Transfers, Netzwerke und produktive Missverständnisse: Plastic People, Velvet Underground und das Verhältnis zwischen westlicher und östlicher Dissidenz 1965–1978

Michael Esch

ABSTRACT Transfers, Networks, and Productive Misunderstandings: Plastic People, Velvet Underground, and the Relations Between Western and Eastern Dissidence 1965–1978 The history of pop and rock music and related youth subcultures in the ČSSR and especially the underground have traditionally been depicted as a story of a somewhat repressed transfer, where youngsters inspired by western pop cultural promises of freedom tried to rebel against the sinister authorities of their homeland. Following, in a transnational perspective, the history of one particularly important underground band, the Plastic People of the Universe, the article nevertheless argues that the Prague underground defined itself as part of a cultural revolutionary movement rejecting the consumerist aspects of both eastern and western societ- ies. The study also shows that an assessment of the Prague underground as merely receptive, imitative of western role (and musical) models is erroneous. The relationship between the new popular and underground music and their respective subcultures in the West and in Prague is more adequately described in terms of appropriation and invention triggered by what young rebels encountered through official and unofficial media. Czech actors used elements of west- ern underground culture for purposes of self-expression because they perceived these as reac- tions to phenomena and problems comparable to what they experienced in their own lives. Nonetheless, when two Plastic People musicians were convicted in 1977, the political and reli- gious opposition organised around Charta 77 regarded and represented them as anticommu- nist dissidents. This alliance between organised dissidence and the hippie underground did not last very long, yet it impacted both on the band’s (musical) practices and their image within the western musical underground as critiques of the socialist system.

Comparativ | Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 24 (2014) Heft 4, S. 39–57. 40 | Michael Esch

Als 1978 die LP-Beilage The Merry Ghetto / Le ghetto joyeux den tschechischen Under- ground einer breiteren westlichen Öffentlichkeit vorstellt, zieht , Kanadier und während eines mehrjährigen Aufenthalts in Prag eine zeitlang Sänger der tsche- chischen Plastic People of the Universe, in seiner Einleitung eine ebenso überraschende wie einsichtsvolle Parallele: Er erinnert sich, dass ein us-amerikanischer Zeitungsartikel der 1950er Jahre den aufkommenden Rock’n’Roll als Ergebnis einer kommunistischen Verschwörung entlarvte: In einem polnischen Schloss entwickelt, sei er durch einge- schmuggelte Unruhestifter in die Vereinigten Staaten gebracht worden, um die Moral zu zersetzen und den Sturz der westlichen Zivilisation herbeizuführen. Ganz so absurd sei dieser Gedanke laut Wilson nicht: Mitte der 1970er Jahre hätten die Plastic People of the Universe in einem tschechischen Schloss Rockmusik aufgenommen; die Bänder seien in den Westen geschmuggelt und dort veröffentlicht worden. Allerdings diffamierten nun die kommunistischen Staatsorgane die Urheber dieser Musik als Erzschurken, deren Ziel es sei, die Moral der Jugend zu untergraben und den Sturz des Sozialismus herbeizufüh- ren. Diese quasi avant la lettre transnationale Auffassung von Rockmusik jenseits des „Ei- sernen Vorhangs“ ist seither weitgehend aufgegeben und auch in der Forschung nicht wieder aufgenommen worden: Die grenzüberschreitende Kontextualisierung der Ge- schichte der Plastic People of the Universe und des tschechischen Underground wie auch musikvermittelter Revolten und Subkulturen in Ostmitteleuropa allgemein bleibt in aller Regel bei der Benennung der meist amerikanischen und britischen Vorbilder ste- hen, die Geschichte der tschechischen Bands erscheint als letztlich weitgehend isolierte Geschichte des Widerstands kreativer, freiheitlich-demokratischer Individualisten gegen die kollektivistische Dumpfheit kommunistischer Machthaber. Letztlich drängt sich der Eindruck auf, es solle gezeigt werden, die Auffassung der tschechoslowakischen Kultur- bürokratie, unbotmäßige Rockmusiker seien Agenten des kapitalistischen Westens, sei so falsch nicht gewesen. Die folgenden Seiten versuchen zu zeigen, wie solche und einige andere Simplifizierun- gen auf zweierlei Wegen zu vermeiden sind: Einerseits durch eine konsequente Transna- tionalisierung des historiographischen Zugriffs auf scheinbar national spezifische sub- kulturelle Praktiken von Musik, andererseits durch eine Einbeziehung des musikalischen Materials, seiner Signifikanz und seiner – auch gesellschaftlichen – Produktions- und Rezeptionsbedingungen. Diese Erweiterung wird am Beispiel der tschechischen Band Plastic People of the Universe in mehreren Stufen skizziert: Nach einer Rekapitulation der wichtigsten Fakten soll die Durchlässigkeit des „Eisernen Vorhangs“ für subkulturelle

 P. Wilson, What is to be heard here / A travers cette mosaïque d‘images, reflets…, in: The Merry Ghetto / Le ghetto joyeux, Beilage zur Schallplatte Plastic People of the Univers, ‘s Happy Hearts Club Banned, Paris / London 1978.  So etwa T. W. Ryback, Rock Around the Bloc. A History of Rock Music in Eastern Europe and the Soviet Union, 1954–1988, Oxford 1990 und trotz insgesamt sehr differenzierter Darstellung das Standardwerk von M. Vaněk, Byl to jenom Rock’n’Roll? Hudební alternativa v komunistickém Československu 1956–1989, Praha 2010, S. 159f.; 404f. Transfers, Netzwerke und produktive Missverständnisse | 41

Motive auf mehreren Ebenen angedeutet werden. Danach wird die Verarbeitung äußerer Einflüsse und die Konstituierung eines letztlich transnationalen rebellischen Musiker- und Künstlermilieus umrissen und die These ausgeführt, dass der Erfolg im Westen ent- stehender musikalischer, soziokultureller und künstlerischer Motive in Ostmitteleuropa womöglich nicht aus einer Orientierung der unterdrückten östlichen Jugend am freien Westen, sondern aus ähnlichen sozioökonomischen Problemlagen und einer ähnlich motivierten Gegnerschaft zum jeweils herrschenden System resultierte. Schließlich wird untersucht, welche Aussagen über Eigenlogik und Bedeutung des tschechischen Under- ground sich aus dem von den Plastic People produzierten musikalischen Material ableiten lassen.

1. Erste Ebene: Genealogien

In ihrer kürzesten Form ließe sich die Geschichte also so erzählen: Im September 1968, im Kontext einer seit etwa 1965 immer lebendiger werdenden tschechoslowakischen Rockmusikszene, des Bigbít, gründet der seit vier Jahren aktive 17jährige Bassist Milan Hlavsa mit Freunden die Band The Plastic People of the Universe. Hlavsa und seine Mit- streiter orientieren sich an den radikalsten Bands der amerikanischen Gegenkultur und spielen deren Stücke nach: The Fugs, Mothers of Invention, Velvet Underground. Die Band nimmt mit beachtlichem Erfolg an einem Bandwettbewerb teil und gewinnt mit dem Kunsthistoriker Ivan Martin Jirous einen »künstlerischen Leiter« und Mentor, der die Orientierung am Underground verstärkt; Jirous wird gleichsam der Andy Warhol der Plastic People. In der Phase der „Normalisierung“ ab 1970, einer Phase der Rücknahme aller Reformen, sollten alle Beat- und Rockbands ihr Programm genehmigen und sich als Profimusiker anerkennen lassen. Die PPU verweigern sich, was zum Verlust der bis dahin von den Behörden bereitgestellten Instrumente, Verstärker und Probemöglichkeiten führt. Jirous schickt sie zur Arbeit aufs , um mit dem Erlös eine eigene Ausrüstung zu erwerben. Die Band spielt in den folgenden Jahren zunehmend eigenes Material, teils in Projekt- konzerten mit weiteren Musikern und mit szenischen Elementen, in selbstorganisier- ten Konzerten in Kulturzentren und Gaststätten in der Umgebung von Prag. Ab 1973 häufen sich – meist initiiert von sich gestört fühlenden, zufällig anwesenden Bürgern bzw. Polizisten – polizeiliche Übergriffe, die zunächst 1974 in einer großen Razzia mit Schlagstockeinsatz gipfeln. In dieser Zeit verfasst Jirous einen „Bericht über die ‚dritte Wiedergeburt’ der tschechischen Musik“, die Wesen und Inhalte des Underground als aktives, von den herrschenden Verhältnissen und ihren Trägern abgewandtes künstleri- sches Milieu beschreibt, deren Hauptprotagonisten die PPU und einige weitere Bands

 So I. M. Jirous, Bericht über die „Dritte Wiedergeburt“ der tschechischen Musik, in: A. Libansky / B. Zeidler, Ivan Martin Jirous. Leben / Werk / Zeit, Wien 2013, S. 31-50, hier S. 31. Siehe auch J. Bolton, Worlds of Dissent. Charter 77, The Plastic People of the Universe, and Czech Culture under Communism, Cambridge/Mass. u. a. 2012, S. 122. 42 | Michael Esch

sind. 1975 und 1976 sind sie zentrale Akteure zweier „Festivals der zweiten Kultur“, halbklandestin organisierter Musikfestivals. 1976 finden zwei Prozesse gegen Angehöri- ge des Underground statt, darunter Jirous und , den Saxophonisten und ab 1977 auch Textautor der PPU. Die Verurteilung zu mehrmonatigen Haftstrafen wird in der westlichen Presse skandalisiert und führt in der ČSSR zur Formierung einer Protestbewegung um Václav Havel, die in der Verabschiedung der Charta 77 gipfelt. Die PPU spielen nun meist vor geladenen Gästen in privaten Wohnungen, insbesondere im Haus Havels. Aufnahmen aus den Jahren 1974/75 mit Vertonungen der Gedichte des ehemaligen Surrealisten Egon Bondy werden 1978 in Frankreich veröffentlicht. Um Mitte der 1980er Jahre stellen die PPU ihre Tätigkeit weitgehend ein. Letztlich han- delt es sich zuerst um junge Menschen, die Spaß haben wollten, sich an der westlichen Hippie-Kultur orientierten und als philosophisch-mythischer Underground formierten, dann aber von der kommunistischen Repression in eine immer politischer, „dissidenti- scher“ werdende Haltung gezwungen werden. Die „“ von 1989 führt dazu, dass sie wieder zusammenkommen, frei auftreten und die ihnen zukommende Ehre genießen können. Den Gipfelpunkt – und gleichzeitig eine Vereinigung mit den Vorbildern der Anfänge – bildet ein Konzert, das einige Protagonisten der Plastic People während der Präsidentschaft Bill Clintons zusammen mit im Weißen Haus bestreiten.

2. Zweite Ebene: Der Eiserne Vorhang als osmotische Barriere

Rock’n’Roll und Beatlemania erreichten die Tschechoslowakei über im Grunde meist negativ berichtende offizielle Medien, vor allem aber über ausländische Radiosender. Eine eigene Produktion setzte sehr rasch ein: Bereits 1956 wurde im Prager Akord Club Rock’n’Roll aufgeführt. Zwar waren Schallplatten der jeweils neuen und angesagten Bands in der ČSSR nicht oder erst mit großer Verspätung erhältlich, weil Import und Li- zenzen zur Nachpressung sehr teuer waren. Ein relativ reger Reiseverkehr tschechischer Kulturinteressierter nach Großbritannien und in die USA brachte aber in begrenztem Umfang auch neues Material ins Land. So erwarb Václav Havel 1968 in New York auf

 Die Darstellung folgt weitgehend der maßgeblichen Literatur: Vaněk, Byl to jenom (Anm. 2); F. Pospišil / P. Blažek, „Vrat’te nám vlasy!“ První máničky, vlasatci a hippies v komunistickém Československu. Studie a edice dokumentů, Praha 2010; Bolton, Worlds, S. 115-151; Jirous, Bericht; eigene Chronik der Plastic People of the Uni- verse (http://www.plasticpeople.eu, zuletzt aufgerufen 17.9.2014). Das Schaffen der Band wird zitiert nach der Zusammenstellung: The Plastic People of the Universe. Komplet nahrávek 1969–2004, Praha 2008.  Vaněk, Byl to jenom, S. 208 (Anm. 2).  Vaněk, Byl to jenom, S. 170-175; V. Kouříl, Jazzová sekce w čase a nečase. 1971–1987, Praha 1999. Eine Liste der von der tschechischen Supraphon veröffentlichten Jazz-, Rock- und Popplatten bietet R. Diestler, Cizí desky v zemích českých aneb ochutnávka na samém kraji útesu, Prag 2008.  Dieser Reiseverkehr ist überraschend, da er landläufigen (und auch in der Fachliteratur kolportierten) Vorstel- lungen über die Hermetik des Eisernen Vorhang widerspricht. Einschlägige Literatur hierzu scheint bislang zu fehlen, ein Forschungsprojekt hierzu wird 2015 am GWZO Leipzig beginnen. Transfers, Netzwerke und produktive Missverständnisse | 43

Empfehlung von Bekannten unter anderem die erste LP der Velvet Underground. Hinzu kam das Abhören ausländischer Sender wie des American Forces Network und insbe- sondere von Radio Luxemburg, die hinsichtlich der Versorgung mit spannender Mu- sik eine ähnliche Funktion erfüllten wie im Westen die Piratensender. Es entwickelten sich selbstorganisierte Vertriebswege und Rezeptionsformen: Radiosendungen wurden auf Röntgenplatten aufgenommen und verteilt, in privaten Wohnungen, Kellern und leerstehenden Gebäuden bildeten sich „Clubs“, in denen sich Jugendliche regelmäßig zu Parties, Drogenkonsum und vermutlich auch erotischen Begegnungen trafen.10 Die Übernahme der neuen Kompositions- und Spielweisen, in gewissem Umfang auch der Textinhalte, erfolgte wie im Westen über Abhören, Nachspielen und Nachvollziehen – und zwar offensichtlich auf beträchtlichem Niveau: Anscheinend war der südafrika- nisch-britische Musiker Manfred Mann, der 1965 zu zwei Konzerten in der ČSSR weilte, vom musikalischen Niveau einiger tschechischer Bands beeindruckt und lud die Prager Beatmen als Opener für seine Konzerte ein. Die Band erhielt kurz darauf einen Platten- vertrag mit der britischen Firma Decca. Um die Mitte der 1960er Jahre gab es gerade in Prag und Bratislava zahlreiche Beatbands, die häufig in Theatern spielten; hinzu kamen bald Veranstaltungsorte mit Hausbands. Im Dezember 1967 fand ein erstes offizielles Beatfestival statt,11 wo mit The Primitives Group sogar eine sehr avantgardistische Band auftrat. Auf dem zweiten Festival ein Jahr später spielten auch britische Formationen wie Nice, die eine frühe Überkreuzung von Rock und Klassik spielten, sowie Julie Driscoll & Trinity mit jazzgesättigtem Bluesrock. Von besonderem Interesse für uns ist die Primitives Group: Ein Teil ihrer Akteure sollte später zu den PPU wechseln, und sie belegen die Rezeption und Aneignung avantgar- distischer, entschieden kultur- und systemkritischer Impulse: Ihr Auftritt verband sze- nische und pyrotechnische Mittel mit Coverversionen von Jimi Hendrix, und The Fugs und wurde begeistert aufgenommen. Im Folgejahr zelebrierten sie das Fish Feast, ein Happening-Konzert unter einem mit ausgestopften Fischen gefüllten Netz, auf dessen Höhepunkt das Publikum (das sich entsprechend revanchierte) mit Wasser be- spritzt und mit Fischattrappen beworfen wurde. Es folgte ein Bird Feast mit Massen von Federn und einem nackten Sänger. Ähnlich wie bei den Beatniks und Hippies sowie der Antikunst-Bewegung Fluxus – auf die ich noch zurückkommen werde – sollten damit archaisch-mythische Prinzipien, in diesem Falle Wasser und Luft, zelebriert werden. Die Rezeption des westlichen Underground begann recht früh und erfolgte ebenfalls teilweise über offizielle Medien. Bereits 1959 wurdeHowl von Allen Ginsberg, das in den

 J. Kugelberg (Hg.), . New York Art, New York 2009, S. 7.  Siehe hierzu und zum Folgenden Vaněk, Byl to jenom (Anm. 2); Ryback, Rock (wie Anm. 2); Jirous, Bericht (Anm. 3). 10 Vaněk, Byl to jenom, S. 158-166 (Anm. 2); Ryback, Rock, S. 69 (Anm. 2); M. Knížák, Die A-Gemeinschaft 1963-1971. A-Community 1963–1971, in: P. Stegmann/E. Andersen (Hrsg.), Fluxus East. Fluxus-Netzwerke in Mittelosteuro- pa. Fluxus Networks in Central Eastern Europe. Ausstellungskatalog, Berlin 2007, S. 77-94, hier S. 80. 11 Siehe und höre z.B. https://www.youtube.com/watch?v=yoU8P611BVs. 44 | Michael Esch

USA 1957 kurzzeitig verboten war, teilweise ins Tschechische übersetzt,12 ab den frühen 1960er Jahren berichteten offizielle Medien – Radio, Fernsehen, Zeitungen und Zeit- schriften – über die neuen (sub)kulturellen Entwicklungen im Westen. Dass dies mit- unter spöttisch-distanziert als Bericht über westliche Dekadenz erfolgte, änderte nichts daran, dass bei manchen Intellektuellen und vielen Jugendlichen Interesse geweckt und Nachahmungs- und Aneignungsprozesse angeregt wurden – und zwar (ebenso wie im Westen) auf zweierlei Weise: Manche junge Studierende und Künstler(innen) bemüh- ten sich um einen intellektuellen Nachvollzug der neuen Entwicklungen – zum Teil im Anschluss an ältere einheimische Avantgardisten wie die tschechischen Surrealisten.13 Zahlreiche studentische und proletarische Jugendliche übernahmen auch nur äußere Merkmale der neuen Subkulturen und deuteten sie – häufig hedonistisch – für ihre ei- genen Zwecke aus.14 In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre fand außerdem die (damals noch) antikünstlerisch-kulturrevolutionäre Fluxus-Bewegung ihren Weg nach Ostmit- teleuropa: 1966 fand ein Konzert im Prager Club Reduta statt, es bestanden „Filialen“ von Fluxus in Polen und der ČSSR.15 Bereits 1965 war der Fluxus-nahe Komponist John Cage in Prag aufgetreten.16 Die antikünstlerischen Fluxus-Künstler waren aber nicht die einzigen und nicht einmal die ersten „westlichen“ Revolutionäre, die den Weg nach Ostmitteleuropa suchten: 1964 traf sich eine Delegation der Students for a Democratic Society in der ČSSR mit Vertretern des Vietkong.17 1965 hielt sich Allen Ginsberg mehrere Monate in Prag auf; am 1. Mai wurde er im Rahmen des studentischen Karnevals Majáles auf Empfehlung des eigent- lich vorgesehenen Josef Škvorecký zum Maikönig gewählt, aber nach wenigen Minuten zugunsten František Sedláčeks entthront;18 in der ein Jahr später erstellten 18minütigen Videodokumentation macht sein Auftritt weniger als 20 Sekunden aus, sollte aber nicht überbewertet werden.19 Immerhin fand nachts eine zweistündige Diskussion zwischen Ginsberg und etwa 30 Studierenden statt, in der Ginsberg scharfe Kritik am sowjetischen System und dem autoritären Marxismus übte, die Majáles-Paraden in ihrer durchaus patriarchalen Mischung aus Rock, satirischen Festreden der Studenten und Schönheits-

12 Vaněk, Byl to jenom, S. 432 (Anm. 2); P. Blažek, The Deportation of the King of May. Allen Ginsberg and the State Security, in: Behind the Iron Curtain 2 (2912), S. 34-47, hier S. 35. 13 Siehe hierzu M. Machovec, Od avantgardy přes podzemí do undergroundu. Skupina edice Půlnoc 1949-1955 a undergroundový okruh Plastic People 1969–1989, in: J. Alan (Hg.), Alternativní kultura. Příběh české společnosti 1945-1989, Praha 2001, S. 155-200; Pospišíl/Blažek, Vrat‘te nám vlasy, S. 204ff. 14 Vaněk, Byl to jenom, S. 235 (Anm. 2). Vaněk betont, vielen tschechischen Hippies seien die Grundlinien der Hip- pie-Philosophie gar nicht bekannt gewesen. Das war aber in den westeuropäischen Staaten – und sogar in den USA selbst, wo ein Musiker wie Zappa sich über Modehippies lustig machte, nicht anders. 15 Knížák, A-Gemeinschaft (Anm. 10), S. 89f. P. Stegmann, Fluxus East, in: Ebenda, S. 5-52. 16 Knížák, A-Gemeinschaft (Anm. 10), S. 92. 17 G. E. Hale, A Nation of Outsiders. How the White Middle Class Fell in Love with Rebellion in Postwar America, New York 2011, S. 225. 18 Eine solide Beschreibung bietet Blažek, Deportation (Anm. 12). Siehe außerdem Pospišíl/Blažek, Vrat’te nam vlasy (Anm. 4), S. 204-206. 19 Siehe die zeitgenössische filmische Verarbeitung durch eine Prager Studentengruppe der FAMU unter dem Titel Majáles (1966; Regie Jiří Danda), unter https://www.youtube.com/watch?v=vrB1Wb91LBM; https://www. youtube.com/watch?v=S5pX_gD5r2E. Transfers, Netzwerke und produktive Missverständnisse | 45

konkurrenz leicht bekleideter Studentinnen hingegen als gelungene Mischung aus poli- tischer Courage und maximaler Erotisierung der Umgebung bezeichnete.20 Wenige Tage später zeigten sich die Grenzen staatskommunistischer Toleranz gegenüber westlichen Revolutionären: Ginsberg wurde wegen homoerotischer Beschreibungen in seinem be- schlagnahmten Tagebuch und einer anscheinend provozierten sexuellen Begegnung im nächtlichen Prag ausgewiesen. Auf dem Flug nach London schrieb er „King of May“, in dem er Kapitalisten und Kommunisten als Teil eines letztlich ähnlich repressiven Macht- apparates beschrieb und das einer seiner bekanntesten Texte werden sollte;21 ausführliche Artikel in der amerikanischen Presse wiesen der Ausweisung und der Person Ginsberg weltpolitische Bedeutung im Kontext des Kalten Krieges zu.22 In der ČSSR folgte – wo- möglich als Reaktion darauf – eine Pressekampagne mit besonderer Betonung der sexu- ellen Devianz Ginsbergs, die ihn und das, wofür er stand, unter der interessierten Jugend eher populärer machte;23 inhaltlich unterschied sie sich wenig von zeitgenössischen me- dialen Phantasmen im Westen über die sexuelle Aktivität und moralische Verderbtheit in den neuen Subkulturen,24 mündete jedoch im Folgejahr in eine erste Repressionswelle gegen „herumlungernde“ tschechische Langhaarige.25 Diese wiederum verhinderte nicht die fortgesetzte Rezeption westlicher kultureller Neuerer: 1966 veröffentlichte der Verlag der Mladá Fronta einen Reisebericht Jiří Muchas, der sich vor allem neueren künstleri- schen Entwicklungen – Beat-Literatur einschließlich Ginsberg, Pop Art, Happenings – widmete. Er empfahl Prag eine „Injektion gegen Schüchternheit“ aus der Subkultur San Franciscos, während den Kaliforniern eine Prise tschechischer Disziplin gut täte.26 Eine Identifizierung des Westens wie des Ostens als repressiver Systeme ähnlich wie bei Ginsberg erfolgte unmittelbar nach dem Ende des „Prager Frühlings“: Die Aktionen der Yippies gegen den Nationalkonvent der Demokraten in Chicago Ende August 1968 liefen angesichts der Repressionsdrohungen und des Polizeiaufgebots unter der Bezeich- nung Czechago, um die faktische Identität des amerikanischen und sowjetischen „Esta- blishment“ zu betonen.27

20 Blažek, Deportation (Anm. 4), S. 43. 21 Ebenda, S. 45ff. Der Text findet sich in A. Ginsberg, Planet News. Poems 1961–1967, San Francisco 1968. Eine zeitgenössische Lesung findet sich unter: Allen Ginsberg Kral Majales (King of May) 1965 live! (https://www. youtube.com/watch?v=y73rEuQVr6s). 22 R. Kostelanetz, Ginsberg Makes the World Scene, in: New York Times v. 11. Juli 1965 (http://www.nytimes.com/ books/01/04/08/specials/ginsberg-scene.html, zuletzt abgerufen 16.9.2014). 23 Siehe hierzu vor allem Pospišíl/Blažek, Vrat‘te nam vlasy, bes. (Anm. 4), S. 204-206. 24 Vgl. hierzu A. Marwick, The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy, and the United States, c. 1958-c. 1974, London u.a. 1998, S. 102-173; U. C. Poiger, Jazz, Rock, and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley 2000. 25 Pospišíl/Blažek, Vrat`te nám vlasy (Anm. 4), S. 209. 26 J. Mucha, Černý a bílý New York, Praha 1966, S. 113. Entgegen dem Titel behandelt Mucha auch die Weststaaten der USA. 27 J. Rubin, Do It! Scenarios for the Revolution, New York 1970, S. 165f. 46 | Michael Esch

3. Dritte Ebene: Konstituierung, Kontextualisierung, Rücktransfer

Folgt man den Einlassungen Ivan Martin Jirous’, so verstand sich der tschechische Un- derground in einem ganz ähnlichen Sinne als revolutionäre Bewegung quer zu den Front- linien des Kalten Krieges. In seinem „Bericht über die dritte Wiedergeburt…“ von 1975 leitete er die Notwendigkeit einer aktiven, selbstorganisierenden, schöpferischen Abkehr vom „Establishment“ in West und Ost, also letztlich die Schaffung einer Gegenkultur, die er in den PPU und ihrem Umfeld bereits verwirklicht sah. Diese Gegenkultur wird in einem Teil der Literatur als unpolitisch missverstanden, da sie die Kategorien „links“ und „rechts“ nicht verwendet.28 Tatsächlich entspricht die Identifizierung des westlichen und des östlichen Gesellschaftsmodells als repressiv aber recht genau der Analyse der westli- chen antiautoritären Linken:29 Jirous bezeichnete das politische und Gesellschaftssystem der ČSSR nicht als Totalitarismus oder Kommunismus, sondern ebenso wie den westli- chen Kapitalismus als „Konsumgesellschaft“.30 Dabei sah er – aus der Not eine Tugend machend – die Gegenkultur in der ČSSR in gewissem Sinne als privilegiert an: Es ist ein trauriges und häufiges Phänomen, dass manche Künstler, wenn sie durch ihr Wirken im Underground Wertschätzung und Ruhm erfahren haben, mit der offiziellen Kultur in Kontakt treten…, die sie mit Jubel aufnimmt und verschlingt… Bei uns lie- gen die Dinge etwas anders, viel besser als im Westen, weil wir in einer Atmosphäre des völligen Einvernehmens leben: Die Erste Kultur will uns nicht, und wir wollen mit der Ersten Kultur nichts zu tun haben. Es fällt somit die Versuchung weg, die für jeden, auch für den stärksten Künstler die Saat des Verderbens ist: die Sehnsucht nach Anerkennung, Erfolg, Verleihung von Titeln und nicht zuletzt auch das Streben nach materiellem Wohl- stand, der aus all dem resultiert.31 Die Forderung, diese zweite Kultur habe zu zeigen, dass »die Dinge nicht in Ordnung« seien, entspricht der westlichen Auffassung des Underground als einer Haltung, die ein Gegennarrativ aufbaut und „the things happening beneath the civilized surface“ zeigt.32 Sowohl bei den Velvet Underground als auch – mit noch zu thematisierenden Abwei- chungen – den PPU bedeutete dies die Thematisierung „abseitiger“ Lebensentwürfe, Sex- und Drogenpraktiken. Überraschend ist allerdings, dass Jirous auch die Aufgaben des Underground jeweils anders bestimmt:

28 So etwa Libansky/ Zeidler, Jirous, S. 13. 29 Pospišíl/Blažek, Vrat`te nám vlasy, S. 215. Zur zeitgenössischen antiautoritären Analyse des Kapitalismus wie des Kommunismus siehe H. Marcuse, Der eindimensionale Mensch, Frankfurt/M. 1967 oder G. Debord, La société du spectacle, Paris 1967. 30 Jirous, Bericht (Anm. 3), S. 44 und passim. 31 Ebenda, S. 50. 32 R. Moody, On Celestial Music. And Other Adventures in Listening, New York 2012, S. 302. Hervorhebung im Original. Transfers, Netzwerke und produktive Missverständnisse | 47

Ziel des Undergrounds im Westen ist die direkte Destruktion des Establishments. Das Ziel des Undergrounds bei uns ist die Schaffung einer Zweiten Kultur.33 Faktisch erklärt sich Jirous damit für eine quasi evolutionäre Entwicklung – ähnlich der Alternativbewegung in der BRD – und implizit nicht als Antikommunist. Dazu passt eines der einflussreichsten Stücke,100 bodů (100 Punkte), aus dem Jahre 1977: Im Text werden nach und gefolgt von ausführlichen, teils energetischen, teils collagenhaften In- strumentalteilen über einem leicht psychedelischen, teils polytonalen Midtempo-Groove etwa 100 Phänomene aufgezählt, vor denen »sie« Angst haben: Alte, Junge, Arbeiter, Künstler usw. Wesentlich ist, dass unter diesen Punkten auch Marx, Lenin und (am Ende) der Sozialismus genannt werden. Das Stück endet mit der Frage: „Warum also fürchten wir sie?“, also mit der Empfehlung einer offensiven, mutigen, aktiven Haltung gegenüber den Zumutungen der Mächtigen. Deren Legitimation als Akteure des So- zialismus steht in Frage, womit umgekehrt der Sozialismus als Ziel des Underground bestehen bleibt.34 100 bodů weist gleichzeitig darauf hin, dass der Prozess gegen die Plastic People die Kon- texte änderte, in die sich die Band gestellt sah, und in gewissem Umfang auch ihre Pra- xis. Infolge der Propaganda- und Deutungsarbeit ihres Umfelds – d. h. einer von tsche- chischen und exiltschechischen Akteuren lancierten Pressekampagne in der westlichen bürgerlichen und trotzkistischen Presse im Sommer 1976 – wurde das Vorgehen der Staatsmacht gegen den Underground zum Musterbeispiel kommunistischer Repression gegen harmlose, unpolitische Jugendliche, deren kulturrevolutionäres Selbstverständnis unerwähnt blieb. Diese interpretatorische Zurichtung setzte sich in der Charta 77 fort, obwohl dieser neben christlich-humanistisch orientierten Akteuren auch kritische Linke angehörten. Ende 1976 erschien aus dem Underground selbst ein »Braunbuch« mit Do- kumenten zum Prozess einschließlich des „Berichts“ Jirous’.35 Eine positive Rezeption zumindest durch Teile der kultur- und politikkritischen Neuen Linken im Westen war also seitens des tschechischen Underground weiterhin erwünscht. Von besonderer Bedeutung war Frankreich: 1977 gab der Journalist Thierry Wolton eine Doppelnummer der linken Temps Modernes heraus, die unter anderem einen aus- führlichen Artikel über die PPU erhielt; dieser und einige weitere Beiträge erschienen ein Jahr später auf Deutsch im ebenfalls linken kulturwissenschaftlich-philosophischen Merve Verlag.36 1978 erschienen die eingangs erwähnten Aufnahmen der PPU aus dem Jahre 1974 als erste Veröffentlichung des Labels Scopa Invisible von Jacques Pasquier und des kanadischen Labels Boží Mlýn (Gottes Mühle) von Paul Wilson. Pasquier ge- hörte zu den Mitbegründern der Zeitung Libération, sein Label brachte danach vor allem

33 Jirous, Bericht (Anm. 3), S. 50. 34 PPU, Kolejnice duní, Nr. 1. 35 V. V. Komeda u. a., „Hnědá kniha“. O procesech s českým undergroundem, Praha 2012 (erweiterte Ausgabe; zu- erst im Samizdat 1976). Dort S. 385-394 auch die wichtigsten Zeitungsartikel über den Prozess. Die Umdeutung der PPU durch ihre Verwendung durch das entstehende Dissidentenmilieu beschreibt überzeugend Bolton, Worlds, S. 115-151. 36 Les Temps Modernes 33, 1977, Nr. 376-377; T. Wolton (Hrsg.), Underground im Ostblock, Berlin 1978. 48 | Michael Esch

französische avantgardistische Bandprojekte aus dem Bereich der Noise Music und des Post-Punk.37

Abb. 1. Aus: The Merry Ghetto, unpag., S. 22-23.

Es entsprach der Genealogie der PPU und ihrem Anschluss an die aktuelle rebellische Jugendsubkultur, dass die beiliegende Broschüre The Merry Ghetto / Le Ghetto Joyeux in einer Ästhetik gestaltet war, die Anleihen beim psychedelischen Stil und bei Punk-Fan- zines machte (siehe Abb. 1-2). Es waren dementsprechend auch bestimmte Punkmusi- ker, die sich im zeitlichen Umfeld der ersten Veröffentlichung für diePPU interessierten: Angeblich wurde das oben erwähnte 100 bodů als 100 percent von Ivan Kral gecovert; ein Nachweis dafür konnte bisher nicht gefunden werden. Gepasst hätte eine solche Bezugnahme schon: Smith gehörte innerhalb des Punk zu den Musikerinnen und Texterinnen mit explizitem Kunstanspruch,38 Kral, Gitarrist und Komponist der Patti Smith Group, stammte aus Prag. Auch dass das Stück als Honderd-En-Een Persent Bang von der südafrikanischen Punkband Wild Youth mit erweitertem Text gegen Apartheid gespielt wurde, hatte Migrationshintergrund: Der Vater des Sängers und Gitarristen Michael Flek stammte aus der Tschechoslowakei.39 Die transnationalen Bezüge hatten allerdings ihre Grenzen: 1977 bemühte sich Wilson im Umfeld der eher als Anarchisten

37 PPU, Egon Bondy‘s Happy Hearts Club Banned, Paris 1978 mit Beilage The Merry Ghetto (wie Anm. 7). Eine Liste der Veröffentlichungen des Labels bietet http://www.discogs.com/label/35479-Scopa-Invisible, zuletzt abgeru- fen 7.10.2014. 38 Am 21.4.1979 kommentierte Smith bei ihrem Konzert im Pfiffe wegen einer hinter der Bühne hoch- gezogenen amerikanischen Flagge mit der erstaunlichen Feststellung: »I am an american artist. I have no guilt.« Siehe https://www.youtube.com/watch?v=0i8Ra7ulWAY, zuletzt abgerufen 9.10.2014. 39 Punk in Africa, National Wake, and much more, in: Friday Ripple, 11.6.2011 (http://www.rozhlas.cz/radiowave/ friday_ripple/_zprava/punk-in-africa-national-wake-and-much-more--912099, hier Part 2: The South African/ Czechoslovak underground crossover. Der angegebene Link zur Textfassung von Smith/Kral funktioniert nicht, der afrikaanse Text findet sich noch am 7.10.2014 unter der angegebenen Adresse. Transfers, Netzwerke und produktive Missverständnisse | 49

auftretenden Sex Pistols um Unterstützung für die PPU; zumindest sein Gesprächspart- ner lehnte ab, da die PPU Antikommunisten seien.40 Dabei hätte sich Solidarität ange- boten: Im gleichen Jahr, ein Jahr nach der Verhaftung der Mitglieder des tschechischen Underground, unterlagen die Sex Pistols einem faktischen Auftrittsverbot in ganz Eng- land, dem sie mit halbklandestinen Konzerten unter dem Namen SPOTS (Sex Pistols on Tour Secretly) begegneten; eine umfangreiche Pressekampagne hatte zuvor körperliche Übergriffe auf die Musiker provoziert.41

Abb. 2. Aus: The Merry Ghetto, unpag., S. 14-15.

Gleichzeitig blieben der Prozess und die Einverleibung durch die Dissidentenszene um Havel nicht ohne Folgen in der ČSSR selbst: Konzerte fanden, wie erwähnt, nun klande- stin und häufig in Privatwohnungen statt – nicht zuletzt im Haus Havels, wo 1977 bis 1981 zahlreiche neue, mitunter sehr ambitionierte Stücke aufgenommen und mit relativ geringer Verzögerung in Großbritannien bzw. Kanada veröffentlicht wurden. Sicherlich durch den Kontakt zu den Dissidenten veränderten sich die Themen: In der Frühzeit – wir werden hierauf noch zurückkommen – spielten Drogen, absurde Geschichten und der Alltag von urbanen Marginalisierten die Hauptrolle. Mitunter waren die Texte Bon- dys auf den 1978 veröffentlichten Aufnahmen aus der ersten Hälfte der 1970er Jahre auch schlicht übermütig-satirisch gewesen: „Jaro léto podzim zima | čí je to vina? [Früh- ling Sommer Herbst und Winter | Wer steckt dahinter?]“42 Im April 1978 dagegen nahm die Band ein Passionsspiel mit Texten Brabenec‘ nach dem Neuen Testament auf, es folgten Vertonungen philosophischer Texte sowie politische

40 Mitteilung von Wilson (EMail), 13.9.2014. 41 J. Savage, England‘s Dreaming. Anarchy, Sex Pistols, Punk Rock and Beyond, London 2002, S. 365f.; 390-392. Zur Überwachung der Sex Pistols während ihrer USA-Tour Ende 1976 siehe J. Mendiola, Anarchy in SA, in: San Anto- nio Current, 1.2.2003 (http://www2.sacurrent.com/music/story.asp?id=56562, zuletzt aufgerufen 20.10.2014). 42 PPU, Egon Bondy‘s Happy Hearts Club Band, Nr. 3; dies., Vožralej jak slíva, Nr. 2 (Anm. 2). 50 | Michael Esch

Stücke wie 100 bodů (aufgenommen Herbst 1977 bei Havel) oder Dopis Magorovi (auf- genommen April 1978 ebenda), einer Art musikalisch-poetischer Solidaritätserklärung für den einsitzenden Jirous. Hier sind neben den PPU verschiedene Dissidenten ein- schließlich Havel selbst zu hören, musikalisch blieben die PPU ihrem Stil treu, ordneten sich aber stärker als sonst dem Textrezitativ unter.43 Letztlich wurde das durchaus viel- schichtige, rebellische Phänomen der PPU und ihres Umfelds mit seiner internationa- len Repräsentation in gewissem Maße vereinfacht und für die Kategorien des Kalten Krieges zugerichtet. Die daraus resultierende Repräsentation als dissidentische Antikom- munisten prägte, wie im Falle der Sex Pistols, die Wahrnehmung weniger informierter westlicher Rebellen, die eigentlich auf der gleichen Seite der – nun aber polyzentrischen – Barrikade hätten stehen können. Diese Vereindeutigung hielt aber nicht sehr lange vor, da das Interesse der Dissidenten um Havel an den Avantgarde-Hippies der PPU – oder umgekehrt – bald nachgelassen zu haben scheint: Zumindest wurden neue Stücke ab 1982 in Wohnungen der Musiker oder ihrer Eltern aufgenommen; textlich kehrten die PPU wieder zu ihren vorherigen Inhalten zurück und vertonten mitunter surreal-dü- stere, mitunter äußerst konkrete und dadaistisch-satirische Texte von Autoren wie Bon- dy, Ivan Wernisch oder Christian Morgenstern.

4. Vierte Ebene: Ähnliche Probleme – ähnliche Antagonismen

In seiner Vorlesung zur subversiven Theorie erklärte Johannes Agnoli, die Ähnlichkeiten zwischen den Forderungen der englischen Bauern des 14. Jahrhunderts und des deut- schen Bauernkriegs des 16. Jahrhunderts erkläre sich nicht durch einen Transfer von Ideen, sondern „aus den Notwendigkeiten ihrer sozialen Lage selbst“.44 Mit anderen Worten: Ähnliche Verhältnisse bringen ähnliche (Gegen-)Bewegungen hervor. Übertra- gen auf unseren Gegenstand hieße dies: Ähnliche soziokulturelle Konstellationen zu- sammen mit ähnlichen sozioökonomischen und technischen Begleitumständen – Abwe- senheit materieller Not; Verfügbarkeit von Freizeit; daraus resultierend gesellschaftliche Orientierung hin auf Konsum; Entstehung der Jugend als eigenen Milieus; Krise der Werte und Verhaltensregeln der Elterngeneration – führten ganz maßgeblich dazu, dass Rock‘n‘Roll und die anschließenden Stile ebenso wie moderne Avantgarde-Ansätze transnational rezipiert oder (wieder) aufgegriffen und praktiziert wurden. Für letztere lässt sich dies recht unmittelbar aufzeigen: Ab Mitte der 1960er Jahre entwickelte Mi- lan Knížák mit seiner A-Gemeinschaft Haltungen und Techniken, die denen des Fluxus ähnelten.45 Knížák lernte Fluxus aber erst 1966 anlässlich einer Aufführung in Prag ken- nen; diese Begegnung habe ihm „die Existenz von Menschen [gezeigt], die zwar irgend-

43 PPU, Kolejnice dunì (Anm. 4). 44 J. Agnoli, Subversive Theorie. Die Sache selbst und ihre Geschichte, Freiburg 1996, S. 134. 45 Vgl. Pospišil, Vrat‘te nám vlasý (wie Anm. 4), S. 210ff; Vaněk, Byl to jenom (Anm. 2), S. 231ff.; Stegmann/Andersen, Fluxus East (Anm. 15). Transfers, Netzwerke und produktive Missverständnisse | 51

wo anders lebten, aber trotzdem auf die Situation der Kunst und Gesellschaft ähnlich reagierten wie ich“.46 Tatsächlich sind die Parallelen und Bezüge überraschend: Mit der Pop-Art und Flu- xus gab es, zunächst im Westen, aber mit maßgeblicher Beteiligung von Akteuren mit ostmitteleuropäischem Migrationshintergrund47 sowie bald auch in Ostmitteleuropa, avantgardistische Kunstrichtungen, die letztlich eine Aufhebung der Kunst in einer kon- sumkritischen, antihierarchischen, revolutionären kreativen Massenbewegung zu verfol- gen schienen, was allerdings nur für Fluxus und dort nur in der Frühzeit zutraf.48 Beide wandten sich der „elektrischen“ Musik zu, beeinflussten diese und darüber dann auch den popmusikalischen Underground: Frank Zappa war stark von Komponisten wie Ed- gar Varèse und John Cage beeinflusst, war an den Klangexperimenten des amerikanischen minimalistischen Musikers und Komponisten LaMonte Young beteiligt gewesen, bevor er bei Velvet Underground maßgeblich für den eindringlich-repetitiven Sound der ersten beiden Alben verantwortlich zeichnete. In umgekehrter Richtung er- weiterten tschechische Musiker das Rockkonzert zum multimedialen Happening: Paral- lel zur Primitives Group gründete Milan Knížák mit Aktual eine antiprofessionelle Per- formance-Band, die ebenfalls bald zum PPU-Umfeld gehörte. Es ist in diesem Kontext ein charmanter Zufall, dass die zentralen Figuren der Velvet Underground, Reed und Cale, 1964/65 eine Band namens Primitives betrieben hatten, mit der sie neben ih- rer Tätigkeit als B-Pop-Produzenten eine „Anti-Dance“-Platte aufnahmen. Auch dieser Zufall deutet an, dass auf ähnliche Problemstellungen ähnlich reagiert wurde: Der Ent- fremdung in der (im Osten intendierten, im Westen verwirklichten) Konsumgesellschaft begegneten kreative Rebellen blockübergreifend mit dem Rückgriff auf das vermeintlich Ursprüngliche, Authentische. Diese Suche (und Forderung) nach Authentizität verband den tschechischen Underground mit dem rebellierenden Teil der amerikanischen Gesell- schaft ebenso wie mit dem westdeutschen linksalternativen Milieu der 1970er Jahre.49 Es entspricht diesem Gedanken, dass die erwähnten Verbindungslinien zwischen pop- musikalischem Underground und künstlerischer Avantgarde den Plastic People of the Universe zunächst gar nicht bekannt waren: Erst das Zusammentreffen mit Jirous führte zu einer längeren Serie von Vorträgen, in denen dieser den jungen Musikern Kennt- nisse über die Geschichte des Underground und seine Regeln vermittelte.50 Das bedeutet letztlich, dass der Bezug auf Zappa, Fugs und Velvet Underground zunächst andere Grün- de und Formen gehabt haben muss, und zwar vermutlich viel einfachere: Die jungen Musiker um Milan Hlavsa waren einerseits von der durchaus ungewöhnlichen Musik,

46 Knížák, A-Gemeinschaft (Anm. 15), S. 89. Zum Konzert und den Reaktionen darauf siehe Stegmann, Fluxus East (Anm. 15), S. 30f. Ebenda, S. 199 eine Liste der Fluxus-Aktionen in Ostmitteleuropa. 47 George Maciunas, der Gründer von Fluxus, stammte aus Litauen; die slowakischen Vorfahren Warhols sind in- zwischen allgemein bekannt. 48 Siehe das Fluxus-Manifest Maciunas von 1963, wiedergegeben u. a. in: C. Phillpot, Fluxus: Magazines, Manifestos, Multum in Parvo (http://georgemaciunas.com/cv/manifesto-i/, zuletzt aufgerufen 22.10.2014). 49 Jirous, Bericht, S. 36; 41f.; 45. Vgl. zu den USA Hale, Nation (Anm. 17); zur BRD S. Reichardt, Authentizität und Gemeinschaft. Linksalternatives Leben in den siebziger und frühen achtziger Jahren, Frankfurt/M. 2014. 50 Vaněk, Byl to jenom (Anm. 2), S. 239, 252f.; 52 | Michael Esch

andererseits gerade vom Underground-Charakter der drei Bands fasziniert. Die Bezug- nahme auf Underground bedeutete in der ČSSR ebenso wie im Westen innerhalb der Subkultur natürlich Distinktionsgewinn: Der Anhänger der radikalsten Bands erwies sich als Kenner und setzte sich von Mitläufern ab.51 Auch Jirous war klar, dass Rebellen- tum symbolisches Kapital akkumuliert. 2007 erklärte er: „Seid euch bewusst, dass es bei meinen Büchern nicht darum geht, welche Qualität sie haben, sondern um meinen Ruf als Unruhestifter. Eben deshalb kaufen das die Leute, das weiß ich.“52 Die radikale kalifornische Band Mothers of Invention war musikalisch aufregend in ih- rer Collagentechnik, der Verbindung bis dahin als unvereinbar angesehener Musikstile wie Rock, Vaudeville und Free Jazz, ihrer Verwendung modaler Skalen und komplexer, polyrhythmischer Strukturen. Velvet Underground dagegen produzierten in ihrer Re- zeption von Rock’n’Roll, Fluxus und serieller Musik einen Sound, der spieltechnisch wenig anspruchsvoll, repetitiv war, dem aber (zumindest auf den ersten beiden Alben) in der Kombination musikalischer Partikel und schierer Lautstärke eine äußerst hohe, düstere Intensität zukam. Außerdem koppelten sie Rebellion völlig von den margina- lisierten Unterklassen und den Afroamerikanern ab: Ihre Subjekte waren Angehörige einer urbanen Subkultur, die durch deviante Sexualpraktiken und den Gebrauch von Amphetaminen und Heroin charakterisiert war: Sie stellten sich selbst in den Mittel- punkt und öffneten damit den Weg für einen Rebellenstatus, der auch ostmitteleuro- päischen Zöglingen des realen Sozialismus unmittelbar zugänglich war. Die neue Musik und die offensichtliche – letztlich arrogante53 – Ablehnung der Werte der Eltern traf nun auf ein ähnlich geartetes Artikulationsbedürfnis bei tschechoslowakischen Jugendlichen, obwohl bestimmte Voraussetzungen, an denen sich der New Yorker Underground abar- beitete, in Prag gar nicht gegeben waren – insbesondere nicht die Orientierung der Sub- kultur an den Schwarzen. Eine solche nur teilweise Übernahme – bzw. Transformation in etwas anderes – war aber nicht auf Transfers durch den Eisernen Vorhang hindurch beschränkt. Letztlich geschah in Prag etwas ganz ähnliches wie einige Jahre später bei der Übertragung des Punk aus New York nach London. Rückblickend schrieb die damalige Fanzine-Autorin und spätere Filmemacherin Mary Harron: I felt that what we had done as a joke in New York had been taken for real in England by a younger and more violent audience. And that somehow in the translation, it had changed, it had sparked something different.54 Offensichtlich ganz ähnlich verhielt es sich in Prag.

51 Zu diesem Aspekt von Underground siehe C. Heylin, March of the Wooden Soldiers: The Velvets and Their Un- derground Reputation, in: ders., All Yesterdays’ Parties. The Velvet Underground in Print: 1966-1971, Cambridge/ Mass. 2006. Für die Recherche und Beschaffung dieser und weiterer schwer zugänglicher Publikationen danke ich Laura Roos. 52 Libansky/Zeidler, Jirous (Anm. 3), S. 3. 53 Arroganz als Wesensmerkmal jugendlicher Subkulturen betont überzeugend F. Thomazeau, Mods: La révolte par l‘élégance, Paris 2011. 54 Legs McNeil/Gillian McCain, Please Kill Me. The Uncensored Oral History of Punk, London 1997, S. 303. Transfers, Netzwerke und produktive Missverständnisse | 53

5. Fünfte Ebene: Aneignungen und Transformationen

Bereits Anfang Mai 1969 – also ein gutes halbes Jahr nach Gründung der Band – führten die PPU im Dům kultury des Prager Stadtteils Smíchov die Universe Symphony and Melody about Plastic Doctor auf. Der vom Sänger und Klarinettisten Michal Jernek verfasste Text behandelt in eher knapper Form Entfremdung und ihre Aufhebung im LSD-Rausch, schließt also inhaltlich sehr unmittelbar an die amerikanischen Vorbilder an. Das immer wiederkehrende Motiv Plastic Doctor formuliert in wenig verklausulierter Form das Lob von LSD 25 als Heilmittel für die schlechten Zeiten; weitere Teile verfluchen die Venus (Prokletá Venuše, odejdi a už se nikdy nevracej! | Myslíš si, že jsi bílá | Ne – bílá je jen ciga- reta marihuany55) oder erklären, Beatles, Kinks und Rolling Stones seien „nothing“; die Musik der Plastic People beginne mit Jimi Hendrix und vor allem Frank Zappa.56 Ein weiterer Zwischenteil mit dem Titel Muž bez uší (Mann ohne Ohren) erzählt von einem Mann mit grotesk verformten Ohren, der sich in einem »leichenweißen Badezimmer« zuerst eine Heroinspritze setzt und später seine Ohren abschneidet, was zu seinem Tod führt. Anscheinend wurde dieser Text gleichzeitig szenisch umgesetzt, einschließlich dem Setzen der Spritze, was laut dem ersten Bläser der PPU Michal Jernek das Publikum regelmäßig schockierte.57 Inhaltlich ist für die erste Phase charakteristisch, dass neben Musik selbst in den eigenen Texten vor allem Drogen einen wesentlichen Themenkomplex bildeten. Entgegen einem Teil der Literatur, dem zufolge psychedelische Drogen in der bierseligen Prager Szene nicht üblich und auch gar nicht erhältlich waren,58 war LSD in der ČSSR bereits früh bekannt: Der Psychiater Stanislav Grof experimentierte in den 1950er Jahren mit LSD zu therapeutischen Zwecken und war zumindest seit seiner Auswanderung in die USA 1967 ein Befürworter der Freigabe psychedelischer Substanzen;59 LSD und andere psychede- lische Drogen sowie Morphium und Heroin kamen mit Reisenden ins Land, darüber hi- naus standen mit Fenmetrazin und anderen Pharmazeutika halluzinogene Ersatzdrogen zur Verfügung.60 Überraschend ist außerdem, dass eines der beherrschenden Themen der amerikanischen und britischen Rockmusik (außerhalb und innerhalb des Mainstreams) anscheinend völlig fehlt: Sex kommt in den überlieferten Texten der Plastic People nicht

55 »Verfluchte Venus, geh fort und kehr nie mehr zurück! | Du glaubst, dass Du hell strahlst | Nein, hell strahlt nur die Marihuanazigarette«. Aus: PPU, Muž bez uší. Koncerty 1969-1972, Schweden? 2002, The Universe Symphony and Melody about Plastic Doctor (part 1); Muž bez uší; The Universe Symphony… (part 2) (fragment). 56 »The Jimi Hendrix Experience zde zjevil se již stín for Plastic People… Ano, Frank Zappa, to je ono ne vesmír, ale bohatá duše podzemí a zde jsou Plastic People.« (Die Jimi Hendrix Experience wo sich schon ein Schatten für Plastic Peop- le zeigt … Ja, Frank Zappa, as ist es nicht das Weltall, aber die reiche Seele des Untergrunds und hier sind die Plastic People) Ebenda. 57 J. Riedel, »Nechal jsem toho, kapela byla v ruinach, ale Mejla se nechtěl vzdávat.«, in: Mašurkovské podzemné 25 (http://www.guerilla.cz/masurky/mp25/jernek/jernek.htm, zuletzt aufgerufen 1.9.2014). 58 Laut Vaněk, Byl to jenom (Anm. 2), S. 235 erklären die meisten Zeitzeugen, Drogen außer Alkohol hätten keine Rolle gespielt. Lediglich Milan Knížák insistiert, die 1960er seien ohne Drogen gar nicht vorstellbar gewesen. 59 LSD: Jak se ČSSR stalo psychedelickou velmocí, in: Hospodářské noviny 5.2.2010 (http://hn.ihned.cz/c1- 40335480-lsd-jak-se-cssr-stalo-psychedelickou-velmoci, zuletzt aufgerufen 20.9.2014. 60 Ryback, Rock (Anm. 2), S. 72ff. 54 | Michael Esch

vor, statt dessen die zitierte Absage an Venus. Die einzige Ausnahme scheint eine Zeile von 1971 zu sein. Sie wurde (womöglich bezeichnenderweise) von einer Frau, der bereits 27jährigen Verá Jirousová, verfasst: „We will make love on the square.“61 Ideen zu freier Sexualität wie in der Hippiekultur gab es gar nicht,62 auch wenn Hlavsa anscheinend in der Frühzeit der Band sexuell so aktiv war, dass seine Probendisziplin darunter litt.63 Es ist noch zu klären, ob dies an einer anderen Sexualmoral im Sozialismus (bzw. einem anderen Umgang des „proletarischen“ Staates mit sich wandelndem Sexualverhalten der Jugendlichen) zu tun hatte. Die Abkehr von der Sexualeuphorie der Jugendkultur der 1950er/60er64 scheint aber ein Merkmal der avantgardistischen Kunst der 1960er und 1970er Jahre insgesamt gewesen zu sein: Zwar interessierte sich die Pop-Art für Pop- und Rockmusik und gab es mit Akteuren wie Terry Riley, LaMonte Young oder Yoko Ono Überschneidungen zwischen Fluxus und Rockmusik. Beide griffen aber nur in äußerst seltenen Fällen – und wenn, dann in sexistisch-pornographischer Form (etwa „Sex Parts“ von Andy Warhol von 1977) – die sexuellen Konnotationen des Rock’n’Roll auf.65 Textlich und musikalisch lässt sich die Universe Symphony als frühes Manifest der Plastic People verstehen, sie informiert dementsprechend auch über die Art und Weise, in der der Transfer, das Verständnis und die Aneignung westlicher Rockmusik in Prag erfolgten. Im Titel proklamiert die Universe Symphony (vermutlich ironisch) eine Einordnung in die europäische Kunstmusik, so wie dies – allerdings ernsthaft – einige „progressive“ Rock- bands der Zeit anstrebten. Tatsächlich erinnert sie eher an den Collagenstil der Mothers of Invention66 oder der späten Fugs, ohne spieltechnisch und kompositorisch das gleiche Niveau zu erreichen: Die Rhythmen und verwendeten Skalen sind meist simple Osti- nati der Rhythmussektion mit Melodiefragmenten, die Übergänge zwischen den kaum aufeinander bezogenen Teilen sind abrupt. Spielweise und -kompetenzen sind allerdings hochenergetisch und können sich mit kontinentaleuropäischen psychedelischen und »progressiven« Bands der Zeit messen.67 Mitunter funktionierte die eklektisch-repetitive Collagentechnik der Band vorzüglich, und zwar eben als Dialog mit den gesprochenen, gerufenen, mitunter geschrieenen Gedichten und den häufig daran anschließenden So- lopassagen, vor allem, wenn Saxophon oder Gitarre die Leitstimme bildeten und die

61 PPU, Muž bez uší, The Song of Fafejta Bird about Two Unearthly Worlds. 62 Vgl. W. Sterneck, Die tiefere Bedeutung. Dada, Happening und Fluxus (http://sterneck.net/musik/dada-fluxus/ index.php, zuletzt aufgerufen 1.10.2014). Zu Misogynie und Sexismus in revoltierenden westlichen Musikkultu- ren (sowie zur Mystifizierung von Sex bei John Cage und den Hippies) siehe S. Reynolds/J. Press, The Sex Revolts. Gender, Rebellion and Rock‘n‘Roll, London 1995, bes. S. 2-19; 156ff; 181ff. 63 Riedel, Nechal (Anm. 57). 64 Siehe hierzu U. Heider, Vögeln ist schön. Die Sexrevolte von 1968 und was von ihr bleibt, Berlin 2014; Reynolds/ Press, Sex Revolts (wie Anm. 64). 65 Vgl. hierzu auch A. Kubitza, Fluxus, Flirt, Feminist? Carolee Schneemann, Sexual Liberation and the Avant-garde of the 1960s, in: n.paradoxa online issue 15/16, Juli/September 2001 und Juli 2002, S. 15-29 (Mein Dank an Beata Hock für den Hinweis auf diesen Aufsatz). 66 Siehe etwa The Fairy Queen (Text von Shakespeare) von Muž bez uší, das sehr stark an die frühen Mothers erin- nert. Ebenso Dvacet von Egon Bondy‘s Happy Heart Clubs Banned und weitere Stücke. 67 Vgl. etwa die ersten Alben von Amon Düül II: Phallus Dei (1969), Yeti (1970), Tanz der Lemminge (1971). Transfers, Netzwerke und produktive Missverständnisse | 55

Rhythmussektion aus Bass und Gitarre die Soli tatsächlich stützte68 oder die Musik ge- stisch auf Textteile reagiert.69 Zudem korrespondierte eine mangelnde Perfektion mit dem Konzept Jirous‘, wie er es in seiner zentralen Schrift über die „Dritte Wiedergeburt der tschechischen Musik“ dar- legt:70 Bereits über die Primitives Group hatte er lobend hervorgehoben, sie sei „meilen- weit von jeder blankpolierten Glätte entfernt, unbewusst eher um das genaue Gegenteil bemüht“ (S. 33). Letztlich garantierte die musikalische Ungenauigkeit die Aufrichtigkeit der gewollten Aussage, und damit die im Underground wie in jeder soziokulturellen Subkultur unverzichtbare Authentizität und den freien, nichthierarchischen Austausch (S. 47). Allerdings erinnerte sich Jernek später, dass die PPU-Musiker Jirous erklärten, dass er von Musik nicht allzu viel verstehe;71 immerhin sprach Jirous den PPU eine elegantere musikalische Praxis und gefährliche Nähe zur E-Musik zu. In den erhaltenen Aufnahmen allerdings sind rockmusikalischen Usancen entsprechend einfach gehaltene Instrumentalpassagen mit ausführlichen modalen (Geige) oder freitonalen (Saxophon) Soli zu hören. Diese werden meist ohne Überleitungen von Rezitativen unterbrochen, die von Ostinati untermalt werden, bei denen sich allenfalls Dynamik und Intensität ändern. Dem entsprach, dass sich Jirous zufolge die PPU gerade dadurch auszeichneten, dass sie sich anders als andere interessante tschechische Bands (die instrumental spielten) mit der Stimme unmittelbar an ihr Publikum wandten (S. 40). Das Misstrauen, dass Jirous anscheinend gegenüber der unmittelbaren Aussagekraft der Musik hatten, kommt schließlich darin zum Ausdruck, dass er nicht nur den Musikern Vorlesungen hielt, son- dern auch in der ersten Hälfte der 1970er Jahre die Konzerte einleitete und erläuterte, was der unbändigen Spielfreude der PPU keinen Abbruch tat. In ihrer spezifischen Kom- bination aus elaboriertem Text und teils collagierter, teils improvisierter Musik72 waren die PPU sicherlich gleichzeitig äußerst eigenständig und für den zeitgenössischen – nicht nur ostmitteleuropäischen – Underground durchaus typisch.

Schlussbemerkungen Die vorangegangenen Seiten wollen andeuten, wie eine intensivere Kontextualisierung und Analyse transnationaler subkultureller Phänomene der 1960er und 1970er Jahre in Europa angestellt werden und was sie leisten könnte. Naturgemäß sind weder alle Facet- ten des Themas angesprochen noch diejenigen, die behandelt wurden, ausgeschöpft wor- den. Trotz dieser Mängel dürfte deutlich geworden sein, dass eine neue Beschäftigung auch mit dem anscheinend so gut dokumentierten Thema Plastic People of the Universe, als einem Beispiel für einen bestimmten Ausschnitt musikvermittelter Subkultur im östlichen Teil Europas, mehr als anekdotischem Interesse an Vollständigkeit entspringt,

68 So etwa bei Růže a mrtví auf Muž bez uší (Anm. 4). 69 Etwa am Ende des Rezitativs von 100 bodů (Anm. 4). 70 Siehe zum Folgenden: Jirous, Bericht (Anm. 3). 71 Riedel, Nechal (Anm. 59). 72 Siehe etwa 100 bodů von 1977, auf: PPU, Kolejnice duní, Nr. 1. 56 | Michael Esch

sondern Korrekturen und wesentliche Erweiterungen zur bisherigen Repräsentation die- ser Subkulturen in der Forschungsliteratur und im öffentlichen Gedächtnis beitragen kann. Dies gilt insbesondere dann, wenn die Subkulturen östlich des durchlässigen »Ei- sernen Vorhangs« systematisch und in möglichst dichter Beschreibung (die hier nur teils geleistet werden konnte) aufeinander bezogen werden, und zwar hinsichtlich des Trans- fers von Ideen, Motiven, Verhaltensformen (und – was die Musik angeht – Spielweisen) ebenso wie hinsichtlich der jeweiligen sozioökonomischen Strukturen. Offensichtlich lassen sich auf diese Weise nicht nur die Plastic People angemessener und mehr aus ihrer eigenen Logik (sowie der Logik ihres sozialen und kulturellen Kontexts) heraus beschrei- ben, sondern auch Mechanismen, Formen und Folgen von Transfers bis hin zur Betrach- tung eines transnationalen Milieus, das die unterstellte Undurchlässigkeit der Block- grenze zumindest für die ČSSR relativiert. Dies gilt nicht nur für eine Reisetätigkeit in beiden Richtungen, die offensichtlich weitaus umfänglicher war, als wir gemeinhin meinen. Die Plastic People nahmen einige wenige Schallplattenaufnahmen und Splitter subkultureller Motive als Keime, als Ausgangspunkte für die Entwicklung einer eigenen Auffassung von Underground, von musikalischer und kultureller Rebellion, die bereits recht weit entwickelt war, bevor Jirous ihnen erklärte, was Underground »eigentlich« sei und wo er herkomme. Das musikalische Vokabular, das sie verwendeten, begann mit dem Nachvollzug der Vorbilder, kam aber relativ rasch zu einer eigenständigen musika- lischen Praxis, die klanglich und spieltechnisch einige Ähnlichkeiten mit dem westlichen Underground aufwies. Angesichts solcher und anderer Parallelen werden die Ähnlich- keiten im kritischen Impetus, d. h. die Kritik an erstarrter Kultur und entfremdender Konsumgesellschaft, dann auch mehr als eine bloße Orientierung östlicher Dissidenz am Westen: Der tschechische Underground erscheint als ein Teil einer umfassenden, kultur- und sozialrevolutionären Bewegung. Dieser Impuls geht weitgehend verloren, sobald die zunehmende Repression ein transnationales Bündnis zur Unterstützung der Inhaftierten aus dem PPU-Umfeld den Underground in einen anderen Kontext stellt: Zum einen besteht die kulturrevolutionäre Bewegung, aus der auch die PPU hervorge- gangen sind, nicht mehr, da ihre westlichen Akteure längst im Mainstream angekom- men sind und die Vernetzung mit den neuen Rebellen scheitert. Zum anderen wird der establishment-kritische Diskurs des Underground in der transnationalen öffentlichen Repräsentation zu einem Antikommunismus ohne Ambivalenzen vereindeutigt, der den Akteuren zwar nicht gerecht wird, sie aber für die Zwecke einer kommunismuskri- tischen Dissidenz besser verwendbar macht. Ähnliches gilt dann natürlich auch für die unterschiedslose Diffamierung des westlichen wie des östlichen sozioökonomischen und -kulturellen Modells als Konsumgesellschaft: Sowohl hinsichtlich der materiellen und ökonomischen Bereitstellung von Konsumwaren als auch hinsichtlich der tatsächlichen Konditionierung der Individuen auf das Glücksversprechen der Warenwelt in Medien und Werbung bestanden ganz wesentliche, nicht nur graduelle Unterschiede. Handelte es sich hier um ein „produktives Missverständnis“ ähnlich wie bei der Wahrnehmung des amerikanischen Underground oder um eine weniger artikulierte Parallele zu einer Transfers, Netzwerke und produktive Missverständnisse | 57

Kritik beider Gesellschaftsformen, wie sie etwa bei den Situationisten oder bei Herbert Marcuse angelegt war? Eine weitere Frage, die beantwortet werden muss, wenn man die Auffassung des Under- grounds über eine zumindest teilweise strukturelle Identität des westlichen und östlichen Establishments ernst nimmt, ist die nach den Ursachen der härteren Repression in der ČSSR: Wieso wurde der Underground hier so nachhaltig bekämpft, während er jenseits der Blockgrenze teilweise in einen Mainstream der hohen Kunst, teilweise in den Bereich der Popmusik integriert wurde (was dann bis zum Punk und Techno neue Rebellionen wachrief73)? Möglicherweise ist die größere Integrationsfähigkeit nicht nur durch den Warencharakter von Kultur im Westen gegenüber einem Erziehungscharakter im Osten zu erklären, sondern auch durch eine damit zusammenhängende je andere Auffassung des privaten Bereichs und der Freizeit: In den östlichen Erziehungsdiktaturen war (oder blieb) das Private politisch,74 in anderer Form und mit anderen Inhalten, aber in ähn- lichem Sinne wie dies die Studenten- und Jugendrevolte im Westen forderte. Dagegen führte die Durchsetzung von Pop und Jugendkultur und die Pluralisierung von Lebens- entwürfen im Westen nicht nur zu einer Entpolitisierung der Freizeit, sondern zu einer Privatisierung des Politischen. Diesen Aspekt näher zu untersuchen bleibt einem größe- ren Forschungsprojekt vorbehalten.

73 Sehr schön formulierte diesen Zusammenhang der DJ und Dokumentarfilmer Don Letts: “All counterculture becomes appropriated and the next movement comes along to react against it. … It becomes this thing that the next lot have to rebel against; you almost need it to happen. You need to get ill before you take the medicine to get the cure.” Zit. n. J. Robb, Punk Rock. An Oral History, London 2006, S. 37. 74 Siehe hierzu auch jüngst M. Franc/J. Knapík, Volný čas v českých zemích, 1957–1967, Praha 2013.