Unverkäufliche Leseprobe

Wolfgang Huber Auf dem Weg zur Freiheit

2019. 336 S., mit 25 Abbildungen ISBN 978-3-406-73137-2 Weitere Informationen finden Sie hier: https://www.chbeck.de/26691743 © Verlag C.H.Beck oHG, München Wolfgang Huber

DIETRICH BONHOEFFER

AUF DEM WEG ZUR FREIHEIT

Ein Porträt

C.H.Beck Mit 25 Abbildungen

© Verlag C.H.Beck oHG, München 2019 Satz: Fotosatz Amann, Memmingen Druck und Bindung: GGP Media, Pößneck Umschlaggestaltung: Kunst oder Reklame, München Umschlagabbildung: Dietrich Bonhoeffer 1933; Foto: Evangelische Zentralbildkammer Witten / Luther Verlag Bielefeld Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier (hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff) Printed in Germany ISBN 978 3 406 73137 2

www.chbeck.de Inhalt

1. Prolog: Wer war Dietrich Bonhoeffer? Denken und Leben 9 Sturm und Drang 10 Bekenntnis und Widerstand 18 Zuversicht ohne Ende 27 Modern und zugleich liberal 33

2. Bildungswege Die Familie als Bildungsort 39 Nietzsche und andere Schulmänner 41 Rom, die Kirche und die Theologie 44 Abschlüsse und Aufbrüche 52

3. Die Kirche als Vorzeichen vor der Klammer Individuelle Spiritualität oder Gemeinschaft 61 Die soziale Gestalt des Glaubens 67 Weltkirche und Wortkirche 76 Das Gerechte tun und auf Gottes Zeit warten 84

4. Billige oder teure Gnade Immer wieder Luther 87 Unendliche Leiter und guter Baum 89 Nachfolge und Widerstand 94 Beten und das Gerechte tun 105

5. Die Bibel im Leben und in der Theologie Von der Bergpredigt zu den Losungen 110 Die Bibel vergegenwärtigen 117 Historischer Jesus oder gegenwärtiger Christus 121 Zurück zu den Anfängen des Verstehens 126 6. Christlicher Pazifismus Kirche und Welt, Frieden und Widerstand 129 Friedfertige und Pazifisten 130 Freund oder Feind 133 Nur Gebote, die heute wahr sind 136 Gewaltfrei Frieden machen 142 Zwischen Militarismus und doktrinärem Pazifismus 150 Willkürliches und lebensnotwendiges Töten 152 Bonhoeffers Aktualität 154

7. Widerstand mit theologischem Profil Bonhoeffers Rolle im Widerstand 161 In der Einsamkeit des Gewissens 170 Theologie des Widerstands 172 Schuld und Widerstand 177 Wunderbar geborgen 180

8. Mut zur Schuld Schöpfung und Schuld 186 Bonhoeffers kirchliches Schuldbekenntnis 189 Geistesgegenwärtiges Bekennen 193 Kann die heilige Kirche sündigen? 197 Nothilfe und Schuld 202

9. Verantwortungsethik Arbeit an der Ethik 210 Wegbereitung 212 Beruf und Verantwortung 216 Natürliche Rechte und Menschenrechte 225 Zivilcourage 229

10. Kein Ende der Religion In religionsloser Zeit 233 Kritik der Religion 235 Die mündig gewordene Welt 243 Das religiöse Gewand ablegen 248 Glaube in einer Welt voller Religion 253

11. Polyphonie des Lebens Drei schriftstellerische Vorhaben im Gefängnis 257 Nie ohne Musik 259 Bach oder Beethoven 264 Gregorianisch singen 267 Musiker oder Theologe 272 Fragmentarisches Leben 274

12. Epilog: Was bleibt Weltweite Wirkungen 279 Kronzeuge von Protest und Widerstand 285 Bereitschaft zum Neuanfang 291 Von guten Mächten 295

Dank 301 Zeittafel 303 Literatur 313 Bildnachweis 331 Personenregister 333 1. Prolog: Wer war Dietrich Bonhoeffer?

Denken und Leben

Ein Mensch lässt sich auf verschiedene Weise porträtieren. Foto­ grafiert oder gezeichnet, gemalt oder als Skulptur kann uns die Person vor Augen­ treten. Auch durch Erzählen kann ein Bild von ihr entstehen. Die Stationen ihres Lebens, die für sie wichtigen Beziehungen und die dramatischsten Ereignisse zwischen Leben und Tod können geschildert werden. Doch nicht nur Ereignisse, Begegnungen und Beziehungen ge­ hören zu einer Person. Ebenso wichtig sind ihre Überzeugungen und ihr Denken. Für einen Menschen, der aus innerer Gewiss­ heit seinen eigenen Weg gegangen ist und auf jeder Station von seinem Denken Rechenschaft abgelegt hat, ist ein allein lebensge­ schichtlich angelegtes Por­trät unzureichend. Man muss die tragen­ den Gewissheiten dieses Menschen verstehen und die Veränderun­ gen seines Denkens nachzeichnen. Für Dietrich Bonhoeffer gilt das allzumal. Er war nicht nur ein Mitglied der Konspiration ge­ gen die Diktatur Adolf Hitlers; er war zugleich ein überzeugungs­ starker und literarisch produktiver Theologe. Weder der Entzug der Lehrbefugnis an der Berliner Universität noch ein im ganzen Deutschen Reich gültiges Veröffentlichungsverbot konnten ihn am Schreiben hindern; glücklicherweise ist mehr von seinen Manu­ skripten erhalten, als man unter den Bedingungen von Diktatur und Krieg erhoffen konnte. In Bonhoeffers wechselvoller Geschichte hingen Glauben und Leben, Theologie und Widerstand eng miteinander zusammen. Es lohnt sich, sein Denken vor dem Hintergrund seiner Lebens­ geschichte zu betrachten. Dazu ist ein Porträt erforderlich, das nicht nur an Ereignissen, sondern ebenso an Gedanken orien­ 10 Prolog: Wer war Dietrich Bonhoeffer? tiert ist. Das Denken ist in der Biographie verankert, aber nicht in ihr gefangen. Bonhoeffer dachte immer wieder über die eigene Zeit und die Bedingungen der eigenen Existenz hinaus. Seine Theologie entwickelte sich auf besonders überraschende Weise gerade in einer Zeit, in der er als Häftling des Re­gimes äußer­ lich betrachtet zur Untätigkeit verurteilt war. Seine Bereitschaft, immer wieder neu anzufangen, bewährte sich gerade in dieser Zeit. Auf seinem Lebensweg wagte Bonhoeffer mutige Schritte und wich vor Enttäuschungen wie vor Gefahren nicht zurück; das kann auch heute ein Ansporn sein. Als Theologe und denkender Zeuge einer abgründigen Zeit scheute er neue Ansätze und kühne Vorstöße nicht. Das ermutigt dazu, sich auch heute wichtigen Fragen zu stellen und nach eigenen Antworten zu suchen. Auf Hitlers persönliches Geheiß wurde Dietrich Bonhoeffer am 9. Ap­ ril 1945 im Alter von neununddreißig Jahren ums Leben gebracht. Wen wundert, dass sein Leben und sein Denken fragmentarisch geblieben sind? Doch gerade ein Fragment fordert dazu auf zu er­ kunden, wie das Ganze wohl gemeint war. Bonhoeffer hoffte dar­ auf, dass sich das in seinem Fall erkennen ließe.

Sturm und Drang

Mit knappem Vorsprung vor seiner Zwillingsschwester Sabine kam Dietrich Bonhoeffer am 4. Februar 1906 in Breslau zur Welt. Er war das sechste von acht Kindern. Die Mutter war als Paula von Hase in einer Familie aufgewachsen, zu deren Ahnenreihe mehrere Theologen gehörten. Der Vater Karl stammte aus einem württembergischen, über lange Zeit in Schwäbisch Hall ansässi­ gen Geschlecht, das eine Reihe von Bürgermeistern dieser stolzen Reichsstadt hervorgebracht hatte. Zum Zeitpunkt der Geburt sei­ ner Zwillinge lehrte er als Professor für Psychiatrie und Neuro­ logie in Breslau. 1912 erhielt er einen Ruf an die renommierte Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin, die heute Humboldt- Sturm und Drang 11

Paula Bonhoeffer mit ihren acht Kindern, 1911/12 (Dietrich Dritter von links)

Universität zu Berlin heißt. Nach einigen Jahren im Bezirk Tier­ garten, nahe dem Stadtbahnhof Bellevue, nahm die Familie 1916 in Grunewald Wohnung, einem Villenviertel, in dem Angehörige der Bildungs- und Besitzelite weithin unter sich waren. Besorgt tauschte die Elterngeneration sich über die politischen Ereig­ nisse aus; und die Jugendlichen bewegten sich in einem Freun­ deskreis, in dem man sich früh einer besonderen Berufung be­ wusst war. Sie vergewisserten sich ihres Wegs im Kreis von Gleichgesinnten. Das Bewusstsein, in einer Elite aufzuwachsen und zu entsprechender Verantwortung verpflichtet zu sein, prägte von früh auf das Selbstverständnis dieses Kreises. Der Umzug in die Wangenheimstraße fand mitten im Ersten 12 Prolog: Wer war Dietrich Bonhoeffer?

Weltkrieg statt. Dessen tiefe Schatten fielen auch auf die Familie Bonhoeffer. Die beiden ältesten Brüder Karl-Friedrich und Wal­ ter wurden noch im letzten Kriegsjahr eingezogen; der ältere Bruder Klaus wurde nach kurzer Ausbildung gegen Ende des Krieges noch für wenige Wochen eingesetzt. Bereits am 23. April 1918 wurde Walter verwundet und starb fünf Tage später, erst achtzehn Jahre alt. Die Erschütterung der ganzen Familie war groß; die Lebenskraft der Mutter Paula Bonhoefferschien ge­ brochen. Noch zu Weihnachten sah sie sich außerstande, ihrer Mutter Weihnachtsgrüße zu schicken; der Brauch, jeweils am Ende des Jahres wichtige Entwicklungen in der Familie in einem Silvestertagebuch festzuhalten, wurde für zehn Jahre unterbro­ chen. Dietrich erhielt die Konfirmationsbibel seines Bruders ­Walter zu seiner eigenen Konfirmation; er benutzte sie bis zu sei­ nem Tod. Wie stark die Familie ihn prägte und ihm den Mut zur selbstän­ digen Entscheidung und zur gelebten Verantwortung vermittelte, blieb Dietrich stets bewusst. Doch in der Schar der Geschwister und Freunde ging er zugleich seinen eigenen Weg. Zur Konfir­ mation in der Grunewaldkirche am 15. März 1921 wählte Pfarrer Hermann Priebe als Konfirmationsspruch das Wort aus dem Römerbrief des Paulus aus: «Ich schäme mich des Evangeliums nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die glau­ ben.» (Römer 1,16; 9: 31)* Ungewöhnlicherweise fügte der Kon­ firmator den Text ausschließlich im griechischen Original in die Urkunde ein. Damit würdigte er nicht nur die guten Griechisch­ kenntnisse des Konfirmanden; sondern er zeigte auch Respekt für dessen Glaubensernst. Denn schon seit geraumer Zeit hatte

* Zitate aus den Werken Dietrich Bonhoeffers werden im Text nur durch die Ziffer des Bandes in den Dietrich Bonhoeffer Werken sowie die Seitenzahl(en) angegeben. Die Schreib­ weise wird hier wie auch bei anderen Zitaten den derzeit gültigen Rechtschreibregeln ange­ passt. Eigenheiten in Bonhoeffers Interpunktion werden beibehalten. Sonstige Literatur wird durch Angabe des Verfassernamens, des Erscheinungsjahrs und der Seitenzahl(en) ­zitiert. Folgen mehrere Zitate aus derselben Quelle unmittelbar aufeinander, wird vom zwei­ ten Beleg an nur die Seitenzahl angegeben. Sturm und Drang 13

Dietrich Bonhoeffer als Elfjähriger, 1917

der Fünfzehnjährige das Studium der Theologie ins Auge gefasst. Dieses Vorhaben in der Familie zu verteidigen war nicht einfach. Die älteren Geschwister hielten ihm vor, bei der Kirche handle es sich doch um ein schwächliches und langweiliges Gebilde, worauf er antwortete: «Dann werde ich eben diese Kirche reformieren!» (Bethge 2005: 61) Das Studium der Theologie, das er im Alter von siebzehn Jah­ ren begann, führte er in einer Weise durch, die den Maßstäben seiner Herkunft entsprach. Noch während des Studiums machte er sich mit seinem Bruder Klaus zu einer Auslandsreise auf, die bis nach Marokko führte, deren Höhepunkt jedoch in einem lan­ gen Rom-Aufenthalt bestand; die Begegnung mit der Lebenswirk­ lichkeit des Katholizismus brachte den jungen Theologen zum 14 Prolog: Wer war Dietrich Bonhoeffer?

Nachdenken über die Kirche. Schon mit einundzwanzig Jahren schloss er seine Dissertation zum Verständnis der Kirche ab. Die grundsätzliche und mutige Arbeit mit dem Titel Sanctorum Com- munio («Gemeinschaft der Heiligen») ist bis zum heutigen Tag ­lesenswert. Von welcher Arbeit eines Einundzwanzigjährigen kann man das schon sagen? Nur einen Monat nach dem Abschluss des Promotionsverfahrens legte er am 17. Januar 1928 das Erste Theolo­ gische­ Examen ab. Zum Vikariat ging er nach Barcelona und lernte dort die Lebenswirklichkeit von Auslandsdeutschen in Spanien kennen. Nach der Rückkehr wollte Bonhoeffer seine akademischen Qua­ lifikationen vervollständigen. Sein Doktorvater Reinhold Seeberg war in der Zwischenzeit emeritiert worden. Bei dessen Nachfolger Wilhelm Lütgert erhielt er eine Assistentenstelle, die ihm kon­ zentriertes Arbeiten an seiner Habilitationsschrift Akt und Sein ermöglichte; sie war dem Verhältnis von Theologie und Philoso­ phie gewidmet. Bereits mit vierundzwanzig Jahren wurde er habi­ litiert und absolvierte zugleich das Zweite Theologische Examen. Doch für die Ordination in das geistliche Amt war es zu früh; da­ für mussten die Kandidaten – Frauen waren damals noch nicht zum evangelischen Pfarramt zugelassen – das fünfundzwanzigste Lebensjahr vollendet haben. Den Spielraum, den er durch den frühen Abschluss seines Stu­ diums gewonnen hatte, nutzte Bonhoeffer 1930 zu einem Studien­ jahr am ­renommierten Union Theological Seminary in New York. Dort verzichtete er auf die Möglichkeit, einen weiteren akademi­ schen Grad zu erwerben, und ließ die Vielfalt des geistigen Lebens in den USA auf sich wirken. Zugleich verwandte er viel Zeit auf die Begegnung mit der amerikanischen Lebenswirklichkeit. Man­ che Ernüchterung erlebte er dabei, wofür beispielhaft seine Empö­ rung darüber stehen mag, dass «ein zwölfjäh­riges Mädchen in ­einer Methodist Sunday School als Auszeichnung für regelmäßi­ gen Besuch eine Schmink- und Puderbüchse geschenkt bekam und der Pastor auf diese Anpassung an die Gegenwart stolz war» (10: 273). Sturm und Drang 15

Aber auch Begeisterung lässt sich erkennen. Sie entzündete sich an der Begegnung mit der Abyssinian Baptist Church in Harlem. Bonhoeffer übernahm eine eigene Sonntagsschulklasse und hielt während der Woche Bibelstunden. Er erlebte die Schwermut über die Last der Rassendiskriminierung genauso wie den Jubel, der über erlittenes Unrecht hinausführte. Doch bis die amerika­ nische Bürgerrechtsbewegung in King einen cha­ rismatischen Führer fand und sich ihr Traum von der unteilba­ ren Menschenwürde auch in der Gewährleistung gleicher Rechte niederschlug, sollte es noch Jahrzehnte dauern. Auch später hegte Bonhoeffer noch Pläne für Auslandsaufent­ halte. Besonders wichtig war ihm das Vorhaben einer Reise nach Indien, um Mahatma Gandhi zu begegnen und von ihm zu lernen. Doch dieser Traum erfüllte sich nicht. Dass Bonhoeffer sich von früh an und in einer­ für die damalige Zeit ungewöhnlich inten­ siven Weise der Erfahrung des Fremden und Unbekannten aus­ setzte, lässt sich als Ausdruck eines Hungers nach Wirklichkeit deuten. Er wollte die Fesseln sprengen, mit denen er an die ver­ meintlich heile Welt des Villenviertels im Grunewald gebunden war. Doch solche Erfahrungen suchte Dietrich Bonhoeffer nicht nur in der Ferne, sondern auch in der Nähe. Das zeigte sich bald nach der Rückkehr aus New York. Nun nahm er nicht nur seine Tätig­ keit als Privatdozent für Systematische Theologie auf, sondern ließ sich zugleich in den kirchlichen Dienst berufen. Am 15. No­ vember 1931 wurde er im Vormittagsgottesdienst der St.-Mat­ thäus-Kirche in Berlin-Tiergarten durch Generalsuperintendent Ernst Vits, der weder vorher noch nachher in seinem Leben eine Rolle spielte, ordiniert. Zwar kennt die evangelische Kirche keine Priesterweihe; doch die Ordination ist auf ihre Weise eine bedeu­ tende Zäsur in der Lebensgeschichte von Theologinnen und Theologen. Mit ihr verbindet sich der lebenslange Auftrag zur Verkündigung des Evangeliums und zur Leitung der Sakraments­ feiern von Taufe und Abendmahl. Doch in Bonhoeffers Fall han­ delte es sich eher um einen bürokratischen Vorgang, der zur selb­ 16 Prolog: Wer war Dietrich Bonhoeffer? ständigen Führung eines Pfarramts berechtigte. Vor dem Gottes­ dienst bezahlte der Ordinationsanwärter beim Küster die fälligen Gebühren von fünf Reichsmark. Dass er von Familienmitgliedern oder Freunden begleitet war, wird nicht berichtet. Ein festliches Mittagessen im Familienkreis stand auch nicht auf dem Pro­ gramm. Kaum war der Gottesdienst beendet, radelte Bonhoeffer nach Berlin-Dahlem, wo sein Freund am Nach­ mittag in einer Predigt des einhundertsten Todestags von Georg Wilhelm Friedrich Hegel gedachte. So selbstverständlich war für diese jungen Theologen die Präsenz der Philosophie in der evange­ lischen Theologie. Das Ereignis der Ordination trat, so scheint es, dahinter ­zurück. Dass heute ein von Johannes Grützke gestaltetes Reliefbildnis an der Außen­wand der St.-Matthäus-Kirche an Bon­ hoeffers Ordination erinnert, lässt sich nach alldem geradezu als eine gelungene Über­raschung bezeichnen. Bereits zum Wintersemester 1931/32 übertrug das Konsisto­ rium (so heißt die leitende kirchliche Verwaltungsbehörde) der Mark Brandenburg Bonhoeffer eine Studentenpfarrstelle an der Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg. Kurz darauf erhielt er zusätzlich einen Vertretungsauftrag an der Zionskirche in Berlin-Mitte. Insbesondere sollte er eine Konfirmandengruppe übernehmen. Die Gruppe von siebenundvierzig ungebärdigen Konfirmandenjungen hatte, wie man ihr unverhohlen vorwarf, ­ihren vorherigen Pfarrer zu Tode geärgert. Hätte Bonhoeffer sich dieser Aufgabe verweigert, wäre die Konfirmation möglicherweise geplatzt. Als er den Konfirmanden das erste Mal begegnete, ver­ suchten sie, ihn mit «Bon, Bon, Bon» niederzubrüllen. Er ertrug es schweigend, bis das laute Rufen dadurch langweilig wurde. Dann erzählte er den Jugendlichen von Harlem. Sie wurden still und begannen zu fragen. Er mietete sich ein schlichtes Zimmer in der Nähe der Kirche, über einer Bäckerei in der Oderberger Straße 61. Seine Konfirmanden kamen ihn besuchen. Zu Weih­ nachten beschenkte er sie und erklärte seinen Freunden, warum sie dieses Mal leer ausgingen. Aus den Konfirmandenrebellen wurde eine verschworene Gemeinschaft. Er zog mit ihnen auch Sturm und Drang 17

Dietrich Bonhoeffer mit seinen Konfirmanden Ostern 1932 in Friedrichsbrunn

ins Berliner Umland. Mit einigen konnte er sogar für ein paar Tage in das elterliche Ferienhaus im Harz fahren. So verschaffte er ihnen Gemeinschaftserlebnisse, die sie zusammenschweißten. Die Konfirmation fand statt, Bonhoeffers Konfirmationspredigt vom 13. März 1932 ist erhalten. Ausdrücklich nimmt diese Pre­ digt auf die soziale Situation der Jugendlichen Bezug. Sie belegt die große Bedeutung, die der Hoffnung auf Frieden und Gerech­ tigkeit in der Vorbereitung auf die Konfirmation zukam. «Kei­ ner» – so sagte der Konfirmator gegen Ende seiner Predigt – «soll euch je den Glauben nehmen, dass Gott […] uns das gelobte Land sehen lassen will, in dem Gerechtigkeit und Friede und Liebe herrscht, weil Christus herrscht, hier nur von fern, einst aber in Ewigkeit.» (11: 414) 18 Prolog: Wer war Dietrich Bonhoeffer?

Bekenntnis und Widerstand

Zehn Monate später begann in Deutschland die Herrschaft Adolf Hitlers. So sorgten die Umstände der Zeit früh dafür, dass Bon­ hoeffer weit über die beruflichen Perspektiven hinaus für seine Glaubenshaltung und deren Konsequenzen einstehen musste. Die akademische Laufbahn verlor an Bedeutung; Bonhoeffer suchte nach einer beruflichen Lebensform, die seinem Glauben entsprach. Die klare Grundorientierung im Familien- und Freundeskreis, die neuen Erfahrungen in den USA sowie eine intensive Beschäf­ tigung mit der Bibel im Jahr 1932 und dabei insbesondere mit der Bergpredigt Jesu immunisierten ihn von vornherein gegen­ über der nationalsozialistischen Ideologie. Schon aus Anlass der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 schilderte er ökumenischen Freunden ebenso klar wie drastisch die verheerenden Wirkungen eines Siegs der NSDAP – und zwar nicht nur für Deutschland, sondern auch für die Welt (11: 349). Am 1. Februar 1933 hielt er einen zwanzigminütigen Radiovortrag über Wandlungen des Füh- rerbegriffs in der jungen Generation, den er in ausführlicheren Fassungen bald darauf sowohl in der Technischen Hochschule als auch auf Einladung des liberalen Reichstagsabgeordneten Theo­ dor Heuss (des späteren Bundespräsidenten) in der Hochschule für Politik wiederholte. Schon in der kurzen Fassung, die er zwei Tage nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler im Radio vortrug, trieb er das Thema über die Frage nach Führerbe­ griff und Führerkult in der Jugendkultur der damaligen Zeit weit hinaus. Mit klaren Worten sprach er vom politischen Führer, der seine Legitimation aus dem Volksgeist empfängt und damit als Messias, als «Erfüllung der letzten Hoffnung», angesehen wird (12: 255). So wird er zum «Idol» und damit zum «Verführer». Bonhoeffer fügte hinzu, dann handle er «unsachlich» am Geführ­ ten; in einer handschriftlichen Fassung hieß es sogar noch schär­ fer, er handle «verbrecherisch» (257). Was von diesen Aussagen im Radio gesendet wurde, lässt sich nicht mehr ermitteln. Denn wegen einer geringfügigen Zeitüberschreitung wurde die Wieder­ Bekenntnis und Widerstand 19 gabe des Vortrags vor dessen Ende abgebrochen; ein Tondokument ist nicht erhalten. In den folgenden Wochen häuften sich die konkreten Anlässe, um aus dieser klaren Diagnose Konsequenzen zu ziehen. Nicht nur die alten Eliten, sondern auch breite Bevölkerungsgruppen, nicht nur die Professoren, sondern auch große Teile der Studen­ tenschaft bejahten und bejubelten das neue Regime. Der Fackel­ zug durch das Brandenburger Tor in der Nacht des 30. Januar 1933, der geschickt genutzte Reichstagsbrand in der Nacht zum 28. Februar, die Aufmärsche in Potsdam im Zusammenhang mit dem Staatsakt zur Eröffnung des neu gewählten Reichstags am 21. März, der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April, die Bücher­ verbrennung in vielen Universitätsstädten am 8. Mai zeigten in aller Öffentlichkeit, welcher Geist sich ausbreiten und durchset­ zen sollte. Die Gegenwehr gegen die überschwängliche Begeisterung über die neue nationale Regierung war unbequem und notwendig zu­ gleich; nur eine Minderheit fand sich dazu bereit. Die Haltung der Familie Bonhoeffer wurde exemplarisch von der Großmutter Julie Bonhoeffer demonstriert, die sich mutig über den Boykott jüdischer Geschäfte hinwegsetzte. Schon eine Woche später, am 7. April, wurden durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Be­ rufsbeamtentums «Nichtarier» aus dem beamteten Staatsdienst ausgeschlossen; vergleichbare Regelungen für den kirchlichen Bereich waren schon zuvor vom kirchen­politischen Vortrupp der NSDAP, den Deutschen Christen, gefordert worden. Wenige Tage später stellte Bonhoeffer in einem Kreis von Pfarrern dar, wie die Kirche sich seiner Auffassung nach zur sogenannten «Juden­ frage» verhalten sollte. Die Notwendigkeit tätiger Hilfe für die Entrechteten, ja sogar des aktiven Widerstands zeichnete sich für ihn ab. Es galt, nicht nur den Opfern zu helfen, die unter die Rä­ der staatlichen Rechtsbruchs gerieten, sondern «dem Rad selbst in die Speichen» zu greifen (12: 353). Scharf stellte der junge ­Dozent und Pfarrer sich den Bemühungen der Deutschen Chris­ ten um eine Gleichschaltung der evangelischen Kirche mit dem 20 Prolog: Wer war Dietrich Bonhoeffer? nationalsozialis­tischen Staat entgegen, die unter anderem darauf hinauslief, getaufte Juden aus dem Kirchendienst zu entlassen. Mit Vertretern der Deutschen Christen lieferte er sich am 22. Juni 1933 vor zweitausend Studenten in der Aula der Universität einen scharfen Disput. Im September rief er zusammen mit Martin Nie­ möller und anderen den «Pfarrernotbund» ins ­Leben, der die Un­ vereinbarkeit des kirchlichen «Arierparagraphen» mit dem christ­ lichen Glaubensbekenntnis proklamierte und zu einem Vorläufer der 1934 gegründeten Bekennenden Kirche wurde. Von Anfang an sah Bonhoeffer deutlich, dass die nationalsozialis­ tische Herrschaft auf einen Krieg hinauslief. Damit war schneller als erwartet der Ernstfall für die ökumenische Friedensverantwor­ tung eingetreten, an der er sich seit der Rückkehr aus Amerika beteiligte. Als Jugendsekretär des Weltbunds für Freundschafts­ arbeit der Kirchen machte er Erfahrungen mit der entstehenden ökumenischen Bewegung, die ihn für sein Leben prägen sollten. Wie groß die Erwartungen waren, die er in diese Bewegung setzte, zeigte sich, als er 1934 eine Konferenz in Fanø dazu nutzte, ein «ökumenisches Konzil der Heiligen Kirche Christi aus aller Welt» zu proklamieren, «das den Frieden Christi ausruft über die ra­ sende Welt» (13: 301). Dieses Verkünden eines Friedenskonzils, das später von manchen idealistisch verklärt wurde, zeigte trotz des pathetischen Tonfalls, wie nüchtern Bonhoeffer von Anfang an die Kriegsgefahr einschätzte, die von Hitler-Deutschland ausging. Umso stärker schwankte er zwischen der Pflicht zur Resistenz im eigenen Land und der Chance, außerhalb Deutschlands zu wirken. Im Herbst 1933 übernahm Bonhoeffer eine deutsche Auslands­ pfarrstelle in London; dafür unterbrach er seine Lehrtätigkeit an der Berliner Universität. Doch auch in England waren die kirch­ lichen Konflikte der Heimat gegenwärtig. Trotz erster Enttäu­ schungen über die mangelnde Eindeutigkeit und Geschlossenheit der kirchlichen Opposition erkannte er die Notwendigkeit, seinen Beitrag zum Aufbau der Bekennenden Kirche nicht von außen, sondern von innen zu leisten. Bereits 1935 kehrte er nach Deutsch­ land zurück, um ein Predigerseminar für die Bekennende Kirche Bekenntnis und Widerstand 21 zuerst in dem Ostseebad Zingst und dann in Finkenwalde bei Stettin aufzubauen und zu leiten. In diesen Seminaren sollten Theologen, die das Erste Theologische Examen abgelegt und eine Vikariatsstelle angetreten hatten, im Sinne der Bekennenden Kirche auf ihr Zweites Examen und den Pfarrdienst vorbereitet werden. Von Finkenwalde aus wollte Bonhoeffer auch seinen Pflichten als Privatdozent wieder nachkommen. Doch sein Vertrauen in Erich Seeberg, den Dekan der Theologischen Fakultät und Sohn seines Doktor­vaters Reinhold Seeberg, wurde bitter enttäuscht. Denn in diesem Dekan trat ihm der «wohl einflussreichste Natio­ nalsozialist und intriganteste Kollaborateur des Hitler-Staates un­ ter den protestantischen Universitätstheologen» entgegen (Kauf­ mann 2005: 188 f.). Ausgerechnet dessen Sohn Bengt Seeberg forderte als Sprecher der theologischen Studentenschaft das Wissenschaftsministerium dazu auf, Bonhoeffer aus der Univer­ sität zu entfernen, da seine Verantwortung für eine Ausbildungs­ einrichtung der Bekennenden Kirche mit einer Lehrtätigkeit an der Universität unvereinbar sei. Unzweifelhaft war dieses Vorge­ hen zwischen Vater und Sohn abgesprochen. Und es war erfolg­ reich. Am 5. August 1936 entzog Wissenschaftsminister Bernhard Rust Bonhoeffer die Lehrbefugnis (Wendebourg 2006: 310). Als akademischer Lehrer hatte Bonhoeffer bisweilen zweihundert Hörerinnen und Hörer in seiner Vorlesung versammelt; viele von ihnen hatten gehofft, dass ihm bald eine Professur – in Berlin oder anderswo – übertragen würde. Stattdessen stand er im Alter­ von dreißig Jahren ohne venia legendi da. Ihm blieb nichts anderes übrig, als diese Demütigung hinzu­ nehmen und sich auf die Aufgabe zu konzentrieren, die er unter den Bedingungen des Kirchenkampfs als vorrangig ansah. Das war die Vorbereitung künftiger Pfarrer auf ihren kirchlichen Dienst. Dabei ging er neue Wege – in der Gestaltung persön­ licher Frömmigkeit, in den Regeln des gemeinsamen Lebens, in einer biblisch orientierten Theologie, im politischen Urteil. Ein aus dieser Zeit überlieferter Satz zeigt die Richtung: «Nur wer 22 Prolog: Wer war Dietrich Bonhoeffer? für die Juden schreit, darf auch gregorianisch singen.» (Bethge 2005: 506) In Finkenwalde entstand die persönliche Freundschaft mit dem drei Jahre jüngeren , die nicht nur ein wichtiger Halt für die folgenden Jahre war, sondern sich auch für die Wirkung Bonhoeffers über seinen Tod hinaus als entschei­ dend erweisen sollte. Im Rückblick auf diese Jahre schilderte Eberhard Bethge sei­ nen Freund mit folgenden Worten: «Dietrich Bonhoeffer hatte eine kräftige Gestalt. Der hohe Wuchs stammte von der mütter­ lichen Seite, von den Hases und den großen, schwergliedrigen Kalckreuths; die federnde Kraft kam von den Bonhoeffer’schen Vorfahren. […] Sein Kopf war eher rund als lang, wirkte aber auf den breiten Schultern nicht unproportioniert. Die kurze Nase ließ Stirn und Mundpartie stärker vorherrschen. […] Den sensiti­ ven Mund mit den vollen, doch scharf geschwungenen Lippen hatte er vom Vater. Dietrich lächelte sehr freundlich und zuge­ wendet, obgleich man ihm zuweilen auch durchaus die Lust am Spott ansah. Er sprach dialektlos, in der Unterhaltung auffallend schnell; beim Predigen wurde seine Sprache schwer, fast sto­ ckend. Obgleich seine Hände feingliedrig erschienen, waren sie besonders kräftig. Im Gespräch spielte er meist mit dem Bonhoeffer’schen Wappenring an der linken Hand; wenn er zu musizieren begann, zog er ihn ab und legte ihn in die linke Ecke des Flügels. […] Im Zwiegespräch hörte er sehr aufmerksam zu und fragte auf eine Weise, die dem Partner Selbstvertrauen gab und diesen mehr sehen und sagen ließ, als er sich eben noch zu­ getraut hatte. […] Wie er niemals jemandem zu nahe trat, so ließ er auch keinen anderen sich selbst zu nahe treten. […] Schon seine Haltung drückte das deutlich aus. […] Bonhoeffer […] hat als ein besonders intensives Kind gegolten. Intensiv blieb die Art, anzufassen, was immer ihm begegnete: Lektüre und Schrei­ ben, Entscheidungen zu fällen und ihren Gründen nachzugehen, Menschen beizuspringen oder sie zu warnen; kurz: sich um das zu kümmern, was sein gedrängter Lebenslauf ihm vorlegte und abforderte.» (Bethge 2005: 19 f.) Bekenntnis und Widerstand 23

Neben der Freundschaft mit Eberhard Bethge prägte die mit dem ebenfalls drei Jahre jüngeren Theologen Franz Hildebrandt Bonhoeffers Leben mehr als alle anderen. Beide Freundschaften umfassten ­jeweils ein Lebensjahrzehnt, die Jahre 1927 bis 1937 in Hildebrandts Fall, 1935 bis 1945 im Fall Eberhard Bethges. Im einen Fall endete die Freundschaft durch die mit Hildebrandts Emigration nach England eingetretene räumliche Trennung, im anderen Fall endete sie mit Bonhoeffers Tod. Auch wenn Bonhoef­ fers Fähigkeit zur Freundschaft sich nicht auf diese beiden Men­ schen beschränkte, ist die Intensität dieser Freundesbeziehungen erstaunlich. Die enge Verbindung zwischen Bonhoeffer und Bethge rief schon in Finkenwalde Deutungen hervor, die auch in der neu­ eren Literatur ein Echo finden (Marsh 2015: 299 f.). Eberhard Bethge hat sich zu der Mutmaßung, es habe sich um eine homo­ sexuelle Beziehung gehandelt, unbefangen und klar geäußert: «Nein, wir waren ziemlich normal. Zwar weiß man heute mehr davon, dass es keine gleichgeschlechtlichen Freundschaf­ten gibt, die nicht ihre homoerotischen Anteile verschiedenster Grade be­ säßen. Aber bei uns war es einfach so, dass sich unsere Freund­ schaft in ihren Anfängen sicher dadurch vertiefte, dass Dietrich die mehrjährige Beziehung zu einer Frau löste und mich zum Mitwisser dieses schmerzhaften Prozesses machte, während ich zur gleichen Zeit ans bittere Ende eines Verlöbnisses geraten war, was ich ihm offenbarte. Zum anderen war es so, dass unsere Freundschaft gegen ihr Ende für beide die Bindung an je eine höchst vitale Partnerin brachte, deren Werden und Schwierig­ keiten durch die Kriegsverhältnisse wir miteinander teilten, wie Männer das eben tun, ehe irgendjemand sonst etwas davon wusste.» (Gremmels/Huber 1994: 15 f.) Bethge bezog sich mit diesen Sätzen auf seine Verbindung mit Renate Schleicher, einer Nichte Dietrich Bonhoeffers, die er im Frühjahr 1943 heiratete. Bei der standesamtlichen Trauung im März konnte Bonhoeffer noch Trauzeuge sein; die Traupredigt, die er schon im Gefängnis für das junge Paar schreiben musste, traf nicht rechtzeitig ein. Das junge Paar war im Rückblick eher 24 Prolog: Wer war Dietrich Bonhoeffer? erleichtert darüber, dass sie nicht verlesen wurde, denn der pat­ riarchalische Ton, in dem die dienende Rolle der Frau und die übergeordnete Verantwortung des Mannes hervorgehoben wur­ den, war den beiden Adressaten peinlich. Bonhoeffer seinerseits kam mit Maria von Wedemeyer, die ihn schon als Kind in Gottes­ diensten erlebt hatte, erstmalig im Juni 1942 ins Gespräch. Die Beziehung, die sich bald zwischen ihnen anbahnte, suchte Marias Mutter zu unterbinden oder wenigstens hinauszuschieben, indem sie beiden ein Jahr der vollständigen Trennung abverlangte. Doch die Liebe war stärker. Am 13. Januar 1943, der für sie als Tag der Verlobung galt, gab Maria Dietrich ihr Jawort (Bonhoef­ fer/Wedemeyer 1992: 278). Die beiden rangen sich dazu durch, die aufgezwungene Wartezeit nicht zu akzeptieren, aber Dietrichs Verhaftung am 5. April 1943 trennte sie dann doch. Ihre drän­ gende Hoffnung auf die Ehe sollte sich nicht erfüllen. Von dem besonderen Charakter der Freundschaft zwischen Bon­ hoeffer und Bethge kehren wir noch einmal zu deren gemeinsamer Arbeit in der Verantwortung für das Predigerseminar zurück. Wie die vier anderen durch die Bekennende Kirche der Altpreußischen Union errichteten Predigerseminare – in Wuppertal-Elberfeld, im niederschlesischen Naumburg am Queis, in Bielefeld-Sieger sowie im ostpreußischen Blös­tau – stützte sich auch das Seminar in Fin­ kenwalde auf die Beschlüsse der Bekenntnissynoden in Barmen und Berlin-Dahlem aus dem Jahr 1934. In keinem anderen Be­ reich konnte die Bekennende Kirche das Notrecht, auf das sie sich im Widerstand gegen die staatlichen Übergriffe wie gegen die deutschchristlichen Häresien berief, so erfolgreich durchsetzen wie im Bereich der Pfarrerausbildung. Die Predigerseminare tra­ ten neben die 1905 gegründete Theologische Schule in Bethel und die 1935 eingerichteten Kirchlichen Hochschulen in Wuppertal und Berlin, die eine Alternative zum Theologiestudium an staat­ lichen Universitäten boten. Nirgendwo sonst hatte das Handeln der Bekennenden Kirche stärkere Auswirkungen auf die kirch­ liche Praxis als in der Ausbildung des theologischen Nachwuch­ ses. Doch in den Augen des Staates galten die Predigerseminare, Bekenntnis und Widerstand 25 die das zustande brachten, als ­illegal. Der Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten, Hanns Kerrl, konnte jederzeit ein­ greifen und diesen Aktivitäten ein Ende ­machen. 1935 wurde ihm ausdrücklich die Kompetenz zuerkannt, «geordnete­ Zustände in der Deutschen Evange­lischen Kirche und in den evangelischen Landeskirchen» auf dem Verordnungsweg herzustellen (14: 5). Damit waren die Predigerseminare von Anfang an durch gewalt­ same staatliche Schließung bedroht. Im Rückblick erstaunt es geradezu, dass die Arbeit in Finkenwalde über zwei Jahre lang möglich blieb. Sie musste schließlich nicht etwa durch eine Ver­ ordnung des Kirchenministers eingestellt werden, das geschah vielmehr durch eine Anordnung des Reichsführers SS. Am 29. August 1937 wurde jede weitere Tätigkeit in Finkenwalde un­ tersagt; am 28. September wurde das Seminar versiegelt. Am 11. Januar 1938 wurde Bonhoeffer zusätzlich miteinem­ Aufent­ haltsverbot in Berlin belegt. Nach ­Intervention seines Vaters wa­ ren ihm allerdings weiterhin private Besuche in der Stadt mög­ lich (15: 33 f.). Finkenwalde war geschlossen; und in Berlin war jede öffentlich erkennbare Tätigkeit untersagt. Die Pfarrerausbil­ dung ging gleichwohl in verdeckter Form in Sammelvikariaten weiter. Dafür wurde zunächst ein leerstehendes Pfarrhaus im pommerschen Groß Schlönwitz, dann das abgelegene Vorwerk Sigurdshof in der Nähe von Groß Schlönwitz genutzt. An beiden Orten arbeitete Eberhard Bethge als Studieninspektor,­ während Bonhoeffer für einen Teil der Woche als Studiendirektor hinzu­ kam. Doch am 18. März 1940 setzte die Gestapo dem gemeinsa­ men Studium in Sigurdshof ein Ende. Dietrich Bonhoeffers Lehr­ tätigkeit brach damit ab. Bald darauf wurde ihm auch die Möglich­ keit zu publizistischer Wirksamkeit genommen. Im September 1940 verhängte das Reichssicherheitshauptamt gegen ihn ein reichsweites Redeverbot; dem stellte die Reichsschrifttumskam­ mer am 19. März 1941 ein Veröffentlichungsverbot zur Seite. Welch ein Kontrast: Stürmisch nahm Bonhoeffer in jungen Jah­ ren alle kirchlichen und akademischen Hürden. Doch danach wurde ihm Schritt für Schritt die Basis für seine berufliche Tätig­ 26 Prolog: Wer war Dietrich Bonhoeffer? keit entzogen. Erst verlor er das Recht zur akademischen Lehre, dann die Möglichkeit zur Ausbildung künftiger Pfarrer und schließlich das öffentliche Forum für seine theologische Arbeit. Insbesondere seine Eltern waren von dieser Entwicklung sehr be­ unruhigt. Doch Bonhoeffer hielt dem das Schicksal von Hunder­ ten entgegen, die Vergleichbares erlebten. Klarsichtig konsta­ tierte er im November 1937: «Die Sache der Kirche können wir nicht durchhalten ohne Opfer. […] Es reißt sich bestimmt keiner von uns ums Gefängnis. Aber wenn es kommt, dann ist es doch – hoffentlich jedenfalls – eine Freude, weil die Sache sich lohnt.» (14: 303) Die persönliche Gefährdung war Bonhoeffer in diesen Jahren ständig bewusst. So war es verständlich, dass er am 2. Juni 1939 einer Einladung nach New York folgte, wo er, wie sich bei der An­ kunft herausstellte, die Seelsorge für deutsche Emigranten über­ nehmen sollte. Eine solche Aufgabe hätte die Rückkehr nach Deutschland unter den gegebenen politischen Umständen unmög­ lich gemacht. Doch dazu war Bonhoeffer nicht bereit. Schon am 20. Juni schlug er das Angebot, das ihm wie vielen anderen Aka­ demikern ein Leben im Exil ermöglicht hätte, aus. Denn in der Fremde wollte er nicht bleiben. Auf seine Arbeit für die Beken­ nende Kirche wollte er nicht verzichten. Darüber hinaus wollte er zur Erneuerung Deutschlands nach der von ihm klar vorausge­ sehenen Katastrophe beitragen und seinen Freunden im Wider­ stand gegen das Naziregime beistehen. So kehrte er zurück, wohl wissend, dass ein Krieg bevorstand, an dem mitzuwirken er aus Gewissensgründen nicht bereit war. Er hegte keine Illusionen da­ rüber, dass er mit der Entscheidung zur Rückkehr sein Leben aufs Spiel setzte. Doch der Einberufung zum Militär, die er mit der Verweigerung des Kriegsdienstes beantwortet hätte, kam sein Schwager zuvor. Er vermittelte ihm eine Stellung im Amt Ausland/Abwehr, dem militärischen Geheim­ dienst im Oberkommando der Wehrmacht. Es stand unter der Leitung von Admiral Wilhelm Canaris. Oberst Hans Oster, seit 1942 Generalmajor, leitete die Zentralabteilung. Dohnanyi, der als Zuversicht ohne Ende 27

Persönlicher Referent mehrerer Reichsjustizminister das NS-Re­ gime seit dem «Röhm-Putsch» vollständig ablehnte und dessen Verbrechen in persönlichen Aufzeichnungen für eventuelle gericht­ liche Verfahren nach einem Umsturz festhielt, war seit Kriegsbe­ ginn Osters engster Mitarbeiter. In diesen Kreis, dem eine Schlüs­ selbedeutung für den militärischen Teil des Widerstands gegen Hitler zukam, wurde Bonhoeffer einbezogen. Er sollte insbeson­ dere seine ökumenischen Kontakte in andere europäische Länder im Dienst der Abwehr, zugleich aber auch des Widerstands nut­ zen; in diesem Auftrag reiste er nach Italien und in die Schweiz, nach Norwegen und Schweden. Formal war er der Münchener Außenstelle zugeordnet; mit seiner offiziellen Funktion verband sich die Möglichkeit, seine theologische Arbeit fortzusetzen. Diese Möglichkeit nahm er an unterschiedlichen Orten wahr, von Berlin aus im pommerschen Klein Krössin, wo Ruth von Kleist- Retzow wohnte, die Großmutter seiner späteren Braut Maria von Wedemeyer, von München aus in der bayerischen Benediktiner­ abtei Ettal. Vom Kriegsdienst war Bonhoeffer auf diese Weise be­ freit; der lebensgefährliche Konflikt auf Leben und Tod war da­ durch allerdings nur vertagt.

Zuversicht ohne Ende

Bonhoeffers Beteiligung an der Konspiration wird uns an ande­ rem Ort noch genauer beschäftigen. Erstaunlich ist die Art, in der er sich zugleich auf seine theologische Arbeit konzentrieren konnte. Die Blätter seiner Entwürfe zur Ethik, an denen er gerade geschrieben hatte, fanden sich auf dem Schreibtisch im elterlichen Haus, als die Gestapo ihn am 5. April 1943 abführte. Überra­ schend kam die Festnahme nicht, die gleichzeitig mit derjenigen Hans von Dohnanyis erfolgte. Auch dessen Ehefrau Christine, eine von Dietrichs Schwestern, wurde bis Ende April inhaftiert. Bonhoeffer wurde unterstellt, er habe sich aus wahrheitswidrigen Gründen vom Kriegsdienst freistellen lassen; Dohnanyi habe ihn