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SWR2 MANUSKRIPT ESSAYS FEATURES KOMMENTARE VORTRÄGE

SWR2 Feature Geschichten vom Rande Europas und der Von Fritz Schütte

Sendung: 15.11.2017 Redaktion: Wolfram Wessels Regie: Ulrich Lampen Produktion: SWR 2017

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Sprecherin 1: Wenn ich nach Frankreich fahre, frage ich die Leute nicht: Was ist eure Identität? Wie fühlt es sich an, Französin zu sein? Aber wenn Leute nach Gibraltar kommen, sind das die ersten Fragen, die sie stellen.

Ich dachte immer, es müsste reichen, dass wir Gibraltarer sind, aber offensichtlich reicht es nicht. Das hat mit unserer Geschichte zu tun. 1704 im Spanischen Erbfolgekrieg wurde Gibraltar von englisch-niederländischen Truppen besetzt und im Friedensvertrag von Utrecht 1713 wurde es an Großbritannien abgetreten.

Gibraltar wurde britische Kolonie, und Spanien fordert es seitdem zurück. Deswegen immer die Frage: Wohin gehört Gibraltar?

Atmo Fußgänger mit Rollkoffer

Sprecher 1: Es reicht, dass ich meinen Ausweis hochhalte. Grenzkontrolle innerhalb der EU. Eine der Besonderheiten von Gibraltar. Sechs Kilometer sind es von der Grenze bis zum Südzipfel des Landes, anderthalb Stunden zu Fuß, ein bisschen länger, wenn man die östliche Route wählt, die ab fünf Uhr nachmittags im Schatten des 430 Meter hohen Felsens liegt. Von einem Plakat lächelt mir zu. Eine als Bürgermeisterin - auch das eine Besonderheit von Gibraltar.

Atmo Fußgänger und Autos an der Grenze -Signal Atmo Gitter wird vorgeschoben

Sprecher 1: Die Ampel blinkt. Ein Polizist sperrt die Straße ab, die gleich hinter der Grenze über die Start- und Landebahn des Flughafens führt. Ich lausche den Gesprächen der Wartenden. Sprechen sie ? Es heißt, die Sprache der Gibraltarer gehöre zu den bedrohten Sprachen. Bisher habe ich sie nur im Internet gehört.

Musik Yaver Club - Momentum https://www.youtube.com/watch?v=yRhFOSwR6eo

Atmo 3 La Farola: Hivertà i er mundo n'Llanito ohne die Fanfare https://www.youtube.com/watch?v=TXDe9x7rHZ4

Sprecher 1: La Farola, der monatliche Podcast auf Llanito, ist nach wenigen Ausgaben verstummt. In Folge eins war von einer neuen Flugverbindung nach Bristol die Rede.

Atmo Flugzeug startet

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Ansage: Geschichten vom Rande Europas Gibraltar und der Brexit Ein Feature von Fritz Schütte

Atmo Fußgängertunnel - Straßenmusiker spielt Gitarre

Sprecher 1: Ich überquere eine hölzerne Zugrücke, die mit einem Geländer gesichert ist. Ein Tunnel führt durch die dicke Mauer in die Stadt. In der ehemaligen Befestigungsanlage sind heute Büros, Geschäfte und Restaurants untergebracht. Davor erwartet mich Dale Buttigieg, die Stimme aus dem Podcast.

Atmo Begrüßung mit Dale „Fritz?...“ Sprecher 1: Er ist jetzt mit dem Aufbau einer sprachwissenschaftlichen Fakultät an der neugegründeten Universität beschäftigt. Wir zwängen uns durch das Gedränge in der Fußgängerzone, vorbei an Juwelier-, Wein- und Spirituosengeschäften. Du kennst wahrscheinlich viele Leute hier? – Sprecher 2: Im Moment sind fast nur Touristen unterwegs. Wer so in Schaufenster guckt, ist nicht von hier. Sprecher 1: In der Nebenstraße stockt der Verkehr. Sprecher 2: Lass uns zum Park gehen! Einen ruhigeren Platz findet man um diese Uhrzeit nicht. Sprecher 1: Eine Treppe führt auf eine weitere Befestigungsanlage. Sprecher 2: Vor zwei Jahren war das hier noch ein Parkplatz. Sprecher 1: Vor uns erstreckt sich eine Bucht. Ein Kreuzfahrtschiff legt gerade an. Sprecher 2: Das ist der Hafen, links die Werft, und die Stadt da drüben ist . Sprecher 1: Moderne Bürohochhäuser ragen empor. Sitz der online-Buchmacher, die von hier aus europaweit operieren Sprecher 2: Genieße die Aussicht! Hier wird sicher auch bald ein Hochhaus davorgestellt. Sprecher 1: Dale blättert in einem Aktenordner mit Texten auf Llanito.

Atmo Dale liest N'Llanito i Sin Konplehô

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Take Dale Sprecher 2: Llanito, die Sprache Gibraltars, ist eine Mischung aus Englisch und Spanisch, könnte man sagen. Aber es ist mehr als das. Viele Worte sind judeo-spanischer oder genuesischer Herkunft. Es kann sein, dass jemand in Spanien es nicht versteht.

Take Dale Sprecher 2: Ich habe drei Sprachen, die ich immer benutze: Llanito, Englisch und Spanisch. Aber Llanito ist meine Muttersprache, die Sprache, in der ich mich am besten ausdrücken kann.

Take Dale Sprecher 2: und das Ziel ist, mit meiner Web-Seite ein Standard-Llanito anzubieten, das einheitlich benutzt werden kann.

Sprecher 1: In Zeitungskolumnen auf Llanito werden spanische Worte nach spanischer und englische nach englischer Rechtschreibung geschrieben. Aber das trifft deren Aussprache in Llanito nicht.

Take Dale Sprecher 2: Lehrer zum Beispiel: englisch teacher und spanisch profesor ist auf Llanito tixa. Großmutter, spanisch abuela, ist auf Llanito mama. Wer Spanisch spricht, denkt, du meinst deine Mutter.

Take Dale Sprecher 2: Wenn man ein spanisches Wort übernimmt, kann das komisch klingen. Zum Beispiel impressora für Drucker. Niemand würde das sagen. Die wenigsten hier wüssten überhaupt, was das ist. Man sagt einfach printa. Hago printin kon il printa.

Take Dale Sprecher 2: In letzter Zeit ist der Gebrauch von Llanito zugunsten des Englischen zurückgegangen. Ich trete für Llanito ein. Ich habe nichts dagegen, dass wir Englisch und Spanisch sprechen, aber wir sollten nicht aufhören, es zu vermischen. Alle Einwanderer haben ihren Teil beigetragen. Es spiegelt unsere Geschichte wider und ist ein Schatz, den wir nicht wegwerfen dürfen.

Sprecher 1: Spanisch ist die Sprache des großen Nachbarn, aber die kulturellen Angebote von dort sind heute nicht mehr konkurrenzlos wie noch in der 1980er Jahren.

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Take Dale Sprecher 2: Die Sprache, mit der die Menschen durch die Medien Kontakt hatten, war Spanisch. Hier konnte man nur das erste und zweite spanische Fernsehprogramm empfangen und ein Regionalprogramm. Berühmt war „Un, dos, tres“, ein Quiz. Das hat jeder gesehen, schon allein deshalb, weil auf den anderen Kanälen noch Sendepause war, wenn es kam.

Sprecher 1: Ob der Brexit Spanien und Gibraltar vielleicht noch weiter entfernt? Dale mag sich an Spekulationen nicht beteiligen.

Take Dale Sprecher 2: Politik interessiert mich weniger. Wenn es im Ausland um das Thema Gibraltar geht, dreht sich immer alles um Politik. Aber Gibraltar ist kein politisches Problem. Hier leben Leute.

Atmo Unterhaltung und Frage des Autors

Sprecher 1 drüber: Vor einer Boutique machen zwei Verkäuferinnen Pause. Oder sind sie die Eigentümerinnen? Die eine in engen Jeans, die andere in knappen Hotpants. Sie scheinen den Auftritt zu genießen, zu dem virtuoses Llanito-Sprechen gehört.

Sprecherin 2: (Victoria) Mit unseren Eltern sprechen wir auch so, mit jedem in Gibraltar. Wir mischen einfach beide Sprachen, und heraus kommt unsere eigene Sprache, selbst gemacht sozusagen. (lacht und spricht mit einer Passantin) Wir mischen gerade.

Atmo Unterhaltung mit Stuart und Begrüßung des Ministers

Sprecher 1: Number 6 ist Sitz der Regierung von Gibraltar. Stuart Green führt mich in eine Art Fernsehstudio mit zwei Stühlen. Ich fühle mich underdressed. Stuart war als Soldat in Deutschland, dann Pressesprecher beim britischen Militär und jetzt bei der Regierung von Gibraltar. „Politik ist ein harter Job“, sagt er. Eine Seitentür geht auf. Der Minister erscheint im eleganten blauen Anzug. Ich weiß, dass er fünfzig ist, aber er wirkt jünger.

Take Joseph Garcia Sprecher 2: Ich bin Joseph Garcia, stellvertretender Ministerpräsident von Gibraltar und zuständig für alles, was mit dem EU-Austritt zu tun hat. (to exit the )

Sprecher 1: Exit? Ach ja, na klar, Brexit. 5

Take Joseph Garcia Sprecher 2: Anders als Schottland oder Wales ist Gibraltar nicht Teil Großbritanniens. Wir sind ein Übersee-Territorium wie Bermuda oder die Falklandinseln, durften aber über den Brexit abstimmen, weil wir zur EU gehören.

Take Joseph Garcia Sprecher 2: 96 Prozent waren für den Verbleib in der EU. Aber leider war die Mehrheit in Großbritannien für den Austritt. Wir sind für Europa, können aber jetzt nicht mehr tun, als die besten Konditionen für unseren Austritt zu vereinbaren.

Sprecher 1: Wie oft mag er das alles schon erzählt haben? Soll ich fragen, ob es, wenn man in der EU bleiben will, nicht schlau wäre, sich Spanien anzuschließen? Aber Joseph Garcia braucht keinen Stichwortgeber.

Take Joseph Garcia Sprecher 2: 1967 wurde ein Referendum abgehalten. 99 Prozent waren dafür, dass Gibraltar britisch bleibt. 2002 wurde darüber abgestimmt, ob Hoheitsrechte an Spanien abgegeben werden sollen, und 98 Prozent waren dagegen. Die Leute haben deutlich gemacht, was sie wollen: normale Beziehungen zu Spanien, aber nicht Teil von Spanien werden.

Take Joseph Garcia Sprecher 2: Als Briten und Holländer 1704 Gibraltar besetzten, verließen die meisten spanischen Bewohner Gibraltar, nur etwa vierzig blieben. Später kamen Einwanderer aus Genua und Malta und sephardische Juden aus Marokko, deren Vorfahren aus Spanien verbannt worden waren. Die heutigen Gibraltarer sind die Nachkommen all dieser Einwanderer. Meine Familie hat spanische, maltesische und italienische Wurzeln.

Wir haben uns dreihundert Jahre unterschiedlich entwickelt, und Spanien hat nichts getan, um sich Freunde zu machen. Es hat nichts aus der Vergangenheit gelernt, und ich glaube, jetzt ist es eh zu spät.

Take Frage des Autors Sprecher 1: Starker Tobak. Liegt es daran, dass er zu einer Zeit aufgewachsen ist, als Spanien keinen Kontakt mit Gibraltar wollte?

Take Joseph Garcia Sprecher 2: Ich war zwei Jahre alt, als die Grenze geschlossen wurde und habe, bis ich sechzehn war, keinen Fuß auf spanischen Boden gesetzt. Wir sind am Wochenende die sechseinhalb Quadratkilometer abgefahren. Im Sommer gingen wir zum Strand,

6 im Winter fuhren wir herum und machten Picknick. Und einer der Plätze war die Grenze. Und ich erinnere mich, wie Leute sich mit ihren Verwandten auf der spanischen Seite durch Rufen verständigten.

Atmo Videobotschaft

Sprecher 1: Der 10.September, das Datum des Referendums von 1967, ist Nationalfeiertag. Der 50ste Jahrestag wird mit einer Ausstellung gefeiert. In einer Videobotschaft erklärt Minister Garcia seine Bedeutung. Zeitungsausschnitte dokumentieren die Vorgeschichte: Mitte der sechziger Jahre wandte Spanien sich an die Vereinten Nationen, die sich Dekolonisierung auf die Fahnen geschrieben hatten. In den Grundsätzen hieß es unter anderem: die territoriale Einheit einer Nation darf nicht durch eine Kolonie verletzt werden. Die Vereinten Nationen verpflichteten Großbritannien, mit Spanien Verhandlungen aufzunehmen. Die britische Regierung berief sich jedoch auf einen anderen Grundsatz des Dekolonisierungsprogramms: jedes Territorium hat das Recht auf Selbstbestimmung. Sie hielt ein Referendum ab und stellte sich damit gegen den Beschluss der Vereinten Nationen, denen die territoriale Einheit Spaniens wichtiger war.

Take Joseph Garcia Sprecher 2: Demokratie, Menschenrechte und Selbstbestimmung sollten im Vordergrund stehen, tun es aber in unserem Fall leider nicht.

Take Joseph Garcia Sprecher 2: Die Liste der Vereinten Nationen verzeichnet siebzehn nicht autonome Territorien, die noch dekolonisiert werden sollen, elf davon britisch. Solange wir auf dieser Liste stehen, gelten wir nach internationalem Recht als nicht autonom, egal wie selbstständig wir sind. Es gibt vier Möglichkeiten, aus der Liste gestrichen zu werden. Erstens: Unabhängigkeit. Zweitens: Integration, dass heißt, Teil eines Mitgliedsstaates der Vereinten Nationen zu werden, so sind Frankreich und die Niederlande mit ihren Kolonien verfahren. Die Briten haben damit in den 60ern mit Malta und Rhodesien schlechte Erfahrungen gemacht und es nicht wieder angeboten. Die dritte Möglichkeit ist freie Assoziierung, so wie die Cook-Inseln mit Neuseeland oder Puerto Rico mit den USA. Und die vierte Möglichkeit ist eine maßgeschneiderte Lösung, über die die Bewohner des Territoriums frei abstimmen. Wir wollten eine Lösung finden, die es ermöglicht hätte, in der EU zu bleiben mit der Queen als Staatsoberhaupt. Auf keinen Fall wollen wir von einer britischen zu einer spanischen Kolonie werden.

Sprecher 1: Die EU räumt Spanien in den Brexit-Verhandlungen bei allen Gibraltar betreffenden Entscheidungen Vetorecht ein. Im Grunde müsse sich nicht allzu viel ändern, meint Joseph Garcia, denn Gibraltar gehört weder zum Schengenraum noch zur Zollunion.

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Take Joseph Garcia Sprecher 2: Es gibt Grenzkontrollen zwischen Gibraltar und Großbritannien und wir müssen jetzt schon, obwohl wir britisch sind, wenn wir nach wollen, durch Pass- und Zollkontrolle. Was in Zukunft zwischen EU und Großbritannien eingeführt wird, gilt hier ja schon.

Take Joseph Garcia Sprecher 2: Ungefähr 12 000 Menschen kommen jeden Morgen von Spanien zur Arbeit nach Gibraltar. Die Durchlässigkeit der Grenze ist für uns sehr wichtig.

Sprecher 1: Seit Wochen bemühe ich mich per Email und telefonisch um eine Akkreditierung für den diesjährigen Contest. Vergeblich. Zwei Tage noch bis zum „Höhepunkt des gesellschaftlichen Lebens“, wie es auf der Internetseite heißt. Die beiden Lokalzeitungen berichten täglich. Die in der Mainstreet ist Sitz des Miss Gibraltar Office. Auf einer Bank im Eingangsbereich tippen zwei junge Frauen in glitzernden Abendkleidern Nachrichten in ihre Handys. Vielleicht ist gerade Pause bei den Proben.

Take Sprecherin 1: Ich heiße Emma Buttigieg, Kandidatin Nummer 4. Ich genieße jede Minute. Ich habe immer davon geträumt teilzunehmen, vermutlich schon, bevor ich laufen konnte (lacht). – Sprecher 1: Und wie heißen Sie? – Sprecherin 1: Ich bin Jodie Garcia. Ich würde nicht sagen, dass ich einem Traum nachhänge. Ich möchte vor allem gesund bleiben. – Sprecher 1: Wie war die Vorbereitung? – Sprecherin 1: Stress wäre untertrieben, viel Druck und richtig harte Arbeit. – Plötzlich werden wir unterbrochen. „Was tun Sie da?“ ruft eine Frau in weißer Bluse und blauem Rock, eine Art Aufseherin. „Sind Sie akkreditiert? Gebt keine Interviews, bis wir das geklärt haben!“

Sprecher 1: Ich vertreibe mir die Wartezeit in der Bibliothek im ersten Stock und durchforste das Regal mit Büchern über Gibraltar: Flora und Fauna, Gibraltar im Krieg, Geschichte der Belagerungen. Kaum literarische Prosa. „Rock Black, The Gibraltarian Stories“ von Mark Sanchez. Ein Autor, mit dem ich Kontakt aufgenommen habe. Aber er wohnt jetzt leider in England. Die Bibliothekarin verbucht Bücher. „Si, si. Espera te!“ Sie lässt keine Gelegenheit aus, spanische Worte in die Unterhaltung auf Englisch einzuflechten.

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Take Berryl Sprecherin 1: Aber wenn Sie mich jetzt fragen, ob ich mir vorstellen kann, Spanierin zu sein, würde ich mit Nein antworten, einem entschiedenen Nein. Ich bin britische Gibraltarerin. Meine Mutter ist aus London und die Familie meines Vaters ist von hier.

Atmo Bibliothek

Sprecher 1: Berryl Zammit steht auf dem Namensschild. Ein maltesischer Nachname, sagt sie. Ein anderer Zweig der Familie heißt Bellido.

Take Berryl Sprecherin 1: Ich habe gedacht: Ist das Spanisch? Wer war mein Urgroßvater?

Sprecher 1: Sie befürchteten, er wäre Spanier gewesen?-

Sprecherin 1: Ja, ich wollte nicht, dass mein Stammbaum... ja, so ist das. Und jetzt fahre ich nach Spanien und habe liebe Freunde dort. Das ist alles Politik. Politiker sind es auch, die Kriege anzetteln.

Take Berryl Sprecherin 1: Ich war 14, als das erste Referendum abgehalten wurde, und 16, als die Grenze geschlossen wurde.

Take Berryl Sprecherin 1: Es war sicherer. Man brauchte nicht mal die Tür abzuschließen, und abends haben die Nachbarn im Hof zusammengesessen und Musik gemacht.

Take Berryl Sprecherin 1: Ich hatte das Glück, Verwandte in Großbritannien zu haben. Alle zwei, drei Jahre, wenn meine Eltern es sich leisten konnten, sind wir zu meiner Oma gefahren.

Sprecher 1: Spanien ist für Berryl ein so empfindliches Thema, dass ihre Stimme zittert, wenn sie darauf zu sprechen kommt, wie die Grenze geöffnet wurde.

Take Berryl Sprecherin 1: Ich habe geweint an dem Tag. Ich hatte Angst. Ich wusste nicht, was uns erwartet. Man kann sich nur schwer vorstellen, wie uns die spanischen Politiker drangsaliert haben. Ich sage nicht, dass alle Gibraltarer Heilige sind. Aber sie haben buchstäblich 9

Lügen verbreitet und uns vor den Vereinten Nationen als Piraten und Schmuggler hingestellt.

Take Victoria und Isabella Sprecherin 2: Noch was? Genau, lass uns über Spanien sprechen! Im Gegensatz zu anderen Gibraltarern meine ich, Gibraltar sollte zu Spanien gehören. Warum sollten wir britisch sein, wenn wir an Spanien dranhängen. Ist doch Unsinn, eine Grenze zu ziehen und zu behaupten, wir sind nicht spanisch. Stell dir vor, ein paar Leute zäunen sich ein Stückchen Deutschland ein und sagen: Wir sind Gibraltarer. (lacht) Das war nur Spaß. (We love to be British.)

Sprecher 1: Ich habe keine Akkreditierung für den Miss Gibraltar Contest bekommen und werde mir die Show im Fernsehen anschauen.

Take Victoria Sprecher 1: Wann nehmt ihr am Miss Gibraltar Contest teil? –

Sprecherin 1: (Victoria) Ich finde, ich sollte ein bisschen älter dafür sein. Also, nächstes Jahr mache ich mit, vielleicht gewinne ich. Die Miss Gibraltar ist eine Art Botschafterin. Kaiane Aldorino ist sogar Miss World geworden und jetzt ist sie Bürgermeisterin von Gibraltar. Wenn du gewinnst, kannst du Bürgermeisterin werden. Das ist natürlich ein super Job.

Sprecherin 1: (Victoria) Meine Favoritin ist Emma Gaivizo, Kandidatin Nummer 9.

Sprecherin 1: (Isabella) Ich würde sagen, dass es Mut erfordert am Wettbewerb teilzunehmen, weil dich dann jeder kennt. –

Sprecherin 1: (Victoria) Finde ich überhaupt nicht. Alle, die mitmachen, denken eh, dass sie schön sind. Unter mangelndem Selbstvertrauen leiden sie bestimmt nicht.

Sprecher 1: John Isola ist Vizepräsident der Handelskammer von Gibraltar.

Take John Isola Sprecher 2: Mein Nachname klingt italienisch. Aber meine Familie kam Ende des 18. Jahrhunderts aus Genua, damals ein Stadtstaat. Die Vereinigung Italiens geschah erst später.

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Sprecher 1: Er ist Weinhändler und leitet ein traditionsreiches Familienunternehmen, das wohl schon gefährlichere Klippen umschifft hat als den Brexit.

Take John Isola Sprecher 2: Unsere Geschichte ist geprägt von Belagerungen, militärischen und wirtschaftlichen, die bedeutendste zwischen 1969 und 1985, als Spanien die Grenze erst wieder öffnete, weil es in die EU aufgenommen werden wollte.

Take John Isola Sprecher 2: Die Grenze wurde an meinem vierten Geburtstag geschlossen. Mir wurde erzählt, dass mein Vater nicht kommen konnte, weil er den Lieferwagen seines Geschäfts fahren musste, denn der spanische Mitarbeiter durften von einem Tag auf den nächsten nicht mehr kommen.

Take John Isola Sprecher 2: Die Kommunikationswege wurden gekappt. Das Telefon war tot und nicht nur das: man konnte sich nicht mal durch den Zaun unterhalten. Denn die Spanier zogen fünfhundert Meter davor einen weiteren Zaun hoch. Die Leute schrien sich zu verabredeten Zeiten Neuigkeiten zu, zum Beispiel, dass ein Kind zu Welt gekommen oder jemand gestorben war.

Take John Isola Sprecher 2: Meine Großtante wohnte in Spanien, fünf Minuten von der Grenze entfernt. Ich erinnere mich, dass wir in aller Herrgottsfrühe die Fähre nach Tanger nehmen, dort auf die spanische Fähre nach Algeciras umsteigen und dann noch mit dem Auto fahren mussten. Heute sind 5-10 Minuten, damals war es eine Tagesreise.

Take John Isola Sprecher 2: Im Rückblick erstaunt, dass Spanien nach Francos Tod 1975 zur Demokratie zurückkehrte, aber noch zehn Jahre brauchte, um die Grenze zu öffnen. 1982 haben sie einen Anlauf genommen, aber dann besetzte Argentinien die Falklandinseln und sie wollten abwarten, ob das ihre Chancen auf Gibraltar verbessert. Anfangs war die Grenze nur für Fußgänger offen. Man durfte nur einmal am Tag rüber. Als sie auch für Autos geöffnet wurde, hat sich das Leben in Gibraltar völlig verändert.

Sprecher 1: Es gibt von der Grenzöffnung keine Jubelbilder, wie man sie von der Berliner Mauer kennt. Oder habe ich sie vielleicht nicht gefunden?

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Take John Isola Sprecher 2: Wir waren 15-16 Jahre lang eingepfercht, aber für viele Leute war das eine fantastische Zeit. Die Geschäfte florierten. Gibraltar war ein wichtiger Stützpunkt und Militärausgaben machten rund 90 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Heute beträgt der Anteil nicht mal mehr zehn Prozent, vor allem weil die britische Regierung die Werften geschlossen hat. Die Öffnung der Grenze kam gerade rechtzeitig und half, die Wirtschaft zu diversifizieren.

Sprecher 1: Unternehmensgewinne werden pauschal mit zehn Prozent besteuert, und Umsatzsteuer wird gar nicht erhoben. Das hat vor allem Online-Buchmacher angezogen. Das Geschäftsviertel Eurocity ist ausgebucht.

Take John Isola Sprecher 2: Unser Erfolg beruht zum Teil darauf, dass wir auf den spanischen Arbeitsmarkt zurückgreifen können. Bedenken Sie, dass rund zehntausend Menschen täglich nach Gibraltar zur Arbeit kommen, die meisten davon Spanier. Das sind zehntausend Familien, deren Lebensunterhalt von Gibraltar abhängt.

Take John Isola Sprecher 2: Es ist ein beiderseitiges Geben und Nehmen. Ich glaube, den Menschen in der Region macht der Brexit größere Sorgen als uns.

Take John Isola Sprecher 2: Wir gehören nicht zum Schengenraum. Theoretisch könnten die Spanier alle Pässe kontrollieren, aber das tun sie nicht. Sonst wäre die Schlange endlos. Ähnlich ist mit der Zollkontrolle. Sie muss jetzt schon durchgeführt werden. Eigentlich müsste sich an der Grenze nichts ändern.

Take Victoria Sprecherin 1: Wir gehören zu den zehn reichsten Volkswirtschaften der Welt.

Sprecherin 1: (Isabella) Aber wenn wir zu Spanien kämen, würde die Wirtschaft den Bach runter gehen.

Take Isabella Sprecherin 1: Wie viele Menschen kommen jeden Morgen zur Arbeit aus Spanien rüber?

Sprecherin 1: (Victoria) Wir haben ungefähr 100 000 Arbeiter aus Spanien. – 12

Sprecherin 1: (Isabella) Nein. Es sind 12 000.

Take Victoria Sprecherin 1: ich lebe in einem dreihundert Jahre alten Haus. Der erste Gouverneur hat darin gewohnt. Man darf es nicht abreißen, es steht unter Denkmalschutz. –

Sprecherin 1: (Isabella) Ich bin jetzt achtzehn und habe mich für eine Wohnung beworben. Jetzt kommt jemand vom Amt und guckt, wie es bei uns zu Hause aussieht. Wir sind zu fünft und haben zwei Schlafzimmer

Sprecherin 1: (Victoria) Studenten bekommen ein Stipendium, die Unigebühren und den Unterhalt vom Staat. Oft haben Studenten nach der Uni 30 000 Pfund Schulden - wir nicht.

Atmo Flur im Rathaus - Schritte -

Sprecher 1: La Línea, die spanische Stadt auf der anderen Seite der Grenze, war schon mal so pleite, dass die Verwaltung ihre Angestellten nicht mehr bezahlen konnte. Im Rathaus warte ich auf Bürgermeister Juan Franco, der mit dem Ausspruch bekannt wurde: „Ein weiteres 1969 wird es nur über meine Leiche geben.“ 1969 war das Jahr der Grenzschließung. Was über ihn zu lesen ist, macht neugierig. Er soll so viel Hektik verbreiten, dass die Opposition ihm Meditationsübungen empfohlen hat.

Atmo: „Eres Fritz Schütte?“

Juan Franco, Brille, Vollbart, die Ärmel des karierten Hemdes hochgekrempelt, gibt schnell ein paar Anweisungen. Ich hätte ihn gerade noch erwischt, denn er muss gleich los. Er hat heute Geburtstag.

Take Juan Franco

Sprecher 2: Ich bin 42. Das heißt, als ich auf die Welt kam, war die Grenze zu. La Línea ist als Folge der britischen Besetzung des Felsens von Gibraltar entstanden. 1730 wurden hier zwei Festungen errichtet, und ungefähr 1808 wurde sie abgerissen. Die Engländer waren in den Napoleonischen Kriegen zu Verbündeten Spaniens geworden und sagten: „Wir helfen euch gerne, aber das muss hier verschwinden.“ La Línea war immer mit Gibraltar verbunden...

Take Juan Franco Sprecher 2: und ist wirtschaftlich komplett von Gibraltar abhängig. Deswegen macht uns der Brexit natürlich Sorgen. 13

Take Juan Franco Sprecher 2: Man kann sagen, in jeder Familie arbeitet jemand in Gibraltar oder hat geschäftlich mit Gibraltar zu tun. Ein Verwandter von mir hat ein Geschäft für Innendekoration, spricht Englisch und macht die Hälfte seines Umsatzes mit Kunden aus Gibraltar. Ein anderer verkauft Türen. Genau das Gleiche. Die Leute in Gibraltar können sich mehr leisten als wir in La Línea. Wenn dir deine Tür nicht mehr gefällt, denkst du zweimal nach, aber wer Geld hat, kauft sich eine neue.

Take Juan Franco Sprecher 2: Es gibt zwei Szenarien. A: Ein harter Brexit. Verschärfungen an der Grenze führen zu wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Entlassungen bei Versicherungen und Online- Buchmachern. Steueraufkommen und öffentliche Ausgaben gehen zurück, und das führt geradewegs in die Rezession. Szenario B: Ein weicher Brexit. An der Grenze reicht der Personalausweis wie in der Schweiz. Waren können problemlos ein- und ausgeführt werden. Das heißt, alles bleibt, wie es ist. Es hängt von der spanischen Regierung ab, wie es weitergeht.

Take Juan Franco Sprecher 2: Es gab ein Instituto Cervantes, eine Kulturbotschaft, in Gibraltar, aber die haben sie geschlossen. Ich halte das für einen Fehler. Die 40-jährigen, also meine Generation, können noch Spanisch. Sie sind mit spanischem Fernsehen aufgewachsen. Aber heute gucken die Kinder englisches Fernsehen. Ich war mal mit einem Bekannten aus Gibraltar unterwegs. Wir sprachen Spanisch und unsere Söhne Englisch. Mein Sohn war damals zwölf und konnte besser Englisch als dessen Sohn Spanisch.

Atmo Wellen am Strand

Sprecher 1: La Línea hat lange Sandstrände, aber wegen der Strömung vom Atlantik ist das Wasser zum Baden oft zu kalt. Der Vollmond leuchtet am Himmel. Am Strand tanzen zwei Lichter hin und her. Stirnlampen von Anglern. Die Lichter auf dem Meer gehören zu dort ankernden Schiffen, die mir schon tagsüber aufgefallen sind.

Take Sprecher 1: Worauf warten die eigentlich? –

Sprecher 2: Schiffe (Angler) Darauf, dass sie in der Raffinerie an die Reihe kommen. Da draußen sparen sie die Hafengebühren.

Sprecher 1: Der Felsen von Gibraltar wird angestrahlt. Er wirkt zum Greifen nah. Am Strand wird man dort nicht hin gelangen. Spanische Grenzsoldaten passen auf. 14

Sprecher 1: Wie war das, als die Grenze dicht war?

Sprecher 2: Da kam man nur über Marokko raus. Und hier am Strand genauso wenig wie heute.

Guck mal! Die Fische fressen den Köder von Haken

Sprecher 1: haben Sie in Gibraltar gearbeitet?

Sprecher 2: Ja, aber nicht lange. Die meiste Zeit war ich in der Raffinerie beschäftigt. –

Sprecher 1: Und was sprechen Sie da? –

Sprecher 2: Ein ziemlich schlechtes Englisch. –

Sprecher 1: Sie mischen es?

Sprecher 2: Ja klar, die können auch Spanisch.

Sonst holen wir hier Brassen raus und Barsche. Aber heute nur Kleinkram. Die Flut hat nichts rein gedrückt.

Sprecher 1: Was halten Sie vom Brexit? –

Sprecher 2: Angler Der sorgt schon jetzt für Probleme. Das britische Pfund ist im Keller. Vielleicht müssen die Arbeiter bald ihren Pass vorzeigen und brauchen ein Visum. Und dann stehen die Autos wieder Schlange. Und die Firmen, die sie da haben, mal sehen, wie es mit denen so weitergeht.

Sprecher 1: War vorher besser, oder? -

Sprecher 2: Die EU war besser

Sprecher 1: Und das Verhältnis zu La Línea? 15

Sprecher 2: Sie mögen La Línea nicht, sie nutzen es aus. -

Sprecher 1: Aber in La Línea bleibt doch auch Geld hängen,

Sprecher 2: Ach was, La Línea ist am Arsch. In La Línea gibt es nur eine Beschäftigung, und das ist Schmuggel. Hier gibt es keine Arbeit. Das bisschen, was es hier in der Gegend an Arbeit gibt, gibt es dort.

Sprecher 1: Wie lange bleiben Sie noch?

Sprecher 3: Wir packen jetzt zusammen. Lohnt sich nicht heute.

Atmo TV-Misswahl: Intro Musik Welcome to the Tercentenary Sports Hall...

Sprecher 1: Das Fernsehprogramm der Gibraltar Broadcasting Corporation beginnt um 19 Uhr 30 und endet um 23 Uhr. Die Live Übertragung der Miss Gibraltar Show dürfte ein Highlight sein.

Atmo TV-Misswahl: Please welcome our host. Christian Santos (Beifall)...

Sprecher 1: Christian Santos, Glatze und exakt rasierter Drei-Tage-Bart, ... don´t our contestants look absolutely stunning?... ist nach einer Musical-Ausbildung vor zehn Jahren nach Gibraltar zurückgekehrt und leitet eine Musik- und Schauspiel-Akademie.

Atmo TV-Misswahl: and now it’s time for them to show us their style and elegance..... Frontiers.

Sprecher 1: Gemessenen Schrittes schweben die Kandidatinnen über einen Laufsteg, der ins Publikum führt. Wir erfahren, welche Firma welche Dame sponsert. Schon der Model-Kurs bei Christian Santos dürfte so viel gekostet haben, dass sich die Geldpreise bescheiden ausnehmen.

Atmo TV-Misswahl: ... second princess gets 1000 pounds...

Eintausend Pfund für die Drittplatzierte, 1500 Pfund für die zweite und 5000 Pfund für die Siegerin, die Gibraltar beim Miss World Contest in vertreten darf. Bei nur

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35 000 Einwohnern dürfte die Chance an diesem Wettbewerb teilnehmen zu können, nirgendwo auf der Welt größer sein.

Take Sprecherin 1: (Isabella) Die Siegerin bekommt vier- oder fünftausend Pfund. – (Victoria) Wenn du gewinnst, nimmst du am Miss World Contest teil. Die Kleider, die du dafür brauchst, kosten ein Vermögen. Die Miss Gibraltar vor sechs Jahren war danach pleite und hat gesagt, sie würde das nie wieder machen.

Atmo TV-Misswahl ... so, Ladies, first question: describe yourself with three words!...

Take Sprecherin 1: (Victoria) Mein Name ist Victoria Gabriela Miller-Marrache. Meine Onkel sind berühmt in Gibraltar. Sie haben eine internationale Anwaltskanzlei und stehen gerade wegen Betrugs vor Gericht. Dreißig Millionen Pfund fehlen auf den Kundenkonten. Jetzt kann ich nichts mehr kaufen. (lacht) Ich war Millionärin und jetzt ist alles futsch.

Take Victoria Sprecherin 2: (Victoria) Der Laden gehört meinem Onkel. Hanny's Boutique gibt es seit zwanzig Jahren. Jetzt haben wir gerade eine Herrenabteilung aufgemacht.

Take Sprecherin 1: (Victoria) Sie ist meine Halbschwester. Gleiche Mutter, anderer Nachname.

Atmo TV Show

Sprecher 1: Der Einspielfilm zeigt, wie die Kandidatinnen bei der Vorbereitung auf die Show Besuch bekommen von Kaiane Lopez, der Bürgermeisterin von Gibraltar, die vor acht Jahren Miss World wurde, als sie noch Aldorino hieß. „Was ist Ihnen im Finale durch den Kopf gegangen?“ wollen die Kandidatinnen wissen. „Oh Gott!“ habe sie gedacht. „Gibraltar ist so klein und tritt gegen Länder an, die viel größer sind.“ Aber dann habe sie sich Mut gemacht und sich gesagt: „Ich bin auch wichtig. Wir haben eine Chance und müssen unser Bestes geben.’“ Die Teilnahme an internationalen Wettbewerben, etwa Sportveranstaltungen, scheiterte stets am Veto Spaniens. Dass das kleine Gibraltar 2013 in die Europäische Fußballunion aufgenommen wurde, lag nur daran, dass Spanien in dem Gremium an Einfluss verloren hatte. Spanien und Gibraltar gehören im Fußball zu den verfeindeten Nationen, die einander nicht zugelost werden sollen, wie Armenien und Aserbaidschan oder Russland und Georgien.

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Der Miss World Contest ist zwar kein Aushängeschild für die Frauenbewegung, findet Jennifer Ballantine, bot aber Jahrzehnte lang das einzige internationale Parkett, auf dem Gibraltar sich zeigen durfte.

Take Jennifer Ballantine Sprecherin 1: Dass es eine Miss Gibraltar gibt, ist Zeichen nationaler Identität, und dass eine Miss Gibraltar Miss World geworden ist, hat der ganzen Welt gezeigt, dass Gibraltar eine eigenständige Nation ist.

Sprecher 1: Wir sitzen im historischen Lesesaal der vor Regalen voller in Leder gebundener Bücher. 45 000 sollen es sein. Die ältesten aus dem 18. Jahrhundert.

Take Jennifer Ballantine Sprecherin 1: Es ist eine schöne Bibliothek. Sie wurde von Colonel Drinkwater gegründet. Während der großen Belagerung zwischen 1779 und 1783 kamen keine Zeitungen und keine neuen Bücher mehr rein, und da hat er sich vorgenommen, eine Bibliothek einzurichten.

Atmo oral history Interview http://borderingonbritishness.net/

Sprecher 1: Jennifer Ballantine ist heute deren Direktorin und fügt dem Bücherschatz zusammen mit anderen Wissenschaftlern gerade ein Audioarchiv hinzu. Das oral history Projekt Bordering on Britishness kreist um die Frage: wie fühlt es sich an, Gibraltarer zu sein? 400 Gibraltarer sind schon befragt worden, - und einige Interviews bereits im Internet veröffentlicht.

Take Jennifer Ballantine Sprecherin 1: Ich bin Gibraltarerin, habe in Großbritannien gelebt und bin 2007 zurückgekehrt.

Sprecher 1: Jennifer hat mir einen Text zum Thema ‘Kritische Distanz und Subjektivität’ zugemailt. Als Wissenschaftlerin untersucht sie einen Gegenstand, der sie selbst betrifft. Das birgt die Gefahr, eigene Erfahrungen zu verallgemeinern. Deswegen hat sie ihre Familiengeschichte offen gelegt, beginnend mit dem, was sie von Oma und Opa über den Zweiten Weltkrieg gehört hat, als Gibraltar evakuiert wurde.

Take Jennifer Ballantine Sprecherin 1: Mein Großvater musste in Gibraltar bleiben, denn er gehörte zu den unverzichtbaren Arbeitskräften, aber meine Oma und mein Vater, der damals noch klein war, kamen nach London und haben dort die deutschen Luftangriffe miterlebt. Meine Oma konnte nur Spanisch und musste meinen Vater oder meinen Onkel zum Übersetzen mitnehmen, wenn sie einkaufen ging. 18

Take Jennifer Ballantine Sprecherin 1: In Gibraltar war Schule vor dem Zweiten Weltkrieg Sache der Kirche und die Unterrichtssprache war Spanisch. Doch nach dann meinten die Briten, sie hätten in ihrer kolonialen Mission versagt. In Zukunft sollte die Jugend Englisch lernen.

Take Jennifer Ballantine Sprecherin 1: Wir haben zu Hause Englisch gesprochen, außer meiner Oma. Wir haben Englisch gesprochen, und sie hat Spanisch geantwortet. Wir konnten es verstehen, aber nicht sprechen.

Take Jennifer Ballantine Sprecherin 1: Ich war noch klein, als die Grenze geschlossen wurde, und erwachsen, als sie wieder aufging. Wir kannten Gibraltar nur mit geschlossener Grenze und mit Englisch als Hauptsprache.

Take Victoria Sprecherin 1: Ich fahre dreimal die Woche nach Spanien und an den Wochenenden. Die Partys da sind größer und besser. Wir nennen uns ein Land, aber im Grunde ist Gibraltar ein 35 000 - Seelen - Dorf. An der hebräischen Schule waren wir nur hundert Schüler in allen Jahrgangsstufen.

Take Victoria Sprecherin 2: Für Kinder ist es ideal, aber für Partys nicht. …abends wird es eine Geisterstadt um zehn ist nicht mal mehr eine Küchenschabe unterwegs. (lachen) –

Sprecherin 1: (Isabella) Wir haben hier zwei Clubs.

Sprecherin 1: (Victoria) Der eine ist für Leute ab 25. Der andere ist ab achtzehn. Vor zwei Tagen haben sie einen Neandertaler-Zahn gefunden. So was ist fünfzig Jahre lang nicht mehr passiert. In Gibraltar gab es schon Höhlenmenschen.

Take Frage des Autors Sprecher 1: Der einzige Gibraltarer, mit dem ich vor meiner Reise Kontakt hatte, war Mark Sanchez, Autor der Gibraltarian Stories. Ich weiß nicht, ob ich ihn richtig zitiere, aber ich glaube, er sagte: es ist besser, selbst über Gibraltar zu schreiben, als es anderen zu überlassen. Mit Romanen oder Erzählungen sieht es nicht so gut aus, oder?

Sprecher 2: (Giordano Durante) Das stimmt, 19

Sprecher 2: (Charlie Durante) Das hat mit der sprachlichen Situation zu tun. Wir sind zerrissen zwischen Spanisch und Englisch,

Sprecher 2: (Giordano Durante) Das galt auf jeden Fall noch in den 30er oder 40er Jahren. Da war die Alphabetisierungsrate vielleicht eher niedrig. Aber nach der Evakuierung nach England hat sich das Level sehr verbessert.

Sprecher 1: Ich hatte Mark Sanchez gebeten, mir jemanden zu empfehlen, den ich in Gibraltar treffen könnte. Und jetzt sitze ich Giordano Durante gegenüber.

Take Giordano Durante Sprecher 2: Ich bin 36 Jahre alt und betreibe ein Online-Nachrichtenmagazin. Meine Tochter ist zwei. In meiner Freizeit lese ich, schreibe Gedichte, und höre Klassik Wir leben in der Oberstadt.

Sprecher 3: Giordano ist da aufgewachsen. Wir sind umgezogen, als er elf war. Du bist sozusagen zu deinen Wurzeln zurückgekehrt.

Sprecher 1: Giordano hat seinen Vater zum Interview mitgebracht. Charly Durante ist Literaturkritiker, Kolumnist und Englischlehrer im Ruhestand.

Take Charlie Durante Sprecher 2: Ich war einer von vier, die zur Universität gingen. Das war 1969, als die Grenze zuging. Ich habe Anglistik studiert, und nach meiner Rückkehr wurde ich Lehrer an der Mädchenschule. Außer mir gab es noch einen Lehrer mit einem Abschluss in Englisch, - an der Jungenschule.

Take Charlie Durante Sprecher 2: Ich habe mit meinen Eltern nie Englisch gesprochen. Meine Mutter hat erst im Krieg Englisch gelernt, und es wäre mir komisch vorgekommen, wenn ich mit meinen Eltern Englisch gesprochen hätte.

Take Giordano Durante Sprecher 2: Ich spreche mit meinen Freunden Spanisch. Aber die 17- oder 18-jährigen sprechen untereinander Englisch.

Sprecher 2: Spanisch verliert an Boden. Die Jugend spricht Englisch. 20

Take Charlie Durante Sprecher 2: Heute sprechen sogar die Großeltern mit ihren Enkeln Englisch. Die Eltern sagen: „Kein Spanisch, wenn du mit Johnny sprichst!“ Wenn sie die Kleinen von der Schule abholen, sehe ich sie im Bus sitzen und höre sie radebrechen. Ihr Spanisch wäre viel besser.

Take Giordano Durante Sprecher 2: Im Krieg wurde die Zivilbevölkerung nach England evakuiert. Und erst da merkte sie, wie sehr sich ihre Sprache, ihr Lebensstil, ihre Essgewohnheiten von denen der Briten unterschieden. Sie kamen mit einem klareren Identitätsgefühl zurück. Die Schließung der Grenze hat dieses Gefühl noch verstärkt: wir sind weder Spanier noch Briten, wir sind was eigenes. Das mag komisch klingen bei nur 30 000 Einwohnern.

Take Charlie Durante Sprecher 2: Ich bin in dem Glauben aufgewachsen, dass wir Gibraltarer sind. Und eines Tages sagte mein Vater: „Wir fahren in Urlaub.“ -“Wir fahren nach Madrid.“ Als wir da waren, sagte er: „Das sind eure Verwandten.“ - „Das ist dein Onkel Paco.“ Die beiden waren Halbbrüder. In Gibraltar durfte niemand erfahren, dass mein Vater aus Madrid war.

Take Charlie Durante Sprecher 2: Nachdem die Grenze so lange zu war, hatten viele Angst rüber zu gehen: „Am Ende lassen sie mich nicht zurück und stecken mich in den Knast!“ Am zweiten oder dritten Tag nach der Öffnung sagte ich mir: „Was soll’s? Ich mach's jetzt einfach!“ Ich habe mir in La Línea ein Buch gekauft. Ich war ja wie ausgehungert nach spanischer Literatur. Jetzt haben wir sogar ein Haus in Spanien. Aber bei jedem kleinen Streit mit Großbritannien machten die Spanier Druck und ließen die Leute an der Grenze vier, fünf Stunden Schlange stehen.

Take Frage des Autors Sprecher 1: Neben der Frage, wie fühlt man sich als Gibraltarer?, ist natürlich auch die Frage interessant: wie wird man Gibraltarer?

Sprecher 2: (Giordano Durante) Indem man eine Gibraltarerin heiratet? (lachen) Ich glaube, man muss britischer Staatsbürger sein und lange genug hier gelebt haben. Und dann musst du auf die Liste der Gibraltarer kommen.

Sprecher 2: Das ist wichtig, auf der Liste zu sein wegen des Anrechts auf Wohnung und Sozialleistungen … mein gibraltarischer Ausweis öffnet hier viele Türen. Die EU-

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Sterne oben in der Ecke werden wohl verschwinden, wenn wir nicht mehr dazugehören.

Take Giordano Durante Sprecher 2: Am Wochenende war ich in Spanien am Strand. Abends haben wir natürlich die Miss Gibraltar Show gesehen. Wir sind keine Fans und haben uns ein bisschen drüber lustig gemacht. Aber wenn du mitreden willst, muss du es gesehen haben.

Take Giordano Durante Sprecher 2: Man kennt den Moderator und vielleicht sogar einige Teilnehmerinnen. Das ist Gesprächsthema: In Gibraltar kannst du jeden fragen: „Wo warst du, als Kaiane Aldorino Miss World wurde?“ Natürlich haben wir alle vor dem Bildschirm mitgefiebert und bei Bier und Chips zugeschaut, wie sie gekrönt wurde.

Atmo TV-Misswahl und Musik ... Now comes the moment, we all waited for: Miss Gibraltar 2017 is... contestant number five: Jodie Garcia....

Absage: Geschichten vom Rande Europas Gibraltar und der Brexit Ein Feature von Fritz Schütte Die Sprecher waren: Johannes Wördemann, Sonja Dengler, Christian Klischat Ton und Technik: Wolfgang Rein und Andrea Greß Regie: Ulrich Lampen Redaktion: Wolfram Wessels Produktion: Südwestrundfunk 2017

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