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SÜDWESTRUNDFUNK SWR2 Wissen – Manuskriptdienst

Die Erfindung der Deutschen 2000 Jahre Varusschlacht und ihre Folgen

Autor: Gregor Papsch Regie: Tobias Krebs Redaktion: Udo Zindel Erst-Sendung: Freitag, 15. Mai 2009, 8.30 Uhr, SWR 2 Wiederholung (aktualisierte Fassung): Freitag, 24. September 2010, SWR 2

Besetzung: Sprecher (Autor) Sprecher (Zitator) Ansager

Atmo: Kanonendonner, Menschenmenge unter freiem Himmel

Autor: Im Sommer des Jahres 1875 versammelten sich auf einer Anhöhe nahe Detmold 30.000 Schaulustige. Sie starrten gebannt auf einen riesigen Koloss, der sich auf 2 einer Lichtung 54 Meter hoch in den Himmel hob: ein behelmter Krieger, 237 Zentner schwer, den Blick streng nach Südwesten auf das vor kurzem besiegte Frankreich gerichtet. Eine triumphale Geste. Die Inschrift auf dem sieben Meter langen Schwert in seiner Rechten lautet: „Deutsche Einigkeit, meine Stärke. Meine Stärke, Deutschlands Macht“.

Ansager: Die Erfindung der Deutschen: 2000 Jahre Varusschlacht und ihre Folgen. Eine Sendung von Gregor Papsch.

Autor: Kaiser Wilhelm I. war persönlich zur Einweihung des Hermannsdenkmals gekommen und hörte die Festrede des Detmolder Geheimrats Preuß, die zwar etwas lang, aber überaus patriotisch geriet:

Atmo: Musik „“ (Nationalhymne von Deutschland bis 1922)

Zitator: „Wir stehen wieder da, geehrt und gefürchtet im Rate der Völker, ihnen nicht bloß ein Volk der Denker und Dichter, sondern nun auch wehrbereit und waffengewaltig, ein Volk der selbstbewussten Tatkraft – und empfinden wird deren Wucht ein jeder, der es wagen sollte, uns ferner zu stören in dem Werke des Friedens, das wir nun vorhaben.“

Autor: Deutschland war seit vier Jahren geeint und die Deutschen fühlten sich stark. Zu verdanken war das in den Augen der meisten Zeitgenossen einem Mann, der seit fast zwei Jahrtausenden tot war: Hermann dem Cherusker. Am 16. August 1875, dem Tag der Denkmalseinweihung, stand er auf dem Gipfel seines Ruhms. Aus dem Germanenkrieger Arminius war der Held geworden, der Freiheitskämpfer und Vaterlandsverteidiger, der Bezwinger Frankreichs, das Symbol des jungen wilhelminischen Nationalverständnisses, kurz: ein nationaler Mythos.

Atmo: Musik „Als die Römer frech geworden“, Studentenlied von Josef Viktor von Scheffel, Strophe 13 (1876):

„Und zu Ehren der Geschichten tat ein Denkmal man errichten, Deutschlands Kraft und Einigkeit verkündet es jetzt weit und breit: „’Mögen sie nur kommen!’“

O-Ton – Tillmann Bendikowski: Der Mythos ist ein luftiges Gebilde.

Autor: Tillmann Bendikowski, Historiker aus Hamburg.

O-Ton – Tillmann Bendikowski: 3

Er hat gegenüber anderen Strukturen oder historischen Ereignissen den großen Vorteil, dass er extrem beweglich ist. Ein Mythos reagiert vergleichsweise schnell auf die Wünsche der Zeitgenossen. Ein Mythos verändert sich immer wieder über die Jahrzehnte und Jahrhunderte hinweg, ohne dass er sich im Kern wandelt. Der Hermannsmythos ist im Kern unverändert geblieben, wenn wir die zentralen Versatzstücke anschauen. Da haben wir den jugendlichen Helden (das taucht im 19. Jahrhundert genauso auf wie im Dritten Reich oder noch in der DDR). Wir haben den Akt der Befreiung, man muss sagen: den angeblichen Akt der Befreiung. Wir haben so semantisch-intellektuelle Versatzstücke wie den Verrat oder den Dolchstoß. Denken Sie an den Verrat Arminius’ an den Römern, und denken Sie daran, dass Arminius, so sagte schon Tacitus, im Felde unbesiegt blieb. Dass ein Arminius niemals die Germanen vereint hat und niemals eine Befreiung Germaniens vor Augen hatte, geht vor solchen Argumenten völlig verloren.

Autor: Was genau im Jahr 9 n. Chr. geschah, wird wohl immer im Dunkeln bleiben. Die Schlacht im Teutoburger Wald, der Sieg des Cheruskers Arminius über die Legionen des Varus, ist kaum dokumentiert. Die römischen Quellen schildern das Ereignis aus römischer Sicht, auf germanischer Seite fehlen schriftliche Zeugnisse ganz. Und es fehlt vor allem eins: der historische Ort. Das niedersächsische Kalkriese, Detmold und Haltern am See – gleich drei Regionen melden Ansprüche an, Schauplatz der Schlacht gewesen zu sein.

Trotz dieser dürftigen Quellenlage waren die Deutschen dem germanischen Heerführer seit jeher in einer seltsamen Liebe verbunden. Seine ruhmreiche Geschichte wurde immer dann bemüht, wenn es um die deutsche Identität ging. So wurde aus Arminius der Heer-Führer Hermann und schließlich der „erste Deutsche“.

O-Ton – Tillmann Bendikowski: Arminius oder besser gesagt: Hermann der Cherusker ist der treue Begleiter der deutschen Nationalgeschichte. Immer dann, wenn über die Jahrhunderte hinweg die Fragen von Freiheit und Einheit der Deutschen thematisiert wurden, war Hermann zur Stelle. Egal ob es gegen die deutsche Kleinstaaterei ging oder die Uneinigkeit der deutschen Fürsten oder ob gegen Feinde von außen, ob Türken oder Franzosen, immer berief man sich auf Hermann. Hermann begleitete die Diskussionen in allen Jahrhunderten seit dem 16. Jahrhundert und in allen politischen Systemen, sei es im Kaiserreich, in der Weimarer Republik, im Dritten Reich ebenso wie in der DDR. Das ist das Faszinierende an der Dehnbarkeit und der Ausgestaltbarkeit dieser Figur.

Autor: Der Historiker Tillmann Bendikowski unterscheidet deshalb zwischen der historischen Person des Arminius und dem erzählerischen Konstrukt Hermann, zwischen realer und erzählter Geschichte. So verstanden sei der Tag der Schlacht im Teutoburger Wald „der Tag, an dem Deutschland entstand“, so der provozierende Titel seines Buchs im Jubiläumsjahr:

O-Ton – Tillmann Bendikowski: Zunächst einmal zielt der Titel auf eine lang gepflegte Annahme in Deutschland. Die Vorstellung, die Varusschlacht stünde am Beginn der deutschen Geschichte, war nicht nur weit verbreitet, sondern ist immer noch weit verbreitet. Dagegen gilt es in diesem Jubiläumsjahr anzuschreiben. Wenn wir Deutschland als Erzählung 4 verstehen, als narratives, als erzählerisches Konstrukt, dann in der Tat steht am Beginn dieser Erzählung die Varusschlacht. Und nun geht es darum zu untersuchen, inwieweit die historischen Tatsachen wirklich so etwas wie ein Auftakt der deutschen Geschichte sind. Und da können wir natürlich sagen: Sie waren es nicht.

Autor: Wie konnte eine einzige Schlacht, die „Schlacht im Teutoburger Wald“, derart Einfluss auf die Geschichte der Deutschen nehmen? Und wann wurde der Mythos Hermann geboren?

Atmo: Musik: Capella della Torre „Ein frischer gsang“.

Autor: Etwas lapidar ließe sich behaupten, der Mythos Hermann sei einem Zufall geschuldet. Im Jahr 1515 las der Humanist Ulrich von Hutten bei einem Studienaufenthalt in Rom in den ersten Büchern der „Annalen“ des römischen Geschichtsschreibers Tacitus, die erst kurz zuvor wiederentdeckt worden waren. Er stieß auf Ungeheuerliches: Tacitus sprach von einem ‚Arminius’, der einst das Römische Reich besiegt habe.

O-Ton – Tillmann Bendikowski: Also eigentlich wäre die Begegnung eines Gelehrten wie Ulrich von Hutten mit diesen Schriften des Tacitus nichts Besonderes gewesen. Die besonderen Umstände waren die Zeit, in der die deutschen Gelehrten wie Ulrich von Hutten unter einer enormen kommunikativen Anklage litten: Die italienischen Humanisten und die Vertreter der römischen Kurie gaben sich genüsslich in einer demonstrativen Geringschätzung der Deutschen aus, d. h. sie pflegten ihre Annahme, nördlich der Alpen lebten noch immer hauptsächlich Barbaren. Das ist ein so massiver Vorwurf an die Intellektuellen deutscher Sprache, wie wir uns das heute kaum noch vorstellen können. Und in diesem Moment der Beschuldigung, der kulturellen Herabsetzung, stößt einer der führenden deutschsprachigen Intellektuellen auf die Beschreibung von Arminius als dem Befreier Germaniens. Just in diesem Moment ändert sich die Gegenwart und der Blick auf die Gegenwart, weil der Blick in die Vergangenheit eine nachhaltige Korrektur erfuhr. Jetzt hatte man alle Zutaten für ein nationales Idol.

Autor: Ulrich von Hutten war ein Schatz in die Hände gefallen. Prompt stellte er Arminius in eine Reihe mit den größten Feldherren der Antike. In von Huttens 1529 posthum veröffentlichtem Dialog „Arminius“ fordert der Cheruskerfürst von Alexander dem Großen, Hannibal oder Scipio das Recht auf Anerkennung ein:

Zitator: „Im Geist bin ich niemandem jemals untertan gewesen. Ich war immer auf Freiheit bedacht, denn ich habe nur im Sinn gehabt, wie ich dem Vaterland bei sich bietender Gelegenheit helfen könnte.

Autor: Hermann als erster deutscher Freiheitskämpfer! Das war der Beginn einer einzigartigen Karriere – und einer Geschichte der fortwährenden Vereinnahmung. 5

Deutschland suchte damals die Abgrenzung zu Italien und den Päpsten in Rom. Auch Martin Luther machte aus seiner Bewunderung für Hermann keinen Hehl:

Zitator: „Wenn ich ein Poet wär, so wolt ich den celebriren. Ich hab in von hertzen lib.“

Autor: So wurde Hermann zum Protestanten und damit zum Vorbild für die Befreiung von der römisch-klerikalen Bevormundung.

O-Ton – Tillmann Bendikowski: Und wir sehen an diesem Punkt sehr deutlich diesen Reflex deutschsprachiger Intellektueller auf die römischen, auf die italienischen Vorwürfe, diese Geringschätzung der Deutschen. D. h. an der Wiege des deutschen Nationalgefühls steht der Spott, der aus dem Süden kommt.

Atmo: Musik: Georg Friedrich Händel, Ouvertüre zur Oper „Arminio“.

Autor: Eine Flut von Bearbeitungen des „Arminius-Stoffes“ machte die Runde. Die gesamte deutsche Geisteselite – von Schlegel über Klopstock bis Hölderlin und Goethe nahm engagiert Anteil am Schicksal des „ersten Deutschen“ und schuf Dramen, Gedichte und Lieder.

Die Oper „Arminio“ von Georg Friedrich Händel ist dafür beispielhaft: Geschichte wurde zum Libretto. Dessen Inhalt hatte dabei kaum mehr etwas mit dem historischen Ereignis zu tun. Die Liebe des Arminius zu seiner Frau Thusnelda übertönte alles Kampfgeschrei. Allein im 18. Jahrhundert entstanden 37 Opern, in denen der Heldentenor Arminio seine Arien nun auch auf Deutsch schmetterte.

Atmo: Kanonendonner / historische Schlacht

Autor: Das änderte sich im 19. Jahrhundert radikal. Unter dem Eindruck der napoleonischen Feldzüge wurde Arminius zum Symbol für den Kampf um die Freiheit und gegen den „Erzfeind“ Frankreich.

Zitator: „Noch will kein Hermann uns erstehen, noch winkt kein Retter mit dem Schwerte, der Lüge bunte Fahnen wehn, und Frevler folgen ihrer Fährte.“

Autor: ... schrieb Ernst Moritz Arndt 1813. Einen weitaus schärferen Ton schlug Heinrich von Kleist in seinem 1808 verfassten Drama „Die Hermannsschlacht“ an. Das Stück war ganz auf die Gegenwart bezogen und in seinem aggressiven Ton offen gegen Frankreich gerichtet. Gegen die Römer (also die Franzosen) erhoben sich die Cherusker (also die Preußen) gemeinsam mit den Sueben (den Österreichern). Mit 6

List und Tücke verteidigt Hermann das deutsche Vaterland gegen den Erzfeind jenseits des Rheins.

Zitator: „Uns bleibt der Rhein noch schleunig zu ereilen, damit vorerst der Römer keiner von der heilgem Grund entschlüpfe: und dann – nach Rom selbst mutig aufzubrechen!

O-Ton – Tillmann Bendikowski: Heinrich von Kleists „Hermannsschlacht“ ist ein Paradebeispiel für eine literarische Auseinandersetzung mit diesem Mythos. Kleist hat selber die historische Situation erlebt, die napoleonische Besetzung Deutschlands, und seine Aktualisierung des historischen Stoffes, also das antike Kampfgeschehen und die antiken Helden, hat er genommen, um sie in seine Gegenwart und als politisches Instrument einzusetzen. Das ist das Paradebeispiel für einen geschichtspolitischen Zugriff auf die Vergangenheit. Interessant bei Kleist und seiner „Hermannsschlacht“ ist aber eben darüber hinaus, dass die Generation nach ihm immer wieder zu seiner „Hermannsschlacht“ griffen, wenn sie den Hermannsmythos in ihrer Zeit wieder neu politisch deuten wollten. Das reicht bis hinein in die 1950er Jahre, als Kleist und die „Hermannsschlacht“ in der DDR aufgeführt wurde, lange bevor das in Westdeutschland überhaupt möglich war.

Autor: Kleists „Hermannsschlacht“ wurde Vorbild für zahlreiche weitere Bearbeitungen des Stoffs. Deren künstlerisches Niveau war jedoch oft derart bescheiden, dass es nur Häme provozierte. Heinrich Heine etwa spottete in seiner Harzreise:

Zitator: „... Wie er mir vertraute, arbeitete er an einem Nationalheldengedicht zur Verherrlichung Hermanns und der Hermannsschlacht. Ich machte ihn darauf aufmerksam, dass er die Sümpfe und Knüppelwege des Teutoburger Waldes sehr onomatopöisch durch wässrige Verse andeuten könnte und dass es eine patriotische Feinheit wäre, wenn er den Varus und die übrigen Römer lauter Unsinn sprechen ließe. Ich hoffe, dieser Kunstgriff wird ihm, ebenso erfolgreich wie anderen Dichtern, bis zur erdenklichsten Illusion gelingen.“

Autor: Bekannter und bissiger noch sind Heines zynische Verse aus „Deutschland. Ein Wintermärchen“:

Zitator: „... Das ist der Teutoburger Wald, den Tacitus beschrieben, das ist der klassische Morast, wo Varus steckengeblieben. Hier schlug ihn der Cheruskerfürst, der Hermann, der edle Recke; die deutsche Nationalität, sie siegte in diesem Drecke. ...“

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Autor: Bei allem Spott: der allgemeinen Begeisterung für Hermann den Cherusker war nicht beizukommen. Im Gegenteil. Es schien an der Zeit, dem Idol ein Denkmal zu setzen. Der Eigenbrötler Ernst von Bandel, ein Bildhauer aus Franken, hatte dafür quasi im Alleingang die Pläne entworfen. Fortan machte er sich „sein“ Hermannsdenkmal zur Lebensaufgabe.

Zitator: „Es war der Sommer 1836 schon fast verstrichen, da nahm ich meinen alten Reisegefährten, meinen Rucksack, auf den Rücken, um in den Teutoburger Wald zu wandern und mir eine Stelle zu suchen, auf der ich mein Wollen endlich zum Vollbringen führen könnte.“

Autor: Die Baugeschichte des Denkmals zog sich jedoch über mehr als 40 Jahre hin. Anfangs lief alles wie geplant. In der allgemeinen Euphorie gründeten sich unzählige Denkmalvereine, die auch für die nötigen Spenden sorgten. Der Sockel wurde fertig, doch dann ließ die Spendenbereitschaft nach, und die Bauarbeiten kamen jahrelang ganz zum Erliegen. Die meisten Denkmalvereine lösten sich auf. Erst mit der Reichsgründung 1871 nahm das Projekt wieder Fahrt auf, über das Karl Marx bereits gespottet hatte:

Zitator: „Das Zeug wird ebenso langsam fertig wie Deutschland.“

Atmo: Musik: Richard Wagner: „

Autor: Letztlich waren es die Großspenden des preußischen Herrscherhauses Hohenzollern und des Reichstags, die 1875 die Einweihung des Hermannsdenkmals ermöglichten. Nun aber erfuhr der Koloss eine folgenschwere Umdeutung. Neben Arminius wurde nun der Kaiser selbst auf den Sockel gehoben, weil er als dessen würdiger Nachfolger gefeiert wurde. Das Cheruskerdenkmal wurde zum Siegesmal für Wilhelm I. Das „Berliner Tagblatt“ schrieb im August 1875:

Zitator: „Hermann der Cherusker war es, der einstmals jene abgewehrt, unser Kaiser ist es, der uns gegen diese vertheidigt. Armin und Wilhelm – und ob fast zwei Jahrtausende zwischen ihnen liegen, unser Volk sieht sie wie Brüder zusammenstehen und streiten für ein und dasselbe Heiligthum, das deutsche Vaterland.“

O-Ton – Tillmann Bendikowski: Hermann der Cherusker wurde zu einer drohenden Gestalt, mit der eine notorisch unsichere Nation immer wieder zur Attacke gegen innere und äußere Feinde blies. Das machte diese Figur so ‚wertvoll’ bei der Suche nach deutscher Identität, bei dem Ringen um Freiheit und Einigkeit. Hermann war eine Drohgebärde, die permanent eingesetzt wurde.“

Autor: 8

Elf Jahre nach der Einweihung des Hermannsdenkmals schenkte Frankreich den Vereinigten Staaten von Amerika eine riesige Statue, die seither die Ankommenden im Hafen von New York begrüßt. Die Freiheitsstatue ist offenkundig dem Hermannsdenkmal nachempfunden. Der Gestus ist übernommen, aber die Attribute sind andere. Anstelle des Schwerts hält die Frau eine leuchtende Flamme in den Himmel, nicht Abwehr, sondern das einladende Licht, eine ganz andere Vorstellung von Freiheit.

Auch im 20. Jahrhundert wurden Arminius immer wieder neue Kostüme angelegt. 1914, beim Ausbruch des Ersten Weltkriegs, spielte er noch einmal den Einpeitscher, als es wieder gegen Frankreich ging. In seinem „Aufruf an das deutsche Volk“ beschwor Kaiser Wilhelm II. die Einigkeit der Deutschen und nahm damit – wenn auch nur indirekt – Bezug auf den Vaterlandsverteidiger Arminius:

Atmo: Wilhelm II.: „Aufruf an das deutsche Volk“: „Um Sein oder Nichtsein unseres Reiches handelt es sich, das unsere Väter sich neu gründeten. Um Sein oder Nichtsein deutscher Macht und deutschen Wesens. Wir werden uns wehren bis zum letzten Hauch von Mann und Ross, Und wir werden diesen Kampf bestehen, auch gegen eine Welt von Feinden. Noch nie ward Deutschland überwunden, wenn es einig war. Vorwärts mit Gott, der mit uns sein wird, wie er mit den Vätern war.“

Autor: Selbst in der Niederlage fand sich in Hermann der Retter: Ludwig Fahrenkrog malt 1920 eine kniende Germania, in ihren gefesselten Händen trägt sie ein zerbrochenes Schwert. Hilfesuchend streckt sie es Arminius entgegen, der längst nur noch als Hermannsdenkmal gedacht werden konnte und auf der Anhöhe eines Berges erscheint: ein Golgatha, umrahmt von dichten Tannen. Die Ähnlichkeit zu Caspar David Friedrichs Gemälde „Kreuz im Gebirge“ ist nicht zu übersehen, aus dem Kreuz wird bei Fahrenkrog die Erlöserfigur Arminius. Natürlich versuchten auch die Nationalsozialisten, Arminius für ihre Zwecke einzuspannen. NS-Ideologen wie Alfred Rosenberg schufen die Ideologie einer Volksgemeinschaft, die auf einer reinen und unverfälschten Abstammung beruhte. Arminius, so lasen es die Schüler nach 1933 in den Geschichtsbüchern, habe einst „die Reinheit deutschen Bluts“ gerettet. Alles in allem konnten die Nazis mit Arminius aber nicht viel anfangen. Grund war nicht zuletzt auch die Achse Berlin-Rom. Als Benito Mussolini 1936 zum Staatsbesuch anreiste, wurde das Hermannsdenkmal aus dem offiziellen Besuchsprogramm gestrichen. 1945 wurde das Denkmal von Alliierten beschossen, damit schien auch der Mythos unrettbar beschädigt. Doch es kam anders, erklärt der Historiker Tillmann Bendikowski:

O-Ton – Tillmann Bendikowski: Das ist vielleicht das faszinierendste Kapitel in der Rezeptionsgeschichte. 1945, wenn man sich die Quellen anschaut: das zerschossene Hermannsdenkmal, alle deutschen nationale und nationalistischen Symbole liegen, häufig nicht nur sinnbildlich, am Boden. Da kann man eigentlich annehmen, dass Hermann der Cherusker als nationaler Held eigentlich tot ist. Erstaunlich, dass er nicht tot ist. Erstaunlich, dass es bald schon wieder heißt: in der DDR, basierend auf den Darstellungen von Friedrich Engels und Karl Marx, die sich über den „Befreier Germaniens“ geäußert haben, vor allem Friedrich Engels, der zunächst 9 mal die Befreiungstat herausgehoben hatte. Entscheidender aber noch, dass die sozialökonomischen Folgen dieser angeblichen Befreiungstat herausgestellt werden, indem das politische Moment, die angebliche Befreiung, mit der Sicherung der sozioökonomischen Lebensbedingungen von Germanen verquickt wird, da steigt Arminius zum sozialistischen Helden auf, nämlich zu einem revolutionären Überwinder der römischen Sklavenhaltergesellschaft. D. h. im Geschichtsunterricht der DDR wird Arminius zum Vorkämpfer gegen den Imperialismus auf deutschem Boden, und zumindest gedanklich trägt er eine Rote Fahne.

Atmo: Musik: Hanns Eisler, „Auferstanden aus Ruinen“

Autor: „Rom: das ist uns Amerika“ hieß es in der jungen DDR. Versuche in der Bundesrepublik, das Hermannsdenkmal 1950 noch einmal in ein „Mahnmal für die Wiedervereinigung“ umzufunktionieren, blieben erfolglos. Auch als aus zwei deutschen Staaten wieder einer wurde, blieb Hermann der Cherusker außen vor. Hat der Mythos seine Wirkkraft verloren? Tillmann Bendikowski ist vorsichtig:

O-Ton – Tillmann Bendikowski: Ich bin misstrauisch geworden gegenüber diesem Mythos Hermann dem Cherusker. Ich habe bei den Recherchen häufig geglaubt, er sei tot. Und wenn wir uns heute allzu laut freuen, dieser Mythos sei politisch endgültig tot, dann hoffe ich das auch, aber ich bin misstrauisch. Denn wir sehen durchaus Spuren dieses Mythos in unseren Köpfen, nicht nur bei einer älteren Generation, wir sehen auch im rechten, durchaus auch rechtsextremistischen Lager eine politische Wiederbelebung dieses Mythos mit extremistischen Vorzeichen. Ich bin misstrauisch, dass dieser Mythos nicht eines Tages zurückkommt, und deshalb ist die Auseinandersetzung mit diesem Mythos so unheimlich wichtig.

Autor: Dennoch: Als Identifikationsfigur für die Nation scheint Arminius nicht mehr zu taugen. Geblieben ist ein historisch-archäologisches Rätsel ohne jeden nationalen Mehrwert. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht heute die detektivische Suche nach dem Original-Schauplatz des Jahres neun. Historiker und Archäologen, aber auch engagierte Laien, Heimatforscher und Lokalpolitiker sind dabei die Protagonisten.

O-Ton – Tillmann Bendikowski: Heute gibt es viele Varusschlachten. Hier geht es nicht nur um Römer und Germanen, die gegeneinander kämpfen, sondern es geht um die unterschiedlichen Standorte, die für sich reklamieren, die historisch interessantesten Orte zu sein, entweder die tatsächlichen Schlachtorte oder die Museumsstandorte mit den besten Ausstellungen und den besten Exponaten. Es gibt so etwas wie einen Streit um die Vorherrschaft in dieser geschichtspolitischen Erzählung. Die Konkurrenz belebt allerdings das Geschäft. Die vielen kleinen Lokalforscher, Geschichtsvereine und die großen Museen ringen seit Jahren und Jahrzehnten um die Spitze. Und ich würde sagen, der lachende Dritte sind die Zuschauer. Wir profitieren von diesem Gerangel um den besten Platz und können die Ergebnisse genießen. Einige sind ein wenig lustig und können uns zum Schmunzeln anregen, andere bringen die Wissenschaft voran. Das heißt, Konkurrenz belebt hier das Geschäft. 10

Autor: Jüngst widmete der „Spiegel“ der Varusschlacht erneut eine Titelgeschichte, die These: Arminius fungiere heute als Verfechter der Regionen gegen den allgemeinen Globalisierungswahn. Arminius als Europa-Skeptiker. Für den Historiker Tillmann Bendikowski eine naive Verdrehung der Geschichte:

O-Ton – Tillmann Bendikowski: Arminius hat für die aktuelle politische Identität der Deutschen überhaupt keine Bedeutung. Wenn irgendjemand Bedeutung hat, dann Hermann, der Mythos. Ich würde in der Tat davon sprechen, dass die meisten Folgen dieses Hermanns-Mythos in der Tat negativ sind, weil dieser Mythos aggressiv war, weil er gegen diese Varusse von außen und innen gerichtet war, unterm Strich: das Negative und Aggressive überwiegt in der Betrachtung.“

Autor: Ein nationaler Mythos, der zuallererst nur Schaden angerichtet hat?

O-Ton – Tillmann Bendikowski: Nur an dieser Figur werden die eigenartige Züge der Deutschen Forderung nach Freiheit und Einigkeit erkennbar. Nur an Hermann, dem Cherusker, kann man erkennen, dass die Forderung nach Freiheit aggressiv gegen äußere Feinde gewendet war und die Forderung nach deutscher Einheit immer auch aggressiv gegen innere Feinde.

Musik: „Als die Römer frech geworden“ von Joseph Viktor von Scheffel (1876) „Weh, das war ein großes Morden, sie erschlugen die Kohorten, nur die römische Reiterkeit rettete sich noch ins Frei‘, denn sie war zu Pferde.“

Autor: 1999 hatte man dem Hermannsdenkmal ein riesiges Fußballtrikot übergezogen, um für eine Biersorte zu werben und ins Guinnessbuch der Rekorde zu kommen. Aus dem Mythos Hermann wird die Marke, wird der Werbeträger für alle nur denkbaren Produkte: „Schon Hermann schlug im Wesertal die Römer mit Salzgitterstahl“. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung befürchtet schon, der Rummel könnte die dringende geschichtspolitische Auseinandersetzung mit dem Thema überlagern oder sogar im Keim ersticken. Deutschland drohe die Geschichtsvergessenheit. Tillmann Bendikowski hält von solchen Befürchtungen wenig:

O-Ton – Tillmann Bendikowski: Erst in dem Moment, wo es keine Feiern, keine Ausstellungen, keine Berichterstattung gibt, wird es erst richtig schwer. Mir wäre unwohl, wenn wir über diese großen Themen der nationalen Identität nicht sprechen würden. Das historische Wissen kann nur dann erodieren, wenn geschwiegen wird.

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