"Chapeau, Herr Dessau!". Kolloquium zu Ehren von Hermann Dessau. : Corpus Inscriptionum Latinarum, 19.06.2006-19.06.2006.

Reviewed by Marcus Dohnicht

Published on H-Soz-u-Kult (August, 2006)

Den 150. Geburtstag Hermann Dessaus (6. toria Augusta erhielt von Hermann Dessau einen April 1856 – 12. April 1931) nahm das Akademien‐ ihrer wesentlichsten Impulse. Zur Realencyclopä‐ vorhaben Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) die der classischen Altertumswissenschaft, dem als Gelegenheit wahr, um an den großen Alter‐ Pauly-Wissowa, trug Dessau über sechshundert tumswissenschaftler und Epigrafker zu erinnern. Artikel bei. Schließlich schrieb er am Ende seines Hermann Dessau hat mehr als fünfzig Jahre sei‐ Lebens an einer „Geschichte der römischen Kai‐ nes Lebens an den altertumswissenschaftlichen serzeit“, die aber unvollendet blieb, obwohl drei Projekten der Preußischen Akademie der Wissen‐ Bände bis zu Dessaus Tod erschienen. Trotzdem schaften mitgearbeitet. Nach Mommsens Tod si‐ ist dieser bedeutende Forscher, der der Preußi‐ cherte Dessau deren Kontinuität an der Akademie schen Akademie der Wissenschaften in Beschei‐ in Berlin. denheit und Demut verbunden war, der größeren Dessaus Arbeit für das Corpus Inscriptionum Öfentlichkeit kaum bekannt, tritt seine Person Latinarum setzte Maßstäbe für die Edition lateini‐ fast vollständig hinter seinem Werk zurück. scher Inschriften. Die für die Sammlung der anti‐ Die Person Hermann Dessaus in Verbindung ken lateinischen Inschriften aus dem gesamten mit seinen Leistungen in das gebührende Licht Gebiet des Imperium Romanum unentbehrlichen der Öfentlichkeit zu rücken, war das Ziel des Kol‐ internationalen Kontakte hat er dabei stets ge‐ loquiums, dessen Beiträge, erweitert um die Editi‐ pfegt und auch im und nach dem Ersten Welt‐ on von Briefen, auch publiziert werden sollen. krieg versucht aufrecht zu erhalten. Die von ihm Stef Jersch-Wenzel (Berlin), Ein jüdischer auf Grundlage des CIL herausgegebene Auswahl‐ Althistoriker im Dienst der Wissenschaft sammlung „Inscriptiones Latinae Selectae“ – be‐ Stef Jersch-Wenzel unternahm in ihrem Beitrag kannt als „der Dessau“ – ist bis heute eines der den Versuch, Hermann Dessau in seinen famili‐ wichtigsten Arbeitsmittel der Althistoriker und ären Zusammenhängen und als Mitglied der Jüdi‐ vielleicht die am häufgsten zitierte Sammlung schen Gemeinde näher zu kommen. Aus einer epigrafscher Quellen. Rabbinerfamilie stammend, hat Dessau – im Ge‐ Dessau war außerdem an hervorragender gensatz zu vielen seiner Kollegen – an seinem Stelle an der Herausgabe der ersten Aufage der Glauben festgehalten, obwohl dies seine Karriere Prosopographia Imperii Romani (PIR) beteiligt, behinderte. Sein Bruder Bernardo Dressel, der als mit der u. a. das reichhaltige Material der im CIL Professor für Physik an der Universität Perugia gesammelten Inschriften für die Personenfor‐ lehrte, setzte sich aktiv in der zionistischen Bewe‐ schung aufbereitet wurde. Die Forschung zur His‐ gung ein und gehörte 1903 zu den Begründern H-Net Reviews der ersten zionistischen Zeitschrift in Italien. im allgemeinen und zur Prosopographia Imperii Auch sein Nefe war in der zionistischen Bewe‐ Romani (PIR) im besonderen hervor. Die Fertig‐ gung aktiv. Solche Betätigungen scheinen Her‐ stellung der von Mommsen geplanten personen‐ mann Dessau wenig gelegen zu haben. Er stand - kundlichen Darstellung der römischen Kaiserzeit soweit sich dies ermitteln ließ - den besonders in für die ersten drei Jahrhunderte wurde von der der Berliner Jüdischen Gemeinde aktiven Refor‐ Preußischen Akademie der Wissenschaften 1886 mern eher reserviert gegenüber. Seine Frau Jo‐ Elimar Klebs, Hermann Dessau und Paul von Roh‐ hanna Dessau, geb. Ellinger, übernahm zahlreiche den übertragen. Dessau übernahm dabei die Bea‐ ehrenamtliche und wohltätige Aufgaben in der rbeitung der Buchstaben D–O. Nachdem von Roh‐ Berliner Jüdischen Gemeinde, um ihren Mann, den erkrankt war, wurde Dessau auch mit der Be‐ von dem die Übernahme solcher Aufgaben erwar‐ arbeitung der Buchstaben P–Z beauftragt. tet wurde, zu entlasten. In der 1919 gegründeten Mit der PIR wurden auf überzeugende Weise die Akademie für die Wissenschaft des Judentums Möglichkeiten, die die prosopografsche For‐ übernahm Dessau aber doch den Vorsitz des wis‐ schung für die verschiedensten Fachbereiche bie‐ senschaftlichen Beirats. tet, präsentiert. Der ursprünglich vorgesehene Katja B. Wannack (Berlin), Hermann Des‐ vierte Band der PIR, der Fasten und Nachträge sau und die Berliner Universität enthalten sollte, wurde auf Anregung Dessaus, Katja B. Wannack, die sich bereits 2004 in ihrer der neben Edmund Groag und Arthur Stein die Magisterarbeit "Hermann Dessau - Der fast ver‐ Bearbeitung übernommen hatte, von der Akade‐ gessene Schüler Mommsens und die Großunter‐ mie zugunsten einer zweiten Aufage der PIR auf‐ nehmen der Akademie der Wissenschaften" inten‐ gegeben. Klaus-Peter Johne schloss seine Darle‐ siv mit der Biografe Dessaus beschäftigt hatte, gungen mit einem Überblick über die weitere Ent‐ zeichnete in ihrem Vortrag die universitäre Lauf‐ wicklung dieser zweiten Aufage der PIR nach bahn Dessaus nach. Im Jahre 1884 hatte sich Des‐ Dessaus Tod und die Verbreitung der prosopogra‐ sau an der Berliner Universität habilitiert und im fschen Untersuchungen über den engeren Kreis selben Jahr seine Tätigkeit als Privatdozent begon‐ der Altertumswissenschaft hinaus. nen. Die universitäre Laufbahn Dessaus verlief Hartwin Brandt (Bamberg), Dessau, mehr als verzögert, denn erst mit 61 Jahren wur‐ Mommsen und Klebs. Zur Frühgeschichte der de er 1917 schließlich zum ordentlichen Honorar‐ Historia Augusta-Forschung professor befördert. Da Dessau an seinem Juden‐ Hartwin Brandt stellte neue Untersuchungen zur tum festhielt, waren seine Aussichten, in einem Begründung der modernen Historia-Augusta-For‐ geisteswissenschaftlichen Fach eine ordentliche schung durch Hermann Dessau vor. Dessau hatte Professur zu erreichen, von Anfang an gering. Al‐ 1889 in einem Aufsatz die heute allgemein aner‐ lerdings waren Dessaus Neigungen zur Lehre kannte These vorgetragen, dass es sich bei der auch nur begrenzt, und der ihm von Mommsen Historia Augusta um das Werk eines Autors han‐ eröfnete Weg zur nur forschenden Tätigkeit an delt, der in der theodosianischen Zeit schrieb. Da‐ der Preußischen Akademie der Wissenschaften mit hatte er sich in Gegensatz zur allgemein ver‐ entsprach durchaus seinem Naturell. breiteten Lehrmeinung seiner Zeit gesetzt, vor al‐ Klaus-Peter Johne (Berlin), Hermann Des‐ lem aber auch in Gegensatz zur Aufassung seines sau und die Anfänge der prosopographischen Lehrers und Mentors Mommsen. Hartwin Brandt Forschung zeichnete an Hand von Briefen ein Bild der Aus‐ Klaus-Peter Johne hob in seinem Beitrag den einandersetzungen über Dessaus Thesen und ge‐ grundlegenden Beitrag Dessaus zur Prosopografe langte dabei auch zu einem wenig erfreulichen Bild der Zusammenarbeit von Klebs und Dessau,

2 H-Net Reviews die seit 1886 gemeinsam die Prosopographia Im‐ wissenschaftlicher Beamter der Preußischen Aka‐ perii Romani an der Preußischen Akademie der demie der Wissenschaften begann Dessau mit der Wissenschaften herausgaben. Theodor Momm‐ Arbeit an einer "Geschichte der römischen Kaiser‐ sen, der sich durch die zwingenden Argumente zeit". Bis zu Dessaus Tod erschienen drei umfang‐ Dessaus zu einer Überarbeitung seiner eigenen reiche Bände, die die Zeit von der Begründung Ansichten über die Historia Augusta genötigt sah, der Monarchie durch Augustus bis zum ersten Dy‐ billigte zwar das unbeirrte Festhalten Dessaus an nastiewechsel im Jahr 69 umfassten. Dessau be‐ seinen Thesen, die dieser 1892 mit einer Apologie wältigte damit ein knappes Drittel seines Werkes, befestigte, nicht, doch kam es dadurch zu keiner das mit dem Konzil von Nikäa schließen sollte. dauerhaften Verstimmung. Wenn auch Dessau die Bedeutung der Arbeiten Manfred G. Schmidt (Berlin), „Der Dessau“: seines Lehrers in seiner Dar‐ Zur Erfolgsgeschichte einer Quellensammlung stellung immer wieder würdigt, vertritt er doch in Manfred G. Schmidt wandte sich dem erfolg‐ vielen Einzelfragen einen abweichenden Stand‐ reichsten und wirkungsvollsten Werk Hermann punkt, der auch klar artikuliert wird. Von der wis‐ Dessaus zu, den „Inscriptiones Latinae selectae“. senschaftlichen Öfentlichkeit überwiegend posi‐ Dessau plante anfänglich nur eine Neubearbei‐ tiv aufgenommen, erfuhr das Werk in den Rezen‐ tung der Sammlung von Orelli und Henzen. Im sionen auch einige Verdammungsurteile. In vie‐ Laufe der Arbeiten entschloss er sich aber aus in‐ len Besprechungen ist der fehlende vierte Band haltlichen und aus verlegerischen Gründen, eine der "Römischen Geschichte" Mommsens der Maß‐ vollständig neue Sammlung der epigrafschen stab, an dem die Arbeit Dessaus gemessen wird. Zeugnisse aus dem Römischen Reich vorzulegen. Insofern steht seine Kaisergeschichte im Schatten Das Corpus Inscriptionum Latinarum, als dessen Mommsens. Neben dem fragmentarischen Cha‐ Herausgeber Dessau an der Preußischen Akade‐ rakter dürfte auch die Entwicklung nach 1933 in mie tätig war, bildete dabei die notwendige siche‐ Deutschland dazu beigetragen haben, dass Dess‐ re Materialgrundlage. Da aber die von Mommsen aus Alterswerk unangemessen geringe Spuren in und seinen Mitarbeitern für die Herausgabe der der Forschung hinterlassen hat. lateinischen Inschriften entwickelten Instrumente Klaus Wachtel (Berlin), Edmund Groag und die allgemeine Verständlichkeit des CIL ein‐ Arthur Stein. Zwei jüdische Gelehrtenschicksa‐ schränkten und die Bände des CIL außerhalb der le in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts größeren Bibliotheken kaum verfügbar waren, Das Kolloquium schloss mit einer Darstellung der wurde das Corpus Inscriptionum Latinarum auch Biografen zweier enger Mitarbeiter Dessaus an die Veranlassung für Dessau, eine epigrafsche der Neuaufage der Prosopographia Imperii Ro‐ Auswahlsammlung für einen breiteren Kreis von mani (PIR) ab, nämlich von Edmund Groag (1873– Nutzern zu schafen. Wiedergabe der Inschriften‐ 1945) und Arthur Stein (1871–1950). Klaus Wach‐ texte in fortlaufender Form mit Ergänzungen und tel beleuchtete die familiären Wurzeln und das Aufösung der schwierigeren Abkürzungen, kurze kulturelle Umfeld der beiden Altertumswissen‐ prägnante Kommentierung und ein unvergleich‐ schaftler, um schließlich zu einem lebendigen lich reichhaltiger Index haben das Werk bis heute Bild der beiden Gelehrten zu gelangen. Edmund unverzichtbar gemacht. Groag war an der Hof-, der späteren Nationalbi‐ Marcus Dohnicht (Berlin), Kaisergeschich‐ bliothek in Wien beschäftigt, während Arthur te im Schatten Mommsens? Stein als Professor an der Deutschen Universität Marcus Dohnicht würdigte das Alterswerk Her‐ in Prag lehrte. Von Hermann Dessau für die Ar‐ mann Dessaus. Nach seiner Pensionierung als beit an der PIR gewonnen, setzten sie die Arbeiten an der umfassenden Neuaufage nach Dessaus

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Tod auch dann noch fort, als die Judenverfolgung der Nazis ihnen jegliche wissenschaftliche Arbeit erschwerte und ihr Leben bedrohte. Groag konnte zwar, wohl weil er in einer so genannten privile‐ gierten Mischehe lebte, einer Deportation entge‐ hen, starb aber wenige Wochen nach der Befrei‐ ung infolge der durchlittenen Strapazen. Artur Stein, der mit seiner Frau in das Konzentrationsla‐ ger Theresienstadt deportiert worden war, über‐ lebte und setzte nach dem Krieg die Arbeiten an der PIR fort. Die Beiträge der Tagung bildeten erstaunlich gut aneinanderpassende Pusselteile einer Biogra‐ fe Hermann Dessaus, wie in der Diskussion der Vorträge ersichtlich wurde. So ergab sich z. B. aus der Tätigkeit Dessaus als Vorsitzender des wissen‐ schaftlichen Beirats der Akademie für die Wissen‐ schaft des Judentums eine überraschende Quer‐ verbindung zu seiner Kaisergeschichte. Gleichzei‐ tig traten mit der Person Hermann Dessaus auch neue Ansichten des Wissenschaftsbetriebes in der Zeit der geisteswissenschaftlichen Großfor‐ schungsunternehmen hervor.

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Citation: Marcus Dohnicht. Review of "Chapeau, Herr Dessau!". Kolloquium zu Ehren von Hermann Dessau. H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. August, 2006.

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