Jelinek-Handbuch

Leben - Werk- Wirkung

Bearbeitet von Pia Janke

1. Auflage 2013. Buch. xiv, 433 S. Hardcover ISBN 978 3 476 02367 4 Format (B x L): 17 x 24,4 cm Gewicht: 945 g

Weitere Fachgebiete > Literatur, Sprache > Deutsche Literatur Zu Inhaltsverzeichnis

schnell und portofrei erhältlich bei

Die Online-Fachbuchhandlung beck-shop.de ist spezialisiert auf Fachbücher, insbesondere Recht, Steuern und Wirtschaft. Im Sortiment finden Sie alle Medien (Bücher, Zeitschriften, CDs, eBooks, etc.) aller Verlage. Ergänzt wird das Programm durch Services wie Neuerscheinungsdienst oder Zusammenstellungen von Büchern zu Sonderpreisen. Der Shop führt mehr als 8 Millionen Produkte. 00904_Jelinek_HB.indb I 08.05.13 15:03 27

Publikationsformen und Werküberlieferung

Seit 1967, dem Erscheinen ihres ersten Gedicht- wäre es, so vermittelt die Autorin von Zeit zu Zeit, bands Lisas Schatten, veröffentlicht das Produzierte – und mit und in ihm die Autorin ihre Werke in den verschiedensten Publikationsme- selbst – würde verschwinden. »Aber paradoxerweise dien: in Form von Büchern und Sammelbänden, in kann ich selbst nie etwas wegschmeißen«, schreibt Anthologien, Literatur- und Theaterzeitschriften, in Jelinek wiederum 2009, um jedoch, in Hinblick auf Ausstellungskatalogen, in politischen Periodika und das Internet, umgehend festzuhalten: »Da will ich Broschüren, in Ausgaben von Texten anderer Autor- rein und selber verschwinden. Folgerichtig wird von Innen und Sekundärliteraturwerken, in Programm- meiner Arbeit nichts übrigbleiben, sie muß ver- heften und Booklets, in Tages- und Wochenzeitun- schwinden, nur das, was schon da ist, darf dann blei- gen, auf Flugblättern, Plakaten und Postkarten, als ben. Alles darüber hinaus Gesammelte muß weg. So Bestandteil von Lichtzeilen und Installationen, aber fördere ich ein wenig die Unordnung.« (Jelinek 2009, auch, und manchmal ausschließlich, im Internet, auf S. 140) Dass die Eliminierung des eigenen Werkes ihrer eigenen Homepage und auf anderen Seiten im auch den »Charakter spontaner und performativer Netz – und das alles nicht nur im deutschsprachigen Happenings, die gezielt mit dem Reiz der Nicht- Raum, sondern auch international (vgl. Janke 1; wiederholbarkeit spielen« (Kepplinger 2006), an- Janke 2012). Vor allem seit der Verleihung des Lite- nehmen kann, zeigt die Anweisung für einen Text zu raturnobelpreises (2004) gibt es vermehrt Texte der Gert Jonkes 60. Geburtstag, verfasst für eine Veran- Autorin, die ausschließlich in übersetzter Form ver- staltung des Wiener Akademietheaters 2006: Die öffentlicht werden (vgl. Janke 2012). SchauspielerInnen sollten den Text nach dem Verle- Die Überlieferung von Jelineks Werk ist also ein sen auf offener Bühne zerreißen (vgl. ebd.). komplexes Feld, um das es, versucht man das über- Sieht man von persönlichen Ambivalenzen, der aus umfangreiche Gesamtwerk der Autorin (vgl. an der Förderung von »Unordnung« und »ge- Janke 1; Janke 2012) aus der Perspektive der Philo- zielt autodestruktive[n] Autorinnenintentionen« logie zu überblicken, der es um eine möglichst ge- (ebd.) ab, so geben die Publikationsmedien, in de- naue Textsicherung geht, nicht zum Besten bestellt nen Jelineks Werke erschienen sind, nicht nur Aus- ist. Denn wächst das Werk der Autorin immer mehr kunft über die politischen und ästhetischen Kon- an und wird das Spektrum der Veröffentlichungs- texte, in denen die Autorin ihre Werke platziert, medien immer größer, so sind zugleich einige Werke über die verschiedenen Vermittlungsinstitutionen nicht oder nur schwer greifbar bzw. gar nicht veröf- (wie Verlage, Rundfunk- und Fernsehanstalten, Pro- fentlicht, so etwa Arbeiten, die über die reine Text- duktionsfirmen, Theater etc.), die für sie wichtig form hinausgehen – Jelineks Werk zeichnet sich ja sind, sondern auch über die Präsenz Jelineks im Li- durch den Umgang mit intermedialen Formen und teraturbetrieb und im öffentlichen Diskurs sowie durch die Zusammenarbeit mit KünstlerInnen un- über die Entwicklung ihrer Karriere als Schriftstelle- terschiedlicher Sparten aus. Andere Werke wie- rin und als Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. derum verschwinden nach kürzester Zeit wieder Jelineks erste Veröffentlichungen waren Gedichte, (z. B. von der Homepage der Autorin) oder aber sind die 1967 in drei schmalen Bänden in Verlagen in mit unterschiedlichen Titeln in verschiedenen Pub- München (Relief-Verlag-Eilers) und Wien (edition likationsmedien veröffentlicht, sodass auch bei avantypidy) und zwischen 1967 und 1970 in Litera- Mehrfachabdrucken desselben Textes eine Orientie- turzeitschriften (aspekte, protokolle, literatur und kri- rung schwierig ist. tik, Wort und Wahrheit) erschienen. Danach veröf- Jelinek hat sich selbst in ihrem Schreiben als fentlichte die Autorin nur noch wenige und aus- »Triebtäterin« (Carp) bezeichnet, die in einer »Art schließlich anlassbezogene Gedichte, die in den Rage« (Müller 2004) ihre Texte verfassen würde. Das jeweiligen Kontexten publiziert wurden (etwa das energiegeladene Sich-Verschwenden im permanen- Gedicht Die süße Sprache in der Anthologie Betrof- ten Produzieren riesiger Textmengen scheint dabei fensein. Texte zu Kärnten im Herbst 1980 oder ein gekoppelt zu sein an ein völliges Desinteresse, was Gedicht für die Aktion Literaturhaus bringt Poesie in mit diesen Texten in der Folge passiert. Am besten die Stadt aus Anlass der WM 2006 für eine Post-

00904_Jelinek_HB.indb 27 08.05.13 15:03 28 I. Leben und Öffentlichkeit

karte) (vgl. Janke 1, S. 35–37; Janke 2012). Trotz Jeli- der West-, der Süddeutsche und der Bayerische neks späterer Distanzierung von ihren Anfängen als Rundfunk, manchmal auch in Kooperation mitein- Lyrikerin (vgl. Jelinek 2007) kamen bis ins Jahr 2000 ander), die Jelineks Hörspiele zwischen 1972 und unter dem Titel ende drei Gedichtbände in verschie- 1987, also in der Zeit, in der Jelinek Texte dieser Art denen Verlagen heraus, wobei der letzte Band ein als Auftragswerke für Sender schrieb, produzierten Book on Demand in der Lyrikedition 2000 der (vgl. Janke 1, S. 132–164). In Österreich gab es in Münchner Buch & Media Verlagsgesellschaft war dieser Zeit nur eine einzige Rundfunk-Nachproduk- (vgl. Janke 1, S. 26–30). tion, und zwar des Hörspiels wenn die sonne sinkt ist Ihre Romane veröffentlichte Jelinek ab 1970 im für manche auch noch büroschluß im Jahr 1975 vom Rowohlt Verlag (der erste hier publizierte Roman ORF-Vorarlberg (vgl. ebd., S. 136). Auch nach dem war wir sind lockvögel baby! , der letzte Gier im Jahr Nobelpreis hat sich an dieser Situation nichts geän- 2000), der zuvor Jelineks erste größere Prosaarbeit dert: Hörspielbearbeitungen von Jelineks Theater- bukolit, aus dem bereits 1967 Teilabdrucke in ande- texten und Romanen, wie das auditive Großprojekt ren Zusammenhängen erschienen waren (vgl. Janke einer Hörfassung von Neid, werden seit 2004/05 lau- 1, S. 46), abgelehnt hatte. Erst 1979 wurde der Ro- fend in Deutschland, und zwar vom Bayerischen man im Wiener Rhombus Verlag veröffentlicht. Rundfunk, produziert, teilweise auch als Download 2005, nach dem Nobelpreis, kam bukolit als Ta- zur Verfügung gestellt und als Audio-CD herausge- schenbuch im Berlin Verlag heraus. Delf Schmidt, bracht. Seit dem Nobelpreis kommen auch verstärkt Jelineks langjähriger Lektor beim Rowohlt Verlag, international Audiobooks und Nachproduktionen war aufgrund von Umstrukturierungen zu diesem von Hörspielen heraus (vgl. Janke 2012). Verlag gewechselt, und Jelinek folgte ihm mit vier Auch Jelineks Theatertexte wurden, nach der Ur- Sammelbänden von Theaterstücken (Macht nichts, aufführung von Was geschah, nachdem Nora ihren 2000; Das Lebewohl, 2000; In den Alpen, 2002; Der Mann verlassen hatte 1979 beim steirischen herbst, Tod und das Mädchen I–V, 2003), veröffentlichte zunächst nicht von österreichischen, sondern von aber seit 2004, ab dem Band , wieder deutschen Bühnen uraufgeführt, in den 1980er Jah- Buchausgaben ihrer Theatertexte im Rowohlt Ver- ren vor allem vom Schauspiel Bonn. Erst ab 1992 gab lag. Ihren bislang letzten Roman Neid (2007/08) es in der Intendanz von Claus Peymann – nach meh- publizierte Jelinek hingegen ausschließlich auf ihrer reren österreichischen Erstaufführungen von Stü- Homepage. Der Rowohlt Theater Verlag übernahm cken am Wiener Volkstheater in der Intendanz von ab 1999 die rechtliche Vertretung von Jelineks Thea- Emmy Werner – Uraufführungen von Jelineks Thea- tertexten vom Verlag Ute Nyssen & J. Bansemer, der tertexten am Wiener Burgtheater, wo bis 2006/07 die Autorin, über Vermittlung von Wilhelm Zobl, auch der Schwerpunkt von Jelinek-Uraufführungen seit dem ersten Stück Was geschah, nachdem Nora lag, mit einigen Ausnahmen, die zum Teil auf Jeli- ihren Mann verlassen hatte betreut hatte und 1999 neks Aufführungsverbote für Österreich (1995–97 aus gesundheitlichen Gründen die operativen Ge- und 2000–03) zurückzuführen sind (vgl. Janke 1, schäfte des Verlags einstellen musste (vgl. Ute Nys- S. 80–131; Janke 2012). Abhängig von bestimmten sen: Mail an die Verf., 16.7.2012). Im Gegensatz zu IntendantInnen, RegisseurInnen und DramaturgIn- Jelineks Romanen wurden ihre Theatertexte bis 1999 nen wechselte Jelinek mit ihren Stücken zwischen als Einzelausgaben und Sammelbände neben dem Theatern und war von 2006 bis 2012 mit Urauffüh- Rowohlt Verlag auch in anderen Verlagen publiziert, rungen an mehreren Häusern zugleich präsent so z. B. im Prometh Verlag, bei Suhrkamp und Steidl, (Münchner Kammerspiele, Schauspiel Köln, Schau- wobei die Erstveröffentlichungen dieser Texte zuvor spielhaus Zürich, Thalia Theater Hamburg). Seit oft als Teil- oder Gesamtabdrucke in Literatur- und 2011 werden ihre Stücke wieder verstärkt in Öster- Theaterzeitschriften (u. a. in manuskripte und Thea- reich aufgeführt (vgl. Janke 2012). ter heute) oder in Programmheften der Urauffüh- Von Anfang an wurden Jelineks Theatertexte, be- rungstheater erschienen waren (vgl. Janke 1, S. 77– treut vom Verlag Ute Nyssen & J. Bansemer, der 108). »den damaligen Off-Bühnen« absagte, »um die Prä- Wie viele andere österreichische AutorInnen senz zu steuern« (Ute Nyssen : Mail an die Verf., brachte auch Jelinek die meisten ihrer Buchpublika- 16.7.2012), an großen, etablierten Bühnen und bei tionen nicht in österreichischen, sondern in deut- renommierten Festivals (z. B. bei den Salzburger schen Verlagen heraus. Es waren auch fast aus- Festspielen) uraufgeführt und nachgespielt. Die Stü- schließlich deutsche Radiosender (wie der Nord-, cke der sozial engagierten Autorin, die mit ihren

00904_Jelinek_HB.indb 28 08.05.13 15:03 Publikationsformen und Werküberlieferung 29

Texten den von der Gesellschaft Ausgegrenzten eine deutschsprachigen europäischen und außereuro- Stimme geben will (vgl. Carp), dürfen fast aus- päischen Raum, für internationale Anthologien, schließlich nur an Stadt- und Staatstheatern gezeigt Literaturzeitschriften, Zeitungen und, als Vor- oder werden. Auch der Rowohlt Theater Verlag vertritt Nachworte, für Ausgaben von Werken anderer dieselbe Politik gegenüber Off-Theatern und Freien Autor Innen (vgl. Janke 2012). Gruppen. Die Uraufführungen der Opern, zu denen An der stetig steigenden Zahl an Nachdrucken, Jelinek die Libretti schrieb, fanden ebenfalls zumeist Vor- und Teilabdrucken nicht nur der Essays, son- bei größeren Festivals (Wiener Festwochen, steiri- dern auch der Prosaarbeiten und Theatertexte, lässt scher herbst) statt (vgl. Janke 1, S. 184–193). sich die Entwicklung von Jelineks Karriere gut able- Konkrete Entstehungszusammenhänge wie poli- sen. Seit der Veröffentlichung des skandalisierten tische Ereignisse, gesellschaftliche Vorkommnisse, Romans Lust (1989), in dessen Umfeld die Autorin Skandale und Katastrophen, sind typisch für Jelineks auch als Person groß in den Medien präsent war, Werke. Zumeist gibt es einen bestimmten Impuls, werden Jelinek-Texte in Ausschnitten verstärkt nicht der zum Schreiben führt, und die Anlässe werden li- mehr nur in Literatur- und Theaterzeitschriften, terarisch verarbeitet. Viele von Jelineks Werken ent- sondern auch in – vor allem österreichischen – Wo- standen darüber hinaus in Zusammenarbeit mit an- chen- und Tageszeitungen (Falter, profil, Format, deren KünstlerInnen (Drehbücher, Libretti, Texte Der Standard, Die Presse) veröffentlicht sowie in für Projektionen und Installationen). Auch Inten- Boulevard-Medien, hier oft kombiniert mit spekta- dantInnen und RegisseurInnen schlugen Stoffe für kulär aufgemachten Porträts und Interviews (z. B. in Theatertexte vor, einige Werke waren Auftragsarbei- basta, Wiener und, dominant von 1993 bis 2008, in ten für bestimmte Häuser und Publikationsmedien. News). Veröffentlicht Jelinek also ihre Bücher primär Diese Kontexte bestimmen oft auch die Publikati- in Deutschland, so ist sie im printmedialen Diskurs, onsformen der Arbeiten. Das gilt besonders für Jeli- mit einigen punktuellen Ausnahmen (u. a. publi- neks Kurzprosa und für ihre Essays. zierte sie Essays in der taz, in Die Zeit und der Süd- Der Schwerpunkt der Entstehung der Kurzprosa- deutschen Zeitung) vor allem in Österreich präsent. texte liegt in den 1970er Jahren, also in der Zeit von Ließ sich Jelinek bis Mitte der 1980er Jahre politisch Jelineks allmählicher Etablierung im Literaturbe- in der österreichischen Öffentlichkeit zumeist von trieb, in der sie zahlreiche Texte, auch Übersetzun- Medien der KPÖ (wie der Volksstimme) lancieren, so gen, als Auftragswerke für Zeitschriften und Antho- ist sie seit Ende der 1980er, Anfang der 1990er Jahre logien verfasste oder Beiträge veröffentlichte, die mit politischen essayistischen Texten in den großen den zeitgleich entstandenen Romanen und Hör- österreichischen Tages- und Wochenzeitungen prä- spielen verwandt sind. Die Themenbereiche der An- sent, wobei diese Präsenz ab 2002/03 wieder ab- thologien, die in deren Titeln und Untertiteln auf- nahm (vgl. Janke 1; Janke 2012). scheinen, geben so auch die inhaltliche Ausrichtung 2003, also noch vor dem Nobelpreis, richtete die dieser Jelinek-Texte an: science&fiction, Horrorge- Autorin auf ihrer Homepage die Rubrik Notizen ein, schichten, Schriftsteller schreiben für Kinder, Mäd- in der sie nun exklusiv, also nur noch hier und nir- chenbuch auch für Jungen, Die Außerirdischen sind gends mehr sonst, politische Essays veröffentlichen da etc. (vgl. Janke 1, S. 63–76). Neben diesen Antho- wollte. Dass trotz des medial annoncierten Rückzugs logien waren es Literaturzeitschriften (u. a. manu- in den virtuellen Raum (»Das ist mein Ausweg: das skripte) oder die feministische Zeitschrift Die Internet.« (Huber-Lang 2004)) immer wieder Texte Schwarze Botin (bei der Jelinek von 1976 bis 1987 dieser Rubrik in Printform nachgedruckt werden mitarbeitete), für die sie Kurzprosatexte verfasste. (vgl. Janke 2012), gehört zu den Ambivalenzen von Bis heute schreibt Jelinek Essays, und zwar lau- Jelineks Publikationsstrategien. fend. Bislang sind es – fast unüberblickbar – mehr Für Veröffentlichungen nutzt Jelinek ihre Home- als 500 (vgl. Janke 1, S. 199–288; Janke 2012), größ- page seit 1996. Sie, die bereits seit 1985 per Compu- tenteils anlassbezogene Texte für die unterschied- ter schreibt, war eine der ersten AutorInnen, die on- lichsten Publikationsmedien. In bestimmten Zeit- line gingen. Seither baut sie ihre Homepage, die schriften werden immer wieder essayistische Texte technisch von ihrem Mann betreut wird, sukzessive Jelineks abgedruckt (z. B. in manuskripte, Theater aus (vgl. Ghoneim 2008, S. 124–145) und macht auf heute, seit 2000 auch in Theater der Zeit und in Das diese Weise laufend eigene (aber bei weitem nicht jüdische Echo), die meisten Essays erscheinen jedoch alle) und ausgewählte fremde Texte, geordnet nach weit verstreut, seit dem Nobelpreis auch im nicht- Kategorien und oft kombiniert mit Abbildungen,

00904_Jelinek_HB.indb 29 08.05.13 15:03 30 I. Leben und Öffentlichkeit

weltweit verfügbar. Wie Gernot Hausar ausführte, manche jedoch nur für kurze Zeit, wie z. B. der Thea- nimmt diese Homepage sowohl in der »Art der Prä- tertext Ulrike Maria Stuart für zwei Tage. Dass auf sentation als auch in der Struktur« kaum auf »die Ei- der Startseite der Homepage http://www.elfriedejeli- genheiten des Internets Rücksicht« (Hausar 2007), nek.com aktuell der Satz: »Sämtliche hier wiederge- verzichtet auf interaktive Elemente und weitgehend gebenen Texte sind urheberrechtlich geschützt und auf das Einbinden audiovisueller Medien. »Es wird dürfen ohne ausdrückliche Erlaubnis in keiner Form hier vor allem die Möglichkeit medialer Präsenz wiedergegeben oder zitiert werden.«, der rechtlich ohne großen Aufwand für Vermittlung und Dis- nicht haltbar ist – in wissenschaftlichen Arbeiten tribution genützt.« (Ghoneim 2008, S. 131–132), darf sehr wohl aus auf Homepages veröffentlichten schrieb Andrea Ghoneim über die Funktion dieser Texten zitiert werden –, gleich zweimal aufscheint, Homepage. Dieses »statische« Zugänglichmachen zeigt den Versuch, ein freies Zirkulieren der Texte der Texte (vgl. Hausar 2007) soll, so Jelinek, zugleich über die Homepage hinaus möglichst zu unterbin- ein »flüchtiges« sein, die Autorin begründet ihre den. Vorliebe für das Publizieren im Internet auch mit Editionsgeschichtlich betrachtet gibt es von Jeli- der Absicht, das Geschriebene jederzeit wieder ent- neks Texten bislang keine Werkausgabe, auch keine fernen zu können (vgl. Griehsel 2004). Gesamtausgabe bestimmter Gattungen wie z. B. Diese Haltung kulminierte 2007/08 in der Publi- Bände, die die bisher erschienenen Theaterstücke kation des Romans Neid ausschließlich auf der zusammenfassen würden, und es existiert von kei- Homepage, also quasi im Selbstverlag, 2011 ergänzt nem Werk eine kritische oder kommentierte Aus- um die Möglichkeiten, den Privatroman für PCs, Ta- gabe. »Kommentierungen« gibt es bislang bei eini- blets und Smartphones herunterzuladen. Jelinek, die gen Buchausgaben von Stücken nur in Form von sich vorbehielt, den Text jederzeit wieder aus dem Vor- oder Nachworten der Autorin selbst, der Verle- Netz zu nehmen und ihn laufend zu verändern (was gerin (Ute Nyssen), des Uraufführungsregisseurs jedoch, bis auf eine kleine Ausnahme, bislang nicht (Christoph Schlingensief), der Dramaturgin (Regine passierte), verweigerte sich damit, kurz nach dem Friedrich ) oder von Wissenschaftlerinnen (Bärbel Nobelpreis, wie Sabine Treude meint, den »verlegeri- Lücke , Evelyne Polt-Heinzl ) (vgl. Janke 1; Janke schen Reglements der Autorschaft, den gesellschafts- 2012). Ist Jelineks Werk also bislang philologisch, relevanten wie politischen Prinzipien der Archivie- z. B. mit Blick auf die Textgeschichte, auf Fortschrei- rung als auch dem Spektakel um die Person« (Treude bungen und verschiedene Fassungen oder in Form 2007). Die in einem Interview auf Neid bezogene von Zeilenkommentaren, in keiner Weise erschlos- Aussage der Autorin: »Das Internet ist aber eine an- sen, so gibt es hingegen von einigen Arbeiten optisch dere Form der Öffentlichkeit, denn die Öffentlichkeit aufwändig aufbereitete Sonderausgaben: Die 1993 im Netz ist virtuell. Wenn alle etwas lesen können, von Klaus Detjen gestaltete Ausgabe von Wolken. dann kann es eben auch keiner. Ich schreibe den Text, Heim. im Steidl Verlag z. B. interpretiert den Text aber gleichzeitig kann ich mich auch hinter ihm ver- mittels einer »typographischen Inszenierung« (Det- stecken, denn er ist ja sozusagen nicht-geschrieben.« jen 1993, unpag.), und der 1991 in der Wiener da- (Gropp 2007), kommentierte Jörg Pottbeckers als vid-presse herausgegebene Gedichtband ende er- »ambivalente, ja eigentlich widersprüchliche Hal- schien mit farbigen Holzschnitten von Linde Waber tung«: »In einem Text, der sozusagen nicht geschrie- in Form von 100 handnummerierten, von Jelinek ben wurde, lässt Jelinek mehr Privates einfließen, um und Waber handsignierten Exemplaren, gedruckt sich dann hinter dem nicht-geschriebenen Text zu mittels Handpresse. Vor allem nach dem Nobelpreis verstecken.« (Pottbeckers 2010), und wies in der boomten Spezialausgaben, Neuauflagen kamen Folge, auch in Bezug auf Jelineks Auto-Fiktionalisie- heraus, und mehrere Romane wurden als Hörbücher rung in diesem Roman, auf zwei Aspekte hin, die produziert (vgl. Janke 2012). man bei Jelinek eigentlich nie »außer Acht lassen« Existieren also von bestimmten Werken zwar sollte, auf »Selbstinszenierung und Spiel« (ebd.). Prachtausgaben und punktuelle Sonderausgaben, so Faktum ist, dass es immer mehr Texte gibt, die ist die Überlieferung von Jelineks Texten generell ausschließlich auf Jelineks Homepage erscheinen eher problematisch: mehrere Texte sind, über Biblio- (bei den übrigen Homepage-Texten handelt es sich theken und Archive hinaus, schlecht oder überhaupt um zusätzliche Veröffentlichungen von in Printform nicht erhältlich. Nur die Romane und ein paar Thea- erschienenen oder gerade erscheinenden Arbeiten), tertexte (wie z. B. Ein Sportstück oder Winterreise ) also nur dort – dafür aber weltweit – einsehbar sind, existieren in Form von leicht erhältlichen Buchaus-

00904_Jelinek_HB.indb 30 08.05.13 15:03 Publikationsformen und Werküberlieferung 31

gaben (Taschenbuchausgaben von Jelineks Roma- von Jelineks essayistischem Werk geben könnte, nen kommen seit Mitte der 1980er Jahre heraus), fehlt im deutschsprachigen Raum, und auf Jelineks aber schon die übrigen Theaterstücke, bei weitem Homepage findet sich, im Verhältnis zum essayisti- die Mehrzahl, sind entweder nur auf Jelineks Home- schen Gesamtwerk der Autorin, nur eine kleinere page oder als Abdrucke in Sammelbänden verfüg- Auswahl dieser Textsorte, wobei die Datierungen oft bar, bei denen nur teilweise eine sinnvolle, inhaltlich nicht das Entstehungsdatum meinen, sondern das motivierte Zusammenstellung erkennbar ist (vgl. Datum, an dem die Texte ins Netz gestellt wurden. z. B. Der Tod und das Mädchen I–V 2003). Bei Noch schlechter ist die Überlieferungslage bei Ar- manchen Bänden wurden künstlich Untertitel wie 3 beiten Jelineks, die in (musik-)theatralen oder inter- kl. Dramen appliziert, um eine Klammer herzustel- medialen Kontexten stehen: Von den 14 frühen Hör- len (vgl. Das Lebewohl 2000). Oft scheint man von spielen liegen neun nicht als Gesamtabdrucke in Verlagsseite zu warten, bis zwei oder drei neue Thea- Printform vor (vgl. Janke 1, S. 132–163), und nur ein tertexte zusammenkommen, um sie gemeinsam in einziges von ihnen (wenn die sonne sinkt ist für man- einem Sammelband herauszugeben, ohne dass es in- che auch noch büroschluß , 1972) ist damals – und haltliche Verbindungen zwischen ihnen gibt (vgl. längst vergriffen – als Tonkassette herausgekommen. Drei Theaterstücke 2009). Mehrere Stücke sind Von den vier Drehbüchern Jelineks sind drei nicht nur einmalig in Anthologien oder ausschließlich auf gedruckt (vgl. ebd., S. 168–175), und nur zwei der Jelineks Homepage veröffentlicht (z. B. Präsident Filme sind – nach dem Nobelpreis – als DVD heraus- Abendwind, Theatertexte für Christoph Schlingen- gekommen (Die Ausgesperrten , Malina). Der Zu- sief oder die neuesten Stücke) bzw. gar nicht publi- stand der Filmrolle von Was die Nacht spricht, eines ziert (Am Abfluß des Wörtersees, Uns bleibt nur der Films, von dem weder das Drehbuch gedruckt noch Strafrahmen). Ulrike Maria Stuart ist, bis auf die eine DVD im Handel erhältlich ist, war bei einer Vor- zweitägige Homepage-Veröffentlichung und zwei führung im Jahr 2006 so bedenklich, dass eine drin- Teilabdrucke (vgl. Janke 2012), bislang unpubliziert, gende Restaurierung diskutiert wurde. Von den fünf aufgrund drohender Klagen der Töchter von Ulrike Vaudeville-Übersetzungen (Feydeau, Labiche) wurde Meinhof (vgl. Elfriede Jelinek: Mail an die Verf., nur eine einzige (Die Affäre Rue de Lourcine) veröf- 17.7.2012). Eine Publikation dieses Textes ist für fentlicht, und zwar ausschließlich im Programmheft 2014 in Planung. der Uraufführung und in Theater heute (vgl. Janke 1, Ist also die Verfügbarkeit aller Jelinek-Stücke S. 301). Die neueren Dramen-Übersetzungen (Mar- nicht gegeben, so ist die Situation bei den übrigen lowe, Wilde) sind bislang nur punktuell in den Ur- Gattungen noch problematischer: Keiner der Ge- aufführungs-Programmheften publiziert worden dichtbände Jelineks ist zurzeit im Buchhandel er- (vgl. Janke 2012). Auch Jelineks Texte für Kompositi- hältlich, wobei keiner dieser Bände eine Gesamtaus- onen und Libretti sind nur einmalig in Programm- gabe darstellt. Es handelt sich hier um zum Teil heften oder Booklets abgedruckt worden (vgl. Janke voneinander abweichende Zusammenstellungen. 1, S. 181–198; Janke 2012), das Libretto zu Der tau- Weitere Gedichte erschienen unabhängig von ihnen sendjährige Posten ist ausschließlich auf Jelineks in Zeitschriften und Anthologien (vgl. Janke 1, Homepage einsehbar. Die Texte für Projektionen und S. 21–37). Gibt es auch von den Kurzprosatexten Installationen sind bislang über den Entstehungszu- über die Einzel-Abdrucke hinaus keine zusammen- sammenhang hinaus gar nicht veröffentlicht (vgl. führende Ausgabe, so ist die Situation bei den über Janke 1, S. 311–314; Janke 2012). 500 weit verstreut publizierten Essays noch viel Diese problematische Überlieferungssituation des schwieriger. Nur in Mexiko (2007), Russland (2010) Gesamtwerks beeinträchtigt und beeinflusst die Re- und Polen (2012) erschienen in Übersetzungen Aus- zeption von Jelineks Arbeiten. Einer breiten Öffent- wahlbände essayistischer Texte Jelineks sowie in Ka- lichkeit gilt Jelinek immer noch als Autorin, die pri- lifornien ein schmales Buch mit Jelineks Essays zu mär Romane und Theaterstücke, also die Werke, die Einar Schleef . Auf Deutsch, also in der Originalspra- am ehesten zugänglich sind, geschrieben hat. Auch che, existiert ausschließlich die Dokumentation Die die Schwedische Akademie hat in ihrer Nobelpreis- Nestbeschmutzerin (2002), die viele auf Österreich begründung ausschließlich auf Jelineks Romane und bezogene Essays in Gesamt- und Teilabdrucken ver- Dramen Bezug genommen (vgl. Die schwedische sammelt, sowie ein kleiner Band mit drei Texten Jeli- Akademie 2005, S. 19). In wissenschaftlichen Krei- neks zur Musik (vgl. Jelinek 2005). Eine größere sen sind die übrigen Werke zwar zumeist von ihren Publikation, die Einblicke in das gesamte Spektrum Titeln her bekannt, man hat sich mit ihnen bislang

00904_Jelinek_HB.indb 31 08.05.13 15:03 32 I. Leben und Öffentlichkeit

aber, auch aufgrund der schwierigen oder unmögli- Auch die bibliographische Erfassung der Werke chen Zugänglichkeit, nur ansatzweise auseinander- bereitet erhebliche Mühe. Bis zum Erscheinen des gesetzt, obwohl generell Forschungen zu intermedi- Werkverzeichnis Elfriede Jelinek (vgl. Janke 1) im alen Fragestellungen seit einigen Jahren boomen. Jahr 2004 gab es keine Dokumentation von Jelineks Von Seiten der Philologie und der Verlage gäbe es Arbeiten in Form von bibliographischen Angaben, also in Hinblick auf die Überlieferung des Werks von die das Gesamtwerk der Autorin umfassten und Österreichs einziger Literaturnobelpreisträgerin viel auch die Rezeption dokumentierten. Intention des zu tun. Zurzeit kann man weder von einer Verfüg- Werkverzeichnis Elfriede Jelinek war es, Jelineks Werk barkeit des bisherigen Gesamtwerks in Form von in Form einer kommentierten bibliographischen leicht zugänglichen Abdrucken sprechen noch von Gesamtbestandsaufnahme insofern zu »sichern«, als sorgfältig edierten und kommentierten Ausgaben es die Arbeiten auffindbar und dadurch einsehbar einzelner Werke oder Gesamteditionen bestimmter macht. Um auch die Werke, die nach 2004 entstan- Gattungen, geschweige denn von einer Aufarbeitung den sind und laufend entstehen, in dieser Form wei- unrealisierter Projekte, von Entwürfen, verschiede- ter zu »sichern«, ist eine Weiterführung dieser bib- nen Fassungen und Werkstufen. Dass es hier einiges liographischen Dokumentation nötig (vgl. Janke Interessantes zu entdecken und darzulegen gäbe, zei- 2012). Das mit dem Erscheinen dieses Werkver- gen die in verschiedenen Publikationen (vgl. vor al- zeichnisses in Wien gegründete Elfriede Jelinek-For- lem Janke 2, S. 12, 13, 68, 69, 161, 171) abgebildeten schungszentrum versucht mit seinem Archiv, die Typoskriptseiten von Werken wie etwa rotwäsche, Werke selbst, also Abdrucke und audiovisuelle Me- Ramsau am Dachstein , Burgtheater (alle drei noch dien, aber auch Materialien zur Rezeption und zu maschinschriftlich) oder Die Kinder der Toten (PC- Kontexten zu sammeln, um sie zusammenzuführen Ausdruck). Scheint es zwar generell von Jelinek we- und für die Forschung und alle Interessierten bereit- nige handschriftliche Entwürfe zu geben (vgl. als zustellen. Denn die Gefahr besteht, dass wesentliche Ausnahme die in Janke 2, S. 160 abgebildeten Noti- Bereiche von Jelineks Werk nicht nur nicht (mehr) zen zu Ramsau am Dachstein ), so sind die per greifbar sind, sondern sich immer mehr verflüchti- Schreibmaschine oder handschriftlich vorgenomme- gen – und verloren gehen. nen Korrekturen der Autorin oder Kommentare ih- res Lektors, die auf diesen Typoskriptseiten zu sehen sind, aufschlussreich für die Überarbeitungsvor- Literatur gänge und für die Textgenese. Jelinek selbst hat die Carp – Detjen, Klaus: Nachbemerkung. In: Jelinek, El- Hoffnung der PhilologInnen auf Erkenntnisse dieser friede: Wolken.Heim. Göttingen: Steidl 1993 (= Typogra- Art bereits gedämpft: Hinterlegt sie laut Bärbel Lücke phische Bibliothek 1), unpag. – Die schwedische Akade- im letzten Teil-Kapitel ihres auf ihrer Homepage mie: Begründung des Nobelpreises. Pressemitteilung vom publizierten Romans Neid »öffentlich ihr dichteri- 7.10.2004. In: Janke, Pia: Literaturnobelpreis. Elfriede Jeli- nek. Wien: Praesens Verlag 2005 (= DISKURSE.KON- sches privates Testament, das sie allerdings auch je- TEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-For- derzeit wieder ändern kann (dank des öffentlichen schungszentrums 1), S. 19. – Ghoneim, Andrea: Literari- Mediums Internet ohne weitere Folgen)« (Lücke sche Publikationsformen im World Wide Web. Wien, Diss. 2009, S. 188), indem sie von der Vernichtung ihrer 2008. – Griehsel, Marika: Elfriede Jelinek – Interview. In: Dichtung schreibt, die durch »Schreddern« und Zu- http://nobelprize.org/literature/laureates/2004/jelinek-in- terview_mail-ge.html (3.8.2012), datiert mit November sammenkleben zum Dämmstoff werden soll (vgl. NE 2004. – Gropp, Rose-Maria: Dieses Buch ist kein Buch. In: 5g), so hat die Autorin, wie Lücke in einer Fußnote Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.4.2007. – Hausar, Ger- durch Mails der Autorin von Juli 2007 belegt, »tat- not: Elektronisches Publizieren. In: http://www.univie.ac.at/ sächlich testamentarisch verfügt«, dass die »›Origi- jelinetz/index.php?title=Gernot_Hausar:_Elektronisches_ nale‹ ihrer Dichtung« (Lücke 2009, S. 188) geschred- Publizieren (3.8.2012), datiert mit 23.5.2007. – Huber- Lang, Wolfgang: »Ich habe das Gefühl, mich gibt es gar dert, also vernichtet werden sollen. nicht«. In: Kleine Zeitung, 2.12.2004. – Janke 1 – Janke 2 Zurzeit sind jedenfalls auch mehrere Abdrucke – Janke, Pia: Ergänzungslisten zu Janke 1. Unveröffentlich- dieser »Originale« nicht verfügbar, oder, im Falle tes Typoskript, 2012. – Jelinek, Elfriede: Ungebärdige Wege, von Hörspielen und Filmen, in Form von audiovisu- zu spätes Begehen. Die Zeit flieht. Salzburg: Text Editionen ellen Medien nicht greifbar. Wie Jelineks sich stän- 2005. – Jelinek, Elfriede: Meine Gedichte – nichts mehr da- von! In: Deckert, Renatus (Hg.): Das erste Buch. Frankfurt dig verändernde Homepage für die Zukunft archi- am Main: Suhrkamp 2007, S. 115–116. – Jelinek, Elfriede: viert werden soll, ist eine Frage, die noch nicht wirk- Gegen die Ordnung. Gegen die Bibliothek. In: Gastgeber, lich beantwortet scheint. Christian/Kann, Bettina/Sonnleitner, Elena/Werner, Mar-

00904_Jelinek_HB.indb 32 08.05.13 15:03 Publikationsformen und Werküberlieferung 33

got (Hg.): Change! Zukunft gestalten. Festschrift für Jo- Pottbeckers, Jörg: »Man soll den Text überhaupt nicht aus- hanna Rachinger. Wien: Phoibos Verlag 2009 (= Biblos- drucken«. Medialer Übergang und narratives Identitätsspiel Schriften 180), S. 140. – Kepplinger, Christoph: Ein Au- in Elfriede Jelineks Internetroman »Neid«. In: http://www. torInnenarchiv als lebendiges Gedächtnis: Das Elfriede Jeli- univie.ac.at/jelinetz/index.php?title=Jörg_Pottbeckers: nek-Forschungszentrum und seine Grundlagenforschung. In: _%22Man_soll_den_Text_überhaupt_nicht_ausdrucken%22. http://www.elfriede-jelinek-forschungszentrum.com/file _Medialer_Übergang_und_narratives_Identitätsspiel_in_ admin/user_upload/proj_ejfz/PDF-Downloads/Ein_Autor Elfriede_Jelineks_Internetroman_%22Neid %22 (3.8.2012), Innenarchiv.pdf (3.8.2012), datiert mit März 2006. – Ko- datiert mit 2010. – Treude, Sabine: Die Aufhebung und das berg/Mayer – Lücke, Bärbel: www.todsuende.com. Lesar- Archiv. Zur flüchtigen Präsentationsform von Jelineks »Neid«. ten zu Elfriede Jelineks »Neid«. Wien: Praesens Verlag 2009 In: http://www.univie.ac.at/jelinetz/indexphp?title=Sabine_ (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Treude:_Die_Aufhebung_und_das_Archiv (3.8.2012), datiert Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 5). – Müller, André: mit 19.5.2007. »Ich bin die Liebesmüllabfuhr«. In: profil, 29.11.2004. – Pia Janke, Teresa Kovacs

00904_Jelinek_HB.indb 33 08.05.13 15:03 36

Schreibtraditionen

Elfriede Jelineks Literatur ist von einem Duktus ge- (1970), in denen die Orientierung an der experi- kennzeichnet, dessen einzelne Elemente sie sich mentellen österreichischen Literatur nach 1945, also zwar schon sehr früh angeeignet, im Laufe der Zeit der Wiener Gruppe und ihrem Umfeld, deutlich jedoch auf idiosynkratische und komplexe Art und wird. Indizien dafür sind die Künstlichkeit der Spra- Weise kombiniert hat. Diese Elemente reichen zu- che (konsequente Kleinschreibung, fehlende Inter- rück in bestimmte Schreibtraditionen, die Jelinek punktion, die Auflösung der Syntax sowie der gram- deutlich als eine österreichische Autorin markieren. matikalischen wie orthografischen Regeln) und Ver- Im Folgenden wird der Versuch unternommen, die fahren der Konkreten Poesie (z. B. visuelle Poesie, wichtigsten Aspekte ihres Gesamtwerkes in diesen Listengedichte), wie sie etwa von Gerhard Rühm Schreibtraditionen zu kontextualisieren. oder Elfriede Gerstl verfasst wurde. In einem kurzen Text in memoriam Otto Breicha, Die Nähe zur internationalen Popliteratur der dem bedeutenden Mentor der österreichischen 1960er Jahre ist durch die zitierende Verwendung Nachkriegsliteratur, geht Jelinek an die Anfänge ih- von Elementen aus der (vorwiegend amerikani- res Schreibens zurück (vgl. Jelinek 2003). Sie erin- schen) Trivial- und Popkultur und Versatzstücken nert sich an den Kommentar des damaligen Leiters aus dem Bereich des Horrorfilms, der Comicwelt der Österreichischen Gesellschaft für Literatur und und der Trivialmythologie gegeben. Sind es anfangs Herausgebers der protokolle zu ihren frühen Gedich- noch Collagen, die im Nebeneinander der stilisti- ten, in dem er ihr zwar – mit der Nachahmung ex- schen Vielfalt an den Dadaismus erinnern (vgl. pressionistischer Lyrik, dem Einfluss von Stramm, BUK; Janz, S. 3), so werden sie bald schon von mon- Ehrenstein und Lasker-Schüler – eine gewisse Epi- tageartigen Aneinanderreihungen dieser heteroge- gonalität attestierte, zugleich aber auch ihr Talent nen Momente abgelöst, die jene Brüche herstellen, zum Schreiben anerkennen musste. »[…] einen ei- mit denen die durch Konsumgüter, Medien und Tri- genen Gebrauch von der Sprache zu machen« (ebd.), vialkultur geprägte Erfahrungswelt persifliert und das war einer der Ratschläge, den die junge Autorin kritisch kommentiert wird (vgl. MI). damals (1967) mit auf den Weg bekam, »daß alles da H. C. Artmann ist nicht nur als Förderer Jelineks, ist und man sich nehmen kann, was man will« sondern in diesem Zusammenhang auch als Orien- (ebd.), ein anderer. Auch H. C. Artmann nennt sie in tierungsgröße der jungen Autorin zu nennen, zu- diesem kurzen Text und erinnert sich an seine auf- mindest was seinen Umgang mit Trivialmythen be- munternden Worte. Von Anfang an ist Jelinek somit trifft (vgl. Artmann 1964). Dementsprechend sind eingebettet in ein wohlwollendes literarisches Um- die mythischen Figuren bei Jelinek nur Platzhalter feld, aber sie ist zugleich auch alleingelassen mit dem für wechselnde Identitäten, Merkmalbündel oder »Instrument« (ebd.) Sprache. Indem sie sich fortan pure Zitate aus der Populär- und Trivialliteratur mit bewussterer Geste literarischer Traditionen be- (vgl. Späth in Bartsch/Höfler; Müller-Dannhau- dient, sie reflektiert und schreibend ausstellt, bringt sen in Müller/Theodorsen); sie verweigern sich sie jenes »Neue« hervor, das Breicha von ihrer litera- der Konstruktion eines kohärenten Narrativs und rischen Produktion erwartet hatte. lassen aufkeimende Handlungsfragmente sofort ins Die ersten literarischen Äußerungen Jelineks, ihre Leere laufen. Ausschlaggebend für diese radikale Gedichte, sind noch vage an der literarischen Avant- Mythendestruktion dürfte nicht zuletzt die Lektüre garde bzw. experimentellen Literatur orientiert und von Roland Barthes ’ einflussreichem Text Mythen gehen in der Auswahl der Stilmittel eklektizistisch des Alltags (1957/1964) gewesen sein, die Jelinek in vor. Mit ihrer betonten Farb-, Natur- und Todessym- dem Essay Die endlose Unschuldigkeit (1970) verar- bolik lassen sie einerseits expressionistische Ein- beitet und schließlich auch in den Roman Michael. flüsse erkennen, beziehen sich zugleich aber auch Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft (1977) auf symbolistische, surrealistische und dadaistische einfließen lässt, in dem die Trivialmythen der Fern- Dichtung (vgl. EN; Janz, S. 1). sehserien demontiert werden. Ziel ist es, die Wir- Dies ändert sich mit den ersten Prosaarbeiten bu- kungsweise von Trivialmythen zu entlarven, die kolit (1968/1979) und wir sind lockvögel baby! u. a. darin besteht, soziale wie sexuelle Gewalt,

00904_Jelinek_HB.indb 36 08.05.13 15:03 Schreibtraditionen 37

Machtkonstellationen sowie deren Konstruiertheit vertiert. Einen diesbezüglichen Vorwurf eines Kolle- zu verschleiern. gen aufgreifend, hat sie deshalb ihre Theatertexte als Ein weiteres Element, das die Autorin mit der »Parasitärdrama« (Jelinek 2011) bezeichnet. Wiener Gruppe, insbesondere auch mit Konrad Die starke Intertextualität ihrer Dramen hat die Bayer, verbindet, ist die schonungslose Darstellung Autorin mit der neuen Textform des »Sekundärdra- von Gewalt, die Jelinek in frühen Texten wie bukolit mas« radikalisiert, ein Begleitdrama, das den Hin- (1979) ebenso thematisiert wie in dem Theaterstück tergrund zu einem Klassiker der Dramenliteratur Krankheit oder Moderne Frauen (1987), in dem bilden, ihn unter heutigen Gesichtspunkten ergän- weibliche Vampire auftreten, die ihre eigenen Kin- zen oder konterkarieren soll (vgl. AB (Sekundär- der verzehren. Mit dem Stück Präsident Abendwind drama zu Lessing s Nathan der Weise); FAU (Sekun- (1987) bezieht sie sich auf Nestroys Einakter Häupt- därdrama zu Goethe s Urfaust); Jelinek 2010). ling Abendwind oder Das gräuliche Festmahl (1862) Jelineks durchgängig spielerischer Umgang mit und zugleich auf H. C. Artmann , in dessen Literatur Sprache steht im Kontext einer österreichischen Tra- der Kannibalismus eine zentrale Rolle spielt und dition, die gemeinhin mit den Begriffen der Sprach- ebenfalls als Chiffre für die nationalsozialistischen kritik oder Sprachskepsis bezeichnet wird. Einer der Verbrechen gelesen werden kann. Dieser drastische frühesten Vertreter ist Johann Nepomuk Nestroy , Ausdruck von Gewalt erinnert an das Grand Gui- dessen sprachliches Verfahren Jelinek so beschreibt, gnol-Theater, das in Frankreich um 1900 als eine Art dass es durchaus auf ihr eigenes Schreiben bezogen schwarzes Boulevard-Theater fungierte und schon werden kann: »[…] er spielt sich (ja: sich!) mit der die Wiener Gruppe beeinflusst hatte. Mit seiner ma- Sprache, in die er sich einmal hineinbringt und dann kabren Lust an expliziten Gewaltdarstellungen be- wieder herausnimmt. Er zwängt sich hinein, gegnete dieses Theater des Entsetzens der Angst des schmeißt ein bissel mit den Worten und Sätzen he- Menschen vor Wahnsinn, Gewalt und Tod, hatte rum, dann läßt er sie wieder fallen, und dann sagen also noch einen kathartischen Anspruch. Jelinek hält sie ohne Umschweife: was los ist.« (Jelinek 2001) Je- sich hier an Nestroy , travestiert ernsthafte (mytholo- lineks Sprachspiel nimmt auch an Nestroys satiri- gische) Stoffe in eine Richtung, die weniger mit den schem Schreiben Anleihen und besteht in Wort- Ängsten des Publikums zu tun hat als mit aktuellen spielen und Anagrammen, diversen rhetorischen Zeitungsmeldungen, und entwickelt ihre Horror- Stilmitteln wie etwa Zeugma oder Anapher, in Wie- szenarien zu Burlesken weiter (vgl. Schenkermayr derholungen und in der Montage von Zitaten, in der 2008). Ihre Gewaltdarstellungen sind auch im Kon- Wirklichkeitskonstrukte kollidieren und zur Kennt- text des Wiener Aktionismus zu sehen, hinter dem lichkeit entstellt werden. Es ist eine Sprache, die in sich nicht nur ein lustvoller Gestus des Bürger- ihrer Selbstreferentialität ihre Voraussetzungen mit- schocks verbirgt, sondern auch die Energie der ver- denkt und sich selbst der Manipuliertheit überführt. drängten Faschismus-Erfahrungen. Auch hierin gibt es viele Berührungspunkte zur Kaum ein Text von Jelinek kommt ohne Danksa- Wiener Gruppe. Wie von Karl Kraus, so werden gungen an andere AutorInnen, literarische Werke auch von Jelinek die Missstände der Sprachverwen- oder inspirierende mediale Quellen aus, wodurch sie dung als Symptome für gesellschaftliche Miseren be- ihr Werk bewusst in einen intertextuellen Zusam- trachtet (vgl. Hoffmann in Bartsch/Höfler; Fliedl menhang stellt, bei dem sie Anleihen nimmt, von in Rétif/Sonnleitner). dem sie angeregt wird oder gegen den sie anschreibt, Jelineks Figuren sollen laut der Regieanweisung indem sie ihn ausschnittweise ausstellt (vgl. SI). Be- in Burgtheater eine Kunstsprache sprechen, die sich sonders auffällig ist dies in ihrem dramatischen an den Wiener Dialekt nur anlehnt (vgl. BUR, Werk, das sie vom ersten Theaterstück, Was geschah, S. 130), um zu verdeutlichen, dass ihre Sprache we- nachdem Nora ihren Mann verlassen hatte oder Stüt- der echt ist noch eine Ausdrucksfunktion hat. Das zen der Gesellschaften (1979), an explizit an Prätex- erinnert an Ödön von Horváths Kunstsprache, mit ten orientiert, die sie fortsetzt oder umschreibt (z. B. der er die Inhaltsleere und Floskelhaftigkeit der zwi- in Raststätte oder Sie machens alle) bzw. für das schenmenschlichen Kommunikation und damit die Theater eher nachdichtet als übersetzt (z. B. Oscar Sprachlosigkeit der Menschen ausstellen will. Im Wildes The Importance of Being Earnest ). Damit Gegensatz zu Jelinek setzt Horváth allerdings zwi- schreibt sie sich in eine literarische Tradition ein, die schen den Sätzen in Kunstsprache das Schweigen, sie aufgrund der neuen Wendungen, die sie den Dra- die Stille, als Stilelement ein, um den Kampf zwi- menstoffen und -sprachen gibt, zugleich auch sub- schen Bewusstsein und Unterbewusstsein zu zei-

00904_Jelinek_HB.indb 37 08.05.13 15:03 38 II. Schreibverfahren

gen – ein Phänomen, das Jelinek in Bezug auf El- schichte der Geschlechter. Alte und moderne My- friede Gerstl (und diese wiederum im Gefolge von then werden darin als Folie über die weiblichen Sigmund Freud) als die Erfahrung beschreibt, nicht Figuren, die zwischen Märchenfiguren, Künstlerin- Herr im eigenen Haus zu sein (vgl. Freud 1925; Hor- nen und Politikerinnen changieren, gelegt. váth 1971; Gerstl 1982; Jelinek 1998). Jelinek begeg- Doch kritisiert Jelinek anhand der Frauenfiguren net diesem Phänomen allerdings scheinbar paradox nicht nur die asymmetrischen Machtverhältnisse mit der »Sprechwut« ihrer Figuren, worin sie sich zwischen den Geschlechtern, sondern auch allge- von Oscar Wilde und Friedrich Schiller beeinflusst meine gesellschaftliche Unterdrückungsmechanis- sieht (vgl. Jelinek 2005a; 2005c). Für sie ist Sprechen men in der kapitalistischen Gesellschaft, in der das und Schweigen gleichwertig, solange vermittelt wird, Ungleichgewicht zwischen den besitzlosen und den dass bei allem Redefluss über gewisse Dinge nicht besitzenden Klassen, dem Kleinbürgertum und Bür- gesprochen werden kann. Das Schweigen tritt in ih- gertum, nicht überwindbar zu sein scheint. In den ren Augen umso stärker heraus, wenn es inmitten beiden frühen Romanen Michael (1972) und Die des überströmenden Sprechens passiert (vgl. Jelinek Liebhaberinnen (1975) werden die asymmetrischen 2005c). Geschlechterverhältnisse mit Problemen der Ar- Von Anfang an kreisen Jelineks Texte um das beitswelt – etwa ebenso verzweifelten wie vergebli- Thema Gewalt. Bereits im ersten Prosatext bukolit chen Aufstiegsversuchen – verknüpft. Die schein- ist es die männliche Sexualgewalt, anhand derer die bare Unabänderlichkeit der hierarchischen Gesell- Autorin Kritik an patriarchalen Herrschaftsstruktu- schaftsstruktur bringt die Texte in inhaltliche Nähe ren übt – ein langjähriges Grundthema, das dazu zur Literatur der Arbeitswelt etwa eines Gernot führt, dass Jelineks Texte bis zur Jahrtausendwende Wolfgruber (vgl. Wolfgruber 1976), selbst wenn die verstärkt im Kontext der feministischen Literatur gewählten sprachlichen Verfahren unterschiedlich wahrgenommen werden. Dafür spricht, dass sie ihre sind. Mag diese Verbindung aus ästhetischer Sicht Frauenfiguren als multiple Opfer der androzentristi- auch abwegig erscheinen, aus politischer Sicht lässt schen Gesellschaft und deren universalistischen sie sich mit Jelineks frühem Engagement für marxis- Wirklichkeitskonstruktionen entwirft (vgl. MI; LI; tische Ideen in Verbindung bringen. Zur Kapitalis- LU; GI; Spielmann in Bartsch/Höfler). Relativ muskritik findet sie auch in jüngeren Werken wie früh schon misst sie der Körperlichkeit in Texten wie etwa der Wirtschaftskomödie Die Kontrakte des Kauf- etwa Lust (1989) Bedeutung bei – ein Phänomen, manns (2009) Anlass, in der sie die grotesken Ma- das in der Literatur von Frauen massiv Einzug gehal- chenschaften der Finanzwelt entlarvt und Täter und ten hat. Jelinek radikalisiert den feministischen Dis- Opfer miteinander konfrontiert. Schließlich lässt kurs, indem sie jeglichen feministischen Gesell- sich der Kerngedanke hinter der Kritik an gesell- schaftsutopien eine Absage erteilt (vgl. NO). Ihre schaftlichen Asymmetrien als Bearbeitung des Herr- Frauenfiguren sind, auch wenn sie sich als Künstle- Knecht-Themas zusammenfassen. Damit nimmt Je- rinnen über genderspezifische Chancenungleichheit linek auf die marxistische Hegel-Rezeption Bezug hinwegzusetzen versuchen (vgl. CL; KR), zum Schei- und beschreibt Herrschaftsstrukturen wie Identi- tern verurteilt. In dieser Hinsicht schreibt Jelinek das tätsbildung gleichermaßen. Das Thema verbindet Todesarten-Projekt von Ingeborg Bachmann fort, in- sie auch mit Robert Walser, einem Dichter, dem Jeli- dem sie zeigt, wie Gewalt in der Gesellschaft dem nek in ihrem Werk mehrfach Respekt gezollt hat zwischenmenschlichen Umgang entspringt und sich (vgl. Wagner 1980). unaufhörlich fortpflanzt, nicht nur zwischen Män- Neben Die Klavierspielerin (1983) stellt auch der nern und Frauen, sondern ganz besonders zwischen Roman Die Ausgesperrten (1980) aufgrund seiner Müttern und Töchtern (vgl. KL; Heidelberger-Leon- konventionelleren Erzählform in Jelineks erzähleri- hard in Text + Kritik 2). In Clara S. (1982) und schem Œuvre eine Ausnahme dar. Das Narrativ ist dem Vampirstück Krankheit oder Moderne Frauen nacherzählbar, topographisch wiedererkennbar in (1987) geht Jelinek noch einen Schritt weiter und pa- Wien angesiedelt und entwirft Szenarien, die sich rodiert Parolen aus dem Umfeld der feministischen auf einen realen Kriminalfall beziehen. Der Roman Bewegung der 1970er Jahre (vgl. Janz, S. 33–37). In ist ein Versuch, sich dem von der Autorin geschätz- Der Tod und das Mädchen I–V. Prinzessinnendramen ten Genre des Kriminalromans anzunähern. Krimi- (1999–2003) findet sie zu einer leichten, parodisti- nalhandlungen geben aber auch in anderen Texten schen und an intertextuellen Bezügen schier über- den Hintergrund ab (vgl. KI; SP; GI; Koberg/ bordenden Form einer Macht- und Mentalitätsge- Mayer, S. 239–241; Gürtler in Eder/Vogel). Die

00904_Jelinek_HB.indb 38 08.05.13 15:03 Schreibtraditionen 39

Autorin betrachtet sie ähnlich wie Komödien als der düsteren Nachkriegslandschaft herauszulösen Ventile des Drucks, der in der Gesellschaft vor- scheint und dadurch neue Verstrickungen verur- herrscht, und teilt die Inspirationsquelle realer Kri- sacht (vgl. Pontzen in Müller/Theodorsen, S. 59– minalfälle mit Thomas Bernhard , der wie sie eine 64). Zeit lang als Gerichtsreporter arbeitete. Jelineks Faschismuskritik betrifft nicht nur die in In Die Ausgesperrten findet zudem ein Thema Österreich mangelhaft betriebene Vergangenheits- Eingang, das fortan Jelineks Werk prägen soll: die bewältigung, sondern stellt auch vergessene Fälle transgenerationale Verstrickung der österreichi- von Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg (Rech- schen Gesellschaft in den Faschismus. Es verbindet nitz (Der Würgeengel) (2008)) und unaufhörliche sie u. a. mit Ingeborg Bachmann (Unter Mördern und nationalsozialistische Verstrickungen (vgl. BUR; Irren (1961)), mit Thomas Bernhard (Heldenplatz WE) ins Zentrum ihrer Texte. In einigen Theatertex- (1988)) und im Laufe der 1980er Jahre auch mit ten thematisiert Jelinek das Fortdauern des Faschis- Werner Schwab . Doch findet sie zu einem idiosyn- mus in einer Gesellschaft, die vor Fremdenhass und kratischen Umgang mit dem Thema, in dem meh- rassistischem Gedankengut (vgl. ST; LE) ebenso we- rere Traditionsstränge zusammenlaufen. Zwar be- nig zurückschreckt wie vor Krieg. In den beiden zieht sie sich immer wieder auf Österreich als ein mit Theatertexten Bambiland (2004) und Babel (2004) seiner schönen Landschaft werbendes Tourismus- setzt sich die Autorin anlässlich des Zweiten Irak- land, tut dies jedoch in Form einer Anti-Idylle, die Krieges mit der Problematik von Krieg und Medien bereits im Roman Die Liebhaberinnen anklingt. Da- kritisch auseinander. Während es in Susan Sontags mit wendet sie sich explizit gegen das von Deutsch- Auseinandersetzung mit demselben Thema um die nationalen gerne in Anspruch genommene Genre Rezeption geht, zeigt Jelinek, wie die mediale Be- des Heimatromans. Sie verwendet dessen Topoi, richterstattung Herrschaftsstrukturen festigen hilft um die Gesellschaft zu denaturalisieren, und (vgl. Dowden 2006; Blödorn 2006). Die Medienkri- schreibt sich damit in das genuin österreichische tik erfährt im Netzroman Neid (2007/2008), der mit Genre des Anti-Heimatromans ein. In der verfrem- den Möglichkeiten des Blog spielt, eine praktische denden Landschaftsschilderung sind Parallelen zu Anwendung (vgl. Bachleitner 2007). Gert Jonkes Geometrischer Heimatroman (1969) zu Jelineks Texte speisen sich aus unterschiedlichen erkennen, in der aus ironischer Distanz geschilder- Schreibtraditionen, die von der unmittelbaren Zeit- ten Gewaltbereitschaft in der Provinz zu Reinhard P. genossenschaft bis in die Antike zurückreichen. In- Grubers Aus dem Leben Hödlmosers (1963) (vgl. haltlich wie stilistisch lassen sie sich bestimmten Wagner in Bartsch/Höfler; Janke 2). Phasen des experimentellen Schreibens in Öster- Jelineks Ressentiment gegen das schöne Öster- reich (Wiener Gruppe und Umfeld) wie internatio- reich-Bild entzündet sich an der Kontinuität nazisti- nal (Popliteratur der 1960er Jahre) und bestimmten schen Gedankenguts und an der in der österreichi- gesamtgesellschaftlichen wie literarischen Diskursen schen Provinz mancherorts nach wie vor gepflegten (Feminismus, Antikapitalismus, Antifaschismus) zu- Blut und Boden-Kultur. Zur extremsten Form findet ordnen. Doch hat die Autorin durch inhaltliche Zu- Jelinek diesbezüglich in dem Roman Die Kinder der spitzung und sprachlich-formale Umsetzungen zu Toten (1995), in dem sie eine österreichische Ge- einer extremen Radikalisierung und Verdichtung birgslandschaft zur Auflösung bringt und die ver- des Schreibens gefunden. Die Vielfalt ihres Schrei- drängten Opfer der Geschichte als zombieartige bens verdichtet sich in den jüngsten Texten, dem Wiedergänger aus dem vom Tourismus beschönig- Netzroman Neid und dem Theatertext Winterreise ten Erdreich auferstehen lässt. Dieses Verfahren (2011). wandte die Autorin bereits in dem Theaterstück Wolken.Heim. (1988) an, indem sie den zentralen Begriff und Titel des Essays Das Gedächtnis des Bo- Literatur dens von Leonhard Schmeiser wörtlich nimmt (vgl. Artmann, Hans Carl: das suchen nach dem gestrigen tag Schmeiser 1987). Mit Horrorelementen und dem oder schnee auf einem heißen brotwecken. Olten: Walter Verzicht auf eine lineare Handlung radikalisiert Jeli- 1964. – Bachleitner, Norbert: Elfriedes Romanblog. In: nek in Die Kinder der Toten gewissermaßen Hans http://www.univie.ac.at/jelinetz/index.php?title=Norbert_ Bachleitner:_Elfriedes_Romanblog (3.8.2012), datiert mit Leberts Roman Die Wolfshaut (1960), in dem sich 21.5.2007. – Blödorn, Andreas: Medialisierung des Krieges: die verdrängte Schuld in einem österreichischen Mit Susan Sontag in Elfriede Jelineks »Bambiland«. In: Ge- Gebirgsdorf als Schatten der Vergangenheit aus genwartsliteratur 5 (2006), S. 142–164. – Dowden, Steve:

00904_Jelinek_HB.indb 39 08.05.13 15:03