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Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen muss geschützt werden! Offener Brief von Kinder- & Jugendlichenpsycholog:innen, Kinder- & Jugendlichenpsychothera- peut:innen und Kinder- & Jugendlichenpsychiater:innen

Aktuell unterliegen Kinder und Jugendliche in höchstem Maße den Kontaktbeschränkungen im Rahmen der COVID-19 Pandemie. Schulen und Kindertagesstätten sind geschlossen, Freizeit- einrichtungen im Rahmen von Sport und Kultur bereits seit November 2020 nicht zugänglich. Auch im privaten Bereich können kaum Kontakte zu Gleichaltrigen aufrechterhalten werden.

Welche Auswirkungen haben diese Einschränkungen auf Kinder und Jugendliche? In unserem beruflichen Alltag beobachten wir seit Pandemiebeginn einen (1) Anstieg psychi- scher Belastung bei Kindern und Jugendlichen und (2) Schwierigkeiten in der Versorgung1: (1) Bundeslandübergreifend zeigen sich in der kinder- und jugendpsychiatrischen und -psy- chotherapeutischen Versorgung vermehrt Angststörungen, Depressionen, Schlafstö- rungen, Essstörungen, und Substanzmissbrauch. Zudem wird ein Anstieg von Pati- ent:innen berichtet, die aufgrund von akuter Suizidalität/Krisen oder nach häuslicher Eskalation kinder- und jugendpsychiatrisch versorgt werden müssen2,3. Eine aktuelle Be- fragung des Bundesverbands der Vertragspsychotherapeuten e.V. zeigt bei Betrachtung von geschätzt mehr als 10.000 Kindern und Jugendlichen ein alarmierendes Bild von verstärkten Ängsten, Spannungen im häuslichen Umfeld, häuslicher Gewalt, Leis- tungsabfall und Versagensängsten, stark erhöhtem Medienkonsum und Gewichts- zunahme. Zugleich fallen gesundheitsrelevante Ressourcen wie Sozialkontakte zu Gleichaltrigen, Musik oder Sport im Verein, aber auch Angebote der Jugendhilfe weg, was zu massiven psychosozialen Beeinträchtigungen bis hin zu psychischen Störungen führt 4,5. (2) In der kinder- und jugendpsychiatrischen Behandlung hat die aktuelle Entwicklung zuneh- mend zur Folge, dass reguläre Behandlungen zugunsten von Kriseninterventionen auf- geschoben werden oder ausfallen müssen. Der Fokus liegt auf stark belasteten Kindern und Jugendlichen, so dass viele Patient:innen nicht hinreichend versorgt werden.

Die Probleme zeigen sich über alle Altersgruppen hinweg: • Eltern von Kleinkindern berichten vermehrt von Trennungsängsten beim Übergang in die Notbetreuung. Im häuslichen Rahmen schildern sie Verhaltensauffälligkeiten. Die Kin- der zeigen unkontrollierte Wutausbrüche, Aggressionen und Schlafprobleme. Gegenwär- tig erscheinen uns die vorgestellten Patient:innen jünger als üblicherweise. • Insbesondere bei Schulkindern, die im Sommer bedeutsame Transitionen wie die Ein- schulung oder den Wechsel zur weiterführenden Schule bewältigt haben, ist derzeit die Häufung von Schulängsten auffällig. Bereits vor Pandemiebeginn bestehende Schul- ängste verstärken sich durch den unregelmäßigen Schulbesuch. • Die Adoleszenten zeigen sich ebenso deutlich belastet. Besonders die Altersgruppe der jüngeren Adoleszenten muss als stark gefährdet hinsichtlich missbräuchlicher Medien- und Internetnutzung und der Entwicklung von Essstörungen angesehen werden4. Für sie gibt es durchgehend keine Notbetreuungsangebote. Oft werden sie sich selbst überlas- sen, zumal sie in einem Lebensalter sind, in dem sie um Autonomie ringen und sich von den Eltern oft nicht leicht anleiten lassen.

1 Dieser offene Brief spiegelt unsere persönlichen Erfahrungen wider und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. 2 https://www.aerztezeitung.de/Politik/KBV-Chef-Lockdown-belastet-Kinder-416693.html 3 https://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Lockdown-Folgen-Deutlich-mehr-junge-Augsburger-haben-psychische-Prob- leme-id58939631.html 4 https://bvvp.de/wp-content/uploads/2021/01/20210127-bvvp-PM_Folgerungen-aus-KJP_Befragung-des-bvvp_public.pdf 5 https://www.nw.de/nachrichten/zwischen_weser_und_rhein/22938301_Immer-mehr-Kinder-wegen-Corona-in-psychiatrischer- Behandlung.html Unsere Beobachtungen decken sich mit wissenschaftlichen Befunden6,7,8,9 und auch die Junge Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin berichtet in ihrem kürzlich erschienenen Appell10 von einer deutlich gestiegenen Anzahl von psychisch belasteten Kindern und Jugendli- chen sowie psychiatrischen Notfällen, die derzeit in kinder- und jugendmedizinischen Einrichtun- gen vorstellig werden.

Die negativen Auswirkungen der Pandemie kommen nicht überraschend. Schon im Mai 2020 wiesen die Deutsche Gesellschaft für Psychologie und die Gesellschaft für Empirische Bildungs- forschung auf die Gefahren von Schulschließungen für die gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen hin11. Umso schwerer wiegt es, dass in den politischen Entscheidungen die Bedürfnisse und Rechte von Kindern und Jugendlichen kaum berücksichtigt wurden.

Wie können Kinder und Jugendliche unterstützt werden? Die Bedürfnisse und die Perspektive von Kindern und Jugendlichen müssen in den Entscheidun- gen zur Pandemiebekämpfung mit hoher Priorität miteinbezogen werden, insbesondere bei der Abwägung von Prioritäten, Risiken und Kollateralschäden. Der Zeitraum eines Jahres im Leben eines Kindes oder eines Jugendlichen ist sehr lang, potentielle Nebenwirkungen und ne- gative Auswirkungen der bisherigen Maßnahmen sind bereits deutlich spürbar. Wir fordern: • Ein Gremium, das sich explizit mit der vulnerablen Gruppe der Kinder und Jugendlichen befasst und ihre Stimmen direkt miteinbezieht. Die Schülervertretungen zeigen sich in diesem Punkt gut organisiert und eigeninitiativ12. • Sichere Öffnung von Kitas und Schulen entsprechend der aktualisierten Vorschläge der Deutschen Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie und der Deutschen Gesell- schaft für Krankenhaushygiene13. Dies ist insbesondere deshalb wichtig, weil sich das Ende der Pandemie noch nicht abzeichnet. Hier braucht es jetzt dringend Konzepte, wie der Schulbetrieb wieder aufgenommen werden kann. • Eine personelle Verstärkung in der Jugendhilfe und in den Jugendämtern. Modellhaft kann das Jugendamt des Kreises Offenbach herangezogen werden, wo eine Task Force eingerichtet wurde, um Familien zu begleiten und Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen zu verringern14. • Das Ermöglichen von pandemiegerechten Freizeitangeboten (z.B. Sportkurse, Ju- gendtreffs, die im Freien stattfinden). • Förderung und Ausbau einzel- und gruppenpädagogischer Angebote zur Bearbeitung der pandemiebedingten psychosozialen Belastungen und Prävention vor weiterer Chro- nifizierung. • Einen niedrigschwelligen Zugang zu unterstützenden, langfristig angesetzten psychoso- zialen Angeboten, die nach Bedarf auch aufsuchend stattfinden.

Die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen ist ein fundamentaler Baustein der Zukunft unserer Gesellschaft. Die gegenwärtig erhebliche Not dieser Generation muss endlich Gehör finden!

6 Panda, P.K., Gupta, J., Chowdhury, S.R. et al. (2020). Psychological and Behavioral Impact of Lockdown and Quarantine Measures for COVID-19 Pandemic on Children, Adolescents and Caregivers: A Systematic Review and Meta-Analysis. Journal of Tropical Pediatrics, online first. doi: 10.1093/tropej/fmaa122 7 Schlack, R., Neuperdt, L., Hölling, H. et al. (2020). Auswirkungen der COVID-19-Pandemie und der Eindämmungsmaßnahmen auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Journal of Health Monitoring, 5 (4), 23-33. doi: 10.25646/7173 8 Fegert, J. M., Vitiello, B., Plener, P. L., & Clemens, V. (2020). Challenges and burden of the Coronavirus 2019 (COVID-19) pan- demic for child and adolescent mental health: a narrative review to highlight clinical and research needs in the acute phase and the long return to normality. Child and adolescent psychiatry and mental health, 14, 20. doi: 10.1186/s13034-020-00329-3 9 Golberstein, E., Wen, H., & Miller, B. F. (2020). Coronavirus disease 2019 (COVID-19) and mental health for children and adoles- cents. JAMA pediatrics, 174(9), 819-820. doi:10.1001/jamapediatrics.2020.1456 10 https://www.dgkj.de/die-gesellschaft/aufgaben-und-angebote/appell-der-jungen-dgkj 11https://www.dgps.de/index.php?id=2000498&tx_ttnews%5Btt_news%5D=1971&cHash=05901160461ac6ef6dd789b22adafc48 12 https://lsaberlin.de/wp-content/uploads/2021/01/210116_LSA_PP-Corona_Kommunikation1.pdf 13 https://dgpi.de/aktualisierte-stellungnahme-der-dgpi-und-der-dgkh-zur-rolle-von-schulen-und-kitas-in-der-covid-19-pandemie- stand-18-01-2021/ 14 https://www.kreis-offenbach.de/Kurzmen%C3%BC/Startseite/Jugendamt-verst%C3%A4rkt-Kontakte-zu-Eltern.php?ob- ject=tx,2896.5&ModID=7&FID=2896.9872.1 Unterzeichnet von Mitarbeiter:innen in Kinder- und Jugendpsychiatrien, psychotherapeutischen (Hochschul-)Ambulanzen für Kinder und Jugendliche und in (schul-)psychologischen Beratungs- und Frühförderstellen, Fachberater:innen und Kinder- und Jugendlichentherapeut:innen (angestellt oder in eigener Praxis), die wir derzeit tagtäglich die unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie für Kinder und Jugendliche miterleben.

1. Prof. Dr. Tobias Hecker, Bielefeld, Universität Bielefeld 2. Dr. Katharin Hermenau, Bielefeld, Evangelisches Klinikum Bethel 3. Vera Heselhaus, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, 4. Kathrin Dewender, Dipl. Psych., , a tempo beratung & coaching 5. Prof. Dr. Julia Asbrand, , Humboldt-Universität zu Berlin, Sprecherin der Interessengruppe KJP der Fachgruppe Klinische Psychologie der DGPs 6. Prof. Dr. Martina Zemp, Wien, Universität Wien, Sprecherin der Interessengruppe KJP der Fach- gruppe Klinische Psychologie der DGPs 7. Dr. Klaus Riedel, Bielefeld, freie Praxis, Sprecher der Kinder- und Jugendlichenpsychothera- peut:innen OWL 8......

***Wir bitten darum den offenen Brief in den entsprechenden beruflichen Netzwerken zu verbreiten und freuen uns über Unterstützung. Der offene Brief kann weiterhin unterzeichnet werden. Hierfür genügt eine E-Mail mit Betreff Offener Brief KJP unter Angabe von Name, ggf. Titel, Wohnort, ggf. Arbeitsstelle und Funktion an [email protected]***