"Zwischen Geschichte Und Mythos – Großbulgarien Unter Khan Kubrat (7
Total Page:16
File Type:pdf, Size:1020Kb
ʺZwischen Geschichte und Mythos – Großbulgarien unter Khan Kubrat (7. Jh.)ʺ von DANIEL ZIEMANN (Budapest) 1. „Kubrats Reich“ nach Theophanes/Nikephoros Die meisten Darstellungen zur bulgarischen Geschichte sind sich einig. In der zweiten Hälfte des 7. Jh. existierte nördlich des Schwarzen Meeres ein Reich, das so genannte Großbulgarien unter einem Herrscher namens Kubrat. 1 Alle maßgeblichen Handbücher und Gesamtdarstellungen zur bulgarischen Geschichte diskutieren nicht die Existenz, sondern lediglich die genaue Lokalisierung und Ausdehnung Großbulgariens oder die zeitliche Spanne, die meist innerhalb der ersten Hälfte des 7. Jh. angesetzt wird.2 Als wichtigste Quellengrundlage dient dabei eine Passage innerhalb der Werke des Theophanes und Nikephoros, die nach Ansicht der Forschung für den behandelten Zeitraum aus ein und derselben Vorlage schöpften, diese aber unterschiedlich kürzten bzw. selektierten. 1 Der Ausdruck ἡ μεγάλη Βουλγαρία wird meist mit „Großbulgarien” oder „Altgroßbulgarien”, auf Bulgarisch „старата велика България” übersetzt, obwohl u. a. Beševliev mit guten Gründen auf die zusätzliche Bedeutung von μέγας als „alt“ oder „sehr alt“ hinweist und daher „Altbulgarien“ (стара България) als Übersetzung vorschlägt (V. BEŠEVLIEV. Две бележки. II. ἡ μεγάλη Βουλγαρία. – Годишник на Националния археологически музей [ГНАМ] 8 [1992] 402–403). 2 V. ZLATARSKI. История на българската държава през средните векове, I: Първо българско царство, I, 1: Епоха на хуно‐българското надмощие (679‐852). Sofia 1918, Neudruck 2002; S. 84‐122; M. ARTAMONOV. История хазар, Leningrad 1962, S. 157‐169; A. V. GADLO. Этническая история Северного Кавказа IV—X вв. Leningrad 1979, S. 107‐126; V. BEŠEVLIEV. Die protobulgarische Periode in der bulgarischen Geschichte. Amsterdam 1981, S. 149‐155; V. POPOVIĆ. Куврат, Кувер и Аспарух, in: Старинар 37 (1986) 103‐133; D. DIMITROV. Прабългарите по Северното и Западното Черноморие. Към въпроса за тяхното присъствие и история в днешните руски земи и ролята им при образуването на българската държава. Варна 1987, S. 101‐127; V. GJUZELEV. in: История на България, том втори: Първа българска държава, под ред. на D. ANGELOV / P. PETROV/ B. PRIMOV, Sofia 1981, S. 69‐75; DERS. in: История на България в три тома, том първи: I. BOŽILOV/ V. GJUZELEV: История на средновековна България VII‐XIV век, Sofia 1999, S. 74‐84; P. GEORGIEV. Столицата на хан Кубрат, in: Трудове на катедрите по история и богословие при Шуменския университет 4 (2001) 17—39; История на българите, том първи: От древността до края на XVI век. под редакцията на проф. G. BAKALOV, Sofia 2003, S. 52‐63; F. CURTA. Southeastern Europe in the Middle Ages 500‐1250, Cambridge 2006; U. FIEDLER. Bulgars in the lower Danube region. A survey of the archaeological evidence and of the state of current research, in: The Other Europe in the Middle Ages. Avars, Bulgars, Khazars and Cumans, edited by F. CURTA, with the assistance of R. KOVALEV, Leiden 2007, S. 151‐236, hier S. 152f. mit neuerer Lit. S. 222‐236; siehe auch den Artikel von G. PRINZING. Kubrat, in: Lexikon des Mittelalters 5, S. 1558 mit weiterer Literatur; Ž. ŽEKOV. България и Византия VII—IX в. Военна администрация. Sofia 2007, S. 219—229; D. ZIEMANN. Vom Wandervolk zur Großmacht. Die Entstehung Bulgariens im Frühmittelalter 7.‐9. Jh., Köln/ Weimar/ Wien 2007, S. 142‐160. 1 Theophanes und Nikephoros liefern sehr ähnlich Versionen der Geschichte. Bei Theophanes ist die entscheidende Passage zum Großbulgarischen Reich Kubrats (ἡ πάλαι καλουμένη μεγάλη Βουλγαρία) zum Weltjahr 6171, also eigentlich 678/679 zu finden. Jedoch geht die Forschung hier von einer Verschiebung der Datierungen bei Theophanes aus, so dass man die dort beschriebenen Ereignisse allgemein auf das Jahr 680/681 setzt.3 Nach einem Satz zum tatsächlich im Jahre 680 erfolgten Tod von Mauias, gemeint ist Mu῾āwiya, der fünfte Kalif und Begründer der Omayyadendynastie (661‐680), wird von einem Einfall der Bulgaren nach Thrakien berichtet.4 An dieser Stelle erfolgt der entscheidende Einschub. Es sei nun notwendig, so fährt Theophanes fort, etwas über die Vergangenheit der Unnogunduren‐ Bulgaren und Kotragen zu erzählen.5 Bei Nikephoros befasst sich der unmittelbar vor dem Kapitel stehende Abschnitt mit dem Untergang der omayyadischen Flotte bei Syllaion und dem sich anschließenden Friedensschluss. Auf diese Nachricht hin hätten sich laut Nikephoros auch die Awaren und die Fürsten der benachbarten Völker durch mit Geschenken ausgestattete Gesandte an den Kaiser gewandt. Der Kaiser habe eingewilligt, so dass Frieden und Ruhe in West und Ost geherrscht hätten. Gleich darauf beginnt 3 Zur Chronologie des Theophanes siehe: The Chronicle of Theophanes Confessor. Byzantine and Near Eastern History AD 284‐813, translated with introduction and comment by C. MANGO and R. SCOTT with the assistance of G. GREATREX, Oxford 1997, S. LXIII‐LXXIV, mit weiterer Literatur S. LXV Anm. 55; W. BRANDES. Rezension v. C. MANGO/ R. SCOTT (transl.): The Chronicle of Theophanes Confessor, in: BZ 91 (1998), S. 549‐561. 4 Zu Mu῾āwiya: M. A. J. BEG. The reign of Muʹāwiyah: a critical survey. Islamic Culture 51 (1977), S. 83‐107; W. E. KAEGI. Byzantium and the early Islamic conquests, Cambridge, 1992; C. P. KYRRIS. Cyprus, Byzantium and the Arabs from the mid‐7th to the early 8th century, in: Oriente e Occidente tra Medioevo ed età Moderna. Studi in onore di Geo Pistarino. A cura di Laura Balletto. Vol. II, Genua 1997, S. 625‐674; M. POLAT. Der Umwandlungsprozess vom Kalifat zur Dynastie: Regierungspolitik und Religion beim ersten Umayyadenherrscher Mu῾āwiya ibn Abī Sufyān (Europäische Hochschulschriften. Reihe III, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 855), Frankfurt am Main 1999; J. WELLHAUSEN. Arab wars with the Byzantines in the Umayyad period, in: Arab‐Byzantine relations in early Islamic times. Ed. M. BONNER (The Formation of the Classical Islamic World, 8), Ashgate 2004, S. 31‐64; H. A. R. GIBB. Arab‐ Byzantine relations under the Umayyad caliphate, in: Arab‐Byzantine relations in early Islamic times. Ed. M. BONNER (The Formation of the Classical Islamic World 8), Ashgate 2004, S. 65‐79. 5 Theophanis Chronographia, rec. C. DE BOOR, Vol. 1: Textum graecum continens, Leipzig 1883, S. 356, Z. 18‐20: Καὶ τούτῳ τῷ χρόνῳ τὸ τῶν Βουλγάρων ἔθνος ἐπῆλθε τῇ Θρᾴκῃ. ἀναγκαῖον δὲ εἰπεῖν καὶ περὶ τῆς ἀρχαιότητος τῶν Οὐννογουνδούρων Βουλγάρων καὶ Κοτράγων, Chronicle of Theophanes, transl. MANGO/SCOTT (wie Anm. 3), S. 497. 2 Nikephoros den folgenden Absatz mit der Bemerkung, es sei nun Zeit über die Herrschaft der so genannten Hunnen und Bulgaren und ihre Angelegenheiten zu sprechen. 6 Nur bei Theophanes findet sich in der Folge ein geographischer Exkurs, welcher das Gebiet genauer beschreiben soll, in dem sich die zu erzählenden Vorgänge abgespielt hätten. Es handelt sich um das Gebiet der Maiotis, also des heutigen Asowschen Meeres.7 Theophanes geht dabei in einer Beschreibung auf die Flüsse Don, Kouphis – gemeint ist bei letzterem wohl der Kuban – und dort lebende Fische ein.8 Er schreibt, dass an der nord‐, also der entgegen gesetzten Seite des Schwarzen Meeres der so genannte Maiotidische See liege, in den ein großer Fluss namens Atel – also die Wolga – münde, der vom Ozean kommend durch das Land der Sarmaten fließe. Der Atel würde mit dem Fluss Tanais, also dem Don, zusammenfließen, der auch aus den Iberischen Pforten, die in den Bergen des Kaukasus lägen, entspränge. Vom Zusammenfluss des Tanais und des Atel, der sich vor dem vorher erwähnten Maiotidischen See abspalte, fließe der Fluss Kouphis, der sich im entfernten Ende bei Nekropela beim „Rams Kopf“ genannten Vorgebirge in das Schwarze Meer ergieße. Vom eben genannten See komme eine Strecke Meeres gleich einem Fluss, der in das Euxenische Meer durch das Land des Kimmerischen Bosphoros münde. Dort finge man den so genannten Mourzoulin und ähnliche Fische. Jetzt, an der Ostseite des Sees, der darüber liege, in der Richtung von Phanagoria und der Juden, welche dort lebten, grenzten sehr viele Stämme, während vom gleichen See in Richtung des Flusses Kouphis, wo der bulgarische Fisch Xyston gefangen werde, sich das alte 6 Nikephoros, Patriarch of Constantinople, Short History. Text, Translation and Commentary by C. MANGO (DOT 10) (CFHB 13), Washington, D. C. 1990, cap. 35, Z. 1f., S 86: Λεκτέον δὲ ἤδη περὶ τῆς τῶν λεγομένων Οὔννων καὶ Βουλγάρων ἀρχῆς καὶ καταστάσεως αὐτῶν; zum Begriff der Hunnen an dieser Stelle: V. BEŠEVLIEV. Deux corrections au „Breviarium“ du Patriarche Nicéphore, in: Revue des Études Byzantines 20 (1970), S. 153‐159. 7 Theophanes, Chronographia (ed. DE BOOR) (wie Anm. 5), S. 356, Z. 20f.: ἐν τοῖς ἀρκτῴοις περατικοῖς μέρεσι τοῦ Εὐξείνου πόντου, ἐν τῇ λεγομένῃ Μαιώτιδι λίμνῃ; Chronicle of Theophanes, transl. MANGO/SCOTT (wie Anm. 3), S. 497f. 8 Theophanes, Chronographia (ed. DE BOOR) (wie Anm. 5), S. 357, Z. 8‐11: ἀπὸ δὲ τῆς αὐτῆς λίμνης ἐπὶ τὸν λεγόμενον Κοῦφιν ποταμόν, ἔνθα τὸ ξυστὸν ἀγρεύεται Βουλγαρικὸν ὀψάριν, ἡ παλαιὰ Βουλγαρία ἐστὶν ἡ μεγάλη, καὶ οἱ λεγόμενοι Κότραγοι ὁμόφυλοι αὐτῶν καὶ οὗτοι τυγχάνοντες, Chronicle of Theophanes, transl. MANGO/SCOTT (wie Anm. 3), S. 498. 3 Großbulgarien befunden habe und die so genannten Kotragen, die vom selben Stamm wie die Bulgaren seien. Die Erwähnung von Juden in Phanagoria stellt ein interessantes Phänomen dar. Bekanntlich gehören die Khazaren zu den wenigen nichtjüdischen Herrschaftsverbänden, bei denen das Judentum als Religion eine zeitweise auch die Herrscherfamilie umfassende Vorrangstellung genoss. Die zeitliche Einordnung der Konversion zum Judentum