ʺZwischen Geschichte und Mythos – Großbulgarien unter Khan (7. Jh.)ʺ

von DANIEL ZIEMANN (Budapest)

1. „Kubrats Reich“ nach Theophanes/Nikephoros

Die meisten Darstellungen zur bulgarischen Geschichte sind sich einig. In der zweiten Hälfte des 7. Jh. existierte nördlich des Schwarzen Meeres ein Reich, das so genannte Großbulgarien unter einem Herrscher namens Kubrat. 1 Alle maßgeblichen

Handbücher und Gesamtdarstellungen zur bulgarischen Geschichte diskutieren nicht die Existenz, sondern lediglich die genaue Lokalisierung und Ausdehnung

Großbulgariens oder die zeitliche Spanne, die meist innerhalb der ersten Hälfte des 7.

Jh. angesetzt wird.2 Als wichtigste Quellengrundlage dient dabei eine Passage innerhalb der Werke des Theophanes und Nikephoros, die nach Ansicht der

Forschung für den behandelten Zeitraum aus ein und derselben Vorlage schöpften, diese aber unterschiedlich kürzten bzw. selektierten.

1 Der Ausdruck ἡ μεγάλη Βουλγαρία wird meist mit „Großbulgarien” oder „Altgroßbulgarien”, auf Bulgarisch „старата велика България” übersetzt, obwohl u. a. Beševliev mit guten Gründen auf die zusätzliche Bedeutung von μέγας als „alt“ oder „sehr alt“ hinweist und daher „Altbulgarien“ (стара България) als Übersetzung vorschlägt (V. BEŠEVLIEV. Две бележки. II. ἡ μεγάλη Βουλγαρία. – Годишник на Националния археологически музей [ГНАМ] 8 [1992] 402–403). 2 V. ZLATARSKI. История на българската държава през средните векове, I: Първо българско царство, I, 1: Епоха на хуно‐българското надмощие (679‐852). Sofia 1918, Neudruck 2002; S. 84‐122; M. ARTAMONOV. История хазар, Leningrad 1962, S. 157‐169; A. V. GADLO. Этническая история Северного Кавказа IV—X вв. Leningrad 1979, S. 107‐126; V. BEŠEVLIEV. Die protobulgarische Periode in der bulgarischen Geschichte. Amsterdam 1981, S. 149‐155; V. POPOVIĆ. Куврат, Кувер и Аспарух, in: Старинар 37 (1986) 103‐133; D. DIMITROV. Прабългарите по Северното и Западното Черноморие. Към въпроса за тяхното присъствие и история в днешните руски земи и ролята им при образуването на българската държава. Варна 1987, S. 101‐127; V. GJUZELEV. in: История на България, том втори: Първа българска държава, под ред. на D. ANGELOV / P. PETROV/ B. PRIMOV, Sofia 1981, S. 69‐75; DERS. in: История на България в три тома, том първи: I. BOŽILOV/ V. GJUZELEV: История на средновековна България VII‐XIV век, Sofia 1999, S. 74‐84; P. GEORGIEV. Столицата на хан Кубрат, in: Трудове на катедрите по история и богословие при Шуменския университет 4 (2001) 17—39; История на българите, том първи: От древността до края на XVI век. под редакцията на проф. G. BAKALOV, Sofia 2003, S. 52‐63; F. CURTA. Southeastern Europe in the Middle Ages 500‐1250, Cambridge 2006; U. FIEDLER. in the lower Danube region. A survey of the archaeological evidence and of the state of current research, in: The Other Europe in the Middle Ages. Avars, Bulgars, Khazars and Cumans, edited by F. CURTA, with the assistance of R. KOVALEV, Leiden 2007, S. 151‐236, hier S. 152f. mit neuerer Lit. S. 222‐236; siehe auch den Artikel von G. PRINZING. Kubrat, in: Lexikon des Mittelalters 5, S. 1558 mit weiterer Literatur; Ž. ŽEKOV. България и Византия VII—IX в. Военна администрация. Sofia 2007, S. 219—229; D. ZIEMANN. Vom Wandervolk zur Großmacht. Die Entstehung Bulgariens im Frühmittelalter 7.‐9. Jh., Köln/ Weimar/ Wien 2007, S. 142‐160. 1 Theophanes und Nikephoros liefern sehr ähnlich Versionen der Geschichte. Bei

Theophanes ist die entscheidende Passage zum Großbulgarischen Reich Kubrats (ἡ

πάλαι καλουμένη μεγάλη Βουλγαρία) zum Weltjahr 6171, also eigentlich 678/679 zu finden. Jedoch geht die Forschung hier von einer Verschiebung der Datierungen bei

Theophanes aus, so dass man die dort beschriebenen Ereignisse allgemein auf das

Jahr 680/681 setzt.3 Nach einem Satz zum tatsächlich im Jahre 680 erfolgten Tod von

Mauias, gemeint ist Mu῾āwiya, der fünfte Kalif und Begründer der

Omayyadendynastie (661‐680), wird von einem Einfall der Bulgaren nach Thrakien berichtet.4 An dieser Stelle erfolgt der entscheidende Einschub. Es sei nun notwendig, so fährt Theophanes fort, etwas über die Vergangenheit der Unnogunduren‐

Bulgaren und Kotragen zu erzählen.5

Bei Nikephoros befasst sich der unmittelbar vor dem Kapitel stehende Abschnitt mit dem Untergang der omayyadischen Flotte bei Syllaion und dem sich anschließenden

Friedensschluss. Auf diese Nachricht hin hätten sich laut Nikephoros auch die

Awaren und die Fürsten der benachbarten Völker durch mit Geschenken ausgestattete Gesandte an den Kaiser gewandt. Der Kaiser habe eingewilligt, so dass

Frieden und Ruhe in West und Ost geherrscht hätten. Gleich darauf beginnt

3 Zur Chronologie des Theophanes siehe: The Chronicle of Theophanes Confessor. Byzantine and Near Eastern History AD 284‐813, translated with introduction and comment by C. MANGO and R. SCOTT with the assistance of G. GREATREX, Oxford 1997, S. LXIII‐LXXIV, mit weiterer Literatur S. LXV Anm. 55; W. BRANDES. Rezension v. C. MANGO/ R. SCOTT (transl.): The Chronicle of Theophanes Confessor, in: BZ 91 (1998), S. 549‐561. 4 Zu Mu῾āwiya: M. A. J. BEG. The reign of Muʹāwiyah: a critical survey. Islamic Culture 51 (1977), S. 83‐107; W. E. KAEGI. Byzantium and the early Islamic conquests, Cambridge, 1992; C. P. KYRRIS. Cyprus, Byzantium and the Arabs from the mid‐7th to the early 8th century, in: Oriente e Occidente tra Medioevo ed età Moderna. Studi in onore di Geo Pistarino. A cura di Laura Balletto. Vol. II, Genua 1997, S. 625‐674; M. POLAT. Der Umwandlungsprozess vom Kalifat zur Dynastie: Regierungspolitik und Religion beim ersten Umayyadenherrscher Mu῾āwiya ibn Abī Sufyān (Europäische Hochschulschriften. Reihe III, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 855), Frankfurt am Main 1999; J. WELLHAUSEN. Arab wars with the Byzantines in the Umayyad period, in: Arab‐Byzantine relations in early Islamic times. Ed. M. BONNER (The Formation of the Classical Islamic World, 8), Ashgate 2004, S. 31‐64; H. A. R. GIBB. Arab‐ Byzantine relations under the Umayyad caliphate, in: Arab‐Byzantine relations in early Islamic times. Ed. M. BONNER (The Formation of the Classical Islamic World 8), Ashgate 2004, S. 65‐79. 5 Theophanis Chronographia, rec. C. DE BOOR, Vol. 1: Textum graecum continens, Leipzig 1883, S. 356, Z. 18‐20: Καὶ τούτῳ τῷ χρόνῳ τὸ τῶν Βουλγάρων ἔθνος ἐπῆλθε τῇ Θρᾴκῃ. ἀναγκαῖον δὲ εἰπεῖν καὶ περὶ τῆς ἀρχαιότητος τῶν Οὐννογουνδούρων Βουλγάρων καὶ Κοτράγων, Chronicle of Theophanes, transl. MANGO/SCOTT (wie Anm. 3), S. 497. 2 Nikephoros den folgenden Absatz mit der Bemerkung, es sei nun Zeit über die

Herrschaft der so genannten Hunnen und Bulgaren und ihre Angelegenheiten zu sprechen. 6

Nur bei Theophanes findet sich in der Folge ein geographischer Exkurs, welcher das

Gebiet genauer beschreiben soll, in dem sich die zu erzählenden Vorgänge abgespielt hätten. Es handelt sich um das Gebiet der Maiotis, also des heutigen Asowschen

Meeres.7 Theophanes geht dabei in einer Beschreibung auf die Flüsse Don, Kouphis – gemeint ist bei letzterem wohl der Kuban – und dort lebende Fische ein.8 Er schreibt, dass an der nord‐, also der entgegen gesetzten Seite des Schwarzen Meeres der so genannte Maiotidische See liege, in den ein großer Fluss namens Atel – also die

Wolga – münde, der vom Ozean kommend durch das Land der Sarmaten fließe. Der

Atel würde mit dem Fluss Tanais, also dem Don, zusammenfließen, der auch aus den

Iberischen Pforten, die in den Bergen des Kaukasus lägen, entspränge. Vom

Zusammenfluss des Tanais und des Atel, der sich vor dem vorher erwähnten

Maiotidischen See abspalte, fließe der Fluss Kouphis, der sich im entfernten Ende bei

Nekropela beim „Rams Kopf“ genannten Vorgebirge in das Schwarze Meer ergieße.

Vom eben genannten See komme eine Strecke Meeres gleich einem Fluss, der in das

Euxenische Meer durch das Land des Kimmerischen Bosphoros münde. Dort finge man den so genannten Mourzoulin und ähnliche Fische. Jetzt, an der Ostseite des

Sees, der darüber liege, in der Richtung von Phanagoria und der Juden, welche dort lebten, grenzten sehr viele Stämme, während vom gleichen See in Richtung des

Flusses Kouphis, wo der bulgarische Fisch Xyston gefangen werde, sich das alte

6 Nikephoros, Patriarch of , Short History. Text, Translation and Commentary by C. MANGO (DOT 10) (CFHB 13), Washington, D. C. 1990, cap. 35, Z. 1f., S 86: Λεκτέον δὲ ἤδη περὶ τῆς τῶν λεγομένων Οὔννων καὶ Βουλγάρων ἀρχῆς καὶ καταστάσεως αὐτῶν; zum Begriff der Hunnen an dieser Stelle: V. BEŠEVLIEV. Deux corrections au „Breviarium“ du Patriarche Nicéphore, in: Revue des Études Byzantines 20 (1970), S. 153‐159. 7 Theophanes, Chronographia (ed. DE BOOR) (wie Anm. 5), S. 356, Z. 20f.: ἐν τοῖς ἀρκτῴοις περατικοῖς μέρεσι τοῦ Εὐξείνου πόντου, ἐν τῇ λεγομένῃ Μαιώτιδι λίμνῃ; Chronicle of Theophanes, transl. MANGO/SCOTT (wie Anm. 3), S. 497f. 8 Theophanes, Chronographia (ed. DE BOOR) (wie Anm. 5), S. 357, Z. 8‐11: ἀπὸ δὲ τῆς αὐτῆς λίμνης ἐπὶ τὸν λεγόμενον Κοῦφιν ποταμόν, ἔνθα τὸ ξυστὸν ἀγρεύεται Βουλγαρικὸν ὀψάριν, ἡ παλαιὰ Βουλγαρία ἐστὶν ἡ μεγάλη, καὶ οἱ λεγόμενοι Κότραγοι ὁμόφυλοι αὐτῶν καὶ οὗτοι τυγχάνοντες, Chronicle of Theophanes, transl. MANGO/SCOTT (wie Anm. 3), S. 498. 3 Großbulgarien befunden habe und die so genannten Kotragen, die vom selben

Stamm wie die Bulgaren seien.

Die Erwähnung von Juden in Phanagoria stellt ein interessantes Phänomen dar.

Bekanntlich gehören die Khazaren zu den wenigen nichtjüdischen

Herrschaftsverbänden, bei denen das Judentum als Religion eine zeitweise auch die

Herrscherfamilie umfassende Vorrangstellung genoss. Die zeitliche Einordnung der

Konversion zum Judentum ist in der Forschung ähnlich umstritten wie ihr Ausmaß innerhalb der khazarischen Gesellschaft.9 Die Konversion eines Großteils der

Khazaren zum Judentum lässt sich aber wohl nicht vor dem Beginn des 9. Jh. datieren. Aber dennoch ließe sich die Präsenz jüdischer Gruppen in Phanagoria möglicherweise schon für eine frühere Zeit ansetzen.10 Ein eindeutiges

Datierungsmerkmal für den Textabschnitt bildet diese Beobachtung daher nicht. Was

Phanagoria angeht, so schlug jüngst Pavel Georgiev vor, die Verwendung dieses

Namens eher im Sinne eines Gebietes denn einer Stadt zu interpretieren.11

Nikephoros, der den geographischen Exkurs aus der mit Theophanes gemeinsamen

Vorlage gekürzt hat, formuliert etwas knapper, daß sich im Gebiet der Maiotis beim

Fluß Kofis Großbulgarien, wie es in alten Zeiten genannt worden sei, befinde. Auch

Nikephoros verweist wie Theophanes darauf, dass hier die so genannten Kotragen lebten, die mit den Bulgaren verwandt seien.12

Der Kern der folgenden Erzählung wird von Nikephoros und Theophanes in einer

ähnlichen Art und Weise erzählt. Zur Zeit Kaiser Konstantins, der im Westen

9 P. B. GOLDEN. The Conversion of the Khazars to Judaism, in: Handbuch der Orientalistik. The World of the Khazars. New Perspectives. Selected Papers from the Jerusalem 1999 International Khazar Colloquium, ed. by P. B. GOLDEN, H. BEN‐SHAMMAI and A. RÓNA‐TAS, Leiden 2007, S. 123‐163; J. SHEPARD. The Khazar’s Formal Adoption of Judaism and Byzantium’s Northern policy, in: Oxford Slavonic papers, n.‐s. 31 (1998), S. 11‐34. 10 GOLDEN, The Conversion (wie Anm. 9), zur Datierung vor 837 aufgrund von numismatischen Zeugnissen siehe S. 156f.; eine Bibliographie zur nördlichen Schwarzmeerküste aus archäologischer Sicht: M. J. TREISTER and Y. G. VINOGRADOV. Archaeology on the Northern Coast of the , in: American Journal of Archaeology 97 (1993), 3, S. 521‐563, S. 556‐558 zum antiken Phanagoria. 11 GEORGIEV, Столицата (wie Anm. 2), S. 23; er sieht in Phanagoria selbst ein „städtisches Zentrum nomadischen Typs“ (ebd. S. 29). 12 Nikephoros, Short history (ed. MANGO) (wie Anm. 6) 35, Z. 2–5, S. 86‐89: περὶ τὴν Μαιῶτιν λίμνην κατὰ τὸν Κώφινα ποταμὸν καθίσταται ἡ πάλαι καλουμένη μεγάλη Βουλγαρία καὶ οἱ λεγόμενοι Κότραγοι, ὁμόφυλοι αὐτῶν καὶ οὗτοι τυγχάνοντες. 4 gestorben sei, – gemeint ist dabei Konstans II. (641‐668) – habe ein gewisser Kubrat, der Herrscher über das erwähnte Bulgarien und über die Kotragen, bei seinem Tode fünf Söhne hinterlassen, denen er zuvor geraten habe, niemals auseinander zu gehen.

Doch nach nicht allzu langer Zeit sei Uneinigkeit zwischen den Söhnen aufgekommen, daher hätten sie sich voneinander getrennt, wobei jeder das ihm zugehörige Volk mitgenommen habe. Einzig Kubrats erster Sohn Batbaian13 habe den

Rat seines Vaters befolgt und sei bis zum heutigen Tag in seiner angestammten

Heimat geblieben. Kubrats zweiter Sohn namens Kotragos14 habe den Tanais, also den Don, überquert und sich gegenüber von Batbaian angesiedelt. Der vierte Sohn habe die Donau überquert, sich in Pannonien niedergelassen und die Oberherrschaft des Awarenkhagans anerkannt. Der fünfte Sohn habe sich zur Pentapolis bei

Ravenna begeben und sich den Christen unterworfen. Der dritte Sohn namens

Asparuch15 schließlich habe den Dnjepr und Dnjestr überquert, Flüsse, die nördlich der Donau liegen, dann einen Ort namens Onglos erreicht und zwischen ersterem und letzterem sich angesiedelt, da er den Platz als ungefährdet und von allen Seiten unzugänglich eingeschätzt habe. Von vorne sei er nämlich durch einen Sumpf, auf den anderen Seiten von Flüssen umgeben und habe so dem durch Zwietracht dezimierten Volk vollen Schutz vor Feinden geboten. Da nun das Reich des Kubrat geteilt worden sei und seine Söhne sich zerstreut hätten, habe das große Volk der

Khazaren, das aus Berzilia, dem innersten Teil Sarmatiens, komme, das ganze jenseitige Land bis zum Pontischen Meer unterworfen und sich auch Batbaian bis zum heutigen Tag zum Untertanen gemacht.16

Theophanes und Nikephoros setzen ihren Bericht nun mit dem in einer Niederlage mündenden Feldzug Kaiser Konstantins IV. fort, der 681 mit einem Vertragsabschluß

13 Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit (PmbZ). Erste Abteilung (641–867), hrsg. von der Berlin‐Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, nach Vorarbeiten F. WINKELMANNs erstellt von R.‐J. LILIE, C. LUDWIG, T. PRATSCH, I. ROCHOW, B. ZIELKE u. a., 7 Bde. (Prolegomena + Bde. I‐VI), Berlin/ New York 1998–2001, # 984. 14 PmbZ (wie Anm. 13) #4152. 15 PmbZ (wie Anm. 13), #654. 16 Die Version des Theophanes, Chronographia (ed. DE BOOR) (wie Anm. 5), S. 357, Z. 11‐ 358, Z. 11, Chronicle of Theophanes, transl. MANGO/SCOTT (wie Anm. 3), S. 497f. 5 zwischen Byzanz und den Bulgaren endete. Wie allgemein bekannt ist, wird dieses

Jahr von Bulgarien als das der Staatsgründung angesehen und wurde 1981 entsprechend feierlich begangen.17 Giuseppe De Gregorio und Otto Kresken argumentierten jüngst im Rahmen einer eingehenden Analyse, den Feldzug und

Friedensschluss auf 680 zu verlegen.18 Bis dahin gingen die meisten Darstellungen von 681 aus, da Theophanes eine Verbindung zum ökumenischen Konzil von 681 herstellt.19 Die Frage ist dabei, wie man den Bulgarenkrieg mit dem Konzil in

Zusammenhang bringt. Für die nun folgenden Ausführungen ist die Diskussion über die genaue Datierung jedoch unerheblich.

In der vorliegenden Untersuchung soll der Schwerpunkt vielmehr auf der

Vorgeschichte der Ereignisse von 681 liegen. Die bei Theophanes und Nikephoros dargestellte Geschichte über Kubrat und seine fünf Söhne wird von der

Geschichtswissenschaft kaum bezweifelt. Jedoch gab es auch Stimmen, die in der

Geschichte eher eine Art Stammessage sahen.20 Der überwiegende Teil der Forschung

17 G. MORAVCSIK. Byzantinoturcica 1: Die byzantinischen Quellen der Geschichte der Turkvölker, Berlin 21958, S. 531; G. CANKOVA‐PETKOVA. За годината, когато е създадена българската държава, in: Исторически преглед (1968), 3, S. 58‐61; M. VOJNOV. За годината на образуването и признаването на българскатa държава, in: Военно Исторически Сборник (1981), 2, S. 49‐57; DERS. За първия допир на Аспаруховите българи със славяните и за датата на основането на българската държава, in: Известия на Института за българска история 6 (1956), S. 453‐481, hier S. 468‐476; P. PETROV in: История на България 2 (wie Anm. 2), S. 106; GJUZELEV, История на средновековна България (wie Anm. angesetzt wird.), S. 92. 18 G. DE GREGORIO/ O. KRESTEN. Ἐφέρος – „in diesem Jahr“. Zur Datierung des Bulgarenfeldzugs des Kaisers Konstantinos IV. (Sommer/Herbst 680), in: Rivista di Studi Bizantini e Neoellenici 43 (2006), S. 21‐56. 19 Theophanes, Chronographia (ed. DE BOOR) (wie Anm. 5), S. 359, Z. 26 – S. 360, Z. 7, Chronicle of Theophanes, transl. MANGO/SCOTT (wie Anm. 3), S. 499f.; innerhalb der Konzilsakten von 681 wird von einem Presbyter Konstantinos aus Apameia berichtet, welcher zu Ende des Konzils am 9. August 681 in der 16. Sitzung vom Krieg in Bulgarien sprach. „ἦλθον πρὸς τὴν ἁγιαν ὑμῶν σύνοδον, ἐφ ᾧ ἀναδιδάξαι ὑμᾶς, ὅτι, ἐὰν εἰσηκούσθην, ἅ ἐπάθομεν ἐφέτος, οὐκ εἴχομεν παθεῖν, τουτέστιν εἴ τι ἐπάθομεν εἰς τὸν πόλεμον Βουλγαρίας.“ Acta conciliorum oecumenicorum sub auspiciis Academiae Scientiarum Bavariae edita, series secunda, volumen secundum: Concilium universale Constantinopolitanum tertium, pars 2, ed. R. RIEDINGER, Berlin 1992, S. 694, Z. 24‐27; zur Überlieferungssituation siehe die Einleitung, ebd. S. X. 20 J. MARQUART. Die Chronologie der alttürkischen Inschriften, Leipzig 1898, S. 85‐86; DERS. Osteuropäische und ostasiatische Streifzüge, Leipzig 1903, S. 505f.; G. FEHÉR. Bulgarisch‐ungarische Beziehungen in den V‐XI. Jahrhunderten (Veröffentlichung der asiatischen Kommission der Körösi Csoma‐Gesellschaft), Budapest 1921, S. 34‐37, ging von von einem historischen Kern mit späteren Interpolationen aus; G. MORAVCSIK. Zur Geschichte der Onoguren, in: Ungarische Jahrbücher 10 (1930) S. 69‐76; wieder abgedruckt in: DERS. Studia Byzantina, S. 84‐118; ARTAMONOV, История хазар (wie 6 jedoch schenkte ihr Glauben. Vasil Zlatarski betonte, dass die Teilung eines

Großreiches unter mehrere Söhne für die damalige Zeit nichts Ungewöhnliches sei.

Er ging daher von der Historizität der Geschichte aus.21 Zlatarskis Spuren folgten die meisten Historikerinnen und Historiker. Als ein Beispiel von vielen sei auf Vasil

Gjuzelev verwiesen, der keinen Zweifel an der Existenz Großbulgariens im von

Theophanes und Nikephoros beschriebenen Raum Mitte des 7. Jh. hegte. Er sah in

Kubrats Reich einen aus Onoguren, Bulgaren und Kotragen bestehenden Verband, der durch die gemeinsame Sprache und den gemeinsamen Namen „Bulgaren“ zusammengehalten worden sei.22 Auch die jüngsten Darstellungen zur bulgarischen

Geschichte übernehmen im Großen und Ganzen die traditionelle Deutung.23

Während die bloße Existenz eines solchen Reiches im von Theophanes und

Nikephoros beschriebenen Raum in der historischen Forschung meist nicht zur

Disposition stand, wurde jedoch über die genaue Lokalisierung, die ethnische

Zusammensetzung dieses „Großbulgarien“ und über das Fehlen oder

Vorhandensein slawischer Elemente diskutiert. Was die Ausdehnung dieses Reiches angeht, so lokalisieren es einige östlich des Asowschen Meeres,24 andere westlich desselben oder gar auf beiden Seiten.25 Was die ethnischen Bestandteile des Reiches angeht, so glaubte beispielsweise Dimităr Angelov, dass innerhalb Großbulgariens sich nicht nur die protobulgarischen Stämme mit den Turkstämmen der Onoguren,

Unnogunduren und Kutriguren bzw. Kotragen zusammengeschlossen hatten, sondern diese auch bereits Kontakte mit slawischen Gruppen pflegten.26 Ivan Dujčev

Anm. 2), S. 166; K. LAMBREV. Легендата за кан Кубрат и неговите синове, in: Исторически преглед 3 (1946‐47), S. 350‐359. 21 ZLATARSKI, История I, 1, (wie Anm. 2), S. 84‐122. 22 GJUZELEV in: История на България 2 (wie Anm. 2), S. 69‐75; DERS. История на средновековна България (wie Anm. 2), S. 74‐84. 23 История на българите I (wie Anm. 2), S. 52‐63. 24 I. S. ČIČUROV. Экскурс Феофана о праболгарах, in: Древнейшие государства на территории СССР. Материалы и исследования. 1975 г. Moskau 1976, S. 65—80. 25 ARTAMONOV, История хазар (wie Anm. 2), S. 164‐166, DIMITROV. Прабългарите (wie Anm. 2), S. 101‐121; zur Lokalisierungsfrage in der Forschung zusammenfassend A. A. TORTIKA. Историческая география Великой Болгарии Кубрата (630–660 гг. н.э.), in: Анали 8/3‐4 (2001) 68‐82. 26 D. ANGELOV. Образуване на българската народност, Sofia 1971, 2. прераб. и доп. изд. Sofia 1981, S. 178‐180. 7 hingegen war der Ansicht, dass slawisch‐protobulgarische Kontakte erst in das Ende des 8. Jh. zu datieren seien.27 Abgesehen davon, dass einigen dieser Arbeiten ein anachronistisches Modell ethnischer Gruppen im Frühmittelalter zugrunde liegt,28 ist zudem zu beobachten, dass keine dieser Diskussionen am Fundament der Geschichte rüttelte. Stattdessen wurde die Version der byzantinischen Chronisten im Kern nur sehr selten angezweifelt. Daher sei nun ein Blick auf weitere Quellen geworfen.

2. Armenische Quellen

Neben den beiden byzantinischen Chronisten finden sich Informationen auch in einer armenischen Quelle, der so genannten armenischen Geographie des Anania

Širakac’i. Sie wird von der jüngeren Forschung in das frühe 7. Jh. datiert, jedoch schwankt die Datierung sehr stark innerhalb der Forschung.29 Die früheste der insgesamt über 50 Handschriften stammt jedoch erst aus dem 12. Jh. Innerhalb einer geographischen Beschreibung Sarmatiens wird von den Bulgaren gesagt, dass sie nach den Flussnamen „Kup‛i Bulgar“‚ „Duč‛i‐Bulgar“, „Ołchontor‐Blkar“ und

„Č‛dar‐Bolkar“ benannt seien. Weiterhin heißt es dort „und vom Hippischen Gebirge floh der Sohn des Chudbard (Chubraat)“.30

27 I. DUJČEV. Най‐ранни връзки между прабългари и славяни, in: Сб. Гаврил Кацаров 2 = Известия на Археологически Институт 19 (1955), S. 327‐337, wieder abgedruckt in: DERS., Българско средновековие. Проучвания върху политическата и културната история на средновековна България, Sofia 1972, S. 87‐103. 28 Siehe hierzu die Literatur in Anm. 67. 29 The Geography of Ananias of Širak (Ašxarhac’uyc’). The Long and the Short Recensions. Introduction, Translation and Commentary by R. H. HEWSEN, Wiesbaden 1992, S. 6‐15; die Datierung schwankte im Laufe der Forschungsgeschichte, so z. B. J. MARQUART. Ērānšahr nach der Geographie des Ps. Moses Chorenac‛i. Mit historisch‐kritischem Kommentar und historischen und topographischen Excursen, Berlin 1901, S. 1‐7 für eine Datierung in das 8. Jh. 30 MARQUART, Chronologie (wie Anm. 20), S. 87f.; DERS., Streifzüge (wie Anm. 20), S. 57; DERS. Die altbulgarischen Ausdrücke in der Inschrift von Čatalar und der bulgarischen Fürstenliste, in: Известия Русскаго Археологическаго Института в Константинополе XV (1911), S. 1‐30, hier S. 15f.; Géographie de Moïse de Chorène dʹaprès Ptolémée, texte arménien, trad. en français par A. SOUKRY, Venedig 1881, S. 25; The Geography of Ananias of Širak (transl. HEWSEN) (wie Anm. 29), S. 55: „To the north are the Turks and the Bulgars who are named after rivers: Kup‛i Bulgars, Duč‛i Bulgars, Ołxntor Bulgars and Č‛dar Bulgars, whose names are unknown to Ptolemy. The son of Kubrat fled from the Hippic mountains“, Kommentar S. 110 mit Anm. 18‐23; K. PATKANOV. Из новаго списка географии, приписываемой Моисею Хоренскому, in: Журнал Министерства народного просвещения 226 (1883) 21—32, hier S. 24, 29; F. WESTBERG. Beiträge zur Klärung orientalischer Quellen über Osteuropa, in: Bulletin de l’Académie 8 Der Fluss „Kup‛i“ wird teilweise mit dem Kuban, „Duč’i“ mit dem Dnjepr in

Verbindung gebracht.31 An anderer Stelle in der gleichen Quelle heißt es zur Insel

Peukê an der Donaumündung: „Auf dieser Insel hat sich angesiedelt Aspar‐hruk der

Sohn des Chubrat‛, der vor den Chazaren vom Gebirge der Bulgaren floh, und wegzog und nach Westen vertrieb das Avar‐Volk und sich dort ansiedelte.“32

Die Übereinstimmungen zwischen Theophanes und Nikephoros auf der einen und der armenischen Geographie des Anania Širakac’i auf der anderen Seite sind offensichtlich. Beide kombinieren die Geschichte mit einem geographischen Exkurs, in beiden Quellen spielen die Flüsse eine entscheidende Rolle, beide Quellen kennen den Namen Asparuch als Sohn des Kubrat, beide erwähnen die Eroberung durch die

Khazaren. Der Name Asparuch taucht im Übrigen bei Theophanes und Nikephoros nur innerhalb dieser Geschichte auf. Zu den Ereignissen des Jahres 681 oder an irgendeiner späteren Stelle wird hingegen der Name nicht mehr genannt. Dies spricht dafür, dass er nur in der Vorlage für die Kubratgeschichte erwähnt wird und sonst keinen Niederschlag in anderen Quellen gefunden hat. Zugleich scheint diese

Vorlage in einer deutlichen Beziehung zur armenischen Geographie zu stehen.

Natürlich sind auch die Differenzen zwischen beiden Quellen, der armenischen und den byzantinischen nicht zu übersehen. Eine direkte Beziehung zwischen beiden

Quellen ist daher aufgrund der inhaltlichen Übereinstimmungen allein nicht herzustellen. Auch die Überlieferungslage vermag hier keine weiteren Erkenntnisse beizusteuern. Trotzdem ist eine gemeinsame Vorlage über verschiedene

Bearbeitungsstufen hinweg durchaus möglich.

Impériale des Sciences de St.‐Pétersbourg, V. Serie, Bd. XI (1899), St.‐Petersburg 1900, 4, S. 211‐245 u. 5, S. 275‐314, S. 313f.; ZLATARSKI, История I, 1, (wie Anm. 2), S. 103‐105; ARTAMONOV, История xазар (wie Anm. 2), S. 167‐168; BEŠEVLIEV, Protobulgarische Periode (wie Anm. 2), S. 146. 31 MARQUART, Chronologie (wie Anm. 20), S. 88f.; DERS. Ērānšahr (wie Anm. 29), S. 140, 154 mit Anm. 47; ARTAMONOV, История хазар (wie Anm. 2), S. 164‐169; ZLATARSKI, История I, 1, (wie Anm. 2), S. 107; The Geography of Ananias of Širak (transl. HEWSEN) (wie Anm. 29), S. 110 Anm. 19f. 32 Übersetzung nach MARQUART, Chronologie (wie Anm. 20), S. 88f.; The Geography of Ananias of Širak (transl. HEWSEN) (wie Anm. 29), S. 48: „On this island lives Asparuk, son of Kubrat, a fugitive from the Khazars from the mountains of the Bulgars, who expelled the Avar nation and settled there“, ebd. Anm. 93‐98 (S. 93f.); BEŠEVLIEV, Protobulgarische Periode (wie Anm. 2), S. 146. 9 Differenzen bestehen vor allem hinsichtlich der zeitlichen Einordnung. Die byzantinischen Chronisten ordnen die genannten Ereignisse in die Regierungszeit

Konstans II. (641‐668) ein, womit sich für eine Datierung des „Großbulgarischen

Reiches“ nicht über die Mitte oder das zweite Drittel des 7. Jh. hinausgehen ließe.33

Die Abfassung der meist in das frühe 7. Jahrhundert datierten armenischen

Geographie müsste zu jener Zeit indessen schon einige Jahrzehnte zurückgelegen haben, vorausgesetzt, die besagten Stellen bilden keine nachträglichen Interpolation.

3. Syrische Quellen

Die Geschichte findet sich auch in etwas reduzierter Form bei Michael dem Syrer aus dem 12. Jh.34 Er berichtet von drei Brüdern, die sich vom inneren Skythien in einem

Marsch von 65 Tagen von den Pässen des Imaion‐Gebirges35 bis zum Don begeben hätten:

„[11.] In dieser Zeit (zogen aus) drei Brüder aus dem inneren Skythien, indem sie mit sich führten dreissig tausend Skythen, und sie kamen einen Marsch von 65 Tagen (und sie waren gekommen in einem Marsch von 65 Tagen [ALTHEIM/ STIEHL, Michael der Syrer, S. 110]) von jenseits des Gebirges Imēon. Sie kamen aber in der Winterszeit, wegen des Auffindens von Wasser, und sie gelangten bis zum Strome Tanais, der aus dem See Mānṭiōs (Maiotis) herauskommt und sich in das Pontosmeer ergießt. [12.] Als sie nun an der Grenze der Romäer gelangt waren, nahm einer von ihnen, namens Bulgarios, zehn tausend Mann und trennte sich von seinen Brüdern, und überschritt den Tanais (Ṭāniōs) zum Strome Dōnabīs, der ebenfalls in das Pontosmeer mündet, und sandte an Maurīqē, er möge ihm Land geben, um dort zu wohnen und ein Bundesgenosse der Romäer zu sein. Er gab ihm Ober‐ und Unter‐Moesien und Dakien, feste Orte, die das Volk der Awaren (Abārīs) verwüstet hatte seit den Tagen des Anastas, und sie siedelten sich dort an und wurden ein Bollwerk für die

33 The Geography of Ananias of Širak (transl. HEWSEN) (wie Anm. 29), S. 93f., Anm. 98. 34 Zu Michael dem Syrer siehe die umfassende und mit neuester Literatur versehene Monographie von D. WELTECKE. Die «Beschreibung der Zeiten» von Mōr Michael dem Grossen (1126‐1199). Eine Studie zu ihrem historischen und historiographiegeschichtlichen Kontext, Leuven/Louvain 2003; siehe auch J. KARAYANNOPULOS/ G. WEISS. Quellenkunde zur Geschichte von Byzanz (324‐1452), 1. u. 2. Halbbd., Wiesbaden 1982, S. 441, Nr. 402; zudem: J. J. VAN GINKEL. Michael the Syrian and his sources: Reflections on the Methodology of Michael the Great as a Historiographer and its Implications for Modern Historians, in: Journal of the Canadian Society for Syriac Studies 6 (2006), S. 53‐60. 35 Bei Strabon 519 (Strabons Geographika mit Übersetzung und Kommentar hg. v. S. RADT, Bd. 2, Buch V‐VIII, Göttingen 2003, S. 363) ist „Imaion“ das letzte Stück des Tauros. 10 Romäer. Jene Skythen wurden von den Romäern Bulgaren genannt. [13.] Jene beiden andern Brüder aber kamen ins Land Alān, das Barsāliā heißt, dessen Städte von den Römern erbaut worden waren, welche Qāspiā sind, welche man Thor der Tōrājē nennt; die Bulgaren und Puguren, ihre Bewohner, waren einmal Christen; da aber ein fremdes Volk über jene Gegend die Herrschaft gewonnen hat, wurden sie Chazaren genannt nach dem Namen jenes ältesten Bruders, der Chazarīg genannt wurde. Und es ward stark dieses Volk und breitete sich aus.“36

Bei Bar ‘Ebrōyō, einem syrischen Bischof (†1286), der Michael den Syrer benutzte und aus dem sich das Werk des letzteren in seinen verlorenen Teilen rekonstruieren lässt, ist die Geschichte in ganz ähnlicher Form mit geringen Abweichungen zu

Michael dem Syrer überliefert:37

In seinem (Maurikios’) vierten Jahr wanderten aus und zogen weg vom Osten das hassenswerte Volk der Awaren mit geflochtenem Haar, von Westen hingegen die Slawenen (asķlābōnē) und Langobarden. Sie kamen in Knechtschaft des Chāqān, Königs der Chazaren (Irrtum für Awaren [Altheim]). Sie (die Slawenen) eroberten zwei Städte von den Römern und eine Anzahl Kastelle. Wenn nicht der große Graben (gewesen wäre), den der Kaiser außerhalb von Adrianopel gebaut hatte, hätte sich ihr (der Slawenen [Altheim]) Sinn auch auf Konstantinopel gerichtet. Die Römer aber mieteten das Volk der Anten (anțiyū), und sie fielen über Slawenien (asķlābōnyā) her, besetzten und plünderten es. Als aber dies die Slawenen hörten, richteten sie große Verwüstung im Land der Römer an und kehrten heim. In dieser Zeit zogen aus drei Brüder aus dem inneren Skythien mit 30 000 Skythen. Sie waren gekommen in einem Marsch von zwei Monaten zur Zeit des Winters, wegen des Vorhandenseins von Wasser, und zwar von den Pässen des Imaos (’mnwn)‐ Gebirges. Sie gelangten bis zum Tanais, dem Fluß, der aus dem See Maiotis (m’nțys) heraustritt und sich in das Meer Pontos ergießt. Als sie zur Grenze der Römer gelangt waren, nahm einer von ihnen, dessen Name (da‐šmēh; überl. d‐ šemhōn) Bulgarios war, 10 000 (Mann) und überschritt den Tanais. Er schlug sein Lager auf zwischen beiden Flüssen, Tanais und Donau, die (die Donau) gleichfalls sich ins Meer Pontos ergießt. Er schickt zu Maurikios, daß er ihm Land gebe, dort zu wohnen, und daß er (dafür) eine Hilfstruppe bilde für die

36 Chronique de Michel de Syrien, Patriarche Jacobite d’Antioche, éditée pour la première fois et traduite en français par J.‐B. CHABOT, I‐IV, Paris 1899‐1910, Nachdruck Brüssel 1963, II, X, XXI, S. 363f.; Übersetzung nach MARQUART, Streifzüge (wie Anm. 20), S. 484f.; ein Kommentar ebd. S. 488f., eine Übersetzung auch bei F. ALTHEIM/ R. STIEHL. Michael der Syrer über das erste Auftreten der Bulgaren und Chazaren, in: Byzantion 28 (1958), S. 105‐118, S. 110. 37 Zum Verhältnis zwischen Bar ‘Ebrōyō und Michael dem Syrer siehe WELTECKE, Beschreibung der Zeiten (wie Anm. 34), S. 11 und 54. 11 Römer. Er (Maurikios) gab ihm (Bulgarios) das obere und untere Moesien. Sie (Bulgarios’ Leute) wohnten und bildeten eine Schutzwehr für die Römer. Obwohl jene Skythen (waren), nannten die Römer jene Bulgaren. Diese zwei anderen Brüder aber kamen ins Land der Alanen, das Berzylia (bar sāliyā) (ist), das heißt: zu den Städten von Kaspia, welches Tor der Türken nennen die Bulgaren. Die pugurāyē (pangurāyē), die zeitig Christen geworden waren, wurden jetzt (hāšā corr.; w‐hāšā Bedijan) Chazaren genannt nach dem Namen des älteren Bruders.“38

Die syrischen Chroniken Bar ‘Ebrōyō und Michael der Syrer sind wie erwähnt voneinander abhängig. Jedoch bleibt die Frage offen, aus welcher Quelle wiederum

Michael der Syrer die betreffende Passage entnahm. Dabei kommt der zeitlichen

Einordnung der Ereignisse eine entscheidende Rolle zu. Michael der Syrer nennt ausdrücklich Kaiser Maurikios (582‐602) und ordnet damit die Geschichte weitaus früher ein als Theophanes und Nikephoros. Damit ergibt sich die Frage, woher

Michael der Syrer die betreffende Stelle entnommen haben könnte. Altheim schlug die Chronik des Johannes von Ephesos (ca. 507 bis ca. 588) als Vorlage vor, der hinsichtlich anderer Passagen unzweifelhaft bei Michael dem Syrer Verwendung fand.39 Bekanntlich hat sich der dritte Teil der Kirchengeschichte des Johannes von

Ephesos, der die Zeit bis 588 umfasst, erhalten, während der zweite, die Zeit zwischen

449 und 571 enthaltende Teil als Einfügung in die Chronik von Zuqnin überliefert ist.40

38 E. A. W. BUDGE. The Chronography of Gregory Abû’l‐Faraj 1225‐1286, the Son of Aaron, the Hebrew Physician Commonly Known as Bar Hebraeus Being the First Part of his Political History of the World. Transl. from the Syriac with an Historical Intoduction, App., and an Index Accompanied by Reproduction of the Syriac Texts in the Bodleian Manuscript 52, I, London 1932, Nachdruck Amsterdam 1976, S. 84; die deutsche Übersetzung ist entnommen aus: F. ALTHEIM. Geschichte der Hunnen, 5 Bde., Berlin 1959‐1962, Bd. 2, S. 29; zu syrischen Nachrichten zur bulg. Geschichte u. a.: Z. KASABJAN. Данни от средновековната история на България в хрониката на Михаил Сириец, in: Първи международен конгрес по българистика, Sofia, 23. Mai – 3. Juni 1981, Sofia 1981, Sofia 1982, S. 231‐237. 39 ALTHEIM, Gesch. d. Hunnen (wie Anm. 38) 2, S. 29f., 4, S. 29f.; zu Johannes von Ephesos bei Michael dem Syrer WELTECKE, Beschreibung der Zeiten (wie Anm. 34), S. 12f. mit Anm. 27; VAN GINKEL, Michael the Syrian (wie Anm. 34). 40 Ausgaben: The Third Part of the Ecclesiastical History of John Bishop of Ephesus, ed. by W. CURETON, Oxford 1853; The Third Part of the Ecclesiastical History of John Bishop of Ephesus now first translated from the original Syriac by R. PAYNE SMITH, Oxford 1860; Iohannis Ephesini Historiae ecclesiasticae pars tertia, ed. et interpretatus est E. W. BROOKS (CSCO 106, Scriptores Syri 55), Louvain 1936, Nachdruck 1964, zur Person: Ebd. Praefatio S. I‐V; deutsche Übersetzung: Die Kirchengeschichte des Johannes von Ephesus, aus dem Syrischen übersetzt v. J. M. SCHÖNFELDER, München 1862; zum Werk: L. M. WHITBY. John of Ephesus and the pagans, in: M. SALOMON (ed.), Paganism in the Later Roman Empire and in Byzantium, Krakau 1991, S. 111‐131; J. P. N. Land: Johannes Bischof von Ephesos, der 12 Im erhaltenen dritten Teil findet sich keine Erwähnung der bei Michael dem Syrer, der armenischen Geographie, Theophanes und Nikephoros überlieferten Geschichte.

Jedoch bricht der erhaltene dritte Teil der Kirchengeschichte nach Buch VI, Kapitel 36 unvermittelt ab bzw. ist nur fragmentarisch aus Michael dem Syrer zu rekonstruieren.

Die Geschichte über die Wanderung der Bulgaren wird in den bestehenden

Rekonstruktionen dieses Endes nicht als ein möglicher Bestandteil aus Johannes von

Ephesos angesehen und taucht daher in den entsprechenden Werkausgaben des letzteren nicht auf.41 Rein theoretisch wäre jedoch die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, dass auch die besagte Stelle bei Michael dem Syrer auf Johannes von

Ephesos zurückgehen könnte. Sie folgt bei Michael dem Syrer direkt auf den Bericht

über das Auffinden von Kleidern der Kaiserin Ino (Aelia) Anastasia, der Gattin Kaiser

Tiberius’ durch den Awarenkhagan, bevor er nach zurückkehrte.42 Genau diese aus Johannes von Ephesos entnommene Stelle wird in der Übersetzung von

Brooks als vorletzter aus Michael rekonstruierbarer Absatz aus Kapitel 49 des 6.

Buches im Werk jenes Johannes von Ephesos interpretiert.43 Es ist nicht ausgeschlossen, dass auch die Bulgarenpassage sich schon bei Johannes von Ephesos daran angeschlossen hat und aus ihm von Michael dem Syrer übernommen wurde.

Kritisiert wurde die Möglichkeit der Rückführung auf Johannes von Ephesos u. a. von

Veselin Beševliev und Vasil Zlatarski mit dem Hinweis auf das bei Michael dem

Syrer erwähnte Christentum, das ja vor 865 nicht möglich sein könne.44 Dabei wurde

erste syrische Kirchenhistoriker. Einleitende Studien, Leyden 1856; F. HAASE. Untersuchungen zur Chronik des Pseudo‐Dionysios von Tell‐Mahrê, in: Oriens Christianus. Halbjahreshefte für die Kunde des christlichen Orients NS 6 (1916), S. 65‐90 und 240‐270; J. J. VAN GINKEL. John of Ephesus. A Monophysite Historian in Sixth‐Century Byzantium, Diss. Groningen 1995; DERS. Monk, Missionary, and Martyr: John of Ephesus, a Syriac Orthodox Historian in Sixth Century Byzantium, in: Journal of the Canadian Society for Syriac Studies 5 (2005), S. 35‐50; KARAYANNOPULOS/WEISS, Quellenkunde (wie Anm. 34), S. 288, Nr. 102; W. WITAKOWSKI. Sources of Pseudo‐Dionysius for the Third Part of his Chronicle, in: Orientalia Suecana XL (1991), S. 252‐275. 41 Iohannis Ephesini Historiae ecclesiasticae (transl. BROOKS) (wie Anm. 40), S. 259‐261. 42 Chronique de Michel de Syrien (ed. CHABOT) (wie Anm. 36), S. 363. 43 Iohannis Ephesini Historiae ecclesiasticae (transl. BROOKS) (wie Anm. 40), S. 260. 44 V. ZLATARSKI. Известието на Михаила Сирийски за преселението на българите, in: Известия на Българското историческо дружество (ИБИД) 4 (1915), S. 37‐52, wieder abgedruckt in: DERS. Избрани произведения (в 4 тома), том I, Sofia 1972, S. 52‐67, hier S. 51; BEŠEVLIEV, Protobulgarische Periode (wie Anm. 2), S. 188‐190 mit dem Hinweis, dass auch bei Leon Diakonos die 13 auf eine ganz ähnliche Stelle bei Joseph Genesios verwiesen, in der gewisse

Parallelen wie ein Führer namens Bulgarios auftauchen. Auch bei ihm wandern die

Bulgaren unter einem Führer namens Bulgarios nach Moesien.45 Joseph Genesios Werk entstand zwischen 945 und 959 und schließt sich ausdrücklich an die Chronik des

Theophanes an.46 Jedoch kann die Erwähnung des Christentums natürlich ohne weiteres eine spätere Interpolation darstellen. Die Vorlagen wurden schließlich keineswegs immer unverändert über Jahrhunderte hinweg tradiert.

Auch in einem hinsichtlich der historischen Verwertbarkeit umstrittenen Brief des

Khazarenkhagans Joseph an Chasdai ibn Schafrut aus dem 10. Jh. finden sich Elemente jener Legende. Der Khagan bezeichnet sich als Nachkomme eines Chazar, des siebten

Sohnes des Thogarma und erwähnt die Vertreibung der Wenenter, die jetzt an der

Donau lebten.47 Der Brief an den Khazarenkhagan hilft jedoch abgesehen von seiner umstrittenen Authentizität nicht bei der Datierung der Geschichte. Das gleiche gilt für Joseph Genesios.

Angesichts der Überlieferungslage der verschiedenen Versionen sind damit keine weitergehenden Aussagen möglich. Eine Herkunft von Johannes von Ephesos (gest.

586) mit einer entsprechenden Datierung in die frühe Amtszeit des Maurikios (ab

Bulgaren nach einem Anführer Bulgarios benannt seien (Leon Diakonos VI, 8 Leonis Diaconi Caloënsis Historiae libri decem et liber de velitatione bellica Nicephori Augusti, hg. v. C. B. HASE, Bonn 1828, S. 103, Z. 22‐23; ein Kommentar bei: The History of Leo the Diacon. Byzantine Military Expansion in the Tenth Century. Introduction, Translation and Annotations by A.‐M. TALBOT and D. F. SULLIVAN, with the Assistance of G. T. DENNIS and S. MCGRATH, Washington, D.C. 2005, S. 153f. 45 Genesios IV, 7 (Iosephi Genesii Regum Libri quattuor, ed. A. LESMUELLER‐WERNER/ I. THURN, CFHB Ser. Berolin. 14, Berlin 1978, S. 61, Z. 91‐94; MARQUART, Streifzüge (wie Anm. 20), S. 529‐530; G. MORAVCSIK. Byzantinoturcica II: Sprachreste der Turkvölker in den byzantinischen Quellen (BBA 11), Berlin 21958, S. 100. 46 Genesios (ed. LESMUELLER‐WERNER/ THURN) (wie Anm. 45), S. XI. 47 Zu Josephs Brief: D. M. DUNLOP. The History of the Jewish Khazars, Princeton 1954, S. 144‐154, plädierte für die Authentizität der Korrespondenz; dort auch ein Überblick über die Forschungsdiskussion; zu Joseph selbst: DERS. in: Encyclopaedia Judaica. Eds.: M. BERENBAUM and F. SKOLNIK, 22 vols., 2nd ed. Detroit 2007, Bd. 11, S. 414; siehe auch J. DAN/ A. SAENZ‐BADILLOS/ J. BASKIN. Letters and Letter Writers, in: Encyclopaedia Judaica 12, S. 668‐675, S. 672 zu Joseph mit Lit.; dt. Übers. des Briefes bei S. A. PLETNJOWA. Die Chasaren. Mittelalterliches Reich an Don und Wolga, aus dem Russischen von A. HÄUSLER, Wien 1979, S. 151‐158 (nach A. HARKAVY. Ein Briefwechsel zwischen Cordova und Astrachan zur Zeit Swjatoslaw’s (um 960) als Beitrag zur alten Geschichte Süd‐ Russlands, in: Russische Revue 6 (St. Petersburg 1975), S. 69‐97, S. 79‐90) und S. 158‐162 (nach Der Chazarische Königsbrief aus dem 10. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte des südlichen Rußland, von neuem übersetzt und erklärt von P. CASSEL, Berlin 1976, S. 68‐81). 14 582) ist zwar nicht ausgeschlossen, lässt sich jedoch nicht beweisen. Es bleibt also lediglich der Hinweis auf Maurikios bei Michael dem Syrer, während die byzantinischen Chronisten Theophanes und Nikephoros die Zeit Kaiser Konstans II.

(641‐668) nennen. Letztere ordnen, wie erwähnt, die Geschichte als

Hintergrundinformation den Ereignissen von 680/681 zu. Diese späte zeitliche

Einordnung des Auseinanderbrechens des Kubratreiches und die Wanderungen seiner Söhne auf die Mitte des 7. Jh. ist damit aber keineswegs besser zu begründen als eine mögliche frühere in die Zeit des Maurikios (582‐602). Die Forschung hatte sich bislang zwar immer recht eindeutig für einen Vorzug der byzantinischen

Chronisten entschieden.48 Wirklich stichhaltige Gründe für diese Bevorzugung gegenüber Michael dem Syrer gibt es jedoch ebenso wenig wie umgekehrt.

4. Parallelen zwischen den syrischen und byzantinischen Quellen

Doch welcher Zusammenhang besteht nun zwischen der bei Theophanes und

Nikephoros überlieferten Version und Bar Hebraeus bzw. Michael dem Syrer? In jüngster Zeit wurden die traditionellen Ansichten zum Werk des Theophanes einer gründlichen Revision unterzogen. Eigentlich müsste das Werk demnach den Namen von Georgios Synkellos tragen. Die Überlieferungsgeschichte ist kompliziert.

„Theophanes“ bzw. Georgios Synkellos soll in Palästina Kontakt zu zahlreichen syrisch‐palästinensischen Quellen bekommen haben. Obwohl die Vorlage des

„Theophanes“ und Nikephoros für die Zeit des 7. Jh. nicht mehr zu erschließen ist, lassen sich einige Verbindungen zu syrischen Quellen feststellen. Für den entsprechenden Zeitraum im 7. Jh. soll eine griechische Übersetzung einer syrischen

Chronik als Vorlage gedient haben, die auch bei Michael dem Syrer Verwendung

48 MARQUART, Streifzüge (wie Anm. 20), S. 488f. plädierte für eine Entstehung der Geschichte nach 678, wies auf die Parallelen z. B. bei Genesios IV, 7, (ed. LESMUELLER‐WERNER/THURN) (wie Anm. 45), CFHB Ser. Berolin. 14, Berlin 1978, S. 61) hin, sprach ihr aber jeden historischen Wert ab; eine bulgarische Übersetzung bei: ZLATARSKI. Известието на Михаила Сирийски (wie Anm. 44), hier: S. 55f., auch er plädierte für eine spätere Datierung dieser Ereignisse, also nicht in die Zeit des Maurikios. 15 gefunden habe.49 Das würde das Auftauchen der Geschichte bei letzterem erklären können. Zwar bestehen bei Theophanes durchaus Ähnlichkeiten zu Johannes von

Ephesos, eine direkte Benutzung wird jedoch als eher unwahrscheinlich eingeschätzt.50

Die Differenzen zwischen der bei Theophanes/ Nikephoros und den syrischen

Quellen überlieferten Version sind zwar zweifelsohne sichtbar, jedoch drängen sich gleichzeitig ihre deutlichen Ähnlichkeiten auf. Die syrischen Quellen wissen von drei

Brüdern, Theophanes/Nikephoros hingegen von fünf, aber nur von dreien werden die Namen genannt, Batbaian, Kotragos und natürlich Asparuch. Es sind zudem genau diese drei, die sich in den Gegenden niederlassen, von denen auch die syrischen Quellen Kenntnis haben. Letztere wissen hingegen nichts vom Sohn, der ins Awarenreich gezogen sein soll und erwähnen auch keinen, der nach Italien wanderte. Es ist nicht abwegig anzunehmen, dass die Geschichte schlichtweg ergänzt wurde. Damit könnte es sich also nicht um verschiedene Zeugnisse eines Ereignisses handeln, sondern um eine einzige Vorlage, die über mehrere Überlieferungsstufen hinweg durch ihre Verwendung in verschiedenen historischen Werken gewisse

Bearbeitungen und Modifizierungen erfahren hat.

Auch für die armenische Geographie lässt sich die Benutzung einer mit den übrigen

Quellen gemeinsamen Vorlage keineswegs ausschließen, zumal dort nur wenig

Sonderwissen verarbeitet wurde, das sich in den syrischen und byzantinischen

Quellen nicht wieder findet. Hinsichtlich der Datierungsfrage sei noch einmal darauf hingewiesen, dass die armenische Geographie eher auf eine frühere zeitliche

Einordnung verweist. Die Möglichkeit, alle vorhandenen Quellen zu Großbulgarien auf eine einzige Vorlage zurückzuführen, ist damit keineswegs ausgeschlossen und hätte natürlich Konsequenzen für die Bewertung des historischen Gehaltes.

49 Chronicle of Theophanes, transl. MANGO/SCOTT (wie Anm. 3), S. XLIII‐XCI; hierzu W. BRANDES, Rezension (wie Anm. 3), S. 549‐561. 50 Chronicle of Theophanes, transl. MANGO/SCOTT (wie Anm. 3), S. LXXXVII. 16 5. Ähnliche Geschichten

Das Motiv jedenfalls, ein Reich, das unter mehrere Söhne aufgeteilt wird, auch die

Wanderungen in verschiedene Richtungen, ist keineswegs neu. Ähnliche Motive finden sich beispielsweise schon bei Herodot in seiner Passage über die Skythen.51

Eine auffällige, freilich spätere, Parallele findet sich bei Konstantinos

Porphyrogennetos in seiner Geschichte über den Ursprung der Kroaten. Es heißt dort, dass sich ein Geschlecht von den Kroaten gelöst habe, nämlich die fünf Brüder

Klukas,52 Lobelos,53 Kosentzes,54 Muchlo55 und Chrobatos,56 sowie ihre zwei

Schwestern, Tuga57 und Buga.58 Sie seien mit ihrem Volk nach Dalmatien gekommen, hätten dort gegen die Awaren erfolgreich gekämpft und das Land unterworfen, während die zurückgebliebenen Untertanen Ottos des Großen seien und weiße

Kroaten genannt würden.59 Natürlich ist die hervorstechendste Ähnlichkeit der

Name einer der Brüder, Chrobatos, aber auch die Fünfzahl der Brüder und die

Teilung in unabhängige und unterworfene Kroaten stellen interessante Parallelen dar. Jedoch stellt sich natürlich die Frage, was für Schlüsse sich daraus ziehen lassen.

Funktionieren die beschriebenen Gesellschaften nach den populären literarischen

51 Danach gab es vier Hauptabteilungen der Skythen, die Aucheten, Nachkommen von Leipoxais, dem ältesten Sohn des Gründerheros Targitaus (Sohn des Zeus und der Borysthenes), die Katairen und Traspier, Nachkommen des mittleren Sohnes Arpoxais, und die Paralaten oder königlichen Skythen, Nachkommen des jüngsten Sohnes Kolaxais (Herodot 4,6) 52 PmbZ (wie Anm. 13) # 3662. 53 PmbZ (wie Anm. 13) # 4609. 54 PmbZ (wie Anm. 13) # 4064. 55 PmbZ (wie Anm. 13) # 5187. 56 PmbZ (wie Anm. 13) # 1147. 57 PmbZ (wie Anm. 13) # 8532. 58 PmbZ (wie Anm. 13) # 1046. 59 Überliefert bei Constantine Porphyrogenitus De administrando imperio Vol. I: Greek text, ed. by G. MORAVCSIK, English translation by R. J. H. JENKINS (CFHB 1), Washington D.C. 1967, S. 142, Z. 65; Vol. II: Commentary, ed. by R. J. H. JENKINS, London 1962, S. 116f.; dort ist von fünf Brüdern die Rede; zum Thema auch V. POPOVIĆ. Куврат (wie Anm. 2), hier S. 107f.; siehe hierzu auch W. POHL. Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567‐822 n. Chr., München 22002, S. 281; DERS. Die Namengebung bei den Awaren, in: Nomen et gens. Zur Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen, hg. v. D. GEUENICH/ W. HAUBRICHS/ J. JARNUT (Ergänzungsbände zum RGA 16), Berlin/New York 1997, S. 84‐ 93, hier S. 89‐93. 17 Mustern oder werden komplexere historische Prozesse in Form derartiger

Geschichten erfasst und damit konsequenterweise vereinfacht?

6. Ähnliche Räume

Um der Beantwortung dieser Frage näher zu kommen, sei der Blick auf eine andere wichtige Komponente geworfen, nämlich das behandelte Gebiet des

Großbulgarischen Reiches, der Raum um die Maiotis, das heutige Asowsche Meer.

Auffällig ist, dass in diesem Raum zwar das Großbulgarische Reich angesiedelt wird, alle anderen Nachrichten zu den Bulgaren sich jedoch in anderen Gegenden abspielen. Die besagte Episode ist die einzige, die von Bulgaren am Asowschen Meer spricht. Dabei scheint es kein Zufall zu sein, dass es ausgerechnet die Maiotis ist, welche für das Reich Kubrats herangezogen wird. Schon bei Jordanes, der sich auf

Priskos beruft, wird die Maiotis bei der Lokalisierung der Urheimat der Hunnen genannt. Bei der Verfolgung einer Hirschkuh hätten hunnische Jäger das andere Ufer der Maiotis in Skythien erreicht. Begeistert von dem Land hätten sie den

Zurückgebliebenen davon erzählt, die bald darauf aufgebrochen seien und sich das

Land unterworfen hätten.60 Bei Prokop dient genau dieses Gebiet als Urheimat der

Kutriguren und Utiguren. Auch hier ist die Rede von einem Herrscher, welcher diesmal zwei statt fünf Söhne hatte, Utigur und Kutrigur. Nach des Vaters Tod hätten sich beide Söhne die Macht und ihre Völker geteilt und seien entsprechend

Kutriguren und Utiguren genannt worden. So hätten sie an der Ostseite der Maiotis vor sich hin gelebt, bis sie eines Tages während der Jagd eine Rehkuh entdeckt und bei ihrer Verfolgung das Wasser überquert hätten, welches sich zwischen der Maiotis und dem Schwarzen Meer befindet, um auf die andere Seite zu gelangen, wo sie die dort lebenden Goten überfallen, umgebracht oder verjagt hätten. Während die

Kutriguren dort verblieben seien, hätten sich die Utiguren wieder in ihre Heimat

60 Iordanis Romana et Getica, hg. v. T. MOMMSEN (MGH Auct. ant. 5,1), Berlin 1882, S. 53‐138, XXIV, 123‐127, S. 89f., Iordanis de origine actibusque Getarum a cura di F. GIUNTA / A. GRILLONE (Fonti per la storia d’Italia 117), Rom 1991, S. 54f. 18 begeben.61 Prokops Nachfolger übernahmen diese Geschichte mehr oder weniger genau.62 Schon Josef Marquart wies auf eine, von Priskos über Jordanes bis zu

Theophanes und Nikephoros laufende Tradition hin, bei der immer wieder der

Übergang über die Maiotis gewählt wurde.63 Die Maiotis besitzt also eine gewisse

Tradition als Herkunftsgebiet neuer Völker, welche weit in die antike Literatur zurückreicht. 64 Schon bei Herodot werden die Skythen in diesen bzw. angrenzenden

Gebieten verortet.65 Dass Priskos, die früheste bekannte Quelle, die den Ursprung der

Hunnen mit der Maiotis in Verbindung bringt, bisweilen auf Herodot zurückgreift, wurde von der Forschung bereits herausgearbeitet.66

Auch im Fall des Raumes stellt sich daher die Frage nach den Schlüssen, die sich aus der Tatsache ziehen lassen, dass die Maiotis als Ursprungsland von Hunnen,

Kutriguren bis hin zu Bulgaren Verwendung fand. War das Gebiet tatsächlich der

Herrschaftsraum verschiedener ethnischer Gruppen vom 5. bis 7. Jh. oder verlegten die literarisch bewanderten Byzantiner die Vorgeschichte der Bulgaren einfach in die

Räume, in der ihre Vorlagen ähnliche Völker verortet hatten? Zur Klärung dieses

Problems sei ein kurzer Blick auf Bulgaren in der Zeit vor der Kubratgeschichte

61 Procopii Caesariensis opera omnia, Vol. 2: De bellis libri V‐VIII, recognovit J. HAURY. Ed. stereotypa correctior, addenda et corrigenda adiecit G. WIRTH, Leipzig 1962, Neudruck München 2001, VIII, 5, 1‐13, S. 503‐505; I. PENEVA‐RUSSEVA. Едно проучване по повод съобщението на Прокопий Кесарийски за произхода на кутригурите и утигурите от „хуни‐кимерийци“, in: Исторически преглед (1997), 3, S. 150‐171. 62 Agathias, der unmittelbare Fortsetzer Prokops, behauptet, dass die Hunnen dereinst das Gebiet östlich der Maiotis und nördlich des Don bewohnt hätten, wie die übrigen in Asien am Rande des Imaion‐ bzw. Himaiongebirges (Ἰμαῖον ὄρος bzw. Ἱμαῖον ὄρος) wohnenden barbarischen Völker auch. Skythen oder Hunnen habe man diese Völker dereinst genannt; Agathiae Myrinaei Historiarum libri V (CFHB 2), hg. v. R. KEYDELL, Berlin 1967, V, 11, 2‐3, S. 176, Z. 31 – 177, Z. 11. 63 MARQUART, Streifzüge (wie Anm. 20), S. 530; jüngst verwies auch innerhalb eines anderen Zusammenhangs, der Frage nach „Kubrats Hauptstadt“, Pavel Georgiev auf dieses Phänomen, wobei er Prokop als gemeinsame Quelle für den Teil der geographischen Beschreibung ausmacht (GEORGIEV, Столицата [wie Anm. 2], S. 20). 64 Zur Maiotis: Paulys Realenzyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE) 14, 1, Sp. 590‐592; CH. DANOFF. Pontos Euxeinos, in: RE Supplementband IX, Stuttgart 1962, Sp. 865‐1920, hier Sp. 879‐ 881. 65 Dereinst – so heißt es dort – seien die Kimmerier nach einem Bruderkampf vor den Skyten entlang der Schwarzmeerküste nach Kleinasien geflohen, dies allerdings in Richtung Osten; Herodot IV, 11 ; zu den Skythen: RE II A 1 (1921), Sp. 923‐942 (Scythae), 942‐946 (Scythia); H. KLINKOTT, in Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 29 (2005), S. 36‐40 (Skythen). 66 R. C. BLOCKLEY. The fragmentary classicising historians of the later Roman empire [1.] Eunapius, Olympiodorus, Priscus and Malchus (ARCA 6), Liverpool 1981, S. 54f. 19 geworfen. Der Begriff Bulgaren, das sei an dieser Stelle betont, wird natürlich vor dem Hintergrund der Erkenntnisse der sog. „Wiener Schule“ und ihren

Ethnogenesemodellen verwendet, es geht also um flexible multiethnische Einheiten und keineswegs um in sich abgeschlossene Völker. Dass die Komplexität der

Entstehungs‐ und Verfallsprozesse dieser Gruppen damit nur ansatzweise erfasst werden kann und zudem durch die vorhandenen Quellen nur verzerrt abgebildet wird, ist stets mit zu bedenken.67

7. Bulgaren vor dem „Großbulgarischen Reich“

Immerhin sind Bulgaren bzw. als solche bezeichnete Gruppen schon weitaus früher im Balkan nachweisbar, man bräuchte also nicht die Kubratgeschichte, um von ihren

Wanderungen zu erfahren.

Der erst im 8. Jh. schreibende Paulus Diaconus berichtet in einer hinsichtlich ihres historischen Wertes durchaus zweifelhaften Geschichte von Konflikten zwischen

Bulgaren und Langobarden, wobei der Langobardenkönig Angelmund getötet und seine Tochter gefangen genommen worden sei. Lamasion, der Nachfolger des

Angelmund, habe sich in der Folge zwei weitere Schlachten mit den Bulgaren geliefert, wobei in der ersten die Bulgaren, in der zweiten jedoch die Langobarden den Sieg errungen und viele ihrer Feinde getötet hätten.68 Wenn man von der

67 Zu diesem Themenkomplex: P. J. GEARY. The Myth of Nations: The Medieval Origins of Europe, Princeton 2002; P. J. HEATHER. Ethnicity, Group Identity, and Social Status in the Migration Period, in: Franks, Northmen, and Slavs: Identities and State Formation in Early Medieval Europe, ed. I. H. GARIPZANOV, P. GEARY, P. URBANCZYK, Turnhout 2008, S. 17‐49; DERS. Disappearing and reappearing tribes, in: Strategies of Distinction. The Construction of the Ethnic Communities, 300‐800, ed. W. POHL and H. REIMITZ, Leiden 1998, 95‐111; W. POHL. Telling the difference: signs of ethnic identity, in: Ebd. S. 17‐ 69; zur Kontroverse zwischen der „Wiener“ und „Toronto“‐Schule: C. R. BOWLUS. Ethnogenesis: The Tyranny of a Concept, in: On Barbarian Identity. Critical Approaches to Ethnicity in the Early Middle Ages, ed. A. GILLET (Turnhout 2002), S. 241‐256; A. C. MURRAY. Reinhard Wenskus on ‘Ethnogenesis’, Ethnicity, and the Origins of the Franks, in: Ebd. S. 39‐68; W. Pohl. Ethnicity, Theory and Tradition: A Response, in: Ebd. S. 221‐239. 68 Pauli Historia Langobardorum, ed. G. WAITZ (MGH SS rer. Germ [48]), Hannover 1878, Nachdruck 2005, S. 63. Zu Paulus Diaconus siehe unter anderem: W. WATTENBACH/ W. LEWISON/ H. LÖWE. Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Teil 1: Vorzeit und Karolinger, Heft 1‐3, Weimar 1952/53/57, II. Heft, S. 203‐224; W. POHL, Paulus Diaconus und die „Historia Langobardorum“: Text 20 tatsächlich sehr zweifelhaften Geschichtlichkeit dieses Berichtes ausgehen möchte, so böte sich als Zeitraum der Anfang des 5. Jh. an. Er folgt bei Paulus einem mit legendären Elementen durchsetzten Kapitel über Langobarden und Amazonen, das natürlich wieder einmal in der Gegend um die Maiotis seinen Schauplatz findet.69

Eine andere Nachricht, die meist als Ersterwähnung der Bulgaren herangezogen wird, stellt Johannes von Antiochia dar. Die Nachricht steht im Kontext von

Auseinandersetzungen zwischen Byzantinern und Ostgoten. Johannes von Antiochia berichtet, daß der römische Kaiser Zenon (474‐491) zum ersten Mal die „sogenannten

Bulgaren“ gegen die Ostgoten eingesetzt habe.70 Man datiert diese Nachricht auf die

Jahre 480‐482.71 Mit dieser Stelle beginnt eine ganze Reihe von Erwähnungen der

Bulgaren im Donauraum bei unterschiedlichen Autoren.

und Tradition, in: Historiographie im frühen Mittelalter, hg. von A. SCHARER/ G. SCHEIBELREITER, Wien/ München 1994, S. 375‐405 auch mit einem Überblick über die Forschung zu Paulus Diaconus; D. BIANCHI. L’elemento epico nella „Historia Langobardorum“ di Paolo Diacono, in: Memorie Storiche Forogiuliesi 30 (1934), fasc. 2, S. 17; Paolo Diacono: Uno scrittore fra tradizione longobarda e rinnovamento carolingio. Atti del Convegno Internazionale di Studi Cividale del Friuli ‐ Udine, 6‐9 maggio 1999. A cura di P. CHIESA (Libri e Biblioteche 9), Udine 2000; W. GOFFART. The Narrators of Barbarian History (A. D. 550‐800). Jordanes, Gregory of Tours, Bede, and Paul the Deacon, Princeton 1988, S. 329‐424, zur Stelle S. 386; J. JARNUT. Geschichte der Langobarden, Stuttgart (u.a.) 1982, S. 18; W. POHL, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde XXII (2003) S. 527‐532 (Paulus Diaconus). 69 Für die Integration der Amazonen in einen historischen oder naturgeschichtlichen Kontext können antike Vorbilder eine Rolle gespielt haben, wie beispielsweise der geographische Teil der Naturalis historia Plinius des Älteren zur Umgebung der Maiotis (C. Plini Secundi Naturalis historiae libri XXXVII post Ludovici Iani obitum recognovit et scripturae discrepantia adiecta, ed. C. MAYHOFF, Vol. 1‐ 6, Stuttgart 1892/97/98/1906/09, Nachdruck 1967/70/96/2002, VI, cap. 6 u. 7, 18f., S. 436; Die geographischen Bücher (II, 242 ‐ VI Schluss) der Naturalis Historia des C. Plinius Secundus: mit vollständigem kritischen Apparat, hg. von D. DETLEFSEN (Quellen und Forschungen zur alten Geschichte und Geographie 9), Berlin 1904, Nachdruck Rom 1972, S. 130f.; zur Verortung der Amazonen am Schwarzen Meer auch: DANOFF, Pontos Euxeinos (wie Anm. 64), Sp. 1012. 70 Ioannis Antiocheni Fragmenta ex Historia chronica, Introduzione, edizione critica e traduzione a cura di U. ROBERTO, Berlin/ New York 2005, Nr. 303, S. 516, Z. 72‐75: καὶ ἡ τῶν Θεοδωρίχων συζυγία αὖθις τὰ Ῥωμαίων ἐτάραττε, καὶ τὰς περὶ τὴν Θρᾴκην πόλεις ἐξεπόρθει, ὡς ἀναγκασθῆναι τὸν Ζήνωνα τότε πρῶτον τοὺς καλουμένους Βουλγάρους εἰς συμμαχίαν προτρέψασθαι. 71 MORAVCSIK, Byzantinoturcica I (wie Anm. 17), S. 173, datiert dieses Ereignis auf das Jahr 482; DERS. Zur Geschichte der Onoguren, in: Ungarische Jahrbücher 10 (1930) S. 69‐76; wieder abgedruckt in: DERS. Studia Byzantina, S. 84‐118, S. 98f.; J. B. BURY. A History of the Later Roman Empire from Arcadius to Irene (395‐800), 1, London 1889, S. 272 für 481; E. STEIN. Histoire du Bas‐Empire. Tome II. De la disparition de l’empire d’occident à la mort de Justinian (476‐565), Paris/ Brüssel/Amsterdam 1949, S. 17; A. BURMOV. Въпроси из историята на прабългарите, in: Известия на Българското Историческо Дружество (ИБИД), 22‐24 (1948), S. 298‐377 oder Годишник на Софийския университет, историко‐филологически факултет (ГСУ‐ИФФ) 44 (1948), 2, S. 1‐36; wieder abgedruckt in: DERS. Избрани произведения в 3 тома, 1: Средновековната история на България, Sofia 1968, S. 50‐76, (ГСУ‐ИФФ) S. 10, plädiert für das 21 Ennodius, Bischof von Pavia, der von 473 bis 521 gelebt haben soll, schreibt in seiner

Panegyrik auf den Ostgotenkönig Theoderich den Großen, daß dieser in seiner

Jugend sich großen Ruhm im Kampfe gegen die bis dahin unbesiegbaren Bulgaren erworben und eigenhändig deren König verwundet habe.72

Abermals in Thrakien findet man die Bulgaren 499 in der Schlacht gegen Aristus, den magister militum per Illyricum, der den Bulgaren mit 15000 Mann und 502 Wagen begegnete. Am Fluß Zurta bereiteten ihm die Bulgaren eine vernichtende Niederlage, und Aristus verlor mit 4000 Soldaten während der Flucht oder in den Wassern des

Flusses sein Leben. In diesem Fall ist es Marcellinus Comes, der von diesem Ereignis berichtet.73

Abgesehen davon, dass Ansiedlungen von Völkerschaften aus dem Bereich nördlich des Schwarzen Meeres in Gebiete südlich der Donau seit der römischen Kaiserzeit nachzuweisen sind, findet sich im Falle der Kutriguren zur Zeit Kaiser Justinians

(527‐565) auch eine Ethnie, die von der Forschung mit den späteren Bulgaren in

Verbindung gebracht wird. Laut Prokop hätten 2000 Kutriguren von dem Angebot

Justinians zur Ansiedlung in Thrakien Gebrauch gemacht und sich mit Frauen und

Kindern dorthin begeben.74

Jahr 480; I. BÓNA. Das erste Auftreten der Bulgaren im Karpatenbecken, in: Turkic‐Bulgarian‐Hungarian Relations (6th‐11th Centuries), Studia Turco‐Hungarica 5, Budapest 1981, S. 79‐112, hier S. 82‐84; siehe auch: BEŠEVLIEV, Protobulgarische Periode (wie Anm. 2), S. 76. 72 C. ROHR, Der Theoderich‐Panegyricus des Ennodius (MGH Studien und Texte, Bd. 12), Hannover 1995, 5 (19), S. 208f.: Stat ante oculos meos Vulgarum ductor libertatem dextera tua adserente prostratus, nec extinctus, ne periret monumentis, nec intactus, nec viveret adrogantiae, in gente indomita domesticus adstipulator superfuturus roboris tui. Qui si sufficiens leto vulnus excepisset, personam viceras: quod in luce substitit, submisit originem. 73 Marcellini Comitis Chronicon, in: Chronica Minora saec. IV. V. VI. VII (II), ed. T. MOMMSEN (MGH Auct. ant. 11), Berlin 1894, S. 37‐108, a. 499 (MGH Auct. ant. 11), S. 95, Z. 12‐18: Aristus Illyricianae ductor militiae cum quindecim milibus armatorum et cum quingentis viginti plaustris armis ad proeliandum necessariis oneratis contra Bulgares Thraciam devastantes profectus est. bellum iuxta Tzurtam fluvium consertum, ubi plus quam quattuor milia nostrorum aut in fuga aut in praecipitio ripae fluminis interempta sunt. Ibique Illyriciana virtus militum periit; Iordanis Romana et Getica, ed. TH. MOMMSEN (MGH Auct. ant. 5/1), Berlin 1882, S. 1‐52, 356, S. 46, Z. 13; vielleicht hierauf bezogen: Theophanes, Chronographia (ed. DE BOOR) (wie Anm. 5), S. 143, Z. 26f., Chronicle of Theophanes, transl. MANGO/SCOTT (wie Anm. 3), S. 222 mit Anm. 3; STEIN, Bas‐Empire 2 (wie Anm. 71), S. 90; BÓNA, Das erste Auftreten der Bulgaren (wie Anm. 71), S. 85, BEŠEVLIEV, Protobulgarische Periode (wie Anm. 2), S. 77f. 74 Procopii Caesariensis opera omnia, Vol. 2: De bellis libri V‐VIII, recognovit J. HAURY. Ed. stereotypa correctior, addenda et corrigenda adiecit G. WIRTH, Leipzig 1962, Neudruck München 2001, 22 Direkt als Bulgaren bezeichnete Gruppen finden sich beispielsweise in einem von

Theophylaktos Simokates beschriebenen und von der Forschung ungefähr auf das

Jahr 600 eingeordneten Zwischenfall, einem interessanten Beispiel für die Bedeutung von Bulgaren im Awarenreich. Im Rahmen eines Heereszugs der Byzantiner südlich der Donau75 traf eine aus 1000 Mann zusammengestellte Vorhut auf eine Schar von

1000 Bulgaren.76 Die Bulgaren, so wird aus diesem Beispiel deutlich, scheinen also einen innerhalb der Awarenherrschaft selbständig agierenden Verband mit einer gewissen Unterordnung unter den Khagan gebildet zu haben und dies lange vor 681.

In diese Richtung weist auch eine der in den Miracula Sancti Demetrii beschriebenen

Belagerungen Thessalonikis, die von der Forschung meist auf die Jahre 617/618 datiert wird, und in der ausdrücklich Bulgaren als Bestandteil des Awarenheeres genannt werden.77 Auch bei der awarischen Belagerung von Konstantinopel 626

VIII , 19, 1‐8 u. VIII, 27, 10,S. 584, Z. 12 ‐ 586, Z. 7 u. S. 636, Z. 22 – 637, Z. 3; STEIN, Bas‐Empire 2 (wie Anm. 71), S. 532f. 75 Der Zug führte über Pistos, Zaldapa, Iatros, Nobai (Novae bei Svištov), Theodōrupolis, Kuriska nach Asemon; Theophylacti Simocattae historiae, ed. C. DE BOOR, Leipzig 1887, editio correctiorem curavit explicationibusque recentioribus adornavit P. WIRTH, Stuttgart 1972, VII, 2f., (DE BOOR) S. 248‐251 Theophylaktos Simokates, Geschichte, übersetzt u. erläutert v. P. SCHREINER (Bibliothek der Griechischen Literatur 20), Stuttgart 1985, S. 181f. mit Anm. 912‐919 (S. 336f.) zu den genannten Orten; M. WHITBY. The Emperor Maurice and his Historian. Theophylact Simocatta on Persian and Balkan Warfare, Oxford 1988, S. 160f.; zu Pistos auch V. BEŠEVLIEV. Zur Geographie Nordostbulgariens in der Spätantike und im Mittelalter, in: Балканско езикознание (Linguistique Balkanique) 4 (1962), S. 57‐80, wieder abgedruckt in: DERS. Bulgarisch‐byzantinische Aufsätze (VR CS 80), London 1978, XXIII, S. 61; zu Iatros: DERS. Zur Deutung der Kastellnamen in Prokops Werk „de aedificiis“, Amsterdam 1970, S. 124; zu Novae: M. ČIČIKOVA. Forschungen in Novae, in: Klio 62 (1980), S. 55‐66; A. MILTSCHEVA/ E. GENTSCHEVA. Die Architektur des römischen Militärlagers und der frühbyzantinischen Stadt Novae (Erkundungen 1980‐1994), in: Roman Limes on the Middle and Lower Danube, hg. v. P. PETROVIĆ (Đerdapske sveske/ Posebna izdanja 2), Belgrad 1996, S. 187‐193; zu Theodōrupolis: V. VELKOV. Cities in Thrace and Dacia in Late Antiquity (Studies and Materials), Amsterdam 1977, S. 56, 102f. 76 Theophylaktos Simokates, Historiae VII, 4, (DE BOOR) (wie Anm. 75), S. 251f., Theophylaktos Simokates, Geschichte (SCHREINER) (wie Anm. 75), S. 182f.; WHITBY, Emperor Maurice (wie Anm. 75), S. 160. 77 Les plus anciens recueils des miracles de saint Demetrius et la pénétration des Slaves dans les I: le texte, II: commentaire, par P. LEMERLE, Paris 1979/ 1981, 2, 1, 195‐214, I, S. 180‐189, hier vor allem S. 189; der Kommentar: II, S. 94‐103; zur Datierung: J. D. BRECKENRIDGE. The ‘Long Siege’ of Thessalonika. Its Date and Iconography, in: Byzantinische Zeitschrift 48 (1955), S. 116‐122; F. BARIŠIĆ. Чуда Димитриjа Солунког као историски извори (Српска Академиjа Наука 219); Belgrad 1953, S. 149; V. POPOVIĆ. Les témoins archéologiques des invasions avaroslaves dans l’Illyricum byzantin, in: Mélanges de l’École Française de Rome (MEFRA) 87 (1975), S. 445‐504, S. 493; DERS., Куврат (wie Anm. 2); H. DITTEN. Zur Bedeutung der Einwanderung der Slawen, in: Byzanz im 7. Jh. Untersuchungen zur 23 werden Bulgaren besonders erwähnt.78 Der wohl um 658 bis 660 schreibende

Chronist Fredegar schildert im Zeitrahmen des neunten Regierungsjahrs des

Frankenkönigs Dagobert 631/632 den Machtkampf zwischen einem Bulgaren und einem Awaren um die Herrschaft im Awarenreich und die Auswanderung von etwa

9000 Bulgaren nach Bayern. Ein anschließend von Dagobert verübtes Massaker an den Bulgaren hätten nur 700 Familien überlebt und sich unter der Führung eines

Alciocus79 in die windische Mark, die marca Vinedorum retten können, wo Alciocus viele Jahre bei Walluc,80 dem dux der Wenden verbracht habe.81

Für eine freilich später in die 70er und 80er Jahre des 7. Jh. datierte82 Erwähnung von

Bulgaren im Awarenreich, die jedoch auf Jahrzehnte früher stattfindende Ereignisse

Bezug nimmt, ist schließlich die viel diskutierte Geschichte innerhalb der Miracula

Sancti Demetrii heranzuziehen, bei der eine Gruppe meist christlich‐rhomäischer

Flüchtlinge aus dem Awarenreich unter Führung zweier Bulgaren, namens Mauros83 und Kuber84 nach Thessalonikē ziehen und ersterer zeitweise sogar eine Art

Herausbildung des Feudalismus, hg. v. F. WINKELMANN/ H. KÖPSTEIN/ H. DITTEN/ I. ROCHOW (BBA 48), Berlin 1978, S. 73‐160, S. 98; POHL, Awaren (wie Anm. 59), S. 242. 78 „Der Slawe hatte sich mit dem Hunnen, der Skythe mit dem Bulgaren und der Meder mit dem Skythen verständigt“; Giorgio di Pisida, Poemi I: Panegirici epici, edizione critica, traduzione e commento a cura di A. PERTUSI (Studia patristica et byzantina 7), Ettal 1959 I, IV: Bellum Avaricum, V, 194‐200, S. 185. 79 Prosopography of the Later Roman Empire (PLRE) III A, S. 40. 80 PLRE (wie Anm. 79) III B, S. 1399. 81 Chronicarum quae dicuntur Fredegarii scholasticii libri IV cum continuationibus, hg. v. B. KRUSCH (MGH SS rer. Merov. II), Hannover 1888, S. 1‐214, IV, 72, S. 157, Z. 3‐16; MARQUART, Chronologie (wie Anm. 20), S. 85f.; ZLATARSKI, История I, 1, (wie Anm. 2), S. 117‐121; zu Fredegar: WATTENBACH/ LEWISON/ LÖWE (wie Anm. 68) I, S. 109‐112; II, S. 161f.; zur Datierung des Werks: Die vier Bücher der Chroniken des sogenannten Fredegar: Buch 2, Kapitel 53 bis Buch 4, unwesentlich gekürzt, neu übertragen von A. KUSTERNIG, in: Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts, unter der Leitung von H. WOLFRAM neu übertragen von A. KUSTERNIG/ H. HAUPT (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters; Freiherr vom Stein‐Gedächtnisausgabe 4a), Darmstadt 21994, S. 3‐41, hier: S. 9‐13; I. N. WOOD, Fredegar’s Fables, in: Historiographie im frühen Mittelalter (wie Anm. 68), S. 359‐366. 82 A. BURMOV. Славянските нападения срещу Солун в „Чудесата на св. Димитър“ и тяхната хронология, in: Годишник на Софийския университет, философско‐исторически факултет (ГСУ‐ ФИФ) 47 (1952), 2, S. 167‐215, wieder abgedruckt in: DERS. Избрани произведения (wie Аnm. 71) 1, S. 77‐121; Miracula Demetrii (LEMERLE) (wie Anm. 77) II, S. 142; P. CHARANIS. Kouver, the Chronology of his Activities and their Ethnic Effects on the Regions around Thessalonica, in: Balkan Studies 11 (1970), 2, S. 229‐247, wieder abgedruckt in: DERS. Studies on the Demography XX, S. 229‐247; V. BEŠEVLIEV. Randbemerkungen über die “Miracula Sancti Demetrii”, in: Βυζαντινά (1970), S. 287‐300, S. 287‐300. 83 PmbZ (wie Anm. 13) # 4911. 84 PmbZ (wie Anm. 13) # 4165. 24 Stadtherrschaft zu errichten vermag.85 Kuber hingegen wurde von Teilen der

Forschung in die bei Theophanes/Nikephoros überlieferte Geschichte als derjenige

Sohn Kubrats, der zu den Awaren geflohen sei, eingebaut86, ohne dass eine solche

Verbindung jedoch von den Quellen gestützt würde. Auch die von Veselin Beševliev in diesem Zusammenhang herangezogene berühmte Inschrift beim Reiter von

Madara kann – selbst wenn man sie dem späteren Khan Tervel zuordnen möchte – bei genauer Betrachtung der Forschungslage nicht eindeutig in der von Beševliev vorgeschlagenen Form gelesen und damit als Nachweis für die Nennung eines

Kuber als Sohn Kubrats nicht verwendet werden.87

Auch in Italien finden sich bulgarische Gruppen unabhängig von der Erzählung des

Nikephoros/Theophanes in einem viel früheren Zeitraum. Bei Papst Gregor I. (Papst

590‐604) gibt es einen Hinweis auf einen bulgarischen spatharios aus dem Heer des berühmten justinianischen Feldherrn Narses.88 Auch das ist kein Einzelfall. Zur

Unterstützung Belisars in Italien wurden im Jahre 537 beispielsweise 1600 Reiter unter den Feldherren Martinos und Valerianos entsandt, von denen laut Prokop die meisten

Hunnen, Slawen und Anten gewesen sein sollen, die jenseits der Donau, nicht weit ab vom Fluß, ihre Wohnsitze gehabt hätten.89 Prokop verzichtet ebenso wie Agathias bekanntlich auf den Begriff Bulgaren und verwendet den Allgemeinbegriff Hunnen für mehrere Völkerschaften aus dem Bereich nördlich der Donau.90 In einer Passage

85 Miracula Demetrii (LEMERLE) (wie Anm. 77) I, S. 227‐234. 86 Zusammenfassung der Diskussion bei: Miracula Demetrii (LEMERLE) (wie Anm. 77) II, S. 144f.; N. MILEV. Кубрат от историята и Кубер в „Чудесата на Св. Димитрия Солунски“, in: Периодическо списание на българското книжовно дружество 22 (1910), S. 1‐71; ZLATARSKI, История I (wie Anm. 2), 1, S. 121f.; V. BEŠEVLIEV. Die protobulgarischen Inschriften (BBA 23), Berlin 1963, S. 95‐111 auch mit der umfangreichen älteren Literatur zum Thema; DERS. Randbemerkungen (wie Anm. 82), S. 287‐300. 87 Hierzu ausführlich ZIEMANN, Vom Wandervolk (wie Anm. 2), S. 189‐198; BEŠEVLIEVs Lesart in DERS. Inschriften (wie Anm. 86), Nr. 1c, S. 97 u. 103f. 88 Grégoire le Grand. Dialogues, 1‐3, ed. A. DE VOGÜÉ (Sources Chrétiennes 251, 260, 265), Paris 1978‐80, IV, 27, 12, Bd. 3, S. 94, Z. 101‐105. 89 Prokop, De bello Gothico (ed. HAURY/WIRTH) (wie Anm. 61), V, 27, 1f., S. 130, Z. 8‐15; auch: VII, 13, 20, (ed. HAURY/WIRTH) S. 352, Z. 15‐18. 90 Andere Autoren wie beispielsweise Ennodius, Cassiodor/Jordanes, Marcellinus Comes, Johannes Malalas, Kosmas Indikopleustes, Zacharias Rhetor, Georgios Pisides u. a. unterscheiden hingegen Hunnen und Bulgaren; A. BURMOV. Към въпроса за произхода на прабългарите, in: Известия на българското историческо дружество (ИБИД) 22‐23 (1948), S. 298‐337, wieder abgedruckt 25 aus der, Mitte des 8. Jh. entstandenen, Historia Langobardorum des Paulus

Diaconus91 wird von einem gewissen Alzeco berichtet,92 der dort als „Vulgarum dux“ auftaucht, und der aus unbekanntem Grund friedlich zusammen mit seinem Heer nach Italien zu König Grimoald (662‐671) gekommen sei, um ihm Gefolgschaft zu leisten. Grimoald habe ihn zu seinem Sohn Romuald nach Benevent geschickt und selbigen angewiesen, Alzeco und seinem Volk Lebensraum zur Verfügung zu stellen.

Romuald habe dies dankbar ausgeführt und Alzeco und seinem Volk bis dahin unbesiedelte Orte zugewiesen, so beispielsweise Sepinum, Bovianum, Iserniam und weitere Plätze.93 Natürlich wurde auch dieser Alzeco von der Forschung in die

Fünfsöhnegeschichte des Theophanes/Nikephoros als Lückenfüller für den namentlich nicht genannten nach Italien ausgewanderten Sohn Kubrats eingebaut.

Festzuhalten ist, dass Bulgaren im Balkanraum, in Italien und später im Awarenreich weitaus früher nachweisbar sind, als im Rahmen der durch die Fünfsöhnegeschichte bei Theophanes/Nikephoros beschriebenen Wanderungen. Diese Tatsache war der

Forschung natürlich stets bewusst und wurde dahingehend erklärt, dass die

Bulgaren Kubrats eben eine andere Gruppe Bulgaren darstellten oder dass es teilweise zu Rückwanderungen gen Osten gekommen sei. Da Parallelquellen für

Bulgaren an der Maiotis jedoch fehlen, muss man sich die Frage stellen, ob die

Geschichte nicht vielleicht umgekehrt einfach genau das Phänomen der seit längerer

in DERS. Избрани произведения (wie Anm. 71) 1, S. 19‐49, hier S. 21‐22, 32‐40; V. TĂPKOVA‐ZAIMOVA. Нашествия и етнически промени на Балканите през VI‐VII в., Sofia 1966, S. 61‐65; ANGELOV, Образуване (wie Anm. 26), S. 115; BEŠEVLIEV, Protobulgarische Periode (wie Anm. 2), S. 299f. 91 Zu Paulus Diaconus: WATTENBACH/LEVISON/LÖWE (wie Anm. 68) II, S. 212‐224; G. VINAY. Un mito per sopravvivere: L’Historia Langobardorum di Paolo Diacono, in: DERS. Altomedioevo latino: conversazioni e no, Neapel 1978. Nuova ed. a cura di I. PAGANI e M. OLDONI, Neapel 2003, S. 107‐129. 92 PmbZ (wie Anm. 13), # 203; P. CORSI. La spedizione italiana di Costante II (Il mondo medievale 5), Bologna 1983, S. 195, Anm. 112. 93 Paulus Diaconus, Hist. Langob. V, 29 (MGH SS rer. Lang. [48]) (wie Anm. 68), S. 196f.; zur bulgarischen Immigration nach Italien: VINCENZO D’AMICO. Bulgari trasmigrati in Italia nei secolo VI e VII dell’ era volgare, Campobasso 1933; DERS. Importanza della immigrazione dei Bulgari nella Italia meridionale al tempo dei langobardi e dei bizantini, in: Atti del 33° Congresso internazionale di Studi sull’ alto Medioevo, Spoleto 1959, S. 369‐377; C. CURRÒ. Sugli insediamenti bulgari nel Principato Citeriore, in: Rassegna storica salernitana 6, 2, (1989) fasc. 12, S. 271‐286, DERS. The Bulgarian Settlement in the Duchy of Salerno (the Modern Province of Salerno) during the Early Middle Ages, in: Bulgarian Historical Review/ Revue bulgare d’Histoire (BHR) (1991), 2, S. 40‐48. 26 Zeit in Italien, im Awarenreich und an der unteren Donau vorhandenen Bulgaren durch das populäre Muster der fünf Söhne erklären möchte.

Natürlich könnte es sich bei den Söhnen Kubrats schlichtweg um andere bulgarische

Gruppen gehandelt haben, vielleicht auch um eine Art Herrschaftsträgerschicht, die dann die unterschiedlichsten Gruppen unter ihrer Führung vereinigt hat. Indessen muss aber darauf hingewiesen werden, dass außer in der Geschichte um Kubrat

Bulgaren eben gerade nicht in den dort beschriebenen Räumen, sondern meist weiter westlich und des Öfteren sogar schon im Donauraum verortet werden. Doch nicht nur mit den Quellen zu den Bulgaren allgemein zeigen sich derartige Probleme, auch die Hauptperson selbst, Khan Kubrat, offenbart Unstimmigkeiten.

8. Kubrat

Nikephoros berichtet über jenen Kubrat nicht nur innerhalb der genannten

Fünfsöhnegeschichte, sondern auch an einer anderen Stelle. Dort wird er – in gleicher Weise wie bei Theophanes – als „Herrscher der Unnogunduren“ bezeichnet.

Zu Kubrat weiß Nikephoros, dass er ein Neffe des Organa und Herrscher der

Unnogunduren sei.94 Er habe sich gegen den awarischen Khagan erhoben und dessen

Heer aus seinem Gebiet verjagt. Daraufhin habe er eine Gesandtschaft zu Kaiser

Herakleios (610‐641) geschickt, um mit ihm Frieden zu schließen, der bis zu seinem

Tod auch eingehalten worden sei. Herakleios habe ihm als Gegenleistung Geschenke

überbracht und ihn mit dem Titel patrikios geehrt.95 Eigentlich ist das die einzige

Stelle, in der man etwas über Kubrat erfährt.96 Vergleicht man diese Passage mit der späteren Geschichte über Kubrat und seine fünf Söhne, so überrascht das Fehlen jeder Verbindung zwischen den beiden Stellen. Offenbar setzte Nikephoros die zwei

94 Zum Problem der Interpretation dieser Stelle und der Übersetzung von ἀνεψιὸς mit „Neffe“ siehe: V. BEŠEVLIEV, Кубрат, in: Известия на Народния музей — Варна 28 [43] (1992), S. 5‐12, hier S. 6. 95 Nikephoros (ed. MANGO) (wie Anm. 6) 22, S. 70, Z. 1‐7: Ὑπὸ δὲ τὸν αὐτὸν καιρὸν ἐπανέστη Κούβρατος ὁ ἀνεψιὸς Ὀργανᾶ ὁ τῶν Οὐνογουνδούρων κύριος τῷ τῶν Ἀβάρων χαγάνῳ, καὶ ὃν εἶχε παρ’ αὐτοῦ λαὸν περιυβρίσας ἐξεδίωξε τῆς οἰκείας γῆς. διαπρεσβεύεται δὲ πρὸς Ἡράκλειον καὶ σπένδεται εἰρήνην μετ’ αὐτοῦ, ἥνπερ ἐφύλαξαν μέχρι τέλους τῆς ἑαυτῶν ζωῆς∙ δῶρά τε γὰρ αὐτῷ ἔπεμψε καὶ τῇ τοῦ πατρικίου ἀξίᾳ ἐτίμησεν. 96 BEŠEVLIEV, Кубрат (wie Anm. 94), S. 11f. 27 verschiedenen Vorlagen entnommenen Berichte nicht zueinander in Beziehung.97 Der erste Bericht erzählt von Kubrat als einem sich gegen die Awarenherrschaft erfolgreich behauptenden Herrscher der Unnogunduren, der von Herakleios zum patrikios ernannt wurde, die zweite Stelle beschreibt ihn als Herrscher der Bulgaren und der Kotragen an der Maiotis. Die fehlende Verbindung zwischen den beiden

Kubrat genannten Personen lässt sich immerhin dadurch erklären, dass die beiden

Räume nichts miteinander zu tun haben. Ein die Awarenherrschaft abschüttelnder

Kubrat im 7. Jh. muss notwendigerweise viel weiter westlich des Asowschen Meeres anzusiedeln sein. Immerhin lassen sich weitere Zeugnisse über den zuerst genannten

Kubrat, also den sich von der Awarenherrschaft lösenden, anführen, wie beispielsweise Johannes von Nikiu.98 Bei ihm heißt es, daß Kubrat, der Neffe des

97 Die Formulierung Κοβρᾶτός τις paßt nicht ganz zu der Tatsache, dass ja schon vorher von einem solchen die Rede war. Siehe den Kommentar bei Nikephoros (ed. MANGO) (wie Anm. 6) zu Kap. 35, S. 194. 98 Ob der namentlich nicht genannte Herrscher eines Hunnenvolkes, der – wie ebenfalls bei Nikephoros nachzulesen ist – in Byzanz mit seinen Archonten und seiner Leibgarde angekommen sei und getauft, reich beschenkt und mit der Patrikioswürde ausgestattet in die Heimat zurückkehrte, etwas mit Kubrat zu tun hat, muß an dieser Stelle offen bleiben; Nikephoros (MANGO) (wie Anm. 6), 9, Z. 1‐9, S. 48 ‐51; Zweifel an der Verleihung des patrikios‐Titels bei P. SPECK. Das geteilte Dossier. Beobachtungen zu den Nachrichten über die Regierung des Kaisers Herakleios und die seiner Söhne bei Theophanes und Nikephoros (Ποικίλα Βυζαντινά 9), Bonn 1988, S. 259ff., 392‐398. Einige Forscher, unter ihnen Zlatarski, Artamonov und Moravcsik, sahen in diesem Hunnenfürsten mit seinem Gefolge den schon genannten Khan Kubrat mit seinen Bulgaren; ZLATARSKI, История I, 1, (wie Anm. 2), S. 93‐95; G. MORAVCSIK. Byzantinische Mission im Kreise der Türkvölker an der Nordküste des Schwarzen Meeres, in: Proceedings of the XIIIth International Congress of Byzantine Studies, Oxford 5.‐10. September 1966, ed. J. M. HUSSEY/ D. OBOLENSKY/ S. RUNCIMAN, London 1967, S. 15‐28, hier S. 21; DERS. Byzantine Christianity and the Magyars in the Period of their Migration, in: The American Slavic and East European Review 5 (1946), S. 29‐45; wieder abgedruckt in: DERS. Studia Byzantina, hg. v. J. HARMATTA, Budapest 1967, S. 245‐259, hier S. 252; ARTAMONOV, История хазар (wie Anm. 2), S. 157f.; Marquart, und in seinem Gefolge auch Beševliev identifizierten die erwähnten Hunnen mit einer bei Theophanes an anderer Stelle genannten Gruppe und sahen in dem getauften Herrscher nicht Kubrat sondern Organa (MARQUART, Die altbulgarischen Ausdrücke in der Inschrift von Čatalar und der altbulgarischen Fürstenliste, Извѣстия Русскаго Археологическаго Института въ Константинополѣ XV, S. 1‐30, hier 21; BEŠEVLIEV, Кубрат [wie Anm. 94], S. 9); Theophanes, Chron. (ed. DE BOOR) (wie Anm. 5), S. 310, Z. 19, (transl. MANGO/SCOTT) (wie Anm. 3), S. 442; V. BEŠEVLIEV. Zur Chronik des Johannes von Nikiu CXX 46‐49, in: Byzantinobulgarica 5 (1978), S. 229‐236, S. 229‐236, hier: S. 235; so auch SPECK, Das geteilte Dossier, S. 260; Johannes von Nikiu, der ungefähr zur Zeit der arabischen Eroberung Ägyptens (639‐ 642) als Bischof der auf einer Insel im westlichen Hauptarm des Nils gelegenen unterägyptischen Stadt Nikiu wirkte, war der Verfasser einer ursprünglich koptisch abgefaßten Weltchronik, die in einer auf einer arabischen Übertragung basierenden, verstümmelten äthiopischen Übersetzung aus dem Anfang des 17. Jh. erhalten ist; zu Johannes von Nikiu u. a.: V. ZLATARSKI. Нови известия за най‐древния период на българската история. СбНУНК 11 (1894) 145—154; A. CARILE. Giovanni di Nikiu, cronista bizantino‐copto del VII seculo, in: Felix Ravenna 121/122 (1981), S. 103‐155; auch in: 28 Organa schon in Kindesjahren getauft und in den Schoß des Christentums aufgenommen worden sei.99 Zudem sei er am Kaiserhof in Konstantinopel aufgewachsen.100 Später habe er dann auch ein freundschaftliches Verhältnis mit

Kaiser Herakleios (610‐641) gepflegt. Die Lesart ist jedoch nicht ganz frei von

Unsicherheiten.101

In wie weit die berühmte sog. bulgarische Fürstenliste, der Именник на българските

ханове, über Kubrat Aufschluss geben kann, ist schwer zu sagen und hängt unter anderem von ihrer Datierung und Bewertung ab.102 Dort wird ein gewisser „Kurt“ mit der Dauer seiner Lebens‐ oder Regierungszeit und dem Jahr seines

Herrschaftsantritts genannt, den die Forschung meist mit Kubrat identifiziert.103

Byzantium. Tribute to Andreas N. Stratos, II, Athen 1986, S. 353‐398; P. M. FRASER. John of Nikiu, in: The Coptic Encyclopedia 5 (1991), Sp. 1366f. 99 Zu möglichen weiteren Quellen für jenen Organa ARTAMONOV, История хазар (wie Anm. 2), S. 162. 100 Chronique de Jean, évêque de Nikiou, Texte éthopien publié et traduit par H. ZOTENBERG (Notices et extraits des manuscrits de la Bibliothèque nationale XXIV1), Paris 1883, S. 120‐608, cap. 120, 46‐49, S. 580; The chronicle of John, Coptic bishop of Nikiu being a history of Egypt before and during the Arab conquest, translated from Zotenberg’s Ethopic text by R. H. CHARLES, London 1916; Neudruck Amsterdam 1980, S. 197; ZLATARSKI, История, I, 1, (wie Anm. 2), S. 85‐87; SPECK, Das geteilte Dossier (wie Anm. 98), S. 259‐261. 101 Im äthiopischen Text steht bei Johannes von Nikiu jedoch statt Kubrat Quetrādes und statt seines Onkels Organa Kuernāka, während die Formen Kubrat und Organa Emendationen der Übersetzer darstellen; MARQUART, Ausdrücke, S. 7 Anm. 5; BEŠEVLIEV, Protobulgarische Periode (wie Anm. 2), S. 512f.; siehe auch den Kommentar zu Kap. 9 bei Nikephoros (ed. MANGO) (wie Anm. 6), S. 178. Die Auffassung, dass bei Johannes von Nikiu tatsächlich auch der Kubrat des Nikephoros vorliegt, ist somit nicht eindeutig zu beweisen, aber durchaus möglich; für eine Identifizierung mit den bei Nikephoros genannten Personen: SPECK, Das geteilte Dossier (wie Anm. 98), S. 260; skeptisch u. a.: ALTHEIM, Geschichte der Hunnen (wie Anm. 38), 2, S. 35‐39. 102 Zusammenfassend mit Literaturhinweisen ZIEMANN, Vom Wandervolk (wie Anm. 2), S. 39‐44. 103 Kourŏt; herrschte 60 Jahre; sein Geschlecht [war] Doulo und sein [Regierungsantritts‐]Jahr [war] šegorъ vĕčemь; Ausgaben: J. J. MIKKOLA. Die Chronologie der türkischen Donaubulgaren. Journal de la Société Finno‐Ougrienne 30/33 (1913‐1918), S. 1‐25., hier S. 6f.; MORAVCSIK, Byzantinoturcica II (wie Anm. 45), S. 352‐354; M. TICHOMIROV. Именник болгарских князей. Вестник древней истории (1946), 3, S. 81‐90; BEŠEVLIEV, Protobulg. Inschr. (wie Anm. 86), Nr. 79, S. 306f.; Literaturauswahl: MARQUART, Chronologie (wie Anm. 20) S. 72‐78; DERS. Die nichtslawischen (altbulgarischen) Ausdrücke in der bulgarischen Fürstenliste. T’oung Pao 11 (1910), S. 649‐680; DERS., Ausdrücke (wie Anm. 30), S. 1‐30; J. B. BURY. The Chronological Cycle of the , in: Byzantinische Zeitschrift 19 (1910), S. 127‐144; ZLATARSKI, Българско лѣтоброение. История I, 1, (wie Anm. 2), S. 353‐382 (Притурки 1); DERS. Die bulgarische Zeitrechnung. Journal de la société finno‐ougrienne 40 (1924), S. 1‐7; G. FEHÉR: Имeнникът на първите български ханове – Леточислението на прабългарите. Годишник на Народния музей, Sofia (ГНМ) (1922‐1925, 1926), S. 237‐313; O. PRITSAK. Die bulgarische Fürstenliste und die Sprache der Protobulgaren, Wiesbaden 1955; H.‐W. HAUSSIG. Die protobulgarische Fürstenliste in: F. ALTHEIM/ H.‐W. HAUSSIG. Die Hunnen in Osteuropa, ein Forschungsbericht, Baden‐ 29 Omeljan Pritsak deutete die Daten im Sinne einer Regierungszeit zwischen 605 und

665.104 In wie weit die Fürstenliste mit ihrem Namen‐ und Zeitrechnungsmaterial für die Rekonstruktion politischer Ereignisse dienen kann, ist jedoch nur schwer zu beurteilen.105

Wie dem auch sei, so lässt sich aus den Erwähnungen schließen, dass es einen Kubrat gegeben hat, welcher sich wohl erfolgreich gegen die Awarenherrschaft etabliert und das Bündnis mit Byzanz gesucht hat,106 dieser ist jedoch nur schwer mit einem

Herrscher am Nordostrand des Schwarzen Meeres in Übereinstimmung zu bringen.

Stattdessen ist die Emanzipation einer Bulgarenherrschaft aus dem Awarenreich heraus deutlich dokumentiert. Für ein Erwachsen des bulgarischen

Herrschaftsverbandes aus dem Awarenreich spricht im übrigen auch eine

Bemerkung in einem Brief des Patriarchen Nikolaos Mystikos (901‐907 und 912‐925) aus dem 10. Jh., in dem er in polemischer Weise behauptet, die Bulgaren seien ein abgerissener Zweig der Awaren, von denen sie einst Sklaven genannt worden wären.107 Vielleicht tradierten weitere, heute unbekannte Quellen die ursprüngliche

Verbindung zwischen Awaren und Bulgaren und die Verselbständigung der letzteren.

Eine weitere Klärung des Problems erwartete man sich seit je her von der

Archäologie. Ihr Hauptproblem besteht indessen darin, dass sie – anstatt zunächst archäologieinhärente Konzepte zu entwickeln – meist die Fünfsöhnegeschichte bei

Baden 1958, S. 9‐29; BEŠEVLIEV, Protobulgarische Periode (wie Anm. 2), S. 481‐497; M. MOSKOV. Именник на българските ханове (ново тълкуване), Sofia 1988; M. KAJMAKAMOVA. Именник на българските ханове. Родина (1997), 1‐2, S. 8‐44; G. PODSKALSKY. Theologische Literatur des Mittelalters in Bulgarien und Serbien (865‐1459), München 2000, S. 41, Anm. 170f. 104 PRITSAK, Fürstenliste (wie Anm. 103), S. 76. 105 Optimistisch im Hinblick auf den Quellenwert äußern sich: CHR. DIMITROV. Историческата действителност в Именника на българските ханове, in: Преслав 4 (1993) 241—249; IV. BOŽILOV/ CHR. DIMITROV. Protobulgarica. Заметки по истории протобулгар до середины ІХ в., in: Byzantinobulgarica 9 (1995) 7‐61, hier S. 25‐28. 106 Den Tod Kubrats versuchte man in der Forschung aufgrund der genannten Quellen mehr oder weniger exakt zu datieren, so z. B. Ditten auf ca. 642 (H. DITTEN, Zur Bedeutung [wie Anm. 77] S. 128, Anm. 7); Dimităr Angelov setzt den Tod Kubrats auf ca. 650 an (ANGELOV, Образуване [wie Anm. 26], S. 174); S. SZÁDECZKY‐KARDOSS. Onoguroi, in: RE Suppl. 12 (1970), col. 902‐906. 107 Nicholas I, Patriarch of Constantinople, Letters, ed. by R. J. H. JENKINS/L. G. WESTERINK. (CFHB VI), Washington 1973, Nr. 10, S. 68‐73. 30 Theophanes/Nikephoros zum Ausgangspunkt nahm und die Funde vor diesem

Hintergrund zu interpretieren suchte.108

9. Archäologie und Numismatik

Es ist unbestritten, dass es kulturelle Verbindungen zwischen den Räumen nördlich des Schwarzen Meeres und dem späteren Ersten Bulgarischen Reich gab.109 Sie erlauben zweifelsohne, von Kulturströmen und archäologisch nachweisbaren

Verbindungslinien zwischen dem Nordrand des Schwarzen Meeres und den

Bulgaren an der Donau auszugehen, jedoch können sie nicht die Geschichte von

Kubrat und seinen Söhnen in ihrer Historizität bekräftigen, da die Räume, in denen bestimmte kulturelle Gemeinsamkeiten zu beobachten sind, sich über den ganzen

Steppenraum nördlich und vor allem auch nordwestlich des Schwarzen Meeres erstrecken. Viele Archäologen sind in ihren Interpretationen zudem auch vorsichtig und verwenden Begriffe wie Steppenkulturen, bei denen vor dem Hintergrund der modernen Ethnogeneseforschung zurecht ethnische Zergliederungen verschwimmen.110

Immerhin sorgte ein bekanntes archäologisches Objekt für Diskussion um Kubrat und sein Reich. Es handelt sich um den Schatz von Malaja Pereščepina in der heutigen Ukraine. Malaja Pereščepina, der Fundort dieses 1912 entdeckten Schatzes liegt am östlichen Ufer des Flusses Vorskla, ca. 150 km südwestlich von Charkow.111

108 DIMITROV, Прабългарите (wie Anm. 2), S. 101‐127, mag als ein Beispiel dienen; dort werden zunächst die schriftlichen Quellen aufgezählt (S. 101‐103) und auf dieser Grundlage die archäologischen Funde analysiert (S. 108‐120). Methodologisch interessanter wäre jedoch eine archäologieinhärente Interpretation, auf deren Basis dann die meist dünnen Schriftquellen in einem anderen Licht erscheinen würden. 109 DIMITROV, Прабългарите (wie Anm. 2), S. 108‐121; R. RAŠEV. Прабългарите през V‐VII век, Sofia 32005, S. 64‐157. 110 Einen Überblick über die archäologischen Funde Osteuropas bietet RAŠEV, Прабългарите през V‐VII век (wie Anm. 109), S. 64‐157, zur Begriffsklärung S. 10. 111 Malaja Pereščepina befindet sich damit am äußersten nördlichen Rand der Steppenzone, die man gemeinhin als eine Art Siedlungsgrenze zwischen vorwiegend als nomadisch interpretierten Funden im Süden und slawisch gedeuteten Siedlungen nördlich davon beschreibt; J. WERNER. Der Grabfund von Malaja Pereščepina und Kubrat, Kagan der Bulgaren, München 1984, S. 7f. mit entsprechender Literatur; siehe auch: CS. BÁLINT. Nochmals über die Identifizierung des Grabes von Kuvrat, in: Acta Orientalia Academiae Scientiarum Hungaricae 42 (1988), S. 377‐389. 31 Der Fund enthält sowohl Objekte der persönlichen Ausstattung, wie Trinkhörner,

Säbel, Waffengürtel usw., als auch einen umfangreichen Schatz an Gold‐ und

Silbergefäßen. Insgesamt fand man 19 Silbergefäße und 17 Goldgefäße.112 Eine aus 69 byzantinischen Goldsolidi mit den Abbildungen verschiedener Kaiser montierte

Kette erlaubte auch eine Datierung des Fundes, denn die 18 jüngsten Münzen tragen das Bild des Kaisers Konstans II. (641‐668), wobei man letztere aufgrund ihrer

Beschaffenheit sogar noch genauer in die Jahre 642/647 datieren kann.113 Das

Vorhandensein der Überreste eines Holzsarges, die Datierung durch die Münzen und die christlichen Elemente veranlaßten Joachim Werner dazu, in dem Fund von

Malaja Pereščepina vor dem Hintergrund der genannten schriftlichen Quellen die

Grabstätte Khan Kubrats zu sehen.114 Darüber hinaus bestünde die Möglichkeit, auf zwei dort gefundenen Ringen die Inschrift „Chobratou Patrikiou“ (ΧΟΒΡΑΤΟΥ

ΠΑΤΡΙΚΙΟΥ) zu lesen.115 Werners These blieb jedoch nicht unumstritten und bleibt auch weiterhin Gegenstand der Forschungsdiskussion.116 Malaja Pereščepina liegt am

Rande, eigentlich jedoch außerhalb, des für das Reich Kubrats veranschlagten

Gebietes.117 Zeitlich würde das Objekt ungefähr passen. Für Teile der

112 4 Silbergefäße und eine Patene eines um 520 amtierenden Metropolitanbischofs namens Paternus aus Tomis sind byzantinischer Herkunft, während vier Goldgefäße und zwei Schalen aus dem sassanidischen Persien stammen. 26 Gefäße sind „nomadischen“ Ursprungs; WERNER, Malaja Pereščepina (wie Anm. 111), S. 9‐15. 113 WERNER, Malaja Pereščepina (wie Anm. 111), S. 16‐18; W. HAHN, Moneta imperii Byzantini, 3 (Österreichische Akademie der Wissenschaften phil.‐hist. Kl. Denkschriften 148; Veröffentlichungen der Numismatischen Kommission 10), Wien 1981, S. 122‐148, bes. 126 mit Tafel 21f., Nr. 53 u. 56‐61; Aufmerksamkeit erregten auch eine große byzantinische Gürtelschnalle, ein Waffengürtel und ein Prunksäbel mit einem christlichen Kreuz als Verzierung, das man auch bei anderen Gegenständen als künstlerisches Motiv findet; WERNER, Malaja Pereščepina S. 21‐37, bes. S. 22 mit Abb. 3, Tafel 13, Tafel 29. 114 WERNER, Malaja Pereščepina (wie Anm. 111), S. 38‐43. 115 WERNER, Malaja Pereščepina (wie Anm. 111), S. 44f. u. Tafel 32; DERS. Neues zu Kuvrat und Malaja Pereščepina, in: Germania 70 (1992), 2, S. 430‐432, S. 430‐432; zuvor hatte es mitunter zwar Zuweisungen dieses Fundes zu den Bulgaren gegeben, ohne jedoch Khan Kubrat selbst damit in Verbindung zu bringen; ARTAMONOV, История хазар (wie Anm. 2), S. 174f.; Z. ŽDRAKOV. За трите златни пръстена с монограми на кан Кубрат, in: Palaeobulgarica 29 (2005), 4, S. 84‐94. 116 V. N. ZALESSKAJA/ Z. A. LVOVA/ B. I. MARŠAK/ I. V. SOKOLOVA/ N. A. FONJAKOVA. Сокровища хана Кубрата. Перещепинский клад, Sankt Petersburg 1997. 117 Ein ähnliches Problem stellt sich bei der von Teilen der Forschung als Grabstätte des Kubratsohnes Asparuch gedeuteten Fundstätte Voznesenka (ST. VAKLINOV. Формиране на 32 archäologischen Forschung bildet die Lage Anlass zur Vermutung, dass das Reich

Kubrats weiter westlich zu lokalisieren sei, als dies von Theophanes/Nikephoros vorgeschlagen wird.118 Ähnliche Objekte am mittleren und unteren Dnjepr weisen im

übrigen Verbindungen zu Objekten der früh‐ und mittelawarischen Zeit auf und lassen sich durch Münzfunde aus der Zeit Konstans II. (641‐668) und Konstantins IV.

(668‐685) datieren. Auch sie liegen vor dem Hintergrund der Geschichte bei

Theophanes/Nikephoros eigentlich zu weit im Westen, stattdessen ist die

Verbindung zum Awarenreich entsprechend deutlicher.

So lässt sich zusammenfassend sagen, dass der Kubrat, der bei Nikephoros an einer früheren Stelle Erwähnung findet und sich vom Awarenreich losgesagt haben soll, weitaus greifbarer sein könnte, als der aus der Fünfsöhnegeschichte. Es stellt sich immer mehr die Frage, ob letzterer eine eher literarische Konstruktion darstellt.

Neben der Verortung ist es auch die Chronologie, welche andere Optionen plausibel macht. Zwischen der awarischen Belagerung Konstantinopels 626 und der militärischen Konfrontation Konstantins IV. mit den Bulgaren 680 oder 681 fehlen absolut sicher zu datierende Informationen über kriegerische Ereignisse auf dem

Balkan mit Bezug zu Byzanz. Jedoch lassen die vorhandenen Nachrichten zu Kubrat und die Informationen aus den Miracula Sancti Demetrii, bei denen es jeweils um

Abspaltungen von Bulgaren aus dem Awarenreich geht, bulgarische Aktivitäten und sogar Herrschaftsbildungen lange vor 681 vermuten.

Zugleich war der numismatischen Forschung des Awarenreiches stets eine Lücke in den Münzfunden zwischen 625 und 650 aufgefallen. Erst jüngst hat Péter Somogyi die erneute Aufnahme byzantinisch‐awarischer Kontakte 650 im Anschluss an eine

Unterbrechung nach der gescheiterten Belagerung von Konstantinopel 626 vorgeschlagen. Er vermutet, dass sich diese erneuten Kontakte gegen die

Unnogunduren‐Bulgaren gerichtet haben könnten, die vielleicht zwischen 625 und

старобългарската култура VI‐XI в., Sofia 1977, S. 37f.; G. KOSTOV. Погребението на хан Аспарух в светлината на археологически данни, Sofia 1998). 118 A. RÓNA‐TAS. Where was Khuvrat’s Bulgharia?, in: Acta Orientalia Hungarica 53 (2000), S. 1‐22; CURTA, Southeastern Europe (wie Anm. 2), S. 78f. 33 650 den Kontakt zwischen Byzanz und dem Awarenreich unterbrochen hatten.119

Wenn dem so gewesen sei, dann wäre auch dies ein Hinweis auf eine bulgarische

Herrschaftsbildung im Donauraum Jahrzehnte vor 681. Nicht zuletzt sei an dieser

Stelle erneut auf die syrischen Parallelquellen zur Kubratgeschichte verwiesen, welche die bulgarische Herrschaftsbildung viel früher, ja bereits in die Zeit des

Maurikios, datieren möchten.

10. Zusammenfassung

Zusammenfassend lassen sich folgende Punkte festhalten: Die Geschichte von

Kubrat und seinen Söhnen, wie sie bei Michael dem Syrer und bei Theophanes/

Nikephoros auftaucht, scheint auf eine gemeinsame Vorlage zurückzugehen. Unklar bleibt, ob die armenische Geographie dieser Vorlage zugeordnet werden kann. Die

Geschichte ist bei Theophanes/Nikephoros kein genuiner Bestandteil der

Erzählungen zu den Ereignissen von 680/681, sondern eine eingeschobene Passage.

Namen wie beispielsweise Asparuch, aber auch bestimmte Begebenheiten werden nicht mit anderen Stellen verbunden und auch nicht in späteren Erzählungen aufgegriffen. Dies trifft auch für den Namen Kubrat selbst zu, der bei Nikephoros ein paar Seiten früher begegnet. Die Herrschaft des letzteren ist wiederum räumlich als ehemaliger Teil des Awarenreiches anzusehen und nicht in der Maiotis zu verorten.

Die Maiotis bildet stattdessen in einer ununterbrochenen Reihenfolge von Priskos bis

Theophanes/Nikephoros den Schauplatz der Urgeschichte hunnischer Völker, sie ist somit als literarisches Motiv einzuordnen. Das gleiche gilt für das Motiv einer

Reichsteilung unter mehrere Söhne und damit verbundenen Wanderungen oder

Eroberungen.

Als Bulgaren bezeichnete Gruppen tauchen seit dem 5. Jh. im Balkanraum auf, vermehrt jedoch als Bestandteil des Awarenreiches. Eindeutige archäologische

Nachweise für die Existenz eines Großbulgarischen Reiches unter Kubrat an der

Maiotis im anvisierten Zeitrahmen lassen sich nicht erbringen, die bisherigen

119 P. SOMOGYI. New remarks on the flow of Byzantine coins in Avaria and Walachia during the second half of the seventh century, in: The Other Europe (wie Anm. 2), S. 83‐150. 34 Forschungen konnten lediglich kulturelle Verbindungen der Gebiete nördlich des

Schwarzen Meeres mit dem Donauraum verdeutlichen. Der in der

Forschungsdiskussion mit Kubrat bisweilen in Zusammenhang gebrachte Fund von

Malaja Pereščepina liegt indessen viel weiter westlich als das in der

Fünfsöhnegeschichte beschriebene Gebiet. Neben zahlreichen Schriftquellen zu bulgarischen Aktivitäten innerhalb des Awarenreiches nach 626 könnte eine

Unterbrechung der Münzfunde im Awarenreich zwischen 626 und 650 auf

Bewegungen im Balkanraum deuten.

Nimmt man all diese Elemente zusammen, so lässt sich nun wagemutig die These formulieren, dass die Existenz eines Großbulgarischen Reiches unter Khan Kubrat an der Maiotis samt der Geschichte mit den fünf Söhnen eine literarische Fiktion sein könnte, welche Ereignisse, die sich zum einen früher, zum anderen in weiter westlich gelegenen Räumen abgespielt haben, zu einer eingängigen Legende kondensiert. Die

Vorlage von Theophanes/Nikephoros ordnet sie jedoch zu den Ereignissen von 681 ein, da an dieser Stelle von Bulgaren und einem Feldzug Konstantins IV. gegen sie die Rede ist.

Bulgaren gab es schon länger im Donauraum. Nach der Schwächung des

Awarenreiches 626 kam es zu Konflikten bulgarischer und awarischer Gruppen und zu selbstständigen bulgarischen Herrschaftsbildungen im Balkan. Eine von diesen stellt wohl die Herrschaft jenes Kubrat dar, der wohl zunächst das Bündnis mit

Byzanz suchte. Jahrzehnte später verschlechterte sich das Verhältnis zu Byzanz, es kam zum Krieg von 680/681, der byzantinischen Niederlage und der Etablierung des so genannten Ersten Bulgarischen Reiches. Ob bei diesen Ereignissen ein Khan

Asparuch eine Rolle gespielt hat und in welchem verwandtschaftlichen Verhältnis er zu Kubrat stand, muss jedoch offen bleiben. Auffällig ist indessen, dass von

Asparuch im Zusammenhang der Ereignisse von 680/681 nicht mehr die Rede ist, obwohl er doch eine Hauptfigur hätte darstellen müssen.

Die der Erzählung des Theophanes/Nikephoros zugrunde liegende Geschichte versucht diese früher beginnenden und sich länger hinziehenden Ereignisse mit

35 bekannten Namen zu einer eingängigen nach bekannten literarischen Motiven konstruierten Geschichte zu gestalten, bei denen die literarischen Vorbilder und ihre

Bemerkungen zur Frühgeschichte der Hunnen eine prägende Rolle spielten. Für eine archäologische und historische Rekonstruktion der Frühgeschichte der Bulgaren, bzw. derjenigen Gruppen, die als solche bezeichnet werden, sollte die

Kubratgeschichte der byzantinischen Chronisten daher nicht mehr die dominierende

Rolle spielen, die sie bis jetzt gespielt hat. Eventuell wäre damit in letzter

Konsequenz auch eine bulgarische Herrschaftsbildung im Donauraum früher als

680/681 zu datieren. Doch zeigt die vorliegende Analyse vor allem, dass alle

Aussagen innerhalb jener quellenarmen Zeit mit großen Unsicherheiten behaftet sind und der Raum für Spekulationen weit geöffnet bleibt. Die Diskussion zu diesem

Problem wird auf jeden Fall weitergehen.

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