Kapitel 4.3.4.1 eingegangen wird.

4.3.3 Berufsgruppenspezifische Programme

4.3.3.1 Das Programm für Weber_innen Es gibt ein Programm sozialer Absicherung für Weber_innen und Handwerker_innen, das fünf Maßnahmen beinhaltet. Erstens gibt es einen Sparfonds, in den die Mitglieder 8 Pais8 pro Rupie die sie verdienen, einzahlen. Dieser Betrag wird von der staatlichen und der bundesstaatlichen Regierung verdoppelt. Die Arbeiter_innen können diese Fonds benutzen um temporäre Vorschüsse zu bekommen, das Geld teilweise abheben, oder das Konto ganz aufzulösen. Zweitens gibt es ein eigenes Versicherungsprogramm für Weber_innen, das von der „United Indian Insurance Company“ getragen wird. Die Beiträge pro Versicherungsmitglied betragen 120 Rupien, davon werden 60 Rupien vom Staat, 40 Rupien vom Bundesstaat und 20 Rupien von den einzelnen Weber_innen eingezahlt. Die Leistungen aus der Versicherung beinhalten eine Eigentumsversicherung im Falle einer Brand- oder Naturkatastrophe von 1.000 Rupien. 100.000 Rupien werden im Falle eines Unfalltodes an die Hinterbliebenen ausbezahlt. Des Weiteren gibt es eine Rückerstattung von Spitalskosten in der Höhe von 2.000 Rupien und es ist auch ein Mutterschaftsgeld vorgesehen. Drittens gibt es ein Gruppenversicherungsmodell, das Leistungen bis zu 10.000 Rupien beinhaltet und durch Beiträge der Regierung, des Versicherungsträgers und des Versicherten finanziert wird. Als vierte Maßnahme gibt es einen Pensionsplan, der Pensionen in Höhe von 1.000 Rupien im Monat für Facharbeiter_innen vorsieht. Und schließlich gibt es eine weitere Versicherung für Weber_innen an motorisierten Webstühlen, die ein Einkommen von bis zu 700 Rupien haben, also einem sehr geringen Einkommen das unter der nationalen Armutsgrenze liegt. In dieser Versicherung bekommen die Begünstigten eine Leistung in der Höhe von 10.000 Rupien im Falle eines natürlichen

8 Ein Pais ist eine Hundertstel einer Rupie

69 Todes, stirbt der/die Begünstigte aufgrund eines Unfalls, so ist die Leistung doppelt so hoch. Die Beiträge für diese Versicherung werden zur Gänze von der Regierung bestritten (Pillai/Kannan 2007:29).

4.3.3.2 Programm für Bauarbeiter_innen 1996 wurde ein gesetzlicher Rahmen für die Anstellung von Bauarbeiter_innen, der „Building and Other Construction Workers (Regulation of Employment and Conditions of Service) Act“ und eine Wohlfahrtsabgabe für die soziale Absicherung von Bauarbeiter_innen, der „Building and Other Construction Workers Welfare Cess Act“ im Parlament beschlossen. Dieses Gesetz soll durch zweckgebundene Beiträge der Arbeitgeber_innen dazu beitragen, soziale Sicherungsmechanismen für die Arbeiter_innen zu finanzieren.

Das Gesetz über die Wohlfahrtsabgabe bezieht sich auf Baustellen, die mehr als neun Arbeiter_innen beschäftigen und solche, die Gesamtkosten von mehr als einer Million Rupien haben. Finanziert werden soll das Modell zum Einen durch Beiträge der Arbeiter_innen selbst und zum Anderen durch eine Abgabe des Bauträgers in der Höhe von ein bis zwei Prozent der Baukosten. Außerdem kann auch vom Staat oder Bundesstaat etwas beigesteuert werden. Diese Gesetze beinhalten allerdings keine konkreten Maßnahmen. Solche sollen von den Bundesstaaten umgesetzt werden. Bis zum Jahr 2007 wurden jedoch erst in sechs der insgesamt 28 Bundesstaaten entsprechende Programme eingeführt. Solche auf zentralstaatlicher Ebene beschlossene Maßnahmen haben oft keine bindende Wirkung für die Bundesstaaten, deshalb ist ihre Umsetzung regional sehr unterschiedlich. In Kerala wurde bereits 1990 ein solches Modell eingeführt, in Tamil Nadu gibt es seit 1997 ein einheitliches Programm für Bauarbeiter_innen (Pillai/Kannan 2007:29f).

4.3.3.3 Programm für Fischer_innen Außerdem gibt es ein berufsgruppenspezifisches Programm für Fischer_innen, das „National Scheme for Welfare of Fishermen“. Dieses Programm gibt es seit 1991-92. Es hat die Aufgabe eine Basisinfrastruktur und soziale sowie ökonomische Sicherheit für Fischer_innen zu gewährleisten. Es besteht aus vier Hauptbestandteilen: Einem Entwicklungsmodell für Fischer_innendörfer, einer Gruppenversicherung gegen die Folgen von Unfällen, einem Sparprogramm und Trainingsmöglichkeiten. Das Entwicklungsmodell beinhaltet einen

70 Zuschuss für den Bau von Häusern, Brunnen und Gemeindesälen. Für den Bau von Häusern wird bis zu 50.000 Rupien bezahlt, für Brunnen bis zu 35.000 und für Gemeinschaftssäle bis zu 175.000. Durch das Versicherungsschema wird bis zu 100.000 Rupien an die Hinterbliebenen von verunfallten Personen, oder im Falle einer permanenten Behinderung an die Betroffenen ausbezahlt. Bei einer partiellen Behinderung gebührt die Hälfte dieses Betrags. Das Sparprogramm soll Einkommen für die Fischer_innen in der Laichsaison sichern, das sind drei Monate im Jahr. Während des Jahres müssen die Fischer_innen eine Prämie von 600 Rupien einbezahlen, der Zuschuss von 1.200 Rupien wird von der Zentral- und der Bundesstaatsregierung gemeinsam getragen. Die Fischer bekommen dann die gesammelten 1.800 Rupien in drei monatlichen Tranchen ausbezahlt (Varinder 2010:23). Die vierte Komponente sieht vor Trainings anzubieten, um Wissen und Fähigkeiten zu verbessern. Oft sind es einfache Mittel, die zur Verbesserung der Arbeitssicherheit beitragen können, wie beispielsweise das Anbringen von Lichtern an Fischerbooten um Kollisionen mit großen Schiffen zu verhindern, wie mir ein Fischer während eines Interviews in Kerala erklärte: „Now fishermen are more educated, there are certain things, certain techniques, dim light, […] for indicating, shippermen are seeing that and change their way. It’s very helpful, but in the past they were not educated they did not know how to face these problems, now they are working.“ (Interview K1)

4.3.4 Programme für Menschen unter der Armutsgrenze Die meisten Sicherungsmechanismen in Indien, die außerhalb des formellen Sektors eingesetzt werden, sind zielgerichtet. Man spricht hier im indischen Kontext oft von „targeting“, also dem Abzielen auf eine bestimmte Bevölkerungsschicht. Ein Großteil der Maßnahmen zielt auf Individuen oder Familien unter der Armutsgrenze, also sogenannten „Below Poverty Line“ Familien. Diese Klassifizierung wird seit den 1980ern angewendet (Srivastava 2013:136). Dafür wird in groß angelegten Untersuchungen erhoben, welche Familien unter der Armutsgrenze leben und somit Anspruch auf eine BPL-Karte haben. BPL- Karten berechtigen zum Bezug einiger Leistungen, wie beispielsweise zum Erwerb subventionierter Güter im Rahmen des TPDS, auch andere staatliche Leistungen können damit in Anspruch genommen werden. Die letzte Untersuchung dieser Art wurde im Rahmen des indischen Zensus von 2011 durchgeführt, diese Daten werden allerdings noch ausgewertet und es liegen noch keine Ergebnisse vor. Die aktuellsten Daten stammen von der Untersuchung 2002.

71 Bei diesen Erhebungen über den Armutsstatus der Bevölkerung gibt es eine Art Vorauswahl durch eine annähernde Bedarfsprüfung. Dazu werden von der indischen Regierung verschiedene, leicht ersichtliche Merkmale von Haushalten festgelegt, die für die Erteilung des BPL-Status ausschlaggebend sind. Es werden Faktoren bestimmt, die automatisch ausschließend oder einschließend wirken oder ein Indikator für einen BPL-Status sind. Kriterien, die eine Familie automatisch von der Möglichkeit eines BPL-Status ausschließen, sind etwa, dass ein Haus feste Wände, ein festes Dach und drei oder mehr Zimmer hat, der Besitz einer gewissen Fläche Land, der Besitz von motorisierten Fortbewegungsmitteln oder von motorisierten landwirtschaftlichen Maschinen, das Vorhandensein von langlebigen Gütern wie einem Fernseher, einem Kühlschrank, einem Telefon und Ähnlichem. Automatisch eingeschlossen sind etwa Menschen, die obdachlos sind, Straßenkehrer_innen und Menschen, die von Almosen leben. Indikatoren für einen BPL-Status sind zum Beispiel die Zugehörigkeit zu „Scheduled Cast“ oder „Scheduled Tribes“ oder ein weiblicher Haushaltsvorstand. Nach dieser ungefähren Bedarfsprüfung kommt eine Befragung über den Konsum der letzten 30 Tage und andere sozialökonomische Faktoren (Ministry of Rural Development 2012:144). Das Targeting steht stark in der Kritik, da es sowohl massive Inklusions- als auch Exklusionsfehler gibt. Eine Studie, die in sechs indischen Staaten durchgeführt wurde, zeigt, dass im Schnitt 40 Prozent der BPL-Karten an Familien vergeben wurden, die nicht unter der Armutsgrenze leben. Weiters haben drei Fünftel der Menschen, die eigentlich unter der Armutsgrenze leben keine solchen Karten. Dadurch können sie ihren Status nicht nachweisen und somit keine Leistungen beziehen (Ram et al. 2009:67f). Die Klassifizierung von BPL-Familien ist auf nationaler und bundesstaatlicher Ebene nicht einheitlich: „There is a continuing debate and a tug-of-war between the central and state as to the determination of population Below the Poverty Line“ (Kannan 2010:23). Die Schätzungen der Regierung über die Zahl der armen Haushalte sind zu niedrig angesetzt und sogar die Planning Commission erkennt es an, dass die national angesetzte Armutsgrenze sehr minimal ist. There are many divides. Foremost among these is the divide between the rich and the poor. As explained [...] poverty is declining, but only at a pace which is no longer acceptable given the minimalist level at which the poverty line is fixed (Planning Commission 2006:9).

Die geringen Schätzungen der Zentralregierung führen auch dazu, dass die Bundesstaaten zusätzliche Kosten übernehmen müssen, weil sie es politisch nicht verantworten können, dass Menschen von den Programmen ausgeschlossen werden, die eigentlich als arm gelten

72 (Kannan 2010:23). Dieser Unterschied zwischen den nationalen Schätzungen und dem tatsächlichen Bedarf erklärt auch, weshalb in manchen Bundesstaaten bei gewissen Programmen mehr als hundert Prozent der bezugsberechtigten Personen Leistungen beziehen, so wie etwa die Pensionsbezieher_innen im NOAPS in Uttar Pradesh.

4.3.4.1 Rashtriya Swasthya Bima Yojana (RSBY) Das RSBY ist neben dem „National Rural Employment Guarantee Scheme“ (NREGS) eines der bedeutendsten Programme zur sozialen Absicherung für Menschen im informellen Sektor in Indien auf bundesstaatlicher Ebene. Umgesetzt wird es seit 2007. Es ist ein Krankenversicherungsprogramm für die arme Bevölkerung Indiens. Die Beiträge für die Versicherung werden von der Zentralregierung (75 Prozent) und den Bundesstaaten (25 Prozent) bezahlt. Das RSBY übernimmt Gesundheitskosten von bis zu 30.000 Rupien im Jahr. BPL-Familien bekommen „smart cards“ mit denen sie in bestimmten Spitälern und medizinischen Einrichtungen Dienstleistungen in Anspruch nehmen können. Durch diese „smart cards“ werden die Kosten für die Behandlung direkt vom Versicherungsträger an den/die Dienstleister_in überwiesen. Bezugsberechtige Familien können sowohl staatliche als auch private Gesundheitsinstitutionen in Anspruch nehmen. Neben den Kosten für die medizinische Behandlung werden auch Fahrtkosten zu und von den medizinischen Einrichtungen übernommen, und zwar bis zu 100 Rupien pro Besuch und insgesamt maximal 1.000 Rupien pro Jahr (Varinder 2010:14f). Die Anmeldung für das RSBY und die Verteilung der „smart cards“ auf denen die Accountdaten sowie Fingerabdrücke und Fotos der Versicherten gespeichert sind, wird durch Vertreter_innen lizenzierter, privater und öffentlicher Versicherungsträger_innen durchgeführt (Dror/Vellakkal 2012:58). Auf lokaler Ebene gibt es so genannte „Field Key Officers“, die die „smart cards“ mit denen die versicherten Personen Gesundheitsleistungen beziehen können, verifizieren müssen. Es werden mobile „enrolement centers“ installiert, etwa in Schulen oder anderen Orten. Dort können Personen, die auf den von der Regierung vorbereiteten BPL- Listen sind, sich für die Versicherung anmelden (RSBY 2009). Dabei haben sie eine Einschreibgebühr von 30 Rupien zu bezahlen. Die gleiche Gebühr wird jährlich fällig, damit die Versicherung fortgesetzt wird. Für Fragen und Anliegen gibt es sogenannte „district kiosks“, dort können nachträglich Familienmitglieder eingetragen werden, wenn sie in der Implementierungsphase nicht vor Ort waren. Dort können Karten auch aufgeteilt und

73 sogenannte „split cards“ gemacht werden. Diese ist vor allem wichtig, falls eine Person des Haushaltes migriert oder verreist (RSBY 2009). Die Prämien werden aus einem Fonds der Zentralregierung, der unter dem „Building and other Costruction Workers Act, 1996“ eingerichtet wurde, bezahlt. Ursprünglich waren neben den BPL-Familien auch „Building and other Construction Workers“ über dieses Programm versichert. Das RSBY wurde erweitert, sodass mit Stand 2013 auf nationaler Ebene auch Beedi-Dreher_innen, Arbeiter_innen des „National Rural Employment Guarantee Scheme“, Haushaltshilfen, Straßenverkäufer_innen und Träger_innen im Eisenbahnbetrieb über dieses Programm versichert sind. Es gibt den Vorschlag das Programm auf weitere Berufssparten beziehungsweise auf alle Arbeiter_innen im unorganisierten Sektor auszudehnen. Die Ausweitung des Programms auf neue Personengruppen liegt im Aufgabenbereich der einzelnen Bundesstaaten. Bis Anfang 2013 wurden insgesamt 34 Millionen dieser „smart cards“ aktiviert und 4,3 Millionen Behandlungen von den Bezugsberechtigten in Anspruch genommen (Ministry of Labour & Employment 2013:3f). Im Finanzjahr 2011-12 beliefen sich die Kosten für die Zentralregierung auf neun Milliarden Rupien (Srivastava 2013:27), das entspricht etwa 0,01 Prozent des BIPs (IFMR 2013:85). Auch für das RSBY gilt, dass es ausschließlich für stationäre Behandlungen ausgelegt ist, das heißt es deckt keine ambulanten Kosten ab, die jedoch, wenn es um katastrophale Gesundheitsausgaben geht, besonders ins Gewicht fallen. Bis zu 80 Prozent der Out-of-Pocket Ausgaben gehen zu Lasten primärer, also nicht stationärer Gesundheitsausgaben (Joe/Mishra 2009:16). Diese sind zwar in der Regel geringer und können eher von Familien oder Individuen getragen werden, ohne sich dafür verschulden zu müssen, jedoch wäre es idealer auch nicht-stationäre Behandlungen durch dieses Programm zu bezahlen. Durch eine Trennung wird die Entscheidung von Ärzten beeinflusst, ob jemand stationär oder ambulant behandelt wird, dies sollte aber auf Grund medizinischer Aspekte entschieden werden (ILO 2006:48).

4.3.4.2 Aam Aadmi Bima Yojana (AABY) Ein weiteres soziales Sicherungsprogramm, das gezielt auf BPL-Familien zugeschnitten ist, ist das „Aam Aadmi Bima Yojana“ (AABY). Genauer gesagt sind landlose Arme die Zielgruppe. Das AABY ist eine Lebensversicherung, die darauf abzielt, Familien im Falle des Todes desjenigen Familienmitglieds, das hauptsächlich das Haushaltseinkommen verdient,

74 abzusichern. Ausgeführt wird das Programm von der indischen Life Insurance Cooperation (LIC), die Beiträge werden von der Bundesstaats- und der Zentralregierung bezahlt. Zur Umsetzung in den ländlichen Regionen werden sogenannte Agenturen (nodal agencies) eingesetzt, das sind zum Beispiel NGOs oder lokale Regierungsinstitutionen. In diesen Agenturen wird aufgrund von Listen der Regierung entschieden, wer zum Abschluss der Versicherung berechtigt ist. Außer diesen Agenturen gibt es auf lokaler Ebene „call centers“, die Ansprüche auf Versicherungsleistungen an die LIC weiterleiten, und ausgebildete Personen aus der Gemeinschaft, die dabei helfen die Anträge auszufüllen und diese an die Versicherung zu senden (IFMR 2013:13). Das Familienoberhaupt oder ein Familienmitglied mit Einkommen wird versichert. Die versicherte Person muss zwischen 18 und 59 Jahre alt sein. Die Versicherungsprämien werden zu gleichen Teilen von der Zentral- und der Bundesstaatsregierung getragen und betragen 200 Rupien im Jahr. Die Hinterbliebenen bekommen im Falle eines natürlichen Todes 30.000 Rupien, im Falle eines Unfalltodes 75.000. Auch im Falle einer permanenten Behinderung wird der Familie eine Versicherungsleistung von 75.000 Rupien zugesprochen, im Falle einer partiellen Behinderung die Hälfte der Summe. Das AABY sieht auch eine Studienunterstützung für die ersten zwei Kinder einer Familie vor. Die Familie bekommt pro Kind von der neunten bis zur zwölften Klasse einen Zuschuss von 300 Rupien im Quartal pro Kind. Ende 2012 waren 18 Millionen über dieses Programm versichert (Varinder 2010:26).

4.3.4.3 National Social Assistance Programme (NSAP) 1995 wurde das „National Social Assistance Programme“ (NSAP) ins Leben gerufen. Es ist ein grundlegendes Absicherungsprogramm für die sehr arme Bevölkerung. Das Programm wird zu hundert Prozent von der Zentralregierung finanziert. Es beinhaltet drei Hauptfunktionen. Eine Pension für alte Menschen, eine Familienbeihilfe und Mutterschaftsgeld. Das „National Old Age Pension Scheme“ ist mit 76-92 Prozent in den Jahren 2002-2010 der weitaus größte Kostenpunkt im NSAP (Varinder 2010:17). Für die Programme unter dem Schirm des National Social Assistance Programme können sich Personen aus BPL-Familien in den lokalen Regierungsbüros anmelden. Dort müssen sie ihr Alter nachweisen und die entsprechenden Formulare ausfüllen. Die lokale Regierungsbehörde muss den Bedürftigkeitsstatus der ansuchenden Person prüfen und das Ansuchen weiterleiten. Nach einer Evaluierung durch die Planning Commission gibt es in dem

75 Untersuchungszeitraum keine genauen Kriterien wonach entschieden wird, ob die Personen bedürftig sind oder nicht (Planning Commission 2009:32).

4.3.4.4 National Old Age Pension Scheme (NOAPS) Das „National Old Age Pension Scheme“ zielt auf arme, alte Menschen über 65 Jahren ab, die kein ausreichendes Einkommen aus Erspartem, anderen sozialen Sicherungsmaßnahmen oder von der Familie beziehen können. Es bietet den Bedürftigen eine monatliche Pension von 200 Rupien. Im Zeitraum 2005-2006 wurden Pensionen an 7,2 Millionen Menschen ausbezahlt (Kannan/Pillai 2007:30). Im November 2007 wurde es in „Indira Gandhi National Old Age Pension Scheme“ umbenannt und die Kriterien für den Bezug wurden erweitert von verarmten Menschen über 65 ohne adäquaten familiären Hintergrund, auf Menschen über 65 Jahren aus BPL-Familien. Mit April 2011 wurde das Mindestalter für Antragsteller_innen auf 60 Jahre herunter gesetzt (Ministry of Rural Development 2011:1). Das Programm wird seit der Neuerung auf bundesstaatlicher Ebene durchgesetzt und die Bundesstaaten sind verpflichtet, mindestens denselben Beitrag wie die Zentralregierung, also 200 Rupien pro Monat, zu leisten. Das heißt die Mindestpension liegt bei 400 Rupien pro Monat (Varinder 2010:16). Die Beiträge der Bundesstaaten variieren stark. In 19 Bundesstaaten liegen die Zuschüsse bei über 400 Rupien, zum Beispiel in Tamil Nadu oder Delhi bei 1.000, in anderen Bundesstaaten liegen die Zuschüsse des Bundesstaats bei 200 bis 400 Rupien wie in Kerala oder Uttar Pradesh. Die nationale Armutsgrenze liegt für ganz Indien bei 1.000 Rupien pro Person eines Haushaltes im Monat, wie ich schon weiter oben erwähnt habe, wird diese Grenze von einigen Interpretator_innen aber als zu niedrig angesetzt eingeschätzt (Srivastava 2013). Das heißt also, dass in Staaten, in denen die monatlichen Alterspensionen vergleichsweise sehr hoch sind, der individuelle Bedarf der Bezieher_innen abgedeckt wird. In anderen Bundesstaaten sind die Pensionen gerade einmal halb so hoch und in manchen betragen sie nur ein Fünftel des Betrags bei dem die Armutsgrenze liegt. Auch die Zahl der Bezieher_innen, gemessen an den Bezugsberechtigten insgesamt, ist sehr verschieden von Bundesstaat zu Bundesstaat. Die Abdeckungsrate in Uttar Pradesh liegt bei 140 Prozent der geschätzten Bezugsberechtigten, es bekommen also mehr alte Menschen eine Pension ausbezahlt, als unter der staatlichen Armutsgrenze leben. In Westbengalen bekommen nur 30 Prozent der bezugsberechtigten Personen Pensionen aus dem NOAP Programm. Anfang 2012 gab es in ganz Indien etwa 19 Millionen Pensionsbezieher_innen des „Old Age

76 Pension Scheme“ (Ministry of Labour & Employment 2012b). Etwa neun Prozent (IIPS 2007:22) der Gesamtbevölkerung sind über 60 Jahre alt, das sind 108 Millionen Menschen. Das bedeutet, dass etwa 18 Prozent der Bevölkerung in dieser Altersgruppe eine Pension aus diesem Programm bezieht. Neben dem „Old Age Pension Scheme“ wurde auch ein Pensionssystem für Witwen und Behinderte eingerichtet. Das „Indira Gandhi National Disability Pension Scheme“ (IGNDPS) und das „Indira Gandhi National Widow Benefit Scheme“ (IGNWBS) (Kapur 2012:5). Das IGNDPS ist für behinderte Menschen aus BPL-Familien zwischen 18-79 Jahren, das IGNWBS für verwitwete Menschen zwischen 40 und 79 Jahren eingerichtet (Kapur 2012:5f). Die Pensionen unter diesem System belaufen sich auf 200 Rupien im Monat (Srivastava 2013:49).

4.3.4.5 National Family Benefit Scheme (NFBS) Das NFBS ist eine Art Lebensversicherung für BPL-Familien, es wird eine Einmalzahlung im Todesfall des/der Hauptverdiener_in geleistet. Es wurde auf zentralstaatlicher Ebene etabliert und ist seit 2002 in der Hand der Bundesstaaten. Es werden 10.000 Rupien bei Ableben des versicherten Familienmitglieds ausbezahlt. Die versicherte Person kann eine erwerbstätige Person im Haushalt sein. Zum Haushalt gehören der Ehegatte, die Ehegattin, minderjährige Kinder, unverheiratete Erwachsene sowie minderjährige Brüder und Schwestern. Im Finanzjahr 2009-10 gab es indienweit 1,3 Millionen Fälle in denen dieser Versicherungsmechanismus zu tragen kam. Das NFBS hatte in diesem Zeitraum zu 7,3 Prozent Anteil an den Kosten des NSAP (Varinder 2010:19f).

4.3.4.6 Janani Suraksha Yojana (JSY) Das Janani Suraksha Yojana (JSY) ist eine Initiative zur Verbesserung der Gesundheit von Schwangeren. Durch dieses Programm soll es ermöglicht werden, dass werdende Mütter aus BPL-Familien medizinische Hilfe bekommen und die Möglichkeit einer betreuten Geburt in einer medizinischen Einrichtung haben. Bei einer Geburt im Krankenhaus bekommen bezugsberechtigte Frauen eine Unterstützung, diese beträgt im ländlichen Bereich 700 Rupien und 600 Rupien in Städten. Im Finanzjahr 2007-08 gab es 2,2 Millionen Nutznießerinnen dieses Systems. Über die Hälfte der Bezieherinnen (59 Prozent) lebt in den zehn so genannten „Low Performing States“ Asam, Bihar, Chhattisgrah Jammu & Kashmir Jharkahand, Madhya

77 Pradesh, Orissa, Rajasthan, Uttar Pradesh und Uttarchal (Varinder 2010:22).

4.3.5 Fazit Wie hier gezeigt wurde, gibt es eine Vielzahl von verschiedenen Programmen auf nationaler Ebene, die aber in den verschiedenen Bundesstaaten unterschiedlich implementiert werden. Viele der Programme sind für Menschen unter der Armutsgrenze zugeschnitten, wobei hier oft nur ein kleiner Teil der angepeilten Bevölkerung erreicht wird. Es wird auch das Targeting auf Personen unter der Armutslinie an sich kritisiert, da diese Armutsgrenze sehr niedrig angesetzt ist. Darüber hinaus sind viele Personen gefährdet zu verarmen, auch wenn sie über der Armutsgrenze liegen. Diese leben unter vulnerablen Umständen, haben aber keinen Zugang zu vielen sozialen Sicherungsleistungen (vgl. Ram et al. 2009, Srivastava 2013). Der Überblick zeigt auch, dass es Sicherungsprogramme für verschiedene Berufsgruppen gibt, jedoch nicht ganz klar wird, weshalb bestimmte Berufsgruppen solche Sicherungsmechanismen haben und andere nicht. Eine Untersuchung der ILO über die sozialen Absicherungsmechanismen in Indien fasst dies wie folgt zusammen: An overview of the schemes both at the Central and State levels reveals that despite the multiplicity of schemes and programmes aiming at social protection of the under-privileged, the social security situation in India is characterised by lack of a consistent policy. They have been framed at various points in times at random responding to the expedience of the day and not conforming to any overall design.(ILO 2006:2)

4.4 Neue Gesetzesinitiativen

In den vergangenen Jahren hat die indische Regierung zwei neue Gesetze verabschiedet, die beide sehr ambitionierte Ziele haben. Das erste Gesetz begründet ein Arbeitsprogramm, bei dem Familien im ländlichen Bereich das Recht auf 100 Tage bezahlte Arbeit pro Jahr garantiert wird. Das zweite Gesetz bezieht sich auf die soziale Absicherung von Arbeiter_innen im informellen Sektor. Besonders ein Gesetz für die soziale Sicherung im unorganisierten Arbeitssektor war längst überfällig.

4.4.1 National Rural Employment Guarantee Act, 2005 (NREGA) Eines der Vorzeigeprojekte der indischen Regierung ist der „National Rural Employment Guarantee Act, 2005. Dieses Gesetz garantiert ländlichen Arbeiter_innen 100 Tage bezahlte

78 Arbeit im Jahr zum regional unterschiedlichen gesetzlichen Mindestlohn. Das Besondere an diesem Gesetz ist, dass es ein Recht auf Arbeit etabliert. Es ist also nicht , wie andere Arbeitsprojekte, abhängig vom Angebot, sondern orientiert sich an der Nachfrage. Der Staat soll seiner Verpflichtung nachkommen und das Recht auf Arbeit, das im Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte garantiert wird, umsetzen. Das Programm zielt vor allem darauf ab, die Unsicherheiten, die durch temporäre Einkommensausfälle auftreten, zu verringern. Solche Ausfälle können saisonal bedingt sein, wie es in der Landwirtschaft oft der Fall ist. Der Großteil des informellen Sektors hat eine relativ unsichere Einkommensbasis, ob es nun Tagelöhner_innen sind oder selbstständige Kleinunternehmer_innen. Das Arbeitsprogramm verfolgt eine doppelte Zielsetzung. Erstens soll die Arbeitssicherheit gestärkt werden und zweitens sollen dadurch gleichzeitig nützliche Güter und Infrastruktur geschaffen werden. Der Vorteil eines solchen Programms wird auch darin gesehen, dass es zu keinem Zielgruppenkonflikt kommt. Dadurch, dass vor allem Arbeit zu niedrigen Löhnen angeboten wird, wird davon ausgegangen, dass nur Menschen aus den armen oder ärmsten Bevölkerungsschichten angezogen werden und Menschen mit anderen Einkommensquellen nicht auf diese neuen Arbeitsplätze zurückgreifen werden (HLPE 2012:16). Das NREGA wird als eines der größten rechtsbasierten Programme zur Verbesserung sozialer Sicherheit gehandelt (ILO 2011:77). Finanziert wird das Programm zu 90 Prozent aus zentralstaatlichen Mitteln und zu 10 Prozent von den Bundesstaaten. Die Projekte in diesem Programm müssen arbeitsintensiv sein, also 60 Prozent der Kosten müssen für Löhne aufgewendet werden. Das Gesetz trat 2006 in Kraft und sollte in fünf Jahren in ganz Indien etabliert sein. Im Zeitraum 2009-10 bekamen 53 Millionen Haushalte Arbeit unter diesem Programm, im Schnitt waren es 53 Tage pro Familie (Varinder 2010:13). Die Projekte müssen bestimmte Vorgaben einhalten. Sie sollen nützliche Verbesserungen hervorbringen, wie zum Beispiel Verbesserungen der Infrastruktur, der Landwirtschaft oder Maßnahmen zur Flutprävention (Srivastava 2013:85). Weiters muss der Lohn für Frauen und Männer gleich hoch sein und innerhalb von 15 Tagen ausbezahlt werden. Darüber hinaus ist ein Drittel der Arbeitsstunden für Frauen reserviert und mehr als die Hälfte der geleisteten Arbeitstage fällt auf SC/ST- Angehörige also auf Angehörige von niedrigen Kasten oder Angehörige verschiedener registrierter Stammesgruppen (Varinder 2010:11).

79 4.4.2 Unorganised Workers Social Security Act, 2008 (UWSSA) Im Dezember 2008 wurde ein Gesetz zur Absicherung im informellen Sektor beschlossen. Es ist das erste Gesetz in Indien seit der Unabhängigkeit, das sich mit sozialer Sicherheit des informellen Sektors, der die überragende Mehrheit der Arbeiter_innenschaft Indiens ausmacht, beschäftigt.

Wie in Kapitel 2.4 bereits erwähnt wurde, umfasst der unorganisierte Sektor alle Unternehmen mit weniger als zehn Beschäftigten und selbstständige Arbeiter_innen (selfemployed), die Güter produzieren oder Dienstleistungen anbieten. Als unorganisierte Arbeiter_innen gelten jene Selbstständigen, Lohnarbeiter_innen und Heimarbeiter_innen, die im unorganisierten Sektor beschäftigt sind. Weiters zählen auch jene Arbeiter_innen im organisierten Sektor dazu, die nicht durch eines der folgenden Programme betroffen sind:

• The Workmen's Compensation Act 1923 • The Industrial Disputes Act 1947 • The Employees' State Insurance Act 1948 • The Employees' Provident Funds and Miscellaneous Provisions Act 1952 • The Maternity Benefit Act 1961 • The Payment of Gratuity Act 1972 (Ministry of Law and Justice 2008)

Nicht von der Definition umfasst sind Menschen, die unbezahlte Arbeit verrichten, sowie Menschen, die zu Subsistenzzwecken in der Landwirtschaft arbeiten. Dies ist problematisch, da diese beiden Gruppen besonders von Saisonalität und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen betroffen sind.

Punkt drei des Gesetzes besagt, dass ein eigenständiges Amt für die soziale Sicherung unorganisierter Arbeiter_innen geschaffen werden soll (National Social Security Board for Unorganised Workers). Diese Behörde soll regelmäßig die Bedürfnisse der Zielgruppe untersuchen und Vorschläge zur Verbesserung der Situation machen. Dieses Amt wurde im Mai 2009 installiert. (Kerala State Planning Board 2010:418) Neben der Schaffung des Amtes auf nationaler Ebene schlägt das Gesetz weiters vor, dass die Bundesstaaten zusätzlich eigene Behörden schaffen und Maßnahmen zur Verbesserung der sozialen Sicherheit von unorganisierten Arbeiter_innen ergreifen sollen. Diese Vorschläge sind für die Bundesstaaten jedoch nicht verbindlich.

Erst wenige Staaten haben eine Behörde auf bundesstaatlicher Ebene etabliert. Bis jetzt haben Karnataka, Westbengalen, Chhasttisgarh und Assam so ein Amt eingerichtet und vier weitere Staaten, Gujarat, Kerala, Orissa und Tripura haben zumindest Gesetze zur Umsetzung von

80 Maßnahmen beschlossen. (Ministry of Labour and Employment 2012b)

In Punkt neun des UWSSA wird vorgeschlagen, dass die Bundesstaaten so genannte „Worker Facilitation Centers“ einrichten können. Die Zentren sollen eine Anlaufstelle sein, um anspruchsberechtigten Menschen einen niederschwelligen Zugang zu den Leistungen zu ermöglichen, und um die Arbeiter_innen zu unterstützen, wenn diese sich registrieren wollen. (Ministry of Law and Justice 2008)

Sowohl die Zentralregierung wie auch die Bundesstaatsregierungen sollen laut UWSSA weitere Maßnahmen ergreifen, die der sozialen Absicherung unorganisierter Arbeiter_innen dienen. Der Originaltext lautet: „The State Government may formulate and notify, from time to time, suitable welfare schemes for unorganised workers [...]” (Ministry of Law and Justice 2008:2). Dafür gibt es eine Kompetenzaufteilung zwischen den Bundesstaaten und der Zentralregierung. Gesetze, die die Bereiche von Lebens- und Invaliditätsversicherung, Gesundheits- und Mutterschaftszuschüsse und Altersvorsorge betreffen, sollen von der Zentralregierung formuliert werden. Als Kompetenzbereich der Bundesstaaten verordnet der UWSSA Vorsorgefonds, Arbeitsunfallversicherungen, Wohnbaubeihilfen, Bildungsmaßnahmen für Kinder, Weiterbildung für Arbeiter_innen, Begräbniskostenzuschüsse und Altenheime. (Ministry of Law and Justice 2008)

In einem Anhang werden zehn Programme genannt, die zur sozialen Absicherung unorganisierter Arbeiter_innen dienen sollen.

• Rashtriya Swasthya Bima Yojana • Indira Gandhi National Old Age Pension Scheme • National Family Benefit Scheme • Janani Suraksha Yojana • National Scheme for Welfare of Fishermen and Training and Extension • Janashree Bima Yojana • Aam Admi Bima Yojana • Handloom Weavers’ Comprehensive Welfare Scheme • Handloom Artisans’ Comprehensive Welfare Scheme • Pension to Master Craft Persons (Varinder 2010:14)

Der Großteil - acht von zehn - dieser Programme ist aber nicht neu und in den meisten Bundesstaaten bereits etabliert. Zwei wurden knapp vor der Unterzeichnung des UWSSA durch die beiden Parlamentskammern eingeführt (Kannan 2010:23). Das Gesetz fasst eigentlich mehr die bestehenden Programme zusammen und bringt sie unter einen einheitlichen gesetzlichen Schirm, als dass es neue Initiativen schafft. Fast alle dieser Programme sind für Menschen unter der Armutsgrenze vorgesehen und nur drei der

81 Programme aus dem Gesetzesanhang beziehen sich auf den Status von unorganisierter oder informeller Arbeit (ebd. 2010:23).

Somit erfüllt der „Unorganised Workers Social Security Act“ nur bedingt die hohen Erwartungen an ein universelles, minimales Absicherungsprogramm, wie es in den Entwürfen für dieses Gesetz vorgesehen war (ebd. 2010:21f). Die „National Commission for Enterprises in the Unorganised Sector“ (NCEUS) schlug vor, ein minimales Absicherungspaket für alle unorganisierten Arbeiter_innen zu schaffen (Srivastava 2013:88). Von diesem universellen Charakter hat sich die letztendliche Version des UWSSA weit entfernt und ist nur in stark verwässerter Form umgesetzt worden (Kannan 2010:21f)

Die Unterschiede zwischen dem im Parlament beschlossenen UWSSA und den Entwürfen, die von der NCEUS und auch von einem parlamentarischen Ausschuss zu diesem Thema ausgearbeitet wurden sind gravierend. In den Entwürfen war vorgesehen ein eigenes Amt auf nationaler und bundesstaatlicher Ebene mit ausführenden Kompetenzen zu schaffen. In der letztendlichen Version hat dieses Amt nur beratenden Kompetenzen. Außerdem beinhalteten die Vorschläge einen eigenen Fonds, der für die Zwecke sozialer Absicherung für unorganisierte Arbeiter_innen eingerichtet werden sollte, in der jetzigen Version wird aber auf die jährlichen Budgets verwiesen. (Ebd.)

Des Weiteren wird im UWSSA festgehalten, dass die Bundesstaaten, wenn Bedarf besteht, adäquate soziale Absicherungsmechanismen schaffen können. Dies ist aber keine wirkliche Verbesserung zum Status quo. Die Bundesstaaten sind schon seit der Staatsgründung dazu berechtigt, solche Maßnahmen einzuführen. Außerdem wurde die Implementierung einer Instanz, die den niederschwelligen Zugang zu sozialen Sicherungsmechanismen gewähren sollte, den sogenannten „worker facilitation centers“ nicht verpflichtend eingeführt, sondern die Bundesstaaten sollen diese nach eigenem Ermessen etablieren, wenn sie es für notwendig halten. Die „workers facilitation centers“ als eine vermittelnde Instanz sind besonders im Kontext niedriger Alphabetisierung und geringer Bildung von weiten Teilen der informellen Arbeiter_innenschaft notwendig, um diesen den Zugang zu Sicherungsmechanismen zu erleichtern. (Ebd. 2010:22f) Der UWSSA sieht vor, dass sich alle unorganisierten Arbeiter_innen registrieren können und ein Ausweisdokument erhalten. Die Registrierung von unorganisierten Arbeiter_innen war im Entwurf der NCEUS noch als verpflichtend für alle Arbeiter_innen angedacht, jetzt ist sie freiwillig für alle Arbeiter_innen, die sich als unorganisiert bezeichnen und über 14 Jahren alt sind (Srivastava 2013:88).

82 Der indischen Regierung sind also Entwürfe vorgelegen, in denen ein stark universalistischer und rechstsbasierter Zugang zu sozialer Sicherheit verankert gewesen wäre. Diese wurden aber auf Grund einer starken neoliberalen Lobby nur in sehr abgeschwächter Form umgesetzt. K. P. Kannan, ein Mitglied der NCEUS, beschreibt dies wie folgt:

The neoliberal lobby within the government was opposed to such a legislation right from the beginning but when it realised that total opposition would be politically unacceptable, it did not spare any effort to water down, indeed puncture, a right-based social security entitlement at every stage. (2010:23)

Die Unterscheidung zwischen APL- oder BPL-Familien auf Grund staatlich gezogener Einkommensgrenzen ist problematisch, da diese Trennung zwischen Menschen unter und über der Armutsgrenze zu einer Spaltung der Gemeinschaft führen kann (Sepúlveda/Nyst 2012:39). Des Weiteren verursachen Selektionsmechanismen hohe Kosten und bieten Raum für Korruption und Klientelismus (Mane 2006). Es sollten auch Maßnahmen getroffen werden, die nicht nur auf die ärmste Bevölkerungsschicht abzielen, und hauptsächlich durch allgemeine Steuern finanziert werden. Weiters wären Versicherungsmaßnahmen sinnvoll, die beispielsweise über eine minimale Absicherung hinausgehen und die sich durch Abgaben auf bestimmte Güter sowie Beiträge von Arbeitgeber_innen und Arbeitnehmer_innen finanzieren lassen (Srivastava 2013:144). Systeme, die zwischen verschiedenen Professionen unterscheiden, können gesellschaftliche Kasten- und Klassentrennung verstärken.

Wie oben beschrieben wäre ein universelles Grundsicherungssystem nach der Idee eines „social protection floor“ in Indien durchaus möglich und finanzierbar. Eine Studie der ILO von 2008 kommt in ihrer Schätzung für die Kosten eines Social Protection Floor Modells das universelle Pensionen, medizinische Grundversorgung, Kindergeld, Beihilfs- oder Arbeitsprogramme und die Verwaltungskosten miteinschließt auf 3,5 Prozent des BIP für das Jahr 2015 (ILO 2008:23).

Lokal gibt es Ansätze, die unter dem UWSSA aufgelisteten Programme auch für Menschen, die nicht unter der Armutsgrenze leben, zugänglich zu machen. Zum Beispiel in Kerala wo das RSBY erweitert wurde. Die Gesundheitsversicherung wird dort im Rahmen des „Comprehensive Health Insurance Scheme“ (CHIS) auch für „Above Poverty Line“ (APL) Familien zugänglich gemacht. (Kerala State Planning Board 2011:88)

Programme, die auch für Arbeiter_innen über der Armutsgrenze zugänglich sind, wären aber auch auf nationaler Ebene wünschenswert, weil viele Menschen, die zwar nicht unter der Armutslinie leben, dennoch vulnerabel sind (Srivastava 2013:136). Dabei sollten die

83 einzelnen Bundesstaaten aber die Möglichkeit haben, den Umfang und die genauen Details anzupassen. Die national etablierten Programme sollten so universell wie möglich sein und Exklusionsfehler weitgehend vermeiden (Sepúlveda/Nyst 2012:40). Gut wäre es, wenn die sozialen Sicherungsmaßnahmen unabhängig von der Berufsgruppe für alle zugänglich sind. Dies ist vor allem wichtig im Kontext einer extrem heterogenen Arbeiter_innenschaft in Indien. Diese Heterogenität besteht aber nicht nur darin, dass es verschiedenste Berufsgruppen und Formen der Arbeit gibt. Sondern auch darin, dass Menschen zwischen verschiedenen Berufen wechseln (Kannan 2010:22) und ihr Überleben von einem Mix an Einkommensquellen abhängt (Von Benda-Beckmann 1994).

Trotz aller Kritik zeigt die Etablierung einiger der oben genannten Mechanismen erste Erfolge. So sind über das dem RSBY 28 Millionen Familien versichert, das entspricht bei einer durchschnittlichen Haushaltsgröße von 4,8 Mitgliedern (IIPS 2007:23) 135 Millionen Menschen, also etwa 11 Prozent der Bevölkerung Indiens. Dies ist eine beachtliche Expansion des Krankenversicherungsprogramms in Indien, wenn man bedenkt, dass im „National Family Health Survey“ von 2005-06 nur 4,9 Prozent aller Familien angegeben haben, dass wenigstens eines der Familienmitglieder irgendeine Form der Krankenversicherung hat (IIPS 2007:435). Über das AABY, der Lebensversicherung für die Familienernährer_innen sind fast 20 Millionen Leben versichert und das „Indira Gandhi National Old Age Pension Scheme“ hat etwa 19 Millionen Bezieher_innen (Ministry of Labour and Employment 2012b).

Die Gesetzesinitiativen, die der UWSSA unter einem gemeinsamen gesetzlichen Rahmen zusammen bringt, haben also in relativ kurzer Zeit eine starke Ausbreitung erfahren. Wie stark sich dies auf die Verbesserung der Lebenssituation der Menschen im unorganisierten Sektor auswirkt, kommt jedoch hauptsächlich darauf an, wie diese Vorschläge von den Bundesstaaten umgesetzt werden.

Der „Unorganised Workers Social Security Act“ hat aber auch Stärken, diese sind wie gerade beschrieben die rasche Ausbreitung der darin aufgelisteten sozialen Sicherungsmaßnahmen. Auch Mechanismen, die keine direkten Transferzahlungen darstellen, sind positiv zu sehen. Zum Beispiel ist das Konzept der großflächigen Registrierung von Arbeiter_innen dahingehend erfolgversprechend, als dieser Ansatz das Problem fehlender Identitätsnachweise aufgreift. Das Fehlen von Ausweisen, die die Identität und das Alter der Person bestätigen, kann eine Barriere für den Bezug von Sicherungsleistungen darstellen. Ohne den Nachweis der Identität ist beispielsweise nicht beweisbar, dass man das Mindestalter für die Teilnahme

84 an einem Arbeitsprogramm erreicht hat. Es liegt daher oft in der Willkür der Beamt_innen, ob man zu einem Arbeitsprogramm zugelassen wird bzw. werden andere Identifikationsmerkmale herangezogen, die nur bedingt gültig sind. Mir wurde zum Beispiel in einem Interview erzählt, dass junge Männer ,die Arbeit in einem Beschäftigungsprogramm gesucht haben, wieder zurückgeschickt wurden, weil sie keinen Schnauzbart hatten, und somit als zu jung befunden wurden: “It’s not easy to get a work, [...] all the persons are awaiting, to get a work [...] so like, if you don't have a moustache, so your are not having enough age”. (Interview U2)

Ein anderer positiver Aspekt an der Registrierung ist, dass sie der Unsichtbarkeit informeller Arbeit und damit verbundener Probleme, wie beispielsweise der Nicht-Einhaltung von Mindestlöhnen, entgegenwirken kann. Außerdem kann die Arbeit von „Worker Facilitation Centers“ das Bewusstsein der Arbeiter_innen stärken, dass sie Rechte auf gewisse soziale Sicherungsmaßnahmen haben und damit zu deren weiterer Verbreitung beitragen.

85 5. Vergleichende Perspektive von Uttar Pradesh und Kerala

5.1. Uttar Pradesh und Kerala im Überblick

Im letzten Kapitel haben wir gesehen, welche Fortschritte die Entwicklung des indischen Wohlfahrtstaates in den letzten Jahrzehnten gemacht hat, insbesondere in Hinblick auf die Absicherung, der im informellen Sektor Beschäftigen,sowie der armen Bevölkerungsgruppen. Dennoch sind diese Absicherungsmechanismen sehr rudimentär, ihr qualitativer und quantitativer Umfang von Bundesstaat zu Bundesstaat sehr unterschiedlich.

Im folgenden Kapitel möchte ich anhand zweier Bundesstaaten zeigen, wie heterogen die Lebenssituation von Menschen in Indien sein kann, je nachdem in welchem Bundesstaat sie leben und wie unterschiedlich die Auswirkungen sozialer Sicherungsmechanismen und der Wohlfahrtspolitik auf die Lebensqualität von Menschen sein können. Ich habe zwei sehr unterschiedliche Staaten für diesen Vergleich herangezogen, einerseits Uttar Pradesh, der mit 200 Millionen Einwohner_innen der bevölkerungsreichste Staat in Indien ist und andererseits Kerala, einem kleinen Staat im Süden Indiens, der oft im Bezug auf seine hohe Lebensqualität hervorgehoben wird.

5.1.1 Uttar Pradesh Uttar Pradesh (UP) ist der bevölkerungsreichste Staat in Indien. Knapp 200 Millionen Menschen leben in diesem Bundesstaat, das ist etwa ein Sechstel der indischen Bevölkerung (Census of India 2011c:23). Die Lebenserwartung in Uttar Pradesh beträgt 60 Jahre und liegt damit vier Jahre unter der Lebenserwartung im gesamten Indien (Suryanarayana 2011:16). Ein durchschnittlicher Haushalt in Uttar Pradesh hat etwa sechs Mitglieder, das ist eine Person mehr als im indischen Mittel. Ein Sechstel der Haushalte hat eine Frau als Familienoberhaupt, das ist etwa deckungsgleich mit dem nationalen Durchschnitt.

Nur ein Viertel der Familien (24 Prozent) in Uttar Pradesh gehört nicht zu „Scheduled Casts“, „Scheduled Tribes“ oder „Other Backward Classes“. Etwa ein Viertel gehört niedrigen Kasten an, ein Prozent der Bevölkerung sind Angehörige registrierter Stämme, und die Hälfte der

86 Bevölkerung lebt in OBC Familien. UP hat einen hohen Anteil an jungen Menschen in seiner Bevölkerung, 42 Prozent der Menschen sind unter 15 Jahren, das sind sieben Prozent mehr als im indischen Schnitt, der Anteil der Menschen über 65 liegt mit fünf Prozent gleichauf mit dem nationalen Wert für diese Altersgruppe. (IIPS 2008b:2) Weniger als die Hälfte der Familien lebt in einem Haushalt mit elektrischem Strom (43 Prozent), hierbei gibt es eine starke Stadt-Land Divergenz. In der Stadt haben fünf Sechstel Zugang zu Strom, in ländlichen Gebieten ist dies nur bei einem Drittel der Fall. Zwei Drittel (67 Prozent) der Familien in Uttar Pradesh haben keine Toiletten, 94 Prozent haben Zugang zu sauberem Trinkwasser (IIPS 2008b:2).

Der Anteil der Erwerbsbevölkerung (die Work Participation Rate) liegt bei 39,8 Prozent im Durchschnitt, hier gibt es eine auffallend starke Geschlechterdifferenz. Die Rate der Arbeitsbeteiligung liegt nämlich bei Männern bei 72,2 Prozent, bei Frauen nur bei 6,5 Prozent. (Census of India 2010:30)

Nach dem indischen Wohlstandsindex, der den Wohlstand an verschiedenen Haushaltscharakteristika festmacht, leben 13 Prozent der Bevölkerung in Uttar Pradesh im höchsten Wohlstandsfünftel und 28 Prozent im niedrigsten. Den zwei unteren Fünftel wird über die Hälfte der Bevölkerung zugeteilt.

In Uttar Pradesh lebt fast ein Drittel (29,43 Prozent) der Bevölkerung unter der staatlichen Armutsgrenze. Diese liegt in Städten bei 941 Rupien im Monat in ländlichen Gebieten bei 768 Rupien (Planning Commission 2013a:5f).

Der Bildungsstand in Uttar Pradesh ist etwas niedriger als im nationalen Vergleich, 55 Prozent der Frauen und 24 Prozent der Männer zwischen 15 und 49 Jahren können nicht lesen und schreiben. Die Einschulungsrate der Sechs- bis Zehnjährigen liegt bei 80 Prozent mit kaum einem Unterschied zwischen Buben und Mädchen, im Alter von elf bis vierzehn wird der Geschlechterunterschied in der Bildung sichtbarer, 78 Prozent der Buben und 68 Prozent der Mädchen besuchen in diesem Alter noch die Schule. Im Alter von 15-17 liegen die Werte bei 49 Prozent für Buben und 32 Prozent für Mädchen (IIPS 2008b:3).

Die Geburtenrate in Uttar Pradesh ist nach Bihar die zweithöchste Indiens. Im Schnitt gebiert eine Frau 3,9 Kinder im Laufe ihres Lebens, das ist mehr als ein Kind mehr pro Frau verglichen mit ganz Indien, wo die Geburtenrate bei 2,7 liegt. Etwa gleich hoch ist die Geburtenrate auch im städtischen Raum in Uttar Pradesh, bei drei Kindern pro Frau, auf dem Land liegt sie bei 4,1. Frauen aus SC/ST Familien bekommen im Schnitt mehr Kinder, vor

87 allem Frauen aus benachteiligten Kasten bekommen im Durchschnitt über ein Kind mehr als Frauen aus nicht benachteiligten Gesellschaftsschichten. (IIPS 2008b:4f).

Die Geburtenrate hängt auch mit Bildung und Wohlstand zusammen. Frauen aus dem höchsten Wohlstandsfünftel bekommen 2,3 Kinder, im niedrigsten Fünftel sind es im Schnitt 4,9 Kinder. Hat eine Frau mehr als 10 Jahre eine Schule besucht, sinkt die Geburtenrate auf 2,3. Im Gegensatz dazu liegt die Geburtenrate bei keinerlei Schulbildung bei 4,6 (IIPS 2008b:6).

Mehr als die Hälfte (59 Prozent) aller Mädchen in Uttar Pradesh wird vor dem gesetzlichen Mindestalter von 18 Jahren verheiratet, das Medianheiratsalter liegt bei 16,2 Jahren. Männer heiraten etwa vier Jahre später, aber auch hier sind es etwas mehr als die Hälfte (51 Prozent) die vor dem gesetzlichen Mindestheiratsalter von 21 Jahren heiraten (IIPS 2008b:3).

In Uttar Pradesh gibt es die höchste Kindersterblichkeit in Indien, 73 von 1000 Kindern sterben bevor sie ein Jahr alt werden. Bei der letzten Messung durch die National Family Health Survey lag dieser Wert noch bei 89. Die Sterblichkeitsrate unter fünf Jahren liegt in Uttar Pradesh bei 96. Auch dieser Wert ist der höchste im Vergleich zu allen anderen indischen Bundesstaaten. Das heißt also, dass eines von 14 Kindern stirbt bevor es ein Jahr alt ist, und rund 10 Prozent der Kinder sterben bevor sie fünf Jahre alt sind (IIPS 2008b:10).

Die Müttersterblichkeitsrate liegt bei 345 Todesfällen pro 100.000 Lebendgeburten, das sind um mehr als die Hälfte mehr Todesfälle bei Geburten als in ganz Indien, und mehr als der vierfache Wert, der in Kerala verzeichnet wird (Census of India 2010:195).

Zwei Drittel der werdenden Mütter werden von Ärzten oder Gesundheitspersonal während der Schwangerschaft untersucht, jedoch nur die Hälfte der schwangeren Frauen lässt sich drei oder mehr Mal vor der Geburt untersuchen. Etwa ein Viertel der Frauen hat ihre erste Untersuchung während der ersten drei Monate, ein weiteres Viertel während dem vierten und fünften Monat der Schwangerschaft. Frauen aus wohlhabenden Familien unterziehen sich mit einer viel größeren Wahrscheinlichkeit pränatalen Untersuchungen als Arme. Im oberen Einkommensfünftel sind es 90 Prozent, im untersten etwa 50 Prozent. Aber auch bei Frauen, die in der Schwangerschaft untersucht werden, ist es nicht unbedingt gegeben, dass alle notwendigen Untersuchungen gemacht werden. Nur bei einem Viertel wird Blutdruck gemessen, Urin- und Bluttests gemacht und bei mehr als der Hälfte findet keine Untersuchung des Bauchraums statt. Eine Ultraschalluntersuchung wird bei nur neun Prozent der Schwangeren durchgeführt. Nur 22 Prozent der Geburten in Uttar Pradesh finden in

88 Gesundheitseinrichtungen statt und nur 29 Prozent werden von geschultem Gesundheitspersonal begleitet. Am häufigsten sind traditionelle Geburtshelfer_innen bei der Geburt dabei und in einem Drittel der Fälle sind es Familienmitglieder oder ungeschultes Personal. Nur 15 Prozent der Mütter haben eine Nachuntersuchung. (IIPS 2008b:12ff)

Mehr als die Hälfte (57 Prozent) aller Kinder unter fünf Jahren ist zu klein für ihr Alter, 42 Prozent hatten zu wenig Gewicht für ihr Alter, was auf akute oder chronische Unterernährung schließen lässt. Bei Erwachsenen ist mehr als ein Drittel zu dünn. (IIPS 2008b:18f)

Die meisten medizinischen Behandlungen werden in Uttar Pradesh im privaten Gesundheitssektor durchgeführt. Nur ein Sechstel der Haushalte bevorzugt öffentliche Gesundheitsdienstleistungen, 83 Prozent der ländlichen und 85 Prozent der städtischen Bevölkerung präferieren privatmedizinische Versorgung. Die Gründe dafür sind vor allem die vorwiegend schlechte Qualität der Dienstleistungen in den staatlichen Einrichtungen. Dazu kommen die langen Wartezeiten sowie der Mangel an nahe gelegenen Einrichtungen. (IIPS 2008b:24)

Krankenversicherungen sind in Uttar Pradesh kaum verbreitet. In nur einem Prozent der Familien hat wenigstens ein Mitglied eine Gesundheitsversicherung. Unter denen, die eine solche haben, dominieren die Versicherung für staatlich Angestellte, Gesundheitsprogramme der Zentralregierung und private Versicherungen (IIPS 2008b:25).

5.1.2 Kerala Kerala ist ein vergleichsweise kleiner Bundesstaat im Südwesten Indiens. Die Fläche Keralas macht etwa 1,2 Prozent Indiens aus. Hier leben rund 33,4 Millionen Menschen, das sind ungefähr drei Prozent der indischen Gesamtbevölkerung. (Census of India 2011a:2) Kerala ist einer der Vorzeigestaaten innerhalb Indiens was Entwicklungsindikatoren wie Lebenserwartung, Alphabetisierungsrate, Kindersteblichkeit und andere angeht. So liegt die Lebenserwartung mit 74 Jahren in Kerala 10 Jahre über dem indischen Durchschnitt, in Uttar Pradesh liegt die Lebenserwartung sogar 14 Jahren niedriger als in Kerala (Suryanarayana 2011:16). Etwa ein Drittel der Haushalte befindet sich in den städtischen Gebieten. Die durchschnittliche Haushaltsgröße liegt bei vier Mitgliedern, ein Viertel der Haushalte hat ein weibliches Oberhaupt (Kerala State Planning Board 2012:5). Diese vergleichsweise hohe Rate kann verschiedene Gründe haben, zu diesen gehören die hohe Rate der weiblichen

89 Bevölkerung, die hohe Arbeitsmigration von Männern, die hohe Alphabetisierungsquote unter Frauen oder der vergleichsweise hohe Anteil an erwerbstätigen Frauen.

Fast die Hälfte der Haushalte in Kerala (44 Prozent) gehört „Scheduled Casts“, „Scheduled Tribes“ oder „Other Backward Classes“ an, zum Vergleich gibt es in Uttar Pradesh nur 25 Prozent der Bevölkerung, die keiner dieser Kategorien angehört. Kerala hat eine relativ alte Bevölkerung, nur ein Viertel ist unter 15 und 8 Prozent sind über 65 Jahre, das sind 10 Prozent weniger unter 15 Jährige und drei Prozent mehr über 65 Jährige als im indischen Durchschnitt. (IIPS 2008:2). Zum Vergleich sind in ganz Indien im Schnitt 35 Prozent der Bevölkerung unter 15 Jahre alt und nur 5 Prozent über 65 Jahren (IIPS 2007:xxix).

Die meisten Haushalte (69 Prozent) haben einen verbesserten Zugang zu Wasser und über 90 Prozent nutzen Elektrizität, nur vier Prozent haben keine Toilette (IIPS 2008a:2).

In Kerala zählen 8,3 Millionen Menschen zur Arbeiter_innenschaft, ein Viertel davon sind Frauen (Kerala State Planning Board 2011:82). Im organisierten Sektor sind über eine Million Inder_innen tätig, die eine Hälfte davon arbeitet im öffentlichen Sektor, die andere Hälfte ist im privaten Sektor formal angestellt. (Kerala State Planning Board 2012:429). Die Arbeitsbeteiligungsrate in Kerala liegt bei knapp 35 Prozent der Gesamtbevölkerung. Sie ist dabei mit 53 Prozent der Männer und 18 Prozent der Frauen sehr niedrig (Census of India 2011d:ix).

Gemessen am „Wealth Index“ des dritten „National Family Health Survey“ sind 45 Prozent der Haushalte in Kerala im höchsten Wohlstandsfünftel, nur sechs Prozent gehören den zwei Fünfteln mit dem geringsten Wohlstand an. (IIPS 2008a:3).

In Kerala gehen Personen im Durchschnitt um zwei Jahre länger zur Schule als im restlichen Indien, nämlich 6,19 Jahre (Suryanarayana 2011:16).

Die Alphabetisierungsrate beträgt in Kerala fast 100 Prozent, mit 93 Prozent bei Frauen und 96 Prozent bei Männern zwischen 15 und 49 hat Kerala einen der höchsten Alphabetisierungsgrade in Indien (IIPS 2008a:4). Im Alter von sechs bis zehn und elf bis 14 Jahren gibt es kaum einen Unterschied zwischen Mädchen und Buben was den Schulbesuch angeht. Zwischen 15 und 17 Jahren macht dieser Unterschied fünf Prozentpunkte aus (IIPS 2008a:3).

Das durchschnittliche Heiratsalter in Kerala ist mit 21 Jahren eines der höchsten in Indien. Männer heiraten im Schnitt acht Jahre später (IIPS 2008a:4). Im Gegensatz dazu wird mehr

90 als die Hälfte der indischen Frauen unter dem legalen Heiratsalter von 18 verheiratet (IPPS 2007:xxxi).

Die Geburtenrate ist neben der von Goa, Andrapradesh und Tamil Nadu die niedrigste mit 1,9 Kindern pro Frau. Besonders niedrig ist sie bei Frauen die benachteiligen Kasten oder indigener Stammesbevölkerung (SC/ST) angehören. Bei diesen liegt sie bei einem Wert von zwischen 1,3 und 1,7 (IIPS 2008a:4f). Der indische Schnitt liegt bei 2,7 Kindern pro Frau und ist in manchen Staaten, so auch in Uttar Pradesh, sogar doppelt so hoch wie in Kerala (IIPS 2008a:5; IIPS 2007:xxxi).

Die Kindersterblichkeitsrate Keralas ist die niedrigste in Indien, sie liegt mit 15 von 1000 Kindern bei knapp mehr als einem Viertel der indischen Kindersterblichkeitsrate von 57. Die Sterblichkeitsrate von unter Fünfjährigen liegt in Kerala nur unbedeutend höher, nämlich bei 16 (IIPS 2008a:10f).

So gut wie alle Frauen Keralas lassen sich vor der Geburt untersuchen. Die erste Untersuchung findet bei 92 Prozent der Frauen bereits während der ersten drei Monate statt, weitere 6 Prozent lassen sich erstmals im vierten oder fünften Monat der Schwangerschaft untersuchen. 94 Prozent der Frauen haben insgesamt drei oder mehr Untersuchungen. Bei 76 Prozent der Schwangeren gibt es Ultraschalluntersuchungen, das ist mehr als dreimal so viel wie der nationalen Schnitt von 24 Prozent (IIPS 2008a:12). So gut wie alle (99 Prozent) Geburten finden in Gesundheitseinrichtungen statt und wurden von medizinischem Personal begleitet. Die Rate für institutionelle Geburten liegt im indischen Schnitt mit 39 Prozent bei weniger als der Hälfte (IIPS 2008a:14f).

Trotz eines relativ guten Gesundheitszustandes sind fast ein Viertel der unter Fünfjährigen untergewichtig (21 Prozent) (IIPS 2008a:18). In ganz Indien sind es 43 Prozent der unter Fünfjährigen die zu wenig wiegen, und 48 Prozent sind zu klein für ihr Alter, was darauf schließen lässt, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben unterernährt waren (IIPS 2007:xxxviii). Die Müttersterblichkeitsrate in Kerala liegt bei 81 Todesfällen auf 100.000 Geburten. Der indische Durchschnitt bei der Müttersterblichkeit ist dreimal so hoch. (Kerala State Planning Board 2012:4)

In Kerala ist die Zahl der Haushalte, die hauptsächlich private oder öffentliche medizinische Institutionen in Anspruch nehmen etwa gleich groß (IIPS 2008a:23). Somit nützt ein höherer Anteil der Bevölkerung Keralas öffentliche Einrichtungen, als dies im nationalen Durchschnitt der Fall ist, wo es eine klare Präferenz zur privaten Gesundheitsversorgung gibt.

91 Obwohl es zahlreiche Krankenversicherungen und Gesundheitsprogramme in Kerala gibt, berichten im „National Family Health Survey“ nur neun Prozent ,dass sie irgendeine Art von Gesundheitsvorsorge haben. Es sind vor allem private Versicherungen oder Rückerstattungen von Gesundheitsausgaben durch Arbeitgeber_innen, die hier zu tragen kommen (IIPS 2008a:23). Dennoch ist im Vergleich zu ganz Indien der Anteil der Familien, die eine Gesundheitsversicherung haben, hoch. Mit nur 4,9 Prozent liegt der indische Durchschnitt deutlich unter der Versicherungsrate von Kerala (IIPS 2007:435).

Diese Gegenüberstellung der wirtschaftlichen, demographischen und sozialen Basisindikatoren zeigen bereits, dass sich hier zwei sehr unterschiedliche Seiten von Indien zeigen. Kerala findet sich bei den meisten Indikatoren in einer führenden Position wieder, während sich Uttar Pradesh demgegenüber im unteren Mittelfeld einreiht. Als einen wichtigen Grund für diese unterschiedliche Entwicklung sehe ich die verschiedene Wohlfahrtspolitik, die in den beiden Staaten für den Großteil der Bevölkerung, und zwar für den unorganisierten Sektor, gemacht wurde. Diese verschiedenen Ansätze werde ich im folgenden näher darstellen.

5.2 Soziale Sicherungsmodelle in Uttar Pradesh

Die in Uttar Pradesh existierenden sozialen Sicherungsmechanismen für den unorganisierten Sektor sind vorwiegend solche, die von zentralstaatlicher Seite initiiert und finanziert werden (Ajwad 2007:6). Die Liste der staatlich implementierten Programme in Uttar Pradesh zur sozialen Absicherung unorganisierter Arbeiter_innen ist sehr überschaubar. Im NCEUS Report über unorganisierte Arbeiter_innen heißt es hierzu: The State of Uttar Pradesh is the largest state in India but with a lower per capita income than the national average. Except a couple of social assistance schemes for the poor aged and the disabled with very limited cover, no schemehas been reported for providing social security to the vast number of workers in the unorganised sector. (NCEUS 2006:50f)

Eine Untersuchung des „Center for Development Studies“ in Trivandrum hat gerade einmal vier Programme sozialer Absicherung identifizert. Davon sind zwei Programme zentralstaatliche Programme, nämlich das „Indira Gandhi National Old Age Pension Scheme“ und das „National Family Benefit Scheme“ Beide werden auch vom Bundesstaat mitfinanziert wie ich im vorangegangenen Kapitel erläutert habe. Abgesehen von diesen gibt es das „Kisan

92 Pension Bima“, ein Pensionsprogramm für Menschen zwischen 60 und 65 Jahren, das 300 Rupien im Monat vorsieht und ein Beihilfsprogramm für heiratende Töchter, für Mitglieder niedriger Kasten und Menschen unter der Armutsgrenze (Varinder 2010:59). Außer diesen Beihilfsprogrammen gibt es auch Armutsbekämpfungsprogramme wie das Public Distribution System (PDS) und das Targeted Public Distribution System (TPDS) oder ein Arbeitsprogramm, das schon vor der Etablierung des NREGA aktiv war, das Sampoorna Grameen Rozgar Yojana (SGRY). Des Weiteren gibt es Programme wie Schulstipendien oder Programme zur Verteilung von Saatgut in Schulen, die fördernd wirken sollen. (Ajwad 2007) Ein weiteres Programm, das in Uttar Pradesh , aber auch in ganz Indien, eine wichtige Rolle spielt ist das Integrated Child Development Service (ICDS). Dies ist ein Programm, das die Entwicklung von Kindern fördern soll. (Srivastava 2013:31ff) Als Anlaufstelle in diesem Programm werden so genannte „Anganwadi“ Zentren eingerichtet. Die Leistungen beinhalten ergänzende Ernährung, Impfungen, Gesundheitschecks, Überweisungen zu Ärzt_innen im Fall von Krankheiten, die Behandlung leichter Erkrankungen, Beratung über Ernährung und Gesundheit für Frauen, und vorschulische Erziehung für Kinder zwischen 3 und 6 Jahren. (Ajwad 2007:21) Einer Studie der Weltbank zufolge haben viele der Programme eine sehr geringe Abdeckungsrate, unter anderem auch durch Exklusionsfehler, die häufig passieren. (Ajwad 2007:22f) Nur ein Prozent der Bevölkerung bekommt eine der Leistungen aus dem NSAP, und nur 15 Prozent der Inhaber_innen einer BPL-Karte beziehen Güter über das TPDS. Positive Ausnahmen in der Reichweite von Programmen sind das Programm zur Verteilung von Saatgut an Schulen (47 Prozent) und Schulbesuchsstipendien (27 Prozent). Auch Inklusionsfehler sind häufig, 40 Prozent der Bezieher_innen von TPDS Produkten kommen aus den oberen zwei Fünfteln der Bevölkerung.9 Nur 37 Prozent der Befragten geben an, dass ein Angawadi Zentrum des ICDS in ihrem Dorf vorhanden sei. Der Report der Weltbank kritisiert, dass es kein effektives Targeting gibt und Regionen, in denen vermehrt Menschen aus niedrigen Einkommensschichten leben, nicht genug gefördert werden. Dies zeigt sich zum Beispiel daran, dass Menschen aus den niedrigeren Einkommensschichten weniger Zugang zu Angawadi Zentren haben als Menschen aus dem zweithöchsten Einkommensfünftel. Die Abdeckungsrate des ICDS ist mit unter zehn Prozent (für Kinder von 0-6 Jahren) sehr gering, noch geringer ist sie bei den null bis drei Jährigen mit nur sechs Prozent. (Ebd. 2007:22f) 9 In der vorliegenden Untersuchung der Weltbank wird die Bevölkerung in Fünftel, gemessen an ihrem Durchschnittskonsum, eingeteilt. (Ajwad 2007)

93 Eine weitere Schlussfolgerung der vorliegenden Studie ist, dass die vorliegenden Programme eine sehr geringe Auswirkung auf die tatsächliche Verbesserung der Lebensqualität von Familien im untersten Fünftel haben. Weit verbreitete Programme wie Stipendien für den Schulbesuch und Saatgutverteilungsprogramme haben nach den Berechnungen der vorliegenden Studie nur einen sehr geringen Effekt. Programme wie das „Old Age Pension Scheme“ tragen nach den Berechnungen der Weltbank stärker zur Wohlstandverbesserung eines Haushalts bei, sind aber wie oben beschrieben in Uttar Pradesh kaum verbreitet. (Ajwad 2007:8)

5.2.1 Erklärungsversuch für die Entwicklung in Uttar Pradesh Ein Erklärungsmodell für die soziale Entwicklung Uttar Pradeshs bietet ein pfadabhängiger Ansatz. John Harris beschreibt in seiner Analyse verschiedener Entwicklungspfade indischer Staaten, wie sich Klassen- und Kastenkoalitionen auf den politischen und sozialen Prozess auswirken. Er identifiziert hier verschiedene Regimetypen. Der Typus, zu dem auch Uttar Pradesh zugeordnet wird, ist dadurch gekennzeichnet, dass das lange bestehende System der Vorherrschaft hoher Kasten und Klassen von mittleren Kasten und Klassen aktiv herausgefordert wurde, und die Unterstützung der Kongresspartei im Umfeld von unstetem Parteienwettbewerb zusammengebrochen ist. (Harris 2003:216f) Interessant wäre hier auch zu erwähnen, dass in Uttar Pradesh nur ein Viertel der Bevölkerung nicht zu einer benachteiligten Bevölkerungsgruppen (SC/ST/OBC) gehört. (IIPS 2008b:2) Historisch gesehen gab es in den 70ern und 80er Versuche der Kongresspartei in ihrer Regierungszeit Wählerstimmen der unteren Kasten und Klassen mit Hilfe von Armutsbekämpfungsprogrammen zu gewinnen. Diese Programme waren nicht auf die Angehörigen niedriger Kasten ausgerichtet, sondern generell auf wirtschaftlich benachteiligte Schichten. Dies ist unter anderem dadurch zu erklären, dass in Uttar Pradesh die Kongresspartei von Angehörigen hoher Kasten dominiert war. Die Kongresspartei verlor ihre Vormachtstellung Ende der 80er Jahre durch Konkurrenz anderer Parteien. In den späten 80er und 90er wurde das Thema der Kastenzugehörigkeit zunehmend für politische Mobilisierung eingesetzt. (Harris 2003:214ff) Parteien, die ihre Wählerschichten aus den unteren und mittleren Kasten mobilisierten sind die Bahujan Samaj Party (BSP) und die Samajvadi Party (SP). Eine weitere Partei, die Ihre Wähler_innenschaft in den mittleren Kasten hat, ist die Lok Dal. Die BSP versuchte stark, sich als Vertreter_in der Dalits10 zu etablieren, die SP

10 Dalits sind Personen außerhalb der Kastenordnung und werden auch als „Unberührbare“ bezeichnet.

94 mobilisierte vor allem Schichten aus den mittleren Kasten (OBC) und Muslime. Außerdem gibt es die hindunationalistische Bharatiya Janata Party (BJP) Partei, die vor allem Anhänger_innen aus hohen Kasten hat, aber auch versucht, Wähler_innen aus den benachteiligten Kasten zu gewinnen. Die Regierungsperioden dieser Parteien wechselten sich in unregelmäßigen Abständen ab und waren meist von kurzer Dauer, meistens nicht länger als 2 Jahre. Während dieser Perioden wurden verschiedene soziale Maßnahmen getroffen, diese waren aber eher punktueller und populistischer Natur und führten nicht zu einem einheitlichen System sozialer Hilfeleistungen. (Singh/Kumar 2012) Die Politik in Uttar Pradesh ist also stark fragmentiert und inkonsistent. Der indische Innenminister nannte 1997 die Situation sogar chaotisch und zerstörerisch. Es konnte sich so keine klare politische Linie etablieren, die notwendig wäre um soziale Entwicklung voranzutreiben, geschweige denn ,eine politische Mehrheit zu bilden, unter der weitreichende umverteilende Maßnahmen möglich gewesen wären. (Harris 2003:21)

5.3 Das Wohlfahrtsfondsmodell in Kerala

Kerala ist im Punkt soziale Sicherheit eine Ausnahme in Indien. Es gibt einerseits die Maßnahmen, die auf zentralstaatlicher Ebene etabliert und beschlossen worden sind. Hier ist Kerala in vielen Fällen einer der ersten Bundesstaaten, der diese Maßnahmen konkret umsetzt. Andererseits gibt es eine Vielzahl verschiedener Wohlfahrtsfonds, die einen Großteil der Beschäftigungsverhältnisse im unorganisierten Sektor abdecken. Ich werde mich in den folgenden Ausführungen besonders auf dieses Wohlfahrtsfondsmodell beziehen, da dieses in Indien einzigartig ist und die Besonderheit der Entwicklung Keralas sehr gut zeigt. Seit den späten 60ern gibt es eine Entwicklung hin zu einem weit verbreiteten Wohlfahrtsfondsmodell, das einen großen Teil des informellen Sektors abdeckt. 1969 wurde der erste Wohlfahrtsfonds für Toddy Tappers11 gegründet. (Kannan 2002:11) Es gibt mittlerweile 28 verschiedene Wohlfahrtsfonds unter behördlicher Leitung für verschiedenste Professionen im unorganisierten Sektor. Alles in allem gibt es über 40 verschiedene Wohlfahrtsfonds (Kerala State Planning Bord 2009:498). Insgesamt sind sechs Millionen Arbeiter_innen in diesem

11 Toddy Tappers sind die Arbeiter_innen, die Palmwein herstellen. Dafür klettern sie auf Kokospalmen, eine sehr gefährliche Tätigkeit, und stechen die Blüten an, um so den Saft für das alkoholische Getränk zu gewinnen.

95 System involviert. Die Hälfte davon ist in der Landwirtschaft beschäftigt, dazu zählen auch Fischfang und Milchproduktion. (Kerala State Planning Board 2012:124) Der Deckungsgrad, also wie viele Arbeiter_innen in den Wohlfahrtsprogrammen eingeschrieben sind, variiert stark zwischen den Berufsgruppen, in manchen sind es über 90 Prozent. Fünf der 22 Wohlfahrtsfonds haben einen so hohen Anteil, zwei weitere Fonds decken über 80 Prozent der Arbeiter_innen des spezifischen Sektors ab. In anderen Berufssparten sind es weniger als zehn Prozent. Im Durchschnitt ist die Hälfte der Arbeiter_innen in den verschiedenen Sektoren Mitglied des jeweiligen Wohlfahrtsfonds. (Kerala State Planning Board 2010:326) Die starken Schwankungen der Abdeckungsrate der jeweiligen Arbeiter_innenschaft kann darauf zurückgeführt werden, dass die verschiedenen Wohlfahrtsfonds unterschiedlich finanziert werden, ihre Leistungen unterschiedlich gestaltet sind, manche schon seit den 80er Jahren bestehen und andere erst vor kurzem etabliert wurden. (Varinder 2010:33ff) Die unterschiedlichen Leistungen und Beiträge wirken sich natürlich auf die Attraktivität der Fonds aus. Neben dem Wohlfahrtsfonds für landwirtschaftliche Arbeiter_innen mit über zwei Millionen Versicherten ist der Wohlfahrtsfonds für Schneider_innen mit 553.612 Mitgliedern der zweitgrößte, über 80 Prozent in diesem Fonds sind Frauen (Kerala State Planning Board 2010:327).

5.3.1 Leistungen Die Wohlfahrtsfonds bieten gewisse soziale Sicherheit, Versicherungs- und Unterstützungsleistungen für Arbeiter_innen. Die wichtigsten Maßnahmen aus diesen Wohlfahrtsfonds sind:

• Eine Pension für Arbeiter_innen im Alter, bei Invalidität, oder eine Familienpension nach dem Tod der versicherten Person • Unverbindliche Unterstützung an Arbeiter_innen mit langwierigen Krankheiten, permanenter Behinderung, Unterstützung für Beerdigungen und ähnliche Anlässe • Rückerstattung für medizinische Kosten, sowohl für stationäre als auch für ambulante Ausgaben von Arbeiter_innen und ihren Angehörigen • Hochzeitsunterstützung für die Heirat von Töchtern • Bildungsbeihilfen für Kinder von Mitgliedern sowie Stipendien, Bargeldzahlungen, und Pauschalzahlungen

96 • Langzeitkredite für den Hausbau oder Kredite mit niedrigen Zinsen • Kindergeld • Begräbniskosten (Kerala State Planning Board 2010:328)

In den meisten Wohlfahrtsfonds gibt es Zahlungen für den Fall permanenter Behinderung und Arbeitsunfähigkeit aufgrund von Arbeitsunfällen. Nur bei wenigen ist es eine monatliche Behindertenpension, bei den Meisten sind es Pauschalzahlungen, deren Höhe vom Grad der Behinderung abhängt. (Kannan 2002:30) Bildungszuschüsse sind in fast allen Wohlfahrtsfonds vorgesehen, dies erklärt sich auch aus dem hohen Stellenwert, der Bildung in Kerala zugeschrieben wird. Begräbniskosten sind bei fast allen solchen Fonds mit inbegriffen, diese Leistungen waren historisch gesehen auch bei Arbeiter_innenorganisationen in Europa sehr wichtig. Etwas mehr als die Hälfte der Fonds bieten Unterstützung für die Heirat der Kinder an, meistens für die Hochzeit von Töchtern12. Unterstützung für Arbeitslose wird von den wenigsten Fonds angeboten. Dieses Risiko scheint auf der sozialen Sicherungsagenda des Staates eine untergeordnete Rolle zu spielen. Eine Ausnahme ist der Fonds für Fischer_innen. Diese Unterstützung zielt vor allem auf saisonal bedingte Arbeitslosigkeit ab, da es drei Monate im Jahr ein Fangverbot während der Laichzeit gibt. (Ebd. 2002:31f) Auch bieten nur wenige Fonds eine Möglichkeit Vorsorgefonds anzulegen. Dies ist vor allem in Fonds vorgesehen wie die für Toddy Tappers, Mechaniker_innen und Angestellten aus dem Alkoholgeschäft. In diesen Berufssparten gibt es so gut wie keinen Frauenanteil. (Ebd. 2002:29) Zuschüsse für den Bau von Eigenheimen werden nur in den seltensten Fällen gewährt. Bei Zahlungen für Gesundheitsausgaben gibt es kaum ein geregeltes System. Die meisten Fonds zahlen Gesundheitsausgaben, es gibt aber in den seltensten Fällen einen geregelten Anspruch darauf. Auch hier ist der Fonds der Fischer_innen eine Ausnahme, wo es ein Gruppenversicherungssystem gibt. (Ebd. 2002:31f)

5.3.2 Finanzierung Die administrative Verwaltung wird behördlich organisiert. Finanziert werden die Wohlfahrtsfonds durch Beiträge der Mitglieder, mit Ausnahme einiger Fonds bei denen es

12 Traditionellerweise müssen die Eltern der Braut die Feier ausrichten was eine starke finanzielle Belastung für die Familie darstellt.

97 freiwillige Beiträge gibt. Einige Fonds werden von der Regierung kofinanziert. Dies geschieht dann, wenn die Regierung die Arbeitgeberin ist oder wenn die Beitragsfähigkeit von Arbeiter_innen sehr niedrig ist (ebd. 2002:20). Die Beiträge variieren stark zwischen den verschiedenen Berufsgruppen, sowohl was Arbeitnehmer_innenbeiträge angeht als auch die Beiträge von Arbeitgeber_innen und der Regierung. Die Höhe der Beiträge und der jeweilige Anteil der Interessensgruppen daran ist vorwiegend Verhandlungssache und hängt kaum mit der tatsächlichen Zahlungsfähigkeit der Arbeiter_innen zusammen. (Ebd. 2002:23) Im Fall des größten Versicherungsträgers, dem Wohlfahrtsfonds für die Beschäftigten in der Landwirtschaft, zahlt die Regierung nichts. Die Beträge werden so finanziert, dass die Landbesitzer_innen zehn Rupien pro Hektar Land bezahlen und die Arbeiter_innen zwei Rupien im Monat (ebd. 2002:18). Zum Wohlfahrtsfonds für Fischer_innen steuert die Regierung Beiträge für Pensionen und Gruppenversicherungen bei. Die restlichen Beiträge sind so aufgeteilt, dass Bootsbesitzer_innen zwischen ein und sieben Rupien für neun Monate im Jahr zahlen, die Netzbesitzer_innen eine Abgabe von einer Rupie im Monat leisten und Landwirtschaftsbesitzer_innen zwei Prozent des Wertes der gefangenen Fische in den Fonds zahlen. Des Weiteren zahlen Arbeitnehmer_innen 3 Prozent des Lohns oder des Wertes der gefangenen Fische und 30 Rupien Jahresbeitrag (John 2011:74). Im Falle von Näher_innen sind es zehn Prozent der Arbeitnehmer_innenbeiträge, die die Regierung zuschießt, Arbeitgeber_innen geben fünf Rupien im Monat ab, und Arbeitnehmer_innen zehn Rupien, selbständige Näher_innen leisten 15 Rupien im Monat (Kannan 2002:19). Die Bereitwilligkeit der Arbeitgeber_innen Beiträge zu leisten , hängt oft von wirtschaftlichen Bedingungen ab, zum Beispiel ob sie die Kosten auf Konsument_innen abwälzen können oder nicht (Kannan 2002:24). Aber natürlich spielt auch politischer Druck eine Rolle. Arbeitgeber_innen tragen kaum aus Altruismus zu einer Versicherung der Arbeiter_innen bei. Die Verpflichtungen werden eher akzeptiert, wenn sie keine andere Wahl haben. Seit den siebziger Jahren gab es viele Klagen vor Zivilgerichten um die Arbeitgeber_innen dazu zu bringen Beiträge zu bezahlen. Außerdem wurden gewerkschaftliche Kampfmaßnahmen eingesetzt, wie zum Beispiel ein zweiwöchiger Streik von Fischer_innen im Jahr 2000. (ebd. 2002:35)

98 5.3.3 Verwaltung Die Wohlfahrtsfonds werden meist von einer dreigeteilten Belegschaft verwaltet, die sich aus Vertreter_innen der Arbeiter_innenschaft, Arbeitgeber_innen, und staatlicher Repräsentant_innen zusammensetzt. Die Arbeitnehmer_innenvertretung setzt sich oft aus professionellen Gewerkschaftler_innen zusammen. Die Regierung wird meist durch Abgesandte vom Arbeits- oder Finanzministerium vertreten. Ironischerweise werden Beiträge der informellen Arbeiter_innen dazu verwendet, die Vertreter_innen und die Verwaltung der Fonds zu bezahlen, und damit Arbeitsplätze im formellen Sektor zu finanzieren. Hier findet also eine Art regressive Umverteilung statt. (Kannan 2002:22) Fonds haben die Auflage, nicht mehr als zehn Prozent der Ausgaben für Administration zu verwenden (John 2004:43). Allerdings werden nur elf Fonds diesen Vorgaben gerecht, weitere elf Fonds haben höhere Administrationskosten und für die restlichen sechs liegen keine entsprechenden Zahlen vor. Der Anteil der Verwaltungskosten an den gesamten Einnahmen variiert stark. Bei manchen Fonds liegt er bei unter 2 Prozent, bei anderen bei über 60 oder 70 Prozent. Zusammengenommen lässt sich jedoch feststellen, dass die Verwaltungsausgaben höher sind als die Leistungen für die Versicherungsteilnehmer_innen. Dies liegt vor allem an der ineffektiven Verwaltung und den hohen Etablierungskosten der Fonds. (Kannan 2002:223ff)

5.3.4 Kritik am Wohlfahrtsfondsmodell Das „Kerala Welfare Fund Modell“ hat sich seit über vier Jahrzehnten entwickelt und hat eine Vorreiterrolle in Indien gespielt, um soziale Sicherungsmechanismen für soziale benachteiligte Schichten zu Verfügung zu stellen (Kerala State Planning Board 2009:333). Es muss im Kontext von Grundversorgungsmodellen gesehen werden, also einer minimalen Absicherung im Sinne von „Basic Social Security“ (John 2004:31). Das Wohlfahrtsfondsmodell ist aber kein Modell im Sinne von "Contingent Social Security". Das bedeutet, dass die Leistungen eine unterstützende und minimal absichernde Wirkung haben, aber nicht als Versicherung im europäischen Sinn verstanden werden können, die vorwiegend dazu da sind einen bestimmten Lebensstandard im Fall von Krisen zu erhalten. Die Abdeckung der Arbeiter_innen ist beachtenswert im Vergleich zu den anderen Bundesstaaten Indiens, aber lange nicht komplett. Die sechs Millionen Menschen, die über die verschiedenen Wohlfahrtsfonds eine gewisse Absicherung haben, sind weniger als 20 Prozent der Gesamtbevölkerung Keralas (Kannan 2002:33). Insgesamt jedoch mehr als die Hälfte der

99 arbeitstätigen Bevölkerung, die 8,3 Millionen Menschen ausmacht (Kerala State Planning Board 2009:447). Trotz der zugeschriebenen Vorreiterrolle in Indien und seiner beachtlichen Ausdehnung hat das Kerala Wohlfahrtsfondsmodell einige Schwächen und bietet auch Anlass zur Kritik. Obwohl ein Großteil der keralesischen Arbeiter_innenschaft vom Wohlfahrtsfondsmodell erfasst wird, sind doch die Leistungen der Fonds sehr unterschiedlich und es gibt große Lücken in essentiellen Bereichen. Eine empirische Studie zeigt, dass teilweise nur sehr wenig (6,5 Prozent) informelle Arbeiter_innen eine Krankenversicherungen haben; 14,5 Prozent haben eine Unfall oder Lebensversicherung, und die große Mehrheit von 79 Prozent haben gar keine Versicherung. Die Leistungen aus den Wohlfahrtsfonds werden von vielen ihrer Mitglieder als zu gering eingeschätzt. (John 2010:59) Die Leistungen aus den Wohlfahrtsfonds können höchstens als unterstützend gesehen werden, aber nicht als sehr weitreichend im Sinne einer „De-Dommodifizierung“ (Esping-Andersen 1998:36f). Die Pensionen aus den meisten Wohlfahrtsfonds können gerade das Überleben sichern, gemessen am minimalen Kalorienbedarf und subventionierten Preisen (Sato 2004:300). Die Pensionsleistungen der meisten Fonds sind unterschiedlich hoch. Ein Fischer , den ich interviewt habe, sagte mir zum Beispiel, dass er eine Pension von 300 Rupien bekomme (Interview K2), das ist weniger als ein Drittel des Betrags, der in Kerala geltenden Armutsgrenze von rund 1000 Rupien im Monat (Planning Commission 2013a:5). Solche Pensionen sind natürlich sehr gering, wenn sie das Leben von Pensionist_innen komplett finanzieren sollen, können aber ein entscheidender Beitrag zum Familieneinkommen sein. Menschen, die nicht in einem familiären Umfeld sind, das für sie sorgt oder Zugang zu anderen formellen und/oder informellen Mechanismen der Alterssicherung haben, können von so geringen Pensionen kaum leben. Außerdem ist das Wohlfahrtsfondsmodell weit von einem universellen Modell entfernt. Die Wohlfahrtsfonds bestehen auf der Basis von Berufsgruppen. Dies bedeutet die Ausschließung aus diesem Modell für einige Berufsgruppen oder Menschen, die zum Beispiel unbezahlter Hausarbeit nachgehen, dies betrifft besonders Frauen. Je nach politischem Gewicht und Verhandlungsgeschick sehen auch die Beiträge und Leistungen für die jeweiligen Mitglieder unterschiedlich aus. Der Zugang zu den Berufsgruppen wird stark von den Gewerkschaften kontrolliert um den Arbeitsmarkt zu schützen und es entsteht somit eine Problematik von Inklusion und Exklusion (John 2004:30). Ein weiteres beachtenswertes Merkmal, das ich hier aufzeigen möchte, ist die ungleiche Verteilung von Ressourcen in Kerala. Der Gini-

100 Koeffizient für ländliche Bereiche ist in Kerala am höchsten im Vergleich zu allen anderen Bundesstaaten, im städtischen Bereich liegt er im indischen Mittelwert (Nayak et al. 2010:113). Durch die Trennung der Wohlfahrtsfonds nach Professionen werden gesellschaftliche Trennlinien weiter am Leben erhalten. Auch durch die Bildung von Gewerkschaften wurden die traditionelle Beziehung von Kaste und Profession nicht aufgelöst (Kannan 2002:7). Dadurch, dass also Wohlfahrtspolitik verschiedene Berufsgruppen unterschiedlich behandelt, verhindert sie eine Solidarität unter diesen und perpetuiert ein System sozialer Segregation. Hierin zeigt sich die stratifizierende Wirkung dieses Modells. Es wäre interessant die Hintergründe dieses Phänomens zu beleuchten, dafür ist aber in diesem Rahmen kein Platz. Die Trennung verschiedener Berufsklassen durch unterschiedliche Privilegien war ja zum Beispiel schon in den frühesten Entwicklungen von Wohlfahrtsstaaten, beispielsweise im konservativ-korporatistischen Modell in Österreich und Deutschland, Teil einer Strategie um offene Konflikte und ungewollte Klassenkoalitionen zu verhindern (Townsend 2007:24). Ein weiterer kritischer Aspekt ,den ich hier nennen möchte ist Geschlechtergerechtigkeit in diesem Modell. Dadurch, dass nicht ein gemeinsames Modell für alle Arbeiter_innen existiert, sondern nach Berufssparten getrennte Modelle existieren, werden geschlechtsspezifische Ungleichheiten verstärkt und zementiert: Wohlfahrtsfonds für Berufsgruppen in denen Frauen dominant sind wie etwa bei Näher_innen oder Cashew Arbeiter_innen, bieten schlechtere Leistungen als lange etablierte und stark männlich dominierte Wohlfahrtsfonds wie die für Toddy Tappers oder Auto-Rikshafahrer_innen (Kannan 2002:41). Trotz aller Kritik hat sich die Lage der Arbeiter_innen heute im Vergleich zu der Lage vor 20 oder 30 Jahren deutlich verbessert. Auch im Vergleich zu anderen Bundesstaaten ist die soziale Situation in Kerala positiver. Der Grundstein für die Entwicklung eines solchen für Indien untypischen und weitreichenden Systems sozialer Absicherung im informellen Sektor wurde von einer starken Arbeiter_innenbewegung gelegt (ebd. 2002:33ff).

5.3.5 Erklärungsversuch für den gesonderten Entwicklungsweg in Kerala Erklärungen für die gesonderte Entwicklung Keralas geben sowohl die Klassenmobilisierungsthese als auch die Theorie der Pfadabhängigkeit. Gewerkschaften haben sich sehr früh und über einen langen Zeitraum hinweg in Kerala entwickelt. Dies wurde durch einige geschichtliche Faktoren begünstigt. Es kam in Kerala zu einer frühen

101 Kommerzialisierung der Landwirtschaft, was eine Transformation der Klassenstruktur mit sich führte. Diese begünstigte die Herausbildung sozialer Kräfte, denen Demokratisierung und sozialstaatliche Intervention ein Anliegen war. Bei der ersten demokratischen Wahl nach der Unabhängigkeit wurde 1957 die „Communist Indian Party (Marxist)“ (CIPM) in Kerala als erste linke Partei in eine indische Bundesstaatsregierung gewählt (Sato 2004:290). Ronald J. Herring bezeichnet diese Regierung in Kerala sogar als die weltweit erste, demokratisch gewählte, kommunistische Regierung (2003:69). Diese Partei konnte die Kräfte in einer breiten Koalition niedriger Kasten bündeln. Die Grundlagen dieses Bündnisses waren die Opposition gegen Großgrundbesitzer_innen, Nationalismus, und angestrebte Kastenreformen. (Harris 2003; Sandbrook 2007; Sato 2004) John Harris (2003) sieht in dieser Entwicklung und in weiterer Folge mit dem Brechen der Vormachtstellung der Kongresspartei einen entscheidenden Faktor für die weitere Entwicklung Keralas. Neben Kerala haben auch Tamil Nadu und West Bengalen ähnliche Entwicklungen durchgemacht. Harris fasst diese Staaten in seiner vergleichenden Analyse von Entwicklungspfaden in Indien zu einem einheitlichen Regimetyp zusammen. Besonders in Kerala bildete sich zugleich eine aktive Zivilgesellschaft heraus, die verhinderte, dass die kommunistische Partei ein geschlossenes Gebilde wurde oder nur klientelistische Interessen vertrat. Ein weiterer begünstigender Faktor war die Einbettung in ein demokratisches System, das sowohl die Forderungen der Kommunisten zügelte und andererseits repressive Gegenwehr durch die alte Herrschaft verhinderte. (Sandbrook et al. 2007:67, Harris 2003:215ff) Diese ideologisch stringente aber doch demokratisch gemäßigte Bewegung hatte einen starken Einfluss auf die weitere Entwicklung Keralas. Sie schaffte es, sowohl die besitzende Klasse aus den politischen Entscheidungsprozessen fern zu halten, als auch diese Klasse auf pragmatische Weise mit einzubeziehen (Harris 2003:226). Die Stärke einer linksgerichteten, ideologischen, und streng organisierten Partei wirkte sich positiv auf Landreformen, die Unterstützung für Kleinbäuerinnen und -bauern sowie von Arbeiter_innen aus, da solche Bewegungen wenig anfällig sind, sich durch die Interessen der besitzenden Klassen beeinflussen zu lassen (ebd. 2003:204). Der Prozess der Arbeiter_innenmobilisierung in Kerala begann schon in den frühen 30er Jahren. Es kam zu Klassenkoalitionen, in denen auch die ärmsten Bevölkerungsschichten eingebunden waren, und gleichzeitig zur Regierungsbeteiligung einer Partei, die stark in dieser Bewegung verankert war. (Herring 2003:69) In den späten 50ern und 60ern wurde in Landreformen das Verpachten von Land verboten und verringerte so die Macht, die

102 Landbesitzer_innen über landlose Arbeiter_innen hatten (ebd. 2003:68). Diese radikale Landreform wird als einer der wichtigsten Ereignisse in der weiteren Entwicklung Keralas angesehen. Großgrundbesitz wurde verboten und der Besitz von Land auf ein bestimmtes Maximum reduziert. Somit kam es zur Verteilung von Land an ehemals Landlose und zur Einführung von Hauswirtschaften, einem kommunistisch geprägten Modell von kleinen Landwirtschaften (Sato 2004:291, Sandbrook 2007:69). Der erste Wohlfahrtsfonds wurde 1969 gegründet (John 2004:29). Als Phase besonders starker Verbreitung der Gewerkschaften und hoher Arbeiter_innenmobilisierung gilt der Zeitraum zwischen den späten 60ern bis Mitte der 80er Jahre. Eine Reihe staatlicher Interventionen unterstützte die Herausbildung gut etablierter Gewerkschaften, zum Beispiel wurde die Polizei aus Kampfmaßnahmen der Arbeiter_innen herausgehalten, es wurden Mindestlöhne eingeführt und es gab politische Unterstützung für die Arbeiter_innenbewegung. Dies brachte positive Auswirkungen in den folgenden Bereichen mit sich. Erstens eine Angleichung der Arbeitsbedingungen an den organisierten Sektor, dies beinhaltete zum Beispiel die Regulierung der Arbeitszeit auf acht Stunden am Tag. Zweitens eine Anhebung der Löhne, drittens politische Unterstützung für den Fall, dass Arbeitsplätze durch Abwanderung oder Schließung von Betrieben bedroht waren, und viertens die Einführung von Wohlfahrtsmaßnahmen für Arbeiter_innen, so wie etwa Pensionen für ländliche Arbeiter_innen und die Ausbildung von Wohlfahrtsfonds zur wirtschaftlichen Absicherung. (Kannan 1998:10f) Zusammenfassend lässt sich über die Entwicklung in Kerala sagen, dass die Regierungsbeteiligung der kommunistischen Partei 1957 als kritischer Wendepunkt für den weiteren Entwicklungspfad des Bundesstaates gesehen werden kann (Sandbrook et al. 2007:74). In dieser Phase wurden wegweisende politische Veränderungen vorgenommen, die den weiteren Verlauf der Entwicklung Keralas stark beeinflussten. Linke und konservative Regierungen wechselten sich im Laufe der Zeit häufig ab. Die Situation blieb aber stabil und es gab einen starken Wettbewerb, bei dem fortlaufend Wohlfahrtsmaßnahmen eingeführt wurden. Es wurden zahlreiche sozialpolitische Maßnahmen eingeführt, die einmal etabliert, nur gegen massiven Widerstand wieder abgeschafft werden können. (Ebd. 2007:68) Auch lange nach den starken Zeiten linker Parteien in Kerala, und trotz konservativer Kräfte in der Regierung, wird der beschrittene Weg weiter fortgesetzt. Ein Schluss, der aus der gezeigten Entwicklung Keralas gezogen werden kann, ist dass Forderungen der Gesellschaft eine entscheidende Komponente in der Einführung

103 sozialpolitischer Maßnahmen spielen. Ein ausschlaggebender Aspekt in der Entwicklung Keralas ist politischer Druck durch organisiertes Handeln. In allen Bereichen der Sozialpolitik, in denen sich Kerala als Erfolgsmodell zeigt, wurde dies auf Grund politischer Beteiligung und durch die Mobilisierung der Zivilgesellschaft erreicht (Sandbrook et al. 2007:73). Hier spielt die CIPM eine entscheidende Rolle, aber weniger als regierende Partei, denn als „social movement party“ (ebd. 2007:81). Alle erfolgreichen Maßnahmen der Bereitstellung essentieller Leistungen wie Bildungs- und Gesundheitsleistungen und Wohlfahrtsmechanismen wurden erstens erst auf Grund von politischer Mobilisierung auf breiter Basis eingeführt, und sind zweitens durch dieses gemeinschaftliche Interesse auch einer gewissen Kontrolle unterworfen und deshalb effektiver und wenig korruptionsanfällig. (Ebd. 2007:73) Ein weiterer Punkt, der die Entwicklung Keralas sicherlich geprägt hat, sind gute Voraussetzungen im Bereich Bildung. Schon vor der Unabhängigkeit gab es gute Bildungseinrichtungen, nicht zuletzt mitgeprägt durch christliche Missionsschulen. (Sato 2004:290) Sehr früh kam es zu Reformen im Bildungsbereich. Die Lehrer_innengewerkschaft forderte bessere Arbeitsbedingungen und dass die Löhne auch in Privatschulen direkt vom Staat ausbezahlt werden sollten. Diese Forderungen führten zur „Kerala Education Bill“, eine der ersten Maßnahmen, die durch gewerkschaftliche Mobilisation in Kerala erreicht wurde. (Ebd. 2004:296) Bildung ermöglichte Zugang zu Information, die notwendig ist um sich mit einem politischen System auseinanderzusetzen. Der erfolgreiche politische Prozess in Kerala hängt stark mit dem Informationsgrad der Wählerschichten und deren politischem Engagement zusammen. Ein großes Interesse an der Politik und die Einbindung der Zivilgesellschaft als Kontrollinstrument, verringert die Möglichkeit von Korruption in staatlichen Institutionen. (Herring 2003:69) Bildung wird als allgemein günstig für die Entwicklung angesehen. Zum Beispiel ermöglichte die gute Bildung der jungen erwerbstätigen Bevölkerung in Kerala die Migration in die Golfstaaten. Gut ausgebildete Arbeitskräfte sind der wichtigste Export Keralas (Heller 1999:239). Die Rücküberweisungen von Migrant_innen tragen zu einen großen Teil zum Wohlstand Keralas bei. Sie machen fast 20 Prozent des Netto-Inlandsprodukts aus (Kerala State Planning Board 2009:447). Neben der Entwicklung von Wohfahrtsfonds und Bildung als entwicklungsbegünstigender Faktor ist die Etablierung eines gut funktionierenden Gesundheitssystems entscheidend für den Werdegang Keralas. Besonders im Bereich der Gesundheit ist Kerala im Vergleich zu anderen Bundesstaaten extrem gut entwickelt, wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt wurde.

104 Dies wurde maßgeblich durch einen aktiven öffentlichen Sektor mitgeprägt, der niedrige Kosten für Gesundheitsversorgung und einen universellen Zugang, besonders für arme Bevölkerungsschichten ermöglicht hat. (Kerala State Planning Board 2009:287) Die Ausgaben für den Gesundheitsbereich sind in Kerala mit über vier Prozent der BIPs höher als im indischen Vergleich, der Anteil der Regierungsausgaben zeigt sich mit unter einem Prozent vergleichsweise niedrig. Der Anteil privater Anbieter_innen medizinischer Versorgung beträgt zwei Drittel, ein Drittel der Gesundheitsinstitutionen ist in öffentlicher Hand. (Sato 2004:300) Neben den 144 öffentlichen Spitälern, die sich in den Städten und Bezirkszentren befinden, und vor allem im Bereich der tertiären und sekundären Versorgung ausschlaggebend sind, gibt es auf lokaler Ebene ein gut ausgebautes System primärer Gesundheitsversorgung von „Primary Health Centres“ (PHC) und „Community Health Centres“ (CHC). (Kerala State Planning Board 2009:289ff) Das System der lokalen Versorgung durch diese Zentren hat sich in Kerala zu einem wichtigen Bestandteil lokaler medizinischer Versorgung entwickelt. Trotz dieser wichtigen Rolle des öffentlichen Sektors bleibt der private Sektor der größte Anbieter medizinischer Versorgung, neben dem öffentlichen Sektor ist auch der private medizinische Sektor in Kerala sehr gut ausgebaut im Vergleich zu anderen Staaten Indiens. Dies lässt sich auf die hohe Bedeutung zurückführen, die medizinischer Versorgung in Kerala hat. (Sato 2004:295). Das Verhältnis zwischen Schulmedizin und traditionellen Methoden ist etwa ausgewogen, etwa die Hälfte aller Institutionen (46 Prozent) im privaten Bereich sind schulmedizinisch orientiert, ein Drittel (32,2 Prozent) sind Ayurveda Einrichtungen und ein Fünftel (22 Prozent) sind Einrichtungen, die auf Homöopathie spezialisiert sind. (Kerala State Planning Board 2012:109)

5.4 Vergleich der Wohlfahrtsmodelle

Die Lebensbedingungen der Menschen in den beiden Bundesstaaten Kerala und Uttar Pradesh unterscheiden sich sehr stark voneinander, wie in diesem Kapitel ausgeführt wurde. Ein Aspekt der Einfluss auf diese Entwicklung hat ist die Sozialpolitik, die von den beiden Staaten in unterschiedlicher Ausprägung verfolgt wird. In Uttar Pradesh sind die Maßnahmen formeller sozialer Absicherung nur wenig stark ausgeprägt. Die meisten Programme, die auf dieser Ebene eine Rolle spielen, sind von zentralstaatlicher Seite etabliert und großteils auch finanziert worden. Es gibt zwar eine Reihe verschiedener Absicherungs- und

105 Unterstützungsmaßnahmen, diese haben aber in den meisten Fällen wenig Auswirkung auf den Wohlstand der betroffenen Haushalte oder sind nur wenig weit verbreitet. Ein Aspekt, in dem sich Uttar Pradesh wesentlich von Kerala unterscheidet ist, dass zwar auch hier die politische Hegemonie der hohen Kasten gebrochen wurde, aber das geschah zu einem viel späteren geschichtlichen Zeitpunkt. Außerdem konnte sich nach der politischen Ära der Kongresspartei keine andere politische Richtung durchsetzen und es gibt einen instabilen Wettbewerb von rechten Parteien bis zu Parteien der unteren Kasten. Diese schaffen es aber nicht, essentielle Reformen der gesellschaftlichen Machtverhältnisse durchzuführen, wie es in Kerala etwa im Rahmen der Landreformen der 70er Jahre geschehen ist.

Kerala hingegen ist im Vergleich zu Uttar Pradesh und auch im Vergleich zu ganz Indien ein Bundesstaat in dem Sozialpolitik sehr aktiv betrieben wird. In der Analyse des „Kerala Wohfahrtsfondsmodells“ zeigt aber auch dieses einige problematische Punkte. Zwar sind im Schnitt die Hälfte der Arbeiter_innen in den jeweiligen Fonds Mitglieder, allerdings variiert die Abdeckungsrate stark zwischen den verschiedene Berufsgruppen. Außerdem werden durch dieses System einige Berufsgruppen nicht abgedeckt. Die Leistungen zu denen die Mitglieder der Wohfahrtsfonds Zugang haben sind oft nur wenig weitreichend in ihrem Umfang und können in vielen Fällen gerade einmal als minimale Absicherung des Überlebens gesehen werden. Die Leistungen der Fonds sind aber sehr unterschiedlich, da es im Keralamodell keinen übergreifenden Verhandlungsmechanismus gibt (Sandbrook 2007:76). Trotz aller Kritik ist das Modell, das in Kerala angewendet wird, sehr gut etabliert im Vergleich zu anderen Bundesstaaten. Außerdem gibt es in Kerala andere Faktoren, die die soziale Entwicklung stark beeinflusst haben. Hier ist die starke gewerkschaftliche Organisation und die damit gestärkte Position der Arbeiter_innen zu nennen, die in weiterer Folge zu höheren Mindestlöhnen geführt hat. Außerdem wurden sehr früh Bildungsreformen eingeführt, die weitere positive Entwicklungen nach sich gezogen haben, zum Beispiel ist der hohe Bildungsstand eine Voraussetzung für das gut etablierte Gesundheitssystem in Kerala, außerdem ist Bildung wichtig für die Migration von Arbeitskräften in die Golfstaaten. Diese trägt durch die Rücküberweisungen erheblich zum Wohlstand Keralas bei. Eine der wichtigsten Lektionen aus der Entwicklung Keralas ist, dass politische Mobilisierung und ein starker politischer Wille Reformen umzusetzen, auch gegen die Interessen von lange etablierten Eliten, essentiell ist um die Lebensbedingungen einer breiten Bevölkerung zu verbessern, und eher zur Reduktion von Armut führt als rein auf Wachstum basierende Entwicklungskonzepte.

106 6. Conclusio

Die Dringlichkeit der Etablierung von Sozial- und Wohlfahrtspolitik ergibt sich daraus, dass erstens die wachstumsorientierten Konzepte der Vergangenheit nur wenig dazu beigetragen haben, Armut und Ungleichheit in Indien zu reduzieren, und zweitens, dass soziale Sicherheit ein Recht ist, das die indische Regierung sowohl mit der Ratifizierung internationaler Rechte anerkannt hat, als auch in den Verfassungsprinzipien Indiens festgeschrieben ist.

Die sozialen Sicherungsmechanismen in Indien die von nationalstaatlicher Seite etabliert sind, sind hauptsächlich für den formellen Sektor geschaffen. Die Mechanismen, die auch für unorganisierte Arbeiter_innen zugänglich sind, sind oft Programme zu denen nur Menschen Zugang haben, die einen Nachweis über ihren Armutsstatus haben. Diese Form des Targetings ist aber in vielen Punkten problematisch, da erstens die Bemessungsgrundlage, also die Armutslinie, die am durchschnittlichen Konsum von Individuen gemessen wird, sehr niedrig angesetzt ist und. zweitens sollten die ausschließenden Kriterien die in der Vorauswahl angewendet werden, kritisch betrachtet werden. Zum Beispiel gehört zu diesen auch der Besitz langlebiger Gebrauchsgegenstände. Alleine der Besitz solcher Güter schließt aber nicht aus, dass Menschen in Armut und Unsicherheit leben.

Die momentane Armutsgrenze, die von der Planungskommission festlegt wird, ist weniger als halb so hoch wie die internationale Armutsgrenze für Extreme Armut der Weltbank. Fast zwei Drittel der Inder_innen leben unter der Weltbank Armutsgrenze von zwei Dollar pro Tag, und können als vulnerabel im Sinne von armutsgefährdet bezeichnet werden (Srivastava 2013:11). All diese Menschen, für die soziale Sicherungsmechanismen eine essentieller Schutz sein könnten, um nicht zu verarmen oder ihre ökonomische Situation langfristig zu verbessern, sind von der Vielzahl an auf BPL-Bevölkerung zielgerichteten Programmen ausgeschlossen.

Neben diesen Mechanismen gibt es verschiedene Maßnahmen, die auf bestimmte Berufsgruppen beschränkt sind. So gibt es auf nationaler Ebene fünf Wohlfahrtsfonds für verschiedene Berufsgruppen, die gesetzlich verankert sind und die klassischerweise dem unorganisierten Sektor zugeschrieben werden, wie beispielsweise Beedi-Arbeiter_innen. Diese fünf Fonds sind die einzigen, die eine gesetzliche Verankerung haben. Betrachtet man die Anzahl der im informellen Sektor tätige Menschen, so haben diese Mechanismen jedoch

107 nur eine geringe Reichweite So hat sogar der größte dieser Fonds, der Fonds für Beedi- Arbeiter_innen nur vier Millionen Mitglieder, was gerade mal ein Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung darstellt. Darüber hinaus existieren diese Fonds nur für bestimmte Berufsgruppen. Für viele andere Berufe existieren diese und ähnliche Maßnahmen nicht.

Diese willkürlich anmutende Vergabe von Privilegien oder Rechten an bestimmte Berufsgruppen scheint nicht im Einklang mit Werten von Fairness oder Gleichbehandlung zu stehen, noch mit einem menschenrechtsbasierten Ansatz auf soziale Sicherung.

Neben den Wohlfahrtsmaßnahmen sind auch arbeitsrechtliche Bestimmungen relevant, wie Mindestlöhne oder Bestimmungen über die Arbeitsplatzsicherheit. Sie bilden potentiell ein wichtiges komplementäres Maßnahmenpaket zu den oben erwähnten Maßnahmen sozialer Absicherung. Diese gibt es zwar und sie betreffen auch Anstellungsverhältnisse im informellen Sektor, jedoch zeigt sich in der Praxis, dass solche gesetzlich festgelegten Rahmenbedingungen oft nicht eingehalten werden. Die Verstöße sind häufig und werden zu wenig geahndet, weil es an einer Kontrolle der Umsetzung solcher Vorgaben mangelt. Neben den staatlichen Programmen gibt es Versicherungen bei privatwirtschaftlich organisierten Versicherungsträger_innen. Individuelle Privatversicherungen sind oft für die Menschen im informellen Sektor nicht leistbar, da diese einen geringen Lohn bekommen und oft nur unregelmäßige Einkommen haben. Gruppenversicherungsmechanismen sind zwar leichter erschwinglich, da sie geringe Prämien von den Versicherten verlangen, die Ausbreitung solcher Programme auf eine breite Bevölkerungsschicht scheiterte in der Vergangenheit aber am geringen Bekanntheitsgrad und auch daran, dass die Leistungen dieser Programme nicht immer den Bedürfnissen unorganisierter Arbeiter_innen entsprechen. Es ist also sowohl das Wissen über die privaten Angebote als auch die Beitragsfähigkeit, die hier eine entscheidende Rolle spielen. Darüber hinaus ist die Einsicht notwendig, dass Versicherungen dabei helfen können katastrophale Out-of-Pocket Ausgaben zu vermeiden.

Eine der Prestigeinitiativen der indischen Regierung auf dem Gebiet der sozialen Sicherungsinitiativen ist das RSBY, eine Gruppen-Krankenversicherung für als arm identifizierete Haushalte. Sie hat in den letzten Jahren massiv an Mitgliedern gewonnen. Seit 2007 wurden 34 Millionen Versicherungskarten an Familien vergeben (Ministry of Labour & Employment 2013:3f) )Dies entspricht fast 15 Prozent der indischen Bevölkerung und bedeutet einen massiven Anstieg der krankenversicherten Menschen von fünf auf 15 Prozent

108 der indischen Bevölkerung im Zeitraum 2007 bis 2013 (IIPS 2007:435).

Trotz dieser zahlreichen Initiativen und Programme, ist jedoch die Schaffung eines flächendeckenden und umfassenden Systems sozialer Sicherung außer Reichweite für den Großteil der armen und informell beschäftigten Bevölkerung. Eine Analyse der internationalen Arbeitsorganisation fasst die Situation folgendermaßen zusammen:

An overview of the schemes both at the Central and State levels reveals that despite the multiplicity of schemes and programmes aiming at social protection of the under-privileged, the social security situation in India is characterised by lack of a consistent policy. They have been framed at various points in times at random responding to the expedience of the day and not conforming to any overall design. These schemes do not represent a uniform policy or plan. Various studies have pointed out a number of weaknesses in the existing social security programmes for unorganised workers in India. (ILO 2006:2)

Trotz der Vielzahl existierender Mechanismen von staatlicher und privatwirtschaftlicher Seite ist der wichtigste Faktor im Feld der sozialen Absicherung die Existenz informeller Sicherungsmechanismen. Diese Mechanismen und Beziehungen werden von den Individuen und Familien verschränkt eingesetzt, um ihre Absicherung der Lebensgrundlage zu sichern, auch formelle Mechanismen werden in diesen Mix sozialer Absicherung integriert. Die informellen Formen sozialer Absicherung manifestieren sich in einer großen Bandbreite an Strategien und Beziehungen. Zu diesen Beziehungen gehören beispielsweise Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen, Beziehungen gegenseitiger Solidarität, die auf Lokalität oder Okkupation basieren oder Patronagebeziehungen. Zu den Strategien gehören zum Beispiel die Verbesserung und breitere Streuung des Familieneinkommens durch Bildung und Migration, Sparen oder Kredite und die gegenseitige Unterstützung in schweren Phasen. Die zentrale Institution in diesem Feld ist die Familie. Sie hat einen sehr hohen Stellenwert in Indien - viel stärker als in westlichen, (post)industrialisierten Nationen. Wenn die Belastungen die Tragfähigkeit der familiären Unterstützung übersteigt wird auf ein weit verzweigtes Netz sozialer Beziehungen, wie zum Beispiel die weiter entfernte Verwandtschaft zurückgegriffen. Wenn solche Solidaritätsmechanismen nicht vorhanden sind oder an ihre Grenzen stoßen, müssen andere Mittel ergriffen werden um akute Situationen zu überwinden. Zu diesen gehört zum Beispiel das Aufnehmen von Krediten oder eines Vorschusses von Arbeitgeber_innen oder die Unterstützung durch Patron_innen. In solchen Fällen, in denen die eigenen Kapazitäten überschritten werden, werden auch Strategien angewendet, die als entwicklungshemmend angesehen werden können, wie das Abziehen der Kinder aus der Schule damit diese arbeiten können, das Aufnehmen von Schulden, die nicht bezahlt werden

109 können oder im Extremfall, die SchuldknechtschaftSolche Beispiele machen klar, dass informelle soziale Sicherungsmechanismen, die zwar den Hauptanteil an den Überlebensstrategien von Menschen im informellen Sektor ausmachen und extrem vielseitig und flexibel sein können, nicht romantisiert werden dürfen. Keinesfalls dürfen sie als Ausflucht für Staaten dienen um die Implementierung von sozialen Sicherungsmaßnahmen zu umgehen. Mechanismen sozialer Absicherung können entscheidend zur Stärkung bestehender Solidaritätsnetzwerke beitragen und verhindern, dass Menschen in eine Situation kommen, in der sie auf gewisse kurzfristige Strategien der Krisenüberwindung zurückgreifen müssen, die langfristig negative Konsequenzen für sie haben können.

Aus der Sicht eines rechtsbasierten Ansatzes haben Staaten die Verpflichtung ihren Bürger_innen den Zugang zu sozialer Sicherheit zu ermöglichen. Auch die indische Verfassung hält in ihren richtungsweisenden Prinzipien fest, dass der Staat dafür Sorge tragen soll, dass allen ein Zugang zu einer adäquaten Lebensgrundlage garantiert wird. Dieser Aufgabe wird der indische Staat in seiner Sozialpolitik aber kaum gerecht. Durch die Liberalisierungspolitik seit den 90ern wurde sozialstaatliches Engagement teilweise reduziert. Liberalisierung, Globalisierung und Privatisierung tragen nach Ansicht des Kerala State Planning Board dazu bei, dass sozialpolitische Maßnahmen vernachlässigt werden und die Prinzipien der Verfassung somit verletzt werden.

The Directive Principles of State Policy in the Indian Constitution, among other things, expressly entrust the State ‘to make provision for securing the right to work, to education and to public assistance in case of unemployment, old age, sickness and disablement’ (Article 38), ‘just conditions of work and maternity benefit’ (Article 42), and, ‘social security, social insurance and unemployment relief’ (Article 83). However, after launching the package of New Economic Reforms consisting of Liberalisation, Privatisation and Globalisation (LPG), the has started relinquishing its constitutional obligations making a mockery of the Directive principles of State Policy. This is done under the pressure of Global as well as national Corporate Capitalism. (Kerala State Planning Board 2009:453)

Ein weiterer Kritikpunkt an den sozialen Sicherungsmaßnahmen der indischen Regierung ist, neben dem fehlenden politischen Willen Maßnahmen und Gesetzte zu etablieren, dass sich der Zugang zu den bestehenden gesetzlichen Maßnahmen schwierig gestaltet. Es ist eines der zentralen Probleme der meisten Mechanismen und Gesetze, dass viele Menschen nicht wissen, dass es diese überhaupt gibt oder wie sie Zugang zu diesen Leistungen bekommen. Ein weiteres Problem ist, dass die Entscheidungen der Behörden darüber, ob Menschen zu Programmen Zugang haben oder nicht, oft sehr willkürlich ausfallen und intransparent sind.. Einige NGOs versuchen durch die Bereitstellung von Informationen und eine kollektive

110 Mobilisierung von lokalen Gruppen Behörden dazu zu drängen, gesetzlich festgeschriebenen Leistungen auch tatsächlich zugänglich zu machen.

Wie oben erwähnt zielt der Großteil der Sicherungsmaßnahmen auf eine gewisse Zielgruppe ab. Dieses Targeting ist dahingehend problematisch, weil es eine große Anzahl von Exklusions- und Inklusionsfehlern mit sich bringt. Solche Exklusionsmechanismen könnten durch universell gestaltete Programme verhindert werden. Diese werden aber aus einer neoliberalen Perspektive großteils abgelehnt. Zwei Beispiele für die Auswirkung einer neoliberalen Politik sind das PDS oder das Universal Health Insurance Scheme. Beide Programme wurden von universellen Programmen in zielgerichtete Programme umgewandelt. Das TPDS wurde in den 90ern umgewandelt, das UHIS wurde erst 2003 eingeführt und 2004 schon wieder seiner Universalität beraubt. Ein anders Beispiel das die Haltung der Regierung widerspiegelt, ist die Implementierung eines sehr verwässerten Gesetzes zur sozialen Absicherung unorganisierter Arbeiter_innen.

Dieses Gesetz wurde 2008 als „Unorganised Workers Social Security Act“ verabschiedet. Der Name des Gesetzes lässt vermuten, dass es ein Gesetz zur sozialen Absicherung unorganisierter Arbeiter_innen sei. Bei genauerer Betrachtung ist jedoch fraglich ob der

UWSSA diesem Anspurch auch gerecht wird. Im Jahr 2004 wurde die „National Commission for Enterprises in the Unorganised Sector“ (NCEUS) vom indischen Premierminister ins Leben gerufen. Diese Expert_innenkommission mit beratender Funktion formulierte 2006 einen Entwurf für ein nationales Gesetz zur sozialen Absicherung der Arbeiter_innen im informellen Sektor. Ihre Ergebnisse und Vorschläge wurden von einem parteienübergreifenden Ausschuss bestärkt. Die NCEUS hatten in ihrem Entwurf sehr konkrete Vorstellungen eines nationalen Amtes zur Durchführung und Kontrolle von sozialen Sicherungsmechanismen, und die Etablierung eines eigenen Fonds. Das schlussendlich beschlossene Gesetz, der UWSSA, vermeidet es jedoch in den meisten seiner Formulierungen konkret zu werden und verbindliche Maßnahmen zu setzen.

Nach den Vorschlägen der NCEUS sollten die Maßnahmen relativ universal für alle unorganiseirten Arbeiter_innen zugänglich sein.. Die Regierung übernahm jedoch nur sehr abgeschwächt die vorgelegten Maßnahmen. In der Gesetzesvorlage der NCEUS waren die Etablierung der nationalen und regionalen Behörden, die Einführung der Worker Facilitation Centers und die Registrierung unorganisierter Arbeiter_innen als verpflichtend vorgesehen. Darüber hinaus hat das Gesetz seinen ursprünglich geforderten universellen Charakter

111 verloren. Die Gesetze, die von der Regierung als Sicherungsmaßnahmen für Arbeiter_innen im unorganisierten Sektor aufgezählt werden, haben erstens schon davor bestanden und sind zweitens großteils für die BPL-Bevölkerung reserviert. Im UWSSA wird lediglich festgeschrieben, dass die Bundesstaaten von Zeit zu Zeit, wenn sie es für notwendig erachten, Maßnahmen setzen sollen, die zur sozialen Sicherheit unorganisierter Arbeiter_innen beitragen. Dies stellt aber eher ein Lippenbekenntnis dar, da die Bundesstaaten schon immer die Möglichkeit hatten solche Mechanismen zu schaffen.

Es gibt aber auch positive Aspekte des UWSSA, wie die Etablierung der Worker Facilitation Centers, die den Zugang zu den verschiedenen Maßnahmen entscheidend verbessern können, sowie die Registrierung der Arbeiter_innen. Die Reichweite des Gesetzes ist sehr ungewiss, da keine konkreten Maßnahmen gesetzt wurden und hängt davon ab, wie die jeweiligen Bundesstaaten die Mechanismen umsetzen.

Dadurch, dass die Umsetzung vieler Mechanismen den Bundesstaaten überlassen bleibt, werden die lokalen Unterschiede in der Wohlfahrtspolitik und die daraus resultierenden Lebensumständen der Menschen nicht angetastet. Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Bundesstaaten sind eklatant. Im vorhergegangenen Kapitel habe ich gezeigt wie stark Indikatoren sozialer Entwicklung in zwei Bundesstaaten Kerala und Uttar Pradesh auseinandergeklaffen. Die Unterschiede in der Lebenserwartung zwischen den Bundesstaaten Unterschiede liegen bei 14 Jahren In Uttar Pradesh ist die Müttersterblichkeit vier mal so hoch und die Sterblichkeitsrate der unter fünf jährigen sechs mal so hoch wie in Kerala. Im Kerala gibt es etwa 40 verschiedenen Wohlfahrtsfonds und etwa die Hälfte aller Arbeiter_innen sind Mitglieder in diesen. Die Kapazität dieser Wohlfahrtfonds sollte aber nicht überschätzt werden. Die Beitragsfähigkeit der Teilnehmer_innen und des Bundesstaates ist begrenzt, ebenso sind es die Leistungen die durch diese Wohfahrtfonds getätigt werden. Die Pensionen für Fischer_innen betragen beispielsweise etwa 250 Rupien, was gerade genug ist um den Kalorienbedarf einer Person zu subventinierten Preisen zu decken, aber nicht genug um ein würdiges Leben zu führen, wären da nicht eine Vielzahl an informellen Absicherungsmechanismen die von den Menschen genutzt werden. Neben den geringen Leistungen kann auch die Uneinheitlichkeit der verschiedenen Wohfahrtsfonds negativ gesehen werden. Jeder Wohlfahrtsfonds hat seinen eigenen Katalog an Leistungen und hebt eigene Beiträge ein. Außerdem werden nur manche von der Regierung ko-finanziert, was aber oft nicht von der Beitragfähigkeit abhängt sondern Verhandlungssache der

112 Arbeitnehmer_innenvertretung der verschiedenen Berufsgruppen ist. Durch das Fehlen eines einheitlichen Verhandlungsmechanismus und die Fragmentierung werden gesellschaftliche Trennlinien von Berufsgruppe, Geschlecht oder Kaste weiterhin erhalten. Trotz all der Kritik kann das Modell in Kerala jedoch als eine Erfolgsgeschichte in Indien angesehen werden.

Die Situation in Kerala wie sie sich heute darstellt ist natürlich nicht nur auf die Etablierung der Wohlfahrtsfonds zurückzuführen. Dies ist nur ein Teil einer geschichtlichen Entwicklung, die durch Pfadabhängigkeit und Klassenmobilisierung geprägt ist. In dieser war ganz entscheidend, dass zu einem frühen historischen Zeitpunkt mit der Hegemonie der hohen Kasten gebrochen wurde und es eine breite Mobilisierung der unteren und mittleren Kasten gab. Dies machte es möglich, dass in den ersten demokratischen Wahlen in Kerala die Communist Party of India (Marxist) die Regierung bildete. Dies wird als ein kritischer Wendepunkt der Geschichte Keralas gesehen, der einen neuen politischen Entwicklungspfad einleitete, der auch die sozialpolitische Entwicklung entscheidend prägte. Dies war keineswegs auf die Regierungsjahre der CPIM beschränkt. Auch die mitterechts-Regierungen der Kongresspartei konnten sich nicht dagegen verwehren, weitere sozialpolitische Maßnahmen zu implementieren. Es kam zu einem sich selbst verstärkenden Prozess, in dem sich die Verbesserung der sozialen Situation, die politische Mobilisierung und die gesellschaftliche Partizipation wechselseitig ermöglichten. Das Beispiel Keralas zeigt die Essentialtiät von Reformen im Bildungs- und Gesundheitsbereich. Diese haben weitreichende Effekte auf die Lebensqualität der Bevölkerung und ermöglichen so einen stabilen politischen Prozess der von Partizipation geprägt ist. Die ideologisch stringente Linie der CPIM ermöglichte es auf der einen Seite, die Klasse der Landbesitzer_innen aus politischen Entscheidungsprozessen fern zu halten. Ein essentieller Schritt in der Entwicklung Keralas war die Landreform der 70er Jahre. Auf der anderen Seite wurden die revolutionären Tendenzen der Kommunist_innen durch die Integration in ein demokratisches Indien und auch durch die eigene breite Basis gezügelt. In Uttar Pradesh sind die sozialen Sicherungsmechanismen für den informellen Sektor kaum vorhanden. Es gibt zwar einzelne Programme, diese sind jedoch meist für Menschen unter der Armutsgrenze reserviert und werden zum Großteil zentralstaatlich finanziert. Die politische Lage in Uttar Pradesh ist durch Instabilität gekennzeichnet. Hier war die Kongresspartei, in der Angehörige hoher Kasten stark vertreten waren, lange an der Macht. Erst Ende der 90er wurde diese gebrochen. Seitdem gibt es abwechselnd Regierungen, die um die Stimmen der

113 unteren Kasten werben. Diese wechseln aber zu rasch, um eine konsequente Umsetzung von sozialpolitischen Maßnahmen durchzuführen. Durch die Fragmentierung der politischen Landschaft ist es nicht möglich, lang etablierte soziale Machtverhältnisse aufzulösen. Im Diskurs auf nationaler Ebene zeigt sich zwar eine Tendenz zu inklusivem Wachstum und rechtsbasierten Programmen wie beispielsweise dem NREGA. Der Fall des UWSSA zeigt aber, dass der politische Wille nur begrenzt vorhanden ist und es eine starke Opposition gegen eine notwendige Reform des Sozialsystems und gegen universelle Maßnahmen für Arbeiter_innen im unorganisierten Sektor gibt. Es ist aber nicht nur die bereitstellende Rolle der Regierung, die in diesem Prozess eine Rolle spielt sondern ebenso sehr die fordernden Rolle der Öffentlichkeit. Das Beispiel Keralas hat gezeigt, dass politische Veränderungen nur durch eine breite politische Mobilisierung und den dadurch entstehenden Druck von unten geschehen kann. Auch auf nationaler Ebene muss dieser Druck durch öffentliches Handeln groß genug werden um den politisch Willen herauszufordern.

It is up to the government to do. I believe that the government can do. Because I think that the government is hole problem. And the government is rich obvious rich. […] So I don't believe in saying that the government does not have any funds. The government has funds. Enough funds. The only thing is that there is not enough political power. That will power is lack. So if the government does not have the will powers so the people should make the government have the will power. So in both ways it is lack. There is no public demand so therefore there is no public supply. So if public demand comes there must be a corresponding public supply, then there will be a series of public action. And through the public action we can have welfare. (Interview Vijaymohanan Pillai)

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124 ABSTRACT (deutsch) Die Diskussion über soziale Sicherungsmechanismen als ein Mittel zur Armutsreduktion und der Sicherstellung eines angemessenen Lebensstandards hat in den letzten Jahren zugenommen. Am Beispiel Indiens, einer der größten Volkswirtschaften der Welt mit einem hohen Wirtschaftswachstum, aber auch mit einem hohen Anteil armer Bevölkerung, wird in dieser Arbeit die Relevanz unterschiedlicher Mechanismen sozialer Sicherheit herausgearbeitet. Während in europäischen Staaten soziale Sicherheit über formelle Mechanismen organisiert ist, ist dies in Ländern mit einem großen Anteil an informell Beschäftigten nicht möglich beziehungsweise nicht zielführend. Der Fokus soll deshalb unter anderem auf den informellen Mechanismen sozialer Sicherung liegen. Ebenfalls beleuchtet die Arbeit eine rechtsbasierte Perspektive auf soziale Sicherheit. Diese stellt den ideologischen Unterbau dar aus dem die Ansicht erwächst, dass der Staat eine Bringschuld gegenüber seiner Bevölkerung hat grundlegende soziale Sicherungsmechanismen zu etablieren. Aus diesem rechtsbasierten Verständnis ergeben sich auch klare Vorstellungen, wie Sicherungsmechanismen gestaltet werden sollen, um mit den Prinzipien der Menschenrechte in Einklang zu stehen. Dieser theoretische Hintergrund dient als Grundlage um die sozialen Sicherungsmaßnahmen, die durch die indische Regierung eingeführt wurden zu bewerten. Ein besonderes Interesse liegt hierbei auf dem aktuellen Beispiel des „Unorganised Workers Social Security Act, 2008“. Dieser ist das erste Gesetz, das sich explizit auf die soziale Sicherheit der unorganisierten Arbeiter_innen in Indien bezieht. Diese informellen Arbeiter_innen machen über 90 Prozent der indischen Arbeitskraft aus und trotzdem wurden sie über ein halbes Jahrhundert von der Legislatur vernachlässigt. Zum besseren Verständnis der Gesetzgebung rund um das Thema soziale Sicherheit in Indien bietet die Arbeit eine vergleichende Perspektive zweier Bundesstaaten, in denen Politik und das Thema der sozialen Sicherheit unterschiedlich behandelt werden. Dabei werden die unterschiedlichen Lebenssituationen der Menschen anhand von Entwicklungsindikatoren wie Lebenserwartung, Kindersterblichkeit, etc. in den beiden Bundesstaaten gegenübergestellt und anschließend Erklärungsmodelle für den unterschiedlichen historischen Werdegang dargestellt.

Im ersten Teil werde ich meine Herangehensweise darlegen, im zweiten Kapitel möchte ich die theoretischen Aspekte sozialer Sicherung und unterschiedliche Ansätze präsentieren. Der dritte Teil meiner Arbeit beschäftigt sich mit den Ergebnissen meiner Feldforschung in den

125 Bundesstaaten Uttar Pradesh und Kerala. Die soziale Situation in Indien und die gesetzlichen Regelungen zur sozialen Sicherheit vor allem der Beschäftigten im informellen Sektor sind Inhalt des vierten Kapitels bevor im fünften Teil die sehr unterschiedlichen Sicherungsmodelle in Uttar Pradesh und Kerala sowie ihre Entstehungsgeschichte beleuchtet und zueinander in Beziehung gesetzt werden.

126 ABSTRACT (englisch) The discussion about social security as an essential means of poverty reduction and mechanism to guarantee an adequate standard of living has become more popular in the last few years. The example of India as one of the world's largest economies, with huge growthrates but still prevailing a high number of people living in poverty, shows how important social policy is and how different social security mechanisms have diverse outcomes. The way in which European states organise social security in formalised paths is not feasible nor adequate for countries where the vast majority is occupied in the unorganised sector. That’s why this paper concentrates on informal social security mechanisms. A rights- based approach is presented and used as a kind of ideological foundation in which the idea is rooted that the state has the obligation to provide social security to its citizens. Following this rights-based approach there are some guidelines how social security mechanisms have to be designed to be in line with human rights. This can be used further to contextualise the measures undertaken by the Indian government to provide social security. Particularly the new legislation for the informal workers in India, the “Unorganised Workers Social Security Act, 2008” will be a point of interest. This act is the first one in India that explicitly deals with the issue of social security for the unorganised workers. Eventhough they make up more than 90 percent of the Indian workforce, the social security needs of this vast majority of workers was neglected over half a century. To give a better understanding of the topic of social security in India the paper will bring in a comparative perspective of two states that diverge largely in politics of social security. Furthermore the different living conditions, using several indicators of social development such as life expectancy and childmortality, and social security policies in the two states will be presented. After describing the living situations of people in the two states possible models of explanation for the different historical developments are offered.

The fist section is on the methodological approach of this paper, in the second part I will discuss different theoretical aspects of social security. The third chapter handles the results of my field study in Uttar Pradesh and Kerala. Section four contains an overview of the social conditions and the social security legislation in India, particularly for unorganised workers. In the fifth section the social security systems of Uttar Pradesh and Kerala will be analysed in a comparative perspective and provided with the historical context.

127 LEBENSLAUF

Eisen Valentin

Schulische Ausbildung: 09/2000- 06/2004 Matura am Sportgymnasium Dornbirn

Studium: 09/2004- dato Individuelles Diplomstudium „Internationale Entwicklung“ Studienschwerpunkte: – Soziale Sicherung – Wohlfahrtstaaten in Entwicklungsländern – Indien

Berufserfahrung: Diverse Lohnarbeit in Administration, Industrie und Sozialbereich

Auslandserfahrungen: Eigenständige Forschungsreise nach Kerala und Uttar Pradesh (Indien), zur Durchführung von Literaturrecherche am „Center for Development Studies, Trivandrum“ und einer empirischen Feldforschung, über die Strategien sozialer Absicherung informell beschäftigter Personen in den beiden Bundesstaaten, sowie Expert_inneninterviews mit Vertreter_innen aus Wissenschaft, Politik und Zivilgesellschaft.

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