Vandenhoeck & Ruprecht Sebastian Voigt Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Band 22 Der jüdische Mai ’68 Die Schriftenreihe des Simon-Dubnow-Instituts Bisher erschienen: (Leipzig) spiegelt das Profi l der dort betriebenen Erforschung der jüdischen Lebenswelten in Mittel-, Band 21: Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und Daniel Cohn-Bendit, Pierre Goldman und André Glucksmann Ostmittel- und Osteuropa in ihrer Verschränkung Hendrik Niether waren drei wichtige Aktivisten im Umfeld des Pariser Mai ’68. mit den westlichen Judenheiten von der frühen Leipziger Juden und die DDR ’68 Mai jüdische Der André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich Sebastian Voigt zeichnet ihre Lebenswege nach und rückt Neuzeit bis in die Gegenwart. Jüdische Geschichte Eine Existenzerfahrung im Kalten Krieg ihre politischen Biografien in einen gedächtnisgeschichtlichen wird dabei stets im Kontext einer allgemeinen und Band 20: Zusammenhang. Er richtet den Blick zurück auf die Erfahrungs- gesamteuropäischen Geschichte verstanden. Die Maria Gotzen-Dold geschichte der Elterngeneration – auf die Lebenswelten der aus Aufmerksamkeit richtet sich daher auf kulturell ge- Mojzesz Schorr und Majer Bałaban Deutschland, Polen und dem Habsburgerreich nach Frankreich mischte historische Räume, auf die Interaktion von Polnisch-jüdische Historiker immigrierten und geflüchteten Juden. Kommunismus, Zionis- Juden mit der nichtjüdischen Umwelt, auf die Viel- der Zwischenkriegszeit mus, antifaschistisches Engagement der Elterngeneration und falt jüdischer Lebenswelten sowie auf die wechsel- der Widerstand gegen die deutsche Besatzung bilden die Folie, seitigen Beziehungen der Juden zwischen Ost und

Band 19: Voigt Sebastian West. Elisabeth Gallas vor der die Ereignisse des Mai ’68 in neuem Licht erscheinen. »Das Leichenhaus der Bücher« Weitere Informationen erhalten Sie unter Kulturrestitution und jüdisches Der Autor www.v-r.de und www.dubnow.de Geschichtsdenken nach 1945 Dr. Sebastian Voigt ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Zeitgeschichte in München. Band 18: Klaus Kempter Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Joseph Wulf Band 22 Ein Historikerschicksal in Deutschland Band 17: Arndt Engelhardt Arsenale jüdischen Wissens Zur Entstehungsgeschichte der »Encyclopaedia Judaica« Band 16: Mirjam Thulin Kaufmanns Nachrichtendienst Ein jüdisches Gelehrtennetzwerk im 19. Jahrhundert www.v-r.de

V Vandenhoeck & Ruprecht

9783525370360_Umschlag_Voigt_Mai68.indd 1 06.02.15 12:16 © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Schriften des Simon-Dubnow-Instituts Herausgegeben von Dan Diner

Band 22

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Sebastian Voigt

Der jüdische Mai ’68

Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann im Nachkriegsfrankreich

2., durchgesehene Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Lektorat: Lina Bosbach, Leipzig

Mit 7 Abbildungen

Umschlagabbildung: Plakat mit dem Konterfei Daniel Cohn-Bendits auf einer Mauer in der Rue de Seine in , Mai 1968 © ullstein bild – Roger Viollet

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISSN 2197-098X ISBN 978-3-647-37049-1

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© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Inhalt

Vorwort ...... 7

Einleitung 9

1. Gefangen in der Zeit. Pierre Goldmans radikales Leben ...... 24 1.1 Von Ost nach West. Die Familiengeschichte ...... 35 1.2 Zum Lebensweg ...... 49 1.3 Der Prozess ...... 64 1.4 Pierre Goldmans Erinnerungen ...... 76 1.5 Erinnerungen an Pierre Goldman ...... 91 1.6 Der Revisionsprozess ...... 95 1.7 Zurück in Freiheit. Vom journalistischen Schreiben zum grotesken Roman . . . 99 1.8 Verstellte Wahrnehmung ...... 115 1.9 Von 1789 nach Drancy ...... 130

2. Biografische Verzweigungen. Daniel Cohn-Bendit zwischen Frankreich und Deutschland . . . 135 2.1 Kind der Freiheit und Paria. Zur Familiengeschichte 140 2.2 Von Südfrankreich nach Deutschland. Wege zurück ins Nachkriegsdeutschland 157 2.3 Ernest Jouhy. Erfahrungen eines deutsch-jüdischen Kommunisten 163 2.4 An der Odenwaldschule ...... 177 2.5 Vom Staatenlosen zum Akteur des Mai ’68. Rückkehr nach Frankreich 183 2.6 Hannah Arendt im Exil. Erfahrung und Reflexion . . . . . 201 2.7 Erneutes Exil. Daniel Cohn-Bendit nach dem Mai ’68 . . . 216

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 6 Inhalt

3. Habsburger Erfahrungen. André Glucksmann als antitotalitärer Denker 227 3.1 Von Wien über Jerusalem nach Frankreich. Lebensstationen der Familie 236 3.2 Kindheit im Untergrund. Über Spionage, Widerstand und das Überleben im besetzten Frankreich ...... 258 3.3 Eine Rückkehr nach Wien und eine Entscheidung für Frankreich ...... 267 3.4 Zwischen allen Stühlen. Zum Lebensweg Raymond Arons . 280 3.5 Von der »unauffindbaren Revolution« 1968 zum maoistischen Engagement ...... 286 3.6 Der »Gulag-Effekt«. Zur Rezeption Solschenizyns in Frankreich ...... 296 3.7 Die »Neuen Philosophen« und die Veränderung des intellektuellen Klimas in den späten 1970er Jahren . . . 305 3.8 Der Nihilismus und die Notwendigkeit des Widerstands . . 314

Schluss 321

Abkürzungen 332

Quellen und Literatur ...... 333 Archivquellen ...... 333 Archive für Zeitungen und Zeitschriften ...... 334 Gedruckte Quellen und Literatur ...... 334 Filme ...... 371

Register ...... 372 Personenregister 372 Sach- und Ortsregister ...... 376

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Vorwort

Die vorliegende Studie ist die überarbeitete und gekürzte Fassung meiner Dissertationsschrift, die im Oktober 2012 an der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaft der Universität Leipzig eingereicht und im Juni 2013 verteidigt wurde. Mein herzlicher Dank gilt Dan Diner, dem ehemaligen Direktor des Simon-­Dubnow-Instituts für jüdische Geschichte und Kultur an der Uni- versität Leipzig, für die Betreuung der Arbeit und die jahrelange Begleitung. Gedankt sei ihm außerdem für die Aufnahme des Titels in die Schriften- reihe. Ebenso zu herzlichem Dank verpflichtet bin ich der Zweitbetreuerin, Susanne Zepp, für ihre kritisch-konstruktiven Anregungen zu meiner For- schung. Mit unzähligen Lektüren und Korrekturen hat sie die Studie stark befördert. Manfred Rudersdorf, dem Dekan der Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften, danke ich gleichfalls sehr für den Vorsitz in der Promotionskommission. Bei Fragen und Problemen war er stets ein auskunftsbereiter Ansprechpartner. Auch gebührt Alfons Kenkmann mein Dank für seine Mitwirkung am Promotionsverfahren. Besonderer Dank gilt der Hans-Böckler-Stiftung, die mein Dissertations­ vorhaben mit einem Stipendium ermöglicht und darüber hinaus einen Druckkostenzuschuss gewährt hat. Die vielen Gespräche mit Peter Brandt, meinem Vertrauensdozenten bei der Stiftung, und seine Unterstützung auf verschiedenen Ebenen haben meine Forschung wesentlich vorangebracht. Zahlreiche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Stipendiatinnen und Sti- pendiaten der Stiftung haben – auch angesichts aller Unwägbarkeiten – die Doktorarbeit befördert. Stellvertretend seien hier die damaligen Referatsleiter in der Promotionsförderung, Susanne Schedel und Werner Fiedler, genannt. Die vorliegende Studie ist grundlegend von den Diskussionen am Simon- Dubnow-Institut beeinflusst. Ausdrücklich hervorheben möchte ich hierbei die intellektuellen wie praktischen Ratschläge, die mir Nicolas Berg seit un- serer Begegnung an der Universität Freiburg über Jahre hinweg gab. Seine bohrenden Nachfragen zwangen mich zu ständiger Reflexion über den Ge- genstand. Für diese außergewöhnliche Kollegialität und Freundschaft bin ich ihm zu großem Dank verpflichtet. Darüber hinaus danke ich allen an der Entstehung des Buches beteiligten Kolleginnen und Kollegen am Simon- Dubnow-Institut, die sich gedanklich mit meinem Thema befasst, mich zum Nachdenken angeregt oder Teile meines Manuskripts gelesen haben. Sie haben als kritische Zeitgenossen in unterschiedlicher Weise zum erfolgreichen Ab-

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Vorwort 8 schluss beigetragen. Nennen möchte ich besonders Jan Eike Dunkhase, Lutz Fiedler, Hans-Joachim Hahn, David Jünger, Klaus Kempter, Carolin Kosuch, Peter Krause, Dirk Sadowski und Philipp von Wussow. Ferner sei den Mit- arbeiterinnen in der Verwaltung des Simon-Dubnow-Instituts, insbesondere Marion Hammer und Nicole Petermann, für die freundliche Hilfsbereit- schaft gedankt, die viele organisatorische Schritte erleichtert hat. Mein Dank gilt auch Grit Scheffer, der Bibliothekarin des Instituts, für ihre Unterstützung. Im Lauf meiner Forschung habe ich die Zwischenergebnisse mehrfach auf Tagungen und in Kolloquien präsentiert. Solche Perspektiven außerhalb des eigenen akademischen Rahmens erwiesen sich als äußerst produktiv. Für kritische wie anregende Diskussionen in ihrem jeweiligen Kolloquium gebührt mein Dank unter anderem Ulrich Herbert (Freiburg i. Br.), Patrick Wagner (Halle/Saale) und Thomas Welskopp (Bielefeld). Auch ohne die wert- vollen Hinweise vieler Mitarbeiter in Archiven und Bibliotheken hätte die ­Arbeit so nicht geschrieben werden können. Gedankt sei besonders Alexan- der Priebe (Oberhambach), Andreas Peham (Wien), Nigel Colley (Newark/ Nottinghamshire), Peter Honigmann und Alon Tauber (beide Heidelberg) sowie Martin Villinger (Ludwigsburg). Mein großer Dank gebührt außerdem Claudia Koch und Henriette Fock für die Korrektur der Manuskriptfassung vor Einreichung der Dissertation. Petra Klara Gamke-Breitschopf, wissenschaftliche Redakteurin des Simon- Dubnow-Instituts, hat den gesamten Lektorats- und Herstellungsprozess bis zur Drucklegung der Arbeit engagiert und geduldig begleitet. Hierfür danke ich ihr sehr. Ebenso danke ich Lina Bosbach für das sorgfältige Lektorat des Buchmanuskripts sowie meinem Münchner Kollegen Mario Boccia für die letzte Durchsicht der Fahnen. Zudem gilt mein Dank den beteiligten Ver- lagsmitarbeitern von Vandenhoeck & Ruprecht. Nicht zuletzt verdanke ich es der kollegialen und produktiven Atmosphäre am Institut für Zeit- geschichte in München sowie ganz besonders seinem Direktor, Andreas Wirsching, dass ich neben meinem neuen Forschungsprojekt noch Zeit für die Überarbeitung der Dissertation finden konnte. Ohne den Zuspruch und die Motivation vieler Freundinnen und Freunde, die immer ein offenes Ohr hatten, wäre das Buch so nicht entstanden. Ein aus- drücklicher Dank geht deshalb – stellvertretend für viele – an Martin Eichler, Tim Flieger, Hannes Gießler und Christoph Meister. Meine Eltern, Johannes und Ingrid Voigt, haben mich vom Beginn meines Studiums bis zum Ab- schluss der Promotion in vielfältiger Weise unterstützt und meine Tätigkeit mit großem Interesse begleitet. Ihnen gilt mein Dank von ganzem Herzen. Meiner Frau, Vivienne Marquart, die mir in allen Höhen und Tiefen wäh- rend der letzten Jahre unterstützend zur Seite stand, ist dieses Buch gewidmet.

Sebastian Voigt München/Leipzig, im Frühjahr 2015

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Einleitung

Paris, Mittwoch, den 22. Mai 1968. Gegen 19 Uhr am frühen Abend fan- den sich mehrere Tausend Menschen zu einer Demonstration an der Place Saint-Michel ein, nicht weit von der Universität Sorbonne entfernt. Dazu aufgerufen hatten die nationale Studentenvereinigung Union nationale des étudiants de France (UNEF), die Gewerkschaft für den höheren Bildungs- bereich Syndicat national de l’enseignement supérieur (SNEsup) und ein Ak- tionskomitee von Gymnasiasten. Der von roten und schwarzen Fahnen be- gleitete Zug bewegte sich in Richtung Observatorium und schließlich über die Boulevards Raspail und Saint-Germain zurück ins Quartier Latin.1 Währenddessen erfuhren die Demonstranten, dass das Parlament einen von der Opposition gestellten Misstrauensantrag gegen die Regierung knapp zu- rückgewiesen hatte. Daraufhin beschlossen die mehrheitlich studentischen Teilnehmer, zur Nationalversammlung im Palais Bourbon zu ziehen. Um eine gewalttätige Konfrontation mit den anwesenden Polizisten zu verhin- dern, unterließen sie den Versuch, in das Gebäude einzudringen. Die De- monstration setzte sich über die Rue Solférino fort, wo der Sitz des gaul- listischen Comité de défense de la République verwüstet wurde, und löste sich schließlich am Panthéon auf. Allerdings lieferten sich die mittlerweile gut 7 000 Demonstranten bis in die frühen Morgenstunden hinein Ausein­ andersetzungen mit der Polizei.2 Sie errichteten Barrikaden, setzten Müll- tonnen in Brand und warfen Pflastersteine auf die Ordnungskräfte, die ih- rerseits mit Gasgranaten antworteten.3 Anlass der Proteste war die Unterstützung für Daniel Cohn-Bendit, einen der Wortführer der 68er-Bewegung. Der französische Innenminister hatte ihm am 21. Mai 1968 die Wiedereinreise nach Frankreich untersagt, als er sich gerade in Amsterdam aufhielt.4 Der damals 23-jährige Student galt als unerwünschte Person und Störfaktor der öffentlichen Ordnung. Die fak-

1 Zur Demonstration vgl. Manifestation d’étudiants et d’enseignants devant le Palais- Bourbon et au quartier Latin, in: , 24. Mai 1968, 5. 2 Originalaufnahmen finden sich hier: (5. November 2014). 3 Zu den Ausschreitungen vgl. Jean-Jacques Lebel/Jean-Louis Brau/Philippe Merlhès (Hgg.), La Chienlit. Dokumente zur französischen Mai-Revolte, Darmstadt 1969, 34. 4 Vgl. Le leader du mouvement du 22 mars ne rencontre guère de succès à Amsterdam, in: Le Monde, 24. Mai 1969, 5.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 10 Einleitung tische Ausweisung war so umstandslos möglich, weil Cohn-Bendit nicht die französische Staatsbürgerschaft besaß. Er war 1945 im südfranzösischen Montauban staatenlos geboren worden, als Sohn deutscher Juden, die 1933 nach Frankreich geflohen waren und denen die deutsche Staatsangehörig- keit vom NS-Regime aberkannt worden war. Neben Sprechchören gegen Staatspräsident de Gaulle war auf der Demons­ tration wiederholt eine bemerkenswerte Parole zu hören. Tausende riefen aus Solidarität mit dem Ausgewiesenen: »Wir sind alle deutsche Juden« (»Nous sommes tous des juifs allemands«). Ferner tauchten Plakate mit dem Spruch auf: »Wir sind alle unerwünscht« (»Nous sommes tous indésirables«). Diese Rufe spielten vor allem auf die Geschehnisse der letzten Tage und Wochen in Paris an. Daniel Cohn-Bendit war sowohl von parteikommunistischer als auch von gaullistischer Seite als »unfranzösisch« diffamiert worden. Die bei- den dominanten politischen Strömungen im Nachkriegsfrankreich hatten in seltener Eintracht die Studentenbewegung als von »einem subversiven Aus- länder gesteuert« dargestellt. Zugleich evozierten die Parolen – ob bewusst oder unbewusst – sehr spezielle und partikulare Erfahrungen der Zwischen- kriegszeit, in der zahlreiche vom NS-Regime vertriebene deutsche Juden nach Frankreich emigriert waren. Die meisten von ihnen gingen nach Paris, das sich in den 1930er Jahren zu einem wichtigen Fluchtpunkt entwickelte. In Teilen der französischen Gesellschaft galten die Exilanten seinerzeit als »unerwünschte Personen«, als indésirables. Die studentischen Demonstran- ten führten diese historische Erfahrung also diskursiv mit den Geschehnis- sen im Mai 1968 zusammen. Indem sie sich zu »deutschen Juden« erklärten, positionierten sie sich selbst außerhalb des »französischen Frankreich« und unterstellten zugleich eine ungebrochene Kontinuität staatlicher Repression. Die in den Parolen der Solidarität mit Daniel Cohn-Bendit enthaltenen Zeitschichten erklären auch die völlig unterschiedlichen, teils gegensätz- lichen Reaktionen anderer Akteure der französischen 68er-Bewegung. Im Selbstverständnis Cohn-Bendits hatte die familiäre Herkunft bislang keine Rolle gespielt. Diese Auffassung änderte sich jedoch mit der Demonstra- tion am 22. Mai 1968, wie er einige Jahre später in seiner Autobiografie Der grosse Basar anmerkte: »Die Tatsache, dass meine Eltern Deutschland ver- lassen mussten, habe ich verdrängt. Als ich aber aus Frankreich ausgewiesen wurde, lautete die spontane Parole […]: ›Wir sind alle deutsche Juden‹. Die Wirkung dieser Parole macht deutlich, dass mich in Frankreich sehr viele Menschen in dieser Weise wahrgenommen haben.«5 Der 1944 in Lyon geborene Pierre Goldman fand den Ausspruch der Stu- denten schlicht ärgerlich und anmaßend. Seine beiden in den 1920er Jahren aus Polen nach Frankreich emigrierten Eltern waren im Widerstand der

5 Daniel Cohn-Bendit, Der grosse Basar, München 1975, 17.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Einleitung 11

Main-d’œuvre immigré (MOI) aktiv gewesen, einer Untergruppe der Kom- munistischen Partei Frankreichs (KPF). Goldmans Absicht, den Kampf in der Nachkriegszeit fortzusetzen, führte ihn zu einer lateinamerikanischen Guerilla. Er verlor sich im kriminellen Milieu, machte sich strafbar und wurde später sogar des Mordes angeklagt. Ein Aufsehen erregender Prozess Mitte der 1970er Jahre in Paris, in dem er zu lebenslanger Haft verurteilt wurde, galt vielen französischen Intellektuellen als Neuauflage der Dreyfus- Affäre. Im Gefängnis verfasste Goldman seine autobiografisch konturierte Schrift Dunkle Erinnerungen eines in Frankreich geborenen polnischen Juden. Die Veröffentlichung im Jahr 1975 trug zu einem Revisionsprozess bei, in dem er schließlich vom Mordvorwurf freigesprochen wurde. Im Buch legte er auch seine Sicht auf den Pariser Mai ’68 dar. Goldman waren die Studenten nicht radikal genug. Ihren pseudorevolu- tionären Gestus fand er kindisch, geradezu lächerlich. Die Bewegung fanta- siere sich, so Goldman, eine gesellschaftliche Umbruchsituation herbei, um ihre Sehnsucht nach geschichtsmächtigen Aktionen zu befriedigen. In ähn- licher Weise urteilte er über die Solidarisierung mit Cohn-Bendit: »Ich gebe ebenfalls zu, dass der Ruf, der Solidarität der Mai-Bewegung mit ­Daniel Cohn-Bendit ausdrückte – ›Wir sind alle deutsche Juden‹ –, der mich hätte anrühren können (oder müssen), mich überhaupt nicht berührte. Ich dachte im Gegenteil verärgert: Die Arschlöcher, das wollen sie nun auch noch sein.«6 Goldman bewertete die Parole der mehrheitlich nichtjüdischen De- monstranten als eine Aneignung spezifischer Erinnerungen, die ihnen nicht zustand. Damit enteigneten sie in seiner Perspektive zugleich die Geschichts- erfahrung der Opfer und ihrer Nachfahren. Eine davon abweichende Haltung zur Demonstration am 22. Mai 1968 nahm der 1937 bei Paris geborene André Glucksmann ein, dessen Eltern aus Czernowitz beziehungsweise aus Prag stammten, beide Teil des ehema- ligen Habsburgerreiches. Auf dem Höhepunkt des Pariser Mai gehörte er einer maoistischen Gruppierung an, nachdem er als Jugendlicher zunächst der KPF beigetreten war. Seit Mitte der 1970er Jahre vertrat Glucksmann aber zunehmend antitotalitäre Positionen. Einerseits interpretierte er rück- blickend die Bekundung der Solidarität mit Cohn-Bendit positiv als Ur- sprung eines sich im Nachkriegsfrankreich erstmals artikulierenden neuen jüdischen Selbstbewusstseins.7 Andererseits bezeichnete er die Demonstra-

6 Pierre Goldman, Dunkle Erinnerungen eines in Frankreich geborenen polnischen Juden, Frankfurt a. M. 1980, 99 (frz.: Souvenirs obscurs d’un juif polonais né en France, Paris 1975). 7 André Glucksmann, Le sale juif, in: Libération, 27. September 1979, 3. Alle Übersetzun- gen stammen, soweit nicht anders vermerkt, vom Verfasser. Aus Gründen der Lesbarkeit folgt diese Arbeit einheitlich der neuen deutschen Rechtschreibung. Flüchtigkeits- und offensichtliche Fehler in Zitaten wurden stillschweigend korrigiert, alle anderen dagegen kenntlich gemacht.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 12 Einleitung tion mit dem Abstand von mehreren Jahrzehnten als eine Art »Wiederkehr des Verdrängten«.8 Diese Interpretation bezog Glucksmann sowohl auf die überwiegend nichtjüdischen Teilnehmer als auch allgemein auf den Um- gang mit der Vichy-Vergangenheit in der Nachkriegszeit. Laut seiner Kritik waren in einem eigentümlichen, alle politischen Par- teien umfassenden Konsens grundlegende Aspekte der jüngsten Geschichte lange Zeit ausgeblendet worden. Es habe sich nach 1945 ein übergreifendes Narrativ etabliert, nach dem die ganze Nation ehemals im Widerstand ge- gen die Deutschen geeint gewesen sei. Die Kollaboration des Vichy-Regimes mit dem Nationalsozialismus und die Beteiligung französischer Polizisten an den Judendeportationen seien verdrängt, der Hitler-Stalin-Pakt und die anfängliche Kooperation der KPF mit den deutschen Besatzungsbehörden vergessen worden. In seiner Rückschau auf die Demonstration vom 22. Mai 1968 kritisierte Glucksmann auch den von den Studenten gezogenen Ver- gleich zwischen den französischen Sonderpolizeieinheiten Compagnie ré- publicaine de sécurité (CRS) und der nationalsozialistischen Schutzstaffel (SS): Diese Gleichsetzung, so Glucksmann, sei unhistorisch, obszön und rea- litätsfern, dabei aber durchaus dem Denken einer Generation angemessen, die mit Geschichtslügen aufgewachsen sei. Auf den ersten Blick haben die Positionen eines in Frankreich geborenen »deutschen Juden«, einer Ikone des Linksradikalismus in den Jahren nach 1968, der durch spektakuläre Gerichtsprozesse Berühmtheit erlangte, so- wie eines Maoisten und ehemaligen KPF-Mitglieds, der zu einem Repräsen- tanten der »Neuen Philosophen« werden sollte, wenig miteinander gemein. Bei allen Divergenzen ähneln sich Daniel Cohn-Bendit, Pierre Goldman und André Glucksmann jedoch darin, dass sie die Demonstration als ein- schneidendes Ereignis werteten. Diese Einschätzung ist nicht so nahelie- gend, wie es aus heutiger Sicht scheinen mag. Die Bekundung der Solidarität mit Cohn-Bendit Ende Mai 1968 war lediglich eine von unzähligen Ak- tionen und Demonstrationen jener Tage und Wochen und darunter weder die größte noch die spektakulärste. Doch um herauszufinden, warum drei so unterschiedliche Kommentatoren gerade im 22. Mai eine Zäsur erblick- ten, kommt der Demonstration als Ausgangspunkt für diese Studie ein be- sonderer Stellenwert zu. Im Folgenden soll der These nachgegangen werden, dass die verschiede- nen Wahrnehmungen der Parole »Wir sind alle deutsche Juden« letztlich Resultat des jeweils anderen, stets familiär bedingten erfahrungsgeschicht- lichen Hintergrunds waren. Dabei sind Ereignisse von Bedeutung, die bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts zurückreichen. Die unterschiedlichen

8 André Glucksmann/Raphaël Glucksmann, Mai 68 expliqué à Nicolas Sarkozy, Paris 2008, 33.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Einleitung 13 historischen Prägungen verlängerten sich als Erinnerungsspuren und Er- fahrungsschichten bis in die Gegenwart der 1960er und 1970er Jahre hinein und entfalteten für Goldman, Cohn-Bendit und Glucksmann große Wirk- samkeit. Der Pariser Mai ’68 legt somit eine Konstellation offen, in der sich mehrere Zeitebenen – Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegsgeschichte – in einem kurzen Moment verdichten. Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann wurden für diese Untersuchung ausgewählt, weil sie in der Hochzeit der Neuen Lin- ken Frankreichs – im Zeitraum von 1968 bis 1979 – bedeutende Protagonis- ten der Ereignisse waren.9 Zugleich dienen ihre Lebensläufe als gedächtnis- politische Folie zur Veranschaulichung kollektiver Aspekte der jüdischen Geschichte im 20. Jahrhundert.10 Es handelt sich also um ein Thema der Zeitgeschichte, das heuristisch aus der Zeit, in der es situiert ist, heraus- gehoben wird, um seine Vorgeschichte freizulegen und so ein vertieftes Ver- ständnis für einen häufig übersehenen Kontext zu ermöglichen. Der methodische Zugriff verbindet deshalb Gedächtnisgeschichte mit Biografieforschung. Dieser Zusammenschluss lässt eine strikt chronolo­ gische Darstellung nicht zu, sondern erfordert Rückblenden in die Vergan- genheit, auf Personen oder Ereignisse, um daraus Erkenntnisse für die im Zentrum dieser Studie stehende Situation der 1960er und 1970er Jahre zu gewinnen. Eine Besonderheit liegt dabei darin, dass immer wieder auf die Geschichte und Lebenswelt der Eltern zurückgegriffen werden muss, die sich in den Werdegang der nachfolgenden Generation eingeschrieben ha- ben. Diese Beziehung zwischen dem familiären Gedächtnis und der Ent- wicklung der nachfolgenden Generation ist nicht als Kausalverhältnis zu denken. Ein Nachwirken der Geschichte der Eltern in den Wegen ihrer Kin-

9 Die Tradition des gesellschaftskritischen Schriftstellers bildete sich im Zuge der Dreyfus-­ Affäre im späten 19. Jahrhundert heraus. Zur Entstehung der Intellektuellen vgl. Michel Winock, Das Jahrhundert der Intellektuellen, Konstanz 2003; Joseph Jurt, Die Tradi- tion der engagierten Intellektuellen in Frankreich. Von der Dreyfus-Affäre bis heute, in: ders. (Hg.), Intellektuelle – Elite. Führungskräfte und Bildungswesen in Frankreich und Deutschland, Freiburg i. Br. 2004, 33–58. Zur unterschiedlichen Auffassung des Intellek- tuellen in Frankreich und Deutschland vgl. Joseph Jurt, Frankreichs engagierte Intellek- tuelle. Von Zola bis Bourdieu, Göttingen 2012, 11–18. Zur Wirkmächtigkeit bedeuten- der Intellektueller in beiden Ländern vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, Eingreifendes Denken. Die Wirkungschancen von Intellektuellen, Weilerswist 2007. Außerdem Jan Christoph ­Suntrup, Formenwandel der französischen Intellektuellen. Eine Analyse ihrer gesell- schaftlichen Debatten von der Libération bis zur Gegenwart, Berlin 2010. 10 Über den Einfluss allgemeiner Faktoren im Individuellen vgl. Peter Alheit, Biografie und Mentalität. Spuren des Kollektiven im Individuellen, in: Bettina Völter u. a. (Hgg.), Bio- grafieforschung im Diskurs, Wiesbaden 2005, 21–45. Zur Generalisierbarkeit von Einzel- biografien vgl. Gabriele Rosenthal, Die Biografie im Kontext der Familien- und Gesell- schaftsgeschichte, in: Völter u. a. (Hgg.), Biografieforschung, 46–64.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 14 Einleitung der ist jedoch vielfach dargestellt worden.11 Die untersuchten Personen sol- len folglich in den gesellschaftlichen und gedächtnisgeschichtlichen Hori­ zont eingebettet werden, der in diesem Fall nicht nur die französische, sondern die europäische Geschichte insgesamt umfasst. Eine Annäherung an den Zusammenhang von Herkunft und Erkenntnis lässt keine vom konkreten Gegenstand losgelöste Methode zu. Das Vorgehen ergibt sich in erster Linie aus den verwendeten Quellen, die hier aus Archiv- material, Texten der Protagonisten sowie autobiografischen und biografi­ schen Zeugnissen bestehen.12 Zur Illustration des zeitgenös­sischen Umfelds wird vor allem auf die französische Presseberichterstattung zurückgegriffen. Die Beschreibung der Entwicklung von Pierre Goldman, Daniel Cohn- Bendit und André Glucksmann vor dem Horizont ihrer jüdischen Erfah- rung verweist auf das Judentum nicht im Sinne einer religiösen oder kultu­ rellen Dimension, sondern im Hinblick auf erlebte Geschichte und ihr Nachgedächtnis.13 So werden entlang der drei Lebenswege die Verwerfun-

11 Vgl. Selma Fraiberg/Edna Adelson/Vivian Shapiro, Ghosts in the Nursery. A Psycho­ analytical Approach to the Problems of Impaired Infant-Mother Relationships, in: Jour- nal of the American Academy of Child Psychiatry 14 (1975), 387–421. Zu den positiven Einflüssen auf die frühkindliche Entwicklung vgl. Alica Liberman u. a., Angels in the Nursery. The Intergenerational Transmission of Benevolent Parental Influences, in: In- fant Mental Health Journal 26 (2005), H. 6, 504–520. Über die Umgangsweisen von Kin- dern mit Traumata vgl. auch Boris Cyrulnik, Autobiographie d’un épouvantail, Paris 2008. Auf der Grundlage von Interviews analysierte Nadine Fresco die Auswirkungen der Erfahrungen des Holocaust, der Deportationen und des Krieges auf die Entwicklung von unmittelbar nach 1945 geborenen jüdischen Kindern. Dies., La diaspora des cendres, in: Nouvelle revue de psychanalyse 24 (1981), 205–220. 12 Die Debatte über Biografik im Allgemeinen und die Nutzung von Autobiografien als Quelle im Besonderen wird seit Langem kontrovers geführt. Hier soll ein Hinweis auf die Forschungsdiskussion genügen: Carsten Heinze/Arthur Schlegelmilch (Hgg.), Schwer- punkt »Autobiografie und Zeitgeschichte«, in: Bios. Zeitschrift für Biografieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 23 (2010), H. 2. Es wurde bewusst darauf ver- zichtet, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann zu interviewen. Beide haben sich ausgiebig über ihre jeweilige persönliche und politische Entwicklung geäußert. Der hier interessierende Zusammenhang von Herkunft und Erkenntnis entzieht sich in den meis- ten Fällen der Reflexion der Betroffenen, er schlägt sich gewissermaßen »hinter dem ­Rücken« nieder. 13 Vgl. auch Jean Améry, Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein (1966), in: Jean Améry Werke, Bd. 2, hg. von Gerhard Scheit, Stuttgart 2002, 149–177. Zur Kategorie des »Nachgedächtnisses« vgl. Marianne Hirsch, The Generation of Postmemory, in: ­Poetics Today 29 (2008), H. 1, 103–128. Zur nachträglichen Aneignung einer Erfahrung vgl. ­Pascale Bos, Adopted Memory. The Holocaust, Postmemory, and Jewish Identity in Ame- rica, in: Tharmyris. Intersecting Place, Sex and Race 13 (2006), 97–108. Als Überblick über die Debatte um den Generationenbegriff vgl. Sigrid Weigel, »Generation« as a Sym- bolic Form. On the Genealogical Discourse of Memory since 1945, in: The Germanic Re- view. Literature, Culture, Theory 77 (2001), H. 4, 264–277. Zur Diskussion um den Gene- rationenbegriff vgl. Andreas Kraft/Mark Weißhaupt, Erfahrung – Erzählung – Identität

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Einleitung 15 gen des 20. Jahrhunderts und ihre Nachwirkungen bis in die 1960er und 1970er Jahre hinein sichtbar.14 Als erkenntnistheoretischer Zugang bietet sich dabei die Geschichte der Linken – in Gestalt der Arbeiterbewegung wie der Neuen Linken – an.15 Die Hoffnung auf eine Gesellschaft frei von Herr- schaft und Diskriminierung, in der alle Individuen gleichberechtigt wären, bewegte progressive junge Intellektuelle – darunter viele Juden – dazu, sich sozialrevolutionären Bewegungen anzuschließen.16 Jüdische Linke adres- sierten dabei oftmals die Spannung zwischen universalistischem Anspruch und partikularer Zugehörigkeit, so besonders auch Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucksmann. Die französische Geschichte eignet sich vor diesem Horizont in beson- derer Weise als Untersuchungsgegenstand. Die Linke stellt sich bis heute in die Tradition der Französischen Revolution. Juden erhielten im Zuge von 1789 erstmals die rechtliche Gleichstellung, die allerdings mit der strikten Forderung nach Assimilation verbunden war. Jeder konnte sich den Werten Frankreichs anschließen, jedoch nur unter Aufgabe der Embleme partiku- larer Herkunft. Bis heute bildet der Laizismus die zunehmend umstrittene Grundlage der Französischen Republik. Überdies trafen in Frankreich nach 1945 die kontinentaleuropäische und die koloniale Geschichte aufeinander. In den ersten Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg kollidierten die »gegenläufigen Gedächtnisse« und über- lagerten jeden politischen Diskurs, was sich in besonderem Maße wäh- rend des Algerienkriegs zeigte.17 Diese Entwicklung trug wesentlich zur Marginalisierung jüdischer Erfahrung im Nachkriegsfrankreich bei. Die

und die »Grenzen des Verstehens«. Überlegungen zum Generationenbegriff, in: dies. (Hgg.), Generationen. Erfahrung – Erzählung – Identität, Konstanz 2009, 17–47. Zur intergenerationellen Erfahrungsweitergabe, aber auch zur Differenz zwischen einer jü- dischen und einer nichtjüdischen Sicht vgl. Bettina Völter, Judentum und Kommunis- mus. Deutsche Familiengeschichten in drei Generationen, Opladen 2003. 14 Zur erkenntnistheoretischen Bedeutung der jüdischen Perspektive vgl. Dan Diner, Ein- führung, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von dems., Bd. 1, Stuttgart/Weimar 2011, VII–XVIII; ders., Gedächtniszeiten. Über jüdische und andere Geschichten, München 2003, 7–15; ders., Ubiquitär in Raum und Zeit. Annotationen zum jüdischen Geschichts- bewusstsein, in: ders. (Hg.), Synchrone Welten. Zeitenräume jüdischer Geschichte, Göt- tingen 2005, 13–36; Raphael Gross/Yfaat Weiss (Hgg.), Jüdische Geschichte als All- gemeine Geschichte. Festschrift für Dan Diner zum 60. Geburtstag, Göttingen 2006. 15 Vgl. Jan Gerber, Verborgene Präsenzen. Gedächtnisgeschichte des Holocaust in der deutschsprachigen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, Düsseldorf 2009, 15–20. 16 Vgl. Dan Diner, »Man hat mit der Sache eigentlich nichts mehr zu tun«, in: Richard Chaim Schneider (Hg.), Wir sind da! Die Geschichte der Juden in Deutschland von 1945 bis heute, Berlin 2000, 233–252. 17 Vgl. Dan Diner, Gedächtnis hier, Gedächtnis dort, (23. August 2014).

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Verdrängungskultur, die nach 1945 das gesamte westliche Europa prägte, wurde im Mai ’68 aufgebrochen, nicht selten von jüdischen Linken, die das Schweigen – oftmals auch jenes ihrer Eltern – nicht mehr mitzutra- gen bereit waren. Die französische Konstellation bringt Dan Diner folgen- dermaßen auf den Punkt: »Wie kein anderes Land folgte offenbar Frank- reich dem inneren Rhythmus jener Latenzkonstellation, die für den Westen als Ganzes steht. Der Mai ’68 ist die Ereignisikone für das explosionsartig eintretende Ende von Latenz.«18 Deshalb bildet der Pariser Mai ’68 mit seinen Nachwirkungen, aber auch mit seiner Vorgeschichte das Zentrum dieser Studie.

Forschungsstand

Die Forschungsliteratur zum Mai 1968 ist kaum zu überblicken.19 Zuneh- mend wird eine globale Perspektive auf die Ereignisse eingenommen, wäh- rend einzelne Studien sich auf die Nachwirkungen der Revolte fokussieren.20

18 Ders., Vom Stau der Zeit. Neutralisierung und Latenz zwischen Nachkrieg und Achtund- sechzig, in: Hans Ulrich Gumbrecht/Florian Klinger (Hgg.), Latenz. Blinde Passagiere in den Geisteswissenschaften, Göttingen/Oakville, Conn., 2011, 165–172, hier 170. 19 Angeführt seien Norbert Frei, 1968. Jugendrevolte und globaler Protest, München 2008; Ingrid Gilcher-Holtey, 1968. Eine Zeitreise, Frankfurt a. M. 2008; Dominique Damamme u. a., Mai‒Juin 68, Paris 2008. Eine der besten deutschsprachigen Darstellungen ist Ing- rid Gilcher-Holtey, »Die Phantasie an der Macht«. Mai 68 in Frankreich, Frankfurt a. M. 2005. Auch in Frankreich wurde die Debatte über zum 40. Jahrestag besonders heftig ge- führt, nachdem der damalige Präsident Nicolas Sarkozy die 68er-Generation scharf kriti- siert hatte. Vgl. Matthieu Grimpret/Chantal Delsol (Hgg.), Liquider Mai 68?, Paris 2008. Außerdem erschien ein Bildband, zu dem Daniel Cohn-Bendit das Vorwort beisteuerte, vgl. Catherine Laulhère-Vigneau, Mai 68, Paris 2008. 20 Zur globalen Perspektive Philipp Gassert/Martin Klimke, 1968. Memories and ­Legacies of a Global Revolt. Bulletin of the German Historical Institute, Washington D. C., Supple­ment 6, Washington, D. C., 2009; Jeremi Suri, Power and Protest. Global Revolu- tion and the Rise of Detente, Cambridge, Mass./London 2005. Zum geschichtswissen- schaftlichen Diskurs vgl. Ingrid Gilcher-Holtey (Hg.), 1968. Vom Ereignis zum Gegen- stand der Geschichtswissenschaft, Göttingen 1998. Julian Bourg argumentiert, dass die Mai-Revolte in Frankreich ungewollt zu einer Neubelebung der Diskussion über Ethik und zur Entstehung eines zivilgesellschaftlichen Engagements geführt habe. Vgl. Ju- lian Bourg, From Revolution to Ethics. May 1968 and Contemporary French Thought, Montreal/London/Ithaca, N. Y., 2007. Ähnlich Richard Wolin, The Wind from the East. French Intellectuals, the Cultural Revolution, and the Legacy of the 1960s, Princeton, N. J./­Oxford 2010. Kristin Ross kritisiert, dass heute 1968 als sanfte Jugendrevolte er- scheint, dafür aber die sozialen Kämpfe, die Streiks der Arbeiter und der Einfluss der Kriegsführung in Algerien durch Frankreich und in Vietnam durch die Vereinigten Staa- ten von Amerika ausgeklammert würden. Vgl. dies., May 68 and its Afterlives, Chicago, Ill./London 2002.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Einleitung 17

Einige Untersuchungen der letzten Jahre, vor allem zur deutschen Studen- tenbewegung, rücken den Einfluss der NS-Vergangenheit auf die Politisie- rung der Nachkriegsgeneration in den Mittelpunkt, aus der sich die 68er- Bewegung rekrutierte.21 Die Bücher von Hervé Hamon und Patrick Rotman sind weiterhin die Standardwerke zur Geschichte der 68er-Generation in Frankreich.22 Yaïr Auron war lange Zeit der Einzige, der sich ausdrücklich mit der jüdischen Herkunft vieler Aktivisten befasst hat.23 Jedoch ließ auch er es damit bewenden, die unterschiedlichen Lebenswege kurz vorzustellen, ohne dabei den erfahrungsgeschichtlichen Gehalt der familiären Vergan- genheit vor dem Holocaust in die Betrachtung einzubeziehen. Weder wer- den die Lebenswege der Eltern noch die ideengeschichtlichen Einflüsse auf die Entscheidungen wichtiger Akteure der Nachkriegsgeneration gesondert untersucht. Die vorliegende Studie versteht sich deshalb als Erweiterung und Vertiefung des Anliegens von Auron. Jüngst erschien die umfangreiche Untersuchung von Ariel Danan über das ambivalente Verhältnis der fran- zösischen Juden zu Israel von der Staatsgründung 1948 bis zum Libanon- krieg 1982. Der Autor fokussiert aber weder auf linke französische Juden im Allgemeinen noch auf die drei Protagonisten dieser Studie im Besonde- ren. Insofern beleuchtet Danan einen Aspekt ausführlich, der hier nur eine Nebenrolle­ spielt.24 Goldman, Cohn-Bendit und Glucksmann entstammten kommunistisch oder sozialistisch geprägten Elternhäusern. So eröffnet die Beschäftigung mit ihren jeweiligen familiären Zusammenhängen auch einen Einblick in die Lebensgeschichten jüdischer Kommunisten. Nun hat die jüdische Prä- senz in sozialrevolutionären Bewegungen immer wieder aufs Neue dazu ge- führt, dass mit antisemitischem Elan Belege für einen kollektiven »jüdischen Bolschewismus« gesucht wurden.25 Tatsächlich strebten auch Juden danach, gesellschaftliche Verhältnisse zu revolutionieren, in denen sie diskriminiert

21 Die Nachwirkungen des Holocaust auf die 68er-Generation in Deutschland untersucht Hans Kundnani, Utopia or Auschwitz. Germany’s 1968 Generation and the Holocaust, New York 2009; Götz Aly, Unser Kampf: 1968. Ein irritierter Blick zurück, Frank- furt a. M. 2008. 22 Hervé Hamon/Patrick Rotman, Génération, 2 Bde., Bd. 1: Les années de rêve, Paris 1987, Bd. 2: Les années de poudre, Paris 1988. 23 Yaïr Auron, Les Juifs d’extrême gauche en Mai 68. Une génération marquée par la Shoah, Paris 1998. 24 Ariel Danan. Les Juifs de France et l’État d’Israël (1948–1982), Paris 2014. 25 Bereits Mitte der 1920er Jahre erschien Dietrich Eckart, Der Bolschewismus von Moses bis Lenin. Zwiegespräch zwischen Adolf Hitler und mir, München 1925. Im National­ sozialismus erreichte dieses Ressentiment den Höhepunkt seiner Wirkmächtigkeit. Al- lerdings taucht es bis heute immer wieder auf. Vgl. Johannes Rogalla von Bieberstein, ­Jüdischer Bolschewismus. Mythos und Realität, Dresden 2002.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 18 Einleitung wurden.26 Der Kommunismus als universalistische Befreiungstheorie ver- sprach eine Auflösung von verallgemeinernden Zuschreibungen.27 Yuri Slezkine hat die Hinwendung von Juden zur kommunistischen Bewegung als Konsequenz der Zerstörung einer religiös überformten Lebenswelt ge- deutet.28 Wie vor ihm schon andere Autoren wies er darauf hin, dass weder die meisten Kommunisten jüdisch noch die Mehrheit der Juden kommunis- tisch gewesen seien, vielmehr seien Juden innerhalb der kommunistischen Be­wegung als Minderheit in großem Maße sichtbar geworden. Slezkine zeigt auf, dass neben dem Zionismus, der seinen Ort in Israel hat, und dem Libe­ ralismus, für den symbolisch die Vereinigten Staaten von Amerika stehen, auch der Kommunismus – mit seinem Zentrum in Moskau – eine der jü- dischen Antworten auf die Herausforderungen der Moderne war. In Bezug auf die Verhältnisse im Nachkriegsfrankreich gilt analog, dass weder die Mehrheit der 68er-Bewegung Juden noch eine Mehrheit der Juden in der 68er-Bewegung aktiv waren. Diejenigen, die es waren, gehörten aber nicht selten zu den Schlüsselfiguren. Für das Engagement von Juden in der Linken werden verschiedene Er­ klärungen angeboten. Manche Autoren vermuten einen Zusammenhang zwischen Messianismus und utopischem Denken sowie zwischen einem re- ligiös fundierten Gerechtigkeitsideal und dem Streben nach einer gerechten Einrichtung der sozialen Verhältnisse.29 Soziologische Ansätze gehen stär- ker von den Bedingungen einer marginalisierten Minderheit aus, deren An-

26 Immer noch lesenswert: Robert Wistrich, Revolutionary Jews. From Marx to Trotsky, London 1976; ders., Socialism and the Jews. The Dilemmas of Assimilation in Germany and Austria-Hungary, London/Toronto 1982. Zum Umgang mit der »Judenfrage« in der Arbeiterbewegung vgl. Edmund Silberner, Sozialisten zur Judenfrage. Ein Beitrag zur Geschichte des Sozialismus vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis 1914, Berlin 1962; ders., Kommunisten zur Judenfrage. Zur Geschichte von Theorie und Praxis des Kommunis- mus, Opladen 1983. Außerdem Mario Keßler, Zionismus und internationale Arbeiter­ bewegung 1987–1933, Berlin 1994; Jack Jacobs, Sozialisten und die »jüdische Frage« nach Marx, Mainz 1994; Enzo Traverso, Die Marxisten und die jüdische Frage. Geschichte einer Debatte (1843–1943), Mainz 1995. 27 Vgl. Dan Diner/Jonathan Frankel, Introduction. Jews and Communism: The Utopian Temptation, in: dies. (Hgg.), Dark Times, Dire Decisions. Jews and Communism, Oxford 2004, 3–12. 28 Yuri Slezkine, Das jüdische Jahrhundert, Göttingen 2004. 29 Den Zusammenhang zwischen messianischem und revolutionärem Denken am Beispiel der Revolution von 1848 diskutierte schon Jacob Toury in seinem klassischen Werk Die politischen Orientierungen der Juden in Deutschland. Von Jena bis Weimar, Tübingen 1966, bes. 68–85. Einen Überblick über dieses Verhältnis bei verschiedenen jüdischen Denkern im 20. Jahrhundert lieferte Michael Löwy, Erlösung und Utopie. Jüdischer Messia­nismus und libertäres Denken. Eine Wahlverwandtschaft, Berlin 1987. Auf die enge Verbindung von messianischer Hoffnung und revolutionärem Eifer kam auch Elke Dubbels in ihrer diskursanalytischen Studie wiederholt zu sprechen: dies., Figuren des Messianischen in Schriften deutsch-jüdischer Intellektueller 1900–1933, Berlin 2012.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Einleitung 19 gehörige sich häufiger solchen politischen Strömungen anschlössen, die für die Gleichberechtigung aller Individuen eintreten. Andere Forschungsarbei- ten legen eine Weitergabe politisch radikaler Haltungen von den Eltern auf die Kinder nahe und führen als vorrangiges Motiv für die Hinwendung zum Kommunismus die radikale Verleugnung der eigenen Herkunft an.30 Keine dieser Erklärungen ist für sich genommen ausreichend. Statt eine weitere, Allgemeingültigkeit beanspruchende Antwort zu versuchen, möchte die vorliegende Arbeit mittels gedächtnisgeschichtlicher Grundierung neue Akzente in Bezug auf die Lebenswege von Pierre Goldman, Daniel Cohn- Bendit und André Glucksmann setzen. Zuweilen kommt es in der Forschung hinsichtlich ihrer Herkunft zu Irr- tümern. So heißt es beispielsweise über André Glucksmann, dass er einer jüdischen Familie entstamme, »die aus Polen nach Frankreich kam«.31 In einem Aufsatz wird sein biografischer Hintergrund wie folgt beschrieben: »Glucksmanns Mutter stammte ursprünglich aus Tschechien, sein Vater aus dem Herzogtum Bukowina.«32 In einem Zeitungsinterview wird er folgen- dermaßen vorgestellt: »André Glucksmann kam 1937 als Sohn deutsch-jü- discher Eltern in Boulogne-Billancourt zur Welt.«33 In einer Besprechung seiner Autobiografie heißt es: »André Glucksmann, am 19. Juni 1937 in Bou- logne-Billancourt geboren, ist das dritte Kind österreichischer Juden, die vor den Nazis nach Frankreich flohen und in der Résistance kämpften.«34 Yaïr Auron schreibt, Glucksmanns Eltern seien tschechischer und rumänischer Herkunft gewesen.35

30 Zu unterschiedlichen Ansätzen vgl. Percy Cohen, Jewish Radicals and Radical Jews, Lon- don u. a. 1980, 173–221. Außerdem Phillip Mendes, »We are all German Jews.« Exploring the Prominence of Jews in the New Left, in: Melilah. Manchester Journal of Jewish Studies 3 (2009), 1–17. 31 Ulrike Ackermann, Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute, Stuttgart 2000, 159. 32 Yves Bizeul, André Glucksmanns Weg zum Leitintellektuellen. Aufstieg und Fall, in: ­Harald Bluhm/Walter Reese-Schäfer (Hgg.), Die Intellektuellen und der Weltlauf. Schöp- fer und Missionare politischer Ideen in den USA, Asien und Europa nach 1945, Baden-­ Baden 2006, 171–194, hier 172, Anm. 2. 33 André Glucksmann, »Ich bin kein Fetischist des Mai ’68«, Interview von Maxi Leihnkauf, in: Süddeutsche Zeitung, 17. Februar 2008, (23. Oktober 2014). 34 Der undogmatische Dogmatiker. André Glucksmanns Erinnerungen, in: Neue Rund- schau, Oktober 2007, (22. August 2014). 35 Auron, Les Juifs d’extrême gauche en Mai 68, 49. Glucksmanns Eltern stammten weder aus Polen noch aus Deutschland, sie kamen nicht aus Österreich, Tschechien oder Ru­ mänien, sondern aus dem Habsburgerreich, das sich als Vielvölkerreich durch eine Viel- falt von Sprachen und Zugehörigkeiten auszeichnete und sich fundamental von einem ethnisch homogenen Nationalstaat unterschied.

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Ähnliche Unklarheiten sind auch in Bezug auf die Zugehörigkeit Daniel Cohn-Bendits festzustellen. In einer Fernsehsendung am 14. Mai 2012 kam der Moderator nach einigen Minuten auf die Eltern Cohn-Bendits zu spre- chen und führte aus, dass der Vater Deutscher und die Mutter Französin ge- wesen sei.36 Daraufhin antwortete Cohn-Bendit mit ironischem Unterton, dass seine Mutter genauso deutsch wie sein Vater war. In einem neuen An- lauf vergewisserte sich der Interviewer, dass aber doch zumindest die Staats- bürgerschaft der Eltern unterschiedlich gewesen sei. Auch diese Annahme verneinte Cohn-Bendit. Die Verwirrung zeigt, welche Herausforderung ein Lebensweg, der sich eindeutigen nationalen Zuordnungen entzieht, noch immer bereithält. Dass die jeweiligen Familiengeschichten von Goldman, Cohn-Bendit und Glucksmann nur diasporisch und transnational zu fassen sind, ist eine grundlegende Überzeugung dieser Arbeit.37

Gliederung

Die Studie gliedert sich entlang der Schlüsselfiguren in drei Teile. Das erste Kapitel zu Pierre Goldman beginnt mit seiner Beerdigung im September 1979 in Paris. Sein gewaltsamer Tod war der Abschluss eines radikalen Lebens, das sich jeder Anpassung an gesellschaftliche Normen entzog. Im Mittelpunkt der Analyse steht Goldmans 1975 veröffentlichte Monografie Dunkle Erin­ nerungen eines in Frankreich geborenen polnischen Juden, die die Affäre um seine lebenslängliche Verurteilung zu einem gesellschaftlichen Ereignis wer- den ließ. Dabei werden die Berichterstattung über die Verhandlungen gegen ihn, seine Autobiografie und sein Roman L’ordinaire mésaventure d’Archibald Rapoport von 1977 untersucht sowie auch die Geschichte seiner Eltern dar- gestellt. Angesichts der Quellenlage wird Goldmans Lebensweg vor allem an- hand von Schilderungen ehemaliger Weggefährten sowie autobiografischen Schriften rekonstruiert.38 Im deutschsprachigen Raum gibt es bislang kaum Forschungen zu Gold- man. Sein autobiografisch konturierter Text Dunkle Erinnerungen wurde zwar ins Deutsche übersetzt, aber wenig rezipiert. Sein zwei Jahre später verfasster Roman wurde schon nicht mehr ins Deutsche übertragen. Somit werden die biografischen und intellektuellen Konstellationen Pierre Gold-

36 Sendung vis-à-vis, 3sat, 14. Mai 2012. 37 Damit fügt sich diese Studie in einen Forschungstrend ein. Vgl. Susanne Lachenicht/­ Kirsten Heinsohn (Hgg.), Diaspora Identities. Exile, Nationalism and Cosmopolitanism in Past and Present, Frankfurt a. M./New York 2009. 38 Vgl. Hans-Peter Preußer/Helmut Schmitz, Autobiografik zwischen Literaturwissenschaft und Geschichtsschreibung. Eine Einleitung, in: dies. (Hgg.), Autobiografie und histo­ rische Krisenerfahrung, Heidelberg 2010, 7–20.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Einleitung 21 mans hier erstmals in einer deutschsprachigen Studie umfassend unter- sucht. Auch in Frankreich setzte die Beschäftigung mit Goldman erst vor einigen Jahren ein und findet zudem eher in künstlerischen und populär- wissenschaftlichen Werken statt. 2005 erschienen zwei von Journalisten ver- fasste Bücher zu Goldmans Leben.39 Außerdem veröffentlichte einer seiner ehe­maligen Professoren im selben Jahr unter Pseudonym einen Briefwech- sel aus der Mitte der 1970er Jahre.40 Ferner taucht Goldman als fiktive Fi- gur in einigen literarischen Werken auf, beispielsweise in Dominique Per- ruts Patria o muerte aus dem Jahr 2010.41 Schließlich haben die Umstände des Mordes an Goldman immer wieder Anlass zu Spekulationen gegeben. So befasste sich ein ehemaliger hoher Polizeibeamter, Lucien Aimé-Blanc, 2006 in L’indic­ et le commissaire mit dem Attentat auf Goldman.42 Es verwundert nicht, dass 2011 auf Canal+ ein Spielfilm von Christophe Blanc über Pierre Goldman ausgestrahlt wurde. 2012 erschien eine Graphic Novel von Emma- nuel ­Moynot: Pierre Goldman. La vie d’un autre.43 Im zweiten Kapitel wird die Lebens- und Familiengeschichte Daniel Cohn-Bendits geschildert. Die Wege seiner Eltern, Herta und Erich Cohn- Bendit, die sich im Berlin der Weimarer Republik trafen, werden mithilfe von bislang nicht bearbeitetem Quellenmaterial ebenso dargestellt wie die biografischen Stationen des Sohnes. Auch zu Daniel Cohn-Bendit wurde bislang kaum wissenschaftlich geforscht; vorherrschend ist eine politisch motivierte Auseinandersetzung. In deutscher Sprache liegt eine Biografie der Journalistin Sabine Stamer vor.44 2010 erschien eine französische Bio- grafie von Emeline Cazi, Le vrai Cohn-Bendit.45 Bereits 1998, anlässlich des dreißigsten Jahrestages des Mai ’68, erschien, ebenfalls in Frankreich, eine kurze Biografie von Laurent Lemire.46 Ein Jahr später veröffentlichte Patrick Moissag eine Anthologie mit Zitaten Cohn-Bendits.47 Außerdem publizierte Lorraine Millot eine knapp gehaltene Biografie in der Reihe Les Essentiels.48

39 Michaël Prazan, Pierre Goldman. Le frère de l’ombre, Paris 2005; Antoine Casubolo, La vie rêvée de Pierre Goldman, Paris 2005. 40 Amnassar, Matricule 518.941–2.87: prison de Fresnes. Correspondance d’un prévenu avec son professeur, Paris 2005. 41 Dominique Perrut, Patria o muerte, Paris 2010. Bereits vorher wurde das Schicksal Gold- mans literarisch thematisiert, vgl. Henri Raczymow, Un cri sans voix, Paris 1985; außerdem Catherine Axelrad, La Varsovienne, Paris 1990, und die Werke von Myriam Anissimov. 42 Lucien Aimé-Blanc, L’indic et le commissaire, Paris 2006. 43 Emmanuel Moynot, Pierre Goldman. La vie d’un autre, Paris 2012. 44 Sabine Stamer, Cohn-Bendit. Die Biografie, Hamburg/Wien 2001. 45 Emeline Cazi, Le vrai Cohn-Bendit, Paris 2010. 46 Laurent Lemire, Cohn-Bendit, Paris 1998. 47 Patrick Moissag, Un pavé dans la mare. Daniel Cohn-Bendit. Mot pour mot, La Ferté- Saint-Aubin 1999. 48 Lorraine Millot, Daniel Cohn-Bendit, Paris 2002.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 22 Einleitung

Nicht selten konzentriert sich die Beschäftigung mit Cohn-Bendit auf seine Wendung vom Gesicht der französischen 68er-Bewegung zum Vertreter des realpolitischen Flügels der Grünen. Die vielen polemischen Publikationen hierzu sind aufgrund des spezifischeren Erkenntnisinteresses dieser Arbeit zu vernachlässigen.49 Die meisten Untersuchungen zu Cohn-Bendit behandeln den Pariser Mai ’68 und die Zeit danach, während in der vorliegenden Studie die Vor- geschichte in den Mittelpunkt gerückt wird.50 Auch die Bedeutung von Hannah Arendt und Ernest Jouhy, den beiden wichtigsten intellektuellen Bezugspersonen Cohn-Bendits nach dem frühen Tod seiner Eltern, wird nur in wenigen Abhandlungen erwähnt, aber nirgendwo erklärt. Trotz der brei- ten Forschungsliteratur zu Hannah Arendt ist ihre Pariser Exilerfahrung noch nicht ausführlich bearbeitet worden. Erst in jüngster Zeit wurde von Alfons Söllner die zentrale Bedeutung des Pariser Exils für Arendts intellek- tuelle Entwicklung diskutiert.51 Dort lernte Arendt die Familie Cohn-Bendit kennen. Ernest Jouhy, dessen Werke vergriffen sind und so gut wie gar nicht mehr rezipiert werden, ist eine nahezu vergessene historische Person. Eine Ausnahme stellt allein der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Benjamin Ortmeyer dar, der sich allerdings vor allem für Jouhys pädagogische Theorie interessiert.52 Somit präsentiert die vorliegende Studie auch die Entwicklung Ernest Jouhys, der Daniel Cohn-Bendit mehrere Jahre unterrichtete, erst- mals im historischen Kontext. Das letzte Kapitel behandelt den Lebensweg André Glucksmanns unter Rückgriff auf die Geschichte seiner Eltern, Rubin und Martha Glucksmann. Soweit möglich, wird ihr Leben anhand von bislang nicht zur Kenntnis ge-

49 Einige Wochen vor der Bundestagswahl 1998, die zur Bildung einer Koalition von SPD und Bündnis 90/Die Grünen führte, erschien Christian Schmidt, Wir sind die Wahn­ sinnigen. Joschka Fischer und seine Frankfurter Gang, Düsseldorf/München 1998. Darin zu Cohn-Bendit das Kap. »Der rote Dany verfärbt sich«, 125–131. Paul Ariès und Florence Leray werfen Cohn-Bendit Verrat an seinen früheren Idealen und Weggefährten vor. Vgl. dies., Cohn-Bendit. L’imposture, Paris 2010, bes. die Kap.: »Dany, Verräter von André Gorz« und »Dany, Verräter von Castoriadis«. 50 Wolfram Burkhardt, Intellektuelle und Politik. Jürgen Habermas – Martin Walser – ­ Daniel Cohn-Bendit, Marburg 2001; Anne Siemens, Durch die Institutionen oder in den Terrorismus. Die Wege von Joschka Fischer, Daniel Cohn-Bendit, Hans-Joachim Klein und Johannes Weinrich, München 2006. 51 Alfons Söllner, »Adieu, la France?« Frankreich im Frühwerk Hannah Arendts, in: ders. (Hg.), Deutsche Frankreich-Bücher aus der Zwischenkriegszeit, Baden-Baden 2011, 317–346. 52 Vgl. Benjamin Ortmeyer, Der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Ernest Jouhy. Leben und pädagogisches Werk, Manuskript der Antrittsvorlesung an der Goethe-Universität Frankfurt a. M., 16. Dezember 2008. Eine Kurzfassung findet sich in ders., Résistance und Universität. Der Frankfurter Erziehungswissenschaftler Ernest Jouhy. Überarbeitete Fas- sung der Antrittsvorlesung, in: Tribüne. Zeitschrift zum Verständnis des Judentums 48 (2009), H. 191, 165–172.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Einleitung 23 nommenen Archivquellen rekonstruiert. Sind die Materialien nicht ausrei- chend, wird auf Autobiografien aus ihrem Umfeld zurückgegriffen. André Glucksmanns intensive Auseinandersetzung mit dem Stalinismus ist ohne den Erfahrungshorizont seiner Eltern nicht zu entschlüsseln. Seine intellektu- elle Entwicklung wurde des Weiteren stark von seinem akademischen Lehrer Raymond Aron beeinflusst. Diese Beziehung soll ebenfalls nachgezeichnet werden. Abschließend werden die Schriften Glucksmanns als Verdichtung seiner spezifischen Erfahrungsgeschichte gedeutet. Auch über André Glucks- mann wurde erst wenig wissenschaftlich gearbeitet. In den 1980er Jahren ver- öffentlichte Günther Schiwy mehrere Arbeiten über die »Neuen Philosophen« und das Denken Glucksmanns.53 Tiefgründige Porträts verfasste Jürg Alt- wegg, der Glucksmann auch mehrmals interviewt sowie Vorworte für seine Bücher geschrieben hat.54 Einige weitere Studien widmeten sich Glucks- manns Rolle als Intellektueller im französischen Diskurs, zudem erschienen mehrere gegen ihn gerichtete polemische Pamphlete.55 Die oben angeführten Unklarheiten bezüglich der Herkunft von André Glucksmanns Eltern legen offen, dass eine gedächtnisgeschichtliche Annäherung an seine biografische wie intellektuelle Entwicklung bislang ein Forschungsdesiderat geblieben ist. Die drei untersuchten Personen stehen für jeweils unterschiedliche jü- dische Geschichtserfahrungen im Nachkriegsfrankreich. Sie verknüpfen die Geschichte der Elterngeneration in der Zwischenkriegszeit als Immigranten und Flüchtlinge mit den Emanzipationskämpfen in der zionistischen und dann kommunistischen Bewegung und den damit verbundenen Enttäu- schungen. Ihre Lebensläufe dienen als Fixpunkte einer Konstellation geo- grafischer Räume, die in den 1920er und 1930er Jahren in Paris erstmals aufeinandertrafen und die sich in der folgenden Generation im Mai 1968 er- neut kreuzen sollten: Polen, Deutschland und das Habsburgerreich. Diese Gedächtnisschichten bilden die erfahrungsgeschichtliche Grundlage der Lebenswege von Pierre Goldman, Daniel Cohn-Bendit und André Glucks- mann, die in der vorliegenden Studie erstmals herausgearbeitet wird.

53 Günther Schiwy, Kulturrevolution und »Neue Philosophen«, Reinbek bei Hamburg 1978; ders., Poststrukturalismus und »Neue Philosophen«, Reinbek bei Hamburg 1985, 35–44 und 121–131. 54 Jürg Altwegg/Aurel Schmidt, Französische Denker der Gegenwart, München 1987, 98– 104. Jürg Altwegg, Von der Mai-Barrikade zur Atomstrategie. Der weite Weg des André Glucksmann – ein Gespräch, in: Dokumente. Zeitschrift für den deutsch-französischen Dialog und übernationale Zusammenarbeit 40 (1984), H. 1, 39–48; Ingeborg Breuer/Peter Leusch/Dieter Mersch, Vom Antitotalitarismus zur »Ethik der Ersten Hilfe«. Politische Moralistik bei André Glucksmann, in: dies., Welten im Kopf. Profile der Gegenwarts­ philosophie, 3 Bde., hier Bd. 2: Frankreich, Italien, Hamburg 1996, 127–136. 55 Als Beispiel für Polemiken vgl. Guy Hocquenghem, Lettre ouverte à ceux qui sont pas- sés du col Mao au Rotary, Paris 2003, 178–192; Jean Birnbaum, Les maoccidents. Un néo­ conservatisme à la française, Paris 2009.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 1. Gefangen in der Zeit. Pierre Goldmans radikales Leben

Es ist ein unscheinbares Grab in der vierten Sektion des Cimetière du Père Lachaise, des berühmten Pariser Friedhofs, wo der Erschossenen der Pari- ser Kommune ebenso gedacht wird wie der kommunistischen Widerstands- kämpfer gegen die deutsche Besatzung und der in die Konzentrationslager Deportierten.1 Das Grab ist auf fast keinem der Friedhofspläne vermerkt, auf denen die Stätten berühmter Persönlichkeiten wie Guillaume Apollina­ ire, Honoré de Balzac, Frédéric Chopin, Marcel Proust und Oscar Wilde ver- zeichnet sind, und daher nur schwer zu finden. Der schlichte Grabstein aus grauem Marmor ist schmucklos. Es sind keine Blumen niedergelegt und die Grabstelle scheint lange nicht besucht worden zu sein. Auf der Plakette an der Vorderseite des Grabsteins steht in einfacher Schrift: Pierre Goldman, 22. Juni 1944–20. September 1979. Nur bei wenigen ruft dieser Name heute noch Assoziationen hervor, doch die Ermordung Goldmans am 20. September 1979 war ein zentrales Moment der französischen Nachkriegsgeschichte. Das Begräbnis eine Woche nach der Tat war ein Großereignis für die Linke und markierte gewissermaßen den Abschluss des Pariser Mai. Die Beisetzung Goldmans erscheint wie ein Kristallisationspunkt sowohl der linken als auch der jüdischen Geschichte Frankreichs, wie ein lieu de mémoire, in dem sich die Geschichte einer Ge- neration im Nachkriegsfrankreich spiegelt.2 Dem Begräbnis am 27. September 1979 ging ein Schweigemarsch mit 15 000 Teilnehmern voraus, zu dem über dreißig Organisationen aufgerufen hatten.3 Das Spektrum reichte von linksradikalen Kleingruppen über die der Parti socialiste (PS) nahestehende Gewerkschaft Confédération française

1 Das Grab befindet sich in der vierten Sektion, 1. Reihe, (24. November 2014). 2 Vgl. Donald Reid, Pierre Goldman. From Souvenirs Obscurs to Lieu de Mémoire, in: French Politics, Culture & Society 26 (2008), H. 2, 51–77. Daniel Gordon meint, dass Goldman eine Ikone der 68er-Generation in Frankreich geworden sei. Ders., Memories of 1968 in France. Reflection on the 40th Anniversary, in: Ingo Cornils/Sarah Waters (Hgg.), Memories of 1968. International Perspectives, Bern 2010, 49–78, hier 75. 3 Vgl. Les obsèques de Pierre Goldman, in: Libération, 27. September 1979, 3. Die Angaben über die Anzahl der Teilnehmer schwanken zwischen 10 000 und 25 000. Die meisten Quellen nennen 15 000 Teilnehmer. Vgl. Avec Pierre Goldman. 15 000 personnes ont par- ticipé hier à ses obsèques silencieuses, in: Libération, 28. September 1979, 1; Après les obsè- ques de Pierre Goldman. »Quelle fêlure inexpliquée?«, in: ebd., 29./30. September 1979, 3.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Pierre Goldmans radikales Leben 25 démocratique du travail (CFDT) bis hin zu Menschenrechtsgruppen wie dem Mouvement contre le racisme et pour l’amitié entre les peuples (MRAP) und der Ligue internationale contre le racisme et l’antisémitisme (LICA). Auf politische Symbole, Fahnen und Transparente wurde auf Wunsch der Ange- hörigen Goldmans verzichtet, die nicht wollten, dass die Beisetzung zu einer Demonstration wird.4 Die ersten Teilnehmer versammelten sich am Nachmittag gegen 15 Uhr vor dem gerichtsmedizinischen Institut an der Place Mazas direkt an der Seine und setzen sich langsam in Richtung des Friedhofs Père Lachaise in Bewegung. Die Zusammenkunft dauerte bis in die Abendstunden. Den gan- zen Tag über kam es immer wieder zu kleineren Auseinandersetzungen mit der Polizei und zu Festnahmen.5 Am Abend flogen vereinzelt Pflastersteine, eine verspätete Reminiszenz an die »Nacht der Barrikaden« vom 10. auf den 11. Mai 1968 in Paris.6 Auch in vielen anderen französischen Städten waren Schweigemärsche oder Versammlungen als Reaktion auf das Attentat gegen Pierre Goldman angekündigt, so beispielsweise in Rouen, , Lyon und Grenoble. Über die Beisetzung Goldmans wurde ausführlich in Nach- richtensendungen und Tageszeitungen berichtet.

Der Mord

Am 20. September 1979 war Pierre Goldman auf offener Straße mitten in Paris von drei Unbekannten mit mehreren Kugeln niedergestreckt worden. Er war sofort tot. Die Mythen, die sich um seine Ermordung ranken, konn- ten erst vor Kurzem aufgeklärt werden.7 Zu dem Attentat bekannte sich

4 Vgl. Philippe Boggio, Les obsèques de Pierre Goldman, une émotion contenue, in: Le Monde, 29. September 1979, 11. 5 Vgl. Jean-Louis Péninou, CGT, CFDT, FEN: »en campagne«, in: Libération, 29. Septem- ber 1979, 5. 6 Zur Chronologie vgl. A. L. W./D. C., 15 000 personnes sans pancarte, banderole ou mot d’ordre, in: Libération, 28. September 1979, 4. 7 Über die Ermordung Goldmans wurden mehrere Dokumentationen gedreht: Michaël Pra- zan, L’assassinat de Pierre Goldman. Der Film wurde 2005 im französischen Fernsehen ausgestrahlt. Im Rahmen der Reihe über bedeutende Kriminalfälle »Faites entrer l’accus­ é« wurde ebenfalls eine Folge über die Goldman-Affäre von Nicolas Glimois gesendet: Pierre Goldman. L’assassinat, (24. November 2014). Außerdem von 2010 Michel Despratx/Philippe Nahoum, Comment j’ai tué Pierre Goldman. Darin behauptet ein unerkannt bleibender Mann, er sei einer der Mörder Goldmans: (12. November 2014). Eine andere Theorie besagt, dass Goldman wegen seiner Kontakte zur baskischen Untergrundorganisation Euskadi Ta Askatasuna (ETA) von der paramilitärischen Organisation Grupos Antiterroristas de Liberación (GAL) er- mordet wurde. Vgl. Sylvie Braibant, Révélations sur l’assassinat de Pierre Goldman, in:

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 26 Pierre Goldmans radikales Leben die Organisation Honneur de la police, die der Nachrichtenagentur Agence France-Presse (AFP) folgende Stellungnahme zukommen ließ: »Pierre Gold- man hat für seine Verbrechen bezahlt. Die Justiz der Macht hat erneut ihre Ohnmacht und Nachgiebigkeit gezeigt, wir haben getan, was uns un- sere Pflicht gebot.«8 Die öffentliche Hinrichtung eines Linksradikalen rief bei vielen Menschen Ängste vor einem neuen rechten Terrorismus wach, der Frankreich zuletzt während des Algerienkriegs erschüttert hatte.9 Die Gruppe Honneur de la police hatte sich auch zum Anschlag auf den Wagen des kommunistischen Gewerkschafters Maurice Lourdez bekannt.10 Außerdem wurden in vielen Zeitungsartikeln Parallelen zwischen dem Attentat auf Pierre Goldman und der Ermordung von Henri Curiel gezogen, einem kommunistischen Aktivisten, der am 4. Mai 1978 erschossen worden war. Der aus einer jüdisch-ägyptischen Familie stammende Curiel hatte eine wichtige Rolle im antikolonialen Kampf gespielt und galt als Schüsselfigur der »Kofferträger«, der französischen Unterstützer der algerischen Befrei- ungsorganisation Front de libération nationale (FLN). Nach seiner Verhaf- tung im Jahr 1960 war der Gründer des Mouvement anticolonialiste fran- çais zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden, die er in Fresnes südlich von ­Paris verbüßte. Dort sollte Goldman zehn Jahre später ebenfalls einsitzen. Der Ort ihrer Haft und die spätere Ermordung sind nicht die einzigen Ver- bindungen zwischen ihnen.11

Le Monde Diplomatique, 26. Januar 2010, (12. November 2014); Luc Rosenzweig, Pierre Goldman, encore et toujours, in: Causeur, 29. Januar 2010, (12. November 2014). Im Mai 2012 wurde der Name des Mör- ders von Goldman bekannt. Der Täter war René Resciniti de Says, Mitglied der rechts- extremen Action Française und Fallschirmspringer im Algerienkrieg. Er beteiligte sich an Aktionen gegen Unterstützer der FLN. Nach seinem Tod im April 2012 wurde seine Identität durch den rechtsextremen Journalisten Emannuel Ratier enthüllt. Vgl. Abel Mestre/Caroline Monnot, L’identité de »Gustavo«, l’homme qui dit avoir tué Pierre Goldman, révélée, 22. Mai 2012, (12. November 2014). 8 Das Bekennerschreiben wird in nahezu allen Artikeln über die Ermordung Goldmans angeführt. Vgl. Jean-Louis Péninou, L’assassinat de Pierre Goldman. Abattu au milieu du jour place des Peupliers, in: Libération, 21. September 1979, 3. Le Monde brachte die Nach- richt auf der Titelseite und widmete dem Mord noch zwei ganze Seiten. Philippe Boucher, Les trois morts de Pierre Goldman in: Le Monde, 22. September 1979, 1. 9 Vgl. Olivier Dard, Voyage au cœur de l’OAS, Paris 2006. Zu verdeckten Polizeiaktionen und der Zusammenarbeit mit paramilitärischen Gruppen in den 1970er und 1980er Jah- ren vgl. Lucien Aimé-Blanc, L’indic et le commissaire, Paris 2006. 10 Vgl. Une demi-heure après, le meurtre était revendiqué. Le groupe »Honneur de la police«, in: Libération, 21. September 1979, 3. 11 Zu Henri Curiel vgl. Gilles Perrault, Un homme à part, Paris 1984; René Gallissot, Henri Curiel. Le mythe mesuré à l’histoire, Paris 2009.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Pierre Goldmans radikales Leben 27

Die Ermordung Goldmans schockierte weite Teile der Gesellschaft. So eröffnete der Nachrichtensprecher Robert Gicquel die 20-Uhr-Sendung auf Télévision Française 1 mit den Worten: »Begleicht der Rassismus, der Fa- schismus, der Terrorismus seine Rechnung? Dies ist auf den ersten Eindruck alles, was die Ermordung Pierre Goldmans zu bedeuten scheint.«12 Inner- halb der Linken kam es zu unterschiedlichen Reaktionen. Der Jour­nalist Luc Rosenzweig, ein Weggefährte Goldmans, veröffentliche am Tag da- nach in Libération ein Totengebet: »Wem steht es zu, dein Kaddisch zu spre- chen? Viele Juden deiner Generation fordern heute diese hohe Ehre, diese auserwählte Rolle des ältesten Sohnes zu spielen«. Vor allem die­jenigen, die die Erinnerung an die Pogrome und die nationalsozialistischen Gräuel wachhielten, so fuhr Rosenzweig fort, seien durch die aktuellen Gescheh- nisse verunsichert: »Drei Kugeln reichen, damit das Zeichen unmittelbar funktioniert, das den Juden zeigt, dass die Zeit der Tränen gekommen ist. […] Nie wieder gedemütigte Juden. Deinen Hass auf die Antisemiten, den wir manchmal übertrieben und unangebracht fanden, nehmen wir voll und ganz in unser Handeln auf.«13 In diesem Text deutete Rosenzweig den Mord als einen Pogrom, der an einem Einzelnen verübt wurde. Dadurch erhielt das individuelle Schicksal Goldmans kollektive Relevanz. Seine Ermordung müsse für alle eine Warnung vor der Gefahr eines wiederkehrenden Anti- semitismus sein. Den Judenhass ernst zu nehmen und zu bekämpfen, wie Goldman es seit jeher gefordert hatte, sei nun die Aufgabe aller, die sein Ver- mächtnis fortzuführen gedächten.14 Goldmans Anwalt Georges Kiejman gab ebenfalls eine Stellungnahme ab:

»Pierre war das Opfer eines faschistischen Terroranschlags, der weder aus der Nähe noch aus der Ferne mit einer Polizeiaktion zu tun hat. […] Er war ein Aktivist der radi­kalen Linken, der nicht mehr in einer bestimmten Organisation aktiv war. Aber er hatte noch immer die gleiche Sensibilität für Ungerechtigkeit. Darüber hinaus war er stark von seiner jüdischen Herkunft und von der jüdischen Frage allgemein geprägt.«15

12 Zit. nach Prazan, Pierre Goldman, 258. 13 Luc Rosenzweig, Kaddish pour Pierre, in: Libération, 21. September 1979, 4. Später be- zweifelte Rosenzweig Goldmans Unschuld, die ihm früher eindeutig erschienen war. Er sprach von der »Legende des in Frankreich geborenen polnischen Juden« und äußerte Zweifel am Alibi. Außerdem betonte er, dass er selbst im Gegensatz zu vielen anderen nie ein enger Freund Goldmans gewesen sei. Den ungebrochenen Bezug auf den jüdisch- kommunistischen Widerstand habe er schon immer befremdlich gefunden. Vgl. ders., ­Innocent, forcément innocent, in: L’Arche, Mai 2005, 69–71, hier 71. 14 Auch Évelyne Le Garrec sieht in La rive allemande de ma mémoire von 1980 den Mord an Goldman als Ausdruck der antisemitischen Kontinuität nach der Befreiung. Darauf weist Kathryn Jones hin. Vgl. dies., Journeys of Remembrance. Memories of the Second World War in French and German Literature, 1960–1980, London 2007, 124. 15 Zit. nach Les réactions, in: Le Monde, 22. September 1979, 13.

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Damit hob Kiejman auf die Herkunft Goldmans ab, wenn auch in anderer Weise als Rosenzweig. Dieser sah in dem Mord einen antisemitischen Akt, während Kiejman stärker den politischen Hintergrund betonte. Zwar sei die Beschäftigung mit der jüdischen Geschichtserfahrung für Goldman prä- gend, aber Anlass für den Mord seien seine Aktivitäten in der radikalen Lin- ken gewesen. Deshalb, so Kiejman, sei sein früherer Mandant Opfer eines ­faschistischen Anschlags geworden.16 Die PS, die CFDT, die Gewerkschaft der Polizei und die Beamtenvereini- gung Syndicat de la Magistrature verurteilten das Attentat. Die Jeunes so- cialistes, die Jugendorganisation der Sozialisten, würdigte das Andenken an Goldman, betonte jedoch zugleich die Unterschiede der Auffassungen und besonders der politischen Praxis. Jacques Sabbath, Chefredakteur der Monats­zeitschrift L’Arche des Fonds social juif unifié (FSJU), mit der Gold- man gelegentlich zusammengearbeitet hatte, äußerte sich ebenfalls: »Vor Bestürzung hat die Redaktion der Zeitschrift aufgehört zu sprechen. Pierre Goldman war einer von uns.«17 Jean-Paul Sartre, Simone de Beauvoir und das Redaktionskomitee von Les Temps Modernes, dem Goldman einige Zeit angehört hatte, verfassten einen Aufruf, in dem sie von der großen Angst sprachen, die der Mord in ihnen hervorgerufen habe. Sie forderten die schnelle Aufklärung und betonten zugleich: »Auf der anderen Seite hat uns die Polizei nicht an wirksame Ermittlungen in den faschistoiden Milieus ge- wöhnt.«18 Diese Feststellung spielte auf die häufig erfolglosen polizeilichen Ermittlungen gegen den Terrorismus der OAS Anfang der 1960er Jahre an. Ferner wurde ein Unterstützungsfonds für Goldmans hochschwangere Ehe- frau Christiane eingerichtet. Die kommunistische Gewerkschaft Confédération générale du travail (CGT) verurteilte die Gewalt, und Gruppen wie MRAP warnten vor Juden- feindschaft und einem neuen Faschismus. Oberrabbiner Jacob Kaplan, der zufällig am Abend des Anschlags bei Staatspräsident Giscard d’Estaing zu Gast war, wies ausdrücklich auf die Furcht vor einem zunehmenden Anti­ semitismus hin, die in der Gemeinde um sich greife. Des Weiteren merkte er an, dass der Tag des Attentats mit Rosch ha-Schana zusammenfalle – umso mehr sei er in seinen Gedanken bei Goldman und seiner Familie, für die das neue Jahr unter entsetzlichen Umständen beginne. Kaplan fuhr fort: »Wir beten für die Toten, alle Toten. Aber ich habe die Affäre Goldman nicht verfolgt­ und ich kenne ihn nicht persönlich. Ich denke, dass er sein

16 Darüber spekulierte auch Pierre Bénichou. Allerdings hätten die Mörder auch Poli­zisten oder Weggefährten Goldmans sein können, die ihm seine Resozialisierung übel nahmen. Vgl. ders., Pierre Goldman assassiné, in: Le Nouvel Observateur, 24. September 1979, 52. 17 Zit. nach Les réactions à l’assassinat, in: Libération, 21. September 1979, 3. 18 Der Aufruf findet sich in: La rédaction des Temps modernes lance un appel, in: Libéra- tion, 22./23. September 1979, 4.

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Ansehen wiederhergestellt hat, weil er von der Wertschätzung vieler Men- schen umgeben war.«19 Mit Ausnahme einer Nachrichtensendung auf Antenne 2, die die anti­ semitisierenden Anschuldigungen gegen Goldman wiederholte, verurteil- ten alle Medien den Mord nachdrücklich. Auch Radiostationen strahlten Sondersendungen aus. So leitete Félix Guattari am 23. September 1979 einen Bericht für die Fédération des radios libres et des radios parisiennes ein.20 Die Studentenorganisation Union des étudiants communistes (UEC), in der Goldman Mitglied gewesen war, meldete sich ebenso zu Wort wie eine Gruppe namens Libération armenienne: »Falls die Faschisten Juden angrei- fen, werden sie auf ihrem Weg die Erben von Manouchian wiedersehen.«21 Missak Manouchian, ein aus Armenien stammender kommunistischer Wi- derstandskämpfer im besetzten Frankreich, befehligte den militärischen Flügel der Francs-tireurs et partisans – main-d’œuvre immigrée (FTP-MOI) in der Region Paris.22 Derselben Organisation hatten beide Eltern Goldmans angehört. Die MOI war ein wichtiger identifikatorischer Bezugspunkt für radikale jüdische Linke im Nachkriegsfrankreich. Der Mord an Goldman brachte die Gruppierungen der Linken bei allen Meinungsverschiedenheiten ein letztes Mal zusammen. Tags darauf wurde zu einer Demonstration mobilisiert, an der nach Angaben der Ligue com- muniste révolutionnaire (LCR) über 15 000 Menschen teilnahmen.23 Für den Abend berief die Ligue des droits de l’homme ein Treffen ein, um eine gemeinsame Reaktion abzustimmen. Die Teilnehmer erklärten, die Politik trage dazu bei, »die alten Dämonen des Faschismus, des Rassismus und des Antisemitismus zu wecken.«24 Es wurde vor der Zerstörung der bürger- lichen Freiheiten gewarnt, zur Einigkeit aufgerufen und an die Wachsamkeit der demokratischen Parteien appelliert. Unterzeichnet wurde die Erklärung schließlich von 21 Organisationen der Linken. Fast alle namhaften Gruppie- rungen waren dabei, mit einer wichtigen Ausnahme: Die KPF unterschrieb nicht und hielt sich auch sonst auffällig zurück. Sie pflegte seit jeher ein dis- tanziertes Verhältnis zur radikalen Linken, die sich der Parteidisziplin nicht unterordnen wollte. Außerdem hatte es Mitte der 1960er Jahre innerhalb

19 Zit. nach Annette Levy-Willard, Après l’assassinat de Pierre Goldman. Une indignation générale. Nombreuses prises de position, in: Libération, 22./23. September 1979, 4 f., hier 5. 20 Vgl. Une émission des radios libres parisiennes pour Pierre Goldman, in: ebd., 4. 21 Zit. nach Très nombreuses réactions. Les organisations de gauche (sauf le PC) se réuniront à nouveau, in: Libération, 24. September 1979, 5. 22 Zu Missak Manouchian und dem Verhältnis der MOI zur KPF vgl. Stéphane Courtois, Les scandales de l’affaire Manouchian, in: Le Nouvel Observateur, 28. Juni 1985, 22–25. 23 Vgl. Jean-Paul Salles, La Ligue communiste révolutionnaire (1968–1981). Instrument du Grand Soir ou lieu d’apprentissage?, Rennes 2005. 24 Zit. nach Très nombreuses réactions, in: Libération, 24. September 1979, 5.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 30 Pierre Goldmans radikales Leben des Studentenverbands UEC heftige Debatten um die Nähe zur Partei gege- ben, bei denen Goldman als Vertreter der antistalinistischen Strömung auf- getreten war. Auch bei der nächsten Zusammenkunft am 25. September 1979, zwei Tage vor der Bestattung Goldmans, tauchten die KPF und die mit ihr eng verbundene Gewerkschaft CGT nicht auf.25 Viele Mitglieder riefen jedoch selbstständig zur Teilnahme am Begräbnis auf. Der Appell wurde von meh- reren Hundert Personen unterzeichnet, die für sich in Anspruch nahmen, die »Traditionen des antifaschistischen und demokratischen Kampfs« der Partei zu vertreten, unter ihnen Étienne Balibar, Jean Ellenstein, Antoine Spire und Gilles Perrault. Auch innerhalb der jüdischen Gemeinde gab es Meinungsverschieden- heiten, ob der Mord an Goldman als antisemitische Tat einzustufen sei. Nachdem die bedeutendste Organisation des französischen Judentums, der Conseil représentatif des israélites de France (CRIF), sich geweigert hatte, öf- fentlich Position zu beziehen, übten mehrere Persönlichkeiten Kritik an der Zurückhaltung. In dem Aufruf hieß es: »Pierre Goldman war Jude, Revolu- tionär, Intellektueller, ehemaliger Straftäter, der seine Schuld an diese Ge- sellschaft abbezahlt hat.« Es sei nicht klar, ob er aus antisemitischen oder sonstigen Motiven ermordet wurde, aber der Mord müsse als eine Her- ausforderung für die Demokratie angesehen werden und verweise auf ein stetiges Voranschreiten des Faschismus. Schweigen, so fährt die Stellung- nahme fort, »wäre eine unverantwortliche Wahl. […] Deshalb rufen wir zur Teilnahme an der Beerdigung von Pierre Goldman auf.«26 Unterschrie- ben wurde der Aufruf unter anderem von Richard Marienstras, Jean-Pierre Bloch, André Wormser und Vladimir Jankélévitch. Claude Lanzmann, der Goldman in die Redaktion von Les Temps Modernes geholt hatte, kritisierte die jüdischen Institutionen mit deutlichen Worten:

»Weil Pierre Goldman […] ein ›Abweichler‹ war, war er nicht ›respektabel‹ genug für die jüdischen Institutionen, um Druck auf die Regierung und die Polizei auszuüben und die Sache aufzuklären. […] Unheilbare Blindheit meiner jüdischen Brüder: Wann hört ihr also auf, euch um jeden Preis zu wünschen, respektiert zu werden, und euch selbst durch die Sorge um Respektabilität zu reinigen?«27

Lanzmann kritisierte die opportunistische Politik der jüdischen Repräsen- tanten, denen er vorwarf, sich primär um ihre Reputation zu sorgen und

25 Vgl. Jean-Louis Péninou, Nouvelle réunion des organisations de gauche ce matin, in: ebd., 25. September 1979, 4. 26 Zit. nach André Glucksmann, Les obsèques de Pierre Goldman, in: ebd., 27. September 1979, 3. 27 Claude Lanzmann, Les temps de la déraison, in: Les Temps Modernes, Oktober 1980, 565–568, hier 566.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Pierre Goldmans radikales Leben 31 tunlichst alles zu vermeiden, was ein schlechtes Licht auf sie werfen könnte. Die Parteinahme für einen linksradikalen Kriminellen konnte deshalb aus ihrer Sicht selbst dann keine Option sein, wenn dieser auf offener Straße er- schossen worden war. Ihre Politik orientierte sich am Ideal des assimilato­ rischen Republikanismus. Der Lebensweg Goldmans passte nicht nur nicht in diese Vorstellung, sondern er dementierte sie fortlaufend.

Das Begräbnis

Die Appelle entfalteten große Wirkung. Zur Beerdigung erschienen schließ- lich mehr als 10 000 Personen, eine Menschenmenge, die in ihrer Zusam- mensetzung indes kaum vielfältiger hätte sein können (Abb. 1). Die Klänge der Bongotrommeln antillanischer Musiker mischten sich mit der Melo- die der Internationale. Religiöse Juden warfen der Tradition folgend Steine auf den Sarg Goldmans. Betende muslimische Gläubige fanden sich ne- ben Trauernden aus dem kleinkriminellen Milieu wieder. Am Grab wur- den unzählige Blumen und Kränze niedergelegt. Letztere trugen persön- liche Aufschriften wie »Für meinen Sohn« oder »Für meinen Ehemann, für meinen Vater«, aber auch kollektive Widmungen wie »Die Armenier«. Auf die Friedhofs­mauer hatte jemand ein Graffiti gesprüht: »Rock, um die To- ten tanzen zu lassen«,28 eine Anspielung darauf, dass Goldman als Tumba­ musiker Jamsessions geliebt hatte. Auch viele linke Aktivisten nahmen an der Beerdigung teil, die als tiefer Einschnitt begriffen wurde. Diese Haltung begründete der Herausgeber von Libération Serge July folgendermaßen:

»Pierre Goldman wurde ermordet, weil er das unbestreitbare Gesicht eines anderen Frankreich war, das andere Franzosen bis zu dem Punkt hassten, dass sie an ihm ›ein Exempel‹ statuieren wollten. […] Deshalb nimmt das Begräbnis von Pierre Goldman in unseren Leben einen solchen Platz ein.«29 Goldmans Lebensweg symbolisierte mehr als die Geschichte einer Person. Er war Projektionsfläche und Identifikationsobjekt für unterschiedliche, teils widerstrebende Tendenzen.30 Gläubige Juden konnten auf Goldman Be-

28 Vgl. Larry, Des fleurs par terre déjà fanées …, in: Libération, 29. September 1979, 5. Er schreibt fälschlicherweise, Goldmans Grab befinde sich in der 9. Sektion. 29 Serge July, Ce jour-là …, in: ebd., 26. September 1979, 5. 30 In einem Brief an Judith Friedlander 1979 formulierte die Studentin Laurence Podslever: »Pierre Goldman represents our whole period, even though we do not share or approve his former gangster activities, which he himself later analyzed and condemned. His ideas touch us deeply.« Zit. nach Judith Friedlander, Vilna on the Seine, Jewish Intellectuals in France since 1968, New Haven, Conn., 1990, 37.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 32 Pierre Goldmans radikales Leben

Abb. 1: Trauerzug anlässlich des Begräbnisses von Pierre Goldman am 27. September 1979. © Gabriel Duval/AFP/Getty Images. zug nehmen, nachdem er sich im Gefängnis mit jüdischer Religiosität nach Auschwitz befasst hatte, ebenso wie Linksradikale verschiedener Richtun- gen, die in Goldman ihre eigene Geschichte – verdichtet oder auf die Spitze getrieben – repräsentiert sahen. Serge July fuhr fort:

»Jedoch hat Pierre Goldman seinem Schicksal ernstliche Fallgruben gestellt: Er ver- körperte tausend Widersprüche in Aktion, sich fortbewegend und wandelnd im Laufe der Zeit. Es gibt nicht eine Wahrheit über Pierre Goldman, sondern viele. Ohne Zweifel ist es der Reichtum seiner Facetten, seine hartnäckige Weigerung gegenüber der Ver- einfachung, die ihn dezidiert zu einem Mann unserer Zeit macht. Deshalb erkennen sich viele Menschen in ihm wieder, niemals vollständig, immer teilweise, wissend, dass ein Teil von ihnen mit voller Wucht von mehreren Kugeln beschädigt wurde.«31

Neben seinem Vater Alter Mojsze Goldman und seiner Mutter Sima Socha­ czewska nahmen Goldmans Geschwister an der Trauerfeier teil, unter ihnen Jean-Jacques Goldman, heute ein bekannter Musiker. Vor allem aber kamen politische Aktivisten und prominente Kulturschaffende. Der bereits von Krankheit gezeichnete Jean-Paul Sartre erschien zusammen mit Simone de

31 Serge July, Ce jour-là …, Libération, 26. September 1979, 5.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Pierre Goldmans radikales Leben 33

Beauvoir. Die Schauspielerin Simone Signoret war ebenso anwesend wie ihr Ehemann, der Chansonier Yves Montand. Auch Daniel Cohn-Bendit und der spätere Präsidentschaftskandidat der LCR, Alain Krivine, waren unter den Trauergästen.32 Weitere Protagonisten der 68er-Bewegung folgten dem Sarg: Alain Geismar, der im Mai ’68 Generalsekretär der SNESup und expo- nierter Gegner der kommunistischen Orthodoxie gewesen war; außerdem nahezu die gesamte Redaktion der Zeitung Libération, darunter Marc Kra- vetz, dessen Eltern den Holocaust überlebt hatten und Widerstandskämpfer der ersten Stunde gewesen waren. Kravetz selbst war ein enger Freund Pierre Goldmans.33 Des Weiteren verfasste der ebenfalls anwesende André Glucks- mann einen langen Artikel über die Beerdigung. Außerdem waren viele ehemalige UEC-Mitstreiter gekommen. Der Kampfgenosse ­ s in Bolivien, Régis Debray, mit dessen Hilfe Goldman versucht hatte, Kon- takt zu Guerillabewegungen zu knüpfen, erwies dem Freund ebenso die letzte Ehre wie Bernard Kouchner, der Mitbegründer von Médecins sans Fron­tières und spätere französische Außenminister. Die Anwälte Goldmans waren erschienen, so Georges Kiejman, Tiennot Grumbach, der Neffe des mehrfachen französischen Ministerpräsidenten Pierre Mendès-France, und die mit dem berühmten Philosophen verwandte Marianne Merleau-Ponty. Es könnten noch weitere Namen angeführt werden, aber die genann- ten dürften den Stellenwert des Begräbnisses für die Linke im Nachkriegs- frankreich hinreichend belegen. In Pierre Goldman liefen viele Erinne- rungs- und Erfahrungsschichten zusammen. Seine Person ist deshalb von epistemischem Interesse, weil sein Schicksal sowohl eine linke als auch eine jüdische Geschichtserfahrung in Frankreich spiegelt. Bei aller Exzen- trik stand Goldman zugleich auch für eine Möglichkeit jüdischer Selbst- verortung nach Auschwitz. Gerade die Radikalität seiner Antworten macht eine Beschäftigung mit ihm aufschlussreich. Goldman unterschied sich von anderen deshalb, weil er sich explizit und zu einem vergleichsweise frü-

32 Neben Krivine und Weber war Daniel Bensaïd einer der LCR-Vordenker. Die drei ver­ öffentlichten mehrere Bücher. Vgl. Daniel Bensaïd/Henri Weber, Mai 1968. Une répé- tition générale, Paris 1998; Daniel Bensaïd/Alain Krivine, Mai Si! Rebelles et repentis, Montreuil 1988. Vgl. auch Bensaïds Autobiografie: Daniel Bensaïd, Une lente impatience, Paris 2004. 33 Über die gemeinsame Zeit sagte Marc Kravetz: »Wir haben ganze Nächte damit ver- bracht, die Welt neu zu erschaffen. Aber es gab ein Thema, das wir niemals erwähnt ha- ben, es ist gerade dieses [der Holocaust und seine Nachwirkungen]. Sehen Sie, es passiert häufig, dass die wichtigsten Dinge niemals ausgesprochen werden. Wir waren einan- der näher als den Genossen derselben Generation und derselben politischen Einstellung. Vielleicht gerade wegen des Nichtgesagten, wegen einer Art der ›Gemeinschaft‹, die die- ses Schweigen überdeckt. Niemals haben wir darüber geredet. Es ist seltsam. […] Wenn heute dieses Gespräch stattfinden würde, dann wäre es auf jeden Fall anders.« Zit. nach Auron, Les Juifs d’extrême gauche, 30.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Pierre Goldmans radikales Leben 34 hen Zeitpunkt mit der Relevanz von Zugehörigkeit befasste. Die Referenz- punkte seiner politischen Orientierung waren die Zwischenkriegszeit, das Vichy-Regime und die Jahre der deutschen Besatzung sowie der Holocaust. Anhand seines Lebenswegs kann exemplarisch die politische Erfahrungs- geschichte eines radikalen Protagonisten der 1970er Jahre diskutiert wer- den. Das Begräbnis, die spektakulären Gerichtsprozesse gegen Goldman und die breite Aufnahme seines im Gefängnis verfassten, autobiografisch kontu­rierten Buches Dunkle Erinnerungen eines in Frankreich geborenen polnischen Juden legen Zeugnis von seiner Bedeutung ab. Innerhalb kurzer Zeit verkauften sich mehr als 60 000 Exemplare. Es wurde zu einem Buch für eine ganze Generation. Die divergierenden Sichtweisen auf Pierre Goldman in der erst vor Kur- zem einsetzenden Forschung mögen drei Beispiele deutlich machen. Antoine Casubolo beschrieb ihn als »emblematisch für eine Generation, aber für eine Generation, die gescheitert ist. Emblematisch vor allem für unser Jahrhun- dert, in dem die Opfer eben mehrere Millionen zählen.«34 Goldman erscheint in dieser Deutung als Stellvertreter der Leidensgeschichte des 20. Jahrhun- derts. Seine jüdische Herkunft wird in einer universalisierten Opferschaft aufgelöst. Michaël Prazan, der sich selbst mit affirmativem Bezug auf Goldman als einen in Frankreich geborenen polnischen Juden charakterisiert, sieht in ihm einen ontologisch Marginalisierten. Er zeichnet Goldman als »Außen- seiter in seiner Epoche, Außenseiter in der Guerilla, Außenseiter im Juden- tum oder in der Kriminalität, Pierre Goldman ist in irreduzibler Weise eine Repräsentation des diasporischen Juden, […] in dessen Kopf die Sperrmau- ern noch weiter bestehen, obwohl sie von der Zivilisation beseitigt worden sind.«35 Goldman wird bei ihm zum Inbegriff des »Ghetto-Juden«, ohne dass die individuellen biografischen Ursachen und historischen Erfahrun- gen ausreichend erörtert würden, die dem Gefühl des Ausgeschlossenseins zugrunde liegen. Eine weitere Perspektive bietet Benoît Rayski, der Sohn von Adam Rayski, einem der MOI-Anführer. Er führte 2009 ein Gespräch mit André Kirschen, einem ehemaligen Widerstandskämpfer, der nur aufgrund seines Alters von den Deutschen nicht zum Tode verurteilt worden war. Kirschen betonte den heldenhaften Kampf vieler polnischer Juden, die ihr Leben für die Befreiung Frankreichs gegeben hätten. Daraufhin nannte Benoît Rayski zwei Ursachen für die Bedeutung, die polnische Akteure für seine nach 1945 aufgewach- sene Generation einnahmen: »Ich habe ihm gesagt, dass meiner Meinung nach ein Symbol – der Aufstand im Warschauer Getto – und ein Buch –

34 Casubolo, La vie rêvée de Pierre Goldman, 103. 35 Prazan, Pierre Goldman, 279.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Von Ost nach West 35

›Dunkle Erinnerungen eines in Frankreich geborenen polnischen ­Juden‹ von Pierre Goldman – zur Verherrlichung des polnisch-jüdischen Volkes beigetragen haben.«36 Eine Diskussion zwischen Rayski und dem Filmemacher Frank Cassenti, der 1976 den Film L’affiche rouge über die MOI produziert hatte, kreiste ebenfalls um die politische Einordnung Goldmans.37 Für Goldman sei, so Cassenti, die mehrheitlich aus jüdischen Kommunisten bestehende Wider- standsgruppe um den armenischen Dichter Missak Manouchian der wich- tigste historische Bezugspunkt gewesen. Er habe besonders Marcel Rayman als sein Vorbild bezeichnet. Cassenti betonte im Gespräch mit Rayski aber auch die Unterschiede zwischen Goldman und der Mehrheit der Linken. So habe Goldman sich über sich selbst gewundert, weil er am Abend nach dem Sieg Israels über die arabischen Armeen im Sechstagekrieg 1967 auf dem Champs-Elysées gefeiert habe. Rayski erwiderte, Goldman sei dennoch ein Linksradikaler gewesen. Cassenti widersprach nicht, fügte jedoch hinzu: »Ja, aber er war nicht wie die anderen.«38 Goldman war demnach Teil der französischen Linken und stand doch außerhalb von ihr. Sein Lebensweg ist ohne die linke Geschichte nicht zu verstehen, aber die Beschäftigung mit Goldman ermöglicht im Gegenzug auch einen erweiterten Blick auf die französische Nachkriegslinke. Gerade die Marginalität seiner Perspektive enthält ein Erkenntnispotenzial, das im Folgenden fruchtbar gemacht werden soll.

1.1 Von Ost nach West. Die Familiengeschichte

Auf einer Fotografie von der Beerdigung Goldmans ist im Vordergrund der ehemalige Guerillero Régis Debray zu erkennen. Am rechten Bildrand er- scheint die Anwältin Marianne Merleau-Ponty, die ihren Kopf der Kamera zugewandt hat. Etwas hinter Debray befinden sich die beiden Halbbrüder Pierre Goldmans, Robert und Jean-Jacques Goldman. Direkt davor sieht man eine ältere Frau mit einem traurig anmutenden Ausdruck, neben ihr einen alten Mann mit halb verdecktem Gesicht, der seinen Blick auf den

36 Benoît Rayski, L’affiche rouge, neue, bearb. und erweit. Aufl., Paris 2009, 100. 37 Der Film handelt von der Erschießung der Gruppe Manouchian auf dem Mont Valé- rien am 21. Februar 1944. Der Titel spielt auf ein Propagandaplakat an, das den Wider- stand gegen die deutsche Besatzung als Werk ausländischer Juden darstellt. Die Wider- ständler werden als »Armee der Kriminellen« bezeichnet. Sieben der zehn genannten und ab­gebildeten Angehörigen der MOI waren jüdischer Herkunft. Das Plakat ist ab- gedruckt in: Diane Afoumado, L’affiche antisémite en France sous l’Occupation, Paris 2008, 135. 38 Rayski, L’affiche rouge, 73.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Pierre Goldmans radikales Leben 36

Boden gerichtet hat. Bei den beiden handelt es sich um die leiblichen Eltern Pierre Goldmans: um Alter Mojsze Goldman und Sima Sochaczewska. An ihren Lebenswegen lässt sich ein gewichtiger Teil der Vorgeschichte jener Epoche nachvollziehen, die mit dem Tod Pierre Goldmans symbolisch be­ endet wurde. Sie nimmt ihren Anfang im späten 19. Jahrhundert und ver- längert sich als Gedächtnis bis in die Gegenwart der 1970er Jahre hinein. Die Beschäftigung mit ihnen zeigt außerdem die Relevanz osteuropäischer Ge- schichtserfahrungen für das Frankreich des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte der Juden in Frankreich wiederum ist beispielhaft für die bürgerlichen Gesellschaften Westeuropas. Frankreich war die erste Nation, die den Juden im Zuge der Revolution von 1789 die volle rechtliche Gleich- stellung zuerkannte.39 Allerdings folgte die Proklamation der Bürger- und Menschenrechte einem Republikanismusverständnis, das die eine und un- teilbare Republik als Ideal propagierte. Gefordert wurde die vollständige ­Assimilation und die Aufgabe jeder partikularen Herkunft, sei sie religiös oder regional.40 Graf Stanislas de Clermont-Tonnerre brachte diese Überzeu- gung in einer Debatte der französischen Nationalversammlung kurz nach der Revolution in der berühmt gewordenen Sentenz zum Ausdruck: »Man muss den Juden als Nation alles verweigern und den Juden als Individuen alles­ zugestehen.«41 Vor 1789 hatten die Juden als separierte Gruppe gelebt, gewissermaßen als »Nation« innerhalb Frankreichs. Sie hatten eine eigene Verwaltung und Gerichtsbarkeit und folgten ihren (Religions-)Gesetzen. Die Mehrheit der Juden wohnte aufgrund von Niederlassungsbeschränkun- gen im Elsass und verständigte sich auf Elsässerdeutsch. Napoleon Bonaparte berief 1806 den Großen Sanhedrin ein, eine Ver- sammlung von 71 jüdischen Honoratioren, um das Verhältnis von religiö- sem und säkularem staatlichem Gesetz zu klären. Im Zentrum des Diskur-

39 Als Überblick vgl. Esther Benbassa, Histoire des juifs de France. Nouvelle édition revue et mise à jour, Paris 2000. Zu verschiedenen Aspekten der jüdischen Geschichte in Frank- reich vgl. Frances Malino/Bernard Wasserstein (Hgg.), The Jews in Modern France, Ha- nover, N. H., 1985. Zur Emanzipation vgl. David Feuerwerker, L’émancipation des juifs en France. De l’Ancien Régime à la fin du second Empire, Paris 1976; außerdem Michael Brenner/Vicki Caron/Uri Kaufmann, Jewish Emancipation Reconsidered. The French and German Models, Tübingen 2003. 40 Vgl. Michael Marrus, The Politics of Assimilation. The French Jewish Community at the Time of the Dreyfus Affair, Oxford 1971, bes. 86–162. 41 »Il faut tout refuser aux juifs comme nation et tout accorder aux juifs comme individus.« Opinion de M. Le Comte Stanislas de Clermont-Tonnerre, député de Paris, le 23 décem- bre 1789, nachgedruckt in: La Révolution française et l’émancipation des juifs, 8 Bde., Pa- ris 1968, hier Bd. 7, 13. Aufschlussreich ist hierfür das Leben von Zalkind Hourwitz, der 1751 in einem kleinen polnischen Dorf geboren wurde, 1776 nach Frankreich kam und sich den Revolutionären anschloss. Er war einer der Vorkämpfer für die Judenemanzipa- tion. Vgl. Frances Malino, A Jew in the French Revolution. The Life of Zalkind Hourwitz, Oxford 1996.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Von Ost nach West 37 ses standen die Loyalität der Juden zu Frankreich und die Vereinbarkeit von partikularer Herkunft und universalistischem Staatsverständnis. Schließlich wurde 1808 der Consistoire central israélite gegründet, der die Gemeinden unter einer Dachorganisation zusammenfasste.42 Der Ende des 18. Jahrhun- derts einsetzende Akkulturationsprozess ermöglichte vielen Juden einen außergewöhnlichen sozialen Aufstieg, die Religion wurde zunehmend in den privaten Bereich verschoben. Neben der revolutionären Tradition existierte eine starke, im Katholizismus wurzelnde Judenfeindschaft.43 Das bekann- teste Beispiel hierfür ist die Dreyfus-Affäre. Diese historischen Ambivalen- zen sind in der Wendung deux France (zweierlei Frankreich) enthalten, die bereits Ende des 19. Jahrhunderts geprägt wurde und immer wieder zur Be- schreibung der Spaltung des Landes angeführt wird.44 Die Judenemanzipation schritt im 19. Jahrhundert weiter voran. 1831 wurde durch ein Edikt von Louis-Philippe I. das Judentum als Religion den anderen Glaubensgemeinschaften gleichgestellt. Daraufhin wurde die in Metz gegründete rabbinische Akademie staatlich anerkannt. Außerdem er- hielten die in Algerien lebenden Juden 1870 durch die Crémieux-Dekrete die französische Staatsbürgerschaft. Ferner setzte ein verstärkter Zuzug von Juden nach Paris ein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts vertraten die Juden mehrheitlich ein kulturalisiertes Religionsverständnis und fühlten sich als Franzosen. Eine Zäsur stellten die Massenmigrationen aus dem östlichen Europa dar, die durch Pogrome ausgelöst wurden und vermehrt jüdische Flüchtlinge nach Frankreich führten.45 Nach dem Ersten Weltkrieg wurden schließlich viele Arbeitskräfte benötigt, um die hohe Zahl an Kriegsopfern

42 Vgl. Simon Schwarzfuchs, Napoleon, the Jews and the Sanhedrin, London 1979; Franz Kobler, Napoleon and the Jews, New York 1976. Zu den Konsequenzen vgl. Patrick ­Girard, Les juifs de France de 1789 à 1860, Paris 1976, 99–172. 43 Vgl. Zeev Sternhell, Les anti-Lumières du XVIIIe siècle à la guerre froide, Paris 2006. Zum antisemitischen Topos der jüdischen Republik vgl. Pierre Birnbaum, Un mythe politique. »La République juive«. De Léon Blum à Pierre Mendès-France, Paris 1988. 44 Vgl. Richard Wolin, From Mao to Moses. May ’68 and the Challenges of French-­Jewish Identity, Vortrag gehalten am 25. November 2010 in der Alten Handelsbörse, Leip- zig, 11. Simon-Dubnow-Vorlesung (unveröff. Vortragsmanuskript). Bereits 1889 erschien Mathurin Lescure, Les deux France. Histoire d’un siècle, 1789–1889. Récits d’une aïeule centenaire à ses petits enfants, Paris 1889. »Les deux France« lautet eine Kapitelüber- schrift in Peter Novick, The Resistance versus Vichy. The Purge of Collaborators in Libe- rated France, New York 1968, 1–20. Bei Novick bezieht sich der Ausdruck auf die Spaltung der Gesellschaft zur Zeit des Vichy-Regimes. In diesem Sinne verwendet ihn auch Pierre Fayol, Les deux France, 1936–1945, Paris 1994. 45 Zur jüdischen Einwanderung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert vgl. Paula Hyman, From Dreyfus to Vichy. The Remaking of French Jewry, 1906–1939, New York 1979, bes. 63–88. Einen Überblick über die osteuropäische Einwanderung bietet David Weinberg, »Heureux comme Dieu en France«. East European Jews in Paris, 1881–1914, in: Jonathan Frankel (Hg.), Studies in Contemporary Jewry, Bd. 1, Bloomington, Ind., 1984, 26–54.

© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525370490 — ISBN E-Book: 9783647370491 Pierre Goldmans radikales Leben 38 zu kompensieren. 1924 fielen die Vereinigten Staaten von Amerika als bis dahin wichtigstes Einwanderungsland weg, als eine Quotenregelung einge- führt wurde. Frankreich wandelte sich somit in der Zwischenkriegszeit von einem Transit- zum primären Immigrationsland. Infolgedessen entstanden jiddischsprachige Einwandererviertel. Paris wurde die Stadt mit der größ- ten jüdischen Bevölkerung in Westeuropa.46 Diese Entwicklung führte bei assimilierten Juden zu heftigen Debatten über ihre Stellung in der Gesell- schaft. Viele Neueinwanderer lehnten nämlich nicht nur die Assimilation ab, sondern radikalisierten sich politisch und schlossen sich der 1920 ge- gründeten KPF an. Zwischen 1921 und 1926 gelangten jährlich rund 200 000 Menschen nach Frankreich.47 Die Mehrheit stammte aus dem östlichen Europa und aus Ita- lien. Sie stellte einen nicht geringen Teil der KPF-Mitglieder. Zusätzlich schufen sich die Einwanderer eigene Organisationen jenseits der etablier- ten politischen und gewerkschaftlichen Strukturen. Deshalb beschloss der Fünfte Parteikongress der KPF im Juni 1926 in Lille, spezielle Sektionen zu gründen, in denen sich eingewanderte Arbeiter separat, aber doch inner­ halb der Partei organisieren konnten. Diese Untergruppen wurden zunächst Main-d’œuvre étrangère (MOE) genannt. Deren erste im Oktober 1926 her- ausgegebene Broschüre Fraternité (Brüderlichkeit) erschien in fünf Spra- chen (Französisch, Italienisch, Deutsch, Ungarisch und Russisch). Wenig später wurde auch eine jiddischsprachige Sektion gegründet. Die Anfang der 1930er Jahre in Main-d’œuvre immigré (MOI) umbenannte Organisa- tion hatte zwölf Untergruppierungen, von denen die italienisch- und die jiddisch­sprachigen Sektionen die meisten Mitglieder aufwiesen. Jede Sek- tion gab eine Zeitung in der jeweiligen Sprache heraus.48 Während des Spanischen Bürgerkriegs etablierte die MOI ein Unterstüt- zungsnetzwerk für die republikanische Regierung. Nicht wenige ihrer Akti- visten schlossen sich den Internationalen Brigaden an. Außerdem übernahm

46 Vgl. Nancy Green, The Pletzl of Paris. Jewish Immigrant Workers in the Belle Epoque, New York 1986. Speziell zur Einwanderung polnischer Juden vgl. Jonathan Boyarin, ­Polish Jews in Paris. The Ethnography of Memory, Bloomington, Ind., 1991. Zur jü- dischen Arbeiterbewegung in Paris vgl. Nancy Green/Mikhail Zahar, Eléments pour une étude du mouvement ouvrier juif à Paris au début du siècle, in: Le mouvement social 110 (1980), 51–73. 47 Vgl. Stéphane Courtois/Denis Peschanski/Adam Rayski, Le sang de l’étranger. Les immi- grés de la MOI dans la Résistance, Paris 1989, 18. 48 Vgl. Agnieszka Wierzcholska, Die jiddische Presse in Paris in den 1920er und 1930er Jah- ren (unveröff. Magisterarbeit im Fach Publizistik- und Kommunikationswissenschaften, Freie Universität Berlin, 2008). Als gekürzte Fassung vgl. dies., Auf Jiddisch in Paris. Zur ostjüdischen Immigrantenpresse im Frankreich der Zwischenkriegszeit, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts/Simon Dubnow Institute Yearbook 9 (2010), 37–56.

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