Gesnerus 77/2 (2020) 279–311, DOI: 10.24894/Gesn-de.2020.77012 Vom «autistischen Psychopathen» zum Autismusspektrum. Verhaltensdiagnostik und Persönlichkeitsbehauptung in der Geschichte des Autismus Rüdiger Graf Abstract Der Aufsatz untersucht das Verhältnis von Persönlichkeit und Verhalten in der Defi nition und Diagnostik des Autismus von Kanner und Asperger in den 1940er Jahren bis in die neueren Ausgaben des DSM und ICD. Dazu unter- scheidet er drei verschiedene epistemische Zugänge zum Autismus: ein exter- nes Wissen der dritten Person, das über Verhaltensbeobachtungen, Testver- fahren und Elterninterviews gewonnen wird; ein stärker praktisches Wissen der zweiten Person, das in der andauernden, alltäglichen Interaktion bei El- tern und Betreuer*innen entsteht, und schließlich das introspektive Wissen der ersten Person, d.h. der Autist*innen selbst. Dabei resultiert die Kerndif- ferenz in der Behandlung des Autismus daraus, ob man meint, die Persönlich- keit eines Menschen allein über die Beobachtung von Verhaltensweisen er- schließen zu können oder ob es sich um eine vorgängige Struktur handelt, die introspektiv zugänglich ist, Verhalten prägt und ihm Sinn verleihen kann. Die Entscheidung hierüber führt zu grundlegend anderen Positionierungen zu verhaltenstherapeutischen Ansätzen, wie insbesondere zu Ole Ivar Lovaas’ Applied Behavior Analysis. Autismus; Psychiatriegeschichte; Wissensgeschichte; Verhaltenstherapie; Neurodiversität PD Dr. Rüdiger Graf, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam, Am Neuen Markt 1, 14467 Potsdam,
[email protected]. Gesnerus 77 (2020) 279 Downloaded from Brill.com09/27/2021 01:45:02AM via free access «Autistic Psychopaths» and the Autism Spectrum. Diagnosing Behavior and Claiming Personhood in the History of Autism The article examines how understandings of personality and behavior have interacted in the defi nition and diagnostics of autism from Kanner and As- perger in the 1940s to the latest editions of DSM and ICD.