Inhalt 2/2017 Kriminalistik 65

Editorial Kriminalistik Schweiz Europäische Kriminalistik 66 Zur Würdigung des Aussagen-Beweises 119 Von Bernd Fuchs Von Prof. Dr. phil. Henriette Haas Radikalisierung Kriminalistik Campus „Radikalisierung“ Öffentliche Datenbanken zur Identifizierung Ein Hilfsmittel zur rhetorischen Bewältigung und Zuordnung von gestohlenen Gegen- der aktuellen Sicherheitslage 67 ständen 125 Von Werner Sohn Von Daniel Kerzenmacher Prävention gegen Radikalisierung 73 Taschendiebstahl – Lappalie oder schwere Nachhaltigkeit am Beispiel eines Theaterprojektes Kriminalität? 129 Kriminalistische Bewertung, Darstellung eines Von Dr. Melanie Wegel ganzheitlichen Bekämpfungskonzeptes am Bespiel des Polizeipräsidiums München und zukünftige Sicherheitsgefühl Herausforderungen Der Einfluss von Diebstahl und Einbruch auf unternehmerische Entscheidungen des Hand- Von Markus Gögelein werks 80 Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in einer grenznahen Region Rubriken Von Prof. Dr. Anton Sterbling Recht aktuell Tagungsbericht Betrug und Zwangsversteigerung 78 Kriminalistik in Osteuropa 88 Polizeiliche „Sicherstellung“ einer Geldforderung 90 Bericht über die XII. Internationale wissenschaftlich- Zum Tatbestand der sexuellen Handlung vor praktische Konferenz für Kriminalistik an der einem Kind gem. § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB 103 Universität Warschau Anzeigen 79, 116, 124 Von Prof. Dr. Rolf Ackermann Aktuelles 98 Masseningewahrsamnahme Literatur 87 Einschließung von Störergruppen 91 Impressum 136 Von Prof. Hartmut Brenneisen und Dirk Staack Suchmaßnahmen Georadar als polizeiliches Einsatzmittel 99 Vorschau auf die nächsten Ausgaben: Weibliche Nicht-invasive Depotsuche und Detektion von Leichen Attentäter; Funkzellenabfrage; Fortbildung verdeck- Von Rebecca Kirsten, Prof. Gerhard Schmelz und ter Ermittler; Präventive Gewinnabschöpfung; Kinder Dr. Jens Hornung und häusliche Gewalt; Was formt den islamistischen Terroristen?; Usama Bin Ladins Überlegungen zur Kriminaltechnik Restrukturierung von Al Qaida; Suizid im Kontext fami- Rückschlüsse durch Handy-Abriebe 104 lialer Nachahmungstaten; Personalsituation zwischen Interessante Ermittlungsmöglichkeiten Mythen und Fakten; Neuer deutsch-tschechischer Polizeivertrag Von Dipl.-Biol. Dr. rer. Mark Benecke Daktyloskopische Spurensicherung auf ­ banknoten der Europaserie 105 Das »Kolloidale Gold«-Verfahren neu entdeckt Titelbild: Daktyloskopische Spurensicherung auf Eu- Von Dr. Lothar Schwarz, Inga Klenke und robanknoten mit dem „Kolloidalen Gold“-Verfahren, Ingrid Becker S. 105 ff. Kriminalistik Österreich Der „Fall“ Zielpunkt – ein Krida-Tatbestand? 111 Die nächste Ausgabe der KRIMINALISTIK (Heft 3/2017) Von Prof. (FH) Mag. Dr. Helmut Siller erscheint am 17.3.2017.

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Verehrte Leserinnen und Leser,

die Kluft zwischen den kriminalistischen Schulen von Ost-, Mittel- und Westeuropa ist noch sehr groß und sehr stark ideologiebehaftet. Noch bestehen Schranken und gegenseitige Vorbehalte, die allein durch den Umstand, dass die ost- und westeuro- päischen Staaten gemeinsam Mitglieder der Europäischen Union sind, keineswegs überwunden sind. Diese Schlüsse zieht Prof. Dr. Rolf Ackermann aus der XII. inter- nationalen wissenschaftlich-praktischen Konferenz für Kriminalistik, die im September 2016 in Warschau stattfand (siehe Tagungsbericht S. 88 ff.). Weiter bemängelt der Diplomkriminalist ein deutlich geringeres Interesse von Kriminalwissenschaftlern und Praktikern aus westeuropäischen Staaten an den fortschreitenden Entwicklungen in Osteuropa, als dies umgekehrt der Fall ist. Der Erkenntnis folgend, dass die Realisie- rung der Vision des Rates der EU von einer „Europäischen Kriminaltechnik 2020“ zwingend gebo- ten ist, wirken auch die osteuropäischen Staaten sehr engagiert in Gremien mit, beispielsweise zur Entwicklung kriminaltechnischer Standards.

Übereinstimmend kamen die Teilnehmer der Konferenz aber auch zum Ergebnis, dass die Orien- tierung auf Kriminaltechnik und Beweisführung nicht ausreicht. Sie ergriffen deshalb die Initiative, ein „Memorandum zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Raumes der Wissenschaft Kriminalistik“ zu entwickeln. Dass eine transnationale, zumindest europäische Sicht auf die ge- samte wissenschaftliche Kriminalistik längst überfällig ist, belegt auch Werner Sohn anschaulich in seiner Abhandlung über den Begriff „Radikalisierung“ (siehe nebenstehend S. 67 ff.).

Dem Austausch von Erfahrungen über neue oder weiterentwickelte Erkenntnisse und Methoden bietet die „Kriminalistik“ gerne ein Forum. So berichten Rebecca Kirsten, Prof. Gerhard Schmelz und Dr. Jens Hornung über den Einsatz von Georadar zur nicht-invasiven Depotsuche und Detek- tion von Leichen (S. 99 ff.). Die Gründe, warum speziell deutsche Ermittler eher selten auf diese geophysikalische Methode zurückgreifen, sehen die Autoren auch darin, dass deren Möglich- keiten und Grenzen hier, im Gegensatz zu Großbritannien oder den Niederlanden, schlichtweg nicht bekannt sind. Der auch populärwissenschaftlich bekannt gewordene Kriminalbiologe Dr. Mark Benecke stellt eine deutsch-amerikanische Studie mit interessanten Ermittlungsansätzen vor (S. 104). So lassen Handy-Abriebe und deren chemische Analyse Rückschlüsse auf Lebensgewohn- heiten, hygienische und medizinische Bedingungen sowie Aufenthaltsorte zu und ermöglichen die Erstellung von „Persönlichkeitsprofilen“.

Technische Innovationen können zu ungeahnten Schwierigkeiten in der Umsetzung führen. 2013 waren neue 5-Euro-Banknoten eingeführt worden, ohne die Automaten rechtzeitig auf die Erkennung der neuen Scheine umzurüsten. Von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt hatte sich ein weiteres Problem ergeben. Bei den neuerdings mit einer Lackschicht überzogenen Scheinen war die kriminalistisch unverzichtbare Sicherung latenter Fingerspuren in gewohnter Art und Weise erfolglos. So musste das „Kolloidale Gold“-Verfahren neu entdeckt werden. Dr. Lothar Schwarz, Inga Klenke und Ingrid Becker (S. 105 ff.) beschreiben die Leitlinien, die beim Einsatz dieser Methode zu beachten sind. Sie wurden von einem Expertenteam aus Deutschland, Öster- reich und der Schweiz erstellt. Ein weiterer Beleg für funktionierende europäische Zusammenar- beit, die auf allen Gebieten der Kriminalistik zur Selbstverständlichkeit werden sollte!

Ihr

Bernd Fuchs Chefredakteur

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Kriminalistik 2/2017 Radikalisierung 67 „Radikalisierung“ Ein Hilfsmittel zur rhetorischen Bewältigung der aktuellen Sicherheitslage

Von Werner Sohn

Der Begriff „Radikalisierung“ ist in aller Munde, sowohl in chen.5 Um solche Bemühungen zu stützen der Fachliteratur als auch in der Qualitätspresse. Als der und mit praktikablen Methoden auszustat- ten, werden Modelle der Radikalisierung Tunesier Mohamed Lahouaiej-Bouhlel am 14. Juli 2016 (Don- entwickelt. Das Tempo der Innovationen nerstag) in Nizza 85 Personen mit einem Lastwagen tötete, ist beachtlich. Während Kris Christmann war man nach ersten Mutmaßungen über eine Amokfahrt für das Londoner Innenministerium vor fünf Jahren nur etwa ein halbes Dutzend des als depressiv geschilderten „tueur au camion“ auf eine anführt, sind es nach Andreas Zick und islamistische Motivation gestoßen. Schon am darauf folgen- Jens Böckler gegenwärtig mehr als zwan- den Samstag teilte Innenminister Bernard Cazeneuve zum zig – „häufiger zitierte“!6 Für eine Modell- Ermittlungsstand mit, dass der bislang polizeiunbekannte Tä- bildung fühlen sich insbesondere Wissen- schaftler aus dem Fachbereich der Psycho- 1 ter sich offenbar sehr schnell radikalisiert habe. Am 18. Juli logie angesprochen, denn mit Radikalisie- 2016 (Montagabend) verletzte der afghanische Asylbewerber rung ist offenkundig ein individueller oder Riaz Khan Ahmadzai in einem Regionalzug bei Würzburg gruppenbezogener Prozess zu explorieren, fünf Personen mit einer Axt schwer. Ein islamistisches Beken- der ggf. vorherzusehen sein müsste, aber jedenfalls nicht schlagartig in einem Resul- nervideo wurde gefunden. Mehrere Tageszeitungen versahen tat mündet wie dem erwähnten Terroran- amtliche Bekundungen am Mittwoch darauf mit dem Titel: schlag von Nizza. Die „häufiger zitierten“ „Radikalisierung in nur zwei Tagen?“2 In politischen und po- Konstruktionen bedienen sich daher einer bewährten, aus anderen psychosozialen lizeilichen Verlautbarungen über terrorverdächtige Personen Prozessen übertragbaren Modellmetapho- oder zurückkehrende Kombattanten lassen sich europaweit rik aus Phasen, Schritten, Stufen, Treppen, unfehlbar Angaben darüber finden, wo und wann die Betref- Ebenen oder Etagen, die die propulsive fenden sich (selbst) radikalisiert hätten oder (von anderen) Bewegung des Radikalisierungsvorgangs nicht nur anschaulich machen, sondern radikalisiert worden seien. auch einen analytischen Gewinn verspre- chen. Ein Begriff comme il faut eingenommen werden kann, Prozesse vo- Vor dem Hintergrund ihres in Deutsch- rausgehen, die mit „Radikalisierung“ zu- land viel zu wenig beachteten sozialpsy- Im persuasiven Sog des Wortes gerät es treffend bezeichnet sind. Dies eingeräumt, chologischen Ansatzes haben Arie W. zur Selbstverständlichkeit, dass einem ra- ist dem gesunden Menschenverstand nicht Kruglanski und Donna M. Webster kürz- dikalen Standpunkt, der im „Bedeutungs- schwer zu vermitteln, dass solche Pro- lich dem Forschungspool ein weiteres kontinuum“3 vom alltäglichen Islam zum zesse auch wieder rückgängig gemacht Radikalisierungsmodell hinzugefügt und Dschihadismus und zum I. S.-Terrorismus oder zumindest gemildert werden kön- u. a. empirisch mithilfe von Befragungen nen (Deradikalisierung). Zudem kann man tamilischer Separatisten sowie Angehöri- den „Narrativen“ der Radikalisierten ggf. ger der philippinischen Terrorgruppe Abu durch „Gegen-Narrative“ (counter-narrati- Sayyaf gestützt.7 Mögliche Komponenten ves, counter-radicalization) im Sinne eines der Radikalisierung sind demnach die Su- moderaten, multikulturell eingebetteten che nach Sinn (v. a. vor dem Hintergrund Islam entgegentreten. Der erstaunlichen eines individuellen oder sozialen Iden- Werner Sohn, wissen­ Allgegenwärtigkeit und Intransparenz des titätsverlusts), eine Ideologie, die auch schaftlicher Geschehens4 korrespondieren vielfältige terroristische Handlungen rechtfertigen Mitarbeiter, soziale und polizeiliche Reaktionen. Für die kann sowie verschiedene, in der Sozialfor- Krimino­ Niederlande sehen sich manche Experten schung bekannte Phänomene der Grup- logische Zentralstelle, bereits veranlasst, von der Herausbildung pendynamik (Anpassung, Druck, Identifi- Wiesbaden einer „Deradikalisierungsindustrie“ zu spre- zierung etc.). Eine besondere Rolle spielt

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der „collectivistic shift“, d. h. eine stärkere Ein zur Abhängigkeit führendes Kon- gischen und psychologischen Gebrauch Orientierung an den Werten und Nor- sumverhalten, das über einen größeren geht der politologische und publizistische men der Eigengruppe, sobald ein nach- Zeitraum Bestand hat, bildet sich in ei- des „Radikalen“ bzw. des Radikalismus haltiger individueller Bedeutungsverlust ner Teilgruppe Jugendlicher zunehmend voraus. Hier müssen einige Stichworte empfunden wird. Kruglanski & Webster früher und schneller heraus, wobei Merk- genügen. In der Bundesrepublik Deutsch- können anhand der empirischen Befunde male der Selbst‑ und Fremdschädigung land der 1960er und 1970er-Jahre war die Eignung ihres Ansatzes für die Be- evident sind. Auch das Konzept der „De- der Begriff des politisch linken bzw. rech- schreibung von Radikalisierungsprozessen pluralisierung“ von Werten (Daniel Köh- ten Radikalismus gängig und wurde sy- gut nachvollziehbar machen. Deradika- ler, German Institute for Radicalization nonym mit Extremismus verwendet.14 In lisierung – als zur Radikalisierung invers and Deradicalization Studies) wäre zu der Schlagwortnormdatei der Universi- gedachter Prozess – kann sich demnach erwähnen. Nicht mehr begriffskonform tätsbibliotheken hat sich erstaunlicher- durch eine verminderte Bindung an das erscheint eine zunehmende Rücksichtslo- weise bis auf den heutigen Tag der De- Ziel, Absage an Gewalt oder eine Wieder- sigkeit bei der Mittelverwendung allein, skriptor „Radikalismus“ als Vorzugsbegriff belebung alternativer Ziele zeigen bzw. insbesondere, wenn es sich um mentale erhalten, während „Rechtsextremismus“ fördern lassen. Wird hier für den Leser die Formen der Radikalisierung handelt, die u. a. nur als „Synonyme“ im Hintergrund Plausibilität der Darstellung empfunden, für das Alltagsleben (zunächst) keine praktische Bedeutung haben. Dem spä- Möglichkeit des radikalen Mit der Definition des Begriffs teren Mainzer Kardinal Lehmann, einem Denkens und Handelns gehört „Radikalisierung“ beginnen die ausgewiesenen Heidegger-Kenner, ist „Ra- zum Freiheitsideal Schwierigkeiten dikalisierung“ geradezu ein Schlüsselbe- griff zum Verständnis Martin Heideggers. behilflich sind. Radikale Parteien und Be- obwohl wir noch nicht die grundlegende Heidegger selbst gebraucht dieses Wort, strebungen und folglich auch der Begriff Begriffsdefinition der Autoren angegeben wenn er die „Seinsfrage“ als Radikalisie- des „Radikalen“ sind im Ausland weniger haben? Dann spräche dies für die Sugges- rung einer im Dasein angelegten Tendenz streng beurteilt worden. Mit „radicalism“ tivität des Wortes „Radikalisierung“. bezeichnet.11 Eine praktische Bedeutung würde man in der Datenbank des ame- Möglicherweise käme man besser ohne für das Leben des Freiburger Philosophie- rikanischen Justizministeriums unter den Definition aus, denn mit dieser beginnen professors hatte offenbar weder die ra- (kontrollierten) Indexbegriffen nicht fün- die Schwierigkeiten. „We define radica- dikale „Seinsfrage“ noch die später fol- dig! Für den internationalistischen Mar- lization as a process“, schreiben die Au- gende „Kehre“. Schließlich aber werden xismus-Leninismus ist Gewaltbereitschaft toren, „whereby one moves to support Kruglanski & Webster mit all denen in Kol- kein Differenzierungsmerkmal zwischen or adopt radical means to address a lision geraten, die den Aspekt der Gewalt linkem Radikalismus und Parteilinie ge- specific problem or goal.“ Die Selbstbe- als zentrale Komponente von Radikalisie- wesen. Man kann dies etwa in der 1920 züglichkeit der Definition wird aufgeho- rung in der Terrorismusdebatte vermissen. erschienenen programmatischen Schrift ben durch die Angabe dessen, was „ra- über eine „Kinderkrankheit“ des Kommu- Radikalisierung und 15 dikale Mittel“ sind, nämlich solche, „that Radikalismus nismus nachlesen. Andere (liberale bzw. moves one toward fulfilling his or her libertäre) Radikale verstanden und verste- goal while simultaneously undermining Es sollte nachdenklich stimmen, dass der hen sich als Reformer. Auch für konser- other goals and concerns“8. Ein passen- Begriff – von wenigen Ausnahmen abge- vative Amerikaner gehört die Möglichkeit des Beispiel bietet demnach das Verhal- sehen – im politikwissenschaftlichen und radikalen Denkens und Handelns zum ten des Selbstmordattentäters, der mit kriminologischen Kontext erst seit etwa Freiheitsideal. Peter Neumann, Direktor der Tatvollendung sein Ziel – ein Märtyrer zwölf Jahren in Gebrauch genommen des International Centre for the Study zu werden – zwar erreicht, zugleich aber wird. Dies belegt nicht nur die Datenbank of Radicalisation and Political Violence alle anderen tatsächlichen oder poten- der Kriminologischen Zentralstelle12 mit (King‘s College London), vermutet sogar, ziellen Ziele aufgibt. Diese weite Begriffs- etwa 40 000 Nachweisen des deutsch- dass der von der Bush-Administration lan- bestimmung umfasst etwa auch den von sprachigen Schrifttums, sondern auch cierte „Violent Radicalization and Home- seiner Aufgabe durchdrungenen Künst- der National Criminal Justice Reference grown Prevention Act“ (2007) im Senat ler, rücksichtslos sich selbst und ande- Service des US-amerikanischen Justizmi- nicht zuletzt an der Radikalismus-Termi- ren gegenüber, wie ihn William Somerset nisteriums mit ca. 220 000 Nachweisen nologie gescheitert sei.16 So hat schließ- Maugham in dem 1919 erschienenen des englischsprachigen Schrifttums.13 Die lich die 2005 gebildete Expertengruppe Roman über den Maler Charles Strickland Einführung des Begriffs verbinden man- der Europäischen Kommission zur „Ra- meisterhaft gezeichnet hat.9 Freilich wird che mit der neuen Dimension eines re- dikalisierung, die in Gewaltbereitschaft von den Autoren nicht operationalisiert, ligiös motivierten Terrorismus durch die mündet“ (ECEGVR),17 einen Stolperstein wie weit denn eine Unterminierung an- Anschläge vom 11. September 2001, für die Begriffsverwendung darin gese- derer Ziele und Bedürfnisse durch das andere eher mit den nachfolgenden Er- hen, dass demokratische (reformistische) im Mittelpunkt stehende „große Ziel“ eignissen in Madrid (2004) und London Bestrebungen in ein schiefes Licht geraten stattfinden muss. Wenn man eine „große (2005), wodurch das Phänomen eines könnten. Diese Bedenken haben für die Sache“ verfolgt, müssen immer andere „home grown terrorism“ oder „domestic Bundesrepublik Deutschland kaum eine zurückstehen. Kongruent mit der vorge- terrorism“ hervortrat. Freilich ist das eine Bewandtnis. Die Verfassungsschutzämter schlagenen Definition wäre etwa der in noch oberflächliche Wahrnehmung und weisen zwar gelegentlich noch auf den der Suchtforschung gelegentlich verwen- reicht als begriffshistorische Klärung nicht aus ihrer Sicht bedeutsamen Unterschied dete Radikalisierungsbegriff.10 aus. Dem kriminalpolitischen, kriminolo- zwischen Radikalismus und Extremismus

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hin, tatsächlich sind jedoch Begriffe wie Beginn durch zwei Einwände einschränkt. also das vom niederländischen Innenmi- Rechtsradikalismus und Linksradikalismus Aufgrund der Verquickung mit „Radikalis- nister befürwortete Konzept einer Radi- aus der öffentlichen wie der politikwissen- mus“ und „radikal“ sei der Begriff proble- kalisierung von „Inländern“ (auch) ohne schaftlichen Debatte verschwunden. Mit matisch und stifte Verwirrung, da schein- Rekrutierungsaktivitäten ausländischer politisch links assoziierte gewaltbereite bar legitimes politisches Denken involviert Organisationen binnen weniger Monate Gruppen firmieren zumeist (verharmlo- werde. Als Ideologie fordere Radikalismus Verbreitung auf der Fachebene der EU- send) als „linke Militanz“. Unterhalb des die etablierte Politik heraus, führe jedoch Administration fand, so könnte dies damit Rechtsextremismus kennt die öffentliche nicht durch sich selbst zur Gewalt. Der Be- zu tun haben, dass die rhetorische Gene- Nomenklatur nur noch den Rechtspo- griff müsse daher – so wollte es aber auch ralisierung eines zunächst eng begrenzt pulismus. Möglicherweise hat daher der die Kommission – durch Gewalt als we- wahrgenommenen Phänomens politische Radikalisierungsbegriff hierzulande rasch sentliches Merkmal determiniert werden, Gründe hatte. Die in einen konkreten Ter- Zustimmung finden können. roranschlag bzw. entsprechende Planun- gen mündende Bewusstseinsveränderung Quellen Radikalismus als Ideologie fordert die Politik heraus, führt von (irgendwie) radikalisierten Personen Die schnelle Verbreitung des neuen Be- jedoch nicht durch sich selbst konnte aus dem ideologisch-religiösen griffs in Europa, die Francesco Ragazzi, zur Gewalt Netzwerk muslimischer Parallelgesell- Universität Leiden, für Frankreich zuerst schaften, das spätestens in der „Affaire in politischen Ansprachen entdeckt hat,18 ein Merkmal also, das z. B. für Kruglanski Merah“ (2012) in Frankreich in Erschei- ist kein der Sache nach zwangsläufiges & Webster akzidentell ist. Durch die tra- nung getreten war, herausgelöst werden. Resultat einer zunehmenden wissen- gende Rolle der Gewalt muss jedoch auch (Anders die Bewertung von Rik Coolsaet, schaftlichen Beschäftigung mit den Ent- der Terminus selbst sprachlich ergänzt der dem niederländischen Geheimdienst stehungsbedingungen des Terrorismus werden und führt zu missverständlichen vorwirft, entgegen dem internen Stand und individuellen Rekrutierungsverläu- Fügungen wie „violent radicalization“ der EU-nahen Politikberatung in weiteren fen. Diese Themen kannte die vergan- oder „gewelddadige radicalisering“, die Lageberichten den „radikalen Islam“ im- gene Extremismus/Terrorismus-Forschung dem jeweiligen Sprachempfinden wider- mer noch als Bedrohung eingeordnet zu durchaus. Noch 2002 veröffentlichte der sprechen. Denn der Radikalisierung ge- haben.)24 Bremer Kriminologe Lorenz Böllinger eine nannte Prozess müsse nicht, was ein Ei- Entislamisierung Abhandlung mit dem Titel „Die Entwick- genschaftswort in europäischen Sprachen lung zu terroristischem Handeln als psy- zumeist nahelegt, selbst gewalttätig sein. Belege für unsere Hypothese sind nicht chosozialer Prozess“ 19, in der es um das Coolsaet vermutet den Ursprung des schwer zu finden und treten v. a. dort Wechselspiel subjektiver und objektiver Radikalisierungsbegriffs und seines un- hervor, wo die EU-Kommission den un- Momente geht, das den Weg in den (lin- aufhaltsamen Aufstiegs in belgischen erwünschten Wortgebrauch zu unterbin- ken) Terrorismus kennzeichnet. Bietet der und niederländischen Geheimdienstkrei- den versucht. So wendet sie sich in einer Radikalisierungsbegriff neue analytische sen. Ein nach dem Mord an Pim Fortuyn Mitteilung für das Europäische Parlament, Perspektiven? Dies schien auch der von (2002) entstandener Bericht erwähnt Ra- in der auch die Einberufung des ECEGVR der EU-Kommission beauftragten Exper- dikalisierungsprozesse eher beiläufig. Sie angekündigt wird, gegen den Begriff „is- tengruppe nicht auf der Hand zu liegen. spielen eine Rolle zur Beschreibung von lamischer Terrorismus“. Es könne nicht Zwischen den Zeilen eines erst 2008 ver- Rekrutierungsversuchen Al-Qaida-naher zugelassen werden, hebt die Kommission öffentlichten Kurzberichts (ein ausführli- Personen für den bewaffneten Kampf emphatisch hervor, dass einige „Indivi- cher ist nicht mehr zustande gekommen) (Coolsaet 2016, S. 11), nicht aber als duen“ ihre Verbrechen im Namen einer liest man das Befremden einiger Teilneh- Auswirkungen spezifischer Milieus oder Religion rechtfertigten und damit einen mer darüber, mit welcher Verve der Auf- muslimischer Gemeinschaftsbildungen. „Schatten“ auf diese Religion fallen lie- traggeber einen Begriff etablieren will, der Im Kontext dieses Berichtes des nieder- ßen.25 den Terrorismusforschern bislang nicht so ländischen AIVD, der mittlerweile öffent- Der Begriff Radikalisierung ermöglicht recht in den Sinn gekommen war und der lich zugänglich ist, beeindruckt gleich- gleichsam eine „Entislamisierung“ des angesichts von links‑ und rechtsterroristi- wohl, mit welcher Intensität das Innen- Sprachgebrauchs bei islamistisch mo- schen Vorfällen bzw. separatistischer „Mi- ministerium im Begleitschreiben an die tivierten Attentaten, eine Aufgabe, die litanz“ in Europa in der Vergangenheit nie Zweite Kammer die Wortwahl aufnimmt aus Sicht der Kommission sowie der EU- zur Debatte stand.20 Kürzlich hat sich Rik und aus der Bindung an Rekrutierungs- Staaten durchaus nicht hinter zielführen- Coolsaet (Universität Gent), Mitglied des verläufe löst.23 Gewiss ist den Diensten den Bekämpfungsstrategien des „home Gremiums, zu einigen Details des Kurz- Belgiens und der Niederlande schon vor grown terrorism“ zurückstehen durfte. berichts und dem „schwer zu fassenden“ dem Fortuyn-Mord nicht entgangen, dass Wenn Ragazzi den Wandel der politischen Radikalisierungsbegriff geäußert.21 Die islamistisch geprägte und parallelweltlich Rhetorik in Frankreich vom „lutte contre de facto Auflösung der Expertengruppe sich entwickelnde Viertel eine abstrakte l’Islam radical“ zum „lutte contre la radi- durch Jacques Barrot sei, so Coolsaet, we- Gefahr für die innere Sicherheit darstellen calisation“ konstatiert, so entspricht dies der durch den Inhalt noch durch die Po- könnten. Einen „Kampf gegen den radika- der Strategie, den Islam (und nicht nur sition einiger Mitglieder, die evtl. die ter- len Islam“, wie er in Frankreich unter Prä- den „radikalen Islam“) aus der Schussli- minologische Vorgabe des Auftraggebers sident Sarkozy noch kolportiert werden nie medial aufgeheizter Debatten zu zie- unterlaufen wollten, begründet.22 Bemer- konnte, wollte man in den beiden sehr hen. Dass dies dem besonderen Respekt kenswert ist jedenfalls, dass das Gremium liberal orientierten Staaten ebenso wenig gegenüber einer Weltreligion geschuldet die Aussagekraft des Begriffs gleich zu propagieren wie in Deutschland. Wenn ist, wie die moralisch aufgeladene EU-Ver-

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lautbarung glauben macht, mag man an- men der europäischen Sicherheitspolitik „seizing and freezing“ birgt allerdings das nehmen, zweifellos spielen aber auch an- Auslöser einer strategischen Neuorientie- Risiko, Fehleinschätzungen nicht mehr dere Überlegungen eine Rolle. Eine häufig rung. Sie musste unter hohem Zeitdruck korrigieren zu können. Die kommuni- geäußerte und auch von vielen Fachleu- erfolgen, eine in der Forschung meist zierten Gründe für den Angriff auf den ten geteilte Sorge besteht darin, eine als nachteilig wirkende Variable, die im Rah- Irak – Massenvernichtungswaffen in der „Islamophobie“ bezeichnete Stimmung men politischer Entscheidungsprozesse Verfügung eines Machthabers – bilden könnte unter vielen Europäern überhand jedoch nicht ungewöhnlich ist. hierfür ein signifikantes Beispiel. Im Rah- nehmen und zu Verwerfungen Bar Yosef & Kruglanski haben am Bei- men der tatsächlichen und sprachlichen spiel des Yom-Kippur-Krieges (Okt. 1973) Umorientierung der EU-Politik spielte die Den Islam aus der gezeigt, wie es aufgrund des frühen Fixie- wissenschaftliche Expertise keine unmaß- Schusslinie medial rens von plausiblen Annahmen („free- gebliche Rolle. Wenn sich daher Ragazzi, aufgeheizter Debatten ziehen zing“) zu einem Zustand kognitiver Ge- am Rande selbst in diesen Vorgang in- schlossenheit („closed mindedness“) volviert, verwundert äußert, warum die des zumeist erwünschten Parteienspek- kommt, der seitens der Verantwortlichen Kommission im vorliegenden Falle zwar trums führen. Überdies besteht die Be- auf israelischer Seite zu fatalen Fehlein- einerseits wenig Neigung zeigte, alter- fürchtung, muslimische Gemeinschaften schätzungen führt.28 Neben der Variable native Meinungen zu berücksichtigen, würden schließlich doch zunehmend „Dringlichkeit“ („urgency“) spielt die Dau- andererseits aber einen hohen Aufwand mit Gewalt befürwortenden Handlungs- erhaftigkeit („permanency“) eine zentrale mit Expertisen und Experten betrieb, so strategien sympathisieren, etwa um ihre Rolle. Das in einem Zustand kognitiver Lebensweise zu erhalten, die sie durch Geschlossenheit zu fixierende Konzept Ergänzung repressiver unsensible öffentliche Debatten, polizei- muss, angesichts einer sich mutmaßlich Maßnahmen durch liche Maßnahmen oder anti-islamistische nicht verbessernden Sicherheitslage, dau- gesamtgesellschaftliche Parteien bedroht sehen könnten. Man erhaft tragfähig sein. Man bedenke, dass Prävention und Intervention mag solche Überlegungen teilen oder die Art der aktuellen Terroranschläge in auch nicht. Vor ihrem Hintergrund wird Frankreich noch außerhalb des Vorstellba- verkennt er sowohl die Bedeutung der die Entideologisierung der politisch favo- ren lag und der Ausnahmezustand als politisch geforderten Umorientierung als risierten und qua Auftrag wissenschaftlich „worst case“ galt. Die Aufgabe der Fach- auch sozialpsychologische Erkenntnisse zu stützenden Terminologie nachvollzieh- beamten Frattinis bestand darin, unter Kruglanskis. In Experimentalsituationen bar. Unsere Hypothese wird schließlich Beachtung aller polizeilichen und geheim- zeigen bestimmte Personen („high need auch dadurch belegt, dass diejenigen dienstlichen Erkenntnisse Elemente einer for closure individuals“) typischerweise Experten mit Insiderkenntnissen, die die Doppelstrategie zu formulieren, die, sehr vor dem Status kognitiver Geschlossenheit Steuerung des öffentlichen Bewusstseins verkürzt ausgedrückt, die Fortsetzung und ein signifikant intensiveres Informations- aus moralisch gut befundenen Gründen Intensivierung repressiver Maßnahmen aufnahmeverhalten („precrystallization an sich nicht ablehnen, im Falle des Ra- durch einen gesamtgesellschaftlichen An- seizing“) als andere.30 Unterstellt, dass dikalisierungskonzepts konstatieren, sie satz bewährter Prävention und Interven- das Lagebild der Fachadministration, die sei gescheitert. Die Verbindung zwischen tion ergänzen sollte.29 Ein solcher Ansatz ebenfalls über solide wissenschaftliche islambezogenen Phänomenen und Radi- erschien notwendig – ohne dass man die- Kompetenz und regelmäßig mehr Detail- kalisierungen werde trotz aller Dementis ses Ziel explizit erwähnen konnte –, um wissen als die praxisferne Universitätsfor- immer wieder hergestellt.26 die Spannungen in der multikulturellen schung verfügt, abgeschlossen war („be- Gesellschaft, die als Kollateralschäden re- lief crystallization“), so musste angesichts Need for (specific) closure pressiver sowie militärischer Interventio- der Bedeutung die Stunde der externen Es ist aufschlussreich, die (angeblich) ge- nen zu erkennen waren, zu dämpfen. In Experten schlagen. Betrachtet man den scheiterte Rhetorik mit dem sozialpsycho- diesem Kontext, der durch unzählige Kon- Kontext, in dem der Radikalisierungsbe- logischen Instrumentarium von Kruglanski ferenzen, Debatten und Gremienarbeiten griff eine zentrale Rolle spielen konnte, & Webster zu skizzieren, mit dem die Au- geprägt wurde, erzeugte der Begriff „Ra- so sollte der externe Sachverstand diesen toren die Prozesse der Bildung (oder auch dikalisierung“ eine ganz außerordentliche natürlich nicht in Frage stellen, sondern einer bewussten Vermeidung) „kognitiver Sogkraft. Er versprach Möglichkeiten der plausibilisieren, begrifflich und empirisch Geschlossenheit“ untersuchen.27 Ihr Radi- Beschreibung und Erklärung der aktuellen entfalten und insbesondere mit konkreten kalisierungsmodell gewinnt dadurch an extremistischen/terroristischen Bedrohung Empfehlungen für weitere Forschung und Überzeugungskraft, dass in ihm durch und öffnete ein Füllhorn an nichtrepressi- Praxisprojekte versehen. Insofern mussten die Komponenten „collectivistic shift“ und ven, sozialintegrativen Handlungspers- die Zwischenergebnisse der ECEGVR für „need for closure“ sozialpsychologisch pektiven. An vorhandene sozialpädagogi- den französischen Nachfolger Frattinis gut analysierte intra‑ und interpersonale sche Konzepte (z. B. Anti-Aggressions- eine herbe Enttäuschung gewesen sein. Phänomene integriert sind. Radikalisie- Trainings), Projekte der Gewaltprävention, Der EU-Kommissar und Vollblutpolitiker rungsprozesse werden dadurch gleichsam vielfältige Ansätze der politischen Bildung Barrot mit reichhaltiger kommunalpoliti- normalisiert und dem menschlichen Be- und des interkulturellen Dialogs ließe sich scher Erfahrung hatte in Frankreichs „été streben, eine „feste Burg“ zu haben, ein- Anschluss gewinnen. chaud“ (2005) gewiss mehr Konfliktpo- gefügt. Wie im Kurzbericht der ECEGVR Nach dem sozialpsychologischen Mo- tential erkannt, als die über die Krawalle angedeutet, war (spätestens) der Madri- dell Kruglanskis sind hier alle Elemente erstaunte Öffentlichkeit wahrzunehmen der Terroranschlag für die EU-Kommission versammelt, die den Zustand „closed bereit war.31 Entsprechend gering dürfte und ihre koordinierende Funktion im Rah- mindedness“ konstituieren. Ein frühes seine Geduld im Mai 2008 gewesen sein,

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die künftigen Erkenntnisprozesse des be- mit analytischer Präzision nicht verwech- „Radikalisierung“ zwar nicht mehr ex- auftragten Gremiums abzuwarten. An selt werden darf.35 Insoweit ist der EU- pressis verbis mit dem Islam und einem sich kam jedoch das ECEGVR den Absich- Fachadministration zweifellos ein „smart unerwünschten „Bedeutungskontinuum“ ten der EU-Kommission entgegen, da die move“ gelungen. verbunden ist, aber implizit und durch Teilnehmer es mehrheitlich ablehnten, in verschiedene Kontextvariablen die Assozi- Perspektiven ation vom „gefährlichen Moslem“ verfes- Radikalisierung eine Art Durch die zunächst wenig beachtete Ar- tigt. Schließlich haben auch die Urheber (langwieriger) „Sozialisation“ beit der ECEGVR ist die um 2004 poli- der Terrorstrategie bislang nicht daran mit komplexen Wirkfaktoren tisch favorisierte Neuorientierung des gedacht, dem von ihnen bekämpften öffentlichen Sprachgebrauchs hervorge- Westen durch ideologisch-religiöse Zu- der Ideologie (= dschihadistischer Salafis- treten. Beschränkte sich diese zunächst rückhaltung entgegenzukommen. Aus- mus oder Islamismus) eine „primäre Trieb- auf die Terminologie der Fachleute und wege bieten etwa die noch offen gelas- kraft“ von Entwicklungsverläufen in den einiger Innenminister, so etablierte sie senen Wege einer Pathologisierung (z. B. Terrorismus zu sehen.32 Radikalisierung sich schnell in den Medien. Für die Neu- durch eine „Christianophobie“ genannte aber als eine Art (langwieriger) „Soziali- orientierung paradigmatisch ist der Be- Störung), die Auflösung religiös akzen- sation“ mit komplexen Wirkfaktoren in griff „Radikalisierung“, der – abgesehen tuierter Motivation in einem allgemeinen eine unbestimmte Allgemeinheit zu erhe- von einer nur sporadischen Verwendung Kontext des sektenbezogenen Fanatismus ben, konnte dem dringenden Bedarf eines in wissenschaftlichen Texten – zuerst in (in Frankreich: „dérives sectaires“) oder Aktionsplans („need for specific closure“) Geheimdienstberichten auftauchte, um kaum gerecht werden. Es wird auch der Veränderungen in islamistisch geprägten Assoziation vom „gefährlichen Sache nicht gerecht – und führt aktuell Milieus zu kennzeichnen. Die neue Ter- Moslem“ wird durch den zu eher hilflos wirkenden Verformungen minologie beflügelte weniger die Erfor- Begriff „Radikalisierung“ des Begriffs (z. B. „Turboradikalisierung“) schung neuer Sachverhalte („home grown verfestigt –, wenn man die zweifellos stattfindende terrorism“, „Selbstradikalisierung“) als das Anpassung und Bekenntnisbereitschaft in politische Bemühen, Solidarisierungs‑ und die Umdefinition des I. S. als „super gang“ islamistisch geprägten Milieus (Europol- Exklusionseffekte muslimischer Bevölke- und Erscheinungsform der organisierten Jargon: „toughening“) in über große Zeit- rungsgruppen in Europa zu vermeiden. Kriminalität (Egmont-Institut Brüssel). räume verlaufende Sozialisationsprozesse Diese Tendenzen sind insbesondere in Andere schon praktizierte Alternativen ausspannt. Frankreich zu beobachten, das seit eini- haben den Nachteil, dass sie sich aus Die deutsche Seite war an diesem Pro- gen Jahren im Fadenkreuz des islamistisch sprachlichen Gründen nicht europäisch zess ersichtlich nicht aktiv beteiligt. Die motivierten Terrorismus steht. verallgemeinern lassen. So missfällt z. B. vermutlich erste interne Studie des Bun- Die Neuorientierung des Sprachge- der in Frankreich sehr bekannten Dounia deskriminalamts (2006), die sich dem brauchs ist allerdings längst nicht ab- Bouzar, Gründerin eines Präventionsver- Radikalisierungsthema widmete, verband geschlossen. Schon 2006 hatte die EU- eins, auch der Begriff „Deradikalisierung“, es – wie die erwähnte niederländische Un- Kommission versucht, den jenseits von für den sie lieber so etwas wie „Anti-Rek- tersuchung – noch eng mit der dschiha- Sicherheitskreisen populären Begriff der rutierung“ benutzt wissen möchte.37 Für distischen Rekrutierung. Andere Gremien „root causes“/„causes profondes“ zu ver- Deutschland steht u. a. die Ersetzung der und Fachleute standen zur Verfügung meiden. Coolsaet glaubt, dass eher logi- Wendung „Terrormiliz Islamischer Staat“ und halfen, eine praktische Konkreti- sche Bedenken eine Rolle spielten, indem durch „Daech“ an, wie sie, Frankreich sierung einzuleiten und – etwa mit der der Begriff eine Art „kausaler“ Rechtferti- folgend, in vielen Staaten offiziell über- Konstituierung des „Radicalization Awa- gung für terroristische Handlungen liefern nommen wurde. Einige deutsche Zeitun- reness Network“ – öffentlichkeitswirksam könne (Coolsaet, S. 13, sowie persönli- gen und Einzelpersonen haben damit be- zu gestalten. Überdies war der Ball durch che Mitteilung an den Verf.). Wir deuten gonnen. Kürzlich hat auch ein ehemaliger die EU-Kommission in weite Kreise der dies ebenfalls anders. Denn zu den „root LKA-Leiter sich in dieser Zeitschrift für das Wissenschaft gespielt worden, die ihn – causes“ wurden ursprünglich stets (auch) eigenartig wertende Akronym eingesetzt obwohl zuvor „not widely used in social radikale Varianten des Islam gezählt. Die und sogar seine Leser aufgefordert, dies science“33 – mit Unterstützung beträcht- Verbannung des in vielen Bereichen fest ebenfalls zu tun.38 Zumeist sind solche licher Forschungsgelder nicht ungern auf- etablierten Begriffs wurde bald wieder Einzelinitiativen explizit mit der moralisch nahmen. Seitdem haben die westlichen aufgegeben. Prüft man etwa eine aktu- argumentierenden Position verbunden, Regierungen „Millionen“ (Coolsaet, nach elle dreisprachige Verlautbarung der EU- der Islam und (tendenziell alle) Muslime Fahrad Khosrokhavar „Milliarden“) Dollar Kommission (2016),36 so findet man „root gerieten ungerechtfertigt in Misskredit. investiert, um Persönlichkeitsprofile und causes“/„causes profondes“ – in der deut- Ob die politisch motivierten Sprach- Radikalisierungsverläufe durch die akade- schen Fassung mit „Wurzeln“ übersetzt, regelungen, die hier als solche nicht zu mische Welt untersuchen zu lassen.34 Wir worüber gewiss lange gegrübelt wurde – beanstanden sind, da sie zum politischen vertreten nicht die Auffassung, dass es (in durchaus an hervorgehobener Stelle einer Alltagsgeschäft gehören, im Sinne der erster Linie) der Drittmittelreiz gewesen Überschrift. Im erläuternden Text wird der verantwortlichen und irgendwann ein- ist, der die erfolgreiche Durchsetzung des Islam jedoch mit keiner Silbe erwähnt. Er mal vielleicht auch wirklich zur Verant- Begriffs begründete. Wenn er, wie ein- gehört eben nicht (mehr) unter den sozi- wortung zu ziehenden Kreise zielführend gangs behauptet, heute in aller Munde alwissenschaftlich geglätteten Begriff. sind, bleibt abzuwarten. Durch Rhetorik ist, so muss es wesentlich an der ihm Von kritischen Intellektuellen und man- mögen Konflikte gemildert werden, lösen eigenen Strahlkraft liegen, was freilich chen Politikern wird aktuell kritisiert, dass lassen sie sich dadurch nicht. Den Erfolg

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des Radikalisierungsbegriffs kann man 8 Kruglanski & Webster, a. a. O., S. 379. 263 – 283 sowie Kruglanski, Arie W. (2004). primär an seiner Etablierung ablesen. Es 9 Maugham, William S. (1978). Silbermond und The psychology of closed mindedness. New Kupfermünze. Berlin: Aufbau-Verl. York: Psychology Press. „Closed minded- wäre überzogen zu behaupten, es sei zu- 10 Vgl. etwa Kuntsche, Emmanuel N. (2001). ness“ könnte auch mit „innerer Sicherheit“ nächst ein überzeugend klingendes Wort Radikalisierung? Ein Interpretationsmodell übersetzt werden, durch die – nur bezogen „geprägt“ und dann erst die Ermittlung jugendlichen Alkoholkonsums von 1986 bis auf Einzelne oder Gruppen – die bedeut- von Sachverhalten unternommen wor- 1998 in der Schweiz. Sucht 47, 2, 393 – 403. same emotive Komponente der „Geschlos- 11 Lehmann, Karl (1962). Vom Ursprung und senheit“ hervorzuheben wäre. den, die ein treffender Ausdruck bezeich- Sinn der Seinsfrage im Denken Martin Heide- 28 Kruglanski 2004, S. 157 ff. net.39 Trotz zahlreicher Studien und Mo- ggers. Freiburg i.Br.: Universitätsbibliothek (2. 29 Insoweit führt auch Rik Coolsaets Erkenntnis dellbildungen mit eher geringem Ertrag korr. Fass. 2003). („All radicalisation is local“) wieder zurück kann sich der Radikalisierungsbegriff auch 12 Siehe www.krimz.de. (Freigegeben seit Früh- auf die in den 1990er-Jahren sich entfaltende jahr 2016). kommunale Kriminalprävention, die sich aus wissenschaftlicher Sicht im Rahmen 13 Siehe https://www.ncjrs.gov/App/AbstractDB/ heute in Deutschlands westlichen Nachbar- empirischer Forschung noch bewähren. AbstractDBSearch.aspx. (Seit 2015 nur noch ländern mit einer expandierenden „Deradikali- Sich dabei durch die Politik nicht gängeln begrenzt nutzbar.) sierungsindustrie“ verbindet. oder auf die Rolle der bloßen Exegese von 14 Vgl. z. B. den „Radikalenerlass“ (vs. „Extremis- 30 Kruglanski & Webster 1996, S. 279; Kru‑ tenbeschluss“) des Bundes und der Länder glanski 2004, S. 16 pass. In weiteren Experi- Vorgaben einengen zu lassen, sollte ein (1972), durch den das Grundgesetz bekämp- menten haben die Autoren den Kristallisati- vorrangiges Anliegen freier Forschung fende Personen vom öffentlichen Dienst fern- onspunkt zu beschreiben versucht, an dem sein. gehalten werden sollten. „need for closure“ in „closed mindedness“ 15 Lenin, W. I. (1968). Der „linke Radikalismus“, umschlägt. Möglicherweise ist dies der Eintritt die Kinderkrankheit im Kommunismus. Berlin: durchgreifend empfundener Überzeugung Kontakt Dietz-Verl. („judgmental confidence“, „subjective confi- w.sohn@krimz 16 Neumann, Peter (2013). The trouble with dence“) wie er auch im Rahmen von Radika- radicalization. International Affairs, 89, 4, lisierungsprozessen und ideologisch gefärbter Anmerkungen S. 877. Anpassung einen wichtigen Stellenwert hat 1 „… il semble que le tueur se soit radicalisé 17 Eine von drei Übersetzungen des Begriffs (Kruglanski & Webster 1996, S. 276; Kruglan‑ très rapidement“ [Le Figaro vom 16.7.2016]. „violent radicalization“, die die Terminolo- ski 2004, S. 66). 2 Wiesbadener Kurier vom 20.7.2016. Diese gie-Datenbank des Europäischen Parlaments 31 Vgl. Sohn, Werner (2015). Riots, émeutes, Behauptungen folgten der Vorgabe, dass für den deutschsprachigen Raum anbietet. kravallerna … Zur Kriminologie des Krawalls eine Radikalisierung von „Flüchtlingen“ nur Am 20. Nov. 2015, eine Woche nach den (Teil I). Die Polizei – Fachzeitschrift für die öf- in Deutschland stattgefunden haben konnte. schwersten Terroranschlägen in Frankreich fentliche Sicherheit, 106, 12, 131 – 135. Spätestens seit dem Fall „Dschaber al-Bakr“ (130 Tote und 100 Schwerverletzte), präsen- 32 Man differenziert recht feinsinnig: „The group (s. https://de.wikipedia.org/wiki/Dschaber_al- tierte man den Begriff als „term of the week“: clearly distanced itself from … considering Bakr) im Okt. 2016 sind auch außerhalb von http://termcoord.eu/2015/11/iate-term-of- ideology as a primary driver. Ideology acted as Sicherheitskreisen andere Konstellationen the-week-violent-radicalisation/. a vehicle …, but not really as a driver“ (Cool- kommunikationsfähig geworden. 18 Ragazzi, Francesco (2014). Vers un „mul- saet 2016, S. 24). Zutreffend ist aber wohl 3 Begriff von Matenia Sirseloudi, Mitarbeiterin ticulturalisme policier“? La lutte contre la die Minderheitsmeinung Neumanns: „… in des Instituts für Interkulturelle und Internatio- radicalisation en France, aux Pays-Bas et au practice, it is impossible to separate political nale Studien der Universität Bremen, den man Royaume-Uni. Paris: CERI. beliefs from political action …“ (Neumann äußerst selten liest, da er der in Deutschland 19 Böllinger, Lorenz (2002). Die Entwicklung 2013, S. 879). verbreiteten Rhetorik „Das hat nichts mit dem zu terroristischem Handeln als psychosozia- 33 Reinares et al. 2008, S. 5. Islam zu tun“ zuwiderläuft. (Vgl. Sirseloudi, ler Prozess. Kriminologisches Journal 34, 2, 34 Khosrokhavar, Farhad (2016). Radikalisation. Matenia (2015). Radikalisierung gewaltbe- 116 – 123. Interessanterweise taucht der Radi- Hamburg: EVA. (S. 31) reiter Dschihadisten in Europa und Konflikte kalisierungsbegriff nur einmal auf, und zwar 35 Daher fühlte sich auch manch gefragter er- in der islamischen Welt. In Zoche, Peter in Verbindung mit einer Teilgruppe von inhaf- fahrener Experte terminologisch überrollt u. a. (Hrsg.), Sichere Zeiten? Gesellschaftli- tierten Terroristen. und „frustriert“ (Schmidt, Alex (2013). Radi- che Dimensionen der Sicherheitsforschung 20 Reinares, Fernando et al. (2008). Radicalisa- calisation, De-radicalisation, counter-radica- (S. 265 – 288). Berlin: Lit-Verl. tion processes leading to acts of terrorism. lisation. A conceptual discussion. La Haye: 4 Eine 2012 für den Dienstgebrauch erstellte A concise report/prepared by the European International Centre for Counterterrorism. Studie des Bundeskriminalamts trägt sogar Commission’s Expert Group on Violent Radi- [S. 1]) den gespenstisch wirkenden Titel: „Radikali- calisation (15 May 2008). 36 „Mehr Maßnahmen auf EU-Ebene zur effizi- sierung im Stillen“. 21 Coolsaet, Rik (2016). All radicalisation is local. enteren Bekämpfung von Radikalisierung und 5 Coolsaet, Rik (2016). All radicalization is local. The genesis and drawbacks of an elusive con- Gewaltbereitschaft“ vom 14. Juni 2016. The genesis and drawbacks of an elusive con- cept. Brussels: Royal Institute for International 37 „Nous préférons parler de ‚désembrigade- cept. Brussels: Royal Institute for International Relations. ment‘ plutôt que de ‚déradicalisation‘ puisque Relations. (S. 31) 22 Persönliche Mitteilung an den Verf. Eine an- nous n‚employons plus le terme ‘islam radi- 6 Christmann, Kris (2012). Preventing religious dere Bewertung vertritt Ragazzi 2014 (S. 12). cal‚“ (Bouzar, Dounia (2015). Comment sortir radicalisation and violent extremism. A sys- 23 Algemene Inlichtingen‑ en Veiligheidsdienst de l‘emprise „djihadiste“? Ivry-sur-Seine: Les tematic review of the research evidence. Lon- (2002). Rekrutering in Nederland voor de ji- Éditions de l‘Atelier [S. 26]) don: Youth Justice Board. Zick, Andreas & had van incident naar trend. Leidschendam: 38 Kranz, Uwe (2016). 1000 Tage DAESH. Stra- Böckler, Nils (2015). Radikalisierung als Insze- AIVD. tegischer Schwerpunkt der kommenden nierung. Vorschlag für eine Sicht auf den Pro- 24 Coolsaet, S. 13 Jahre. Teil 1: Auferstanden aus Ruinen – die zess der extremistischen Radikalisierung und 25 Mitteilung der EU-Kommission [COM (2005), fünfte Welle. Kriminalistik, 70, 5, 300 – 308. die Prävention. Forum Kriminalprävention, 3, 313] vom 21. Sept. 2005. (Zit. n. Cool‑ In Frankreich sind nicht alle den Vorgaben 6 – 16. Mit einer deutschsprachigen Übersicht saet, S. 17; Übers. W. S.). Schon Anfang 2004 der Politik gefolgt. Einige Zeitungen (u. a. der von Christmann und eigenem Modellansatz hatte die irische Ratspräsidentschaft in einem „Figaro“) verweigern bislang die Anpassung. s. a. Köhler, Daniel (2016). Die Dynamik der vertraulichen Schreiben davor gewarnt, den Freilich ist die militärische Zerschlagung des gewalttätigen Radikalisierung. Ein theoreti- Islam als Religion in die Terrorismusdebatte staatsähnlichen I. S. in naher Zukunft zu er- sches Modell für Praktiker. Kriminalistik, 70, 2, hineinzuziehen (Coolsaet, S. 12 f.). warten, sodass „Daech“ mit den versprengten 136 – 141. 26 Coolsaet, S. 27. Diadochen auch rhetorisch in Deutschland 7 Kruglanski, Arie W. & Webster, David (2014). 27 Ausführlich dargestellt in Kruglanski, Arie Einzug halten könnte. The psychology of radicalization. Zeitschrift W. & Webster, Donna M. (1996). Moti- 39 So der Subtext im Kurzbericht von Reinares für internationale Strafrechtsdogmatik 9, 9, vated closing of the mind. „Seizing“ and et al.: „ … originated in EU policy circles … 379 – 388. „freezing“. Psychological Review, 103, 2, coined after the Madrid bombing …“ (S. 5)

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Kriminalistik 2/2017 Radikalisierung 73 Prävention gegen Radikalisierung Nachhaltigkeit am Beispiel eines Theaterprojekts

Von Melanie Wegel

Die Themen Radikalisierung und Islamismus werden gegen- Grundlagen für gelingende wärtig in der breiten Öffentlichkeit kontrovers diskutiert. Sie Prävention wurden auch durch massenhafte Übergriffe in der Silvester- Die Grundlagen für nachhaltig wirkende nacht 2015 angefeuert, als in mehreren deutschen und auch Präventionsprojekte sind einerseits in den Städten in der Schweiz, junge Männer, vornehmlich aus dem Beccaria-Standards festgehalten.4 Diese sehen vor, dass vorab eine Problemdefi- muslimischen Kulturkreis, junge Frauen sexuell und verbal nition stattfindet, zudem Projektziele und belästigt sowie beraubt hatten. Auch vor dem Hintergrund auch die Zielgruppen definiert werden. der Attentate mit Bezug zum sogenannten Islamischen Staat Nach einer Projektkonzeption soll zu- spielen Radikalisierung und Islamismus eine zentrale Rolle, gleich eine Evaluation stattfinden, wobei dies nicht explizit eine Wirkevaluation sein nicht nur im Bereich der Repression, sondern auch in der muss. Vielmehr kann auch der Prozess Prävention. Für die Praktiker stellt sich die Frage, auf welche der Implementierung begleitet werden, Art und Weise (junge) Menschen mit Blick auf das Thema re- da sich Wirkungen mit Blick auf Verhal- tens‑ und Einstellungsänderungen zeitlich ligiöse Radikalisierung sensibilisiert werden können und dies nur sehr schwer messen lassen und nicht zudem nachhaltig geschehen kann. auszuschliessen ist, dass zeitgleich andere Massnahmen oder Einflüsse Veränderun- Ein Orientierungspunkt hierfür findet sich Zielgruppen beim Thema Radikalisierung gen mit bewirken. Aus weiteren Quellen in den sogenannten Beccaria Standards.1 sind einerseits junge Menschen, primär (Sherman, 2006, Arbeitskreis Vorbeugung Diese sehen eine stufenweise Entwicklung Schüler, aber auch Professionelle aus der und Sicherheit, 2002)5 ist zudem bekannt, von Präventionsprojekten vor, ausgehend Jugendarbeit und Personen in Schlüssel- dass Kriminalprävention vor allem dann von der Problembeschreibung, der Defi- positionen wie zum Beispiel Imame.2 wirksam ist, wenn Maßnahmen und Inter- nition von Zielgruppen, bis hin zur Be- Die gemeinnützigen Präventionsvereine ventionen nicht nur punktuell und zeitlich gleitevaluation und entsprechenden Emp- in der Region Rhein-Neckar: Kommunale begrenzt angelegt sind, sondern möglichst fehlungen für die Praxis, die auch eine Kriminalprävention Rhein-Neckar, Sicheres frühzeitig und langfristig interveniert wird. Adaption eines Projektes beinhalten kön- Heidelberg und „Sicherheit in Mannheim“ Für den Bereich der schulischen Prävention nen. Mit Blick auf das Thema Radikalisie- fördern aktuell ein Theaterprojekt gegen bedeutet dies, dass Themen vertieft wer- rung ergibt sich die Problembeschreibung Radikalisierung, indem eine begrenzte den, Regeln in schulischen Curricula ver- aus den gegenwärtigen Vorkommnissen, Anzahl von Theateraufführungen mit ei- ankert und Projekte längerfristig angelegt namentlich Attentate, sexuelle Übergriffe, nem finanziellen Zuschuss unterstützt sind. Beispielhaft sei hier die Mobbingprä- bis hin zur Rekrutierung von jungen Men- werden. Förderbedingung ist, dass sich vention zu nennen, oder auch Projekte, die schen, die sich in Ländern des Vorderen die Schulen dazu verpflichten, an einer die Sozialkompetenz fördern sollen. Orients zu Kriegern ausbilden lassen. Die Online-Befragung im Rahmen einer Be- Beim hiesigen Projekt, welches im Rah- gleitevaluation teilzunehmen, die von dem men einer Begleitevaluation gegen Radi- Präventionsverein „Kommunale Kriminal- kalisierung fokussiert wurde, besteht die prävention Rhein-Neckar“ initiiert wurde. Problematik, dass es sich um ein Theater- Dr. Melanie Es handelt sich hier um ein Theaterpro- projekt handelt, welches in einer Schule, Wegel, M. A., jekt, welches für den Jugendbereich von einmalig und lediglich über die Zeitdauer Kriminologin, Soziologin der Regisseurin Gerburg Maria Müller einer Stunde, aufgeführt wird. Es stellt und Erzie­ konzipiert wurde, mit der Zielsetzung sich die Frage: Wie kann hier erreicht wer- hungswissen­ junge Menschen für die Themen Radika- den, dass Effekte nicht verpuffen, das Ziel- schaftlerin, lisierung, Liberalisierung sowie die teils publikum dennoch sensibilisiert wird und Projektleite­ konträre Rolle der Frau im Islam und in insbesondere durch die Form der Theater- rin/Dozentin, ZHAW, Zü­ westlichen Gesellschaften zu sensibili­ pädagogik dieses Angebot nicht nur als rich/Schweiz sieren.3 Unterhaltung wahrgenommen wird?

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Theaterpädagogik und einen geraden Weg? Über diese Fra‑ Satire von Jan Böhmermann thematisiert Prävention gen und mehr streiten Cem, Paul und wurde. Zudem wurde eine Einstellungs- Johanna. Auch von den Zuschauern frage zu den Übergriffen von Männern Die Theaterpädagogik ist eine eigenstän- wird eine Stellungnahme gefordert.6 aus dem arabischen Kulturkreis auf junge dige Disziplin, die sich zwischen den Be- Frauen in Deutschland in der Silvester- reichen Theater und Pädagogik bewegt. Konzipiert wurde das Theaterstück von nacht 2015 eingefügt. Im theaterpädagogischen Prozess können Gerburg Maria Müller und Alessandra Bei der Werteskala von Helmut Klages, spezifische Problemfelder angesprochen Ehrlich. Ziel soll es sein, einerseits die die durch die kriminogenen Werte von werden und gezielt, unter Berücksichti- Radikalisierung von Jugendlichen nach- Hermann (2003)7 erweitert wurde, han- gung der jeweiligen Zielgruppe, sensibili- zuzeichnen und das Publikum dazu zu delt es sich um ein valides Erhebungsin- siert werden. Mit den Mitteln der Schau- bringen über Themen wie Religion, Frau- strument, um individuell reflexive Werte spielkunst werden Botschaften vermittelt, enrolle, Islam und die Zukunft nachzu- zu messen. Die kriminologische Werte- die schon allein durch den Ort der Veran- denken. Das Theaterteam verwendet hier forschung geht davon aus, dass für die staltung (Schule) pädagogischen Charak- einige Mittel, die Jugendliche ansprechen. Ausprägung von Werten eines Jugendli- ter haben und soziales Lernen initiieren Die Sprache: Es wird bewusst eine chen vor allem die sozialstrukturellen Be- können. Es geht also darum, bestimmte junge Sprache gewählt, mit der sich Ju- dingungen, die Prosperität des jeweiligen Themen für eine spezifische Zielgruppe gendliche identifizieren können. Vielfach Landes und der soziale Status der Fami- mit Elementen, die diese Zielgruppe an- wird hier auch von „Kurz-deutsch“ ge- lie wesentlich sind. Die grundlegenden sprechen, zu sensibilisieren. Wichtig ist sprochen, indem beispielsweise Artikel bei Werte und damit verbundene Einstellun- hierbei der Austausch über die Thematik, Hauptwörtern weggelassen werden oder gen (auch) zu „Gut und Böse“, „Recht oder zumindest ein Feedback zum Ende auch Kraftausdrücke eingebaut werden. und Unrecht“, „Konformität und Krimi- der Vorstellung. Für das Theaterprojekt Musik und Kleidung: Die Protagonis- nalität“ sind bei normalem Entwicklungs- zur Sensibilisierung gegen Radikalisie- ten befassen sich mit Musik, die von der gang von Kindern geschlechtsunabhängig rung, waren die Kriterien der Veranstal- Zielgruppe präferiert wird und die im Ver- mit ca. 10 Jahren ausgebildet. Als im Kern ter die Vor‑ und Nachbereitung zentraler lauf des Stücks auch immer wieder einge- stabile individuelle Wertorientierungen Themen wie „Islamismus“, „Liberalität“ spielt wird. Die Schauspieler tragen Klei- bzw. Werthaltungen sind um das 15. Le- sowie „Gleichberechtigung“ und die Rolle dung, die der der Zielgruppe entspricht. bensjahr ausdifferenziert. Die Variablen, der Frau, durch die Schulen. Die Schulen Bei Johanna wird die Wandlung an der welche liberale Einstellungen messen sol- Kleidung am offenkundigsten. Zu Beginn len, stammen aus einer Sekundäranalyse, Projekt ist nur bei Vor- und des Stücks trägt sie einen Minirock, zum welche sich mit unterschiedlichen Einstel- Nachbereitung in der Schule Ende des Stücks eine Burka. lungen von Migranten in Deutschland, im nachhaltig Dramaturgische Besonderheit: Nicht Herkunftsland und Deutschen befasste. Cem der Migrant radikalisiert sich, son- mussten sich verpflichten eine pädagogi- dern sein deutscher Freund Paul. Dies Einstellungen zur Rolle der sche Begleitung der Veranstaltung zu ge- entspricht durchaus der Realität, da viele Frau, vorehelichen währleisten – auch um finanzielle Unter- junge Menschen ohne Migrationshinter- Geschlechtsverkehr, stützung hinsichtlich der Kosten der Auf- grund zum Islam konvertieren und sich gleichgeschlechtlicher Ehe führung zu erhalten. Im Folgenden soll dann ggf. auch radikalisieren. Dramatur- aufgezeigt werden, dass das Projekt nur gisch wird auch die Rolle der Johanna in- Diese beinhalten die Rolle der Frau, vor- dann nachhaltig war, indem eine solche sofern interessant dargestellt, indem sich ehelichen Geschlechtsverkehr, sowie die Vor‑ und Nachbereitung geleistet wurde. Johanna als junge deutsche Frau für den Einstellung zur gleichgeschlechtlichen Islam begeistert und nicht etwa durch Ehe. Zusätzlich wurden als Strukturdaten Das Theaterprojekt „Jungfrau ohne Paradies“ den Partner „Paul“ dazu gezwungen wird noch das Geschlecht, Altersgruppen, die sich zu verschleiern, sondern sie dies aus Schulart sowie die Religionszugehörigkeit Paul träumt davon, ein berühmter Rap‑ freien Stücken tut. und die praktizierte Religionsausübung per zu werden, der Erfolg will sich al‑ erfragt. Die Evaluation lerdings nicht einstellen. Er fühlt sich Ergebnisse benachteiligt, sucht Halt im islami‑ Die erste Befragung fand vor dem The- schen Glauben und radikalisiert sich aterstück statt. Ziel dieser ersten Befra- Die Begleitevaluation wurde als Online- schnell. Cem, sein bester Freund, hält gung war es, mehr über die Adressaten Befragung der teilnehmenden Schülerin- von dieser extremen Schwarz-Weiß- des Theaterstücks zu erfahren. Was für nen und Schüler konzipiert. Es wurden Weltsicht überhaupt nichts. Johanna, Schüler schauen das Theaterstück an, wie zwei Befragungen durchgeführt, wobei aus bürgerlichem Elternhaus, ist total denken sie über Gleichberechtigung, Libe- eine prospektiv war, um primär eine Be- verliebt in Paul. Aus Rebellion gegen ralität, Religion. Welche Werte präferieren schreibung der Teilnehmer und deren Ein- ihre Eltern, deren Fremdenfeindlichkeit sie? Zudem wurden Einstellungsfragen stellungen zu den zentralen Themen, wie sie fassungslos macht, steigert sie sich gestellt, die eine Bewertung des Attentats Religion und Radikalisierung zu erhalten. zunächst in den religiösen Fanatismus auf die Redakteure der Zeitschrift „Char- Die zweite Befragung war retrospektiv hinein. Die konträren individuellen lie Hebdo“ thematisierten. Weiter wurde angelegt und befasste sich einerseits mit Pläne werden offensichtlich. Woran eine Einstellungsfrage zu der Debatte um Verständnisfragen zur Handlung des The- erkennt man frühzeitig eine Einbahn‑ die verbalen Angriffe auf den türkischen aterstücks, andererseits wurden Fragen straße und wie findet man zurück auf Präsidenten Erdogan gestellt, der in einer zur Vor‑ und Nachbereitung gestellt.

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Insgesamt haben bislang 591 Personen an der Online-Befragung teilgenommen, welche vor dem Besuch des Theaterstücks mit den Schülern stattfand. Hiervon wa- ren 50 % der Schüler männlich und 38 % Schülerinnen weiblich, der Rest hat zum Geschlecht keine Angaben gemacht. Wei- ter waren 30 % zwischen 13 und 14 Jahre alt, 56 % zwischen 15 und 16 Jahre und 13 % waren 17 Jahre und älter. Das The- aterstück wurde an einem Berufskolleg aufgeführt und auch an einer Haupt- schule. Diese haben jedoch nicht an der Befragung teilgenommen. Der überwie- gende Teil der Befragten (67 %) kommt aus der Haupt-/Realschule. Immerhin 27 % Schülerinnen und Schüler haben am Gymnasium teilgenommen. Ein weiterer Schaubild 1:Ausgewählte Wertorientierung von christlichen und muslimischen Befragten Teil der Befragten hat keine Angaben zur Institution gemacht. Die geringe Teilnah- mequote zeigt bereits eine Problematik der Begleitbetreuung. Die Schulleiter und Lehrkräfte wurden nachdrücklich darauf hingewiesen, dass eine Beteiligung an der Befragung zwingend sei, wobei ein grö- ßerer Teil der Lehrkräfte dieser Verpflich- tung nicht nachgekommen ist.

Der überwiegende Teil der Befragten kommt aus der Haupt- bzw. Realschule

Von den teilnehmenden Schülerinnen und Schülern gehörten rund 52 % der ka- tholischen und evangelischen Kirche an, 14 % sind muslimischen Glaubens, 21 % sind konfessionslos und der Rest verteilt sich auf weitere Konfessionen oder macht Schaubild 2: Einstellungen zu den Vorkommnissen in der Silvesternacht 2015 hierzu keine Angaben. Insgesamt beschrei- ben sich zudem 37 % der Befragten selbst wurde. Der hier verwendete Datensatz beimessen und auch ihr Leben sehr stark als sehr religiös, wobei hiervon für 27 % unterliegt zu Recht dem Vorwurf sehr nach den Inhalten der muslimischen Kon- auch die Einhaltung religiöser Regeln sehr klein zu sein. Jedoch bietet sich die Mög- fession ausrichten. wichtig ist. Die Fragen zur Religionspraxis lichkeit die Gültigkeit der Daten anhand wurden weiter vertieft indem die Schüler von Vergleichen zu den sogenannten Tü- Muslimische Befragte messen gefragt wurden, wie tolerant sie selbst ge- binger Schülerstudien zu prüfen (Kerner der Religion nahezu maximale genüber anderen Religionen sind. 2009, 2011).9 In diesen zeigte sich an- Bedeutung bei Ein kleiner Teil der Befragten gibt mit hand eines Samples mit über 2500 jun- 4,3 % an, dass diese Menschen anderen gen Menschen in unterschiedlichen sozia- Das Festhalten an Traditionen, National- Glaubens nicht respektieren können und len Milieus, dass signifikante Unterschiede stolz, der Glaube an Allah und das Leben wiederum geben 4 % an, dass es im Na- hinsichtlich Wertorientierungen vorherr- an religiösen Regeln und Normen auszu- men Allahs gerechtfertigt ist, Andersgläu- schen, sofern man eine Differenzierung richten spielt für die muslimischen Befrag- bige zu bestrafen. Beide zustimmenden entsprechend der Religionszugehörigkeit ten eine zentrale Rolle, wohingegen keine Ausprägungen zusammengenommen vornimmt. Bereits in diesen Studien zeigte Unterschiede in den übrigen Wertekate- sind dies, rund 8 % aller Befragten. Für sich, dass vor allem muslimische Befragte gorien gefunden werden konnten. Weiter 22 % sind die religiösen Regeln wichtiger Wertorientierungen wie Nationalstolz, zeigt sich auch, dass für die muslimischen als die Gesetze eines Landes. Im Anschluss und dem Glauben an Allah höchste Pri- Befragten Traditionen und der Stolz auf wurde, die in den Sozialwissenschaften orität einräumen. Diese Einschätzung hat das Herkunftsland bedeutend sind. etablierte Skala zu individuell reflexiven sich in der aktuellen Befragung nochmals Zusammenfassen lässt sich sagen, dass Wertorientierungen von Helmut Klages verstärkt. Im Schaubild 1 wird deutlich, die Zielgruppe des Theaterstücks sich im eingesetzt, die um die kriminogenen dass die muslimischen Befragten der Re- Alltagsleben mit Religion befasst und so- Werte von Hermann (2003)8 modifiziert ligion eine nahezu maximale Bedeutung mit gut erreicht werden konnte. Im Ver-

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in den Zeitungen übertrieben dargestellt wurden. Hier scheint das Rechts‑ oder Un- rechtsempfinden der Befragten nicht ein- heitlich zu sein, wobei bei der Aussage, dass die Frauen selbst schuld waren, diese Aussage in einem eindeutigen Zusam- menhang zur muslimischen Konfession stehen (.214)10. Gleiches gilt für die Aus- sage zu der Satire von Jan Böhmermann, der den türkischen Präsidenten Erdogan, zumindest nach Meinung eines Teils der Gesellschaft beleidigt hat. Hier finden sich wiederum signifikante Zusammenhänge zwischen der muslimischen Konfession der Befragten und der Aussage „die Ehre des Präsidenten und die eines ganzen Landes wurde verletzt“ (.188**), Meinungsfreiheit ist ein wichtiges Grundrecht (-.199), hier Schaubild 3: Einschätzung zur Frage „Ich fand das Stück gut“ haben vor allem diejenigen Schüler die Be- deutung der Meinungsfreiheit betont, die nicht der muslimischen Konfession ange- hörten und die Antwortmöglichkeit „das ist eine Beleidigung und geht gar nicht“ (.239)11, wurde wiederum verstärkt von den muslimischen Befragten präferiert. Die Rolle der Frau, deren Selbstbestim- mung und auch die Verschleierung waren ebenfalls zentrale Themen des Theater- stücks. In den Medien wird die Verschleie- rung von muslimischen Frauen als Unter- drückung interpretiert und Frauen werden fremdbestimmt. Im Theaterstück wurde der Wandel einer jungen deutschen Frau dargestellt, die zum Islam konvertiert und an der Verschleierung Gefallen findet. Die Schüler hatten mit dieser dramatur- gischen Feinheit Verständnisprobleme. Der Hauptdarsteller, der sich radikalisiert, wurde hingegen mit seinen Ängsten und Sorgen gut verstanden. Der dritte Prota- gonist ist ein junger Muslim, der versucht seinen Freund von den radikalen Seiten des Islam anzubringen. Das Theaterstück beinhaltet somit viele Komponenten und auch vielfältige Möglichkeiten der Nach- bereitung, namentlich zu den Themen Ra- Schaubild 4: Nachbereitung dikalisierung, Islamismus und Fragen zu gleich zu vorhergehenden Schülerstudien teilen. Der Kontext in der Silvesternacht der Rolle der Frau im Islam. sind die Daten durchaus aussagekräftig, wurde vor allem dahingehend sehr kritisch Ein Teil der Befragten kann als soge- wenn auch nicht repräsentativ. Um heraus- diskutiert, da die Flüchtlingsproblematik nannte religiöse Hardliner bezeichnet wer- zufinden, ob bei den Jugendlichen auch und die Integration von über einer Million den, indem diese angeben, dass sie Men- solche anwesend waren, die Meinungen Menschen in der Presse das Tagesgesche- schen, die einen anderen Glauben haben vertreten, welche mit einem westlichen hen bestimmte und die Aggressoren in der als sie selbst, nicht respektieren können Wertekanon in einem Widerspruch stehen, Silvesternacht junge Männer mit Migrati- und diese im Namen Gottes/Allahs auch wurde beispielhaft nach Antwortmöglich- onsgeschichte waren. bestraft werden dürfen. Weiter zeigten keiten gefragt, welche die Rolle der Frau Ein nicht unerheblicher Teil der Befrag- sich signifikante Unterschiede, differen- betreffen. Im Folgenden sollten die Be- ten (12,6 %), war der Meinung, dass die ziert nach der Konfession, indem nach fragten eine Einschätzung darüber geben, Frauen selbst schuld an den Übergriffen vorehelichem Geschlechtsverkehr und wie sie die Situation der Übergriffe junger waren, und 13,8 % haben die Ernsthaf- der Akzeptanz der gleichgeschlechtlichen Männer gegenüber jungen Frauen in der tigkeit der Thematik nicht gesehen und Ehe gefragt wurde. Hier zeigt sich wie- Silvesternacht 2015 (Schaubild 2) beur- waren der Meinung, dass die Übergriffe derum die muslimische Konfessionszuge-

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hörigkeit als erklärende Variable (Stroezel terricht nachbereitet wurde (.176**)13 kräfte unterstützen kann mit Schülern zur et al. 2017). Der voreheliche Geschlechts‑ oder wenn Themen wie Radikalisierung, Thematik der Radikalisierung zu arbeiten. verkehr von Frauen wurde beispielhaft Gleichberechtigung, und Geschlechter‑ Weiter existieren Themenhefte zu Jugend‑ abgelehnt, wobei dies bei den Männern rollen im Unterricht generell regelmässig kulturen und Islamismus.15 Die Radikali‑ eher toleriert wurde. Andererseits waren thematisiert wurden (**.198). Ein kleiner sierung von jungen Menschen, nicht nur die muslimischen Befragten vor allem der Teil der Schüler konnte im Nachgang zu zum Islamismus auch zu Rechts‑ und Meinung, dass Mädchen gegenüber ihren Linksextremismus, wird auch zukünftig Vätern Gehorsam zeigen sollten. Auch Rollenspiele im Nachgang an ein gesellschaftliches Thema bleiben und waren rund 12,6 % der Befragten der An‑ die Theateraufführung hatten sollte – auch und vor allem‑ zum Schutz sicht, dass Mädchen, die sich zu freizü‑ größten Effekt der Jugendlichen zentraler Bestandteil in gig kleiden selbst schuld sind, wenn es zu der (schulischen) Präventionsarbeit sein. Übergriffen durch Männer kommt. Insge‑ der Aufführung noch selbst an einem Rol‑ samt gesehen gibt es eine (kleine) Gruppe lenspiel teilnehmen, hier zeigte sich der Kontakt von Personen, die ein eher traditionelles grösste Effekt (**.283), jedoch konnte dies [email protected] Rollenverständnis präferiert und für die in den wenigsten Klassen umgesetzt wer‑ Anmerkungen Religion eine zentrale Rolle im Leben ein‑ den und dürfte auch zukünftig nur sehr 1 Meyer, A. (2006): Beccaria-Standards – Tools nimmt. Die erklärende Variable ist hier die schwer umsetzbar sein, da hierzu extra für strukturiertes Vorgehen in der Kriminalprä‑ vention. In: Zeitschrift für Jugendkriminalrecht muslimische Religionszugehörigkeit (Stro‑ eine Gruppe von Studenten der Sozialen und Jugendhilfe. Bd. 7, Nr. 3. S. 314 – 317. 12 ezel, Wegel, Kerner 2017) . Arbeit in die Schule kam um mit den Schü‑ 2 Hierzu existiert aktuell am Polizeipräsidium lern Rollenspiele zur Thematik durchzuneh‑ Mannheim ein Projekt mit dem Titel „Polizei und Nachbereitung men. Diejenigen Schüler, die eine Nach‑ Muslime im Dialog“. Online unter: http://www. Die Aufgabe und auch Verpflichtung der bereitung erfahren haben, haben folglich presseportal.de/blaulicht/pm/14915/3188860. 3 Jungfrau ohne Paradies: Online unter: http:// Schule bestand darin, eine Nachbereitung auch zu Hause mit Ihren Eltern und auch www.modul100.de/1031/files/20160329221 des Stücks zu gewährleisten. Der überwie‑ mit Ihren Freunden über die Thematik und 909JungfrauohneParadiesaktuellstesInfo!.pdf gende Anteil der Schüler fand das Stück das Theaterstück diskutiert. Bei den Schü‑ 4 Meyer, A. (2006) a. a. O. sehr gut (30,9 %) oder gut (41,5 %). lern, die keinerlei Nachbereitung erfahren 5 Sherman, L. W. (2006): Evidence-based crime prevention. Routledge. Ebenso: Arbeitskreis Und rund 79 % der Befragten fanden das haben, wurde in der Freizeit, weder mit Vorbeugung und Sicherheit: Düsseldorfer Stück gut verständlich (Schaubild 3). Al‑ den Eltern noch mit den Freunden über Gutachten: Leitlinien wirkungsorientierter Kri‑ lerdings gaben nur 54 % an, sich für das das Theaterstück gesprochen. minalprävention. Düsseldorf. Thema Islam zu interessieren. Zumindest zeigen diese Zusammen‑ 6 Übernommen aus: http://www.d-hof.de/thea‑ terstueck-jungfrau-ohne-paradies/. Im weiteren Verlauf wurden auch Ver‑ hänge, dass sich infolge einer Nachberei‑ 7 Hermann, D. (2003): Werte und Kriminalität: ständnisfragen zu den drei Protagonisten tung die Thematik aus dem schulischen Konzeption einer allgemeinen Kriminalitäts‑ des Stücks gestellt, wobei deutlich wurde, Kontext hinausbewegt und sich die Schü‑ theorie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. dass vor allem die Rolle der beiden männli‑ ler mit den zentralen Fragestellungen 8 Hermann, D. (2003): Werte und Kriminalität: Konzeption einer allgemeinen Kriminalitäts‑ chen Darsteller klar wurden und die Schüler auch noch im Nachgang befassen, was theorie. Wiesbaden: Westdeutscher Verlag. verstanden haben, dass sich einer der Ak‑ als Sensibilisierung verstanden werden 9 Kerner, H. J./Stroezel, H./Wegel, M. (2009): Er‑ teure radikalisiert hat und der andere ihn könnte, d. h. die Schülerinnen und Schü‑ ziehungsstile, Wertemilieus und jugendlicher davon überzeugen wollte, dass diese radi‑ ler haben sich mit einer Thematik weiter‑ Drogenkonsum in unterschiedlichen Schüler‑ milieus. In: Plywaczewski, E. (Hrsg.): Aktuelle kalen Einstellungen nichts mit dem Islam zu gehend befasst und auseinandergesetzt. Probleme des Strafrechts und der Kriminolo‑ tun haben. Probleme hatten die Befragten Fazit gie. Bialystok, S. 247 – 270. Kerner, H. J./Stroe‑ mit der Rolle der weiblichen Hauptdarstelle‑ zel, H./Wegel, M. (2011): Gewaltdelinquenz rin. Deren Radikalisierung und Begeisterung Begleitend zum Unterrichts‑ und auch und Gewaltaffinität bei jungen Menschen in verschiedenen sozialen Milieus – Analyse von für den Islam – auch aus Liebe zu ihrem zum Erziehungsauftrag in Schulen kann amtlichen Daten und von befunden aus Selbst‑ Freund, der sich selbst zunehmend radika‑ das Theaterprojekt „Jungfrau ohne Para‑ berichten. In: Trauma und Gewalt, 5, S. 20 – 35. lisiert – konnten viele nicht nachvollziehen. dies“ durchaus einen Beitrag zur Sensibi‑ 10 P < 0.01. Die Rolle der Johanna wurde zwischenzeit‑ lisierung von Jugendlichen leisten. Jedoch 11 Der Korrelationskoeffizient (auch: Korrelati‑ onswert ist ein dimensionsloses Maß für den lich dramaturgisch adaptiert. zeigt sich auch, dass dies nur dann nach‑ Grad des linearen Zusammenhangs zwischen Zentral für das Verständnis war jedoch haltig geschieht, sofern eine Begleitung, zwei intervallskalierten Merkmalen. vor allem die Nachbereitung, die – so vor‑ insbesondere eine Nachbereitung, erfolgt. 12 Stroezel, H./Wegel, M./Kerner, H. J.(2017): gesehen – durch den Lehrer im Unterricht Die Themen wie Radikalisierung, Islamis‑ Wertorientierungen bei Jugendlichen – ein Prädiktor für Problemverhalten? In: Her‑ stattfinden sollte. Aufgabe sollte es sein, mus und auch die Rolle der muslimischen mann, D./Pöge, A. (Hg.): Handbuch Kriminal‑ die zentralen Inhalte wie Radikalisierung, Frau in der westlichen Gesellschaft sind soziologie. Im Erscheinen. Frauenrolle und Frauenbild mit den Schü‑ Themen, die sich in die unterschiedlichs‑ 13 Korrelation nach Pearson.**. Die Korrelation lern nochmals zu reflektieren. Schaubild 4 ten Schulfächer integrieren lassen. Denk‑ ist auf dem Niveau von 0,01 (2-seitig) signifi‑ kant. zeigt, dass mit 45 % der Schüler keine bar wären zudem Projektwochen oder 14 Programm Polizeiliche Kriminalprävention der Nachbereitung vorgenommen wurde. Projekte, die interkulturelle Begegnungen Länder und des Bundes. http://www.polizei- Im Folgenden wurden Korrelationen betreffen. Die ergänzenden Möglichkei‑ beratung.de/medienangebot/medienange‑ berechnet, welche zeigten, dass Schüler ten hierzu sind vielfältig. So hat ProPK14 bot-details/detail/200.html. 15 Müller, J./Nordbruch G./Seidel, E./Tataroglu, B. nur dann mit ihren Eltern im Nachhin‑ das Medienpaket „Mitreden“ herausge‑ (2010): Jugendkulturen zwischen Islam und ein über das Stück gesprochen haben, geben, welches anhand eines Films und Islamismus. Bundeskoordination Schule ohne wenn das Theaterstück auch im Un‑ eines pädagogischen Begleitheftes Lehr‑ Rassismus – Schule mit Courage (Hg.).

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RECHT AKTUELL

Betrug und Zwangsversteigerung

1. Regelmäßig macht sich der A übertragen. Die Bank als Gläubigerin für die Annahme eines „sachgedanklichen Rechtspfleger im Rahmen einer habe sich vermögensschädigend nicht Mitbewusstseins“ hinsichtlich einer etwaig Zwangsversteigerung keine Gedan- ohne weiteren finanziellen und zeitlichen vorhandenen Zahlungsfähig‑ und Zah- ken über den Zahlungswillen und Aufwand aus dem Grundstück befriedi- lungswilligkeit des Bieters. Das Verlangen die Zahlungsfähigkeit eines Bieters, gen können. Die hiergegen gerichtete Re- einer Sicherheitsleistung durch einen Bieter sodass kein betrugsrelevanter Irr- vision der A hatte Erfolg. stehe gem. § 67 Abs. 1 ZVG ausschließ- tum entsteht. Der BGH weist u. a. darauf hin, dass die lich einem Beteiligten i. S. d. § 9 ZVG zu. 2. In solchen Fällen ist das Vorlie- Annahme, der Rechtspfleger habe sich im Lägen deren Voraussetzungen vor, habe gen eines (untauglichen) versuch- Versteigerungstermin Vorstellungen über der Rechtspfleger die Sicherheitsleistung ten Betruges in Betracht zu ziehen. die Zahlungsbereitschaft und ‑fähigkeit anzuordnen, ohne einen Ermessensspiel- der A gemacht, durchgreifenden rechtli- raum zu haben. Eine Zahlungsfähigkeit des Anmerkung: chen Bedenken begegne. Ein betrugsrele- Bieters sei hierbei irrelevant. Der Umstand, vanter Irrtum liege in jedem Widerspruch dass der Rechtspfleger nach § 71 Abs. 1 I. Zum Sachverhalt zwischen einer subjektiven Vorstellung ZVG die Verpflichtung habe, ein unwirksa- Im Rahmen eines auf Antrag einer Bank des Getäuschten und der Wirklichkeit. Es mes Gebot zurückzuweisen, lasse ebenso angeordneten Zwangsversteigerungs- komme hierbei darauf an, was der Ge- keinen anderen Schluss zu. Die Zurückwei- verfahrens über ein Grundstück einer täuschte tatsächlich verstanden habe. Ein sung von Geboten sei auf Ausnahmefälle GmbH beteiligte sich die Angeklagte (A), Irrtum könne auch dann gegeben sein, beschränkt. Dem Rechtspfleger stehe zur die zuvor die erforderliche Sicherheits- wenn die täuschungsbedingte Fehlvorstel- Prüfung eines etwaigen Missbrauchs keine leistung in Höhe von 18 223 € geleistet lung vom sog. sachgedanklichen Mitbe- Möglichkeit der Beweisaufnahme offen. hatte. Dabei gab A Gebote ab, die jene wusstsein getragen sei und von tatsäch- Zudem sei der Bieter selbst nicht verpflich- der anderen Anbieter um mehrere tau- lichen Umständen abweiche. Demnach sei tet, seine mit dem Gebot verfolgte Inten- send Euro überstiegen. A erhielt schließ- insbesondere der Bereich gleichförmiger, tion bloßzulegen. Das eine Zurückweisung lich mit einem Gebot von 370.000 € massenhafter oder routinemäßiger Ge- von Geboten rechtfertigende rechtsmiss- (und damit dem Doppelten des Ver- schäfte von als selbstverständlich angese- bräuchliche Verhalten müsse durch offen- kaufswerts) den Zuschlag. Sie war aller- henen Erwartungen geprägt, welche zwar kundige, an konkrete und sogleich erkenn- dings weder zahlungswillig noch ‑fähig. nicht in jedem Einzelfall bewusst aktuali- bare Tatsachen anknüpfende Umstände Dieser Hintergrund war weder für den siert würden, allerdings der vermögensre- eindeutig ausgewiesen sein. Vorliegend Rechtspfleger noch für die anderen Bie- levanten Handlung als hinreichend konkre- fehle jeglicher Anhalt für eine vom Rechts- ter erkennbar. A war Beteiligte der GmbH tisierte Tatsachenvorstellungen zugrunde pfleger erkennbare Offenkundigkeit einer und verfolgte mit ihrer Vorgehensweise lägen. Finde die Kommunikation – wie rechtsmissbräuchlichen Zweckverfolgung lediglich das Ziel, sich weiterhin den Zu- im Ausgangsfall – im Kontext eines gere- im Zusammenhang mit dem von A abge- griff auf das Grundstückseigentum zu gelten Verfahrens statt, werde der Inhalt gebenen Höchstgebot. In Betracht komme ermöglichen. Da der restliche Kaufpreis von hiermit im Zusammenhang stehenden jedoch möglicherweise ein (untauglicher) ihrerseits nicht beglichen wurde, verzö- Erklärungen und darauf beruhender mög- versuchter Betrug bei A. gerte sich das Zwangsvollstreckungsver- licher Fehlvorstellungen beim Erklärungs- Ergänzender Hinweis fahren. Erst nach ca. einem halben Jahr empfänger maßgeblich durch die dem kam es zu einer Wiederversteigerung, im Verfahren zu Grunde liegenden Rege- Ob die Entscheidung zu einer höheren Rahmen derer es gelang, den Grundbe- lungen geprägt. Aus den Bestimmungen Rechtssicherheit in der Praxis bei der sitz zu veräußern. des Gesetzes über die Zwangsversteige- rechtlichen Bewertung ähnlich gelagerter rungen und die Zwangsverwaltung (ZVG) Fälle beigetragen kann, bleibt zweifelhaft. II. Zur Rechtslage lasse sich ein Vorstellungsbild des Rechts- So ging der BGH vor einigen Jahren davon Das LG wertete das Geschehen als pflegers im Rahmen einer Zwangsverstei- aus, dass sich ein Rechtspfleger im (eben- Betrug. A habe bei der Abgabe des gerung über die Zahlungsfähigkeit und falls streng formalisierten) Mahnverfahren Höchstgebotes im Zwangsversteige- ‑willigkeit des Bieters nicht schlussfolgern. Gedanken über das tatsächliche Bestehen rungstermin den Rechtspfleger ge- Da das Versteigerungsverfahren schon als einer Forderung mache (vgl. BGH, Beschl. täuscht, indem sie durch ihr Verhalten solches grundsätzlich geeignet sei, seinen v. 19.11.2013 – 4 StR 292/13, vgl. hierzu: ihre Zahlungsfähigkeit und ‑bereit- Zweck zu erreichen, sofern das im ZVG Kriminalistik, 4/2014, S. 232). Eine kriti- schaft vorgespiegelt habe. Aufgrund geregelte Verfahren eingehalten werde, sche Einschätzung der Entscheidung fin- einer Fehlvorstellung – jedenfalls vor erschöpfe sich die vom Rechtspfleger von det sich bei Kudlich, H., Wer sagt denn, dem Hintergrund des Vorliegens eines Amts wegen vorzunehmende Prüfung im dass ich wirklich zahlen wollte? In: JA sog. sachgedanklichen Mitbewusstseins Wesentlichen darin, auf die Einhaltung 11/2016, S. 869 – 871. – habe der Rechtspfleger eine Vermö- der gesetzlichen Verfahrensvorschriften BGH, Beschl. v. 14.7.2016 gensverfügung veranlasst, nämlich zu achten. Auch für sich betrachtet bö- 4 StR 362/15 durch Hoheitsakt den Grundbesitz auf ten die Vorschriften des ZVG keinen Anhalt bb

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Der Einfluss von Diebstahl und Einbruch auf unternehmerische Entscheidungen des Handwerks Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in einer grenznahen Region

Von Anton Sterbling

Objektive Sicherheitsgegebenheiten und subjektive Sicher- reihe zurück. Wurde bei der letzten Be- heitswahrnehmungen haben zum Teil weitreichende Aus- fragung der Handwerkskammern lediglich ein Rücklauf von 9 bis 10 Prozent erreicht, wirkungen auf das menschliche Verhalten wie auch auf das lag die Rücklaufquote in unserer Untersu- Handeln institutioneller Akteure. Dies gilt natürlich auch für chung 2016 immerhin bei 22,2 Prozent. Wirtschaftsunternehmen. In diesem Beitrag soll mithin der Auf dieser Basis von insgesamt 783 ver- wertbaren Fällen, unter denen alle Be- Frage nachgegangen werden, welche Relevanz die eigene triebsgrößen und Handwerksbranchen Betroffenheit durch Eigentumsdelikte, insbesondere Einbruch mit ausreichender Fallzahl vertreten waren und Diebstahl, auf die Wahrnehmung der Sicherheitslage und die Nettostichprobe die Erhebungs- und auf unternehmerische Entscheidungen im Wirtschafts- einheit angemessen abbildet, waren dif- ferenzierte und aussagekräftige Analysen bereich des Handwerks in einer Grenzregion, nämlich im möglich. In diesem Beitrag werden aus Landkreis Görlitz, erkennen lässt. diesen Gesamtuntersuchungsergebnissen vor allem solche Teilaspekte dargelegt, Die Teilergebnisse, die hier vorgestellt den im „grenznahen Raum“ Sachsens die den Umfang der Betroffenheit durch werden, gehen auf eine größere Untersu- und Südbrandenburgs (Handwerkskam- Eigentumsdelikte und den Einfluss der chung (Sterbling 2016) und insbesondere mer 2015), zum anderen eine zwischen Betroffenheit durch Eigentumsdelikte und eine schriftliche Befragung aller Hand- 1998 und 2014 zunächst in Hoyerswerda der Einschätzung der gegebenen Sicher- werksbetriebe dieses Landkreises im Früh- (1998, 2002, 2008) und in Görlitz (1999, heitslage auf wichtige unternehmerische jahr 2016 zurück, wobei dieses von der 2004, 2012) und sodann im Landkreis Entscheidungen der Handwerksbetriebe Handwerkskammer Dresden, dem Land- Görlitz (2014) erfolgte Untersuchungs- betreffen. kreis Görlitz, der Polizeidirektion Görlitz reihe zur subjektiven Sicherheit und Le- Betroffenheit durch Eigentums- und der Hochschule der Sächsischen Po- bensqualität (z. B. Burgheim/Sterbling delikte und Schadensumfang lizei (FH) in Rothenburg/OL initiierte Vor- 1999; Sterbling 2013a; Sterbling 2015), haben zwei Ausgangspunkte hatte. Zum zu der übrigens in dieser Zeitschrift auch In unseren sieben Bevölkerungsbefragun- einen eine bisher bereits fünf Mal jährlich mehrfach Beiträge zu einzelnen Teilaspek- gen zwischen 1998 und 2014 ergab sich, durchgeführte Handwerkerbefragung der ten veröffentlich wurden (Sterbling 2009, dass zwischen 10,9 Prozent (Görlitz 2004) Handwerkskammern Cottbus und Dres- Sterbling 2013b; Sterbling 2015b). Un- und 16 Prozent (Landkreis Görlitz 2014) sere Handwerkerbefragung 2016 wurde der befragten Bürger äußerten, dass sie als Vollerhebung durchgeführt, wobei in den zurückliegenden 12 Monaten Op- insgesamt 3520 Handwerksunternehmen fer von Diebstahl oder Einbruch wurden schriftlich befragt wurden. (Sterbling 2015a: 149 ff.). Zugleich zeigte Ein Teil unseres Fragebogens lehnt sich sich, dass dies einen erheblichen Einfluss Prof. Dr. Anton an das 10 Fragen umfassende Erhebungs- auf das subjektive Sicherheitsgefühl hatte. Sterbling, instrument der Handwerkskammern an, Bei Handwerksbetrieben ist diese Betrof- Leiter FB II, so dass entsprechende Vergleiche möglich fenheit sicherlich viel höher zu erwarten. Hochschule erscheinen. Ein anderer Teil unseres ins- Wie die 2015 erfolgte Befragung der der Sächsi­ gesamt 29 Fragen umfassenden Fragebo- Handwerksbetriebe erkennen lässt, waren schen Polizei (FH), Rothen­ gens greift auf Fragestellungen unserer ei- im Kammerbezirk Dresden 37 Prozent und burg genen, vorhin erwähnten Untersuchungs- im Landkreis Görlitz sogar 42 Prozent der

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Betroffenheit da manche Befragte das letzte Jahr bei den letzten fünf Jahren einschlossen, an- ja, ja, in den letzten nein k. A. dere aber nicht. Diese Ungenauigkeiten im letzten Jahr fünf Jahren konnten allerdings auf der Grundlage 166 390 (492) 277 14 [Häufigkeit?] der Rohdatenmatrix weitgehend berich- 21,2 % 49,8 % (62,8 %) 35,4 % 1,8 % tigt werden, so dass diesbezüglich keine größeren Analyse‑ und Interpretations- Tabelle 1: Eigene Betroffenheit durch Eigentumsdelikte schwierigkeiten gegeben sind. Nach eigenem Bekunden waren Betroffenheit 21,2 Prozent der Handwerksbetriebe im Landkreis Görlitz im letzten Jahr und ein Mal 2 bis 3 Mal 4 bis 5 Mal öfter als 5 Mal 49,8 Prozent in den letzten fünf Jahren 172 214 62 44 durch Eigentumsdelikte betroffen bzw. Häufigkeit 35,0 % 43,5 % 12,6 % 8,9 % geschädigt worden. Schließt man auf Grund der Rohdatenmatrix alle Betroffene Tabelle 2: Häufigkeit der Betroffenheit durch Eigentumsdelikte in den letzten fünf Jahren im letzten Jahr bei den Betroffenen in den letzten fünf Jahren mit ein, so waren es so- gar insgesamt 492 oder 62,8 Prozent der Zeitraum befragten Handwerksunternehmen, die Umfang im letzten Jahr in den letzten fünf Jahren als betroffene in den letzten fünf Jahren (Fälle) (Fälle) gelten können. 35,4 Prozent erscheinen 1 bis 100 € 4 17 als nicht betroffen, 1,8 Prozent gaben bei dieser Frage keine Antwort. Im Vergleich € 101 bis 500 38 56 zu den Befunden der Handwerksbefra- 501 bis 1000 € 32 47 gung 2015, in denen die Betroffenheit durch „kriminelle Delikte“ insgesamt fest- 1001 bis 5000 € 60 149 gehalten wurde, ist zu konstatieren, dass 5001 bis 10 000 € 19 62 den Eigentumsdelikten wohl ein großes Gewicht unter diesen kriminellen Delikten 10 001 bis 25 000 € 17 44 zukommt. Verglichen mit den erwähnten 25 001 bis 100 000 € 6 33 Ergebnissen der Bürgerbefragungen be- stätigt sich zudem – wie bereits erwähnt über 100 001 € 0 6 wurde –, dass Handwerksbetriebe deut- Fälle insgesamt* 176 414 lich stärker als Bürger allgemein von Ei- gentumsdelikten betroffen erscheinen. Tabelle 3: Umfang und Fallzahlen der durch Einbruch und Diebstahl entstandenen Schadens­ Wie zu vermuten war, wurden einzelne summen im letzten Jahr und in den letzten fünf Jahren Handwerksbetriebe in den letzten fünf * nicht alle durch Einbruch und Diebstahl im letzten bzw. in den letzten fünf Jahren Betrof­ fenen haben Angaben zur Schadenssumme gemacht. Jahren zum Teil mehrfach durch Eigen- tumsdelikte geschädigt (Tabelle 2). Von allen in den letzten fünf Jahren Zeitraum betroffenen Handwerksbetrieben wur- Maßzahlen den gut ein Drittel (35 Prozent) ein Mal, im letzten Jahr in den letzten fünf Jahren 43,5 Prozent 2 bis 3 Mal, 12,6 Prozent 4 Mittelwert € 5629,84 10 598,12 bis 5 Mal und 8,9 Prozent sogar häufiger als 5 Mal durch Diebstahl oder Einbruch Median € 1750,00 3000,00 betroffen. Minimum € 20,00 5,00 Nun kommt es bei Eigentumsdelikten wie auch bei anderen kriminellen Hand- Maximum € 80 000,00 350 000,00 lungen nicht nur auf die Betroffenheit Zahl der Fälle 176 414 und Betroffenheitshäufigkeit, sondern na- Gesamtschaden € 990 851,84 4 876 216,21 türlich auch auf den dabei entstandenen Schaden an. Um diesen übersichtlich zu

Tabelle 4: Deskriptive Analyse des durch Einbruch und Diebstahl entstandenen Schadens im erfassen und darzustellen, haben wir den letzten Jahr und in den letzten fünf Jahren Umfang des finanziell bewerteten Sach- schadens zunächst in entsprechend abge- Betriebe im zurückliegenden Jahr durch Einbruch und Diebstahl in unserer Unter- stufte Kategorien (Tabelle 3) eingeordnet „kriminelle Delikte“ verschiedener Art, da- suchung dar (Tabelle 1). Wir haben hier- und zugleich den eingetrenen Schaden im von vor allem durch Eigentumsdelikte, be- bei sowohl nach dem Zeitraum des letz- letzten Jahr und in den letzten fünf Jahren troffen (Handwerkskammer 2015: 29 f.). ten Jahres wie auch der letzten fünf Jahre getrennt ausgewiesen. Wie stellt sich die Betroffenheit durch gefragt. Allerdings hat diese Fragestellung Hierbei ergab sich, dass von den ins- Eigentumsdelikte und insbesondere durch zu gewissen Missverständnissen geführt, gesamt 176 im zurückliegenden Jahr be-

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troffenen Handwerksbetrieben, die hierzu Sicherheitslage Angaben machten: 4 einen finanziellen Schaden bis zu 100 €, 38 einen Scha- ja nein k. A. € den von 101 bis 500 , 32 von 501 bis 172 582 29 Standortbedrohung 1000 €, 60 von 1001 bis 5000 €, 19 22,0 % 74,3 % 3,7 % von 5001 bis 10 000 €, 17 von 10 001 bis 25 000 € und 6 von 25.001 bis Tabelle 5: Sicherheitslage als bedrohlicher Standortfaktor 100 000 € erlitten. Im Hinblick auf die letzten fünf Jahre fiel der Schaden erwar- Standortbedrohung tungsgemäß erheblich höher aus. Von Betroffenheit den insgesamt 414 Handwerksbetrieben, ja nein die in diesem Zeitraum einen finanziel- 135 betroffen 341 len Schaden vorweisen, gaben: 17 einen 28,4 % 71,6 % finanziellen Schaden bis zu 100 €, 56 35 231 einen Schaden von 101 bis 500 €, 47 nicht betroffen 13,2 % 86,8 % von 501 bis 1000 €, 149 von 1001 bis 5000 €, 62 von 5001 bis 10 000 €, 44 Pearson Chi-Quadrat: 22,3322 df = 1 p = 0,0000 < 0,01, h. s. € von 10 001 bis 25 000 , 33 von 25 001 Spearman Rang-R –0,1734 t = –4,792 p = 0,0000 < 0,01, h. s. bis 100 000 € und 6 von über 100 001 € an. Wie leicht festzustellen ist, handelt Tabelle 6: Einfluss der Betroffenheit durch Eigentumsdelikte auf die Einschätzung der es sich in einer nicht geringen Zahl von Sicherheitslage als bedrohlicher Standortfaktor Fällen um eine Schadenssumme von er- heblichem und teilweise sicherlich auch Standortbedrohung gravierendem Umfang, die die wirtschaft- Betroffenheitshäufigkeit liche Lage einzelner Betriebe empfindlich ja nein treffen kann. 32 135 ein Mal Die entsprechenden Verteilungen lassen 19,2 % 80,8 % sich mit Hilfe aussagekräftiger Maßzahlen 56 151 2 bis 3 Mal der deskriptiven Statistik noch etwas dif- 27,1 % 72,9 % ferenzierter analysieren (Tabelle 4). Dabei 24 36 können wir uns zugleich gut an Befunden 4 bis 5 Mal 40,0 % 60,0 % der Handwerksbefragung 2015 orientie- 21 22 ren, zumal im Rahmen dieser Erhebung öfter als 5 Mal eine durchschnittliche Schadenssumme 48,8 % 51,2 % im gesamten Kammerbezirk Dresden von Pearson Chi-Quadrat: 20,1582 df = 3 p = 0,0002 < 0,01, h. s. 6731 € und im Landkreis Görlitz von 7189 festgestellt wurde (Handwerkskam- Spearman Rang-R –0,1948 t = –4,330 p = 0,0000 < 0,01, h. s. mer 2015: 30). Tabelle 7: Einfluss der Häufigkeit der Betroffenheit durch Eigentumsdelikte auf die Aus Tabelle 4 geht hervor, dass die Einschätzung der Sicherheitslage als bedrohlicher Standortfaktor durchschnittliche Schadenssumme, die in unserer Befragung 2016 im Landkreis her nur ganz grob und spekulativ – den zogenen Faktoren deutlichen Einfluss auf Görlitz für das zurückliegende Jahr er- Gesamtschaden des Handwerks durch Ei- die unternehmerische Situationsperzepti- mittelt wurde, rund 5630 € beträgt. Die gentumsdelikte im Landkreis Görlitz auf onen und entsprechende Entscheidungs- Gesamtschadenssumme aller 176 Fälle 5 Millionen im zurückliegenden Jahr so- prozesse nehmen. Diese Zusammenhänge beträgt exakt 990 851,84 €, also na- wie auf 24,5 Millionen in den letzten fünf sollen im Folgenden im Einzelnen analy- hezu 1 Million €. In den letzten fünf Jahren hochrechnen. Dies ist – wie bereits siert und dargelegt werden. Dabei soll es Jahren ergibt sich für die 414 Fälle die erwähnt – ein sehr erheblicher, für ein- vor allem um drei unternehmerische Ent- durchschnittliche Schadenssumme von zelne Handwerksbetriebe wirtschaftlich scheidungsfragen gehen: um die Sicher- rund 10 589 €. Die Gesamtschadens- zum Teil gravierend ins Gewicht fallender heitslage als bedrohlicher Standortfaktor, summe sämtlicher 414 Fälle beläuft sich Schaden. um den Einfluss der Sicherheitsgegeben- in den letzten fünf Jahren auf genau heiten auf Verlagerungs‑ oder Schlie- Einfluss der Sicherheitslage auf 4 876 216,21 €, also rund 4,9 Millio- ßungsüberlegungen des Unternehmens € unternehmerische Überlegungen nen . Der Vergleich des letzten und der und Entscheidungen und um die investitionsbeeinflussende letzten fünf Jahre deutet an, dass sowohl Relevanz der Sicherheit und Betroffenheit die Fallzahl wie auch der Schadensum- Dass die eigene Betroffenheit durch Ei- durch Eigentumsdelikte. fang insgesamt merklich angestiegen gentumsdelikte und das Ausmaß dieser Sicherheitslage und Eigentums- sind. Wenn wir zugleich berücksichtigen, Betroffenheit die subjektive Sicherheit und delikte als bedrohliche Standort- dass unsere auswertbare Stichprobe nur insbesondere die Wahrnehmung und Ein- faktoren etwa ein Fünftel aller Handwerksbetriebe schätzung der Sicherheitslage maßgeblich umfasst, so können wir – natürlich mit beeinflusst, ist ebenso hypothetisch an- Zunächst soll die Frage aufgeworfen einem erheblichen Schätzrisiko und da- zunehmen wie dass diese sicherheitsbe- werden, ob und inwiefern die gegebene

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Standortbedrohung Sicherheitslage durch die Handwerksbe- Schadensumfang ja nein triebe als ein bedrohlicher Standortfaktor 4 13 wahrgenommen wird (Tabelle 5). 1 bis 100 € 23,5 % 76,5 % Wie Tabelle 1 zu entnehmen ist, ver- 7 48 treten 22 Prozent der befragten Hand- 101 bis 500 € 12,7 % 87,3 % werksunternehmen die Ansicht, dass 18 28 501 bis 1000 € die gegebene Sicherheitslage aus ihrer 39,1 % 60,9 % Sicht einen bedrohlichen Standortfaktor 32 112 1001 bis 5000 € darstellt. Knapp drei Viertel (74,3 Pro- 22,2 % 77,8 % zent) verneinten diese Frage, 3,7 Prozent 14 44 5001 bis 10.000 € 24,1 % 75,9 % enthielten sich einer Antwort. Mehr als ein Fünftel der handwerklichen Betriebe 16 27 10.001 bis 25.000 € 37,2 % 62,8 % erkennen in der problematischen Sicher- 18 14 heitslage also einen Faktor, der für sie in 25.001 bis 100.000 € 56,2 % 43,8 % bedrohlichem Ausmaß die Standortfrage, 3 3 also die sozialräumliche Verortung ihres über 100.001 € 50,0 % 50,0 % Unternehmens, tangiert. Dies ist natürlich Pearson Chi-Quadrat: 28,1316 df = 7 p = 0,0002 < 0,01, h. s. ein wichtiger Aspekt wirtschaftlicher und Spearman Rang-R –0,1597 t = –3,232 p = 0,0013 < 0,01, h. s. unternehmerischer Abwägungen und Entscheidungen, so dass naheliegend er- Tabelle 8: Einfluss des Umfangs der durch Eigentumsdelikte entstandenen Schadenssum­ scheint, auch den Fragen nachzugehen, men in den letzten fünf Jahren auf die Einschätzung der Sicherheitslage als bedrohlicher welche Hintergründe, etwa eigene Erfah- Standortfaktor rungen oder Branchenzugehörigkeit, zu Standortbedrohung einer solchen Einschätzung geführt haben Branchenzugehörigkeit ja nein könnten. 49 137 Der Pearson Chi-Quadrat-Test mit p = Bauhauptgewerbe 26,3 % 73,7 % 0,0000 < 0,01 und der Spearman Rang- 46 163 Ausbaugewerbe korrelationskoeffizient-Test mit ebenfalls p 22,0 % 78,0 % = 0,0000 < 0,01 geben deutlich zu er- 6 35 Gewerblicher Bedarf kennen, dass – wie erwartet – ein hoch si- 14,6 % 85,4 % gnifikanter Zusammenhang zwischen der 26 41 Kraftfahrzeuggewerbe 38,8 % 61,2 % eigenen Betroffenheit durch Eigentums- delikte und der Einschätzung der Sicher- 4 42 Nahrungsmittelgewerbe 8,7 % 91,3 % heitslage als einem bedrohlichen Sicher- 3 4 heitsfaktor besteht. Tatsächlich zeigt sich Gesundheitsgewerbe 17,7 % 182,3 % auch, dass Handwerksbetriebe, die von 20 92 einer eigenen Betroffenheit berichten, zu Persönliche Dienstleistungen 17,9 % 82,1 % 28,4 Prozent zu einer solchen Bewertung 14 40 zwei/mehrere Branchen neigen, während Unternehmen, die nicht 25,9 % 74,1 % betroffen waren, sich nur zu 13,2 Prozent Pearson Chi-Quadrat: 19,9143 df = 7 p=0,0058 < 0,01, h. s. so äußern. Spearman Rang-R ist nicht anwendbar, da die Branchenzugehörigkeit aus nominalskalierten­ Daten Die eigene Betroffenheit durch krimi- besteht. nelle Delikte wie Einbruch und Diebstahl lassen also einen durchschlagenden Ein- Tabelle 9: Einfluss der Branchenzugehörigkeit auf die Einschätzung der Sicherheitslage als bedrohlichen Standortfaktor fluss auf die Betrachtung der Sicherheits- lage als standortbedrohenden Faktor er- Standortbedrohung kennen. Spielt in diesem Zusammenhang Grenznähe ja nein – so kann man nunmehr noch etwas dif- 97 275 ferenzierter fragen – auch die Häufigkeit bis 5 km 26,1 % 73,9 % der Betroffenheit eine gewichtige Rolle 51 172 5 bis 15 km (Tabelle 7). Der Viktimisierungsperspektive 22,9 % 77,1 % folgend (Feltes 1995; Sterbling 2015a: 20 111 15 bis 30 km 25 ff.), könnte dies so durchaus plausibel 15,3 % 84,7 % angenommen werden. Daher sollte auch 2 13 über 30 km 13,3 % 86,7 % dieser Aspekt bzw. diese Hypothese em- pirisch genauer analysiert und näher ge- Pearson Chi-Quadrat: 7,2146 df = 3 p = 0,0653 > 0,05, n. s. prüft werden. p = 0,0124 > 0,01, Spearman Rang-R 0,0918 t = 2,5052 < 0,05, s. s. Der Pearson Chi-Quadrat-Test mit p = 0,0002 < 0,01 und der Spearman Tabelle 10: Einfluss der Grenznähe auf die Einschätzung der Sicherheitslage als Rangkorrelationskoeffizient-Test mit p = bedrohlichen Standortfaktor 0,0000 < 0,01 stützen deutlich die an-

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genommene Hypothese. Dabei zeigt sich Sicherheitslage auch im Einzelnen, dass Handwerksbe- triebe, die nur ein Mal durch Eigentums- ja nein k. A. delikte betroffen waren, zu 19,2 Prozent, 64 698 21 Existenzbedrohung die 2 bis 3 Mal betroffen wurden, zu 8,2 % 89,1 % 2,7 % 27,1 Prozent, die 4 bis 5 Mal betroffen waren, zu 40 Prozent und Unternehmen, Tabelle 11: Sicherheitslage als möglicher Verlagerungs‑ oder Schließungsgrund des Unter­ die öfter als 5 Mal betroffen wurden, nehmens sogar zu 48,8 Prozent, also nahezu zur Hälfte, eine Standortbedrohung durch die Sicherheitslage gegebene Sicherheitslage feststellen. Dies ja nein k. A. sind recht eindeutige und aussagekräftige 307 451 25 Befunde, die unterstreichen, dass nicht Investitionsfaktor nur die Betroffenheit durch Eigentumsde- 39,2 % 57,6 % 3,2 % likte selbst, sondern auch die Häufigkeit Tabelle 12: Einschätzung der Sicherheitslage als Einflussfaktor auf die Investitionstätigkeit­ solcher Erfahrungen einen signifikanten Einfluss auf die Wahrnehmung der ge- gebenen Sicherheitslage als bedrohlicher Investitionsrelevanz Standortfaktor hat. Sicherheitsbeurteilung ja nein Nun ist darüber hinaus zu vermuten, 0 1 dass nicht nur die Betroffenheitshäufig- sehr gut keit, sondern auch der Schadensumfang 0,0 % 100,0 % die Einschätzung der Sicherheitslage als 3 47 eher gut bedrohlicher Standortfaktor maßgeblich 6,0 % 94,0 % beeinflusst. Dies wird im Folgenden ge- 52 200 teils/teils prüft (Tabelle 8). 20,6 % 79,4 % Tatsächlich lassen der Pearson Chi-Qua- 175 170 eher schlecht drat-Test mit p = 0,0002 < 0,01 und der 50,7 % 49,3 % Spearman Rangkorrelationskoeffizient-Test 72 28 sehr schlecht mit p = 0,0013 < 0,01 eindeutig erken- 72,0 % 28,0 % nen, dass die Schadenssumme einen sta- tistisch hoch signifikanten Einfluss auf die Pearson Chi-Quadrat: 122,9063 df = 4 p = 0,0000 < 0,01, h. s. Einschätzung der Sicherheit als bedrohli- Spearman Rang-R –0,405 t = –12,11 p = 0,0000 < 0,01, h. s. cher Standortfaktor ausübt. Auch der ten- denzielle, allerdings nicht streng mono- Tabelle 13: Beurteilung der Sicherheitslage und deren Bedeutung in der Einschätzung der tone, Anstieg des Anteils derjenigen, die Sicherheitsgegebenheiten als Einflussfaktor auf die Investitionstätigkeit dies bejahen, mit der Größenordnung der von ihnen erfahrenen Schadenssumme Investitionsrelevanz lässt dies entsprechend feststellen. Betroffenheit Weitere Fragestellungen beziehen sich ja nein auf die Relevanz der Beschäftigtenzahl 258 226 betroffen wie auch der Branchenzugehörigkeit (Ta- 53,3 % 46,7 % belle 9) und der Grenznähe (Tabelle 10) in 42 219 diesem Zusammenhang. Der Pearson Chi- nicht betroffen 16,1 % 83,9 % Quadrat-Test mit p = 0,5292 > 0,05 und der Spearman Rangkorrelationskoeffizi- Pearson Chi-Quadrat: 97,6269 df = 1 p = 0,0000 < 0,01, h. s.

ent-Test mit p = 0,7432 > 0,05 sprechen Spearman Rang-R –0,3620 t = –10,59 p = 0,0000 < 0,01, h. s. dafür, dass die Beschäftigtenzahl keinen statistisch signifikanten Einfluss auf die Tabelle 14: Eigene Betroffenheit durch Eigentumsdelikte und deren Bedeutung in der Beurteilung der Sicherheitslage als be- Einschätzung der Sicherheitslage als Einflussfaktor auf die Investitionstätigkeit drohlicher Standortfaktor erkennen lässt. Anders verhält es sich indes im Hinblick werbe andererseits, wobei hier wohl nicht Falle entscheidende Spearman Rangkorre- auf die Branchenzugehörigkeit der Hand- nur die unterschiedlichen Schadensbetrof- lationskoeffizient-Test weist mit p = werksbetriebe. Der Pearson Chi-Quadrat- fenheiten, sondern auch Spezifika der ein- 0,0124 > 0,01, p = 0,0124 < 0,05 auf Test mit p = 0,0058 < 0,01 signalisiert, zelnen Branchen zum Tragen kommen. einen schwach signifikanten Zusammen- dass in diesem Zusammenhang ein statis- Im Hinblick auf den Einfluss der Grenz- hang hin. Dies zeigen auch die Anteile der tisch hoch signifikanter Einfluss vorliegt. So nähe stellen sich die Dinge etwas kompli- Bejahungen der Frage, ob die gegebene liegen die Anteile der Bejahung denn auch zierter dar. Zwar lässt der Pearson Chi-Qua- Sicherheitslage einen bedrohlichen Stand- zwischen 8,7 Prozent bei den Unterneh- drat-Test mit p = 0,0653 > 0,05 keinen ortfaktor bildet, die von 26,1 Prozent bei men des Nahrungsmittelgewerbes einer- signifikanten Effekt erkennen, aber der we- Handwerksbetrieben, die bis zu 5 km von seits und 38,8 Prozent beim Fahrzeugge- gen des höheren Skalenniveaus in diesem der Grenze liegen, über 22,9 Prozent, bei

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Betrieben 5 bis 15 km von der Grenze, und Investitionsrelevanz 15,3 Prozent, bei Handwerksunternehmen Betroffenheitshäufigkeit in einer Grenzentfernung zwischen 15 und ja nein 30 km, sukzessive auf 13,3 Prozent bei Be- 70 98 ein Mal trieben mit Standorten weiter als 30 km 41,7 % 58,3 % von der Grenze sinken. 116 95 2 bis 3 Mal Noch etwas verschärfter, war die Frage 55,0 % 45,0 % formuliert, ob die gegebene Sicherheits- 40 21 4 bis 5 Mal lage einen möglichen Grund zur Verlage- 65,6 % 34,4 % rung oder Schließung des Handwerksun- 32 12 ternehmens bilden könnte (Tabelle 11)? öfter als 5 Mal 72,7 % 27,3 % Insgesamt 64 oder 8,2 Prozent der Un- ternehmen bejahten diese Frage, 89,1 Pro- Pearson Chi-Quadrat: 19,7362 df = 3 p = 0,0002 < 0,01, h. s. zent verneinten sie, 2,7 Prozent enthiel- Spearman Rang-R –0,2009 t = –4,504 p = 0,0000 < 0,01, h. s. ten sich der Antwort. Also weniger als ein Zehntel der Handwerksbetriebe sehen Tabelle 15: Häufigkeit der Betroffenheit durch Eigentumsdelikte und deren Bedeutung in eine akute Existenzbedrohung durch die der Einschätzung der Sicherheitslage als Einflussfaktor auf die Investitionstätigkeit problematische Sicherheitslage gegeben. Wegen der recht einseitigen Antwortver- teilung wird bei dieser Frage in diesem Investitionsrelevanz Schadensumfang Beitrag auf nähere Analysen, die sicherlich ja nein auch interessant wären, verzichtet. 6 11 1 bis 100 € Sicherheitslage und Eigentums- 35,3 % 64,7 % delikte als investitionsbeeinflus- 16 39 101 bis 500 € sender Faktor 29,1 % 70,9 %

19 27 In die gleiche Richtung wie die beiden 501 bis 1000 € anderen Fragen gehend, aber in der Trag- 41,3 % 58,7 % weite wohl nicht so gravierend, erscheint 74 72 1001 bis 5000 € die folgende Frage nach dem Einfluss der 50,7 % 49,3 % Sicherheitslage auf die Investitionstätig- 42 20 5001 bis 10.000 € keit (Tabelle 12). 67,7 % 32,3 % Der Tabelle 12 kann entnommen wer- 30 13 10.001 bis 25.000 € den, dass nahezu 40 Prozent (39,2 Pro- 69,8 % 30,2 % zent) der befragten Handwerksbetriebe 27 6 in der gegebenen Sicherheitslage einen 25.001 bis 100.000 € 81,8 % 18,2 % ihre Investitionstätigkeit merklich beein- 3 3 flussenden Faktor sehen. 57,6 Prozent über 100.001 € 50,0 % 50,0 % verneinten dies, 3,2 Prozent antworteten nicht bei dieser Frage. Ohne Zweifel spielt Pearson Chi-Quadrat: 38,8996 df = 7 p = 0,0000 < 0,01, h. s. also die konkret gegebene Sicherheitslage Spearman Rang-R –0,2948 t = –6,21 p = 0,0000 < 0,01, h. s. unter den bei Investitionsentscheidungen abzuwägenden Rahmenbedingungen Tabelle 16: Umfang der durch Eigentumsdelikte entstandenen Schadenssummen in den letz­ und Risiken eine erhebliche Rolle. Welches ten fünf Jahren und deren Bedeutung für die Einschätzung der Sicherheitslage als relative Gewicht diesem Aspekt zukommt, Einflussfaktor auf die Investitionstätigkeit müsste allerdings durch weitergehende quantitative und qualitative Untersuchun- nenswerten Einfluss auf ihre Investitions- effizient-Test mit p = 0,0000 < 0,01 gen näher erforscht werden. tätigkeit zuschreiben, sind es bei den Un- erkennen lassen, eine durchschlagende Wie eigentlich nicht anders zu erwar- ternehmen, die die Sicherheitslage „eher Wirkung. Diese ist auch darin leicht fest- ten war, hängen die Einschätzung der schlecht“ einschätzten, 50,7 Prozent, und stellbar, dass 53,3 Prozent der durch Ei- gegebenen Sicherheitslage und die Beur- bei denjenigen, die zu einer sehr schlech- gentumsdelikte betroffenen Handwerks- teilung der Sicherheitsgegebenheiten als ten Beurteilung der Sicherheitsgegeben- betriebe einen deutlichen Einfluss der relevanter investitionsbeeinflussender Fak- heiten kamen, sogar 72 Prozent. Sicherheitslage auf ihre Investitionstä- tor sehr eng zusammen, wie der Pearson Welche Bedeutung kommt im Hinblick tigkeit bekunden, aber nur 16,1 Prozent Chi-Quadrat-Test mit p = 0,0000 < 0,01 auf die Investitionsentscheidungen der der Unternehmen, die nicht betroffen und der Spearman Rangkorrelationskoef- Betroffenheit durch Eigentumsdelikte, der waren. Wie ebenfalls erkennbar wurde, fizient-Test mit ebenfalls p = 0,0000 < Häufigkeit und dem Schadensumfang zu? besteht auch zwischen der eigenen Be- 0,01 gleichermaßen ausweisen. Während Die eigene Betroffenheit durch Eigen- troffenheit durch Eigentumsdelikte und es unter den Handwerksbetrieben, die die tumsdelikte hat, wie der Pearson Chi- der Einschätzung der Sicherheitslage er- Sicherheitslage vorwiegend gut beurteilen Quadrat-Test mit p = 0,0000 < 0,01 wartungsgemäß ein hoch signifikanter nur 6 Prozent sind, die dieser einen nen- und der Spearman Rangkorrelationsko- Zusammenhang.

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Investitionsrelevanz die Investitionsrelevanz der Sicherheits- Branchenzugehörigkeit lage nicht nur auf die Betroffenheit selbst, ja nein sondern auch auf das Ausmaß bzw. die 82 104 Häufigkeit der Schadensbetroffenheit an- Bauhauptgewerbe 44,1 % 55,9 % kommt. Wie sich auf Grund des Pearson Chi-Quadrat-Tests mit p = 0,0001 < 0,01 92 116 Ausbaugewerbe 44,2 % 55,8 % und des Spearman Rangkorrelationskoef- fizient-Tests mit p = 0,0000 < 0,01 zu- 7 33 Gewerblicher Bedarf 17,5 % 82,5 % dem zeigte, besteht erwartungsgemäß auch zwischen der Häufigkeit der eigenen 44 27 Kraftfahrzeuggewerbe Betroffenheit durch Eigentumsdelikte und 62,0 % 38,0 % der Einschätzung der Sicherheitslage ein 12 35 Nahrungsmittelgewerbe hoch signifikanter Zusammenhang. 25,5 % 74,5 % Wie verhält es sich mit dem Einfluss 4 14 der Schadenshöhe auf die investitions- Gesundheitsgewerbe 22,2 % 77,8 % beeinflussende Relevanz der Sicherheits- lage (Tabelle 16)? Sowohl der der Pear- 32 79 Persönliche Dienstleistungen 28,8 % 71,2 % son Chi-Quadrat-Test mit p = 0,0000 < 0,01 wie auch der Spearman Rangkor- 25 29 zwei/mehrere Branchen 46,3 % 53,7 % relationskoeffizient-Test mit ebenfalls p = 0,0000 < 0,01 lassen erwartungsge- Pearson Chi-Quadrat: 38,4375 df = 7 p = 0,0000 < 0,01, h. s. mäß einen hoch signifikanten Effekt der Spearman Rang-R ist nicht anwendbar, da die Branchenzugehörigkeit aus nominalskalierten Daten Schadenshöhe durch Eigentumsdelikte in besteht. den letzten fünf Jahren auf die Relevanz der Einschätzung der Sicherheitslage als Tabelle 17: Branchenzugehörigkeit und deren Bedeutung in der Einschätzung der investitionsbeeinflussenden Faktor erken- Sicherheitslage als Einflussfaktor auf die Investitionstätigkeit nen. Auch der tendenzielle Anstieg der Prozentanteile der Handwerksbetriebe, die diesen Zusammenhang bejahen, mit Investitionsrelevanz Grenznähe dem Schadensumfang unterstreichen die- ja nein sen Befund. 169 208 Nun sei auch noch ein Blick auf die Rele- bis 5 km 44,8 % 55,2 % vanz der branchenbezogenen (Tabelle 17) sowie die Grenzentfernung (Tabelle 18) 91 131 5 bis 15 km 41,0 % 59,0 % betreffenden Kenngrößen in diesem Zu- sammenhang geworfen. Die Branchen- 40 91 15 bis 30 km zugehörigkeit lässt durch den Pearson 30,5 % 69,5 % Chi-Quadrat-Test mit p = 0,0000 < 0,01 3 12 über 30 km einen hoch signifikanten Effekt erken- 20,0 % 80,0 % nen. Dabei weisen die Unternehmen des p = 0,0120 > 0,01, Gewerblichen Bedarfs mit 17,5 Prozent, Pearson Chi-Quadrat: 10,9434 df = 3 < 0,05, s. s. des Gesundheitsgewerbes mit 22,2 Pro- Spearman Rang-R 0,1084 t = 2,9716 p = 0,0031 < 0,01, h. s. zent, des Nahrungsmittelgewerbes mit 25,5 Prozent und des Bereichs der Persön- Tabelle 18: Grenznähe und deren Bedeutung in der Einschätzung der Sicherheitslage als lichen Dienstleistungen mit 28,8 Prozent Einflussfaktor auf die Investitionstätigkeit unterdurchschnittlich niedrige und das Kraftfahrzeuggewerbe mit 62 Prozent ei- Zu vermuten ist im Sinne unserer Hypo- und ebenso der Spearman Rangkorrelati- nen überdurchschnittlich hohen Anteil an thesen auch, dass nicht nur die Betroffen- onskoeffizient-Test mit p = 0,0000 < 0,01 Betrieben auf, die eine investitionsbeein- heit durch Eigentumskriminalität schlecht- feststellen lassen. Bei den Handwerksbe- flussende Bedeutung der Sicherheitslage hin, sondern auch die Häufigkeit der Be- trieben, die ein Mal betroffen waren, sind ansprechen. Auch hier kommen wohl ne- troffenheit eine differenziert zum Tragen es 41,7 Prozent, bei denen, die 2 bis 3 Mal ben dem Umfang der Betroffenheit durch kommende investitionsbeeinflussende betroffen waren, 55 Prozent, bei den 4 bis Eigentumsdelikte auch entsprechende Be- Relevanz erkennen lässt. Dies ist im Fol- 5 Mal betroffenen, 65,6 Prozent sowie bei sonderheiten der jeweiligen Handwerks- genden näher zu analysieren (Tabelle 15). den Unternehmen, die häufiger als 5 Mal branche zu tragen Die Häufigkeit der eigenen Betroffenheit durch Eigentumsdelikte betroffen wurde, Die Grenznähe zeigt beim Chi-Quad- durch Eigentumsdelikte und die investiti- 72,7 Prozent, die der Sicherheitslage eine rat-Test mit p = 0,0120 > 0,01, p = onsbeeinflussende Bedeutung der Sicher- investitionsbeeinflussende Bedeutung zu- 0,0120 < 0,05 nur einen schwach si- heitslage weisen einen statistisch hoch si- schreiben. gnifikanten Effekt, der maßgeblichere gnifikanten Zusammenhang auf, wie der Die entsprechende Progression zeigt Spearman Rangkorrelationskoeffizient- Chi-Quadrat-Test mit p = 0,0002 < 0,01 sehr deutlich an, dass es im Hinblick auf Test weist mit p = 0,0031 < 0,01 aller-

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dings einen hoch signifikanten Zusam- Handwerk eine entsprechend große wirt- gen. In: Kriminalistik. Unabhängige Zeitschrift menhang auf. Bei Unternehmen bis 5 schaftliche Bedeutung zukommt, sollten für die kriminalistische Wissenschaft und Praxis, 63. Jg., Heidelberg, S. 72 – 79. km von der Grenze, sind es 44,8 Pro- diesen Befunden und Erkenntnissen in der Sterbling, A. (2013a): Görlitzer Bürgerbefragung zent, bei Handwerksbetrieben 5 bis 15 Praxis eine angemessene Beachtung ge- 2012 zur subjektiven Sicherheit und Lebens- km, 41 Prozent, bei Betrieben mit einem schenkt werden. qualität, Rothenburger Beiträge. Polizeiwissen- Standort 15 bis 30 km, 30,5 Prozent und schaftliche Schriftenreihe (Band 64). Rothen- burg/OL. bei Handwerksunternehmen, die über 30 Kontakt Sterbling, A. (2013b): Zufriedenheit mit der öf- km von der Grenze entfern liegen, ledig- [email protected] fentlichen Sicherheit in einer längerfristigen lich 20 Prozent, die eine investitionsbe- Betrachtungsperspektive. Ergebnisse von Bür- einflussende Relevanz der Sicherheitslage Literatur gerbefragungen. In: Kriminalistik. Unabhängige Burgheim, J./Sterbling, A. (1999): Hoyerswerda ausmachen. Zeitschrift für die kriminalistische Wissenschaft – Modell kommunaler Kriminalprävention in und Praxis, 67. Jg., Heidelberg, S. 317 – 325. Sachsen. Konstanz. Sterbling, A. (2015a): Sicherheit und Lebens- Schlussbetrachtungen Feltes, Th. (Hrsg.) (1995): Kommunale Kriminal- qualität im Landkreis Görlitz. Ergebnisse einer prävention in Baden-Württemberg. Erste Ergeb- Eigentumsdelikte und insbesondere Ein- Bürgerbefragung. Rothenburger Beiträge. Poli- nisse der wissenschaftlichen Begleitung von drei zeiwissenschaftliche Schriftenreihe (Band 78). bruch und Diebstahl, von denen Hand- Pilotprojekten. Holzkirchen/Obb. Rothenburg/Oberlausitz. werksbetriebe in der grenznahen Region Handwerkskammer Cottbus/Handwerkskammer Sterbling, A. (2015b): Eigentumsdelikte, eigene Dresden (Hrsg.) (2015): Sicherheit im grenzna- des Landkreises Görlitz besonders häufig Betroffenheit, Auswirkungen auf die subjek- hen Raum. Ergebnisse der fünften gemeinsa- und mit erheblichen Schadensfolgen be- tive Sicherheit. In: Kriminalistik. Unabhängige men Umfrage der Handwerkskammern Cottbus Zeitschrift für die kriminalistische Wissenschaft troffen erscheinen, zeigen in unserer aktu- und Dresden im Sommer 2015. Cottbus-Dres- und Praxis, 69. Jg., Heft 12, Heidelberg 2015, ellen Untersuchung (Sterbling 2016) nicht den. S. 710 – 718. nur weitreichende Auswirkungen auf die Sterbling, Anton (2003): Zwei Städte in der Lau- Sterbling, A. (Hrsg.) (2016): Sicherheitsanliegen subjektive Sicherheitswahrnehmung, son- sitz. Neue Entwicklungen und Wahrnehmun- gen in vergleichender Perspektive. In: Schmidt, des Handwerks im Landkreis Görlitz. Ergebnisse dern auch einen erheblichen Einfluss auf Martin (Hrsg.): Die Oberlausitz und Sachsen einer empirischen Untersuchung, Rothenburger wirtschaftliche und unternehmerische in Mitteleuropa. Festschrift für Prof. Dr. Karl- Beiträge. Polizeiwissenschaftliche Schriften- Vorgänge und Entscheidungsprozesse. heinz Blaschke zum 75. Geburtstag. Görlitz- reihe. Rothenburg/OL. Vogt, Matthias Theodor/Sokol, Jan/Ociepka, Be- Gerade in einer Grenzregion, die als wirt- Zittau, S. 412 – 423. Sterbling, A. (2009): Kriminalitätsfurcht. Verglei- ata/Pollack, Detlef/Mikołajczyk, Beata (Hrsg.) schaftlich strukturschwach gilt (Sterbling che, Entwicklungen und Erklärungen auf der 2009: Peripherie in der Mitte Europas. 2003; Vogt u. a. 2009) und in der dem Grundlagen von fünf Bevölkerungsbefragun- a. M. u. a.O. LITERATUR

Gelungener Ratgeber

Gatzke/Averdiek-Gröner, Häusliche In der Einführung werden die wesent- Gewalt, 1. Aufl. 2016, Verlag Deut- lichen Charakteristika einer (typischen) sche Polizeiliteratur, 141 S., 14,90 Gewaltbeziehung dargestellt und das Euro Ausmaß des Phänomens anhand von Die in der Reihe „Lehr- und Studien- Daten/Zahlen anschaulich verdeutlicht briefe“ als Band 22 herausgegebene (Seite 15 ff.). Ein weiterer Schwerpunkt Broschüre behandelt ein für die Poli- der Ausführungen liegt auf der Darstel- zeipraxis wichtiges Thema. Einsätze bei lung des polizeilichen Handelns in der häuslicher Gewalt gehören zum Alltag „Einsatzlage“ (S. 39 ff.). Die Autoren von Polizeibeamtinnen und ‑beamten. gehen umfassend auf die in Betracht Die Polizeigesetze geben den Hand- kommenden (Zwangs-)Maßnahmen ein, lungsrahmen vor und legen die Vor- wobei nicht nur die rechtliche, sondern aussetzungen für Eingriffsmaßnahmen auch die taktische Seite angesprochen fest (s. z. B. § 34 a PolG NRW). Da die wird (siehe z. B. Seite 47 ff.). Nicht ohne Beamten vor Ort zumindest vorläufige Grund geht es hierbei insbesondere Maßnahmen zur Gefahrenabwehr tref- auch um die Eigensicherung. Checklisten fen müssen, ist die genaue Kenntnis der („Übersichten“) geben die Möglichkeit, tatbestandlichen Merkmale des Geset- sich (nochmals) über die einzelnen Prüf- zes von großer Bedeutung. Darüber hi- schritte bei Einsätzen zu vergewissern. naus bergen solche Einsätze aufgrund Ein praktischer Klausur‑ Fall (S. 89 ff.) der hohen Emotionalisierung der Betei- veranschaulicht den Stoff weiter. Geset- ligten hohe Risiken auch für die Einsatz- zesauszüge und Vordruckmuster runden und der grundlegenden Relevanz des The- kräfte der Polizei. Die Gewalt gegen- die Darstellung vorteilhaft ab. mas sollten auch – und vielleicht gerade – über einer betroffenen Person kann sich Fazit: Ein gelungener Ratgeber, der so- Studierende des Fachbereichs Polizeivoll- leicht gegen die Polizei wenden. Vor wohl in der Praxis als auch in der theoreti- zugsdienst die Anschaffung des Buches in diesem Hintergrund ist eine Darstellung schen Aus‑ und Fortbildung gute Dienste Erwägung ziehen. wie die vorliegende zu begrüßen. leistet. Angesichts des günstigen Preises Prof. Dr. J. Vahle, Bielefeld

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88 Tagungsbericht Kriminalistik 2/2017 Kriminalistik in Osteuropa Bericht über die XII. Internationale wissenschaftlich-praktische Konferenz für Kriminalistik an der Universität Warschau

Von Rolf Ackermann

Es ist bereits Tradition geworden, dass sich Vertreter der raschend viele Dozenten von Kriminalisti- osteuropäischen Kriminalistik im Rhythmus von zwei Jahren schen Lehrstühlen und Expertiseneinrich- tungen der Universitäten teil. Kriminalis- im Rahmen von wissenschaftlich-praktischen Konferenzen tik ist an den meisten osteuropäischen treffen, um aktuelle Fragen der Entwicklung der Kriminalis- Universitäten Lehrfach, eingeordnet in tik und ihrer Instrumente zur praktischen Umsetzung in der rechtswissenschaftliche Fakultäten bzw. polizeilichen und justiziellen Tätigkeit zu beraten. Initiiert Bereiche für das Sicherheitsmanagement. von der Mykolas Romeris Universität Vilnius, Rechtsfakultät, Konferenzteilnehmer Lehrstuhl für Kriminalistik, dem Zentrum der Forensischen Die Konferenzteilnehmer kamen u. a. aus Expertise Litauens (Justizministerium) sowie der Gesellschaft Litauen, Russland, Polen, Kasachstan, Slo- der Kriminalisten Litauens finden diese Konferenzen an un- wakei, Ukraine, Bosnien‑ Herzegowina, Weißrussland, Tschechien, Serbien, Est- terschiedlichen Universitäten und Hochschulen statt. Vom land, Italien, Deutschland. Vertreten wa- 29. bis 30. September 2016 richtete die Universität War- ren viele Wissenschaftler aus außerpolizei- schau den XII. Kongress aus. lichen Forschungseinrichtungen und Lehr- stühlen für Kriminalistik der Universitäten. Schon daraus ist das sich von Deutschland Veranstalter waren der Lehrstuhl für Kri- kultät der Universität Vilnius1, zugleich minalistik an der Fakultät für Recht und Vorsitzende der Litauischen Gesellschaft Nicht nur die Polizei Zielgruppe Verwaltung der Universität Warschau, der Kriminalisten. kriminalistischer Ausbildung Prof. Dr. habil. Tadeus Tomaszewski, zu- Thema: „Kriminalistik und gleich Vorsitzender des Wissenschaftli- forensische Expertise, Wissen- unterscheidende Ausbildungskonzept für chen Rates der polnischen Gesellschaft für schaft, Lehre und Praxis“ die kriminalistische Lehre erkennbar. In Kriminalistik; die Forensische Gesellschaft den meisten Ländern wird dem Umstand Polens „Department of Criminalistics“ Dr. Die Konferenz fand in den osteuropäi- Rechnung getragen, dass nicht nur die Mieczylaw Goc; die Gesellschaft der Kri- schen Mitgliedsländern der Europäischen Polizei Zielgruppe kriminalistischer Aus- minalisten Litauens, Prof. Dr. Henryk Ma- Union außerordentliches Interesse. Das bildung ist. „Umfassende kriminalistische lewski, Institut Straf‑ und Verfahrensrecht wird durch die Teilnahme von ca. 80 in- Kenntnisse sind nicht nur zur kriminalpo- der Rechtsfakultät der Mykolas Romeris ternationalen Experten aus 15 Ländern lizeilichen Aufgabenerfüllung erforderlich. Universität Litauens sowie dem wissen- belegt. Diese beteiligten sich aktiv, sowohl Auch Richter, Staatsanwälte, Rechtsan- schaftlichen forensischen Zentrum Litau- im Plenum, als auch in den einzelnen Sek- wälte z. B. müssen für eine sachgerechte ens, vertreten durch Doz. Dr. Gabriel tionen, mit Vorträgen und in der Diskus- Berufsausbildung – selbst für zivil‑ und Juodkait -Granskiené, von der Rechtsfa- sion. Konferenzsprachen waren Polnisch, verwaltungsgerichtliche Verfahren – über Englisch und Russisch, die simultan über- entsprechendes Wissen verfügen.“2 tragen wurden. Vertreter der Länder ka- Frauen in der kriminalistischen men aus unterschiedlichen Fachgebieten Forschung und Lehre und Verantwortungsbereichen. Neben Vertretern von Fachdienststellen der kri- Auffällig war zudem, dass viele Frauen minalistischen Praxis waren es vor allem die kriminalistische Forschung, Lehre Professoren von Universitäten, Dozenten und Expertise vertreten. In 20 Vorträgen von Fachhochschulen, Wissenschaftliche legten weibliche Experten neue Erkennt- Prof. Dr. Mitarbeiter von kriminalistischen Exper- nisse oder weiter entwickelte Methoden sc. jur. Rolf tiseneinrichtungen, einschließlich staats- dar. Beispielhaft, die sehr engagiert agie- Ackermann, Diplomkrimi­ anwaltschaftlicher Forschungsinstitute. rende Elena Rossinskaja von der Moskauer nalist, Berlin Für deutsche Verhältnisse nahmen über- Staatlichen Rechtsuniversität O. E. Kutafin,

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die zur Organisation, dem System, den Eine tiefergehende Darstellung der da- Kriminalistische Themenvielfalt Aufgaben und Entwicklungstrends der fo- mit verbundenen Vision zur Schaffung rensischen Expertisentätigkeit sprach. Für eines gesamteuropäischen Kriminalistik- Über das Hauptanliegen der Konferenz Geschichtsinteressierte: sie ist die Tochter Rates findet der Leser in einem Beitrag wurde ein breit gefächertes Spektrum von des international bekannten Kriminalisten von Malewski, Kurapka, Matulien und kriminalistischen Sach‑ und Fachfragen und Rechtswissenschaftlers R. S. Belkin, Joudkaité-Granskien in der Zeitschrift behandelt. In den 75 im Plenum bzw. den der sich vorrangig mit der allgemeinen Kriminalistik4 Sektionen gehaltenen Vorträgen spiegelte Theorie der sowjetischen Kriminalistik und Für die Umsetzung eines solchen Me- sich die inhaltliche Vielfalt wider. Die Vor- ihrem Gegenstand befasste. morandums gibt es gute Voraussetzun- tragenden befassten sich mit kriminaltak- gen. Besonders das große Engagement tischen, kriminaltechnischen und metho- Hauptanliegen der Vertreter der Litauischen Gesellschaft dischen Fragestellungen. Einen breiten Die Kriminalistik entwickelt viele Metho- für Kriminalistik, der Universitäten und Platz nahm die spezielle Expertisenerstat- den zur Bekämpfung neuer, insbesondere Expertiseneinrichtungen Litauens, der tung ein, vorwiegend mit kasuistischem länderübergreifender Kriminalitätsphäno- Warschauer Universität und der anderen Inhalt und Schlussfolgerungen für die mene, vor allem der organisierten Krimi- Länder, könnte den Erfolg dieses Vorha- Beweisführung. Es wurden Fragen der nalität. Die immer komplexer werdenden bens gewährleisten. Sie verfügen über Identifizierung von Handschriften ebenso Anforderungen, die sich daraus für die notwendige Voraussetzungen, das Projekt behandelt wie Forschungsergebnisse zur Beweisführung ergeben, waren Anlass zu führen. Dennoch muss realistisch an Opferidentifizierung im Zusammenhang für den Rat der Europäischen Union ei- die praktische Umsetzung eines solchen mit kommunistischem Terror in Polen von nen „Entwurf von Schlussfolgerungen Vorhabens herangegangen werden. Die 1944 – 1956 oder die Fingerspurenbeur- des Rates zu einer Vision für die Europäi- internationale Kriminalistik, ihre wissen- teilung in der Archäologie. Ohne den In- sche Kriminaltechnik 2020, einschließlich schaftlichen Vertreter, die kriminalistische halt der vielseitigen Vorträge und Diskus- Praxis, entsprechende nationale Gremien sionen im Einzelnen bewerten zu können, Einzelne Nationalstaaten und Verbände sind zur Mitwirkung auf- scheint sich für den außenstehenden Be- können Probleme der gerufen. trachter folgende Tendenz abzuzeichnen: Kriminalitätsbekämpfung ●● Stärkere Hervorhebung des eigenstän- Vorbehalte überwinden nicht mehr isoliert lösen digen Charakters und der Möglichkei- Als eine sehr wichtige Aufgabe er- ten der Kriminalistik zur Kriminalitäts- der Schaffung eines Europäischen krimi- scheint, die noch bestehenden Schran- bekämpfung, Straftatenuntersuchung naltechnischen Raums und der Entwick- ken und gegenseitigen Vorbehalte zum und Beweisführung lung kriminaltechnischer Infrastruktur in jeweiligen System der Kriminalistik zu ●● Verstärkung des Beitrages der Krimina- Europa“3 vorzulegen und alle Mitglied- überwinden. Diese sind allein durch listik zur Täterermittlung durch neue staaten zu ersuchen, die Schaffung und den Umstand, dass die ost‑ und west- Methodenentwicklung den Ausbau eines kriminaltechnischen europäischen Staaten gemeinsam Mit- ●● Frühzeitiges Erkennen der aktuellen und Raumes zu unterstützen und zu fördern. glied der Europäischen Union sind, teilweise völlig neuen Kriminalitätsphä- Die osteuropäischen Staaten, als gleichbe- noch nicht beseitigt. Die Kluft zwischen nomene als Voraussetzung für rechtzei- rechtigte EU-Mitgliedstaaten, arbeiten in den kriminalistischen Schulen von Ost‑, tige Verhinderung und Bekämpfung den auf der Grundlage dieser Empfehlun- Mittel-, und Westeuropa ist noch sehr ●● Erhöhung der Qualität der Beweisfüh- gen entstandenen Gremien mit und kon- groß und sehr stark ideologiebehaf- rung durch konsequente Nutzung eu- zentrieren ihr Leistungsvermögen auf die tet. Ein Blick auf die anwesenden Teil- ropäischer Standards bei der Experti- Entwicklung dementsprechender krimi- nehmerländer der Konferenz bestätigt senerstattung naltechnischer Standards. Die Veranstalter ●● Verstärkung des wissenschaftlichen Er- ließen sich von dem konzeptionellen Ge- Kluft zwischen den fahrungs‑ und Gedankenaustauschs danken leiten, dass die Orientierung auf kriminalistischen Schulen zwischen allen europäischen Staaten Kriminaltechnik und Beweisführung allein noch immer sehr Die Vielfalt und die Unterschiedlichkeit nicht ausreicht. Die Kriminalistik muss mit ideologiebehaftet der einzelnen Themen erlaubt es nicht, all ihren Methoden dazu beitragen, die näher darauf eingehen zu können. Her- Straftatenbekämpfung zu verbessern. Das geringes Interesse von Kriminalwissen- vorzuheben sind jedoch die aus den muss länderübergreifend geschehen. Ein- schaftlern und Praktikern aus den westeu- Vorträgen erkennbaren Bestrebungen, zelne Nationalstaaten können Probleme ropäischen Staaten an den fortschreiten- die Mittel, Methoden und Verfahren der der Kriminalitätsbekämpfung heute nicht den Entwicklungen in Osteuropa. Allein Kriminalistik entsprechend dem heutigen mehr isoliert lösen. an einer Sprachbarriere kann das nicht wissenschaftlichen Erkenntnisstand weiter liegen. Im Gegensatz dazu befassen sich entwickeln zu wollen. Memorandum diese Staaten sehr aufmerksam und in- Gesprächsbasis verbreitern Die Konferenz ergriff deshalb die Initiative, tensiv mit der Entwicklung der Kriminalis- ein Memorandum zur Schaffung eines tik in Westeuropa und Deutschland und Während der Konferenz und am Rande gemeinsamen europäischen Raumes der betreiben entsprechende Forschungspro- ergaben sich vielfältige Möglichkeiten des Wissenschaft Kriminalistik zu entwickeln. jekte. So sei am Rande vermerkt, dass z. B. Gedankenaustauschs. Es ist festzustellen, Ein solches darf sich jedoch nicht nur auf zwei umfangreiche Monographien zur dass in den osteuropäischen Staaten nach die Kriminaltechnik und Standards für die Entwicklung der Kriminalistik in Deutsch- Erwerb der nationalen Eigenständigkeit Expertisentätigkeit beschränken. land veröffentlicht wurden.5 vor mehr als fünfundzwanzig Jahren die

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90 Tagungsbericht/Recht aktuell Kriminalistik 2/2017

wissenschaftliche Kriminalistik, eingeord- schen Kriminalistik ist sehr groß, jedoch gibt 4 Malewski, H.; Kurapka, E.; Matuliené, S.; Jou- net in die freiheitlich-demokratische Rechts- es keine systematische und koordinierte Zu- dokait -Granskiené, G., Die Gesellschaft der Kriminalisten Litauens“ , Brücke zwischen ordnung, – die unterschiedlich ausge- sammenarbeit mit westeuropäischen Verei- den kriminalistischen Schulen Ost‑, Mit- prägt ist, keinen Stillstand wie beispiels- nigungen, was sehr bedauert wird. tel- und Westeuropas, Kriminalistik 4/2016, weise in Deutschland erlitten hat. S. 226 – 233 In den Gesprächen wurde die Bedeutung 5 Sokol, V., Kriminalistik in Deutschland, System Anmerkungen und Perspektiven; Krasnodarer Universität des unabhängiger „Kriminalistischer Gesell- 1 Nicht zu verwechseln mit der Mykolas Romeris Ministeriums des Innern Russlands (2010), in schaften“ hervorgehoben und festgestellt, Universität Litauens russischer Sprache, ISBN 978 – 5-9266 – 0364-1. dass es in allen osteuropäischen Staaten 2 Kurapka, V. E.; Malevski, H., Kriminalistiklehre Sokol, V., Die Entstehung und die Entwicklung an Universitäten – Notwendigkeit, Realität oder solche gibt, die ähnliche Zielstellungen wie der Kriminalistik in Deutschland und Russland, Problem? Kriminalistik Heft 1 (2005), S. 47 ff. Krasnodarer Universität des Ministeriums des die Deutsche Gesellschaft für Kriminalistik 3 Rat der Europäischen Union, ENFOPOL 413, Pa- Innern Russlands (2011), in russischer Sprache, (DGfK) verfolgen. Das Interesse an der deut- pier 17537/11 vom 1. September 2011 (5.12) ISBN: 978 – 5-9266 – 0402-0, 312 Seiten RECHT AKTUELL Polizeiliche „Sicherstellung“ einer Geldforderung

Die Vorschrift des Art. 25 (Bay) PAG Strafverfahren wurde später nach § 170 Rechtsstaats (Art. 20 Abs. 3 GG) und damit (= z. B. § 43 PolG NRW) über die Abs. 2 StPO eingestellt. Die beklagte Polizei- insbesondere der Vorbehalt des Gesetzes Sicherstellung von Sachen ermäch- behörde hat die beschlagnahmten Gelder erforderten dabei, dass Ermächtigungen tigt nicht zur „Sicherstellung“ einer für den Fall der Aufhebung der strafprozes- der Exekutive zur Vornahme belastender schuldrechtlichen Forderung, und sualen Beschlagnahme des Geldes zwecks Verwaltungsakte nach Inhalt, Gegenstand, zwar auch dann nicht, wenn die Gefahrenabwehr „sichergestellt“. Es sei Zweck und Ausmaß im ermächtigenden Forderung durch Einzahlung von – davon auszugehen, dass das sichergestellte Gesetz (Befugnisnorm) bestimmt und be- zunächst strafprozessual beschlag- Geld mit hinreichender Wahrscheinlichkeit grenzt würden. Der VGH musste somit nahmtem – Bargeld auf ein Konto aus Straftaten stamme und auch künftig nicht entscheiden, ob hier die nach Art. 25 entstanden ist. zur Begehung weiterer Straftaten verwen- Nr. 1 PAG vorausgesetzte „gegenwärtige det werde. Darauf deuteten nicht nur die Gefahr“ vorlag. Insoweit äußert der Senat Anmerkung: Höhe des Geldbetrages, sondern auch die allerdings deshalb Zweifel, weil von der im daran im Wege eines Drug-Wipe-Testes fest- maßgeblichen Zeitpunkt – Aufhebung der I. Zum Sachverhalt gestellten Kokainspuren hin. K hat gegen strafprozessualen Beschlagnahme – beste- Der Kläger (K) wurde im Fernzug Paris- die polizeirechtliche Sicherstellung erfolg- henden Geldforderung eine unmittelbare München im Rahmen einer verdachtsun- reich Klage erhoben. Gefahr nicht ausgehen konnte. Darüber hi- abhängigen Kontrolle festgenommen. Bei naus bestünden Zweifel daran, ob eine prä- II. Zur Rechtslage seiner Durchsuchung wurde Bargeld in ventive Sicherstellung des Buchgeldes Höhe von 176.650 € aufgefunden‚ das Eine präventiv-polizeiliche Sicherstellung (noch) nach Einstellung der strafrechtlichen sich in einem in einer Reisetasche mitge- kam hier unter verschiedenen Gesichts- Ermittlungen nach § 170 Abs. 2 StPO allein führten Stoffbeutel befand. Zur Herkunft punkten in Betracht. Der VGH erörtert aufgrund der ungeklärten Herkunft der be- des Geldes gab er zunächst an, dieses beide möglichen Eingriffsbefugnisse gem. schlagnahmten Geldscheine zulässig sei. beim Pokerspiel in einem privaten Kasino Art. 25 PAG. Der wegen verschiedener Delikte verurteilte in Paris gewonnen zu haben. Später er- 1. Nach Art. 25 Nr. 1 PAG (=z. B. §§ 22 K sei bisher weder als Betäubungsmitteltä- klärte er‚ zehn Jahre lang als Prostituierter POG Rh.-Pf., 40 HSOG, 43 PolG NRW) kann ter oder ‑konsument aufgefallen noch seien in verschiedenen Staaten Westeuropas die Polizei eine Sache sicherstellen, um eine bei ihm Betäubungsmittel aufgefunden gearbeitet zu haben. Anschließend habe gegenwärtige Gefahr abzuwehren. Eine worden. er in Turin Werbung für Lokale gemacht „Sache“ ist ein körperlicher (beweglicher 2. Auch Art. 25 Nr. 2 i. V. mit Art. 2 und dadurch mehr als 4000 € monat- oder unbeweglicher) Gegenstand (§ 90 Abs. 2 PAG, auf die der Beklagte seinen Be- lich verdient. Schließlich sei er in Paris im BGB); damit umfasst der Sachbegriff auch scheid als alternative Befugnisnorm stützt, Immobiliengeschäft tätig gewesen und Geld in Form von Münzen und Scheinen. Im ermächtigt ebenfalls nicht zu der angeord- habe dort ca. 3000 € monatlich verdient. vorliegenden Fall wurde bei K zwar zu- neten Sicherstellung. Nach dieser Vorschrift Später trug er vor, von dem aufgefun- nächst Bargeld (repressiv) beschlagnahmt, kann die Polizei eine Sache sicherstellen, um denen Geld gehörten ihm 100 000 €, das jedoch anschließend durch seine Ein- den Eigentümer oder den rechtmäßigen In- während 80 000 € von Freunden geliehen zahlung auf ein Konto der Landesjustizkasse haber der tatsächlichen Gewalt vor Verlust seien; er wolle einen Lastkraftwagen kau- in sog. Buchgeld umgewandelt wurde. Auf oder Beschädigung einer Sache zu schüt- fen. Das Geld sei außerdem für eine Hüft- diesen Fall sind die Vorschriften über die zen. Auch insoweit scheidet nach Auffas- operation seiner Schwester bestimmt. Die polizeirechtliche Sicherstellung nicht zuge- sung des Senats eine analoge Anwendung StA beschlagnahmte das Bargeld wegen schnitten. Auch die analoge Anwendung von Art. 25 PAG auf „Buchgeld“ oder sons- des Verdachts des Diebstahls und eines lehnt der VGH ab: Nach dem Grundsatz der tige schuldrechtliche Forderungen aus. Verstoßes gegen das Geldwäschegesetz Gesetzmäßigkeit der Verwaltung bedürfe VGH München, Urt. v. 23.2.2016 – und zahlte es auf ein Konto der Landes- eine polizeiliche Sicherstellung einer gesetz- 10 BV 14.2353 justizkasse ein. Das gegen K eingeleitete lichen Grundlage. Die Grundsätze des jv

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Kriminalistik 2/2017 Masseningewahrsamnahme 91 Einschließung von Störergruppen

Von Hartmut Brenneisen und Dirk Staack

Die polizeiliche Einschließung von Störergruppen bei Ver- schen den Mitgliedern möglich ist, die Menge nicht unmittelbar überschaubar ist sammlungs‑ und Veranstaltungslagen ist mit hohen rechtli- und es nicht mehr auf das Hinzukommen chen, taktischen und logistischen Anforderungen verbunden. oder Weggehen einzelner Personen an- Regelmäßig handelt es sich zudem um medienwirksame kommt.14 Der BGH hat dies bei einer An- Ereignisse, die von einer breiten Öffentlichkeit aufmerksam zahl von 15 bis 20 Personen bejaht.15 verfolgt werden. Insofern lohnt eine intensive Auseinander- 2. Versammlungslagen setzung mit dem Themenkreis, die in diesem Beitrag mit Insbesondere Einschließungen bei Ver- rechtlicher Zielstellung erfolgt. sammlungslagen sind seit Beginn der 1980-er Jahre, korrespondierend mit den 1. Einführung gen Eintracht Frankfurt allein 530 Inge- vorgenannten „Kesselentscheidungen“ wahrsamnahmen gezählt.9 der Verwaltungsgerichtsbarkeit, immer Freiheitsentziehende Maßnahmen größe- Die dabei verwendeten Begriffe sind wieder thematisiert worden. rer Personengruppen beschäftigen Polizei vielfältig. Es wird u. a. von „Einschließun- 1 2.1 Verfassungsrechtliche Ausgangs- und Justiz bereits seit vielen Jahren. Am gen“, „Polizeikesseln“, „Wanderkes- situation 8.6.1986 wurden etwa 800 Demonstran- seln“, „Panzermärschen“, „Masseninge- ten auf dem Heiligengeistfeld im Hambur- wahrsamnahmen“ oder „Massenfrei- Die verfassungsrechtliche Ausgangslage ger Stadtteil St. Pauli eingeschlossen,2 ein heitsentziehungen“ gesprochen.10 Bern- ist durch den hohen Stellenwert der Ver- Ereignis, über das auch heute, 30 Jahre hardt weist ergänzend auf die in der sammlungsfreiheit sowie ergänzend später, noch in den Medien berichtet PDV 100 verwendete Terminologie hin durch die Bewegungsfreiheit und die Frei- wird.3 Ähnlich pressewirksam waren u. a. und spricht von der „einschließenden zügigkeit gekennzeichnet. der „Berliner Kessel“4 am 12.6.1987, der Absperrung“.11 Die Versammlungsfreiheit wird zu- „Münchener Kessel“5 am 6.7.1992, der Relevant ist weiterhin die Frage, wann nächst durch Art. 8 GG gewährleistet. Da- „Frankfurter Kessel“6 am 1.6.2013 und im konkreten Fall von einer „Störer- nach haben alle Deutschen das Recht, in allerdings abgeschwächter Form die In- gruppe“ gesprochen werden kann, denn sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis gewahrsamnahme von etwa 100 NPD- eine Legaldefinition besteht nicht. Die ein- friedlich und ohne Waffen zu versam- Anhängern am 1.5.2012 in Neumünster7. fache Personenmehrheit im Sinne des Ver- meln. Nach herrschender Meinung entfal- Neben Maßnahmen im Versammlungsge- sammlungsbegriffs12 greift sicher zu kurz, tet der Schutzbereich des Art. 8 GG seine schehen sind auch Einschließungen bei denn zwei oder drei13 Personen dürften Wirkung nicht erst mit dem Beginn einer Veranstaltungslagen von Relevanz. Dies nicht unter den Begriff der „Störer- Versammlung, sondern er umfasst auch gilt insbesondere für Fußballspiele, bei de- gruppe“ fallen. Schlüssiger ist vielmehr die Vor‑ und Nachphase. Diese versamm- nen gewalttätige Auseinandersetzungen die Orientierung an einer „Menschen- lungsfreundliche Interpretation lässt sich und in der Folge freiheitsentziehende menge“, die durch die Rechtsprechung aus dem „Brokdorf-Beschluss“ des Maßnahmen nahezu den Regelfall dar- und strafrechtliche Kommentarliteratur BVerfG16 ebenso ableiten wie aus der Sys- stellen.8 Am 30.4.2016 wurden beispiels- Konturen erhalten hat. Fischer geht dann tematik der versammlungsgesetzlichen weise im Zusammenhang mit dem Fuß- von einer „Menschenmenge“ aus, wenn Normen und aus der neueren Rechtspre- ball-Bundesligaspiel SV Darmstadt 98 ge- keine unmittelbare Kommunikation zwi- chung.17 Für das hoheitliche Eingriffshan- deln von Bedeutung ist die sog. „Polizei- rechtsfestigkeit“ der Versammlungsfrei- heit, die auch nach der Föderalismusre- form I besteht und mit Subsidiaritätser- wägungen sowie dem Zitiergebot aus Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG zu begründen ist.18 Art. 8 GG schützt keine unfriedlichen Prof. Hartmut Brenneisen, Leiten­ Versammlungen. Sind die verfassungsun- der Regierungsdirektor, Fachbe­ mittelbaren Gewährleistungsschranken reich Polizei der FHVD Schleswig- der Friedlichkeit und Waffenlosigkeit Holstein, Altenholz (rechts) Dirk Staack, Polizeidirektor, LKA überschritten, ist der Schutzbereich der Schleswig-Holstein, Kiel Grundrechtsnorm nicht einschlägig. Den-

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92 Masseningewahrsamnahme Kriminalistik 2/2017

noch kommt den Normen der speziellen abgrenzbarer Bereiche zulässig sein.26 So 2.2.2 Minusmaßnahmen‑ und Ergän‑ Versammlungsgesetze auch hier eine vor- hat der VerfGH Berlin am 11.4.2014 fest- zungstheorie rangige Bedeutung zu.19 gestellt, dass der Gesetzgeber zwar keine Fraglich ist, ob eine mittelbare Anwen- Neben der Versammlungsfreiheit ist die umfassende Regelung des Versammlungs- dung versammlungsrechtlicher Normen Freiheit der Person gemäß Art. 2 Abs. 2 rechts für Berlin getroffen hat, die Zuläs- über den Erst-Recht-Schluss „a maiore ad Satz 2 GG zu beachten. Die dem „Ha- sigkeit dieser „Teilersetzung“ jedoch be- minus“ in Verbindung mit der „Ergän- beas-Corpus-Recht“ nachgezeichnete stätigt.27 Bereichsspezifische Landesgesetze zungstheorie“ in Betracht kommt. Der Position steht in unlösbarem Zusammen- unterschiedlicher Qualität28 gibt es zurzeit Erst-Recht-Schluss „a maiore ad minus“ hang mit den formellen Gewährleistun- in Bayern, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Nie- entspringt der juristischen Methodenlehre gen des Art. 104 GG.20 Bei der Einschlie- dersachsen und Schleswig-Holstein. Hinzu und bedeutet, dass auf der Rechtsgrund- ßung von Störergruppen ohne Einrich- kommen Teilgesetze in Brandenburg und lage für eingriffsintensivere Maßnahme tung von Durchlassstellen ist regelmäßig Berlin.29 Darüber hinaus ist die Auflösung auch ungeregelte mildere Maßnahmen von freiheitsentziehenden Maßnahmen des Verhältnisses zwischen dem speziellen möglich sein müssen.38 Die „Ergänzungs- auszugehen, die dem Richtervorbehalt Versammlungsrecht und dem allgemei- theorie“ wurde vom BVerwG in einer Ent- aus Art. 104 Abs. 2 GG unterliegen.21 nen Polizeirecht problematisch. Enders scheidung vom 8.9.1981 entwickelt und et al.30 sprechen hier von einem „noto- die Anwendung der Standardbefugnisse Einschließung ohne risch problematische(n) Verhältnis“ der des allgemeinen Polizeirechts auf der Durchlassstelle ist Rechtsnormen und Knape/Schönrock31 Rechtsfolgenseite bejaht, wenn auf der regelmäßig freiheits­ plakativ von einem „rechtsdogmatischen Tatbestandsseite die Voraussetzungen des entziehende Maßnahme Stellungskrieg“. Das Versammlungsrecht § 15 BVersG vorliegen.39 entfaltet im Schutzbereich des Art. 8 GG Bei länger anhaltenden Maßnahmen ist eine Sperrwirkung. Wo diese endet, sind Einschließung ist daneben auch die Freizügigkeit aus die Regelungen des allgemeinen Polizei- Minusmaßnahme zur Art. 11 GG zu berücksichtigen, die die rechts einschlägig. Fraglich ist nur, wann Auflösung der Versammlung Möglichkeit für alle Deutschen enthält, an dies der Fall ist, ob die Sperrwirkung auch jedem Ort innerhalb des Bundesgebietes im Vorfeld gilt und welche Rolle das verfas- Wird die Perspektive der Gesamtversamm- Aufenthalt und Wohnung zu nehmen. sungsrechtliche Zitiergebot spielt, das laut lung gewählt, so kann bei der Einschlie- Dabei muss der Aufenthalt eine über die Jarass32 lediglich bei gezielten Einwirkun- ßung durchaus von einer Minusmaß- körperliche Bewegungsfreiheit hinausge- gen greifen soll. Zurzeit hat das Zitiergebot nahme zur Auflösung gesprochen wer- hende Bedeutung aufweisen, die das jedenfalls nur in den allgemeinen Gefah- den. Diesem Ansatz folgend hat das VG BVerwG z. B. einer mehrtägigen Mel- renabwehrgesetzen der Länder Bayern, Frankfurt a. M. beispielsweise festge- deauflage beigemessen hat.22 Bei der An- Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Sach- stellt:40 „Bei der Separierung von Teilen wendbarkeit des Art. 11 GG kommt es sen-Anhalt Berücksichtigung gefunden.33 des Aufzugs »Blockupy Frankfurt Euro- allerdings auf alle Umstände gleicherma- päische Solidarität gegen das Krisenre- 2.2.1 Unmittelbare Anwendung des ßen an. Zu beurteilen sind im konkreten gime von EZB und Troika« am 1. Juni Versammlungsrechts Fall Dauer23, subjektiver Zweck und objek- 2013 durch das Einziehen zweier Poli- tive Bedeutung.24 Zunächst ist festzustellen, dass keines der zeiketten handelte es sich um eine Ge- bereichsspezifischen Gesetze eine Er- wahrsamnahme nach § 32 Abs. 1 Nr. 2 2.2 Eingriffsbefugnisse mächtigung für die präventive Einschlie- HSOG, die als Minusmaßnahme zu ei- Die Heranziehung von Eingriffsbefugnis- ßung von Störergruppen enthält. Frei- ner Auflösung gerechtfertigt war.“ Ein sen für einschließende Maßnahmen im heitsentziehende Maßnahmen erfordern anderes Ergebnis wird indes erzielt, wenn Versammlungsgeschehen gestaltet sich vielmehr grundsätzlich eine vorgeschal- die Perspektive des einzelnen Grund- schwierig. Mit der am 1.9.2006 in Kraft tete und hinreichend klare Auflösungs‑ rechtsträgers berücksichtigt wird. Für den getretenen Föderalismusreform I25 wurden oder Ausschlussverfügung.34 Konkludente Einzelnen stellt sich eine freiheitsentzie- die Gesetzgebungskompetenzen zwischen hende Maßnahme nämlich als deutlich Bund und Ländern neu verteilt. Damit war Keines der bereichsspezifi- eingriffsintensiver dar als eine Versamm- auch der Fortfall der Bundeszuständigkeit schen Gesetze enthält Ermäch- lungsauflösung. Neben Art. 8 GG ist zu- für das Versammlungsrecht aus Art. 74 tigung zur Einschließung sätzlich das Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 1 Nr. 3 GG (a. F.) verbunden. Gemäß Abs. 2 Satz 2 GG betroffen und § 15 Art. 125a Abs. 1 Satz 1 GG gilt allerdings Maßnahmen sind unwirksam und schei- Abs. 3 BVersG berücksichtigt nicht den das BVersG, das wegen der Verfassungs- den aus.35 Berechtigt hat das VG Ham- nunmehr verfassungsrechtlich vorge- änderung heute nicht mehr erlassen wer- burg festgestellt:36 Nur die „wirksam er- schriebenen Richtervorbehalt.41 Außer- den könnte, als Bundesrecht fort. Nach gangene Auflösungsverfügung nimmt dem muss es für die Frage der Eingriffs- Art. 125 a Abs. 1 Satz 2 GG kann es durch der Versammlung den im Versamm- qualität naturgemäß um die konkrete Be- Landesrecht ersetzt werden. Der Landesge- lungsgesetz konkretisierten Schutz, in- einträchtigung des Grundrechtsadressa- setzgeber ist in seiner Entscheidung frei, ob dem sie die allgemeinen polizeirechtli- ten gehen. Insofern dürfte eine Argumen- er von dieser Befugnis Gebrauch machen chen Ermächtigungen anwendbar tation über die Minusmaßnahmen‑ und will oder nicht, hat aber zu beachten, dass macht.“ Aufgrund der festzustellenden Ergänzungstheorie nur in Betracht kom- der Verfassungsgeber von „Ersetzung“ Amtspflichtverletzung ist den Betroffenen men, wenn das Ziel der Einschließung in und nicht von „Änderung“ spricht. Al- durch das LG Hamburg sodann Schmer- der nachhaltigen Sicherung der Versamm- lerdings dürfte auch eine „Teilersetzung“ zensgeld zuerkannt worden.37 lungsfreiheit gerade der betroffenen Per-

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son liegt und ihr damit eine „Ermögli- zielle Regelung für die Auflösung der be- weisen ist z. B. auf die inzwischen zum chungsfunktion“ zukommt. stehenden Gefahrensituation enthält.46 Standard gehörenden „Blocksperren“51, um ein Aufeinandertreffen verschiedener 2.2.3 Transferklausel des VersFG SH 2.2.5 Strafprozessrecht Fan-Gruppen zu vermeiden. Die „Ergänzungstheorie“ des BVerwG42 Weiterhin stellt sich die Frage, ob die Ein- 3.1 Verfassungsrechtliche stand gemeinsam mit § 9 MEVersG Pate schließung einer Störergruppe mit repres- Ausgangslage für die Einfügung einer „Transfer‑ oder siver Zielstellung möglich ist und auf die Subsidiärklausel“ in das VersFG SH.43 § 9 Normen der StPO gestützt werden kann. Systematisch einfacher als bei Versamm- VersFG SH regelt die Anwendbarkeit des Zum Teil wird hier eine „StPO-Festigkeit“ lungslagen sind vorrangig die Bewe- LVwG SH bei Versammlungen im Sinne oder „limitierte StPO-Festigkeit“ der Ver- gungsfreiheit gemäß Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Gesetzes. Die Norm erlaubt die Beizie- sammlungsfreiheit angenommen. Die GG und die damit verbundenen Gewähr- hung des allgemeinen Polizeirechts ge- wohl überwiegende Literaturmeinung47 leistungen aus Art. 104 GG zu beachten. genüber einzelnen Teilnehmern, soweit geht allerdings davon aus, dass eine Bei der Einschließung von Störergruppen das VersFG SH keine speziellen Regelun- Sperrwirkung nicht besteht und Maßnah- ohne Einrichtung von Durchlassstellen ist gen bereithält. Der Anwendungsbereich men unmittelbar auf der Grundlage der der Transferklausel umfasst sowohl die StPO getroffen werden können. Dem ho- Einschließung bei Hauptphase als auch die ebenfalls durch hen Rang der Versammlungsfreiheit wird Veranstaltungslagen Art. 8 GG geschützte Vor‑ und Nachphase über den Grundsatz der Verhältnismäßig- systematisch einfacher einer Versammlung. Dabei ist jedoch nicht keit Genüge getan. Kniesel48 will diesen als bei Versammlungen nur der Tatbestand des § 9 VersFG SH al- Grundsatz indes nur für Straftaten gelten lein maßgebliche Voraussetzung für den lassen, „die nicht im Schutzbereich von dabei von freiheitsentziehenden Maßnah- Eingriff. Die Transfernorm ist vielmehr als Art. 8 Abs. 1 GG liegen“ und argumen- men auszugehen, die dem Richtervorbe- Rechtsgrundverweisung zu verstehen und tiert, dass insbesondere bei Sitzblockaden halt aus Art. 104 Abs. 2 GG unterliegen.52 es muss zusätzlich der Tatbestand der ein- „vor einer strafprozessualen Maß- Bei längeren Maßnahmen ist auch hier die schlägigen Bestimmung des allgemeinen nahme eine Auflösungsverfügung zu Freizügigkeit aus Art. 11 GG zu berück- Polizeirechts beachtet werden.44 Im Falle erfolgen“ hat. Damit wird Art. 8 GG in sichtigen, die die Möglichkeit für alle einer freiheitsentziehenden Einschließung den Rang eines Rechtfertigungsgrundes Deutschen enthält, an jedem Ort inner- ist also § 204 LVwG SH ergänzend zu prü- gehoben und eine ungeschriebene Form halb des Bundesgebietes Aufenthalt und fen. Allerdings findet diese besondere der „Verwaltungsakzessorietät“ begrün- Wohnung zu nehmen.53 Die Aufenthalts- rechtliche Ausgangslage nur bei Maßnah- det. Ohne vorangegangene Auflösungs‑ nahme muss eine über die körperliche Be- men gegen Einzelpersonen Anwendung, oder Ausschlussverfügung soll eine ver- wegungsfreiheit hinausgehende Bedeu- so dass „Masseningewahrsamnahmen“ folgbare Nötigung grundsätzlich nicht tung aufweisen, die das BVerwG z. B. ei- in diesem Kontext nicht in Betracht kom- denkbar sein. Befinden sich Versamm- ner mehrtägigen Meldeauflage beigemes- men. lungsteilnehmer im Schutzbereich des sen hat.54 Art. 8 GG, können sie unter Berücksichti- 2.2.4 Allgemeines Polizeirecht 3.2 Eingriffsbefugnisse gung der Verwerflichkeitsklausel des Zum Teil wird auch das allgemeine Polizei- § 240 Abs. 2 StGB bei systematischer Die anzuwendenden Eingriffsbefugnisse recht unmittelbar herangezogen. Neben Normauslegung nicht zugleich Straftäter sind von der grundlegenden Zielstellung der bereits als unzulässig herausgestellten sein, da das Versammlungsgrundrecht für der Maßnahme abhängig. Geht es um die Argumentation über eine konkludente sie streitet. Es gilt die Einheit der Rechts- Gefahrenabwehr und hier insbesondere Auflösung oder einen konkludenten Aus- ordnung.49 um den „Sicherheitsgewahrsam“, sind schluss wird unter Hinweis auf die sog. einschränkend die EMRK, die Rechtspre- 2.2.6 Gemengelagen „Schutztheorie“ eine unmittelbar ver- chung des EGMR und die nachfolgende sammlungsbezogene Wirkung und damit Beachtung erfordern schließlich auch Ge- Judikatur der Verwaltungsgerichtsbarkeit ein finaler Eingriff in Art. 8 GG abge- mengelagen, die durch Gefahrenabwehr von Bedeutung. lehnt.45 Dieser Begründungsansatz, der wie durch Straf‑ oder Ordnungswidrigkei- 3.2.1 Allgemeines Polizeirecht häufig auch auf Vorfeldkontrollen über- tenverfolgung zugleich geprägt sind. In tragen wird, kann dem hohen Stellenwert diesem Fall hat eine Dominanzentschei- Bei Veranstaltungslagen kann das allge- des Art. 8 GG allerdings nicht gerecht dung nach dem Schwergewicht des ho- meine Polizeirecht sofort herangezogen heitlichen Handelns zu erfolgen. Im Ein- werden, da eine spezifische Sperrwirkung Keine sofortige zelfall kann diese Entscheidung auch zu nicht gegeben ist. Soweit die Freizügigkeit Anwendung des einer Pflichtenkollision führen. Dabei gilt, betroffen ist, kommen einschließende allgemeinen Polizeirechts dass das bei Straftaten bestehende Legali- Maßnahmen jedoch nur unter den Bedin- tätsprinzip nicht per se suspendiert wer- gungen des „Kriminalvorbehalts“ aus werden. Die sofortige Anwendung des den darf; es kann de facto, nicht aber de Art. 11 Abs. 2 GG in Frage.55 allgemeinen Polizeirechts für einschlie- jure untergehen.50 Von grundsätzlicher Bedeutung ist in ßende Maßnahmen kommt nur dann in diesem Zusammenhang der Polizeige- 3. Veranstaltungslagen Frage, wenn dem Schutzbereich des wahrsam in seinen verschiedenen Ausfor- Art. 8 GG durch die Schranken der Verfas- Einschließende Maßnahmen kommen mungen.56 Der „Schutzgewahrsam“ rich- sung Grenzen gesetzt sind und das be- auch bei Veranstaltungslagen in Betracht tet sich nicht gegen einen externen Störer, sondere Gefahrenabwehrrecht keine spe- und hier gerade bei Fußballspielen. Hinzu- sondern vielmehr gegen denjenigen, des-

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sen Rechtsgüter bedroht sind. Eine Person beschwerden ohne weitere Begründung Buchst. c, sondern im Einzelfall nur einge- kann insofern in Gewahrsam genommen ab.66 Der EGMR entschied sodann:67 „Die schränkt Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. b werden, wenn dies zum eigenen Schutz Präventivhaft während des G8-Gipfels EMRK in Betracht kommt. „Geht es um erforderlich ist.57 Der „Sicherheits‑, Ver- in Rostock war […] nicht nach Art. 5 die Verpflichtung, keine Straftat zu be- hinderungs- oder Unterbindungsge- Abs. 1 Buchst. c EMRK gerechtfertigt, gehen, muss diese Straftat […] bereits wahrsam“ richtet sich hingegen gegen weil sie nicht notwendig war, um die hinreichend bestimmt sein und der Be- den Störer und soll diesen von einem be- Betroffenen an der Begehung einer troffene muss sich unwillig gezeigt ha- stimmten gefahrgeneigten und/oder konkreten Straftat zu hindern […]. Die ben, sie zu unterlassen.“ Dies bedeutet, normwidrigen58 Tun abhalten.59 Mit dem Freiheitsentziehung der Betroffenen dass Ort, Zeit, Tatgeschehen und poten- „Durchsetzungs‑ oder Beseitigungsge- war auch nicht nach Art. 5 Abs. 1 zielles Opfer bereits bestimmbar sein wahrsam“ können schließlich bestimmte Buchst. b EMRK gerechtfertigt. Denn müssen und der Betroffene sich durch hoheitliche Verfügungen wie Platzverwei- sie hatten keiner konkreten und be- eindeutige und aktive Schritte unwillig ge- sungen oder Aufenthaltsverbote durchge- stimmten Verpflichtung zuwidergehan- zeigt hat, die Tat zu unterlassen. setzt werden.60 Zum Teil wird der „Durch- delt.“ setzungsgewahrsam“ auch als Maß- In dem Urteil des EGMR vom 7.3.2013 Frage nach der nahme des unmittelbaren Zwangs bewer- ging es dann um die Ingewahrsamnahme Bindungswirkung des tet.61 Diese Auffassung überzeugt jedoch eines Hooligans vor einem Fußballspiel in europäischen Rechts stellt sich nicht, denn es ist vielmehr von aufeinan- Frankfurt a. M. am 10.4.2004 zwischen der aufbauenden Eingriffsbefugnissen der 14.30 und 18.30 Uhr.68 Nachdem die In diesem Zusammenhang stellt sich die Grundverfügungsebene auszugehen.62 Klage des Betroffenen am 14.6.2005 vom Frage nach der Bindungswirkung des euro- Als themenspezifisch besonders bedeut- VG Frankfurt a. M., am 1.2.2006 vom päischen Rechts. Hier ist festzustellen, dass sam haben sich in der Vergangenheit ins- VGH Kassel und am 1.3.2006 vom innerhalb der deutschen Rechtsordnung besondere der „Sicherheitsgewahrsam“ BVerfG69 zurückgewiesen bzw. nicht an- die EMRK und ihre Zusatzprotokolle, so- und der „Durchsetzungsgewahrsam“ genommen worden war, urteilte der weit sie für die Bundesrepublik Deutsch- herausgestellt. EGMR wie folgt:70 „Der Gerichtshof land in Kraft getreten sind, zunächst im weist erneut darauf hin, dass eine er- Range eines einfachen Bundesgesetzes 3.2.2 Einschränkungen durch Art. 5 schöpfende Liste zulässiger Gründe für und damit unterhalb des Grundgesetzes EMRK die Freiheitsentziehung in Artikel 5 stehen.73 Die Gewährleistungen der Kon- Die Zulässigkeit des „Sicherheitsgewahr- Abs. 1 Buchst. a bis f enthalten ist und vention und die dazu ergangene Recht- sams“ ist zuletzt in die Diskussion gera- eine Freiheitsentziehung nur rechtmä- sprechung des EGMR beeinflussen aber ten.63 In mehreren Entscheidungen des ßig sein kann, wenn sie von einem die- als Ausdruck der Völkerrechtsfreundlichkeit EGMR wurde diese Ausformung als nicht ser Gründe erfasst wird […]. Artikel 5 des GG auch die Auslegung der Grund- bzw. nur eingeschränkt mit der EMRK ver- Abs. 1 Buchst. c erlaubt hierdurch kein rechte und rechtsstaatlichen Grundsätze.74 einbar bezeichnet.64 generalpräventives Vorgehen, das sich Allerdings beschreibt die EMRK gemäß gegen Einzelpersonen oder Personen- Art. 53 der Konvention nur einzuhaltende „Sicherheitsgewahrsam“ gruppen richtet, welche von den Be- Mindeststandards und das staatliche Recht nur eingeschränkt mit der hörden zu Recht oder zu Unrecht als kann darüber hinausgehen.75 EMRK vereinbar gefährlich oder als Personen mit Hang 3.2.3 Strafprozessrecht zu Straftaten wahrgenommen wer- Zunächst ging es in einem Urteil des den.“ Darüber hinaus erfordert eine Frei- Eine wie auch immer geartete „StPO-Fes- EGMR vom 1.12.2011 um die „Zulässig- heitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 tigkeit“ wird bei Veranstaltungslagen keit von Präventivhaft vor dem G8-Gip- Buchst. b EMRK die Zielstellung, eine der nicht diskutiert. Allerdings ist das Über- fel in Rostock“.65 Am 3.6.2007 gegen Person „obliegende, spezifische und maßverbot mit dem verfassungsrechtlich 22.15 Uhr wurden zwei männliche Perso- konkrete Verpflichtung zu erfüllen, der bedeutsamen Grundsatz der Verhältnis- nen zur Verhinderung der unmittelbaren sie bisher noch nicht nachgekommen mäßigkeit i. e. S. auch hier stets zu beach- Begehung oder Fortsetzung von Strafta- ist.“ ten. Das bedeutet, dass die Grundrechts- ten in Gewahrsam genommen. Das AG Zur Vereinbarkeit einer freiheitsentzie- beeinträchtigungen mit dem verfolgten Rostock bestätigte am 4.6.2007 nach henden Maßnahme mit Art. 5 EMRK äu- Zweck in einem angemessenen Verhältnis mündlicher Anhörung die Freiheitsentzie- ßerte sich nachlaufend auch das OVG Lü- stehen müssen. hungen und ordnete die Fortdauer auf neburg und stellte fest:71 „Der Eingriffs- 3.2.4 Gemengelagen der Grundlage der §§ 55 Abs. 1 Nr. 2a, grund des Art. 5 Abs. 1 Satz 2 Buchst. c 56 Abs. 5 SOG MV bis längstens EMRK bietet keine ausreichende Grund- Von Bedeutung sind schließlich Gemen- 9.6.2007, 12.00 Uhr, an. Die sofortigen lage für die Rechtfertigung einer Frei- gelagen, die durch Gefahrenabwehr wie Beschwerden wurden durch das LG Ros- heitsentziehung im Wege eines polizei- durch Straf‑ oder Ordnungswidrigkeiten- tock am 4.6.2007 und durch das OLG lichen Präventivgewahrsams.“ verfolgung geprägt sind und eine Domi- Rostock am 7.6.2007 zurückgewiesen. Dem hat sich das BVerfG nunmehr an- nanzentscheidung erfordern.76 Im Einzel- Das BVerfG konnte aus zeitlichen Grün- geschlossen und in einer Kammerent- fall kann diese Entscheidung auch zu ei- den die beantragten einstweiligen Anord- scheidung vom 18.4.201672 dargelegt, ner Pflichtenkollision führen, die das bei nungen nicht mehr treffen und lehnte dass zur Rechtfertigung des präventiven kriminellem Unrecht bestehende Legali- später in Beschlüssen vom 6.8.2007 und Gewahrsams zur Verhinderung einer tätsprinzip zurückdrängen, jedoch nicht 8.8.2007 die Annahme von Verfassungs- Straftat nicht Art. 5 Abs. 1 Satz 2 pauschal suspendieren kann.77

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4. Formelle Gewährleistungen Masseningewahrsamnahmen hinzuneh- Verzögerung nachgeholt werden muss.90 men, dass sich zeitweise auch 30 bis Nicht vermeidbar sind Verzögerungen, die Den Verfahrensbestimmungen zu frei- 40 Personen in einer verhältnismäßig klei- z. B. durch die hohe Zahl der Betroffenen, heitsbeschränkenden oder ‑entziehenden nen Zelle aufhalten, denn die Polizei kann die Länge des Weges oder Schwierigkei- Maßnahmen kommt Verfassungsrang zu. nur im Rahmen der vorhandenen Kapazi- ten beim Transport entstehen. Entschei- Gemäß Art. 104 Abs. 1 GG darf die Frei- täten agieren und die Unterbringung vor- dend ist ein objektiver Maßstab.91 Die heit der Person „nur auf Grund eines nehmen.86 Die Basisversorgung der in Ge- Nachholung der richterlichen Entschei- förmlichen Gesetzes und nur unter Be- wahrsam genommenen Personen mit dung ist auch dann nicht entbehrlich, achtung der darin vorgeschriebenen Speisen und Getränken muss jedoch Formen beschränkt werden.“78 Außer- ebenso gewährleistet werden wie die Richterliche Entscheidung dem enthält Art. 104 GG selbst wesentli- Möglichkeit, bei Bedarf eine Toilette auf- muss ohne nicht zwingend che Beschränkungen im Sinne eines quali- zusuchen.87 gebotene Verzögerung fizierten Gesetzesvorbehalts.79 nachgeholt werden 4.3 Richtervorbehalt 4.1 Die Tradition des „Habeas Corpus“ Von herausragender Bedeutung ist für wenn die Freiheitsentziehung voraussicht- freiheitsentziehende Maßnahmen der lich vor Ablauf der Frist aus Art. 104 Die Gewährleistungen aus Art. 104 GG Richtervorbehalt aus Art. 104 Abs. 2 GG. Abs. 2 Satz 3 GG enden wird, denn diese sind in der Tradition des „Habeas Cor- Alle staatlichen Organe sind verpflichtet, Vorschrift setzt allein eine äußerste pus“ als Spezial‑ und Ausnahmeregelun- dafür Sorge zu tragen, dass dieser als we- Grenze.92 Kommt es bis dahin zu keiner gen ineinander verschachtelt.80 Zunächst sentliche Grundrechtssicherung praktisch richterlichen Entscheidung, ist die Inge- gilt gemäß Art. 104 Abs. 1 GG für alle wirksam wird.88 wahrsamnahme zu beenden. Sind die Per- Freiheitsbeschränkungen, dass sie nur un- sonen allerdings bereits vor der Kontakt- 4.3.1 Vorherige Entscheidung ter Beachtung der Regeln ergehen dürfen, aufnahme mit dem Richter aus dem Ge- die im förmlichen Gesetz durch den parla- Gemäß Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG hat wahrsam entlassen worden, entfällt nach mentarischen Gesetzgeber normiert sind. über die Zulässigkeit und Fortdauer einer herrschender Meinung eine nachträgliche Der Inhalt des Art. 104 Abs. 2 bis 4 GG, Freiheitsentziehung nur der Richter zu Entscheidung.93 der freiheitsentziehenden Maßnahmen entscheiden. Die Maßnahme setzt daher 4.3.3 Organisatorische Verpflichtungen grundsätzlich eine vorherige richterliche der Justiz Artikel 104 Abs. 1 GG gilt für Anordnung voraus.89 Das GG geht davon alle freiheitsentziehenden aus, dass Richter aufgrund ihrer persönli- Die faktisch fehlende Möglichkeit, einen Maßnahmen chen und sachlichen Unabhängigkeit so- Richter zu erreichen, kann nicht ohne wei- wie ihrer strikten Gesetzesbindung aus teres als unvermeidbares Hindernis für die gewidmet ist, steht als „lex specialis“ Art. 97 Abs. 1 GG die Rechte der Betrof- Herbeiführung einer Entscheidung gelten. dazu, wobei auch hier allgemeine und fenen am besten und sichersten wahren Dies ist aus der verfassungsrechtlichen spezielle Regelungen berücksichtigt wer- können. Eine polizeilich veranlasste Frei- Verpflichtung des Staates abzuleiten, der den müssen.81 Zu den verfassungsmäßi- heitsentziehung ist daher nur in den Fäl- Bedeutung des Richtervorbehalts durch gen Anforderungen gehören der Richter- len zulässig, in denen eine vorausgehende geeignete organisatorische Maßnahmen vorbehalt, die zeitliche Begrenzung poli- richterliche Entscheidung den Zweck der Rechnung zu tragen. Jedenfalls zur Tages- zeilicher Freiheitsentziehungen auf das Maßnahme ernsthaft gefährden würde. zeit müssen die Erreichbarkeit eines Rich- Ende des Tages nach dem Ergreifen, Diese Ausgangslage wird in der Praxis je- ters und eine damit verbundene sachge- Grundregeln für das justizielle Verfahren doch häufig vorliegen und ist terminolo- rechte Aufgabenwahrnehmung gewähr- bei vorläufig festgenommen Personen so- gisch bereits bei der Ausgestaltung des leistet sein. Besteht allerdings bei Großla- wie die Benachrichtigungspflicht. Auf polizeirechtlichen Normengefüges be- gen „ein praktischer Bedarf, der über einfach-gesetzlicher Ebene sowie durch rücksichtigt worden. Dadurch ändert sich den Ausnahmefall hinausgeht […] kann interne Erlasse82, Verwaltungsvorschriften indes nichts an der verfassungsrechtlichen sich der richterliche Bereitschaftsdienst und Gewahrsamsordnungen83 werden die Ausgangslage. nicht auf die Tageszeit beschränken.“94 Formerfordernisse des Art. 104 GG näher 4.3.2 Nachträgliche Entscheidung 4.3.4 Justizielles Verfahren ausgestaltet und verstärkt. Eine nachträgliche richterliche Entschei- Um die gesicherte Prognose zu ermögli- 4.2 Unterbringung und Versorgung dung über die Zulässigkeit und Fortdauer chen, ob im Einzelfall eine richterliche Zu den „Habeas-Corpus-Garantien“ ge- der polizeilichen Maßnahme genügt den Entscheidung zeitgerecht herbeigeführt hören bei polizeilichen Einschließungen grundgesetzlichen Vorgaben nur dann, werden kann, muss der justizielle Verfah- u. a. eine am Menschenwürdesatz84 aus- wenn der mit der Freiheitsentziehung ver- rensgang betrachtet werden, für den seit zurichtende angemessene Unterbringung folgte Zweck anders nicht erreichbar dem 1.9.2009 die Vorschriften des FamFG und Versorgung. Dabei geht es nicht um wäre. Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG fordert gelten.95 Bis zu diesem Zeitpunkt waren die Rechtsprechung des BVerfG85 zur Min- in diesem Fall, die richterliche Entschei- das FEVG bzw. das FGG einschlägig. destgröße von Hafträumen, da es sich bei dung unverzüglich nachzuholen. Unver- Nach dem FamFG ist es zunächst von einschließenden Maßnahmen regelmäßig züglich ist hier nicht im Sinne des § 121 Bedeutung, dass der Richter nur auf Ver- um kurzfristige Freiheitsentziehungen BGB, sondern vielmehr dahingehend aus- anlassung eines Beteiligten entscheiden handelt. Nach berechtigter Darlegung des zulegen, dass die richterliche Entschei- kann. Damit ist ein § 417 FamFG entspre- VG Bremen ist es bei vorübergehenden dung ohne jede nicht zwingend gebotene chender Antrag erforderlich. Bei Großla-

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falls als zulässig angesehen und damit Höchstdauer des Polizeigewahrsams107 Stand: Oktober 2016 die Lan­desgesetzgeber in Bayern, Baden- Württemberg,­ Sachsen und Hamburg103 48 Stunden § 38 I PolG NRW grundsätzlich be­stätigt, die eben diese 4 Tage § 20 I BbgPolG; § 33 I ASOG Bln; § 42 I BPolG; § 40 I SOG LSA Höchstfrist festge­schrieben haben. Die grundsätzlichen Bedenken von Lisken104 6 Tage § 35 I HSOG gegen ei­nen über Art. 104 Abs. 2 Satz 3 7 Tage § 17 II POG RP GG hinausgehenden Zeitrahmen sind we- nig stichhal­tig und werden der Vielfalt 8 Tage § 16 I SPolG möglicher Gefahrenla­gen nicht gerecht. 10 Tage § 21 NdsSOG; § 56 V SOG MV; § 22 I ThürPAG; § 13c I ­HmbSOG Es erscheint kaum allgemeingültig, dass 14 Tage § 28 III PolG BW; Art. 20 I BayPAG; § 22 VII SächsPolG „im Bezirk Düsseldorf kein Fall in Erin- nerung sei, bei dem eine polizeirechtli­ Keine Begrenzung; § 204 V LVwG SH; § 18 I BremPolG che Freiheitsentziehung über 12 Stun- beachte aber §§ 425, 427 FamFG (1 Jahr bzw. den hinaus nötig gewesen wäre.“ Nicht 6 Wochen) dem Standard der Verfassung entspre- chen allerdings die Gefahrenabwehrge­ gen bietet es sich an, speziell ausgebildete reicht nicht aus, „denn die persönliche setze in Schleswig-Holstein und Bre- Vorführungsbeamte einzuset­zen. In je- Anhörung hat insbesondere den Zweck, men.105 Hier sind die Fristenregelungen dem Fall müssen „besondere Bemühun- dass sich das entscheidende Gericht ei- allein § 425 bzw. § 427 FamFG zu ent- gen und Vorkehrungen“ getroffen wer- nen unmittelbaren persönlichen Ein- nehmen, was mit den verfassungsrechtli- den, um zeitnah eine Erfassung der be- druck von dem Betroffenen verschafft chen Bestimmtheitsanforderungen jedoch troffenen Personen gewährleisten und die […]. Dies setzt seine körperliche Anwe- Folgemaßnahmen treffen zu können.96 Im senheit voraus. Reaktionen in Mimik Höchstdauer der Freiheits­ Rahmen des richterlichen­ Entscheidungs- und Gestik sowie sonstige Verhaltens- entziehung ist eindeutig verfahrens ist insbesondere der in § 26 weisen des Betroffenen entgehen dem und differenziert FamFG enthal­tene „Amtsermittlungs- Gericht bei einem bloß fernmündlichen gesetzlich festzulegen grundsatz“ zu beachten. Der Richter Kontakt. Dabei besteht auch die Ge- muss eigenständig diejenigen Tatsachen fahr, dass der Betroffene – gerade ob kaum in Einklang zu bringen ist.106 Der ge- feststellen, die eine freiheitsentzie­ ­hende eines solch kurzen, unpersönlichen setzliche Rahmen für die jeweils zulässige­ Maßnahme rechtfertigen. Er darf sich Kontakts – Bedeutung und Tragweite Höchstdauer­ der Freiheitsentziehung ist nicht auf die Plausibili­tätsprüfung der von des Vorgangs nicht zutreffend er- vielmehr eindeutig und differenziert fest- der Polizei dargelegten Gründe beschrän- fasst.“99 zulegen. Sind die Befugnis­normen in den ken, sondern die Schwere des Rechtsein- Der Richter entscheidet­ gemäß §§ 38, Länderpolizeigesetzen in verschiedene griffs erfordert eine eingehende richterli­­ 421 FamFG durch einen mit Gründen­ ver- Tatbestands­vari­an­ten aufgefächert, so che Prüfung. Als Mittel der Sachaufklä- sehenen Beschluss. Dieser ist den Beteilig- ist bei der Höchstdauer des Ge­wahr­sams rung stehen insbesondere die persönliche­ ten bekanntzumachen.­ Die richterliche ebenfalls legislatori­sch zu unterscheiden. Anhörung des Betroffenen, die vorge­ Entscheidung wirkt konstitutiv; mit ihr Die Festsetzung einer zeit­lichen Ober- legten Akten, eventuell sichergestellte­ Ge- wird der Polizeigewahrsam zur richterli- grenze, aus­gestaltet als ermäch­ti­gungs­ genstände und die Aussage der Beamten chen Freiheitsentziehung. begrenzende Bestimmung,­ darf nicht glei­ zur Verfügung. cherma­ßen auf alle Gewahrsamsformen­ 4.4 Höchstdauer des Polizeigewahr- sams ange­wendet werden. Der Forderung­ nach Gemäß „Amtsermittlungs- ei­nem „ver­fassungskonformen Stan­ grundsatz“ muss der Richter Spätestens seit den „Punk-Chaos-Ta- dard“107 ist ohne Ein­schränkung zuzu­ eigenständig Tatsachen gen“100 Mitte der 1990-er Jahre stehen stim­men. feststellen die Freiheitsentziehungsfristen des Po- Allerdings ist auch festzustellen, dass lizeigewahrsams im Mittelpunkt der der bei dem G8-Gipfel im Jahr 2007 in Von hoher Bedeutung ist die in § 420 rechtspolitischen Diskussion. Der zuläs- Rostock richterlich angeordnete siebentä- FamFG niedergelegte Pflicht zur persönli- sige Zeitrahmen bewegt sich in Bund gige Sicherheitsgewahrsam108 allein aus chen mündlichen Anhörung. Diese Ver- und Ländern zwischen 48 Stunden in Gründen der Höchstdauer in Nordrhein- pflichtung, die gerade bei „Massenin­ Nordrhein-Westfalen und der nur durch Westfalen, Brandenburg, Berlin, Sachsen- gewahrsamnahmen“ ihre faktischen das FamFG sowie den Verhältnismäßig- Anhalt und Hessen nicht möglich und Grenzen erfährt, erfordert die persönliche­ keitsgrundsatz begrenzten Normierung auch in Schleswig-Holstein und Bremen Anwesenheit des Be­trof­fenen vor dem in Schleswig-Holstein und Bremen.101 angesichts einer fehlenden normenklaren ent­scheidenden Richter.97 Es ist nicht mit Eine künftig einheitliche Regelung­ ist an­ Ausweisung zumindest bei kritischer Be- § 420 FamFG in Ein­klang zu bringen, dem gesichts höchst un­terschiedlicher sicher- trachtung fraglich gewesen wäre. Betrof­fenen nur die Möglichkeit der Aus­ heitspolitischer Positionen und davon 5. Zum Abschluss sage vor der Polizei­ zu geben98 oder ledig­ abzulei­tender legisla­torischer Bemühun- lich Polizeivollzugsbeamte zu befragen,­ gen eher unwahrscheinlich. Der Sächs- Die Einschließung von Störergruppen die die Frei­heitsentzie­hung durchge­führt VerfGH102 hat den Zeitrahmen von 14 Ta- stellt die Polizei vor besondere Herausfor- haben. Auch eine telefonische Anhörung gen für den Sicherheitsgewahr­sam jeden- derungen. Rechtlich sind zunächst die

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Grundrechtsqualität und die Zielstellung 12 Vgl. dazu Kniesel, in: Dietel/Gintzel/Kniesel, 32 Jarass, in: Jarass/Pieroth, 2016, Grundgesetz, der Maßnahme von Relevanz. Freiheitsbe- 2016, Versammlungsgesetze, Kommentie- Kommentar, 14. Auflage, Art. 19, Rn. 4; ein- rung, 17. Auflage, S. 20; Dürig-Friedl, in: Dü- schränkend Dreier, 2013, Grundgesetz, Kom- schränkende und ‑entziehende Maßnah- rig-Friedl/Enders, 2016, Versammlungsrecht, mentar (Band I), 3. Auflage, Art. 19 I Rn. 21 men im Versammlungsgeschehen stellen Kommentar, S. 8; Brenneisen/Wilksen/Staack/ (unter Hinweis auf BVerfGE 49, 89). sich dabei als deutlich vielschichtiger und Martins, 2016, Versammlungsfreiheitsgesetz 33 Vgl. Art. 74 BayPAG, § 10 NdsSOG, § 8 POG damit problematischer dar als bei Veran- für das Land Schleswig-Holstein, Kommen- RP, § 11 SOG LSA. tar, S. 61; Lux, in: Peters/Janz, 2015, Hand- 34 BVerfG v. 30.4.2007, NVwZ 2007, S. 1180; staltungslagen. Von hoher Bedeutung buch des Versammlungsrechts, S. 138; Koll, v. 26.10.2004, NVwZ 2005, S. 80; VG Stutt- sind die im konkreten Einzelfall anzuwen- 2015, Liberales Versammlungsrecht (Diss.), gart v. 18.11.2015, Az. 5 K 3991/13; OVG denden Eingriffsbefugnisse und ergän- S. 64. Schleswig v. 3.9.2015, Az. 4 LB 13/14; VG zend die aus Art. 104 GG abzuleitenden 13 § 2 I VersFG SH fordert die „örtliche Zusam- Schleswig v. 4.2.2013, Az. 3 A 91/12; dazu menkunft von mindestens drei Personen“; kri- Brenneisen, in: Roggan/Busch, 2013, Das formellen Gewährleistungen. tische Bewertung dazu durch Brenneisen/ Recht in guter Verfassung? FS für Martin Kut- Darüber hinaus sind aber auch die all- Wilksen/Staack/Martins, 2016, Versammlungs- scha, S. 163 (m. w. N.). gemeinen Einsatzgrundsätze zu beach- freiheitsgesetz für das Land Schleswig-Hol- 35 Bernhardt, Die Polizei 2016, S. 65; Trurnit, ten, die als Ausfluss des polizeilichen Er- stein, Kommentar, S. 61 und Koll, 2015, Libe- NVwZ 2016, S. 873; Dürig-Friedl, in: Enders/ rales Versammlungsrecht (Diss.), S. 65. Dürig-Friedl, 2016, Versammlungsrecht, Kom- fahrungswissens insbesondere in der 14 Fischer, 2016, Strafgesetzbuch und Nebenge- mentar, S. 333; Brenneisen/Staack, DVP 2013, PDV 100 Niederschlag gefunden haben. setze, Kommentar, 63. Auflage, § 124, Rn. 4. S. 426; Knape/Schönrock, Die Polizei 2012, Berechtigt konstatiert Knape109, „dass 15 BGHE 33, 308. S. 297; Ott/Wächtler/Heinhold, 2010, Gesetz taktisch nur das durchgeführt werden 16 BVerfGE 69, 315. über Versammlungen und Aufzüge, 7. Auf- 17 BVerfGE 84, 203; dazu Kniesel, in: Dietel/Gint- lage, S. 195. darf, was rechtlich vertretbar ist.“ Es zel/Kniesel, 2016, Versammlungsgesetze, Kom- 36 VG Hamburg v. 30.10.1986, NVwZ 1987, gelten die Grundsätze der „Prädominanz mentierung, 17. Auflage, S. 49; Lux, in: Pe- S. 829. des Rechts“ und der „Einheit von Recht ters/Janz, 2015, Handbuch des Versamm- 37 LG Hamburg v. 6.3.1987, NVwZ 1987, S. 833. und Taktik“.110 „Grauzonen-Prakti- lungsrechts, S. 158; Brenneisen, in: Brennei- 38 Hunecke, in: Brenneisen/Staack/Hunecke/Ki- sen/Wilksen, 2011, Versammlungsrecht, schewski, 2014, Methodik, S. 97. ken“111 sind nicht mit den Grundbedin- 4. Auflage, S. 60 (m. w. N.). 39 BVerwGE 64, 55 („Mörderbande-Fall“). gungen des demokratischen Rechtsstaa- 18 Vgl. dazu Kniesel, in: Dietel/Gintzel/Kniesel, 40 VG Frankfurt a. M. v. 24.9.2014, Az. 5 K 659/ tes zu vereinbaren und daher strikt abzu- 2016, Versammlungsgesetze, Kommentie- 14.F; v. 10.3.2014, Az. 5 K 4350/13.F; v. 23. lehnen. rung, 17. Auflage, S. 95; Dürig-Friedl, in: Dü- 6.2014, Az. 5 K 2334/13.F. rig-Friedl/Enders, 2016, Versammlungsrecht, 41 Trurnit, NVwZ 2016, S. 873; vgl. dazu auch Dieser Beitrag ist auf der Grundlage ei- Kommentar, S. 286; Koll, 2015, Liberales Ver- VG Schleswig v. 4.2.2013, Az. 3 A 91/12. nes Referats am 24.8.2016 an der DHPol sammlungsrecht (Diss.), S. 90. 42 BVerwGE 64, 55. und eines Workshops am 7.11.2016 für 19 Kniesel, in: Dietel/Gintzel/Kniesel, 2016, Ver- 43 Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2016, Ver- Führungskräfte der Landespolizei Schles- sammlungsgesetze, Kommentierung, 17. Auf- sammlungsfreiheitsgesetz für das Land Schles- wig-Holstein entstanden. lage, S. 96; Brenneisen/Wilksen/Staack/Mar- wig-Holstein, Kommentar, S. 103 (m. w. N.); tins, 2016, Versammlungsfreiheitsgesetz für Kniesel, Vorgänge 11/2016, S. 19. das Land Schleswig-Holstein, Kommen- 44 Enders et al., 2011, Musterentwurf eines Ver- Kontakt tar, S. 134. sammlungsgesetzes, S. 30. [email protected] 20 Jarass, in: Jarass/Pieroth, 2016, Grundgesetz, 45 Vgl. dazu kritisch Brenneisen, in: Brenneisen/ Kommentar, 14. Auflage, Art. 2, Rn. 110. Wilksen, 2011, Versammlungsrecht, 4. Auf- 21 Jarass, in: Jarass/Pieroth, 2016, Grundgesetz, lage, S. 292, 299 (m. w. N.). Anmerkungen Kommentar, 14. Auflage, Art. 104, Rn. 15; 46 Brenneisen, in: Brenneisen/Wilksen, 2011, 1 Vgl. dazu Steven, Vorgänge 1/2016, S. 77; Bernhardt, Die Polizei 2016, S. 65; Knape, Die Versammlungsrecht, 4. Auflage, S. 292. Bernhardt, Die Polizei 2016, S. 65; Knape, Die Polizei 2015, S. 170; vgl. in diesem Zusam- 47 Vgl. z. B. Ullrich, 2015, Das Demonstrations- Polizei 2015, S. 170. menhang die allerdings kritisch zu bewer- recht, S. 385; Brenneisen/Merk, DVBl 2014, 2 VG Hamburg v. 30.10.1986, NVwZ 1987, tende Entscheidung zur „Einkesselung von S. 901; Brenneisen/Wilksen, 2011, Versamm- S. 829. Demonstranten“ durch den EGMR v. 15.3. lungsrecht, 4. Auflage, S. 362; Knape/Kiworr, 3 Vgl. www.ndr.de (7.6.2016). 2012, Az. 39692/09, 40713/09 (= NVwZ-RR 2009, Allgemeines Polizei‑ und Ordnungs- 4 VG Berlin v. 7.7.1989, NVwZ-RR 1990, S. 188. 2013, S. 785). recht für Berlin, 10. Auflage, S. 246; Knape, 5 LG München v. 28.2.1994, NPA 891, Bl. 48. 22 BVerwG v. 25.7.2007, NVwZ 2007, S. 1439; Die Polizei 2008, S. 100; so auch Bernhardt, 6 VG Frankfurt a. M. v. 24.9.2014, Az. 5 K 659/ vgl. dazu Brenneisen, in: Brenneisen/Wilksen, Die Polizei 2016, S. 65 (u. a. unter Hinweis 14.F. 2011, Versammlungsrecht, 4. Auflage, S. 289. auf VG Köln v. 7.12.2006, Az. 20 K 1709/06 7 VG Schleswig v. 4.2.2013, Az. 3 A 91/12; 23 Zwei Tage dürften die Untergrenze darstellen; und v. 1.8.2010, Az. 20 K 7418/08). dazu Brenneisen, in: Roggan/Busch, 2013, vgl. dazu Jarass, in: Jarass/Pieroth, 2016, 48 Kniesel, in: Dietel/Gintzel/Kniesel, 2016, Ver- Das Recht in guter Verfassung? FS für Martin Grundgesetz, Kommentar, 14. Auflage, Art. 11, sammlungsgesetze, Kommentierung, 17. Auf- Kutscha, S. 163 und Brenneisen/Staack, DVP Rn. 2. lage, S. 113 (unter Hinweis auf OVG Münster 2013, S. 426. 24 Rachor, in: Lisken/Denninger/Rachor, 2012, v. 2.3.2001, Az. 5 B 273/01); Trurnit, NVwZ 8 Vgl. Knape/Klös, Die Polizei 2007, S. 241; Handbuch des Polizeirechts, 5. Auflage, S. 434. 2016, S. 873 (unter Hinweis auf VG Karlsruhe Landtagsdrucksache NI 17/5280 (24.2.2016). 25 BGBl. 2006, S. 2034. v. 13.2.2015, Az. 4 K 395/13 und VG Stutt- 9 Aufenthaltsverbote gegen die Fans der Gast- 26 Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2016, gart v. 12.6.2014, Az. 5 K 808/11); Dürig- mannschaft waren zunächst gescheitert; dazu Versammlungsfreiheitsgesetz für das Land Friedl, in: Dürig-Friedl/Enders, 2016, Ver- ntv (28.4.2016); VG Darmstadt v. 28.4.2016, Schleswig-Holstein, Kommentar, S. 38. sammlungsrecht, Kommentar, S. 291. Az. 3 L 642/16 und Hecker, NVwZ 2016, 27 VerfGH Berlin v. 11.4.2014, DVBl 2014, 49 Vgl. dazu Brenneisen et al., in: Brenneisen/ S. 1301. S. 922. Wilksen, 2011, Versammlungsrecht, 4. Auf- 10 Vgl. dazu z. B. Rachor, in: Lisken/Denninger/ 28 Vollgesetze mit Qualitätsanspruch können nur lage, S. 481. Rachor, 2012, Handbuch des Polizeirechts, die Länder Bayern, Niedersachsen und Schles- 50 Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2016, Ver- 5. Auflage, S. 453; Brenneisen et al., in: wig-Holstein vorweisen. sammlungsfreiheitsgesetz für das Land Brenneisen/Wilksen, 2011, Versammlungs- 29 Vgl. dazu Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, Schleswig-Holstein, Kommentar, S. 181; vgl. recht, 4. Auflage, S. 454; Ott/Wächtler/Hein- 2016, Versammlungsfreiheitsgesetz für das auch Bernhardt, Die Polizei 2016, S. 65. hold, 2010, Gesetz über Versammlungen und Land Schleswig-Holstein, Kommentar, S. 39 ff. 51 Vgl. dazu BVerfG v. 23.3.2015, Az. 2 BvR Aufzüge, 7. Auflage, S. 195. 30 Enders et al., 2011, Musterentwurf eines Ver- 1304/12; Landtagsdrucksache Bay 17/2509 11 Bernhardt, Die Polizei 2016, S. 65 (unter Hin- sammlungsgesetzes, S. 30. (8.8.2014); Landtagsdrucksache Ni 17/5280 weis auf die PDV 100, Anl. 20). 31 Knape/Schönrock, Die Polizei 2012, S. 297. (24.2.2016).

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52 Jarass, in: Jarass/Pieroth, 2016, Grundgesetz, sen/Martins, Die Polizei 2003, S. 105; Wilk- 105 Vgl. dazu Rachor, in: Lisken/Denninger, Kommentar, 14. Auflage, Art. 104, Rn. 15. sen, PVT 2003, S. 185. 2012, Handbuch des Polizeirechts, 5. Auf- 53 BVerfGE 80, 137. 79 Jarass, in: Jarass/Pieroth, 2016, Grundgesetz, lage, S. 477; Brenneisen et al., in: Brennei- 54 BVerwG v. 25.7.2007, NVwZ 2007, S. 1439. Kommentar, 14. Auflage, Art. 104, Rn. 1; sen/Wilksen, 2011, Versammlungsrecht, 4. Auf- 55 Jarass, in: Jarass/Pieroth, 2016, Grundgesetz, Schulze-Fielitz, in: Dreier, 2013, Grundgesetz, lage, S. 458; Brenneisen/Wilksen/Staack/ Kommentar, 14. Auflage, Art. 11, Rn. 17. Kommentar (Band I), 3. Auflage, Art. 104, Martins, 2008, Polizeirechtsreform in Schles- 56 Rachor, in: Lisken/Denninger/Rachor, 2012, Rn. 106. wig-Holstein, S. 460; ungenau in diesem Zu- Handbuch des Polizeirechts, 5. Auflage, 80 Vgl. dazu Hufen, 2016, Staatsrecht II, Grund- sammenhang Büttner/Schade, in: Schipper, S. 453 ff. rechte, 5. Auflage, S. 327; Ipsen, 2015, Staats- 2010, Polizei‑ und Ordnungsrecht in Schles- 57 Vgl. z. B. § 204 I 1 LVwG SH, § 55 I 1 SOG recht II, Grundrechte, 18. Auflage, S. 71; Ja- wig-Holstein, 5. Auflage, S. 303. MV, § 13 I 1 HmbSOG, § 15 I 1 BremPolG, rass/Pieroth, 2015, Grundrechte, Staatsrecht 106 Brenneisen et al., in: Brenneisen/Wilksen, § 30 I 1 ASOG Bln, § 35 I 1 PolG NRW, II, 31. Auflage, S. 111. 2011, Versammlungsrecht, 4. Auflage, S. 458; § 14 I 1 POG RP; zum Begriff des „Schutzkes- 81 Brenneisen et al., in: Brenneisen/Wilksen, Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2008, sels“ vgl. in diesem Zusammenhang Bern- 2011, Versammlungsrecht, 4. Auflage, S. 462. Polizeirechtsreform in Schleswig-Holstein, hardt, Die Polizei 2016, S. 120. 82 Vgl. z. B. Erlass über die Verfahrensrechte bei S. 460. 58 Zum Teil wird hier nur auf die Begehung von freiheitsentziehenden Maßnahmen, Erlass 107 Lisken, ZRP 1996, S. 332; vgl. dazu auch Ra- kriminellem Unrecht abgestellt; vgl. dazu z. B. MIB SH, LPA-103-14.25-EOB 2011/0435 chor, in: Lisken/Denninger, 2012, Handbuch Rachor, in: Lisken/Denninger/Rachor, 2012, v. 17.10.2016. des Polizeirechts, 5. Auflage, S. 477. Handbuch des Polizeirechts, 5. Auflage, 83 Vgl. dazu z. B. Rühle/Suhr, 2012, Polizei‑ und 108 Rachor, in: Lisken/Denninger, 2012, Handbuch S. 459; siehe § 55 I 2 SOG MV. Ordnungsbehördengesetz Rheinland-Pfalz, des Polizeirechts, 5. Auflage, S. 477; Brennei- 59 Vgl. z. B. § 204 I 2 LVwG SH, § 55 I 2 SOG 5. Auflage, S. 258; Büttner/Schade, in: Schip- sen et al., in: Brenneisen/Wilksen, 2011, Ver- MV, § 13 I 2 HmbSOG, § 15 I 2 BremPolG, per, 2010, Polizei‑ und Ordnungsrecht in sammlungsrecht, 4. Auflage, S. 458. § 30 I 2 ASOG Bln, § 35 I 2 PolG NRW, Schleswig-Holstein, 5. Auflage, S. 305. 109 Vgl. dazu EGMR v. 1.12.2011, Az. 8080/08, § 14 I 2 POG RP. 84 Jarass, in: Jarass/Pieroth, 2016, Grundgesetz, 8577/08. 60 Vgl. z. B. § 204 I 4 LVwG SH, § 55 I 5 SOG Kommentar, 14. Auflage, Art. 1, Rn. 6; Dreier, 110 Knape, Die Polizei 2016, S. 157. MV, § 13 I 3 HmbSOG, § 15 I 3 BremPolG, 2013, Grundgesetz, Kommentar (Band I), 111 Knape, Die Polizei 2016, S. 157; Schönrock, § 30 I 3 ASOG Bln, § 35 I 3 PolG NRW, 3. Auflage, Art. 1 I, Rn. 44. Die Polizei 2013, S. 355; Knape/Schönrock, § 14 I 3 POG RP; dazu Rachor, in: Lisken/Den- 85 Vgl. z. B. BVerfG v. 22.3.2016, Az. 2 BvR 566/ Die Polizei 2012, S. 297; Knape, Die Polizei ninger/Rachor, 2012, Handbuch des Polizei- 15; v. 14.7.2015, Az. 1 BvR 1127/14; v. 22.2. 2001, S. 249; vgl. auch Brenneisen/Dubbert/ rechts, 5. Auflage, S. 465; vgl. auch Knape, 2011, Az. 1 BvR 409/09; siehe dazu auch Schwentuchowski, 2005, Ernstfälle, 2. Auf- Die Polizei 2015, S. 170. EGMR v. 12.7.2007, Az. 20877/04. lage, S. 296. 61 Rachor, in: Lisken/Denninger/Rachor, 2012, 86 VG Bremen v. 2.12.2010, Az. 2 K 1989/09. 112 So die Formulierung von Arzt/Ullrich, Vor- Handbuch des Polizeirechts, 5. Auflage, 87 VG Bremen v. 2.12.2010, Az. 2 K 1989/09; gänge 1/2016, S. 46; vgl. auch Lorenz, in: S. 465. vgl. auch Bernhardt, Die Polizei 2016, S. 120 Staack/Schwentuchowski, 2006, Versamm- 62 Becker/Brüning, 2014, Öffentliches Recht in und EGMR v. 6.10.2015, Az. 80442/12. lungen, S. 11. Schleswig-Holstein, S. 177; Rühle/Suhr, 2012, 88 Ipsen, 2015, Staatsrecht II, Grundrechte, Polizei‑ und Ordnungsbehördengesetz Rhein- 18. Auflage, S. 74; Jarass/Pieroth, 2015, Grund- land-Pfalz, 5. Auflage, S. 251; Brenneisen rechte, Staatsrecht II, 31. Auflage, S. 113. AKTUELLES et al., in: Brenneisen/Wilksen, 2011, Ver- 89 Brenneisen/Martins, Die Polizei 2003, S. 105; sammlungsrecht, 4. Auflage, S. 456. Wilksen, PVT 2003, S. 185. Rauschgiftschmuggel 63 Vgl. Knape, Die Polizei 2015, S. 172; Opl, Die 90 Jarass, in: Jarass/Pieroth, 2016, Grundgesetz, Polizei 2014, S. 81; Heidebach, NVwZ 2014, Kommentar, 14. Auflage, Art. 104, Rn. 25; Seit August 2016 ermittelte das BKA S. 554; Waechter, NVwZ 2014, S. 995. Rachor, in: Lisken/Denninger, 2012, Hand- gegen eine iranische Tätergruppie- 64 Diese Einschränkungen gelten auch bei Ver- buch des Polizeirechts, 5. Auflage, S. 468. sammlungslagen, so dass die nachfolgenden 91 BVerfG v. 13.12.2005, Az. 2 BvR 447/05; VG rung, die verdächtigt wird, organisiert Ausführungen zu übertragen sind. Bremen v. 2.12.2010, Az. 2 K 1989/09. Heroin aus dem Iran beziehungsweise 65 EGMR v. 1.12.2011, Az. 8080/08, 8577/08. 92 Brenneisen et al., in: Brenneisen/Wilksen, der Türkei nach Westeuropa, versteckt 66 BVerfG v. 6.8.2007, Az. 2 BvR 1520/07; v. 8. 2011, Versammlungsrecht, 4. Auflage, S. 459. in LKW-Konvois, zu schmuggeln. So 8.2007, Az. 2 BvR 1521/07. 93 Brenneisen et al., in: Brenneisen/Wilksen, 67 EGMR v. 1.12.2011, Az. 8080/08, 8577/08 2011, Versammlungsrecht, 4. Auflage, S. 459 wurde Mitte Januar ein iranischer (LS 2 u. 3). (m. w. N.); a. M.: Rachor, in: Lisken/Denninger, Lkw-Konvoi nach vorheriger Observa- 68 EGMR v. 7.3.2013, Az. 15598/08. 2012, Handbuch des Polizeirechts, 5. Auf- tion kontrolliert und durchsucht. Mit 69 BVerfG v. 26.2.2008, Az. 2 BvR 517/06. lage, S. 470. Hilfe der Röntgendetektion und eines 70 EGMR v. 7.3.2013, Az. 15598/08. 94 BVerfG v. 13.12.2005, Az. 2 BvR 447/05; vgl. 71 OVG Lüneburg v. 24.2.2014, Az. 11 LC 228/ dazu auch VGH Mannheim v. 17.3.2011, Rauschgiftspürhundes fand man in 12 (= NVwZ-RR 2014, S. 552); vgl. dazu DVBl 2011, S. 626 (mit Anmerkungen Söll- Hohlräumen der Lkw rund 150 Kilo- Knape, Die Polizei 2015, S. 170. ner). gramm Heroin. Die beiden iranischen 72 BVerfG v. 18.4.2016, Az. 2 BvR 1833/12, 95 BGBl. 2008, S. 2586. Lkw-Fahrer wurden festgenommen. 2 BvR 1945/12. 96 BVerfG v. 13.12.2005, Az. 2 BVR 447/05. 73 BVerfGE 74, 358; 82, 106; 111, 307. 97 BVerfG v. 13.12.2005, Az. 2 BVR 447/05; vgl. Der Handel mit Rauschgift ist nach 74 BVerfG v. 18.4.2016, Az. 2 BvR 1833/12, dazu auch LG Köln v. 29.4.2016, Az. 39 T 48/ wie vor die Haupteinnahmequelle der 2 BvR 1945/12; vgl. auch Cammareri, JuS 16. international Organisierten Kriminalität. 2016, S. 791; Knape, Die Polizei 2015, S. 170; 98 BVerfG v. 13.12.2005, Az. 2 BVR 447/05. Insbesondere steigt der Zufuhrdruck Heidebach, NVwZ 2014, S. 554; Waechter, 99 LG Köln v. 29.4.2016, Az. 39 T 48/16. NVwZ 2014, S. 995; Opl, Die Polizei 2014, 100 Vgl. dazu Brenneisen, in: Brenneisen/Wilk- durch iranisch-kurdische Tätergruppie- S. 81; Schönrock, Die Polizei 2013, S. 206; sen, 2011, Versammlungsrecht, 4. Auflage, rungen, die neben den bereits seit Jah- Scheidler, NVwZ 2012, S. 1083. S. 111. ren etablierten Täterstrukturen ebenfalls 75 Schönrock, Die Polizei 2013, S. 206. 101 Vgl. dazu Brenneisen/Wilksen/Staack/Mar- von diesem überaus lukrativen Markt 76 Bernhardt, Die Polizei 2016, S. 65. tins, 2008, Polizeirechtsreform in Schleswig- 77 Brenneisen/Wilksen/Staack/Martins, 2016, Holstein, S. 460. profitieren wollen. Die Ermittlungen Versammlungsfreiheitsgesetz für das Land 102 SächsVerfGH v. 14.5.1996, NJW 1996, belegen einmal mehr die internationale Schleswig-Holstein, Kommentar, S. 181. S. 1949. Vernetzung des organisierten Rausch- - 78 Jarass, in: Jarass/Pieroth, 2016, Grundgesetz, 103 Reduzierung auf zehn Tage durch Ände gifthandels und dessen außerordentli- Kommentar, 14. Auflage, Art. 104, Rn. 1; De- rungsgesetz vom 30.5.2012, HmbGVBl genhart, in: Sachs, 2014, Grundgesetz, Kom- 2012, S. 204, 211. che Gewinnmargen. mentar, 7. Auflage, Art. 104, Rn. 1; Brennei- 104 Lisken, ZRP 1996, S. 332. Quelle: BKA bf

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Kriminalistik 2/2017 Suchmaßnahmen 99 Georadar als polizeiliches Einsatzmittel Nicht-invasive Depotsuche und Detektion von Leichen

Von Rebecca Kirsten, Gerhard Schmelz und Jens Hornung

Bei polizeilichen Suchmaßnahmen müssen oft größere Erd- Einleitung

arbeiten durchgeführt oder gar Bauwerksteile aufgerissen Ermittlungsmethoden, besonders im Be- werden. Dies ist mit hohem Zeit‑ und Kostenaufwand ver- reich der Forensik, werden immer ausge- bunden. Georadar kann Anhaltspunkte für die Lage des feilter. Der Fortschritt in den Natur‑ und Zielobjekts liefern, so lassen sich solche Maßnahmen in Ingenieurwissenschaften bietet auch der Polizei immer neue Ansatzpunkte zur Ent- ihrem Ausmaß einschränken oder gar vermeiden. Im Rahmen wicklung neuartiger kriminaltechnischer einer Studie1 zum forensischen Einsatz von Georadar wurden Untersuchungsmethoden. In jedem poli- an der Hochschule für Polizei und Verwaltung in Wiesbaden zeispezifischen Gebiet findet sich ein ste- in Kooperation mit der Technischen Universität Darmstadt tig erweiterndes Angebot an technischen Hilfsmitteln. So bedient sich die Kriminal- und dem Bundeskriminalamt umfangreiche Feldmessungen technik im Bereich der Verbrechensauf- durchgeführt: Gegenstände aus unterschiedlichen Materia- klärung unter anderem Verfahren aus der lien und Größe wurden in verschiedene Tiefen in den Boden Geophysik. Eine dieser geophysikalischen Methoden zur nicht-invasiven, das heißt eingebracht und anschließend mit dem Georadargerät un- zerstörungsfreien Erkundung des oberflä- tersucht. Darüber hinaus fand noch ein Vergleich zwischen chennahen Untergrunds, stellt das Geo- einem gebräuchlichen Metallsuchgerät und dem verwen- radar dar. deten Georadar statt. Die Ergebnisse verdeutlichen, unter Die geophysikalische Methode zur De- tektion von Leichen und anderen foren- welchen Voraussetzungen unterschiedliche Objekte mit sischen Objekten hielt bereits Mitte der dem Georadar gefunden werden können und ermöglichen 1990er-Jahre Einzug in die Polizeiarbeit. Empfehlungen zum zielführenden Einsatz des Georadars als Doch bisweilen greifen deutsche Ermittler nur selten auf diese geophysikalische Me- Werkzeug in der Kriminalistik. Dadurch besteht eine realisti- thode zurück. Die Gründe hierfür liegen sche Chance, Tatwerkzeuge, Beute, Drogen‑ und Waffenlager im Wesentlichen darin, dass die Methode sowie menschliche Überreste wesentlich zielgerichteter zu an sich, ihre forensischen Einsatzmöglich- lokalisieren. keiten, sowie die Grenzen der Methode innerhalb der Polizei, in Deutschland weit- gehend unbekannt sind.

Prof. Gerhard Schmelz, Hessische Rebecca Hochschule Dr. Jens Kirsten, Poli­ für Polizei Hornung, zeipräsidium und Ver­ Technische Südhessen, waltung, Universität Darmstadt Wiesbaden Darmstadt

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Das Georadar – eine bisher vernachlässigte Methode

Die Methode kommt bei der deutschen Polizei im internationalen Vergleich selten zum Einsatz. Beim Bundeskriminalamt wird das Georadar seit 2004 eingesetzt, es gibt jedoch keine spezialisierte Arbeits- gruppe in diesem Bereich. Das BKA kann nicht auf eine eigene Georadar-Ausrüs- tung zugreifen und hat zudem polizeiin- tern keinerlei Georadar-Expertise, sodass Georadaruntersuchungen und ‑auswer- tungen nur durch externe Ingenieurbü- ros oder sonstige Institutionen erfolgen. Durch diesen Umstand fallen bei der Su- che und Lokalisierung von Beweismitteln immense Kosten an. Hierdurch besteht eine Abhängigkeit von externen Fachkräf- ten, auf deren Aussagen und Ergebnisse Abbildung 1: Die Abbildung zeigt vereinfacht das Prinzip der Georadar-Methode sich die Polizei verlassen muss. Die be- (nicht maßstabsgetreu). auftragten „Experten“ haben meist je- doch keine Erfahrung bei der forensischen Anwendung dieser geophysikalischen Methode und bieten zum Teil auch Leis- tungen an, die bei genauerer Betrachtung von vornerein nicht sinnvoll und wenig zielführend sind. In solchen Fällen wer- den bei der Polizei falsche Erwartungen geweckt, wertvolle Zeit und Geld gehen verloren.

Im Ausland Eignung für polizeiliche Anwendung durch Erprobung und Anwendung in der Praxis erwiesen

Abbildung 2: Bild 1 (links oben) Kunststoff‑ und Metallquadrate mit den Kantenlängen 2 cm, Das Georadar hat aber bereits in der Ver- 5 cm, 10 cm und 20 cm. Bild 2 (oben rechts) 20 × 20 cm Kunststoffplatte und Gelatineblock gangenheit im Ausland, so zum Beispiel mit 20 × 20 × 10 cm Kantenlänge. Bild 3 (unten links) Metallplatte in 1 m Tiefe im Boden. in den Niederlanden und in Großbritan- Bild 4 (unten rechts) Leimholzwürfel mit 20 cm Kantenlänge in 25 cm Tiefe im Boden. nien, durch eingehende Erprobung und Anwendung in der Praxis die Eignung für (15 MHz bis 2 GHz) in den Untergrund, ist umso stärker, je größer der Unterschied polizeiliche Zwecke bewiesen. Dort wird die an Objekten oder Schichtgrenzen der elektrischen Eigenschaften zwischen das Georadar schon seit über drei Jahr- reflektiert werden und wieder zur Emp- dem umgebenden Material und dem ge- zehnten regelmäßig für Kriminalfälle he- fangsantenne zurücklaufen (Abbildung 1). suchten Objekt ist. rangezogen. Bisher wurden in Deutsch- Das Georadar liefert deshalb kein opti- Die vom Georadar abgestrahlte elekt- land die bestehenden kriminaltechnischen sches Abbild des Untergrundes, sondern romagnetische Energie wird frequenzab- Möglichkeiten des Georadars nicht um- sogenannte Strukturbilder, die Radar- hängig und je nach Bodenart unterschied- fassend genutzt – obwohl die Bedürfnis- gamme. lich stark abgeschwächt. Diese Dämpfung frage zu bejahen wäre. Auch wurde die Das Zeitintervall zwischen Aussendung, der elektromagnetischen Welle bestimmt Forschung in diesem kriminaltechnischen Reflexion und Empfang des Signals wird die Reichweite des Signals und damit die Fachbereich von der deutschen Polizei bis- als Zwei-Wege-Laufzeit bezeichnet und in Eindringtiefe der Welle in den Boden. her vernachlässigt. Die vorhandenen wis- der Einheit Nanosekunden (ns) angege- Prinzipiell besitzen Antennen mit höhe- senschaftlichen Studien hierzu stammen ben. Eine Nanosekunde ist eine milliards- rer Frequenz wegen der kürzeren Wel- überwiegend aus dem englischsprachigen tel Sekunde. Wird die Wellengeschwindig- lenlängen ein besseres Auflösungsver- Raum. keit ermittelt, lässt sich auch die Tiefen- mögen, sie haben jedoch aufgrund der lage eines Objektes berechnen. Gemessen stärkeren Dämpfung und Streuung eine Die physikalischen Grundlagen des Georadars werden innerhalb der Zwei-Wege-Laufzeit geringere Eindringtiefe. Für forensische die Amplituden des reflektierten Signals. Zwecke kommen überwiegend Antennen Ein Georadar strahlt über eine Sende­ Die Amplitudenwerte sind ein Maß für die mit Frequenzen zwischen 400 MHz und antenne elektromagnetische Impulse „Reflektivität“ des Mediums. Die Reflexion 900 MHz zum Einsatz, dieser Frequenz-

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bereich stellt einen guten Kompromiss zwischen Eindringtiefe und Auflösungs- vermögen dar. Objekte werden als Hy- perbeln abgebildet, das Objekt befindet unterhalb des Scheitelpunktes. Versuchsanordnung Auf einem Testfeld in einem stark san- digen Boden wurden vier Stahlbleche unterschiedlicher Größe (20 × 20 cm, Abbildung 3: Radargramm, aufgenommen mit einer 900-Mhz-Antenne, mit Hyperbeln für 10 × 10 cm, 5 × 5 cm und 2 × 2 cm) Metallteile (20 × 20 cm, 10 × 10 cm und 5 × 5 cm) sowie Metallring (20 cm Durchmesser) sowie ein Metallring (Ø 10 cm) nachein- bei einer Objekttiefe von 75 cm. Objekte werden als Hyperbeln abgebildet, das Objekt be­ findet sich unter deren höchsten Punkt. ander in Tiefen von 25 cm, 50 cm, 75 cm und 100 cm in den Boden eingebracht. zeichnete sich aufgrund des höheren Ein Vorteil bei der Suche mit herkömmli- Darüber hinaus wurden drei Kunststoff- Auflösungsvermögens der Antenne das chen Metallsuchgeräten liegt darin, dass platten mit je 20 × 20 cm, 10 × 10 cm 5 × 5 cm große Metallstück bis in eine sie von jedem kurzfristig eingewiesenen und 5 × 5 cm Größe sowie ein Gelatine- Tiefe von 0,75 m ab. Polizeibeamten bedient werden können. block von 20 × 20 × 10 cm Ausmaße als Die Georadar-Bedienung ist hingegen nur Simulationsobjekt für menschliche Über- Schusswaffe oder Messer lässt durch geschultes und erfahrenes Personal reste und drei Würfel aus Leimholz mit je sich bis zu einer Tiefe von sinnvoll oder gar möglich. 20 cm, 10 cm und 5 cm Kantenlänge in einem Meter orten Weitere Untersuchungen nötig 25 cm Tiefe im Boden vergraben. Über al- len Gegenständen (Abbildung 2) wurde je Aus den Ergebnissen der Untersuchungen Ein weiterer Vorteil des Georadars ist, ein Radargramm mit der 400-MHz‑ und kann geschlossen werden, dass sich zum dass es gleichzeitig auch zur Lokalisierung 900-MHz-Antenne aufgezeichnet. Beispiel eine Schusswaffe oder ein Mes- nicht-metallener Gegenstände eingesetzt ser, mit einer 400-MHz‑ beziehungsweise werden kann. Jegliche Gelatineblöcke Auswertung der Ergebnisse: Welche Objekte sind leicht zu einer 900-MHz-Antenne bis in eine Tiefe konnten geortet werden. Umstritten ist lokalisieren? von einem Meter orten lässt. Auch müss- jedoch, inwieweit sich Gelatine als Simu- ten sich eine gewöhnliche Gürtelschnalle, lationsobjekt für menschliche Überreste Die Gelatineobjekte in 0,25 m, 0,5 m eine metallische Schuhkappe oder ein in verschiedenen Verwesungsstadien eig- und 1 m Tiefe konnten mit den verwen- Schlüssel mit einer 900-MHz-Antenne bis net. Die Frage, wie sich eine menschliche deten Antennenfrequenzen von 400 und in eine Tiefe von 0,75 m auffinden las- Leiche im Radargramm abzeichnet, bleibt 900 MHz deutlich detektiert werden. Hier sen. Kleinere metallische Gegenstände daher vorerst unbeantwortet. Auch in der erwies sich die 400-MHz-Antenne als ge- wie Knöpfe, Ösen, ein Reißverschluss oder einschlägigen Literatur ist bisher nicht ab- eigneter, da sich bei 900 MHz durch das eine Kette liegen an der Grenze bezie- schließend geklärt, inwieweit die Suche höhere Auflösungsvermögen auch viele hungsweise unter dem Auflösungsvermö- nach Leichen unter Einsatz eines Geora- natürliche, kleinskalige Heterogenitäten gen der Antenne und sind daher tenden- dars durch den Verwesungsprozess beein- als weitere Signale abzeichneten. Diese ziell nicht detektierbar. flusst wird und wie lange nach einem To- traten im Radargramm hervor, sodass sich deseintritt eine Suche erfolgsversprechend Metall dank Georadar leicht das Signal des gesuchten Objekts (Gela- auffindbar ist. Notwendig wären umfangreiche Un- tine) nicht eindeutig unterscheiden lässt. tersuchungen, die von Anfang bis Ende Die Kunststoffplatten waren in keinem Für diese Untersuchungen muss berück- den Verfall eines Leichnams unter proto- Fall detektierbar. Die Messungen von Holz sichtigt werden, dass die vorgestellten kollierten Bedingungen aufzeigen. haben gezeigt, dass die Detektierbar- Ergebnisse nur für einen Boden mit der keit von trockenem zu nassem Zustand geologischen Zusammensetzung des Test- Einsatz auch zur erheblich variiert. Im Gegensatz zu den feldbodens, also stark sandig, gelten. Al- Lokalisierung nicht-metallener nassen Holzwürfeln ließ sich das tro- lerdings ist bei Metall der zu erwartende Gegenstände möglich ckene Holz weder mit 400 MHz, noch mit Kontrast der elektrischen Eigenschaften 900 MHz detektieren. Die metallischen zu einem natürlichen Boden immer so Die untersuchten Kunststoffplatten waren Objekte ließen sich besser lokalisieren als groß, dass die Ergebnisse auf (für Geo- mit der verwendeten 400‑ und 900-MHz- nicht leitende Kunststoffe und Gelatine, radar geeignete) natürliche Böden über- Antenne zwar nicht zu lokalisieren, je- da Metall eine höhere „Reflektivität“ be- tragbar sind. Demzufolge kann das Geo- doch spielt die Detektion von Kunststoff sitzt. So ließen sich die Metallplatten mit radar eine Alternative bei der Suche nach für polizeiliche Untersuchungen eine un- 20 × 20 cm und 10 × 10 cm Ausmaße Metallteilen darstellen, da gebräuchliche tergeordnete Rolle, da nicht der Kunst- bis in eine Tiefe von einem Meter mit der Metallsuchgeräte, wie die durchgeführten stoff selbst das gesuchte Objekt darstellt, 400-MHz-Antenne eindeutig lokalisieren Tests gezeigt haben, teilweise schon bei sondern in Kunststoff verpackte und ein- (Abbildung 3). Die 5 × 5 cm große Me- geringen Tiefen versagen. geschlossene Objekte, wie beispielsweise tallplatte konnte nicht lokalisiert werden, Bei Einsatz eines Georadars lässt sich im eine in Kunststoff eingewickelte Leiche da ihre Größe unterhalb des Auflösungs- Gegensatz zur Suche mit Metalldetekto- oder Leichenteile in einem Kunststoffbe- vermögens der 400-MHz-Antenne liegt. ren eine Aussage über die Tiefenlage und hälter. Diese Objekte besitzen meist selbst In den Radardaten der 900-MHz-Antenne ungefähren Ausmaße des Objekts treffen. einen ausreichenden Kontrast in den elek-

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an der gegraben wurde. Die natürliche Schichtung des Bodens wird durch die Grabung zerstört, sodass sich auch beim Wiederauffüllen die Struktur des Grabes deutlich von der Umgebung abgrenzt (Abbildung 4). Dieser Unterschied ist im Radargramm sichtbar und erhöht die Chance, Grabungsstellen zu identifizieren, selbst wenn der Nachweis des vergrabe- nen Objekts nicht gelingt. Hierzu wird natürlich entsprechendes Expertenwissen und Erfahrung benötigt.

Nicht der Körper an sich wird Abbildung 4: Beispiel für ein Grab. Der homogene, horizontal geschichtete Boden wurde detektiert, sondern die Stelle, durch das Graben zerstört. Im Radargramm kommt es zu Unterbrechungen der sonst gleich­ mäßig verlaufenden Signale. an der gegraben wurde

trischen Eigenschaften zum jeweiligen Beispiel auch im Boden vorhandene Wur- Da sich jede Suche nach einer Leiche oder Einbettungsmedium, sodass eine Ortung zeln oder Steine und anthropogen einge- anderen Beweismitteln anders darstellt, durch das Georadar möglich ist, selbst tragene beziehungsweise vergrabene Ob- bedarf sie stets einer Einzelfallprüfung. wenn sich das Verpackungs-/Behälterma- jekte, wie zum Beispiel Müll, Schutt, Ka- Zweifellos ist das Georadar kein Univer- terial nicht detektieren lässt. Auch ein lee- nalrohre und Leitungen, im Radargramm salwerkzeug das immer zum Einsatz kom- rer vergrabener Kunststoffbehälter bildet ähnliche Signale. men kann, wenn andere konventionelle aufgrund des durch ihn eingeschlossenen Einsatzmittel, wie zum Beispiel Such- Hohlraums im Boden einen hohen Kon- Stärken und Schwächen hunde, versagen. Es ist jedoch ein vielsei- trast in den elektrischen Eigenschaften wie bei allen anderen tiges Einsatzmittel und kann polizeiliche zum Bodenmaterial, sodass sich der Hohl- Suchmethoden Suchmaßnahmen unterstützen. Unter be- raum in den Radardaten abbildet. stimmten Voraussetzungen kann der Ein- Eine positive Anzeige im Gelände ist nie satz des Georadars gegenüber konventio- Grenzen der Methode – Wann lohnt sich der Einsatz? gleichbedeutend mit dem Nachweis der nellen Suchmethoden „das mildere Mit- gesuchten Waffe oder Leiche, denn es tel“ darstellen. So kann zum Beispiel die Die durchgeführten Tests haben gezeigt, können immer auch andere Gegenstände nicht-invasive Suche nach einer in einem dass sich das Georadar durchaus zur im Boden vorhanden sein, die ein ver- Fundament eingebetteten Leiche mittels Detektion von unterschiedlichen Materi- gleichbares Messsignal hervorrufen. Dem- Georadar kostengünstiger und schnel- alien im Boden eignet. Jedoch hat das gegenüber muss eine negative Prospektion ler sein, als gegebenenfalls das gesamte Georadar wie alle anderen Suchmethoden nicht bedeuten, dass der gesuchte Gegen- Fundament für die Suche aufstemmen zu Stärken und Schwächen. Der Erfolg einer stand nicht im Suchareal vergraben ist. He- müssen und bei negativem Ausgang die Georadar-Messung ist stets von den je- ben sich die dielektrischen Eigenschaften Kosten für die Instandsetzung zu tragen. weiligen Bodenverhältnissen vor Ort ab- des zu ortenden Objekts nicht vom Umge- Auch größere, ungezielte Erdarbeiten ver- hängig, der Einsatz somit nicht bei jeder bungsmaterial ab, wird der Gegenstand im ursachen immense Kosten. Bodenart zweckmäßig. Sind oberflächen- Radargramm auch nicht sichtbar. Das Georadar – neue Chancen nah elektrisch gut leitende Substrate wie Hilfe bei der Suche nach einer für die Kriminalistik Ton (Lehm), Löß (kalk‑ und tonhaltiger Leiche Feinsand), eisenhaltige Schlacken oder Das Georadar erlaubt, zerstörungsfrei salzwasserhaltige Böden vorhanden, ist Das Georadar wird bei der deutschen nach Beweismittel zu suchen. Grundsätz- die Eindringtiefe des Georadars sehr be- Polizei insbesondere für die Suche nach lich sind mittels Georadar alle Gegen- schränkt und so der Einsatz des Verfah- vergrabenen oder einbetonierten Leichen stände detektierbar, die sich in ihren elek- rens nicht sinnvoll. Erfahrene Geophysiker eingesetzt. Der Wassergehalt bestimmt trischen Eigenschaften von dem umgebe- fragen daher vor einem Georadareinsatz maßgeblich die elektrischen Eigenschaf- nen Material unterscheiden. Der Einsatz stets nach der Art des Bodens, um die ten einer Leiche. Mit zunehmender Ver- des Georadars zum Aufspüren von Ge- Erfolgschancen zu beurteilen und nicht wesung und der damit einhergehenden genständen liefert keine Ja-Nein-Aussage, unnötig Kosten und Zeitaufwand zu ver- Abnahme des Wassergehalts treten bei sondern ein Abbild des Untergrundes, das ursachen. Georadar-Untersuchungen die elektri- vom Experten analysiert und interpretiert Eine weitere Schwierigkeit bei der De- schen Eigenschaften der Knochen, des werden muss. Das Ergebnis kann dann tektion besteht in der genauen Identifi- Knorpels oder der Zähne in den Vorder- in aller Regel Verdachtspunkte liefern, kation möglicher Beweismittel im Radar- grund. Wie die Messergebnisse der Gela- woraufhin eine Nachuntersuchung durch gramm. Zwar zeigen die Tests zur Depot- tine zeigen, sollten sich „frische“ Leichen Grabung stattfindet. suche, dass sich typische Gegenstände prinzipiell als elektromagnetischer Reflek- Georadar-Messungen können außer auf einer polizeilichen Suche, vor allem metal- tor im Radargramm darstellen. In den leitfähigen Böden fast überall durchge- lische Objekte, im Radargramm deutlich meisten Fällen wird jedoch nicht der Kör- führt werden. Das Georadar ist nicht nur als Signal abzeichnen. Jedoch zeigen zum per an sich detektiert, sondern die Stelle, auf natürlichem Untergrund einsetzbar,

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Kriminalistik 2/2017 Suchmaßnahmen/Recht aktuell 103

sondern zum Beispiel auch auf Asphalt, hinsichtlich des Nutzens dieser Technik Test der Fallarbeit auszusetzen, wäre ein Beton, wie stark armierter Beton mit Ein- im Dienste der Verbrechensbekämpfung ständiger, unmittelbarer Kontakt zur kri- schränkungen, und Mauerwerk innerhalb den Glauben an die geophysikalische Lö- minalistischen Praxis wünschenswert. von Gebäuden. Das Georadar eröffnet sung erschüttert. Doch wie ein Blick ins Gerne sind die Autoren daher auch bereit, zudem Chancen, auch Beweismittel wie benachbarte Ausland zeigt, hat das Ge- konkrete Leichen-/Depotfundpunkte kurz- eine Tatwaffe in Gewässern zu detektie- oradar in mehreren Fällen dazu beige- fristig zu untersuchen. Bitte nehmen Sie ren, wenn sich der Einsatz von Tauchern tragen, dass im Verborgenen gebliebene bei Interesse Kontakt mit uns auf. verbietet oder das Objekt verdeckt im Bo- Gewaltverbrechen aufgeklärt werden densediment versunken ist. konnten. Daher sollte die kriminaltech- Kontakt nische Erfahrung über Grundlagen‑ und [email protected] Ausblick – es besteht Handlungs- bedarf Anwendungsforschung in diesem Bereich [email protected] aufgegriffen und mit einem umfassen- [email protected] Zweifelsohne klafft eine Lücke zwischen den, bundesländerübergreifenden Infor- den Versprechen einiger geophysikali- mations‑ und Erfahrungsaustausch das Anmerkungen 1 KIRSTEN (2016): Bachelorthesis „Georadar als scher Dienstleister und der praktischen vorhandene Wissen gebündelt und struk- polizeiliches Einsatzmittel – Nicht-invasive Depot- Anwendungserfahrung der Polizei. So turiert werden. Um die anwendungsbe- suche, Detektion von Objekten unterschiedlichen haben vielleicht überhöhte Hoffnungen zogene Forschung und Entwicklung dem Materials und variabler Größe im Untergrund“.

RECHT AKTUELL

Zum Tatbestand der sexuellen Handlung vor einem Kind gem. § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB

Für den Täter des § 176 Abs. 4 Nr. 1 beanstandet die StA, dass das LG A nicht auf hinweise, dass die Wahrnehmung des StGB muss die Wahrnehmung der ergänzend wegen eines tateinheitlich be- Kindes für A nicht von Bedeutung war, sexuellen Handlung durch das Kind gangenen sexuellen Missbrauchs von Kin- während er die sexuellen Handlungen bei von handlungsbestimmender Be- dern gem. § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB verur- N durchführte. deutung sein. teilt hat. Die Beanstandung der StA blieb Ergänzender Hinweis erfolglos. Anmerkung Der BGH weist darauf hin, dass das LG Der Wortlaut des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB rechtsfehlerfrei eine tateinheitliche Ver- (wer „1. sexuelle Handlung vor einem I. Zum Sachverhalt wirklichung des § 176 Abs. 4 Nr. 1 StGB Kind vornimmt“) reicht per se nicht aus, Der Angeklagte (A) sowie seine Lebens- verneint habe. Das Kind sei zwar gegen- das strafwürdige Unrecht eines sexuel- gefährtin und spätere Nebenklägerin wärtig gewesen, als A sexuelle Handlun- len Missbrauchs von Kindern (hier: ohne (N) befanden sich nach einer streitigen gen bei N vorgenommen habe. A habe unmittelbaren Körperkontakt) von nicht Auseinandersetzung im Schlafzimmer. zudem auch erkannt, dass das Kind das hinreichend strafwürdigen Geschehnis- Es konnte nicht aufgeklärt werden, ob Geschehen beobachtet habe, und den- sen abzugrenzen. Auch die ergänzende das neunjährige Kind der N zu diesem noch seine Handlungen fortgesetzt. Zum Bestimmung des § 184h (Nr. 1 und) Nr. 2 Zeitpunkt schon anwesend war oder Beleg der subjektiven Tatseite seien diese StGB („2. sexuelle Handlungen vor einer erst im Verlauf der späteren Ereignisse Feststellungen jedoch nicht ausreichend. anderen Person [sind] nur solche, die vor hinzukam. A holte aus einem Wäsche- Um eine vom Gesetzgeber nicht gewollte einer Person vorgenommen werden, die schrank einen Vibrator, spreizte die Ausdehnung der Strafbarkeit zu vermei- den Vorgang wahrnimmt“) hilft diesbe- Beine der N und führte diesen trotz ent- den, habe der BGH die Regelung der züglich auch nicht wirklich weiter. So reicht gegengesetztem Willen der N gewalt- §§ 176 Abs. 4 Nr. 1, 184g Nr. 2 StGB a. regelmäßig „nicht die bloße Vornahme sam und unter Schmerzen mehrfach in F. (jetzt: § 184h Nr. 2 StGB) jedoch ein- sexueller Handlungen in ‚beengten Wohn- die Scheide ein. Das Kind nahm diesen schränkend ausgelegt. Für die Annahme verhältnissen‘ unter Inkaufnahme einer Vorfall wahr. Während des Einführens einer sexuellen Handlung vor einem Kind Beobachtung durch Kinder“ (Fischer StGB, des Vibrators, bemerkte A das Kind sei über dessen Wahrnehmung des Vor- 64. Aufl. 2017, § 176 Rn. 9) aus, um den und kommentierte das Geschehen ge- ganges hinaus erforderlich, dass der Täter Tatbestand zu erfüllen. Der Forderung ei- genüber dem Kind mit: „Das braucht das Kind so in das sexuelle Geschehen in- ner konkreten Motivlage beim Täter ist deine Schlampe“. N konnte A schließ- volviere, dass für den Täter die Wahrneh- zuzustimmen – auch wenn, wie im vor- lich wegstoßen. A verließ daraufhin das mung der sexuellen Handlung durch das liegenden Fall (Beobachtung einer Verge- Zimmer. Kind eine handlungsleitende Bedeutung waltigung) – die Möglichkeit einer Gefahr habe. Letzteres habe nicht festgestellt für die Entwicklung sexueller Selbstbestim- II. Zur Rechtslage werden können. Der Senat billigt den vom mungsfähigkeit eines Kindes naheliegt. Das LG wertete das Geschehen als Ver- LG gezogenen Schluss, dass die Kommen- BGH, Urteil v. 9.12.2015 gewaltigung (und Körperverletzung) tierung des Geschehens gegenüber dem 2 StR 261/15 zum Nachteil der N. Mit ihrer Revision Kind: „Das braucht deine Schlampe“ dar- bb

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104 Kriminaltechnik Kriminalistik 2/2017 Rückschlüsse durch Handy- Abriebe Interessante Ermittlungsmöglichkeiten­

Von Mark Benecke

Handy-Abriebe lassen Rückschlüsse auf Lebensgewohn- Entnahme vier Monaten später noch etwa heiten, hygienische und medizinische Bedingungen sowie zehnfach besser als Raten. Bei einge- schränktem Verdächtigenkreis ist dies ein Aufenthaltsorte zu. Zu diesem Ergebnis kommt ein deutsch- sinnvoller Hinweis für weitere Ermittlun- amerikanisches Forscherteam in einem Aufsatz, der im No- gen, bei nicht eingeschränktem Verdäch- vember 2016 im Magazin der „National Academy of Sciences tigenkreis lassen sich aus den Einzelstof- of the United States of America“ (PNAS) erschienen ist. fen gute Hinweise auf Lebensumstände der Besitzer gewinnen. Einer Forschungsgruppe von den Univer- prellungs-Flüssigkeiten (DEET), dem Haut- Interessant war, dass auf der Vorderseite sitäten Kalifornien in San Diego und Hei- pflegemittel Dexpanthenol nebst Zusatz- der Handies vorwiegend Spuren aus dem delberg ist es gelungen, Wattestäbchen- stoffen wie dem Geruchsverbesserer m- Gesichtsbereich der Verwender, auf der Abriebe von Handies deren Besitzern zu- Anissäure. Auf anderen Handies fanden Rückseite hingegen eher Spuren, die von zuordnen. Dazu wurden je zwei Stellen sich chemische Spuren von Gewürzen, ihren Händen übertragen worden waren, der Handy-Vorder‑ und zwei der Rücksei- beispielsweise 7-Hydroxy-Austroballignan, vorlagen. Es lohnt sich also sehr, mehrere ten mit 588 Proben von den Händen der das in Muskat vorkommt, sowie Piperin Proben pro Handy, genau beschriftet, mit Freiwilligen verglichen. und Capsaicin, das in schwarzem Pfeffer metrischem Maßstab versehen und foto- Knapp über die Hälfte der Bestandteile, und Pepperoni zu finden ist. grafisch dokumentiert, zu nehmen. die nach chemischen Zerlegung der Pro- Auch ein Medikament gegen Pilze Da etwa zehn bis dreißig Prozent der ben anfielen, waren bei mehreren Men- (Clobetalsol) sowie ein Haarwuchsmittel Substanzen, etwa das genannte Mücken- schen gleich. Viele andere Bestandteile (Minoxidil), des weiteren das verbreitete verbrämungs-Gift, auch noch vier Mo- ähnelten sich aber erstens nicht und wa- Antidepressivum Citalopram und dessen nate nach der letzten Verwendung des ren zweitens in ihrer Zusammenstellung Abbauprodukt Citalopram-N-oxid und Mückenschutzes auf den – durchgehend sogar individualtypisch. Nobiletin aus Zitrusfruchtschalen, aber weiter benutzten – Handies nachgewie- Da Hautleistenabdrücke auf Handies sehr auch Sinensetine aus zitronig riechen- sen wurden, und da die chemische Zer- leicht verwischen, und da die genetischen den Reinigungsflüssigkeiten konnten bei legungs‑ und Erkennungstechnik mittler- Fingerabdrücke der meisten Personen nicht einzelnen Proben nachgewiesen werden. weile weit fortgeschritten ist, dürfte die in Datenbanken verfügbar sind, bietet die „Viele dieser Stoffe“, so die Kolleginnen Methode auch jenseits der soeben veröf- chemische Untersuchung von Handies nun und Kollegen, „kamen nur bei einer oder fentlichten Pilotstudie in der polizeilichen also interessante Ermittlungsmöglichkeiten. sehr wenigen Personen vor.“ Praxis sinnvolle Ergebnisse erbringen. Gefunden wurden beispielsweise Be- Die Herausforderung lag weniger bei Die Autorinnen und Autoren der Ver- standteile von Sonnenschutzmitteln der Probennahme und Datensammlung, öffentlichung weisen lediglich darauf hin, (Avobenzon und Oxibenzon), Mückenver- sondern der Auswertung der großen Da- dass eine sehr große Computer-Rechen- tenmengen.“ leistung nötig wird, um die anfallenden „Wir haben hiermit einen Meilenstein Datenmengen zu vergleichen und zu indi- bei der Überprüfung persönlicher Ge- vidualisieren. Die Apparate‑ und Asservie- genstände dahingehend erreicht, dass rungstechnik ist hingegen unaufwändig. wir zuordnen können, welche Lebensge- Quelle: Originalveröffentlichung „Lifestyle wohnheiten eine Person hat, welche hy- chemistries from phones for individual profi- Dipl.-Biol. Dr. rer. medic. gienischen und medizinischen Bedingun- ling“ von Amina Bouslimani, Alexey Melnik, Mark Benecke, gen vorliegen und wo sie sich aufgehalten Zhenjiang Xu, Amnon Amir, Ricardo da Silva, International hat.“ Die Wahrscheinlichkeit der chemisch Mingxun Wang, Nuno Bandeira, Theodore Forensic richtigen Zuordnung des Handies zum Alexandrov, Rob Knight und Pieter Dorre- Research & Consulting, Besitzer war anfangs etwa 33fach bes- stein (2016), PNAS Early Edition. http://pnas. Köln ser als bei bloßem Raten, nach Proben- org/cgi/doi/10.1073/pnas.1610019113

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Kriminalistik 2/2017 Kriminaltechnik 105 Daktyloskopische Spurensicherung auf Eurobanknoten der Europaserie Das „Kolloidale Gold“-Verfahren neu entdeckt

Von Lothar Schwarz, Inga Klenke und Ingrid Becker

Als im Mai 2013 die neue 5-Euro- der Europase- nach und nach aus dem Umlauf ver- schwinden. rie in Umlauf gebracht worden ist, um die Euronoten der 2. In der Regel treten 5-Euro-Noten bei alten Serie zu ersetzen, wurde medial breit berichtet, dass beantragten Untersuchungen nicht es große Schwierigkeiten mit der Akzeptanz dieser neuen isoliert und nicht in großer Stückzahl Noten an Automaten gab, denn die Masse der Automaten auf, sondern in geringer Anzahl zu- sammen mit Euro-Banknoten anderer war auf die Erkennung der neuen Scheine nicht rechtzeitig Stückelungen. Die Information, auf vorbereitet worden. welchem Notentyp wie viele Spuren Von der Öffentlichkeit, aber auch von den betroffenen Fach- gesichert werden, spielt für die Unter- suchungsstellen in Statistiken – wenn leuten damals völlig unbemerkt ergab sich mit den neuen überhaupt – nur eine untergeordnete 5-Euroscheinen ein weiteres Problem: Die kriminalistisch un- Rolle. verzichtbare Sicherung von latenten Fingerspuren zeigte sich 3. Die Bearbeitung von Banknoten zur in der gewohnten Art und Weise als erfolglos. daktyloskopischen Spurensicherung erfolgt dezentral über die gesamte Po- lizeilandschaft hinweg verteilt, so dass Im Unterschied zum Jahr 2002, als die an die deutsche Kriminaltechnik herange- das Auftreten der neuen 5-Euro-Note DM-Noten von den Euro-Noten abgelöst tragen. als Spurenträger in der ersten Zeit wurden, gab es im Vorfeld keine Prü- Dass hier ein Problem vorliegen könnte, nach der Einführung für den einzelnen fungen, ob die neuen 5-Euro-Scheine wurde der Spurensicherungsgemeinde Spurensicherer ein eher seltenes Ereig- als Spurenträger ein verändertes Verhal- erst nach und nach durch umsichtige Be- nis darstellte. ten bei der daktyloskopischen Spuren- obachtungen Einzelner in der Fallarbeit 4. Prinzipiell ist es retrograd meist un- sicherung aufweisen könnten.1, 2 In den bewusst. Im Wesentlichen ist dies vier möglich zu klären, ob auf einem As- kriminaltechnischen Dienststellen hatte Umständen geschuldet: servat keine Spuren vorhanden sind niemand mit einem veränderten Verhal- 1. Die alten und neuen 5-Euro-Noten tra- oder ob die Spurensicherung es nicht ten gerechnet, und es wurden auch keine ten besonders am Anfang parallel auf, geschafft hat vorhandene Spuren konkreten Hinweise dazu aus der Bundes- da auch heute noch die alten 5-Euro- sichtbar zu machen. Wenn in der tägli- bank bzw. der Europäischen Zentralbank Noten ihre Gültigkeit besitzen und nur chen Massenbearbeitung auf wenigen

Dr. Lothar Schwarz, Inga Klenke, Ingrid Wissen­ Chemisch- Becker, Kri­ schaftlicher Technische minalhaupt­ Oberrat, Assistentin, kommissarin, KT 14, KT 14, KT 14, Kriminal­ Kriminaltech­ Kriminaltech­ technisches nisches nisches Institut, Institut, Institut, Bundeskri­ Bundeskrimi­ Bundeskrimi­ minalamt, nalamt, nalamt, Wiesbaden Wiesbaden Wiesbaden

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Asservaten keine Fingerspuren sichtbar werden, auf den anderen Asservaten aber schon, ist dies nichts Ungewöhn- liches und findet in der Regel weder weitere statistische Beachtung, noch wird dies von Dienststelle zu Dienst- stelle kommuniziert. Mit der Einführung der neuen 10-Euro- a b Note im September 2014 trat dann aber stärker in den Mittelpunkt, dass die Stan- dardverfahren für die neuen Euro-Bank- noten der Europaserie wohl ungeeignet sind und hier ein generelles Problem vor- liegt. Sogar Focus Online vermeldete am 26.10.2014, zwar nicht ganz richtig, da- für aber umso öffentlichkeitswirksamer: c d „Fingerabdrücke auf neuen Euro-Schei- nen nicht nachweisbar“.3 Durch erste Hinweise aus der Daktylos- kopie des LKA Niedersachsen über Prob- leme der gängigen Verfahren Ninhydrin, Indandion/Zink und DFO mit den neuen 5-Euro-Scheinen nahm sich bereits Ende 2013 die Zentralstelle für Forschung, Ent- e f wicklung & Erprobung von Spurensiche- rungsmethoden im Kriminaltechnischen Abbildung 1: Schematische Darstellung des zweistufigen Wirkprinzips im „Kolloidalen Institut des BKA diesem Phänomen an Gold“-Verfahren (MMD), a. Auf dem Spurenträger befindet sich eine Fingerspur (blau darge­ stellt), die Proteine (gelb dargestellt) beinhaltet. b. In die Lösung mit den Gold-Nanoparti­ und konnte durch intensive Bemühun- keln eingetaucht, wird die Fingerspur einer sauren Umgebung ausgesetzt. Die Proteine der gen einen Lösungsansatz aufzeigen, der Fingerspur laden sich dadurch positiv auf. c. Die negativ geladenen Gold-Nanopartikel (rot auch in weiteren Erprobungen durch ein dargestellt) lagen sich durch elektrostatische Wechselwirkung an die positiv geladenen Pro­ Bund-Länder-Experten-Gremium unter teine an. d. Überschüssige Gold-Nanopartikel werden entfernt, es bleiben die gebundenen Goldnanopartikel auf der Spur zurück. e. Der Spurenträger wird in die silberionenhaltige Beteiligung von schweizerischen und ös- Entwicklerlösung gelegt. Hier scheidet sich nun elementares Silber (grau dargestellt) kata­ terreichischen Kollegen als praxistauglich lytisch auf den Gold-Nanopartikeln ab. f. Die Teilchen wachsen exponentiell an und werden bestätigt werden konnte. makroskopisch sichtbar. Die Verteilung der dann makroskopisch sichtbaren Teilchen zeichnet so den Verlauf der Papillarlinien in den Fingerabdrücken nach. Neue 5- und 10-Euro-Noten durch Lackversiegelung dion) und reichern sich in der Oberfläche nichtsaugender Spurenträger an. Die eigentliche farbbildende chemi- sche Reaktion zwischen den Bestandteilen Betrachtet man die neuen 5‑ und 10-Euro- der Fingerspur und dem jeweiligen Spu- Noten aus materialtechnischer Sicht, so rensicherungsmittel findet erst anschlie- unterscheiden sich diese von den Bankno- ßend in der Entwicklungsphase statt. Bei ten der alten Serie u. a. durch eine mit ei- den genannten Spurensicherungsmitteln nem Lack versiegelte Oberfläche. Die Ver- erfolgt diese Umsetzung im stöchiomet- siegelung soll die Haltbarkeit der Scheine rischen Maßstab, d. h. es werden pro Ziel- erhöhen und somit die durchschnittliche teilchen in der Fingerspur zwei Teilchen Umlaufzeit der Euronoten verlängern. Der des Spurensicherungsmittels benötigt. Lack bewirkt aber auch, dass diese Geld- Durch die Anreicherung in der Oberfläche scheine im Gegensatz zu ihren Vorgän- stehen bei saugenden Spurenträgern die gern eine stark reduzierte Saugfähigkeit dazu benötigten Mengen der Spurensi- Abbildung 2: Rasterelektronische (REM) besitzen und dadurch eher als nichtsau- cherungsmittel zur Verfügung, anders Aufnahme von auf einer Fingerspur abgela­ gende denn als saugende Spurenträger hingegen verhält es sich bei den nichtsau- gerten Gold-Nanopartikeln mit Durchmes­ sern von 14 – 20 nm. Zum Vergleich: Ein zu betrachten sind. Dies hat dramatischen genden. durchschnittliches Haar hat einen Durch­ Einfluss auf die Möglichkeiten der heuti- Ist die Oberfläche glatt und nichtsau- messer von 40 000 – 60 000 nm (40 – 60 µm). gen daktyloskopischen Spurensicherung. gend, bleiben die Bestandteile der Finger- Sehr vereinfacht dargestellt dringen bei spuren auf der Oberfläche liegen. Wird der sicherungsmittels auf den Spuren an der saugenden Spurenträgern die Bestand- Spurenträger dann in eine der genannten Oberfläche ablagern konnte. Analog ver- teile der Fingerspur in die Oberfläche ein. Spurensicherungslösungen für saugende hält es sich bei der Sprühapplikation. Dies tun dann auch beim Besprühen oder Spurenträger getaucht, perlt die Lösung In der Konsequenz stehen nicht genug Tauchen die eingesetzten Spurensiche- beim Herausziehen wieder ab, ohne dass Teilchen des Spurensicherungsmittels zur rungsmittel (Ninhydrin, DFO oder Indan- sich eine hinreichende Menge des Spuren- Verfügung, die Farbreaktion kann nicht

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und Hochvakuummetall­bedampfung an, wobei Adhäsionsmittel und Jod in der Regel nur für relativ frische Spuren geeignet sind. Darüber hinaus eignet sich auch das in Deutschland wenig Abbildung 3: Schematische Bäderreihenfolge der kolloidalen-Gold-Anwendung, die eigent­ Beachtung findende „Kolloidale Gold“- lichen Reaktionen finden nur in Bad II (Nano-Gold-Gebrauchslösung) und Bad IV (Physikali­ Verfahren. scher Entwickler Gebrauchslösung) statt, hingegen handelt es sich bei Bad I, III, V und VI um Nun konnte gezeigt werden, dass ge- Behandlungen mit Wasser, um den Spurenträger vor‑ und nachzubereiten. rade das „Kolloidale Gold“-Verfahren auf 5 € 5 € 10 € 10 € diesen problematischen, neuen 5‑ und 10-Euro-Noten exzellente Ergebnisse lie- fert und somit eine wertvolle Bereiche- rung der modernen daktyloskopischen Spurensicherung darstellt. Was ist das „Kolloidale Gold“- Verfahren?

Das Verfahren „Kolloidales Gold“ ist ein mehrstufiges Laborverfahren mit wässri- gen Lösungen und kann grundsätzlich so- wohl für saugende als auch für nichtsau- Abbildung 4a – d: Direktvergleich zwischen Ninhydrin (NPB) zu „Kolloidalem Gold“ (MMD) gende Spurenträger eingesetzt werden. mittels 1 Monat alten Fingerspuren auf 5‑ und 10-Euronoten der Europaserie, die linke Hälfte ist jeweils mit NPB, die rechte Hälfte mit MMD bearbeitet worden. a, b auf 5-Euro­ Es wird in Deutschland in der Praxis aber noten, c, d auf 10-Euronoten. Mit Ninhydrin werden keinerlei Spuren sichtbar, hingegen so gut wie nicht beachtet, obwohl es in zeichnet sich mit MMD eine gute Entwicklung ab. ATOS1 aufgeführt ist. Dies liegt daran, dass es hierzulande wenig Erfahrung mit dem Verfahren gibt, kaum deutschspra- chige Literatur vorhanden ist, und dass es in ATOS vermeintlich sehr viel unvor- teilhafter und komplexer scheint, als es sich in der Praxis durchführen lässt. Diese Fakten schrecken insbesondere Polizei- vollzugsbeamte ohne Laborausbildung ab. Wir möchten aber aufzeigen, dass, wenn die richtige Ausrüstung vorhanden ist, dieses Verfahren mehr Chancen bietet Abbildung 5a – d: Direktvergleich zwischen Indandion/Zink (Ind/Zn) zu „Kolloidalem Gold“ als vermutete Schwierigkeiten damit ver- (MMD) mittels 1 Monat alten Fingerspuren auf 5‑ und 10-Euronoten der Europaserie, die bunden sind. linke Hälfte ist jeweils mit Ind/Zn, die rechte Hälfte mit MMD bearbeitet worden. a, b auf 5-Euronoten, c, d auf 10-Euronoten. Mit Ind/Zn werden teilweise Spuren sichtbar, aber ohne auswertbare Details, hingegen zeichnet sich mit MMD eine gute Entwicklung ab. Das „Verfahren „Kolloidales Gold“ wird in Deutschland so gut wie nicht verwendet

Das Verfahren wurde bereits vor über 25 Jahren, 1989, in den USA unter dem Namen „Multi Metal Deposition“ (kurz MMD) durch G. Saunders von den Los Alamos National Laboratories im Auftrag des US Secret Service für die daktylosko- pische Spurensicherung entwickelt, indem auf Färbetechniken aus der Histologie zu- Abbildung 6a – d: Direktvergleich zwischen Physikalischem Entwickler (PD) zu „Kolloidalem rückgegriffen wurde.4 Gold“ (MMD) mittels 1 Monat alten Fingerspuren auf 5‑ und 10-Euronoten der Europaserie, Hinter dem Verfahren verbirgt sich ein die linke Hälfte ist jeweils mit PD, die rechte Hälfte mit MMD bearbeitet worden. a, b auf zweistufiges Konzept, in dessen erster 5-Euronoten, c, d auf 10-Euronoten. Mit PD werden keinerlei Spuren sichtbar, hingegen zeichnet sich mit MMD eine gute Entwicklung ab. Stufe die Erkennung von Zielstrukturen in der Fingerspur steht, die durch selektive im erforderlichen Maße erfolgen und genden hin zur nichtsaugenden Ober- Anlagerung eines Agens an Moleküle der die Spuren werden nicht bzw. nur sehr fläche muss Rechnung getragen wer- Fingerspur erfolgt. In der zweiten Stufe, schlecht sichtbar. den. Grundsätzlich bieten sich hierfür dem sogenannten Amplifikationsschritt, Dieser technischen Veränderung der die weitbekannten Methoden Adhäsi- findet anschließend eine signalverstär- 5‑ und 10-Euro-Banknoten von der sau- onsmittelbestäubung, Jod‑, Cyanacrylat- kende chemische Reaktion an dem im

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ersten Schritt angelagerten Agens statt 5 € 5 € 10 € 10 € (siehe Abbildung 1). Durch die geschickte Kombination von selektiver Erkennung auf molekularer Ebene und exponentieller Signalverstär- kung ermöglicht diese zweistufige Stra- tegie, auch sehr schwache Spuren gut sichtbar darzustellen. Sie ist bezüglich der Detektionsempfindlichkeit den ge- nannten stöchiometrischen Methoden wie Ninhydrin, DFO und Indandion weit überlegen. Abbildung 7a – d: Direktvergleich zwischen Cyanacrylatbedampfung und anschließendem Umgesetzt wird dieses Konzept in der Gelfolienabzug (CY) zu „Kolloidalem Gold“ (MMD) mittels 1 Monat alten Fingerspuren auf ersten Stufe durch die Anlagerung von 5‑ und 10-Euronoten der Europaserie, die linke Hälfte ist jeweils mit CY, die rechte Hälfte Gold-Nanopartikeln (siehe Abbildung 2) mit MMD bearbeitet worden. a, b auf 5-Euronoten, c, d auf 10-Euronoten. Mit CY werden teilweise Spuren sichtbar, die sich aber im Vergleich zu den mit MMD sichtbargemachten, an in der latenten Fingerspur vorhande- wesentlich schlechter darstellen und deutlich weniger Detail aufzeigen. nen Proteinen im sauren Milieu: Der Spu- renträger wird für wenige Minuten in eine rubinrote Gold-Nanopartikel-Lösung ge- legt. Abhängig von der Menge der ange- lagerten Nanopartikel ist die Spur danach bereits schon rötlich schimmernd sichtbar, kann aber auch weiterhin unsichtbar sein. Der deutsche Name des Verfahrens „Kol- loidales Gold“ ist von dieser Goldlösung geprägt und geht unabhängig von dem hier vorgestellten Verfahren auf Zeiten von vor über 100 Jahren zurück, als der Begriff „Nano“ noch kein Hype war, man Abbildung 8a – d: Direktvergleich zwischen Hochvakuum-Gold/Zink-Bedampfung (VMD) zu „Kolloidalem Gold“ (MMD) mittels 1 Monat alten Fingerspuren auf 5‑ und 10-Euronoten der sich aber dennoch intensiv in der Wissen- Europaserie, die linke Hälfte ist jeweils mit VMD, die rechte Hälfte mit MMD bearbeitet wor­ schaft der Kolloidforschung mit kleinsten den. a, b auf 5-Euronoten, c, d auf 10-Euronoten. Mit VMD überziehen sich die Banknoten Teilen auch im Nanometerbereich und mit einem metallischen Glanz, einzelne Fingerabdrücke sind nicht sichtbar, die hingegen mit deren Verteilung in anderen Medien be- MMD in gutem Kontrast sichtbar gemachten werden können. schäftig hat, u. a. auch mit feinverteilten Goldpartikeln in Flüssigkeiten, also sprach Um diese zwei entscheidenden Schritte als 0,6 Euro. Insgesamt belaufen sich die man von kolloidalem Gold.5 Ein Kolloid ist herum sind noch einige Wasch‑ und Chemikalienkosten (Stand Anfang 2016) der Definition nach ein bestimmter Vertei- Wässerungsschritte zur Vor‑ und Nach- für je einen Liter der Lösungen auf 7 Euro lungszustand von Materie. bereitung angeordnet (vgl. Abbildung 3). bei der Gold‑ und 9 Euro bei der Silber- In der zweiten Stufe des Konzepts er- Diese Bäderabfolge stellt zwar einen ge- lösung. Zum Vergleich kostet ein Liter folgt eine exponentielle Signalverstärkung wissen manuellen Aufwand dar, die Er- Ninhydrinlösung hingegen schon 24 Euro durch katalytische Abscheidung von Silber gebnisse sind aber gerade bei den neuen und ein Liter Indandion/Zink-Lösung je an den angelagerten Gold-Nanopartikeln. 5‑ und 10-Euronoten nicht mit denen der nach verwendetem Trägerlösungsmittel Dazu wird der Spurenträger in eine wei- weitverbreiteten Cyanacrylatbedampfung 35 Euro bzw. fast 100 Euro. tere, silberionenhaltige Lösung gelegt, und den anderen Methoden zu verglei- Das Verfahren selbst ist relativ handha- die einen modifizierten Physikalischen chen (vgl. Abbildung 4 bis 8). Auch die bungssicher, da der kritischste Schritt, die Entwickler darstellt. Die Signalverstärkung Kosten halten sich, obwohl der Name Herstellung der Gold-Nanopartikel nicht erfolgt dadurch, dass aus dieser Lösung „Kolloidales Gold“ etwas anderes sugge- in Gegenwart der Spurenträger, sondern immer mehr elementares Silber auf den riert, für Laborverfahren deutlich im Rah- im Vorfeld separat erfolgt. Die lagerfähige Gold-Nanopartikeln abgeschieden wird. men. So enthält ein Liter der kolloidalen Gebrauchslösung kann auch auf Vorrat Zunächst katalysiert das Gold die Silbe- angesetzt werden. Für die Herstellung der rabscheidung aus der Lösung, später Kosten halten sich im Rahmen Nanopartikel durch Reduktion aus Tetra- wird die Abscheidung auch vom bereits und das Verfahren ist relativ chlorogoldsäure ist die Reinheit des ver- schon abgeschiedenen Silber selbst kata- handhabungssicher wendeten Wassers als Reaktionsmedium lysiert. Es findet also eine autokatalytische und die Sauberkeit der Gerätschaften Abscheidung statt. Die Partikel wachsen Goldlösung maximal 0,05 g Feingold, wichtig. Verläuft die Reaktion wie vorge- dadurch räumlich exponentiell an und was bei einem Goldpreis von 1200 Euro sehen, kann ein beeindruckender Farb- werden makroskopisch mit bloßem Auge pro Unze weniger als 2 Euro Gegenwert wechsel von blass gelb nach tief rubinrot sichtbar. Meist heben sich die so sichtbar entspricht. Ähnlich ist es bei dem modifi- innerhalb weniger Minuten beobachtet gemachten Spuren dunkel vom Hinter- zierten Physikalischen Entwickler. Ein Liter werden. Die rubinrote Farbe ist ein Qua- grund ab, erscheinen also grundsätzlich enthält weniger als 1,5 g Feinsilber, dies litätskriterium der fertigen Lösung, denn seiten‑ und farbrichtig. entspricht einem Marktpreis von weniger diese Farbe ergibt sich aus einer Eigen-

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schaft der Gold-Nanopartikel (Plasmonen- Nach der Wässerung sind die Spuren- vereinfachen, das Verfahren zu verbessern schwingung) selbst. Ist mit diesen Parti- träger für den Signalverstärkungsschritt und weiter zu entwickeln, so dass heute keln etwas nicht in Ordnung, sei es durch vorbereitet. An dieser Stelle kann die Un- in der englischsprachigen Literatur meh- die Herstellung oder sei es später durch tersuchung bei Bedarf auch unterbrochen rere Varianten beschrieben sind.6, 7, 8, 9 eine Lagerung der fertigen Lösung, ver- werden, z. B. zur fotografischen Sicherung Ein wesentliches Untersuchungsfeld ist ändert sich das Aussehen der Lösung. So bereits schon jetzt sichtbarer Spuren oder dabei die Gold-Nanopartikellösung. In der können Fehlerquellen bereits im Vorfeld weil organisatorisch eine Bearbeitungs- Literatur sind Varianten mit Gold-Nanop- der Anwendung visuell leicht ausgeschlos- pause eingelegt werden muss. Trocknen artikeln von 30 nm aber auch von 14 nm sen werden: Nur rubinrote und klare Lö- die Spurenträger dabei aus, müssen diese Durchmesser beschrieben. Der Einfluss sungen dürfen verwendet werden. vor der Weiterbehandlung wieder ange- der Partikelgröße (30 nm oder 14 nm) Für die Praxis ist zu beachten, dass die feuchtet werden. auf das Ergebnis der Sichtbarmachung Methode, wie auch die Alternativmetho- Der Signalverstärkungsschritt mit dem scheint aber bei den Euronoten eine nur den, nicht zerstörungsfrei ist. Die poten- modifizierten Physikalischen Entwick- untergeordnete Rolle zu spielen. tiellen Spurenträger müssen nassfest sein, ler (Bad IV) erfolgt als nächstes. Der zur Weiterhin wurde bei dem Verfahren da diese den wässrigen Lösungen intensiv Anwendung kommende Entwickler muss versucht, die exponentielle Verstärkung ausgesetzt werden. Dies stellt bei Bankno- stets frisch und unmittelbar vor dem Ein- zu vereinfachen und anstelle von Silber ten kein Problem dar. satz angesetzt werden, er kann nicht län- auch hier Gold zu verwenden. Wenn, wie ger als 10 Minuten verwendet werden. ursprünglich konzipiert, Gold und Silber Methode ist – wie auch die Dies ist aber problemlos möglich, da er auf der Spur abgelagert werden, spricht Alternativmethoden – nicht ohne Aufwand aus zwei stabilen Grund- man im Englischen von „Multi Metal zerstörungsfrei lösungen angesetzt wird, die ebenfalls im Deposition“, kurz MMD. Wird hingegen Vorfeld hergestellt werden können und in beiden Schritten nur Gold eingesetzt, Zur Vorbereitung wird der Untersu- getrennt gut lagerfähig sind. Bei dem mo- wird im Englischen von „Single Metal chungsgegenstand zunächst in Wasser difizierten Physikalischen Entwickler han- Deposition“, kurz SMD gesprochen. Die- (Bad I) eingetaucht, wodurch auch grobe delt es sich um eine silberionenhaltige Lö- ser goldbasierte Physikalische Entwick- Verschmutzungen abgelöst werden. Bei sung, die ein Redox-System auf Eisenbasis ler schließt sich aber in der Deutschen Papieren ist es sinnvoll, diese Vorwäsche enthält. Das Wort „modifiziert“ deutet Spurensicherung aus, da in dieser Ent- nicht mit Wasser, sondern mit einer mil- darauf hin, dass die verwendete Lösung wicklerlösung als Reduktionsmittel der den Säure durchzuführen. Befinden sich mit der Lösung der eigenständigen dak- CMR-Stoff2 Hydroxylamin verwendet basische Bestandteile als Füllstoffe im tyloskopischen Spurensicherungsmethode wird, welcher im Verdacht steht, Krebs Papier, können diese den pH-Wert der „Physikalischer Entwickler“ eng verwandt, zu erzeugen. Daher steht in der Praxis Goldlösung empfindlich stören. Die An- aber nicht identisch ist. Zur Durchführung nur die ungefährlichere CMR-Stoff freie lagerung der Gold-Nanopartikel erfolgt wird der Spurenträger dem modifizierten „Multimetall“-(MMD)-Variante mit Gold aber nur in saurer Umgebung. Basische Physikalischen Entwickler so lange ausge- und Silber zur Verfügung. Bestandteile werden so durch eine saure setzt, bis die Spuren optimal sichtbar wer- Vorwäsche eliminiert. den. Dies geschieht in der Regel innerhalb Neue 20-Euro-Note und auch Im nächsten Schritt wirkt die Goldlö- von 10 Minuten und ist mittels visueller künftige sind nicht mit sung (Bad II) auf die Spuren ein. Die spe- Beobachtung zu kontrollieren. Durch den Schutzlack überzogen zifische Anlagerung der Nanoteilchen an gleichen Aufbau der 5‑ und 10-Euronoten die Proteinstrukturen der Fingerspuren verhält sich die Spurenentwicklung auf Bei der Durchführung im Labor ist noch erfolgt optimal im sauren Bereich zwi- den Scheinen sehr uniform, so dass sich zu beachten, dass aus Umweltschutz- schen pH 2 und 3. In diesem Bereich sind die visuelle Kontrolle einfach gestaltet. gründen die benutzten, wässrigen Lö- die Proteine stark protoniert und damit Gestoppt wird die Reaktion durch Ver- sungen fachgerecht entsorgt werden positiv geladen. Die Gold-Nanopartikel dünnung der Reaktanten, indem der Spu- müssen und nicht in den Ausguss ge- hingegen sind umhüllt von den Anionen renträger direkt in ein weiteres Wasser- schüttet werden dürfen. Die enthaltenen der verwendeten Säure, somit negativ bad, den Stopper (Bad V), überführt wird. Silberionen besitzen hohes Potential, die geladen und werden von den Proteinen Funktion der Kläranlagen zu stören, da elektrostatisch angezogen. Da sich bei der Nach dem Trocknen sichtbare Silberionen bereits in geringen Mengen Behandlung Gold-Nanopartikel auch im- Spuren können fotografisch toxisch auf Bakterien wirken und so auch mer unspezifisch auf den Spurenträgern oder mit Scanner gesichert die Bakterien in den biologischen Klär- ablagern, müssen diese anschließend werden stufen abtöten können. durch intensive Wässerung (Bad III) vom Nach Informationen der Bundesbank Spurenträger entfernt werden. Später Anschließend erfolgt eine abschließende besitzt die im November 2015 in den werden auch unspezifisch abgelagerte Wässerung (Bad VI), um alle noch vorhan- Umlauf gebrachte neue 20-Euronote Nanopartikel signalverstärkt und verursa- denen löslichen Prozesschemikalien aus im Gegensatz zu den 5‑ und 10-Euro- chen somit eine Hintergrundverfärbung. dem Spurenträger auszuwaschen. Nach Noten keinen Schutzlack. Die Oberfläche Daher ist zu beachten, dass die Wässe- dem Trocknen können die sichtbar ge- der neuen 20-Euronote sollte daher im rung umso intensiver erfolgen muss, je machten Spuren fotografisch oder mittels Verhalten den Noten der alten Euroserie poröser die Oberfläche ist, denn in Poren Scanner gesichert werden. und der DM ähneln, also als saugender verfangen sich die Nanopartikel besser als Seit 1989 wurden immer wieder Versu- Spurenträger zu betrachten sein. Dies auf glatten Oberflächen. che unternommen, die Durchführung zu konnte in praktischen Tests auch soweit

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bestätigt werden, dass das „Kolloidale nen Stückelungen, deliktübergreifend sung von Methoden beharrlich voranzu- Gold“-Verfahren hier geringere Erfolge stetig wiederkehrende Untersuchungs- treiben. Auch wenn dies bedeutet, dafür als auf den neuen 5‑ und 10-Euronoten gegenstände und haben somit in der heute Ressourcen zu binden, um erst aufzeigt. Denn aufgrund der porösen/ Spurensicherung als Spurenträgertyp morgen und oftmals auch erst übermor- saugenden Oberflächenstruktur müssen eine hohe Relevanz. Betrachtet man die gen die Früchte dieser Bemühungen ern- die nicht spezifisch angelagerten Gold- hier gezeigten vergleichenden Ergeb- ten zu können. Nanopartikel vor dem Amplifikations- nisse, ist klar zu erkennen: Wird auf die Die Autoren danken den Teilnehmern schritt effizient abgewaschen werden. Anwendung des Verfahrens „Kolloidales der Expertenarbeitsgruppe „Kolloidales Geschieht dies nicht in ausreichendem Gold“ bei den 5‑ und 10-Euronoten ver- Gold“ aus den LKÄ Bayern, Brandenburg, Maße, hat dies nach der Verstärkung zichtet, kommt dies einem potenziellen Niederösterreich, Niedersachsen, Nord- eine starke Hintergrundverfärbung zur Verzicht auf Spuren gleich. rhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, der Tat- Folge, die den Kontrast zu den Spuren Zu guter Letzt soll nicht unerwähnt ortgruppe des BKA Wiesbaden, der Kan- mindert. bleiben, dass dieses leistungsstarke Spu- tonspolizei Aargau, der Polizei Luzern, der Auch die neue 50-Euronote, die 2017 rensicherungsverfahren nicht nur für die Staatsanwaltschaft Basel und dem Bun- eingeführt werden soll, sowie die zukünf- Spurensicherung auf den 5‑ und 10-Eu- deskriminalamt Wien für die bereitwillige tig projektierten höheren Euronoten wer- ronoten ergebnisreich ist, sondern auch Erprobung der Methode in ihren Dienst- den der Planung nach keinen Schutzlack großes Potential auf anderen sogenann- stellen. besitzen. So grenzt sich die Anwendung ten Problemspurenträgern wie Polystyrol des „Kolloidalen Gold“-Verfahrens bei den (z. B. Styropor), gewachsten (z. B. Kerzen) Anmerkungen 1 ATOS: Anleitung Tatortarbeit-Spuren, als An- Euro-Banknoten auf die 5‑ und 10‑ Euro- und silikonisierten (z. B. Silikon-/Wachs- wendungsdokumentation unter www.Extrapol. noten der Europaserie ein. papier) Oberflächen aufweist. Detaillierte de abrufbar. Für diese Spurenträger erzielt die Me- Informationen zur Durchführung der 2 CMR steht für „cancerogen mutagen reproto- thode allerdings im Vergleich zu anderen Methode sind in Extrapol in der Verfah- xic“. getesteten Methoden hervorragende Er- rensanleitung „Kolloidales Gold“10 und in Literatur gebnisse und besitzt für eine zeitgerechte ATOS abrufbar. 1 Freimuth, H., Klenke, K., Frerichs, I., Schwarz, L., und erfolgreiche Spurensicherung ein un- Die hier aufgezeigte Problematik ver- Suche und Sicherung von daktyloskopischen Spuren auf Euro-Geldscheinen, Sonderausgabe verzichtbares Potential. deutlicht beispielhaft, wie vermeintlich zum Bundeskriminalblatt 17, 2002, Seite 1 – 4, belanglose und unterschätzte Verände- Bundeskriminalamt, Wiesbaden. Methode hat auch großes rungen an Gegenständen des täglichen 2 Frerichs, I., Schwarz, L. , Lang, R., Hilgert, M., Bedarfs plötzlich ungeahnte massive Pro- Klenke, K., Freimuth, H., Location and Deve- Potential bei Polystyrol lopment of Fingerprints on Euro , sowie gewachsten oder bleme in der Beweissicherung und ‑erhe- Z Zagadnie´n Nauk S dowych/Problems of silikonisierten Oberflächen bung verursachen können. Allen Beteilig- Forensic Sciences, 2002, 51 (LI), 140 – 149. ten sollte stets bewusst sein, dass die dak- 3 Focus online: www.focus.de/_id_4228186. Begünstigt wird die Methode durch die tyloskopische Auswertung und die daraus html vom 26.10.2014, abgerufen 13.4.2016, bezieht sich auf G. Schattauer, Polizei: Neue moderaten Kosten der eingesetzten Lö- resultierende Identifizierungsleistung nur Euro-Scheine erschweren Verbrecherjagt, Fo- sungen und dadurch, dass keine hoch- so gut sein können, wie es die Qualität cus 44/2014, 2014, S. 74. preisige technische Ausstattung erfor- des auszuwertenden Materials hergibt. 4 Ramotowski, R. S., in Lee and Gaensslen‘s derlich ist. Die notwendige Ausstattung Probleme der Spurensicherung können Advances in Fingerprint Technology, 3rd Ed., CRCPress, Boca Raton, USA, 2013, bewegt sich auf einem Niveau ähnlich der durch die Auswertung weder ausgegli- Seite 66 – 74. analogen fotografischen s/w-Entwicklung, chen noch gelöst werden. Dies bedeu- 5 Zsigmondy, R., Thiessen, P. A., Das Kollo- allerdings ohne Verdunklungseinrichtung. tet: Schlechtes Material hat eine einge- ide Gold, und Joel, E., Das Kolloide Gold in Einzig der manuelle Aufwand könnte für schränkte Auswertung zur Folge und im Biologie und Medizin, Kolloidforschung in Einzeldarstellungen, herausgegeben von R. starke Massenbearbeitungen als Nachteil Extremfall wird eine Spur nicht als solche Zsigmondy Band 1 und 2, 1925, Akad. Ver- gesehen werden. erkannt/gesichert und kann folglich gar lagsgesellschaft Leipzig. Bei Gesprächen mit Kollegen war in nicht erst der Auswertung/Identifizierung 6 Schnetz, B. and Margot, P. A., Technical note: der Vergangenheit allerdings des Öfte- zugeführt werden. latent fingermarks, colloidal gold and multi- metal deposition (MMD): optimization of the ren zu hören, dass sich die Einführung/ method, Forensic Sei. Int., 2001, 118, 21 – 28 Anwendung einer so „aufwendigen“ Spurensicherung muss die 7 Stauffer, E., Becue, A., Singh, K. V., Th- Methode nur für die 5‑ und 10-Euro- Erarbeitung und Anpassung ampi, K. R., Champod, C., Margot, P., Single- noten in den Dienststellen nicht lohnen von Methoden beharrlich metal deposit (SMD) as a lantent fingermark enhancement technique: an alternative to würde. Dahinter steht vielfach das Bild vorantreiben mutimetal deposit (MMD), For. Sci. Int., 168, von Falschgeld, in dem 5‑ und 10-Euro- 2007, e5 – e9. noten tatsächlich meist eine untergeord- Die daktyloskopische Spurensicherung 8 Durussel, P., Staufer, E., Champod, C., Mar- nete Rolle spielen. Dies ist aber eine Ver- steht nicht isoliert da, sondern muss den got, P., Single-Metal Deposition: Optimization of this Fingermark Enhancement Technique, J. mischung von zwei völlig unterschied- Veränderungen in unserer Welt stetig an- For. Ident., 59(1), 2009, 80 – 96 lichen Themenkreisen. Hier geht es um passt werden. Die dargestellte Problemlö- 9 Moret, S., Becue, A., Single-Metal Depo- echte Banknoten als Untersuchungsge- sung zeigt daher klar, wie wichtig es sition for Fingermark Detection – A Simpler genstand, Falschgeld hat spurentech- heute und zukünftig für eine moderne and More Efficient Protocol, JFI, 118, 2015, 118 – 137. nisch eine ganz andere Problemstellung. Spurensicherung ist, alle vorhandenen 10 Becker, I., Klenke, I., Schwarz, L., Becher, N., Als omnipräsente Alltagsgegenstände Möglichkeiten auszuschöpfen und die Verfahrensanleitung „Kolloidales Gold“ 2.0, sind echte Banknoten, auch die in klei- systematische Erarbeitung und Anpas- 2016, Bundeskriminalamt, Wiesbaden.

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Kriminalistik – Österreich 111

Redaktion: Mag. (FH) Gerhard Brenner Der „Fall“ Zielpunkt – ein Krida- Tatbestand?

Von Helmut Siller

„Das Insolvenzverfahren der Handelskette Zielpunkte (sic!) Kreditinstitute begannen bereits Anfang wurde am 30. November 2015 beim Handelsgericht Wien Dezember 2015, Zielpunkt-Mitarbeitern Geld via Kontoüberziehung zur Verfü- eingebracht. Zum Masseverwalter wurde Rechtsanwalt Dr. gung zu stellen. Die Banken (vor allem Georg Freimüller bestellt. „Wir haben bis zum bitteren Ende BAWAG, Erste, Bank Austria und Raiff- an eine Zukunft von Zielpunkt geglaubt. Wir haben auf un- eisenbanken) verrechneten dafür keine Überziehungszinsen. terschiedlichen Ebenen versucht, die wirtschaftliche Situation Aufgrund der zeitlichen Koinzidenz der von Zielpunkt endlich auf solide Beine zu stellen. Wir tun auf den ersten Blick merkwürdigen Trans- derzeit alles, um die harte Situation der betroffenen Mitar- aktionen rund um die Zielpunkt-Insolvenz beiterInnen abzufedern und arbeiten intensiv an Maßnah- wird von Anwälten im Auftrag der Ge- werkschaft der Privatangestellten (GPA- men, um unseren MitarbeiterInnen zu helfen, so Mag. Georg djp) geprüft, eine Strafanzeige gegen Pfeiffer, Eigentümer der Pfeiffer Handelsgruppe.“1 Das sind Georg Pfeiffer und die verantwortlichen die Worte auf der Homepage der österreichischen Pfeiffer Geschäftsführer und Aufsichtsräte zu er- Handelsgruppe. Wie kam es dazu, und welche strafrechtli- statten. Es geht dabei im Wesentlichen um chen Folgen haben diese Ereignisse unter Umständen? Im Krida-Tatbestände. Was die Gewerkschaft Folgenden wird hier Krida-Vorwurf gegenüber der Geschäfts- klären will, ist der mögliche Umstand, ob führung der Zielpunkt GmbH untersucht, genau gesagt: der Pfeiffer durch die Immobilien-Transaktion von der Verwertung der Zielpunkt-Filialen Verdacht auf grob fahrlässige Beeinträchtigung von Gläubi- profitiert, obwohl er Zielpunkt in die In- gerinteressen. solvenz schickte. Auch die Preise, die der Pfeiffer Großhandel an Zielpunkt verrech- 1. Die Fakten ermark) und 2700 Mitarbeitern aufgrund nete, werden untersucht. Pfeiffer, der von Überschuldung in Konkurs. Novem- Zielpunkt Anfang 2014 übernahm, war Der oberösterreichische Handelsunterneh- ber-Gehälter und Weihnachtsgeld wurden bereits seit Anfang 2013 Mieter der Filial- mer Georg Pfeiffer schickte am 25. No- nicht mehr ausbezahlt. Am 27. November Objekte, d. h. Zielpunkt zahlte seit Anfang vember 2015 (Anmeldung beim HG Wien wurden alle Mitarbeiter darüber posta- 2013 Miete an Pfeiffer. Ob diese Mieten am 30. November.) das Lebensmittel- lisch informiert. Aber in etwa gleichzei- Anfang 2013 erhöht wurden oder nicht Einzelhandels‑ (LEH-)Unternehmen Ziel- tig kaufte Georg Pfeiffer über die Pfeiffer ortsüblichen Konditionen entsprachen, punkt GmbH mit 229 Filialen (davon in Handels GmbH die Immobilienfirma, die prüft in solchen Situationen der Masse- Wien 126 und in Niederösterreich 53, die etwa 80 Zielpunkt-Liegenschaften besitzt verwalter, der Zielpunkt bestmöglich für übrigen im Burgenland und in der Stei- um rund 38 Millionen Euro. Ebenfalls im die Gläubiger zu verwerten hat. Pfeiffer November verkaufte Pfeiffer den C+C- selbst sprach im Zusammenhang mit dem Gastronomiegroßhandel um rund 37 Mil- Immobilien-Deal von einem „unglück- lionen Euro an die Schweizer Coop-Toch- lichen zeitlichen Zufall.“ Laut der Spre- ter Transgourmet. cherin der Pfeiffer-Unternehmensgruppe, Prof. (FH) Während die Zielpunkt-Mitarbeiter, Martina Macho, handle es sich bei dem Mag. Dr. Helmut 80 Prozent davon Frauen, auf ihr (im No- Kauf um die „Optimierung des Immobili- Siller, MSc, vember doppeltes) Gehalt warten muss- enportfolios“ des Unternehmens. Mit der selbständiger ten (das dann durch den Insolvenz-Ent- Zielpunkt-Pleite hänge das geplante Im- Unterneh­ gelt-Fonds im Dezember 2015 ausgezahlt mobiliengeschäft nicht zusammen, so die mensberater, wurde), ersparte sich Pfeiffer (bis Jahres- Unternehmenssprecherin. Trainer und Fachautor, ende 2015 gerechnet) ca. 16 Millionen Der wäre schon seit Monaten vorbe- Wien Euro an Lohn‑ und Gehaltszahlungen. reitet worden, sagen hingegen Kritiker.

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Verkäufer der Zielpunkt-Immobilien ist Zielpunkt konzentriere sich auf Ostöster- noch als aus einer Aufstellung von Markt- die Trei Real Estate, die dem deutschen reich und sei in Wien Nummer zwei hinter anteilen.6 Handelskonzern Tengelmann gehört, Billa. Die Planungen waren aber zu opti- Unternehmen, die kleine Marktanteile dem früheren Zielpunkt-Eigentümer. Fak- mistisch, die Sanierung gelang nicht.4 haben, müssen über andere Assets ihren tum ist allerdings, dass die Pressestelle Erfolg suchen, z. B. über Differenzierungs- 2.2 Die Branche des LEH in der deutschen Firmenzentrale Ende strategien bzw. Service oder Qualität.7 November noch nichts von diesem Ver- Innerhalb der vergangenen 40 Jahre hat Aber auch hier konnte Zielpunkt nicht kauf wusste, da die „Wiener Zeitung“ am sich die Situation im österreichischen punkten. Und die Gratwanderung im LEH gleichen Tag auf Anfrage eine anderslau- LEH stark verändert. Die Zahl der Super- ist schmal: Die Renditen (Rentabilitäten) tende Auskunft erhielt. Die Pfeiffer Han- marktketten nahm stark ab. Zugenom- liegen im Schnitt nur bei zwei bis drei dels GmbH ist also Eigentümer und Mie- men hat im Gegenzug die Konzentra- Prozent. ter der betroffenen Zielpunkt-Immobilien. tion. Vor 40 Jahren hielten die Top-drei- Sie kann die Standorte damit nach Gut- Supermarktketten – Konsum, KHG, Spar 2.3 Zahlen der jüngsten Vergangen- dünken verwerten, sobald die insolvente – einen gemeinsamen Marktanteil von heit und Ausblicke Zielpunkt GmbH die (ebenfalls an Pfeiffer 43 Prozent. 2014 halten die Top drei – Die 2013 von der Pfeiffer Handelsgruppe zu bezahlende) Miete nicht mehr zahlen Rewe-Gruppe, Spar und Hofer – aber bei übernommene Supermarktkette Zielpunkt kann. 85 Prozent, Tendenz noch steigend. blieb im Geschäftsjahr 2013/14 tief in der Dem Vernehmen nach wurden schon Dass die Macht der großen Drei schon Verlustzone. früh Rewe und Spar in die mögliche früh zunahm, zeigen Zahlen aus einem Der Jahresverlust verringerte sich zwar Rettung von möglichst vielen Zielpunkt- Papier der Bundeswettbewerbsbe- gegenüber dem Jahr davor, lag aber im- Filialen Lösung eingebunden, allen kar- hörde (BWB) von 2007. Österreich ge- mer noch bei 11,8 Millionen Euro. Im tellrechtlichen Bedenken zum Trotz. Die hörte demnach schon damals zu den gesamten Geschäftsjahr 2012 (Jänner Fortführung wird aber – gemäß Bran- fünf EU-Staaten mit dem höchsten Kon- und Februar 2013 bildeten ein Rumpf- chenkennern – eine Herkules-Aufgabe. zentrationsgrad im LEH. Die drei größten geschäftsjahr), lag dieser bei 30,8 Mil- Seit 2010 verlor Zielpunkt fast 100 Milli- Marktteilnehmer – Rewe, Spar und Hofer lionen Euro. Auch operativ blieb Ziel- onen Euro, das negative Eigenkapital liegt – kamen 2005 zusammen auf 76 Prozent punkt 2013/14 in den roten Zahlen, das laut Fortführungsprognose von Pfeiffer Marktanteil. Zielpunkt kam und kommt Betriebsergebnis lag mit 11,4 Millio- bei 33,4 Millionen Euro.2 darin mit seinen rund 2,5 Prozent nicht nen Euro im Minus. Der Nettoumsatz lag Die Zielpunkt-Insolvenz riss auch vor. Dass die Branche häufig auf dem bei 444 Millionen Euro, 2012 waren das das steirische Fleischerei-Unternehmen Prüfstand der BWB steht, zeigen andere 479 Millionen Euro. Seit Ende 2012 wur- Schirnhofer mit Sitz in Kaindorf bei Hart- Zahlen der Behörde. Seit 2009 führte sie den 25 Filialen geschlossen. Bis 2018 soll- berg mit. Dieser strebt ein Sanierungsver- 86 Hausdurchsuchungen u. a. auch we- ten 32 Filialen zusperren, ab 2016 wollte fahren mit Eigenverwaltung an. Schirn- gen Preisabsprachen durch, mehr als die man Gewinne schreiben. hofer war ein langjähriger und einer der Hälfte davon im LEH.5 „Das vergangene Geschäftsjahr lag wichtigsten Lieferanten der Zielpunkt- Das Linzer market Institut entwickelte leicht hinter unseren Erwartungen. Da die Kette.3 2012 den „market Brand-Navigator“ Situation im Einzelhandel aber generell zur Analyse der emotionalen Positionie- angespannt war, ist das ein respektab- 2. Wie konnte es so weit kommen? rung von Marken. Die Idee dahinter: Eine les Ergebnis“, kommentierte Pfeiffer-Ge- Marke muss zur Leidenschaft beim Kun- schäftsführer Erich Schönleitner 2014 den 2.1 Kurzer Geschichtlicher Rückblick den werden, und über diese Leidenschaft Verlust. Der Umsatzrückgang hänge mit Der Ursprung der Zielpunkt-Kette liegt sei dann eine dauerhafte Kundenbezie- der Filialreduktion zusammen, flächenbe- in den „LÖWA“-Märkten in den späten hung aufzubauen. Der „market Brand- reinigt sei „ein sanftes Umsatzwachstum“ 1960er Jahren. 1972 erfolgte der Verkauf Navigator“ ermittelt die Motive für den zu verzeichnen gewesen, bestätigte Ziel- an die deutsche Tengelmann-Gruppe und Erfolg einer Marke und quantifiziert sie punkt-Sprecherin Martina Macho. die Umbenennung in „Zielpunkt“. Ab mittels eines Brandscores (Marken-Punkt- Das Eigenkapital war schon 2013/14 2003 wurde unter dem Namen „Plus“ ex- wert; je mehr, desto besser). mit knapp 25 Millionen Euro negativ, wo- pandiert, 2008 kehrte man zu „Zielpunkt“ Für den LEH zeigt der Brand-Navigator mit die Gesellschaft bereits per Ende Feb- zurück. 2010 steigt Finanzinvestor BluO 2015 folgende Brandscores: ruar 2014 buchmäßig überschuldet war. (Luxemburg) ein, dann der Manager Sa- 1. Spar/Eurospar 368 Nur dank einer Patronatserklärung und ei- tek. 2. Hofer 335 nen Kredit der Pfeiffer Handelsgesellschaft Im April 2012 übernahm ein Welser 3. Interspar 295 liegt jedoch keine insolvenzrechtliche Rechtsanwalt 24,9 Prozent der Anteile 4. Merkur 289 Überschuldung vor. Patronatserklärung an dem damals schon chronisch finanz- 5. Billa 271 bezeichnet dabei den Tatbestand, dass schwachen Lebensmittelhandels-Unter- 6. Lidl 182 eine Muttergesellschaft (hier: Pfeiffer Han- nehmen. Bald stellt sich heraus, dass er 7. Penny 113 delsgesellschaft) dem (den) Kreditgeber(n) Treuhänder für die Handelsgruppe Pfeiffer 8. Adeg 65 ihrer Tochtergesellschaft (hier: Zielpunkt mit Sitz in Traun (OÖ) ist, der Zielpunkt 9. Zielpunkt 65 GmbH) eine Verpflichtungserklärung zu ab 1. März 2014 zu 100 Prozent gehörte. 10. Nah & Frisch 65. Kreditsicherungszwecken abgibt. Eine Pa- Erich Schönleitner, Chef der Pfeiffer-Hol- Die Schwäche der Marke Zielpunkt tronatserklärung ist eine Kreditsicherungs- ding, verkündete kurz danach, schon im (und auch der von Nah & Frisch) geht maßnahme innerhalb eines Konzerns. Sie Jahr 2015 schwarze Zahlen zu erreichen. daraus überaus deutlich hervor, besser wird vom Mutterunternehmen zugunsten

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der Tochter zur Verbesserung ihrer Kredit- nicht zu holen sein, denn die 229 Ge- weis erbringen, dass es innerhalb von würdigkeit abgegeben. schäftslokale sind ohnehin nur gemietet. fünf Jahren in die Gewinnzone kommt. Bis Ende Februar 2015 wurden alle vom Auf Zielpunkt lasten unter den rund Weiter ist es Bedingung, dass eine Mut- steirischen Fleisch‑ und Wurstproduzen- 230 Millionen Euro Passiva weniger Ver- tergesellschaft in so ein Unternehmen ten Schirnhofer betriebenen Feinkostab- bindlichkeiten gegenüber Kreditinstituten investieren dürfe. Die Fortbestehenspro- teilungen sowie 500 seiner Mitarbeiter als vielmehr Lieferantenverbindlichkeiten, gnose wurde Juni 2015 mit Ausblick auf von Zielpunkt übernommen. Durch diese Lohn‑ und Gehaltsforderungen, Belastun- eine „schwarze Null“ im Jahr 2018/2019 Übernahmen sowie durch die geplante Fi- gen aus langfristigen Mietverträgen sowie erstellt. Diese Prognose sei immer auf lialreduktion blieb das Jahresergebnis mit Forderungen des Eigentümers Pfeiffer aus wackeligen Beinen gestanden. Aber er 8,5 Millionen Euro negativ. Für 2016/17 Krediten an Zielpunkt in Höhe von rund habe daran geglaubt, die schwarze Null war ein positives Jahresergebnis in Höhe 34 Millionen Euro. zu schaffen. In diesem Punkt lasse er sich von 2,8 Millionen Euro geplant. Durch 6700 Mitarbeiter (inkl. Zielpunkt) und vorwerfen, er sei ein naiver Optimist. Maßnahmen wie Umsatzsicherungs- rund 1,34 Milliarden Euro Jahresumsatz Durch die schlechte Umsatzentwicklung programme sowie die Verbesserung im hatte die Trauner Gruppe in den Ge- im Herbst 2015 habe sich das Bild deut- Einkaufskonditionsbereich erwartete die schäftsjahren 2014 und Jänner-November lich verschlechtert. Die Fortbestehenspro- Geschäftsführung eine Verbesserung der 2015. Mit Wirkung vom 1.1.2016 geht gnose konnte nicht gehalten werden. Handelsspanne von rund 2,7 Prozent- der c+c-Gastrogroßhandel mit 470 Mil- Zielpunkt blieb im November 2015 bis punkte über die nächsten vier Geschäfts- lionen Euro Umsatz und rund 1400 Be- zum Stichtag der Insolvenz rund zehn jahre. Ab dem Geschäftsjahr 2015/2016 schäftigten an Coop. Prozent unter den geforderten Umsätzen. sollten sich Synergieeffekte unter an- Mit Zielpunkt verliert Pfeiffer rund Damit war die Fortbestehensprognose derem im Bereich Verwaltung mit der 420 Millionen Euro Umsatz. Die Pfeiffer- nicht zu halten und der Insolvenzfall ge- Pfeiffer-Gruppe sowie die geplanten Fili- Gruppe ist damit auf etwa ein Drittel geben. Der neuerliche Kapitalbedarf hätte alschließungen positiv auf das Betriebser- geschrumpft. Es bleiben Pfeiffer damit rund 60 Millionen Euro betragen. Hätte gebnis auswirken. seit 1.1.2016 die Supermarktkette Uni- er sich auf dieses Risiko eingelassen, hät- Obwohl Pfeiffer insgesamt rund 50 Mil- markt, der Großhandel mit Nah &Frisch ten in zwei bis drei Jahren Unimarkt, der lionen Euro in die Erneuerung der Kette und Pfeiffer Logistik, d. h. insgesamt nur Großhandel Nah und Frisch und die ganze investiert hatte, die er inklusive der Pa- noch 360 Millionen Euro Umsatz, über Pfeiffer-Gruppe insolvent werden können. tronatserklärung über 16 Millionen Euro 2200 Mitarbeiter in 130 Unimärkten und Man könne ihn gerne kritisieren, je- schon abgeschrieben haben dürfte, im Großhandel für 270 Nah & Frisch- der Unternehmer mache Fehler. Die Ent- machte Zielpunkt im Geschäftsjahr Kaufleute. Pfeiffer zeigt sich überzeugt, täuschung und die Frustration könne er 2014/15 laut vorläufigen Zahlen bei rund seine nun kleinere Gruppe mit Nah & nachvollziehen. Ihm war „… zum Heu- 420 Millionen Euro Umsatz 11,7 Millio- Frisch und Unimarkt „gesund und fit“ len zumute. Der Verlust von Arbeitsplät- nen Euro Verlust gemacht. Aufgrund der weiterführen zu können.8 zen ist das Schlimmste, was einem Un- laufenden Bilanzverluste, die direkt das ternehmer passieren kann. Die Nahrung 3. Auszüge aus einem Interview Eigenkapital verringern, lag das Eigenka- im KURIER mit Georg Pfeiffer für meine Seele waren immer zufriedene pital bei minus 36,4 Millionen Euro. Kunden und Mitarbeiter. Was hier passiert Laut Prognose sollte der Umsatz bis Seit die Insolvenz der Zielpunkt-Kette ist, ist ein absoluter Albtraum. Aber lei- 2018 472 Millionen Euro betragen. Das bekannt wurde, stand Georg Pfeiffer im der ein alternativloser. Noch im Oktober negative Eigenkapital sollte bis dahin bei Kreuzfeuer der Kritik. Der Unternehmer war ich überzeugt, dass wir es schaffen. (minus) 33 Millionen Euro liegen. Aber dazu: Es solle ihm jemand erklären, wie Aber wahrscheinlich war Zielpunkt schon auch bis 2020 wäre Zielpunkt – nach Aus- man als Eigentümer bei einer Insolvenz mit unserem Einstieg 2012 ein Himmel- sage von Pfeiffer – nicht gewinnbringend profitieren kann? Die Pfeiffer-Gruppe fahrtskommando. Hätten wir das nicht zu führen gewesen. habe mehr als 50 Millionen Euro „ver- gemacht, wäre Zielpunkt schon 2012 in- Warum wurden in letzter Zeit noch die senkt. Da habe niemand profitiert; das solvent gewesen.“ Filialen umgebaut? Die Geschäftsführung habe einfach nur viel Geld gekostet. Am meisten setze ihm die Unterstellung hatte nach eigenen Angaben bis zuletzt Er könne sich die Immobilien der Ten- zu, die Insolvenz nach einem Masterplan versucht, Zielpunkt aus den roten Zahlen gelmann Real Estate Austria-Gruppe nur durchgeführt zu haben. Wer baue denn zu holen. Mit den Umbauten wollte man aufgrund des Verkaufs der c+c Pfeiffer- im Oktober noch Filialen um, wenn er Zielpunkt modernisieren. Gruppe in die Schweiz leisten, der be- schon die Insolvenz plane? Die Passiva (Schulden) von Zielpunkt kanntlich erst 2016 erfolgt. „Wir wollten Der Mitarbeiterbrief, der Anfang No- belaufen sich zum Zeitpunkt der Insolven- damit die Mietkosten für Zielpunkt redu- vember noch verschickt wurde, sorgte zeröffnung auf rund 230 Millionen Euro zieren. Im Portfolio sind nur die Verkaufs- für großen Unmut. Warum hat man den (zum Vergleich: Bei Libro (2001/02) waren lokale, aber mit hauptsächlich mittelmä- Menschen hier ein falsches Bild vorgegau- es 455 Millionen Euro, bei Konsum (1995) ßigen und vielen schlechten Standorten. kelt? waren es sogar 2,73 Milliarden Euro). Da zahlen wir nochmals drauf. Wir sitzen Ihm, Pfeiffer, tue es leid, dass die Mit- Die Ausstattung der Filialen, 45 Kfz und jetzt auf 68 Standorten, die wir teilweise arbeiter offensichtlich vom Blitz getroffen 29 geleaste Fahrzeuge, dazu noch Waren nur sehr schwer vermieten können wer- wurden. Er denke, viele Mitarbeiter ahn- im Wert von rund 30 Millionen Euro, die den.“ ten, dass die wirtschaftliche Lage schlecht aber größtenteils unter Eigentumsvorbe- Ein Unternehmen, das überschuldet war. „Vielleicht wäre zwischendurch das halt von Lieferanten stehen. Viel dürfte ist, brauche eine Fortbestehensprognose, Signal gut gewesen: Liebe Mitarbeiter, wir für die rund 500 Gläubiger von Zielpunkt d. h. das Unternehmen muss einen Nach- sind auf Kurs, aber wir wackeln auch sehr

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heftig. Und ich gebe zu, der Zeitpunkt ist (2) Ebenso ist zu bestrafen, wer in lässt oder auf eine solche Weise oder wirklich – entschuldigen Sie den Ausdruck Kenntnis oder fahrlässiger Unkenntnis sei- so spät erstellt, dass ein zeitnaher – scheiße.“ ner Zahlungsunfähigkeit grob fahrlässig Überblick über seine wahre Vermö- Aus der Zielpunkt-Insolvenz habe er die Befriedigung wenigstens eines seiner gens‑, Finanz- und Ertragslage er- gelernt, sich nie wieder mit einem Sa- Gläubiger dadurch vereitelt oder schmä- heblich erschwert wird. Aufgrund der nierungsfall zu beschäftigen. Und es lert, dass er nach Abs. 5 kridaträchtig oben geschilderten Fakten und Um- schmerze ihn, das Projekt Zielpunkt handelt. stände scheint im vorliegenden Fall nicht geschafft zu haben. Er könne mit (3) Ebenso ist zu bestrafen, wer grob aber kein Tatbestand des § 159 StGB der neuen Situation leben, das Wort ge- fahrlässig seine wirtschaftliche Lage durch gegeben (gewesen) zu sein. Nun ist sundschrumpfen gehöre eben dazu. kridaträchtiges Handeln (Abs. 5) derart be- – aufgrund der unvollständigen dem 50 Millionen Euro seien weg und in den einträchtigt, dass Zahlungsunfähigkeit ein- Autor vorliegenden Informationen – Bilanzen bereits abgeschrieben – diesen getreten wäre, wenn nicht von einer oder noch zu prüfen, ob die Geschäftsfüh- Rückschlag habe er „zum Glück nochmals mehreren Gebietskörperschaften ohne Ver- rung von Zielpunkt (d. s. Erich Schön- verkraftet.“9 pflichtung hiezu unmittelbar oder mittel- leitner und Markus Böhm) Pflichten Nach der traditionellen Erhebung der bar Zuwendungen erbracht, vergleichbare des Geschäftsführers in Krisensituatio- Insolvenzursachen durch den KSV von Maßnahmen getroffen oder Zuwendun- nen verletzt hat. 1870 liegen die Ursachen für die 2014 in gen oder vergleichbare Maßnahmen ande- 5. Pflichten des Geschäftsführers die Insolvenz geratenen österreichischen rer veranlasst worden wären. in der Unternehmenskrise Unternehmen (ungeachtet ihrer Größe) (4) Mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren in Fahrlässigkeit (mangelnde Kenntnis ist zu bestrafen, wer Befindet sich ein Unternehmen in einer des Wirtschaftslebens, Branchenkenntnis 1. im Fall des Abs. 1 einen 800 000 Euro Krise (und Überschuldung ist eines der und Rechnungswesen, erfolglose Wirt- übersteigenden Befriedigungsausfall Merkmale für Krise nach § 2 Abs. 1 EKEG, schaftsvorgänge sowie Gründungsfehler), seiner Gläubiger oder wenigstens ei- sind für Geschäftsführer jene rechtlichen d. s. 15 Prozent, in externen Auslösern nes von ihnen bewirkt, Vorschriften von Interesse, in denen Ver- bzw. Verlustquellen, d. s. weitere 15 Pro- 2. im Fall des Abs. 2 einen 800 000 Euro pflichtungen und damit verbundene Haf- zent, in Fehlern bzw. Verlustquellen im übersteigenden zusätzlichen Befrie- tungen der Geschäftsführer normiert sind. innerbetrieblichen Bereich (51 %), in per- digungsausfall seiner Gläubiger oder Neben den einschlägigen Regelun- sönlichem Verschulden (7 %), in Kapital- wenigstens eines von ihnen bewirkt gen des GmbHG sind insbesondere die mangel (9 %) und in sonstigen Ursachen oder Normen des Insolvenzrechts, des Sozial- (Krankheit, Unglücksfälle durch höhere 3. durch eine der in den Abs. 1 oder 2 versicherungsrechts, des URG sowie ein- Gewalt, 3 %). Diese Werte zeigen, dass mit Strafe bedrohten Handlungen die schlägige strafrechtliche Tatbestände von mehr als die Hälfte der Insolvenzgründe wirtschaftliche Existenz vieler Men- Bedeutung.11 innerbetrieblich bedingt sind. Dazu zäh- schen schädigt oder im Fall des Abs. 3 5.1 Pflichten aus dem GmbHG len vor allem das Fehlen einer professi- geschädigt hätte. onellen Planung, Absatzschwierigkeiten, (5) Kridaträchtig handelt, wer entgegen Grundsätzlich haben die Mitglieder der Kalkulationsfehler und Produktionsflops Grundsätzen ordentlichen Wirtschaftens Geschäftsführung bei ihrer Tätigkeit die sowie mangelnde Beobachtung des Bran- 1. einen bedeutenden Bestandteil seines Sorgfalt eines ordentlichen Geschäfts- chenumfelds. Diese Relationen sind schon Vermögens zerstört, beschädigt, un- mannes anzuwenden (§ 347 UGB). Ge- seit vielen Jahren in ähnlicher Form gege- brauchbar macht, verschleudert oder schäftsführer, die diese Obliegenheiten ben.10 verschenkt, verletzen, sind der Gesellschaft zum Er- 2. durch ein außergewöhnlich gewag- satz des dadurch entstehenden Schadens 4. Krida tes Geschäft, das nicht zu seinem ge- als Gesamtschuldner verpflichtet. Diese Unter (strafrechtlicher) Krida versteht man wöhnlichen Wirtschaftsbetrieb gehört, gesetzlichen Haftungsvorschriften kön- im Wesentlichen die betrügerische oder durch Spiel oder Wette übermäßig nen durch den Gesellschaftsvertrag oder grob fahrlässige Herbeiführung der Zah- hohe Beträge ausgibt, sonstige vertragliche Vereinbarungen lungsunfähigkeit durch eine Schuldnerin/ 3. übermäßigen, mit seinen Vermögens- nicht gemildert werden. Die Geschäfts- einen Schuldner. verhältnissen oder seiner wirtschaftli- führer können sich jedoch von der Scha- Der Tatbestand „Fahrlässige Krida“ chen Leistungsfähigkeit in auffallen- denersatzpflicht durch den Gegenbeweis wurde im Jahr 2000 durch den Tatbe- dem Widerspruch stehenden Aufwand befreien, dass sie die Sorgfalt eines or- stand „Grob fahrlässige Beeinträchtigung treibt, dentlichen Geschäftsmannes angewen- von Gläubigerinteressen“ ersetzt. Das 4. Geschäftsbücher oder geschäftliche det haben. Wort Krida stammt aus dem mittellateini- Aufzeichnungen zu führen unterlässt Der Geschäftsführer darf nach Eintritt schen Wort „crida“: „öffentlicher Aufruf, oder so führt, dass ein zeitnaher Über- der Insolvenz (Zahlungsunfähigkeit bzw. Zusammenrufen der Gläubiger“. blick über seine wahre Vermögens‑, rechnerische Überschuldung der Gesell- § 159 StGB definiert grob fahrlässige Finanz- und Ertragslage erheblich er- schaft) keine Zahlungen mehr tätigen, Beeinträchtigung von Gläubigerinteressen schwert wird, oder sonstige geeignete widrigenfalls er den dadurch benachtei- wie folgt: und erforderliche Kontrollmaßnah- ligten Gläubigern zu Schadenersatz ver- (1) Wer grob fahrlässig seine Zahlungs- men, die ihm einen solchen Überblick pflichtet ist (Gleichbehandlungsgrund- unfähigkeit dadurch herbeiführt, dass er verschaffen, unterlässt oder satz). Vereinbarungen, durch die einzel- kridaträchtig handelt (Abs. 5), ist mit Frei- 5. Jahresabschlüsse, zu deren Erstellung nen Gläubigern Sondervorteile einge- heitsstrafe bis zu einem Jahr zu bestrafen. er verpflichtet ist, zu erstellen unter- räumt werden sollen sind unzulässig, und

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können unter Umständen gerichtliche absetzbaren Anzahlungen andererseits, und nunmehr den Straftatbestand nach Strafen zur Folge haben. Solche Zahlun- ergibt. § 153c StGB bildet. gen scheint Zielpunkt aber korrekterweise Die „fiktive Schuldentilgungsdauer“ nicht vorgenommen zu haben. wird dadurch errechnet, dass die in der 5.4 Informationspflichten gegenüber Darüber hinaus sind die Geschäftsfüh- Bilanz ausgewiesenen Rückstellungen und Kreditgebern in der Krise rer verpflichtet, eine Generalversammlung Verbindlichkeiten, vermindert um die im Grundsätzlich treffen die Geschäftsfüh- einzuberufen, wenn es das Interesse der Unternehmen verfügbaren Aktiva und die rung einer insolvenzgefährdeten Gesell- Gesellschaft verlangt. Hat die Gesellschaft von den Vorräten absetzbaren Anzahlun- schaft keine spezialgesetzlich normierten die Hälfte ihres Stammkapitals verloren, gen, durch den Mittelüberschuss aus der Pflichten zur umgehenden Aufklärung ist eine solche außerordentliche General- gewöhnlichen Geschäftstätigkeit dividiert ihrer Geschäftspartner, insbesondere ih- versammlung unverzüglich einzuberufen. werden. rer Kreditgeber, im vorliegenden Fall vor Wesentlich ist, dass der handelsrecht- Gemäß URG bestand demnach bei allem Lieferanten. So hat jeder vertrags- liche Geschäftsführer längstens binnen Zielpunkt schon vor zwei bis drei Jahren schließende Teil schon nach allgemeinen 60 Tagen nach Insolvenzeintritt einen An- Reorganisationsbedarf, der aber auch klar zivilrechtlichen Grundsätzen die vor‑ und trag auf Eröffnung eines Insolvenzverfah- erkannt worden war. nebenvertragliche Pflicht, seinen Vertrags- rens bei Gericht stellen muss. Mit diesem Kommen die Mitglieder der Geschäfts- partner über Umstände aufzuklären, die Antrag kann jedoch nur bei ernsthaften führung ihrer Pflicht zur Beantragung ei- für dessen Willensbildung von erkennbar Sanierungsbemühungen (z. B. Versuch, nes Reorganisationsverfahrens oder zur zentraler Relevanz sind. einen außergerichtlichen Vergleich zu- Aufstellung eines Jahresabschlusses bzw. Die Reichweite solcher Informations- stande zu bringen) höchstens 60 Tage zu- zur Beauftragung eines Abschlussprüfers pflichten ist anhand der konkreten Ver- gewartet werden, ansonsten ist der Insol- mit der Prüfung des Jahresabschlusses tragsgestaltung im Einzelfall zu beurtei- venzantrag unverzüglich nach Eintritt der nicht nach, droht ihnen im Falle eines len. Hat sich etwa der Kreditgeber (wie Insolvenz zu stellen. binnen zwei Jahre eintretenden Kon- häufig in Kreditverträgen mit Gesellschaf- Bei Verletzung dieser Verpflichtung ist kurses eine persönliche Haftung bis zu ten) die regelmäßige Vorlage der Unter- der Geschäftsführer den Gläubigern für 100 000 Euro pro Person. Die Haftung nehmenskennzahlen vertraglich zusichern den Schaden verantwortlich, den diese tritt jedoch nicht ein, wenn unverzüglich lassen, so wird der Kreditnehmer eine dadurch erleiden, dass bei rechtzeitiger nach Erhalt des Abschlussprüferberich- sich kontinuierlich abzeichnende Ergeb- Eröffnung des Insolvenzverfahrens die zu tes, dessen festgestellte Unternehmens- nisverschlechterung nicht gesondert mit- erzielende Quote entsprechend höher ge- kennzahlen die gesetzliche Vermutung zuteilen haben. Anders kann hingegen wesen wäre (Altgläubiger) bzw. mit der eines Reorganisationsbedarfes auslösen, bei plötzlichem Eintritt eines den Fortbe- insolventen Gesellschaft erst gar nicht in ein Gutachten eines Wirtschaftstreuhän- stand des Unternehmens akut gefährde- geschäftlichen Kontakt getreten wären ders eingeholt wird, das den Reorgani- ten Geschäftsausfalles gelten. Die Verlet- (Vertrauensschaden der Neugläubiger). sationsbedarf etwa unter Bezugnahme zung einer bestehenden (vertraglichen) Die Beweislast, dass der Schaden auch bei auf gesellschaftsrechtliche Beschlüsse, Informationspflicht zieht anfangs „nur“ pflichtgemäßem Handeln des Geschäfts- die eine Kapitalerhöhung oder eine Ver- zivilrechtliche Haftungsfolgen der Gesell- führers eingetreten wäre, liegt beim Ge- lustabdeckungszusage durch die Gesell- schaft (des Geschäftsführers nur, wenn schäftsführer (Beweislastumkehr).12 schafter zum Inhalt haben, konkret ver- dieser ein erhebliches und unmittelbares neint. eigenwirtschaftliches Interesse am Vertrag 5.2 Pflichten aus dem Unterneh- hatte oder im besonderen Maße persön- mensreorganisationsgesetz 5.3 Pflichten aus dem Allgemeinen liches Vertrauen beim Vertragsabschluss Ist ein Unternehmen zwar noch nicht zah- Sozialversicherungsgesetz in Anspruch genommen hat) nach sich, lungsunfähig oder überschuldet (=insol- Nach den Bestimmungen des ASVG haf- solange die Verschweigung nicht in betrü- vent), besteht aber Reorganisationsbedarf tet die Geschäftsführung für die von gerischer oder begünstigender Absicht er- nach dem Unternehmensreorganisations- der Gesellschaft zu entrichtenden Bei- folgt. Das würde dann eine strafrechtliche gesetz (URG), so haben die Mitglieder des träge insoweit, als diese Beiträge durch Verantwortlichkeit auslösen.13 vertretungsbefugten Organs des Unter- die schuldhafte Verletzung von der Ge- Fazit nehmens unverzüglich ein Reorganisati- schäftsführung obliegenden Pflichten onsverfahren beim zuständigen Gerichts- nicht eingebracht werden können. Nach Zielpunkt war schon seit Längerem über- hof erster Instanz zu beantragen. Das einer Wende in der Judikatur des VwGH schuldet; das Eigenkapital war schon Vorliegen eines Reorganisationsbedarfs wird diese Bestimmung nunmehr dahin- 2013/14 mit knapp 25 Millionen Euro ne- wird gesetzlich vermutet, wenn laut Ab- gehend interpretiert, dass die Geschäfts- gativ, womit die Gesellschaft bereits per schlussprüferbericht die Eigenmittelquote führung nur für die Erfüllung jener Ver- Ende Februar 2014 buchmäßig überschul- weniger als 8 Prozent und die fiktive pflichtungen haftet, die sie nach dem det war. Nur dank einer Patronatserklä- Schuldentilgungsdauer mehr als 15 Jahre ASVG treffen. Somit besteht nunmehr rung und einen Kredit der Pfeiffer Han- beträgt. einerseits eine Haftung für Beitragsaus- delsgesellschaft lag damals (noch) keine Unter „Eigenmittelquote“ wird der Pro- fälle wegen der Verletzung der Pflicht insolvenzrechtliche Überschuldung vor. zentsatz verstanden, der sich aus dem zur ordnungsgemäßen Anmeldung nach Der Vorwurf, den man der Geschäfts- Verhältnis zwischen dem Eigenkapital und den Regelungen des ASVG sowie anderer- führung im Nachhinein machen könnte, den unversteuerten Rücklagen einerseits seits eine Haftung für einbehaltene und ist, zu lang mit dem Insolvenzantrag ge- und den Posten des Gesamtkapitals ver- nicht abgeführte Dienstnehmeranteile, wartet und damit das Vermögen der Ziel- mindert um die nach von den Vorräten die bis zum SozialbetrugsG normiert war, punkt GmbH zulasten der Gläubiger über

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Gebühr geschmälert zu haben. Aus der Schritte, in: derstandard.at/2000026585524/ link=/home/wirtschaft/economist/4876387/ damaligen Sicht der Geschäftsführung Zielpunkt-Pleite-Gewerkschaft-prueft-rechtli- index.do&selChannel, 27.11.2015; vgl. www. che-Schritte, 28.11.2015; vgl. o. V. (2015e): pfeiffer.at/de/das-familienunternehmen/ stellte sich die Situation aber ganz anders Gewerkschaft prüft nach Zielpunkt-Pleite pfeiffer-holding; vgl. Pressberger, T. (2014): dar; und diese Sicht zählt. Daher muss rechtliche Schritte, in: www.finanzen.at/nach- Bilanz von Zielpunkt fällt erneut tiefrot aus, in: anerkannt werden, dass die Geschäftsfüh- richten/aktien/APA-N-A-C-H-R-I-C-H-T-E-N- wirtschaftsblatt.at/home/nachrichten/news- rung glaublich Einiges tat, und das auch Ue-B-E-R-B-L-I-C-K-13-00-Uhr-1000935704, letter/4396692/Bilanz-von-Zielpunkt-faellt-er- 28.11.2015, alle abgerufen 20.1.2016. neut-tiefrot-aus, 29.10.2014, alle abgerufen mit konkreten Maßnahmen belegen kann, 4) Vgl. o. V. (2015f): Zielpunkt-Geschichte be- 26.1.2016. um die betriebswirtschaftliche Situation gann mit „LÖWA“-Märkten www.nachrich- 9) Vgl. Metzger, I. (2015): Georg Pfeiffer: „Auch des Unternehmens zu verbessern. ten.at/nachrichten/wirtschaft/Zielpunkt-Ge- mir war zum Heulen zumute“, in: kurier.at/ Es wird wahrscheinlich nicht gelingen, schichte-begann-mit-LOeWA- wirtschaft/unternehmen/georg-pfeiffer-auch- Maerkten;art15,2042751, 25.11.2015; vgl. mir-war-zum-heulen-zumute/168.007.447, der Geschäftsführung den Vorwurf zu Jaindl, O. (2015): Zielpunkt-Insolvenz: Pfeiffer 6.12.2015; vgl. FAQ auf der Homepage www. machen, dass es ihr letztlich trotz vieler hakt Markt in Ostösterreich ab, in: wirt- pfeiffer.at/, alle abgerufen 20.1.2016. Bemühungen nicht gelang, ein nachweis- schaftsblatt.at/home/nachrichten/newslet- 10) Vgl. KSV 1870 (2015): Nichts geht ohne Ei- bar sanierungsbedürftiges Unternehmen ter/4893031/ZielpunktInsolvenz_Pfeiffer-hakt- genkapital, in: https://www.ksv.at/nichts-geht- Markt-in-Ostosterreich-ab, 23.12.2015, alle ohne-eigenkapital, abgerufen 18.1.2016; nachhaltig zu sanieren. abgerufen 25.1.2016. vgl. Siller, H. (2011): Normatives Controlling, 5) Vgl. Pressberger, T./Reidl, P. (2015): Lebens- Wien, S. 60. Anmerkungen mittelhandel: Die Konzentration nimmt weiter 11) Vgl. Aigner, D. J. et al. (2009): Krisen‑ und Sa- 1) O. V. (2015): Insolvenzverfahren, in: www. zu, in: wirtschaftsblatt.at/home/nachrichten/ nierungsmanagement. Finanzwirtschaftliche pfeiffer.at/, abgerufen 25.1.2016. oesterreich/4722729/Lebensmittelhandel_Die Sanierung, Wien. 2) Vgl. Göweil, R. (2015): Zielpunkt. Der feine Konzentration-nimmt-weiter-zu, 4.5.2015, 12) Vgl. WKO (2015: Haftung des handelsrecht- Herr Pfeiffer, in: www.wienerzeitung.at/nach- abgerufen 26.1.2016. lichen Geschäftsführers bzw. des Vorstan- richten/wirtschaft/oesterreich/?em_cnt= 6) Vgl. market (2015): Brand-Navigator, in: Der des in der Insolvenz der Gesellschaft, in: 788461, 27.11.2015, abgerufen 20.1.2016; Standard, 26.11.2015, S. 19. https://www.wko.at/Content.Node/Service/ vgl. o. V. (2015a): Hoffen auf Weihnachts- 7) Vgl. Schermann, M./Siller, H./Volcic, K. (2013): Wirtschaftsrecht-und-Gewerberecht/Insolven- wunder, in: Wiener Zeitung, 24. – 27.12.2015, Strategische Managementpraxis in Fallstu- zrecht/Die_Haftung_des_handelsrechtlichen_ S. 10; vgl. o. V. (2015b): Zielpunkt: Betriebsrat dien, 2. Aufl., Wien, S. 104. Geschaeftsfuehrers_bzw..html, 13.2.2015, ab- fassungslos, in: ooe.orf.at/news/stories/2744 8) Vgl. o. V. (2015 g): Ende mit Schrecken, in: Der gerufen 26.1.2016. 730/, 28.11.2015. Standard, 1.12.2015, S. 2; vgl. Schneid, H. 13) Vgl. Knafl, K. (o. J.): Pflichten des Geschäfts- 3) Vgl. o. V. (2015c): Zielpunkt-Pleite: Gewerk- (2015): „Zielpunkt auch bis 2020 nicht in die führers in der Unternehmenskrise, in: www. schaft prüft rechtliche Schritte, in: diepresse. Gewinnzone zu führen“, in: diepresse.com/ krisenkompass.at/publikationen/fachaufsa- com/home/wirtschaft/economist/4876387/ home/wirtschaft/economist/4875240/Ziel- etze/news-detail-fachaufsaetze/article//Pflich- ZielpunktPleite_Gewerkschaft-pruft-rechtli- punkt-auch-bis-2020-nicht-in-die-Gewinn- ten-des-Geschaeftsfuehrers-in-der-Unterneh- che-Schritte‑, 28.11.2015; vgl. o. V. (2015d): zone-zu-fuhren?direct=4876387&_vl_back- menskrise.html, abgerufen 20.1.2016. Zielpunkt-Pleite: Gewerkschaft prüft rechtliche

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Kriminalistik – Schweiz 117

Redaktion: Dr. Peter W. Pfefferli, Forensisches Institut Zürich; lic. iur Christian Aebi, Oberstaatsanwalt des Kantons Zug; lic. iur. Alberto Fabbri, LL. M., Erster Staatsanwalt, Staatsanwaltschaft Basel-Stadt; Peter Holenstein, Publizist; Dr. iur. Dr. med. Thomas Noll, Direktor Schweiz. Ausbildungszentrum Strafvollzugspersonal, Fribourg; Fürsprecher Jürg Noth, Chef Grenzwachtkorps GWK, Eidg. Finanzdepartement Bern; lic. iur. Thomas Sollberger, Chef der Kriminalabteilung Kantonspolizei Bern; Dr. Esther Omlin, Ober- staatsanwältin des Kantons Obwalden

Zur Würdigung des Aussagen- Beweises

Von Henriette Haas

Welche Bedingungen sind notwendig und hinreichend, um ten“- und „Prozess-Wahrheit“ kann man den vollen Beweisgehalt einer Aussage auszuloten und ihr gelten lassen, denn sie schränken den Anspruch auf das Machbare ein. Volpe allenfalls Glauben zu schenken? Sprachliche, logische und (2003, S. 16) definierte das Ideal der psychologische Aspekte werden hier in ein praxistaugliches „Wahrheit“ für eine Aussage so: „Wahr Konzept zur Würdigung von Aussagen vereint. Der Begriff wäre eine Behauptung über die Fakten dann, wenn sie mit den Fakten als solchen Aussagenvalidität (d. h. Belastbarkeit) mit vier Dimensi- übereinstimmt, unabhängig von mensch- onen ersetzt die schwammigen Begriffe „Wahrheit“ und lichem Wahrnehmen und Denken.“ Der „Glaubhaftigkeit“. Die formale sprachliche Validität bedeu- Stamm „wahr“ rutscht als Verkürzung oft tet Verbindlichkeit: Der Sprecher benutzt das Wort „ich“ in den Berufsalltag hinein, etwa im Lei- tentscheid 1 StR 618/98 des BGH Karls- und beschreibt die fraglichen Fakten als (ggf. widerlegbare) ruhe zu den Anforderungen an aussage- Behauptungen. Die Inhaltsvalidität einer Aussage besteht psychologische Gutachten (Abschnitt 1.a, erstens in der Übereinstimmung mit anderweitig erhobenen Rn. 12): Beweismitteln und zweitens in der inneren Schlüssigkeit „Das methodische Grundprinzip be- der Aussage. Die Beurteilung der Inhaltsvalidität muss die steht darin, einen zu überprüfenden Schwächen von menschlicher Wahrnehmung und Gedächt- Sachverhalt (hier: Glaubhaftigkeit nis berücksichtigen. Die punktuelle Übereinstimmung einer der spezifischen Aussage) so lange zu negieren, bis diese Negation mit Aussage mit anderweitig ermittelten Ergebnissen (Anker) den gesammelten Fakten nicht mehr ist das Hauptkriterium der Inhaltsvalidität, wohingegen ihre vereinbar ist. Der Sachverständige innere Schlüssigkeit nur ein Hilfsmittel für die Vernehmung nimmt daher bei der Begutachtung darstellt. Subsidiär ist die Quellenvalidität: Woher stammen zunächst an, die Aussage sei un- wahr (sog. Nullhypothese). Zur Prü- die Informationen, welche die befragte Person wiedergibt? fung dieser Annahme hat er weitere Mit diesem Ansatz kann man den Beweiswert der Aussagen Hypothesen zu bilden. Ergibt seine erfassen, mehr Indizien über spontan geäusserte Bewusst- Prufstrategie, daß die Unwahrhy- seinsinhalte der befragten Person gewinnen und rhetori- schen Ausweich-Manövern begegnen.

1. Unklare Begrifflichkeit tokolliert und mit modernen Methoden analysiert wird. Diese sollen hier einge- Nur eine präzise Begrifflichkeit erlaubt es, führt werden. Prof. Dr. phil. die Beweis-Möglichkeiten moderner Ein- Henriette Undefinierbarkeit von „Wahrheit“ vernahme‑ und Protokollierungstechniken Haas, Psy­ chologisches auszuschöpfen. Der freie Bericht (Haas & „Wahrheit“ ist ein volkstümlicher Begriff, Institut der Ill 2013) liefert einen Mehrwert wertvoller der in seiner Absolutheit im kriminalisti- Universität Indizien, sofern er korrekt erfragt, pro- schen Denken nichts zu suchen hat. „Ak- Zürich

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pothese mit den erhobenen Fakten Fakten (Tatsachen) auf. Diese bezeichnen, interessieren aus psychologischer Sicht die nicht mehr in Übereinstimmung ste- das was bereits passiert ist oder getan Beweis‑ und die Bindungsfunktion. Die hen kann, so wird sie verworfen, wurde. Das entscheidende Merkmal ist, Verlangsamung des Gesprächs durch das und es gilt dann die Alternativhypo- dass sie nicht mehr rückgängig gemacht Protokollieren ist gedächtnispsychologisch these, daß es sich um eine wahre werden können (ihre Irreversibilität). sinnvoll. Sie garantiert zudem Verfahrens- Aussage handelt.“ Dazu müssen sie auf einem Datenträger Fairness. Der Beschuldigte soll nachzu- registriert sein. Nicht bloss physikalische denken, was er preisgeben will und wie Der Abschnitt wurde vom schwei- messbare Grössen (hard facts) gehören er das tun will. Zu jedem neuen Vorwurf zerischen Bundesgericht (u. a. BGE zu den Fakten, sondern auch vergangene oder Beweis-Thema und solange noch un- 6B_572/2008) unbesehen übernommen Äusserungen und Emotionen, sofern sie klar ist, welche Äusserungen überhaupt und ist natürlich Unsinn. Es widerspricht im Dossier festgehalten sind. Nicht-Fakten Relevanz besitzen, sollte ein freier Bericht jeglicher Wissenschaftlichkeit eine Zeu- sind nicht passiert oder nirgends belegt. vollständig protokolliert werden. In späte- genaussage als „wahr“ zu bezeichnen, Natürliche Sprache zur Beschreibung ren Einvernahmen ist es psychologisch zu- wenn Aussagen des Beschuldigten und von Tatsachen besteht aus sinnvoll grup- lässig, Ablenkungsmanöver und sinnloses anderer Zeugen sowie naturwissenschaft- pierten Wörtern; Sätzen, die man in syn- Zeitgewinnen zusammenzufassen. Capus, liche Beweismittel für diese Feststellung taktische Kategorien unterteilen kann. Stoll und Vieth (2014, S. 273) notierten nicht berücksichtigt wurden. Das Missver- Leider lassen sich diese nicht eindeutig als Ergebnis ihrer Protokollforschung: ständnis verunmöglicht die freie richterli- der Funktion des Satzes zuordnen: Eine „Umgangssprachliche oder mundartli- che Beweiswürdigung. Wäre eine Zeugen- Beschreibung kann nämlich als affirma- che Ausdrucksweisen werden in Verneh- aussage gemäss Glaubhaftigkeitsgutach- tive Feststellung, als Verneinung, Ausruf, mungsprotokollen meist in korrekte Stan- ten „wahr, weil keine andere Möglichkeit Befehl oder Frage daherkommen.1 Äusse- dardsprache überführt, und Pausen, Ver- mehr in Betracht käme“, bedeutete dies, rungen, die wie Informationen über die zögerungslaute wie ‚äh‘, Satzabbrüche dass sie den gesamten fraglichen Lebens- Realität erscheinen, haben oft weitere und Wiederholungen werden in der Regel sachverhalt zutreffend und umfassend soziale Funktionen. Austin (1962, S. 3) nicht vermerkt.“ Diese Vorgehensweise beschreibt. Köhnken (in Deckers & Köhn- nannte sie Sprechakte und schrieb: „Man ist unbedenklich, sofern „entscheidende ken, 2007, S. 3) notierte Bedenken gegen kam zur Erkenntnis, dass viele Wörter, die Fragen und Antworten wörtlich proto- den Terminus „Unwahrhypothese“ und in einem scheinbar beschreibenden Satz kolliert werden“ wie Art. 78 Abs. 3 der bezeichnete die Nullhypothese als „Hypo- eingebaut werden, besonders solche, wel- Schweizer StPO vorschreibt. Alle Fragen, these der fehlenden Erlebnisgrundlage“. che perplex machen, in Wirklichkeit gar die Information enthalten, z. B. darüber, Die zitierten Leitentscheide verwechseln nicht dazu dienen, einen besonderen As- was der Fragende nicht weiss oder was die primären Beweismittel, die den zu pekt der Realität zu beschreiben. Vielmehr er doppelt absichern möchte, gehören ins eruierenden Lebenssachverhalt direkt be- dienen sie als Anspielungen auf die Um- Protokoll. Das Unterschlagen von Fragen treffen mit ergänzenden Beweismitteln. stände, unter welchen der Sprecher sich ist unprofessionell. Es legt nahe, dass es Letztere sollen den Wert eines primären äussert oder als Vorbehalte, gegen das, sich um einen freien Bericht handle und Beweismittels einschätzen (Schum, 2001, was er sagt oder wie er interpretiert wer- verfälscht die Darstellung der Interaktion. S. 122 ff.). den wolle, und ähnliches.“ So kann ein Nur inhaltsleere Fragen dürfen ausge- Satz die heimliche Weigerung beinhalten, lassen werden, also die Partikel „mhm“ Mehrdeutigkeit von „Glaubhaftigkeit“ eine Rolle zu erfüllen, obwohl der Schein oder die Anstossfragen: „und dann?“. In Der Begriff „Glaubhaftigkeit“ vermischt von Kooperation gewahrt wird. Der Aus- Übersetzungen sind Metaphern und sinn- verschiedene Methoden zur Aufdeckung sage-Gehalt wird im folgenden mit „Be- entstellende oder unverständliche Fehler von Täuschungen. Glaubhaft in der ju- hauptung“ bezeichnet. zuerst wörtlich wiederzugeben, begleitet ristischen Würdigung ist eine Aussage, vom erklärenden Kommentar des Dol- Das Geständnis wenn sie in sich widerspruchsfrei ist und metschers. So sagte eine ausschliesslich dem Vergleich mit andern Beweismitteln (Zu-)Geständnisse vor Gericht beinhalten, französisch-sprachige Zeugin aus, ihr standhält. Psychologische Forschung hin- dass der Sprecher verborgene Informatio- Freund (der sehr gut Deutsch und Franzö- gegen fokussiert auf die Entdeckung von nen über sich selber enthüllt und zugibt, sisch sprach) habe jeweils gesagt: „je veux Täuschung innerhalb der Aussage, ohne gesetzliche Normen verletzt zu haben. prendre ma chatz“ (übersetzt: „ich will Zuhilfenahme weiterer Ermittlungsergeb- Geständnisse sind Teil einer grösseren Er- meinen Schatz/meine Muschi nehmen“), nisse (Park et al. 2002). Die psychologi- zählung, in welcher Täuschung vorkom- bevor er sie zum Geschlechtsverkehr ge- sche Glaubhaftigkeit vergleicht gewisse men kann – aber nicht muss. Die Aussage zwungen habe. Die Protokollführer hatten Merkmale der Aussage mit empirischen kann mehrere widersprüchliche Versionen dieses Mischwort („chatte“ französisch Kriterien, nachdem Zeugentüchtigkeit und enthalten, mit denen unehrliche Sprecher für „Muschi“ versus „mein Schatz“) richti- Aussagen-Entstehung abgeklärt wurden. temporär versuchten, die fraglichen Vor- gerweise mit tz protokolliert. Es entsprach fälle zu erklären. Derjenige Teil der Aus- nämlich einem Realkennzeichen (Indiz) 2. Beschreibung vergangener Ereignisse sage, der besser zu den restlichen Beweis- für die Glaubhaftigkeit der Aussage. mitteln passt als alle anderen Versionen, 3. Logische Denkmodi und wird dann als (Zu)-Geständnis gewertet. Sätze über Fakten: Syntax und natürliche Sprache Funktion Protokollierungsanforderungen Für die Auslegung des Lebenssachver- Der Begriff Aussagenvalidität baut auf der Von allen rechtlichen Funktionen des Ein- halts stützen sich Juristen vornehmlich auf Existenz von allgemein wahrnehmbaren vernahme-Protokolls (Capus & Stoll, 2013) die klassische Logik, etwa wenn sie von

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Gutachten „Vollständigkeit“, „Nachvoll- lockerem Dress Code arbeiten (z. B. mit auch ein Arbeitstag gewesen sein“). All- ziehbarkeit“ und „Schlüssigkeit“ verlan- 95 Prozent Wahrscheinlichkeit tragen Aussagen und Spekulationen sind nicht gen (Bühler, 2007, Rn. 4). Drei Denkmodi alle casual). Wenn wir zufällig die zweite widerlegbar und somit beweisleer. kommen bei der Rekonstruktion vergan- Eigenschaft kennen und die erste nicht, Umgekehrt können Trugschlüsse in na- gener Ereignisse zur Anwendung: De- würden wir zu einem andern Schluss ge- türlicher Sprache eine vernünftige Bedeu- duktion, Induktion und Abduktion. Diese langen. Die natürliche Sprache weckt die tung haben, z. B. John Waynes Tautolo- sollen nun auf ihre Anwendbarkeit in der Illusion, dass das was man wahrnehme, gie: „I am what I am, and that’s what I natürlichen Sprache untersucht werden.2 alles sei, was existiere (Newstead & Evans, am“. Sie besagt, dass er nicht ein Mann 1995). vieler Worte sei. Zirkelschlüsse findet man Deduktion, Induktion und Abduktion Peirce (1931/1978, 5145) definierte die oft in Begründungen und Ausreden, z. B. Deduktionen sind zwingende Schlussfol- Abduktion als das Finden einer passenden „ich stahl das Geld, weil ich betrunken gerungen, die auf definierten Prämissen Erklärung für gewisse Beobachtungen. war“ und später „ich brauchte Geld, um (d. h. Vorannahmen) beruhen. In der Phi- Abduktion generiert Ideen über verbor- meine Sucht zu finanzieren“. Das Argu- losophie nennt man diesen Denkmodus gene Ursachen für überprüfbare Tatsa- ment ist unwiderlegbar, bedeutet aber Konsistenztheorien. Genau genommen chen. Die Ideen finden sich nicht in den einfach: „ich bin in einem Teufelskreis ge- kann aus Deduktion niemals eine neue Fakten selber (Coffey & Atkinson, 1996, fangen“. Lügen können technisch falsch Idee entspringen, alle Ergebnisse sind be- S. 155) und treffen nicht zwingend zu. sein, enthüllen aber relevante Informatio- reits in den Prämissen enthalten. Selbst Natürliche Sprache ist Abduktion: Jedes nen über Sachverhalt und Sprecher. Sätze Deduktion stösst an Grenzen. Gödels Un- Wort ist eine Vermutung über die Welt von fremdsprachigen oder ungebildeten vollständigkeitssatz (1931) demonstrierte, (Peirce, 1967/1901, S. 27). Zudem sind Personen enthalten Grammatikfehler, die dass es in formalen Systemen Sätze gibt, lexikalische Definitionen oft schwammig die Unterscheidung zwischen „wahr“ die man niemals beweisen kann, obwohl und mehrdeutig. Das permanente Raten und „falsch“ verunmöglichen. Oft sind sie wahr sein müssen, etwa die Aussage: aufgrund der Lebenserfahrung ist das sie trotzdem verständlich (z. B. „ich viel „Dieser Satz kann nicht bewiesen wer- Fundament der Wahrnehmung schlecht- Stress, weisch“). Schliesslich dreht der den“. Würde man sie beweisen können, hin (Gregory, 2005). Witz „Wahrheit“ und „Falschheit“ um wäre sie inhaltlich falsch, damit würde und fordert den üblichen Glauben an den Falschheit als richtig anerkannt. Der Satz Aussagen jenseits von „wahr“ und Sprecher heraus. Wir erkennen Ironie an „ich lüge“ hingegen kann weder richtig „falsch“ ihrer Übertriebenheit, an der Unmöglich- noch falsch sein. Das Problem entsteht Der Begriff „Wahrheit“ impliziert die Exis- keit der Aussage oder am non-verbalen durch Meta-Kommunikation. Das Reden tenz von präzisen Grenzen zur „Unwahr- Ausdruck des Sprechers. Kreativer Um- über das Reden schleicht sich oft uner- heit“. Eine Fehldarstellung der Fakten, gang mit Sprache ist ein taktisches Ma- kannt in die Sprache ein. die auf der Auslassung der wichtigsten növer, mit dem ein Sprecher sich aus der Das Denken in natürlicher Sprache ba- Details basiert, ist „wahr“ im technischen Verantwortung für die Bedeutung seiner siert auf unbewussten Annahmen, die Sinn, verzerrt jedoch das Gesamtbild. In- Sätze stiehlt und gleichzeitig seine intel- Verbindungen und Beschreibungen der telligente Sprecher verstecken sich oft hin- lektuelle Überlegenheit demonstriert. sozialen und physischen Welt enthalten. ter meta-kommunikativen Rahmensätzen, Die Sprach-Phänomene zeigen, wie nö- Selbst bei Fachleuten erzeugt es eine Viel- wie Clintons Trick: „I say this now and tig es in der Praxis ist, Sätze auf ihre förm- zahl von Irrtümern (Newstead & Evans, I will say it again: I did not have sexual liche Belastbarkeit hin zu prüfen. 1995): Jemand sagt3: „Fritz tat, was er relations with that woman Ms Lewinsky“. immer tut“. Zuhörer füllen die Lücke mit Der Satz wird vom naiven Fernsehzu- Das Konsistenz-Erfordernis als innere der Annahme, dass sich das auf frühere schauer verstanden als: „I did not have Validität Sätze beziehe, darüber was Fritz immer sexual relations with Ms Lewinsky“. Die Das Prinzip des Nicht-Widerspruchs wird tue (z. B. saufen). Die Verbindung ist aber Behauptung war aber nur, dass Clinton Aristoteles zugeschrieben (Metaphysik, keineswegs zwingend (Sperber & Wilson, irgend etwas sagen werde. Andere miss- 1984, S. 1597): „einander widerspre- 2008) und kann später jederzeit bestritten verstehen den Rahmen als Zusatz („I did chende Aussagen können nicht gleich- werden. not have sexual relations with Monica Le- zeitig wahr sein“. Konsistenz (auch Ko- Mit der Induktion4 erhebt man Basis- winsky“ und „I will even testify this under härenz) einer Aussage ist dann gegeben, raten für bestimmte Konstellationen und oath“). Es gibt also vernestete Aussagen, wenn sich die verschiedenen Behauptun- leitet daraus Erfahrungssätze über den die zwar zutreffen, aber aufgrund ihrer gen widerspruchsfrei zu einander gesel- Verlauf der Dinge ab (Schweizer, 2015, irrelevanten Kern-Behauptung beweisleer len. Die innere Validität einer Aussage S. 368 ff.). Die Anwendung von statisti- sind. kann in der Rechtspflege keine notwen- schen Resultaten auf den Einzelfall kann Sprachlich verkleidete Trugschlüsse sind dige oder hinreichende Bedingung für induktive Fehlschlüsse provozieren (Hem- nicht immer als solche erkennbar. Speku- den qualifizierten Glauben an sie darstel- pel, 1965, S. 441), etwa die Aussage: lationen sind Behauptungen, die nicht auf len. Sonst wäre es unmöglich, aus wi- „Nick trug wohl einen Anzug, er ist An- Fakten oder auf undeklarierten falschen dersprüchlichen Angaben von Komplizen walt“. Der Obersatz5 ist Alltagsstatistik Prämissen beruhen. Sie können per Zu- denjenigen Teil auszusondern, dem das (die z. B. zu 90 Prozent zutrifft) aber kein fall zutreffen. Die versteckte All-Aussage Gericht schliesslich Glauben schenkt oder allgemeingültiges Gesetz. Das „Anwalt- entsteht, wenn der erste Teil später durch ein Geständnis als gültig zu akzeptieren, sein“ ist nur eine Eigenschaft aus vielen, sein mengenmässiges Komplement er- das von Leugnen begleitet wird. Zudem die eine Person beschreiben. Nick könnte gänzt wird („es war am Wochenende“ kann Aussagenkonsistenz ohne jeden Re- zugleich in einem Software Start-up mit wird später ergänzt durch „es könnte alitätsbezug vorhanden sein, wie man aus

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den Hexenprozessen weiss (Schweizer, gen, Gurken in die Scheide einzuführen. Fakten im Sinne von Tarski: Sie be- 2015, S. 350). Jedermann kann eine kon- Sie bejahte die Frage, ob die Gurke „ganz hauptet, dass etwas war und be- sistente Lüge erfinden, indem er das Wort drin“ gewesen sei. Der Rechtsmediziner schreibt, wie es war. „nicht“ in einen Dialog einfügt. Walder befand jedoch, dass eine 30cm lange 2. Die Behauptung muss formell wider- und Hansjakob (2012, S. 229) empfeh- Gurke anatomisch gar nicht in eine Va- legbar sein (Russell). Dies erfordert len, zuerst alle Inkonsistenzen innerhalb gina passt. Doch was heisst „ganz drin“ aber nicht die praktische Überprüfbar- der Aussage mit Vorhalten anzusprechen, sein? Heisst es, dass die Gurke „in der Va- keit der Angaben. bevor andere Beweismittel vorgelegt wer- gina verschwindet“ oder dass die Vagina 3. Das Pronomen „ich“: Der Sprecher den. Damit wird verhindert, dass die be- „ganz ausgefüllt“ ist? Das Gericht folgte muss Verantwortung für seine Be- fragte Person vorschnell Informationen der Hypothese des Missverständnisses. hauptungen übernehmen, indem er aus der Ermittlung bekommt und ihre Biedermann und Vuille (2016) forder- sich mit de-se-Referenzen als Beob- Aussagen anpasst. ten, dass der Abgleich der Fakten mit achter und Teilnehmer der damaligen einer Hypothese immer in beide Beweis- Situation identifiziert. Statistisch kor- Das Korrespondenz-Erfordernis als Richtungen gemacht werde: Ermittlungs- reliert der Gebrauch der ersten Person äussere Validität ergebnisse können sowohl mit der Un- singular mit Ehrlichkeit (Pennebaker, Die bekannteste Version der Korrespon- schuldsvermutung als auch mit der Tat- 2011, S. 153). Eine Beschreibung denztheorien stammt von Thomas von hypothese kompatibel sein. Wichtig ist, kann nach Sperber und Wilson (1995, Aquin (1918, art. I)6 und besagt: „Ideen in welche Beweisrichtung sie grösseres S. 247 ff.) eine direkte Behauptung sind dann »wahr«, wenn sie mit der Sache Gewicht entfalten. sein (z. B. „das Taxi hinter mir war übereinstimmen“. Russell (1912, S. 89) Grenzen der Korrespondenzprüfung: gelb“) oder sie kann mit Quellenin- fügte drei Bedingungen hinzu, damit eine Eine Aussage kann erfunden sein und formation ergänzt werden (z. B. „ich Behauptung als zutreffend gelten könne: trotzdem mit den Fakten übereinstim- sah im Rückspiegel, dass das Taxi gelb 1. Sie muss so formuliert sein, dass sie men, entweder aus Zufall, oder weil ein war“). In beiden Beispielen ist eine widerlegbar ist; d. h. die Falschheit der Lügner sich irrt oder weil er Fakten aus de-se-Referenz vorhanden. Behauptung muss theoretisch möglich zweiter Hand kennt und ausnutzt. Die Wenn wichtige Sätze nur mit passsiven sein; Schreibende hatte als Psychotherapeutin Verbformen, als „man“ oder „es“ daher 2. „Wahrheit“ und „Falschheit“ sind die im Gefängnis einen Patienten, der im Frei- kommen, oder wenn sie aus unwider- Eigenschaften der Behauptung nicht gang auf jemanden geschossen hatte. Da legbaren Sätzen bestehen, fehlt es an der Fakten (vgl. Schweizer, 2015, ihm die Sicherheits-Verwahrung drohte, Verbindlichkeit. Wenig belastbar wären S. 22); übernahm er die Verantwortung für einen die Sätze: „Ja also, es ist Scheisse pas- 3. „Wahrheit“ oder „Falschheit“ eines Einbruch, den ein anderer Gefängnisin- siert“, oder: „Wenn Sie es sagen, wird Glaubens an die Behauptung hängen sasse gleichzeitig verübt hatte und von es so sein“ oder „ja, das kann man so immer von etwas ab, das ausserhalb dem er sich hatte berichten lassen (N. B. sagen“. Nichtsdestotrotz sollten Befrager dieses Glaubens liegt. Spuren widerlegten später das Pseudo- solche Zugeständnisse positiv würdigen Wenn eine Aussage diese Kriterien nicht Alibi). Da die Übereinstimmung einer Be- und einen neuen freien Bericht einfor- erfüllt, kann sie nicht als zutreffend be- hauptung mit anderen Ergebnissen bloss dern, wie es soweit kommen konnte, dass zeichnet werden, man weiss aber nichts ein guter Abgleich darstellt, müssen Ge- „die Scheisse passiert“ ist, solange bis über ihre mögliche Falschheit. Tarski richte freisprechen, wenn gewisse Punkte das „wer, was, wann, wo, wie, warum“ (1977) entledigte sich des Absolutheits- unbeweisbar bleiben, selbst wenn viele aufgeklärt ist. Nicht-Falsifizierbarkeit wird anspruchs des Begriffs „Wahrheit“ und Fakten für die Schuld sprechen und rein mit Verschachtelung und unnötigen Ver- relativierte die Konsistenztheorien. Er gar nichts für die Unschuld (Ill, mündliche neinungen erreicht. Solchen rhetorischen präzisierte: „eine Behauptung über Fak- Mitteilung 2015). Tricks soll man mit Präzisierungsfragen ten ist genau dann »wahr«, wenn sie den begegnen oder sie als solche vorhalten. Fakten, die sie beschreibt, entspricht und Herleitung von Dimension I: Ein Mangel an formaler Validität zeigt wenn diese existieren“. Die epistemische Die formale Verbindlichkeit von sich noch in anderen Konstellationen: Aussagen Sichtweise (Schweizer, 2015, Schum, Wenn Pseudo-Erinnerungen berichtet 1994) geht vom erkennenden Subjekt Austin (1962, S. 1, S. 5, S. 148) definierte werden (vgl. Reality Monitoring Items 2 aus, das aufgrund von Teilinformationen die Aussage als Sprechakt, welcher Zu- & 8 unter 6. Psychologische Aussagen- über Geschehnisse der Welt einen quali- stände von Gegebenheiten oder Fakten analyse), wenn Fremdsprachige gramma- fizierten Glauben entwickelt. Sie bezwei- beschreibt. Dies erlaubt uns, basierend tikalische Fehler machen, oder als Folge felt jeden absoluten Wahrheitsanspruch, auf den Vorgaben von Peirce, Tarski und untauglicher Gesprächsführungstechnik auch den von Tarski. Vielmehr geht es Russell, die notwendigen sprachlich-for- oder verfälschender Protokollierung. um den Vergleich zwischen verschiede- malen Bedingungen zu definieren, wel- 4. Theorien über „Falschheit“ nen Erkenntnisquellen (z. B. Aussage mit che erfüllt sein müssen, damit wir einer aus Psychologie und Soziologie.7 Foto oder Berechnung). Oft wird dem na- Aussage Glauben schenken dürfen. Damit turwissenschaftlichen Sachbeweis mehr sich Sätze einer Aussage als Behauptun- Glauben geschenkt, was nur dann richtig gen zur Rekonstruktion vergangener Er- Wahrnehmungs‑ und Gedächtnis­ irrtümer ist, wenn er nicht aufgrund sprachlicher eignisse eignen, müssen sie folgende Be- Missverständnisse zustande kam. Hier ein dingungen erfüllen: Wahrnehmung ist das Wiedererkennen Beispiel: Ein Opfer sexueller Gewalt sagte 1. Eine Beschreibung enthält eine Be- von Mustern, die als komplexe mentale aus, der Beschuldigte habe sie gezwun- hauptung über hypothesenrelevante Schemata im Gedächtnis abgespeichert

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sind (Gregory, 2005). Sie wird durch die serei auf einem Parkplatz. Zuerst holten ungünstige Umstände geltend; sie spie- Aufmerksamkeit gelenkt und stark gefil- die Forscher einen freien Bericht ein. Dann len den verursachten Schaden herunter; tert. Um eine Überlastung zu vermeiden, erfragten sie zusätzliche Informationen, drehen den Spiess um und machen die unterdrückt das Hirn viele eintreffende Si- welche durch sichergestellte Gegenstände Opfer zu Tätern; und schelten ihre Kritiker gnale, wenn es sie für irrelevant hält. Men- belegt waren, über die nichts in die Öf- als Heuchler. Schliesslich behaupten sie, schen haben die Tendenz, unvollständige fentlichkeit gelangt war. Fünf Monate sie seien durch eine höhere Loyalität an Wahrnehmungen durch Deutungen zu er- nach dem Vorfall berichteten die Zeugen die Pseudo-Werte ihrer Bande gebunden gänzen und zu „verbessern“ (Wertheimer, immer noch eine hohe Zahl (d. h. 50 – 80) („Omertà“, „Ehre“, „Respekt“). 1925): Man erkennt nur ein bestimmtes relevanter Details. Mehr als 80 Prozent Bewusstes Fabrizieren (Lügen) Schema und nicht ein fotografisches Ab- der Erinnerungen waren korrekt. Die bild des Objekts. Zusammengefasst: Nicht 20 Prozent Irrtümer beschränkten sich auf Kelly und Sagarin (1988, S. 65) definier- alles was geschieht, wird wahrgenom- die Zahl der Schüsse (es waren 8, mehr als ten Lügen als „Missbrauch der Sprache, men und nicht alles was wahrgenommen man intuitiv zählen kann) und auf Zeugen … welche Ereignisse, Personen, Motive wurde, ist im Langzeitgedächtnis gespei- an der Peripherie des Geschehens. Die und Absichten falsch darstellt. Definiti- chert. Als Faustregel gilt: Die Grenzen von Angst der Zeugen korrelierte positiv mit onsgemäss glaubt der Lügner seiner ei- Wahrnehmung und Gedächtnis sind bei der Genauigkeit ihrer Angaben. Danach genen Darstellung nicht“. Die Absicht zu all jenen Grössen erreicht, für welche die stellten die Forscher Suggestivfragen über lügen lässt sich schwer beweisen, kritisier- Menschheit Instrumente erfinden musste, einen nicht-existierenden „zerbrochenen bar sind nur die Ungereimtheiten. Lügner um sie zu messen oder zu speichern (Uhr, Scheinwerfer“. Keiner der realen Zeu- arbeiten viel mit Selbst-Suggestion, sie re- Tachometer, Thermometer, Agenda). Dort gen fiel in die Falle. Nebst guter Verneh- den sich ihre Version solange ein, bis sie ist die Zuverlässigkeit von Aussagen oft mungstechnik macht es also einen Unter- fast daran glauben. Nur Gewohnheitslüg- gering. schied, ob Erzählungen im Labor erhoben ner sind schamlos und werden entspre- Früher hielt es niemand für möglich, werden, oder ob es sich um eine reale chend leicht entlarvt. Das stört sie nicht, elaborierte Erfindungen ins Gedächtnis Situation handelt. Die Umstände eines da sie glauben, dass alle Leute lügen. einer normal intelligenten erwachsenen Verbrechens alarmieren das Hirn ungleich Anders als im Krimi ist Täuschung nicht Person einzuschmuggeln. Doch 1995 mehr als freiwillige Abenteuer oder Ex- notwendigerweise ein Zeichen für Schuld konnten Loftus und Pickrell Pseudo- perimente. Sie führen zu einem Zustand am vorgeworfenen Tatbestand, sondern Erinnerungen an die frühe Kindheit mit erhöhter Aufmerksamkeit und besonders sie kann aus andern Gründen erfolgen: suggestiven Techniken künstlich im Labor klarer Erinnerungen. Das Speichern von Versicherungsansprüche, Schutz privater erzeugen. Ein Viertel der Versuchsperso- gefährlichen Ereignissen gehört zur Über- Beziehungen oder Angst vor Drohungen nen glaubten an die Erinnerungsverfäl- lebensausstattung des Menschen (Schac- und Nachteilen. schungen aufgrund von Quellenamnesie. ter, 2001, S. 178). Schwer nachzuweisen sind punktuelle Diese entsteht weil sich der Mensch bes- Lügen. Vrij (2008, S. 266): „Offensichtlich ser an Inhalte erinnert als an die Quelle Illusionen und kognitive bestehen nicht alle Lügen aus einer Be- der erhaltenen Information. Sie spielt bei Verzerrungen schreibung von Ereignissen, welche eine wiederholten Einvernahmen eine Rolle: Illusionen und kognitive Verzerrungen ge- Person gar nicht erlebt hat. … Leute kön- Wenn vorschnell Information preisgege- hören zur Normalpsychologie. Zu einem nen … Erlebnisse und Orte schildern, die ben wird, kann ein Befragter später mei- gewissen Grad tendieren wir alle zu Il- sie tatsächlich kennen, aber sie ändern nen, diese stamme aus Erinnerungen an lusionen und blenden unangenehme Er- den Zeitpunkt“ (z. B. „ich habe den gan- den Vorfall und nicht aus Erinnerungen kenntnisse über die eigene Person lieber zen Abend Videos geschaut“). Ein Trans- an die Vernehmung (Teleskoping). Vor aus. Man präsentiert sich in der Öffent- fer kann von einer Person auf eine Andere der Jahrtausendwende führte der naive lichkeit in optimalem Licht, macht un- erfolgen, z. B. Bandenmitglieder schieben Glaube an Zeugenaussagen – ungeachtet aufrichtige Komplimente und gibt sozial die Schuld auf einen Sündenbock, um ihrer Entstehungsgeschichte – zu meh- erwünschte Antworten – statt ehrliche. den Rädelsführer zu schützen. Zudem reren Justizirrtümern (z. B. die Wormser Filmkomödien zeigen, dass soziale Bezie- notierte Vrij, dass viele Lügen schwer Prozesse, bei denen Kindergartenkinder hungen ohne verbale Pflege zusammen- überprüfbare flüchtige Phänomene wie haarsträubende Anschuldigungen fabri- brechen würden. Viel öfter als auf krasse Gefühlszustände oder Motive betreffen, ziert hatten). Ein neues Experiment be- Lügen trifft man daher auf Verdrehun- etwa Ausreden über Schlafwandeln oder trifft zeitnahe Erinnerungen über stres- gen und Auslassungen. Aufrechte Bürger gigantische Erinnerungslücken. Letztere sige Ereignisse. Morgan III et al. (2013) drücken sich vor Gericht zuerst vor jeder kann man anzweifeln, wenn Nebensäch- testeten mit 861 Elite-Soldaten an einem klaren Darstellung und bröseln erst nach lichkeiten wunderbarerweise sehr detail- Überlebens-Training den Effekt von un- Vorhalten relevante Informationen her- liert erinnert werden. Schliesslich können sachgemässer Befragung. Mit Suggestiv- aus. falsche Angaben aus Übertreibungen von fragen stieg die Rate von Fehlangaben zu Bei Delinquenten sind kognitive Ver- realen Erlebnissen bestehen. einer nicht-vorhandenen Waffe von 3 auf zerrungen sozialer Werte als Rechtfer- Psychopathologische Phänomene 27 Prozent. tigung beliebt. Sykes und Matza (1957) Nun gibt es auch Forschung über Zeu- beschrieben diese Neutralisierungstech- Konfabulationen sind gutmütige Erfin- gen von realen Verbrechen. Yuille und niken. Um sich von Schuldgefühlen zu dungen mit denen kleine Kinder, geistig Cutshall (1986) verfassten eine Studie befreien, definieren sich Täter als „Opfer Behinderte und Demenzkranke ihre ko- über 13 Augenzeugen eines Raubüber- der Gesellschaft“; sie bestreiten die Ver- gnitiven Defizite überdecken. Sie werden falls mit anschliessender tödlicher Schies- antwortlichkeit für die Tat und machen ad hoc gebildet und sind in jeder län-

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geren Konversation leicht durchschau- die neue Informationen zu Tage fördern Es basiert auf Konzepten der kognitiven bar. Verleugnung als Symptom (DSM-IV, (DePaulo et al., 2003). Psychologie (Sporer 2004, S. 98ff). Viele S. 752) sieht man bei Persönlichkeitsge- Selbst wenn wir eine Information dem Items sind den RK ähnlich, aber RM ent- störten und Geisteskranken. Der Mecha- Geist des Sprechers zuordnen können, ist hält noch ein Alarmsignal für erfundene nismus dient dazu, unangenehme Tat- noch nicht klar, wie sie da hinein gelangt oder sich eingeredete Inhalte. Besonders sachen systematisch auszublenden und ist. Unabhängige Ermittlungsergebnisse hilfreich sind das RM-Item 2 der Nennung erstreckt sich über weite Lebensbereiche. können eine nicht-suggestiv erhobene des Sinneskanals als Quellenangabe für Er ist nicht bloss eine Ideologie, die mit Aussage verankern. Mit genügend Ankern eine echte Erinnerung und das Item 8 des Gleichgesinnten geteilt wird, oder ein darf man die Quellenvalidität einer ver- exzessiven Gebrauchs von Wörtern über tatsachenwidriges Abstreiten eines Vor- bindlichen, konsisten Aussage vorausset- Denkvorgänge („ich denke …“, „es muss falls. Wahn mit Halluzinationen kann zen (Ill, 2015). Nach dem Erheben des logischerweise so gewesen sein …“), die ebenfalls Falschaussagen bewirken. Auf- freien Berichts sind Präzisierungsfragen auf (auto-)suggestive Prozesse hinweisen grund seiner Realitätsferne ist er leicht zu zu unerwähnten Quellen zu stellen, z. B. (Vrij, 2008, S. 262). erkennen. Er treten bei Geisteskrankhei- „Woher wissen Sie, dass das Taxi gelb ten und Dementen auf, oder im Delirium. war?“. Suggestive Befragungsweise mit Best practice: Zeugentüchtigkeit, Wahnvorstellungen ohne Halluzinatio- vorschnellem Präsentieren von Antwor- Aussagen-Entstehung und normative Validität nen trifft man bei paranoiden Persön- ten verhindert Quellen-Attribution, kann lichkeiten und Querulanten. Diese (z. B. Pseudo-Erinnerungen verursachen und Nach der Entdeckung von Pseudo-Erinne- Eifersuchtswahn) sind weniger realitäts- mindert den Beweiswert von Aussagen rungen musste die Methodik der Gutach- fern, aber ebenso unkorrigierbar wie der erheblich. ten erweitert werden. Die best practice Wahn von Geisteskranken. in Deutschland (BGH 1 StR 618/98) und 6. Psychologische Aussage­ Pathologische Phänomene werden in nanalyse der Schweiz ist hinlänglich bekannt und diagnostische Kategorien (deren Grenzen wird nicht neu aufgerollt. Eine psycho- fliessend sind) aufgeteilt, je nach darun- Psychologische Gutachter werden bestellt, logisch glaubhafte Aussage ist eine, die terliegender Störung. Eine ausgedehnte wenn ein Wort gegen das Andere steht einer erlebnisbasierten Aussage ähnlich Verleugnung kann in einen Wahn ausar- oder Zweifel an der Zeugentüchtigkeit ist und bei der es keine konkreten Hin- ten. Im Einzelfall kann es unmöglich sein, einer Person auftauchen. Früher stand weise gibt, dass sie durch Suggestion zu- herauszufinden, ob eine geäusserte Un- der Vergleich der Aussage mit Kriterien- stande gekommen wäre: Nicht mehr und wahrheit eine Verleugnung sei oder Aus- katalogen im Vordergrund (normative nicht weniger. Ein Gutachten kann also druck freien Willens. Validität). Dazu gibt es zwei Schulen. der unbekannten Grundwahrheit wider- Beide erkennen ungefähr 70 Prozent der sprechen, genau wie es beim Abgleich 5. Quellen-Validierung Aussagen als entweder erfunden oder er- materieller Spuren zu Fehlidentifizierun- Aus den obigen Ausführungen resultiert, lebnisbasiert, mit entsprechend hoher Irr- gen kommen kann (Biedermann & Vuille, dass nicht bloss sprachliche Verbindlich- tumsquote (Vrij, 2008, S. 233 ff., S. 274). 2016). Vom Fehlen einer genügender Zahl keit und Widerspruchsfreiheit die Aussa- Im deutschen Sprachraum haben sich die von Realkennzeichen oder vom Anzeigen genbelastbarkeit determinieren, sondern 19 Realkennzeichen (RK) durchgesetzt eines Alarmsignals alleine, kann nicht auf dass mögliche Erinnerungs-Quellen einer (BGH 1 StR 618/98, BGE 6B_572/2008). die „Falschheit“ der Aussage geschlossen Erzählung beurteilt werden müssen. Entwickelt wurden sie anhand wahrer werden, geschweige denn auf Bösgläu- Bei Angaben unklarer Urheberschaft, und erfundener Erlebnisse im Experiment bigkeit. In speziellen Situationen, etwa d.h. Einlassungen des Anwalts im Namen und später ergänzt durch Kennzeichen, wenn ein Opfer betäubt war, sind Erin- des Klienten oder schriftlich eingereichten die man nur in Gerichtsprotokollen fin- nerungen so lückenhaft, dass die Anwen- Stellungnahmen des Klienten, ist die Be- det (Volbert & Steller, 2014). Die RK er- dung der Kriterien unmöglich ist. urteilung der Aussagenvalidität in keiner fassen unterschiedliche Situationen und Beim Einfügen eines Glaubhaftig- Dimension möglich. Personen und können unmöglich alle keitsgutachtens in die Gesamtheit der Sofern keine der vorhergehenden Fra- zusammen zutreffen. In der Anwendung Beweismittel ist darauf zu achten, dass gen im Protokoll die vom Befragten er- bedürfen sie genauer Spezifizierung sich psychologische Ausführungen nicht zählte Information enthielt, kann man (Arntzen 2011), damit man sie zuverlässig mit juristischen Beurteilungsmassstäben den Gehalt dieser Antwort eindeutig sei- auslegen kann. Gewicht und Trennschärfe überschneiden. Eine Konkurrenz besteht ner Psyche zuordnen. So sagte ein Verhaf- jedes einzelnen Kriteriums müssen eben- besonders zum RK 1 „innere Konsistenz“. teter nach einer Messerstecherei spontan falls berücksichtigt werden (Volbert & Experten sollten ihrerseits auf diese Ge- auf den Vorwurf der schweren Körperver- Steller, 2014), um die Überbewertung von fahr aufmerksam machen. letzung: „Ich wollte N. nicht umbringen. schwachen Items zu vermeiden. Die RK 7. Synthese Ich weiss, man kann jemanden umbrin- beschränken sich auf die Unterscheidung gen, wenn man das Messer in der Wunde zwischen erfundener Geschichte und sel- Winter (2006, S. 145 ff.) schlug vor, umdreht, …“. Dann erging er sich lang- ber erlebten Ereignissen. Sie sind nicht „Wahrheit“ durch „qualifizierten Glau- fädig über Techniken des Tötens, obwohl auf Unterscheidbarkeit zwischen echten ben“ zu ersetzen, ein Begriff, der sich in niemand zuvor davon gesprochen hatte. Erinnerungen und Pseudo-Erinnerungen der Philosophie durchgesetzt hat. Das In der Nacht erlag N. seinen Verletzun- angelegt und kaum darauf getestet wor- Gericht als qualifiziertes Gremium kann gen (Stichwunden ins Herz). Als Folge den (Volbert & Steller, 2014). Im engli- im Strafverfahren feststellen, dass es den der kognitiven Überlastung beim Lügen schen Raum dominiert das Reality Moni- Glauben an die Unschuldsvermutung im passieren vielfach Freud’sche Versprecher, toring (RM) von Johnson und Ray (1981). angeklagten Tatbestand verloren hat,

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wenn sie unter der Last von prozessrecht- der menschlichen Wahrnehmungs‑ 2) innere Konsistenz (Dim. III) vorhanden lich korrekt erhobenen Tatsachen zusam- und Erinnerungsfähigkeit zum Rest ist; menbricht. Das Wort „Glaube“ weckt der Beweismittel passen. 3) normative Validität des Geständnisses aber Assoziationen, die dem öffentlichen Sofern die Korrespondenz-Dimension (Kriterienkataloge) gemäss aussage- Vertrauen in die Justiz wenig zuträglich zusammen mit der formalen Dimen- psychologischem Gutachten gegeben wären, wohingegen „Validität“ unbelas- sion erfüllt ist, ist das i. d. R. hinrei- ist; tet von volkstümlichen Konnotationen ist chend für einen qualifizierten Glau- 4) keine suggestive oder autosuggesti- und in den Sozialwissenschaften allge- ben. Für sich alleine ist Dimension II ven Einflüssen aktenkundig sind, oder mein verwendet wird. Eine valide d. h. be- weder notwendig, noch hinreichend. die Unabhängigkeit des Beschuldigten lastbare Aussage zeichnet sich i. A. durch III. Die Hilfsdimension der Inhalts-Validität gegenüber vorhandenen Suggestive- Anker und die Abwesenheit von akten- ist die innere Konsistenz der Aussage. inflüssen anhand der psychologischen kundigen Gründen aus, ihr nicht zu glau- Auch sie wird eingeschränkt durch Tests und den Protokollen belegt ist; ben. Dabei soll die Nullhypothese H0: „die Schwächen von Wahrnehmung und 5) es keine weitere Person gibt, die ein Aussage hat keine Erlebnisbasis“ mit Hilfe Gedächtnis. ebenso schlüssiges Geständnis nach der vier Dimensionen widerlegt werden. Dimension III ist weder notwendig, Punkten 1 bis 4 abgelegt hat (unab- noch hinreichend. Sie erlaubt es Ver- hängig von einer Mittäterschaft). Sprachliche, logische und psychologi- nehmern, weitere Informationen zu 6) die naturwissenschaftlich etablierten sche Aspekte der Validitätsprüfung erhalten. Tatsachen sich nicht als harmlose Er- zusammenfügen IV. Subsidiär ist Quellen-Validität, welche eignisse schlüssig erklären lassen. Für die angestrebte Begriffsklärung in die Echtheit der Gedächtnisinhalte als Die Schreibende plädiert mit Ill (2015) der Aussagenanalyse musste ein gewis- selber erlebte Ereignisse beurteilt. dafür, dass die Psyche von Befragten als ser Preis bezahlt werden. An der Eleganz Wenn die Aussage formal genügt ein virtueller Tatort zu behandeln ist, der der klassischen Logik (Inhaltsdimensio- (Dim. I) und mit anderen Beweismitteln während der Vernehmung mit grösster nen) mussten Abstriche gemacht werden (Dim. II) verankert ist, ist darf man die Sorgfalt betreten und dokumentiert sein aufgrund der mangelnden Perfektion des Dimension IV. als erfüllt ansehen. Wenn will. Moderne Gesprächsführungstechnik, Menschen als wahrnehmendes, informa- nicht, müssen Aussage-Entstehungs- die den Erinnerungsfluss nicht unterbricht tionsspeicherndes und ‑wiedergebendes geschichte und normative Validität mit oder Antwortoptionen voraus liefert (d. h. Subjekt. Eine gradlinige Erzählung über einem Gutachten untersucht werden. auf fragilen Gedächtnisspuren unqualifi- einen Vorfall von A bis Z ist nicht un- Zur Beurteilung von Zeugenaussagen: ziert herumtrampelt), ist für die Verwert- bedingt ein Zeichen für lebendige Erin- Wenn ein Wort gegen das andere steht barkeit der Aussagen unerlässlich. Die nerungen. Für die tägliche Praxis fasste und die Dimension II nicht geprüft wer- gezielte Anwendung der vier Validitätsdi- Arntzen (2011, S. 52 ff.) zusammen, wo den kann, sind hinreichende Bedingun- mensionen erlaubt gegenüber der altmo- man innere Aussagen-Konsistenz und gen für den qualifizierten Glauben an eine dischen Begrifflichkeit tiefere Einblicke in das Zusammenpassen mit andern Ermitt- Zeugenaussage genau dann gegeben, psychische Tatsachen und sie ermöglicht lungsergebnisse verlangen darf und wo wenn: das Formulieren präziser Vorhalte zur Si- Wahrnehmungslücken und ‑verfälschun- 1) sprachlich-formale Verbindlichkeit cherung von Information und zur Erhö- gen oder Erinnerungsverluste zu erwarten (Dim. I) vorliegt; hung ihres Beweiswerts. sind. 2) innere Konsistenz (Dim. III) vorhanden Die klassische Logik musste mit Dimen- ist; Anmerkungen sionen ergänzt werden, welche rhetori- 3) normative Validität (RK, RM) gemäss 1 Es wäre hilfreich, eine eindeutige Definition sche Ausweichmanöver entlarven und Gutachten gegeben ist; zu präsentieren, welche Syntax ein Satz haben unbekannten Quellen Rechnung tragen. 4) keine suggestiven oder autosuggesti- müsste, damit er als Behauptung im Sinne der Logik gelten könnte. Die Linguistik zeigt, dass Die erste und die vierte Dimension sind ven Einflüsse aktenkundig sind, oder Beziehungen zwischen Syntax und Diskursfunk- gegenüber dem naturwissenschaftlichen die Unabhängigkeit des Zeugen ge- tion unendlich komplex sind (Austin, 1962) und Beweismittel spezifisch für Aussagen über genüber vorhandenen Suggestivein- dass es diese deshalb nicht geben kann. persönliche Erinnerungen, formuliert in flüssen sowohl allgemein anhand psy- 2 Die probabilistische Denkweise (vertreten durch Schweizer, 2015) wird in Gutachten verwendet, menschlicher Sprache. chologischer Tests belegt ist als auch hat sich aber in der juristischen Beweiswürdi- I. Die Dimension der sprachlich-formalen speziell in den Protokollen; gung nicht durchsetzen können. Verbindlichkeit besteht aus der Falsifi- 5) der Beschuldigte keine spontane Aus- 3 Regressus ad infinitum. zierbarkeit der Behauptungen und den sage gemacht hat, welche die natur- 4 „Induktion folgert mit einer Verallgemeinerung, dass etwas auf eine ganze Klasse von Phäno- de-se-Referenzen des Sprechenden wissenschaftlich etablierten Tatsachen menen zutreffen müsse, wenn es sich in Stich- („ich“) als wahrnehmendes, teilneh- als harmlose Ereignisse schlüssig er- proben als zutreffend erwiesen hat“ (Peirce, mendes und erinnerndes Subjekt des klärt. 1978/1931, 2636). fraglichen Vorfalls. Zur Beurteilung von Geständnissen: 5 Hempel nannte es Pseudo-Syllogimus. Der aris- totelische Syllogismus ist das Denkschema der Dimension I ist notwendig aber nicht Wenn Dimension II nicht geprüft werden juristischen Beweisführung. Die Gesetzesvor- hinreichend. kann aufgrund mangelnder Beweismittel, schrift ist der Obersatz, der ermittelte Lebens- II. Die Haupt-Dimension der Inhalts- sind hinreichende Bedingungen für den sachverhalt der Mittelsatz und mit der Konklu- Validität ist die äussere Validität der qualifizierten Glauben an ein Geständnis sion urteilt das Gericht darüber, ob der Lebens- sachverhalt dem Obersatz entspricht oder nicht. Aussage im Abgleich mit den andern genau dann gegeben, wenn: Der Syllogismus führt nur dann zu zwingend Beweismitteln (Korrespondenz). Aus- 1) sprachlich-formale Verbindlichkeit richtigen Schlussfolgerungen, wenn der Ober- sagen sollten innerhalb der Grenzen (Dim. I) vorliegt; satz aus einem ubiquitären Prinzip besteht (Ge-

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setzesnorm oder allgemeingültiges Naturgesetz Johnson, M. K. & Raye, C. L. (1981). Reality moni- nication and cognition. 2. Aufl. Malden, MA: wie der Schwerkraft). toring. Psychological Review, 88, 67 – 85. Blackwell. 6 Original: „Veritas est adaequatio rei et intellec- Kelly, R. J., & Sagarin, E. (1988). Criminal justice Sporer, S. L. (2004). Reality monitoring and detec- tus“. and the cretan liar: Unmasking strategies of dis- tion of deception. In: P. A, Granhag, & L. A. 7 Hier stösst der top-down Modus der klassischen simulation and deception. Journal of Criminal Stromwall (Hrsg.), The detection of deception Logik mit den phänomengeleiteten Sozialwis- Justice, 16(1), 61 – 72. in forensic contexts, (S. 64 – 201). Cambridge senschaften (bottom-up) unversöhnlich zusam- Köhnken, G. (2007). Fehlerquellen in aussagepsy- UK: Cambridge University Press. men. chologischen Gutachten, in: R. Deckers & G. Sykes, G. M. & Matza, D. (1957). 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Kriminalistik – Campus 125

Redaktion: Thomas Schulte, Kriminaldirektor, Leiter Fachgebiet III.3 (Phänomenbezogene Kriminalstrategie), Deutsche Hochschule der Polizei

Die vorliegende Ausgabe der Kriminalistik beinhaltet zwei initiierten und nach wie vor koordinierten Maßnahmen des Hausarbeiten des Masterstudiengangs „Öffentliche Verwaltung „SPOC (single point of contact) Taschendiebstahl“ für die EU – Polizeimanagement“ an der Deutschen Hochschule der Poli- von erheblicher Bedeutung, gerade im Bereich der schnellen zei. Die Hausarbeiten wurden als Prüfungsleistung im Modul und koordinierten Ermittlungen nach „Mobile Organised Crime „Kriminalität – Phänomen und Intervention“ im Frühjahr 2016 Groups“, also international agierenden Banden. gefertigt. Herr Kerzenmacher befasst sich – inhaltlich stimmig zu Herrn Herr Gögelein befasst sich mit einer – insbesondere in bun- Gögelein – mit konkreten Ermittlungsansätzen zur Zuordnung desdeutschen und europäischen Großstädten – höchst rele- und Identifizierung gestohlener Gegenstände. Die geringen vanten Problematik, nämlich der nachhaltigen Bekämpfung Aufklärungsquoten bei Eigentumsdelikten, insbesondere aber des Taschendiebstahls am Beispiel des PP München. Nach ei- auch die polizeilich vorhandenen Möglichkeiten der Sachfahn- nem kurzen geschichtlich-deliktischen Rückblick betrachtet er dung, bieten nur wenige Chancen der Wiedererlangung ent- die Phänomenologie des heutigen Taschendiebstahls und stellt wendeter Güter. Herr Kerzenmacher geht in seiner Arbeit auf fest, dass es sich bei den Tätern zumeist um professionell or- konkrete Optimierungspotenziale im Bereich der Sachfahndung ganisierte und international agierende Gruppen handelt. Im ein und stellt dar, welche internationalen und welche kommer- Weiteren erfolgt eine sehr pragmatische Zusammenstellung ziellen Datenbanken die Wiedererlangung verbessern können. von Best-Practice-Ansätzen, die in ihrer Gesamtheit zu den Er- Abschließend diskutiert er neue Möglichkeiten der Sachfahn- gebnissen, einer geringen Fallzahl und einer hohen Aufklä- dung und hierbei insbesondere die Veröffentlichung polizeili- rungsquote im PP München führen. Besondere Erwähnung ver- cher Fahndungsbestände. dienen die Darstellungen zur wichtigen Rolle der Münchener Beide arbeiten widmen sich aktuell relevanten Themen der Ei- Justiz zur Strafzumessung, welche aus meiner Sicht als ehemals gentumskriminalität und zeigen Potenziale auf, wie die Qualität Verantwortlichem Leiter der Taschendiebstahlsbekämpfung in polizeilicher Ermittlungen auf dem Sektor der Eigentumskrimi- Köln einen erheblichen Einfluss auf die Fallzahlen haben. Da- nalität verbessert werden kann. neben sind aber auch die Darstellungen des vom PP München Thomas Schulte, Kriminaldirektor im Hochschuldienst

Öffentliche Datenbanken zur Identifizierung und Zuordnung von gestohlenen Gegenständen

Von Polizeirat Daniel Kerzenmacher, M.A., Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg

1. Einführung mit einer Schadenssumme von jährlich über 623 Millionen Euro Mit einem Anteil von knapp 40 Prozent an der Gesamtkrimina- beim einfachen sowie über 1,8 Milliarden Euro beim schweren lität dominieren Diebstahlsdelikte auch im Jahr 2015 die Polizei- Diebstahl (vgl. Bundeskriminalamt 2016: 239 – 251) führen Eigen- liche Kriminalstatistik. Insbesondere die Wohnungseinbruchskri- tumsdelikte dennoch regelmäßig zu einer großen Betroffenheit minalität steht besonders im Fokus der öffentlichen Wahrneh- bei geschädigten Personen bzw. Institutionen. Gleichwenn Ver- mung, nicht zuletzt weil die bundesweiten Fallzahlen von knapp mögensverluste in einzelnen Fällen durch Versicherungsleistun- 110 000 Delikten im Jahr 2008 auf nunmehr über 167 000 De- gen wieder ausgeglichen werden, zeichnet sich die persönliche likte im Jahr 2015 kontinuierlich angestiegen sind und auch die Betroffenheit hierbei auch oft bzw. gerade durch den Verlust von Aufklärungsquoten mit knapp 15 Prozent schwindend gering ist. Gegenständen mit auch immateriellen Werten (z. B. Schmuck, Einen Anstieg von sechs bzw. sieben Prozentpunkten gegenüber Bilder, persönliche Daten auf Mobiltelefonen oder Notebooks, dem Vorjahr verzeichneten ebenfalls Taschendiebstähle sowie Gegenstände mit persönlichem Charakter, Geschenke, Anden- Diebstähle von unbaren Zahlungsmitteln (vgl. Bundeskriminal- ken usw.) aus, wie eine Untersuchung des Kriminologischen For- amt 2016: 4). schungsinstituts Niedersachsens (KFN) aus dem Jahr 2014 am Als Massendelikte prägen diese Straftaten nahezu alle Bereiche Beispiel des Wohnungseinbruchdiebstahls belegt (vgl. Wollinger des polizeilichen Aufgabenportfolios, sowohl in der Zuständig- et al. 2014: 17 ff.). Die geringe Aufklärungsquote lässt den Ge- keit der Schutz‑ als auch der Kriminalpolizei. Zwar verursachen schädigten hierbei in der Regel nur wenig Hoffnung, gestohlene die entsprechenden Delikte nicht die Schadensausmaße, die re- bzw. anderweitig abhandengekommene Gegenstände wieder gelmäßig durch Wirtschaftskriminalität hervorgerufen werden, zurückzuerlangen. Selbst wenn einzelne Täter ermittelt werden,

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ist die Tatbeute im Nachhinein oft nicht mehr brauchbar, auf- bungen von Gegenständen, die von größerem Wert sind und findbar oder (z. B. durch den Verkauf über das Internet) bereits polizeilich sichergestellt wurden, bislang aber keinem konkreten verwertet. Ähnlich verhält es sich, wenn abhandengekommene Tatort bzw. Eigentümer zugeordnet werden konnten. Sowohl Gegenstände zwar wieder aufgefunden werden, sich aber keiner ein Durchstöbern der einzelnen Datensätze als auch die gezielte konkreten Tat bzw. keinem Eigentümer zuordnen lassen. Suche mit Stichworten – soweit vorhanden auch (alpha-)num- Diesem Umstand widmen sich zunehmend öffentlich zugäng- merischen Individualkennzeichnungen – sind hier möglich (vgl. liche Internetdatenbanken, die Behörden, Geschädigten, Käufern Bundeskriminalamt 2016). oder Verkäufern von (gebrauchter) Ware dabei helfen sollen, Weitere deutschsprachige Datenbanken sind der Öffentlich- gestohlene oder auf sonstige Weise abhandengekommene Ge- keit – mit Ausnahme einzelner Fundbüros, die über öffentliche genstände als solche zu identifizieren bzw. wiederzuerlangen. Online-Verzeichnisse die Suche nach Eigentümern von registrier- Angefangen von behördlichen Verzeichnissen mit sichergestell- ten Fundsachen unterstützen (vgl. BerlinOnline Stadtportal 2016) tem Diebesgut bis hin zu kostenpflichtigen, gewerblichen Web- – nicht zugänglich. sites zur Inserierung und detaillierten Beschreibung entwendeter 2.1.2 Stolen Works of Art (INTERPOL) Gegenstände, bieten zahlreiche Datenbanken unterschiedliche Publikations‑ und Rechercheoptionen. Im internationalen Raum existieren hingegen gleich mehrere Dieser Aufsatz sollen einen Überblick zu den bekanntesten staatliche und zentrale Datenbanken, mit deren Hilfe öffent- dieser öffentlich zugänglichen Internetdatenbanken geben und lich nach entwendeten Gegenständen (Kategorie 1) gefahndet Möglichkeiten diskutieren, wie solche Datenbanken bei der Be- wird. Eine hiervon stellt beispielsweise INTERPOL mit dem Online- kämpfung und Prävention der Eigentumskriminalität besser ge- Verzeichnis „Stolen Works of Art“ zur Verfügung, das zwar als nutzt werden könnten. bebilderter Katalog gestohlener Kunstwerke keine direkten Such- optionen bietet, aber dennoch ein Stöbern in unterschiedlichen 2. Überblick Kategorien zulässt und mehr als 4750 gestohlene Werke umfasst In der Regel lassen sich Gegenstände, die in öffentlich zugäng- (vgl. INTERPOL 2016). lichen Internetdatenbanken gelistet werden, in zwei Kategorien 2.1.3 ICOM Red List unterscheiden: ●● Kategorie 1: Einen vergleichbaren Katalog betreibt das Pariser „International Sachen, die gestohlen oder anderweitig abhandengekommen Council of Museums“ mit der sogenannten „Red List“, die vor- sind und mittels Foto‑ und Detailangaben – im Idealfall auch rangig geplünderte Kulturgüter aus aller Welt beinhaltet und bei anhand einer (alpha-) nummerischen oder vergleichbaren indi- zuletzt 319 erfassten Datensätzen zumindest Recherchen nach viduellen Kennzeichnung – beschrieben bzw. identifiziert wer- Materialien, Alter und vermuteter Herkunft ermöglicht (vgl. Inter- den können. national Council of Museums 2016). ●● Kategorie 2: 2.1.4 Fahndungsdatenbank der Rumänischen Polizei Sachen, die durch die Polizei, andere Behörden oder private Personen/Institutionen aufgefunden bzw. sichergestellt wur- Eine im Vergleich sehr umfangreiche Online-Datenbank betreibt den, bislang aber keiner konkreten Straftat oder keinem Eigen- die Polizei in Rumänien, die der Öffentlichkeit auf ihrer Inter- tümer zugeordnet werden konnten. netseite für Prävention gleich mehrere Fahndungsverzeichnisse Sowohl in behördlichen als auch in privaten Verzeichnissen zentral zur Verfügung stellt. Neben Personen‑ und Vermisstenge- werden Gegenstände dieser beiden Kategorien gelistet, um nach suchen unterhält sie eine Datenbank zur Suche nach über 22 800 deren Verbleib bzw. deren Eigentümern öffentlich zu suchen. gestohlenen Fahrzeugen, die auch freie Recherchen anhand ei- ner Fahrzeugidentifizierungsnummer oder eines Kennzeichens 2.1 Behördliche Verzeichnisse erlauben. Darüber hinaus wird auf der Seite ein Katalog mit Die behördliche Fahndung nach entwendeten oder abhanden- gestohlenen Gegenständen publiziert, der – wenngleich ohne gekommenen Gegenständen (Kategorie 1) erfolgt grundsätzlich weitere Suchoptionen – mehr als 730 Bilder gesuchter Kunst‑ durch die Polizei, die sich hierzu in erster Linie den polizeiinter- und Wertgegenstände enthält (vgl. Politia Romana 2016). nen Fahndungssystemen bedient (vgl. Bundesministerium des 2.2 Private Verzeichnisse Inneren 2004). An die Öffentlichkeit tritt sie in der Regel nur bei herausragenden Ermittlungsfällen oder höheren Sachwerten Neben der überschaubaren Anzahl an behördlichen Datenban- heran, indem die meist regionalen Polizeidienststellen Fotos und ken bieten zwischenzeitlich zahlreiche private bzw. gewerbliche Beschreibungen von einzelnen Gegenständen publizieren. Ein öf- Anbieter öffentliche Verzeichnisse an, mit denen grundsätzlich fentlich zugängliches Fahndungsregister, das polizeilich gesuchte jeder Internetznutzer vermisste Wertgegenstände zur „Fahn- Gegenstände zentral listet, existiert in Deutschland aber bislang dung“ inserieren oder – vorausgesetzt der jeweilige Gegenstand nicht. wurde durch die betroffene Person auch in der Datenbank des Anbieters erfasst – abfragen kann. Die Anbieter werben oft mit 2.1.1 SECURIUS (BKA) vielfältigen Recherchemöglichkeiten. Beispielsweise können Käu- Für die Suche nach den Eigentümern sichergestellter Gegen- fer von gebrauchten Mobiltelefonen die IMEI-Nummer ihres so- stände (Kategorie 2) betreibt das BKA unter dem Namen „SE- eben erworbenen Gegenstandes mittels einer Datenbankabfrage CURIUS“ eine öffentlich zugängliche Internetdatenbank, die in überprüfen, um somit festzustellen, ob dieses von Anderen als Zusammenarbeit mit den Landeskriminalämtern und dem Zoll- gestohlen bzw. verloren gemeldet wurde. Die Datenbanken lis- kriminalamt zusammengestellt wird und einzelne, ausgewählte ten überwiegend gestohlene oder auf andere Weise abhand- Wertgegenstände (zuletzt knapp 9000 in der Gesamtzahl) listet. engekommene Gegenstände (Kategorie 1), wie sie seitens der Die Datenbank beinhaltet eine Auswahl an Fotos und Beschrei- Polizei hierzulande im Regelfall eben gerade nicht im Internet

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veröffentlicht werden. Die Inhalte der Websites erstrecken sich von immerhin EUR 65,- sowie eine vorherige Authentifikation, hierbei von kostenfreien Angeboten bis hin zu gebührenpflich- die in der Regel auch einen Eigentumsnachweis für die vermisste tigen Inseraten oder Abfragemöglichkeiten, die keine vorherige Sache verlangt. Der Betreiber ist Mitglied bei der Deutschen Anzeige bei der Polizei oder einer anderen Behörde erfordern. Gesellschaft für Kriminalistik (DGfK) und unterhält eine eigene Eine Überprüfung der Eingaben oder eine Authentifikation fin- Redaktion, die im Gegensatz zu anderen Anbietern auch telefo- den in der Regel ebenso wenig oder nur in geringem Umfang nisch zu erreichen ist (vgl. Pro Versicherer 2016). statt. Angefangen von einfachen Textbeschreibungen bis hin zu 2.2.4 CheckMEND (international) detaillierten Sachverhaltsschilderungen und Fotos bieten die ein- zelnen Datenbanken zudem sehr unterschiedliche Datenqualitä- Eine internationale Fahndungs-Website betreibt die britische ten und ‑mengen. Firma „Recipero Limited“ unter dem Namen „CheckMEND“, die laut eigenen Angaben mehrere Datenbanken bei der Fahn- 2.2.1 Protexxo dungsabfrage von vermeintlich gestohlenen bzw. vermissten Eine dieser Online-Datenbanken mit entwendeten und verloren Gegenständen verknüpft. Hierfür greift die Firma u. a. auf ihr gegangenen Gegenständen (überwiegend Mobiltelefongeräte) separat betriebenes öffentliches Eigentumsregister unter www. betreibt die Firma Henz Media aus Baiersdorf unter dem Namen immobilise.com zurück, in dem grundsätzlich jede Privatperson „Protexxo“. Neben einer Auflistung von etwa 500 Steckbriefen oder Firma Wertgegenstände inserieren und bei Bedarf auch vermisster Geräte bietet die Seite eine gezielte Recherche nach als gestohlen bzw. abhandengekommen deklarieren kann. Über erfassten IMEI‑ oder Seriennummern. Für die Inserierung ent- 28 Millionen registrierte Wertgegenstände soll allein die Daten- sprechender Geräte ist die Angabe eines Namens sowie einer bank dieser Website beinhalten. Sobald zuvor registrierte Gegen- E-Mail-Adresse ausreichend. Darüber hinaus ermöglicht der An- stände über die Website als gestohlen oder vermisst gemeldet bieter die Generierung von sogenannten ID-Codes, mit deren werden, sind diese sowohl unter der Seite www.checkmend. Hilfe Nutzer ihre Gegenstände bei dem Betreiber registrieren und com als auch in einer gemeinsam mit der britischen Polizei be- mittels eines mit individuellem Code versehenen Klebeetiketts triebenen Datenbank namens „National Mobile Property Regis- kennzeichnen können. Der Verkauf entsprechender Klebeetiket- ter“ (NMPR) gelistet, die die britische Polizei nach Auskunft des ten dient offensichtlich dem finanziellen Unterhalt der Website Unternehmens u. a. bei Kontrollen von potentiellem Diebesgut und ist zumindest im Ansatz mit den Fahrrad-Codier-Aktionen regelmäßig nutzen und auch mit eigenen polizeilichen Fahn- der Polizei vergleichbar, in denen Fahrräder mit einer individuel- dungsdaten bestücken würde. Die Inserierung von gestohlenen len Kennzeichnung graviert werden, um sie später einer regist- Gegenständen bzw. die Suche anhand von Gegenstandsbe- rierten Person zuzuordnen (vgl. Henz Media 2016). schreibungen oder Individualkennzeichnungen erfordern die Ab- gabe einer (geringen) Gebühr sowie eine vorherige Registrierung. 2.2.2 Seriennummern-CHECK Bei einer Suchanfrage wird nach Angaben des Betreibers auch Unter diversen zusammengehörigen Internetadressen (www.seri- auf Daten von Versicherungsträgern und Mobilfunkunternehmen ennummern-check.de, www.fahrzeug-identifizierungsnummern- zurückgegriffen, die ihrerseits ebenfalls sogenannte „Blacklists“ check.de, www.rahmennummern-check.de, www.imei-check.de) erstellen, um entwendete Gegenstände als solche zu identifizie- betreiben zwei Geschäftspersonen aus Mülheim an der Ruhr eine ren. In den USA will der Betreiber zudem Fahndungsbestände Datenbank zur Suche nach Seriennummern oder vergleichbaren des FBI berücksichtigen. Verifiziert werden konnten die Angaben Individualkennzeichnungen von vermeintlich gestohlenen oder zwar nicht, entsprechende Medienberichte bestätigen jedoch abhandengekommenen Gegenständen. Die Inserierung ist kos- die grundlegende Zusammenarbeit zwischen dem Unternehmen tenlos und erfordert lediglich die Angabe einer E-Mail-Adresse. und der britischen Polizei (vgl. Recipero 2016; Nguyen 2012). Die Suche selbst ist auch ohne vorherige Registrierung – aller- dings ausschließlich anhand einer Serien‑ oder Individualnum- 3. Diskussion mer – durchführbar. Im Gegensatz zu anderen Anbietern bie- Eine behördliche und der Öffentlichkeit zugängliche Datenbank tet die Website jedoch keinen einsehbaren Katalog bzw. keine mit gestohlenen bzw. aufgefundenen Gegenständen bietet in Gesamtauflistung, so dass eine Einschätzung zur tatsächlichen Deutschland bislang nur das BKA, das sich mit SECURIUS jedoch Anzahl der erfassten Datensätze nur bedingt möglich ist. Wie bei ausschließlich auf die Fahndung nach Eigentümern von weni- der Datenbank von „Protexxo“ scheint der finanzielle Unterhalt gen sichergestellten Gegenständen (Kategorie 2) beschränkt. über den Verkauf von Klebeetiketten mit der Internetadresse des Nicht zuletzt aufgrund des relativ geringen Umfangs entfaltet die Anbieters (z. B. als Warnhinweis auf einen registrierten Gegen- Datenbank aber keine besondere öffentliche Attraktivität oder stand) zu erfolgen. Die Generierung individueller ID-Codes wird Bekanntheit. An einem zentralen Online-Register, das mit Un- in diesem Zusammenhang allerdings nicht angeboten (vgl. S. & terstützung der Öffentlichkeit auch gezielt die Fahndung ent- D. Eschner 2016). wendeter oder anderweitig abhandengekommener Gegenstände unterstützen könnte, mangelt es in Deutschland. 2.2.3 Diebstahlradar Im Bereich des illegalen Kunsthandels scheint die INTERPOL- Professioneller stellt sich die Internetseite der Firma „Pro Ver- Datenbank „Stolen Works of Art“ aufgrund ihres größeren sicherer“ aus Köln dar, die unter www.diebstahlradar.de einen Umfangs und der Spezialisierung eine im Vergleich größere Katalog mit zuletzt über 1155 gesuchten Pkw und Motorrä- Bedeutung zu erlangen, zumindest entsteht dieser Eindruck dern, 687 Nutzfahrzeugen, 15 Yachten sowie 94 sonstigen bei Betrachtung der zahlreichen Verlinkungen im Internet zur Wertgegenständen unterhält. Neben einem Durchstöbern des entsprechenden Website. Andere europäische Länder wie Fahndungskataloges sind Suchanfragen als Freitext oder über die Großbritannien oder beispielsweise Rumänien, das mittels ei- Eingabe einer Fahrzeugidentifizierungsnummer möglich. Inserate ner umfangreichen Datenbank nach entwendeten Pkw fahndet, erfordern hier jedoch die Abgabe einer Schutzgebühr in Höhe agieren hier deutlich fortschrittlicher und bieten gleich größere

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Teile ihrer polizeilichen Fahndungsbestände in öffentlichen Da- könnte die Öffentlichkeit aktiv bei der Wiedererlangung und tenbanken an. Identifizierung entwendeter Gegenstände beteiligt werden. Be- Private Anbieter spielen im Bereich der größeren Fahndungs- treiben ließe sich eine entsprechende Datenbank beispielsweise datenbanken – zumindest in Deutschland – bislang keine bedeu- durch Zentralbehörden wie dem BKA, dem bereits der Betrieb tende Rolle. Der Ansatz, den die wenigen Anbieter verfolgen, der SECURIUS-Datenbank obliegt. Ein kostenpflichtiges Ange- bietet im Grundsatz aber dennoch eine Antwort auf einen offen- bot wäre in diesem Zusammenhang grundsätzlich abzulehnen sichtlich bestehenden Bedarf potentiell geschädigter Personen. und würde der breitflächigen Nutzung einer solchen Daten- Die Schwäche dieser Datenbanken liegt allerdings darin, dass bank entgegenstehen. Die Finanzierung könnte ggf. als Privat- diese in der Regel nur eine überschaubare Anzahl an Datensät- Public-Partnership mithilfe von Versicherungen oder anderen zen umfassen und weder untereinander verknüpft sind noch Interessenträgern in diesem Bereich erfolgen, ohne dass die polizeiliche Fahndungsbestände berücksichtigen. Entsprechend Polizei die Datenhoheit und Verfahrensbestimmungen aus der gering sind somit die Aussichten auf eine erfolgreiche Abfrage Hand geben müsste oder gewerbliche Interessen im Vorder- oder Inserierung in diesen privaten Systemen. Einzig in Groß- grund stünden. Grundsätzlich hätte eine solche Plattform nicht britannien scheint der gewerbliche Anbieter CheckMEND seine nur repressiven oder präventiven Charakter, auch das Image der Datenbank erfolgreich zu betreiben, was aber mit auf die Ko- Polizei ließe sich hierdurch verbessern. Gerade dieses musste operation zwischen dem Anbieter und der britischen Polizei bzw. sich angesichts der Entwicklungen im Bereich der Eigentumskri- weiteren Trägern der Versicherungs‑ und Mobilfunkwirtschaft minalität in den vergangenen Jahren mehrfach der öffentlichen zurückzuführen sein dürfte. Kritik stellen. Angesichts der zu erwartenden höheren Erfolgs- aussichten könnte ganz nebenbei die Anzeigebereitschaft in 3.1 Veröffentlichung polizeilicher Fahndungsbestände der Bevölkerung steigen und die Aufhellung des Dunkelfeldes Eine Veröffentlichung der behördlichen Fahndungsbestände mit unterstützt werden. Auf Grundlage einer behördlichen und polizeilich gesuchten bzw. sichergestellten Gegenständen wäre zugleich öffentlich zugänglichen Fahndungsdatenbank ließen angesichts des digitalen Wandels in unserer Gesellschaft und sich im Ergebnis weitere Schritte zur Diebstahlsprävention auf- infolge der Abhängigkeit polizeilicher Ermittlungsarbeit von Hin- bauen, indem z. B. Verkaufsplattformen wie „eBay“ eine Ver- weisen aus der Bevölkerung auch in Deutschland erstrebens- knüpfung mit der Datenbank zur Verfügung gestellt wird, um wert. Durch eine Publikation der polizeilichen Fahndungsgesu- Seriennummern gebrauchter Elektrogeräte noch vor dem Han- che könnten nicht nur Hehler bei der Verwertung ihrer Tatbeute del überprüfen zu können und somit Straftätern als Anbieter eingeschränkt und höhere Aufklärungsquoten bei entsprechen- gestohlener Ware weitere Anreize zu nehmen. den Straftaten erzielt werden, auch Geschädigte ließen sich bei Der öffentlichen Fahndung nach Gegenständen vorausge- der Wiedererlangung ihres abhandengekommenen Eigentums setzt werden sollte dennoch eine Anzeigeerstattung bei der unterstützen und in ihrem Vertrauen in die Polizei bestärken. Polizei, was befürchtete Manipulationen der Datenbank ein- Berücksichtigt man hierbei auch gestohlene Dokumente oder schränken und eine höhere Datenqualität erzielen würde. Da Identitätsnachweise, könnte man zudem Betrugsstraftaten, wie die Sachfahndung ausschließlich sachbezogene Daten betrifft, sie beispielsweise häufig im Zusammenhang mit Identitätsdieb- wären – abgesehen von entsprechenden Errichtungsanordnun- stählen begangen werden, besser begegnen. gen bzw. Verfahrensverzeichnissen – voraussichtlich keine wei- Ob ein gewerbliches Modell wie in Großbritannien, bei dem teren Rechtsgrundlagen für den Betrieb einer zentralen Website Behörden und Privatanbieter eine gemeinsame Datenbank zur erforderlich. Sie könnte einer ersten Einschätzung vielmehr auf öffentlichen Fahndung nach entwendeten bzw. vermissten Ge- die bestehenden Ermächtigungsgrundlagen der Strafverfol- genständen betreiben, hierzulande eine tragbare Lösung wäre, gungsbehörden gestützt werden. Auch die PDV 384.1 betrach- bleibt fragwürdig. Nicht nur unterschiedliche Interessenlagen tet bereits in ihrer jetzigen Auflage das Internet als zulässi- und offene Fragen des Datenschutzes sprächen zunächst einmal ges Fahndungshilfsmittel (vgl. Bundesministerium des Inneren gegen einen solchen Schritt. Bei einem rein gewerblichen Modell 2004). Lediglich die Richtlinien für das Strafverfahren und das ohne behördliche Beteiligung bestünde mit einer zunehmen- Bußgeldverfahren (RiStBV) müssten ggf. in einzelnen Punkten den Anzahl von Datensätzen zudem das Risiko von veralteten, ergänzt werden. falschen oder ungeprüften Einträgen sowie die Gefahr von Ma- nipulationen durch z. B. unzählige Fantasie-Einträge, mit denen 4. Fazit potentielle Täter das System theoretisch ad absurdum und im Die Polizei muss sich angesichts der Globalisierung und der Digi- Nutzen erheblich einschränken könnten. Hinzu kämen mögliche talisierung in unserer Gesellschaft neuen Wegen öffnen, um ihre Probleme im Zusammenhang mit Eigentumsnachweisen, wenn Aufgaben zu erfüllen und die Bedürfnisse der Bevölkerung hinrei- potentiell Geschädigte behaupten, unter mehreren sichergestell- chend zu berücksichtigen. Die Fahndung nach entwendeten Ge- ten Gegenständen ihr Eigentum erkannt zu haben. genständen gehört mit zu den Kernaufgaben der Polizei. Allein Eine Beteiligung privater Firmen wäre unterdessen aber gar mit der Einstellung von Sachfahndungsdaten im polizeiinternen nicht erforderlich. Die Polizei verfügt über die größten Da- Datenbestand lassen sich jedoch noch keine großen Schritte bei tenbestände zu gesuchtem Sacheigentum und betreibt bereits der Bekämpfung der Eigentumskriminalität vollziehen. Zu gering polizeiintern und in Kooperation mit anderen Ländern Systeme ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein entsprechender Gegenstand zur Verfolgung und Wiedererlangung abhandengekommener tatsächlich im Rahmen einer polizeilichen Kontrolle abgefragt Gegenstände. So waren im Oktober 2015 allein im nationalen und ein Fahndungstreffer erzielt wird. Entsprechende Daten sind INPOL-Fahndungsbestand über 16 Millionen Gegenstände aus- in den polizeiinternen Systemen zwar erfasst und vorhanden, sie geschrieben, darunter über eine Millionen Fahrräder und mehr werden aber nicht in dem Umfang genutzt, wie dies möglich als 400 000 Fahrzeuge. Durch eine – wenn auch nur teilweise und zeitgemäß wäre. Durch eine öffentlich zugängliche Daten- – Veröffentlichung der polizeilichen Sachfahndungsbestände bank der Polizei könnten die Abfragen im Fahndungsbestand

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Kriminalistik 2/2017 Kriminalistik-Campus: Wohnungseinbruchskriminalität/Taschendiebstahl 129

und auch die Erfolgsaussichten um ein vielfaches erhöht werden. International Council of Museums: Red List Database. Paris. Online verfügbar Zwar bildet die SECURIUS-Datenbank des BKA einen Anfang, unter http://icom.museum/resources/red-lists-database, zuletzt geprüft am 18.12.2016. die Bevölkerung aktiv in die Fahndungsarbeit der Polizei einzu- INTERPOL: Works of Art Database. Lyon. Online verfügbar unter http://www. beziehen, die bestehenden Möglichkeiten schöpft sie aber bei interpol.int/Crime-areas/Works-of-art/Works-of-art, zuletzt geprüft am Weitem nicht aus. Rumänien macht es uns am Beispiel der Pkw- 18.12.2016. Fahndungsdaten vor: Knapp 23 000 Datensätze sind öffentlich Nguyen, Anh (2012): Met Police agree information sharing deal to tackle mobile phone thieves. Police to share stolen goods database with CeX. Hg. und online abrufbar, verknüpft mit anderen Fahndungsaufrufen v. Computerworld UK. IDG Communications. London. Online verfügbar un- zu gesuchten Personen und Vermissten. Diesem Beispiel sollten ter http://www.computerworlduk.com/news/it-vendors/met-police-agree- wir auch in Deutschland folgen mit dem Ziel, eine bundesweit information-sharing-deal-tackle-mobile-phone-thieves-3362151/, zuletzt frei zugängliche Online-Datenbank zu Zwecken der öffentlichen geprüft am 18.12.2016. Politia Romana: Prevenire. Autovehicule furarte/Objecte furarte. Bukarest. Sachfahndung zur Verfügung zu stellen, die in ihrem Endausbau Online verfügbar unter https://www.politiaromana.ro/ro/prevenire, zuletzt auch mit Sachfahndungsinformationen aller europäischen Län- geprüft am 18.12.2016. der gespeist sein könnte. Pro Versicherer: Diebstahlradar. Köln. Online verfügbar unter http://www. diebstahlradar.de, zuletzt geprüft am 18.12.2016. Literatur Recipero Limited: CheckMEND. The EU‘s largest provider of consumer elect- BerlinOnline Stadtportal: Fundsachen online suchen – im zentralen Fundbüro ronics background reports. Gloucestershire. Online verfügbar unter https:// Berlin und in den Berliner Bürgerämtern. Berlin. Online verfügbar unter www.checkmend.com, zuletzt geprüft am 18.12.2016. http://fundsuche02.kivbf.de/MyApp.asp?wci=Suche1&MDT=berlin-ZFB, Recipero Limited: Immobilise. The UK National Property Register. Glouces- zuletzt geprüft am 18.12.2016. tershire. Online verfügbar unter https://www.immobilise.com, zuletzt ge- Bundeskriminalamt: SECURIUS – Datenbank für sichergestellte Wertgegen- prüft am 18.12.2016. stände. Wiesbaden. Online verfügbar unter http://www.securius.eu, zuletzt Recipero Limited: NMPR. National Mobile Property Register. Glouces- geprüft am 18.12.2016. tershire. Online verfügbar unter https://thenmpr.com, zuletzt geprüft am Bundeskriminalamt (Hg.) (2016): Polizeiliche Kriminalstatistik. Bundesrepublik 18.12.2016. S. & D. Eschner: Seriennummern CHECK. suchen – finden Deutschland. Jahrbuch 2015. 63. Ausgabe. Wiesbaden. – schützen & mehr. Mülheim an der Ruhr. Online verfügbar unter http:// Bundesministerium des Inneren (2004): PDV 384.1. Fahndung. VS-NfD. www.seriennummern-check.de, zuletzt geprüft am 18.12.2016. Stand: September 2016. Berlin. Wollinger, Gina Rosa; Dreißigacker, Arne; Blauert, Katharina; Bartsch, Tillmann; Henz Media: Protexxo. Diebstahl und Verlust online melden, IMEI‑ und Seri- Baier, Dirk (2014): Wohnungseinbruch: Tat und Folgen. Ergebnisse einer Be- ennummern-Check. Baiersdorf. Online verfügbar unter http://protexxo.de, troffenenbefragung in fünf Großstädten. Forschungsbericht Nr. 124. Hg. v. zuletzt geprüft am 18.12.2016. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen e. V. Hannover.

Taschendiebstahl – Lappalie oder schwere Kriminalität?

Kriminalistische Bewertung, Darstellung eines ganzheitlichen Bekämpfungskonzeptes am Beispiel des Polizeipräsidiums München und zukünftige Herausforderungen

Von Polizeirat Markus Gögelein, M. A., Bayerisches Staatsministerium des Innern, für Bau und Verkehr, München

1. Einleitung Hat sich also in den letzten Jahren in diesem Phänomenbereich etwas verändert? Ist daher Taschendiebstahl seitens der Polizei Achte auf die Hände derer, die sich freuen, dich kennen- in seiner Deliktsqualität anders zu bewerten? Wird sich dieser zulernen. Vielleicht haben sie sie schon in deine Taschen. Phänomenbereich unter dem Einfluss neuer Technologien verän- (Arabische Weisheit) dern? Besteht Handlungsbedarf bei der polizeilichen Strategie? Könnten sich potentielle Opfer aufgrund intensiverer Präventi- „Taschendiebstahl in Berlin steigt auf Rekordniveau“1. So ti- onsbemühungen besser schützen? telte zum Jahresende eine Zeitung der Bundeshauptstadt. Berlin Mit der vorgelegten Hausarbeit soll u. a. den obigen Fragen musste im dritten Jahr in Folge einen massiven Anstieg ver- im Rahmen des Möglichen nachgegangen werden. Ausdrücklich zeichnen (Tabelle 1). Nach einem statistischen Tief im Jahr 2009 ausklammern möchte ich eine genauere Betrachtung von Fragen, (11 883 Fälle) wurden 2015 über 40 000 Taschendiebstähle mit die im Zusammenhang mit der aktuellen Flüchtlings‑ und Asylsi- Tatort Berlin angezeigt. Damit liegt Berlin jedoch im bundesweit tuation2 und den Vorfällen in Köln zur Silvesternacht3 aufgewor- ebenfalls stark ansteigenden Trend (Tabelle 2). fen wurden.

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solche bietende Tatgelegenheit sicherlich nicht ungenutzt las- sen würde.7 Sollte der „Täter durch Ablenkung (z. B. durch Anrempeln, Beschmutzen der Kleidung) die verminderte Wahrnehmungs‑ bzw. Reaktionsfähigkeit des Opfers“8 ausnutzen, so handelt es sich um die Sonderform des Diebstahls – den Trickdiebstahl9.

4. Rückblick: Taschendiebstahl – das zweitälteste „Gewerbe“ der Welt? Bereits Ende des 14. Jahrhunderts fand der Taschendiebstahl Ein- gang in das „Rechtsbuch nach Distinktionen“. Das in Sachsen geltende Gesetzbuch sah für „Butelsnydery“ – die Begrifflichkeit „Beutelschneiderei“ ergab sich aus einem der damals üblichen Modi Operandi – drakonische Strafen wie z. B. Erhängen oder Ertränken vor. Auch die Peinliche Hals-Gerichtsordnung (1532) Tabelle 1: Zeitreihe PKS Berlin Taschendiebstahl Kaiser Karl V. beinhaltete – abgestuft nach Wert des erlangten Gutes und Vordelikten – Körperstrafen bis hin zum tödlichen Urteil.10 Beispielhaft zeigen zeitgenössische Gemälde von Hiero- nymus Bosch (Abbildung 1) und Pieter Bruegel der Ältere (Abbil- dung 2) Taschendiebe bei der Arbeit.

Tabelle 2: Zeitreihe PKS Bund Taschendiebstahl

2. Methodisches Vorgehen und Aufbau der Arbeit Abbildung 1: Hieronymus Bosch „Der Gaukler“ (um 1502) Nach einer einleitenden Begriffsdefinition und einem geschicht- Das Phänomen ist also über Jahrhunderte hinweg von der lichen Rückblick geben eine Analyse polizeilicher Kriminalstatis- Neuzeit bis ins Mittelalter zurückzuverfolgen. Es wurde stets in tiken sowie erste phänomenologische Erläuterungen anhand kriminalistischen oder rechtlichen Schriften dokumentiert und der Auswertung kriminologischer/kriminalistischer Fachliteratur dürfte damit – nach der Prostitution – das zweitälteste „Ge- einen Überblick zur aktuellen Situation. werbe“ sein.11 Im Zentrum stehen Interviews4 mit Experten aus dem Bereich der operativen und strategischen Bekämpfung des Taschendieb- 5. Aktuelle Situation: Taschendiebstahl – ein stahls beim Polizeipräsidium München (PP München). Um ein expandierender Phänomenbereich ganzheitliches Bild des dortigen Bekämpfungskonzeptes geben Beim Blick in die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS)12 ist bei der zu können, wurde versucht die Gespräche – ergänzt durch die Entwicklung der Fallzahlen der letzten 20 Jahre eine regelmä- erhobene Schriftlage (Konzeptionen, Erfahrungsberichte, An- ßige, wellenartige Entwicklung mit Spitzen in den Jahren 1996, ordnungen u. Ä.) – in dem zur Verfügung stehendem Umfang 2004 und 2011 zu erkennen. Bislang sanken die angezeigten zusammenzuführen. Abschließend wurden durch den Verfasser Delikte in den Folgejahren – vermutlich auch durch verstärkte Überlegungen zu möglichen zukünftigen Entwicklungen aufge- polizeiliche Intervention – jeweils wieder. griffen. 2012 erfolgte jedoch eine negative Trendumkehr. Entgegen den bisherigen Erfahrungen war nur kurz Entspannung festzu- 3. Begriffsdefinition: Taschendiebstahl stellen. Denn seit 2012 verzeichnet die Statistik einen starken Das Bundeskriminalamt (BKA) definiert den Taschendiebstahl Anstieg. 2014 wurden 157 069 Fälle zur Anzeige gebracht und in der PKS als Diebstahl „bei (dem) der Täter heimlich sei- damit 15,8 % (21 443 Fälle) mehr als im Vorjahr. Ein historischer nem Opfer unmittelbar aus der am Körper befindlichen Klei- Höchststand seit Beginn der gesamtdeutschen Erfassung des Ta- dung oder den in unmittelbarem körperlichem Gewahrsam schendiebstahls in der PKS im Jahr 1993.13 befindlichen, d. h. am Körper mitgeführten Gegenständen Valide Aussagen auf Grundlage der Statistik über die tatsächli- Geld oder andere Sachen (auch unbare Zahlungsmittel) ent- che Struktur der Täter ist aufgrund der geringen Aufklärungsquote wendet.“5 Deutlich abgrenzt wird somit – auch in der Praxis schwierig. 2014 konnten nur 5,9 % der Fälle geklärt und 7869 – der Diebstahl aus einer abgestellten Handtasche oder aus Tatverdächtige (TV) ermittelt werden.14 Der überwiegende Teil war abgelegter Kleidung.6 Auch, wenn ein Taschendieb eine sich männlich (75,8 %), heranwachsend/erwachsen (80,9 %) und von

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Stadt erf. Fälle insges. AQ HZ 2014

Berlin 37 121 4,0 938,7

Hamburg 20 151 4,6 1153,9

München 2825 11,9 200,7

Köln 14 059 7,0 1359,4

Frankfurt a. M. 3811 5,6 543,4

Stuttgart 2252 6,5 372,7

Düsseldorf 8141 5,1 1359,8

Dortmund 4653 7,2 807,9

Essen 2027 3,7 355,7

Tabelle 3: Zeitreihe PKS Bund Tatverdächtige Taschendiebstahl Bremen 2512 9,0 457,9

nicht deutscher Staatsangehörigkeit (72,4 %) (Tabelle 3).15 Da‑ Tabelle 4: Fallzahlen + HZ PKS bundesdeutsche Großstädte Taschen- diebstahl bei waren Rumänien (19,2 %), Marokko (13,5 %) und Bulgarien (9,7 %) im prozentualen Anteil innerhalb der Staatsangehörigkei‑ ten der nichtdeutschen TV überrepräsentiert.16 Bei den ermittelten TV sind knapp über 79 % bereits vorher polizeilich in Erscheinung getreten.17 Die These, dass es sich um professionell und internati‑ onal agierende Täter(‑gruppen) aus Osteuropa handelt, ist daher durchaus vertretbar.18 Diese dürften auch für weit mehr der unge‑ klärten Fälle verantwortlich sein als ihnen bei vereinzelten Festnah‑ men nachgewiesen werden kann. Bei der Tatortverteilung wird überwiegend der anonyme Raum der Großstadt gesucht, denn 82,6 % der Taten wurden 2014 in Gemeinden mit über 100 000 Einwohnern begangen.19

Tabelle 5: Zeitreihe PKS Polizeipräsidium München Taschendiebstahl

Die Größe des Dunkelfelds ist schwer zu erheben. Manche sprechen davon, dass auf einen angezeigten bzw. erkannten Diebstahl zehn nicht bekannt gewordene kommen (1 : 10).24 Die Gründe für eine Nichtanzeige können unterschiedlich sein. Viele Opfer sehen womöglich aufgrund der geringen Schadenshöhe von einer Anzeige ab oder vermuteten einen Verlust anstatt des eigentlichen Diebstahls. Andere scheuen den Gang zu Polizei, da sie es dem Dieb allzu leichtgemacht haben. Umfassend ange‑ zeigt werden in der Regel Versicherungsfälle, Diebstahl von EC‑/ Kreditkarten und Ausweispapieren. München steht im Vergleich der zehn größten Städte Deutsch‑ lands mit der niedrigsten Häufigkeitszahl von 200,7 auf Platz eins. Es folgt mit größerem Abstand Essen (355,7). Vergleichs‑ schlechtester ist Düsseldorf (1359,8) (Tabelle 4). Vergleicht man Abbildung 2: Pieter Bruegel der Ältere „Die Treulosigkeit der Welt“ die absoluten Fallzahlen der vier Millionenstädte Berlin, Ham‑ (um 1568) burg, München und Köln so ist neben einer Analyse der lokalen, Opferzielgruppe sind überwiegend ältere Menschen, die teil‑ möglicherweise Kriminalität fördernden Umfeldfaktoren durch‑ weise sorglos v. a. aber auch in ihrer Wahrnehmungs‑ und Re‑ aus auch die polizeiliche Strategie im Sinne des Best-Practice- aktionsfähigkeit eingeschränkt sind.20 Bundesweit entstand den Ansatzes25 betrachtenswert (Tabelle 4). Geschädigten ein Schaden von fast 46 Mio. Euro. Wobei sich Auch die Aufklärungsquote bewegte sich in München in den der Großteil der Schadenssumme pro Fall im Bereich von jeweils letzten Jahren auf einem beim Taschendiebstahl überdurch‑ 50 bis 50021 Euro bewegt.22 Das Stehlgut ist mittlerweile sehr schnittlichen Niveau und erreichte im Jahr 2013 einen Spitzen‑ hochwertig (z. B. Smartphones), so dass zukünftig ein Anstieg wert von 13,3 % (Tabelle 5). der Schadenssumme zu erwarten sein wird. Zu bedenken ist da‑ Aufgrund des niedrigen Fallzahlenniveaus machen sich auch bei auch noch die Relation zu den niedrigen Einkommen in den Festnahmen oder Verurteilungen von professionellen Tätern sta‑ Herkunftsländern der oben genannten Tätergruppen.23 tistisch in München durchaus bemerkbar.26

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6. Ganzheitliches Bekämpfungskonzept am die Vorbereitung einer Tat dokumentiert, Täter identifiziert und Beispiel des PP München Kräfte zur Festnahme herangeführt werden. Für nachträglich an- gezeigte Taschendiebstähle können wertvolle Fahndungsansätze 6.1 Spezialisten für kriminelle Spezialisten – Ermittler und gewonnen werden.36 Auch die Zusammenführung von Einzel- Taschendiebfahnder beim Kommissariat 65 taten zu einer Serie oder die beweiskräftige Feststellung des Aufgrund steigender Fallzahlen entschied das PP München Ende Zusammenwirkens bei bandenmäßiger Begehungsweise kann 2003 eine „Operative Taschendiebfahndung“ (TaDiFa) zu institu- damit ermöglicht werden.37 tionalisieren.27 Diese besteht seit diesem Zeitpunkt aus fünf Be- Für das PP München sowie den bayerischen Gesetzgeber ist die amten28 und ist organisatorischer Bestandteil des Kommissariats polizeiliche Videoüberwachung integrativer Bestandteil eines po- 65 (K 65) mit weiteren zwölf Ermittlern, welche ausschließlich lizeilichen Gesamtkonzeptes und somit nur Teil eines konkreten für Trickdiebstahl, Trickbetrug, Betrug durch Teppichhändler, Ta- Maßnahmenbündels.38 schendiebstahl, Handtaschendiebstahl und Diebstahl aus Hand- In der alltäglichen Arbeit sind für die TaDiFa jedoch die Vi- taschen zuständig sind.29 deoaufzeichnungen des Münchner Verkehrsverbundes (MVV)39 Tägliche Aufgabe der TaDiFa ist die Aus‑ und Bewertung der in Bahnhöfen und Fahrzeugen (ca. 4400 Kameras)40 sowie von Lage der letzten 24 Stunden anhand des Vorgangsverwaltungs- Firmen und Privatpersonen (z. B. Einzelhandel, Gaststätten) für systems. Darauf basierend werden proaktiv – d. h. bereits ohne Fahndung und Tataufklärung von besonderer Bedeutung.41 Denn Vorliegen der schriftlichen Anzeige – versucht Videoaufzeich- dort werden – neben öffentlichen Plätzen – die meisten Delikte nungen sicherzustellen (Ziff. 6.2.). Damit soll eine mögliche Lö- begangen.42 Die Qualität der privaten Aufnahmen hat mittler- schung aufgrund des Zeitverzuges bis zum Einlauf der Anzeige weile einen hohen Standard, so dass die Identifizierung und die beim K 65 verhindert werden. Weiterhin werden alle Taschen- Beweisführung größtenteils problemlos möglich sind. diebstahlsanzeigen vor Zuteilung an einen Ermittler durch die Zukunftsmusik – technisch aber schon möglich – wäre die au- TaDiFa gesichtet und u. a. auf Lage‑ und Serienrelevanz geprüft. tomatische Detektion von Taschendiebstählen aufgrund verdäch- Auf dieser Grundlage werden tagesaktuell (örtliche) Schwer- tigen Verhaltens durch intelligente Videoüberwachung. Dazu punkte definiert und operative Maßnahmen geplant. gab es bereits erfolgreiche Versuche, beispielsweise in einem Die Sachbearbeitung erfolgt in der Regel bei den Ermittlern. gut besuchten Einkaufscenter, bei einer niedrigen Quote von Ausnahme können hier Vorgänge mit Festnahmen auf frischer Fehlalarmen.43 Tat oder bei Durchführung von verdeckten, operativen Maßnah- men (z. B. TKÜ) sein. Grundsatz ist jedoch eine hohe Präsenz 6.3 Nationale und europäische Vernetzung sowie der TaDiFa im Einsatzraum, nicht im Büro. Auch in Besonderen Informationsmanagement (SPOC Taschendiebstahl) Aufbauorganisationen werden die TaDiFa als benachbarte Kräfte Bereits 2004 kam Europol zu dem Schluss, dass sich organisierte geführt, um frei von Aufträgen zu sein und lageorientiert in ih- Kriminalität immer mehr in die Bereiche von „petty crime“44 – da- rem orginären Aufgabenbereich agieren zu können. runter wird der singuläre Taschendiebstahl gezählt – ausdehnt. Unterstützung erhält das K 65 durch die erkennende Sach- Die Organisation in Kleingruppen, die hohe Mobilität im gesamt- fahndung beim K 103, die nach Diebesgut bspw. bei Ebay oder europäischen Raum sowie die kurze Verweildauer der Täter in in Pfandleihhäusern fahndet. Ebenso wird das K 74 bei Nach- den Attraktionsgebieten wurde bei dieser Entwicklung damals folgedelikte mit gestohlenen EC-/Kreditkarten tätig, um z. B. ebenso thematisiert.45 schnellstmöglich Bildmaterial aus Banken oder Geldautomaten Um diesem sich verfestigenden Trend effektiv entgegenzutre- zu erheben. ten, fand 2013 auf Initiative und Einladung des PP München in Den Haag unter Beteiligung von Polizeien aus 19 Ländern 6.2 Einsatz und Nutzen von Videoüberwachung (50 Teilnehmer) eine erste „International Pick Pocketing Confe- Polizeiliche Videoüberwachung als kriminalpräventives Instru- rence“ statt. Gemeinsam formuliertes Ergebnis der Teilnehmer ment steht immer wieder hinsichtlich ihrer Wirkung und des war die Stärkung der internationalen Kooperation, die Förde- Rechtseingriffs kontrovers im Fokus der kriminal‑ und rechtspoli- rung des Austausches von Expertenwissen sowie der Ausbau tischen Diskussionen.30 Seit 1.9.2001 ist es durch Art. 32 Abs. 2 der bereits bestehenden Netzwerke zum Informationsaustausch PAG in Bayern möglich offen Bild‑ und Tonaufzeichnungen von im Kampf gegen den organisierten Taschendiebstahl.46 Die Kon- Personen zu erheben. ferenz wurde unter steigender Beteiligung47 seither erfolgreich Auf dieser Rechtgrundlage erfolgt derzeit die offene Video- fortgesetzt.48 überwachung durch das PP München an drei ausgewählten, Ausgehend von dem Wunsch der Konferenz den operativen besonders kriminalitätsbelasteten Örtlichkeiten (Sendlinger-Tor- Informationsaustausch zu verbessern sowie einen Abgleich bzw. Platz + Karlsplatz, seit 2004; Bahnhofsplatz, seit 2010).31 eine Speicherung im Auswerteprojekt „Focal Point Furtum“49 in- Zusätzlich werden temporär über den jeweiligen Veranstal- nerhalb der AWF SOC50 strukturiert zu forcieren, bat Europol tungszeitraum zum Oktoberfest32 auf der Theresienwiese (19 Ka- die Mitgliedsstaaten einen Single Point of Contact (SPOC) als meras, seit 2001) sowie zum Christkindlmarkt33 (12 Kameras, Zentralstelle zum Datenaustausch (Zulieferung von Daten und seit 2005) und Faschingstreiben34 am Marienplatz (vier Kameras, Rückläufer im Trefferfall) einzurichten. Aufgrund eigener, anderer erstmalig 2016) personenbezogene Daten erhoben. Prioritätensetzung stimmte das BKA als eigentlich zuständige Gedränge und stark frequentierte Zu‑ und Abwege eröffnen Zentralstelle dem Vorschlag des Landeskriminalamtes Bayern den Tätern ideale Tat‑ und ungehinderte Fluchtmöglichkeiten.35 beim PP München diesen SPOC einzurichten zu.51 Daher sind diese Kameras, welche dauerhaft in Echtzeit durch Neben dem Informationsfluss in Richtung Europol sollte auch geschulte Videobeobachter bedient werden, für die Verhütung der Austausch zwischen den Fachdienststellen optimiert wer- und v. a. Aufklärung von Taschendiebstählen von besonderer Be- den. Aufbauend auf bereits bestehenden E-Mail-Verteilern des deutung. Dabei können ggf. bereits ein auffälliges Verhalten und Polizeipräsidiums Stuttgart und der Kriminalinspektion Mayen

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konnte durch den SPOC ein nationales und europaweites Spezia- wird nach fachlicher Einschätzung München dadurch im Gefüge listen-Netzwerk etabliert werden, welches sich bei der Steuerung der europäischen Großstädte aus Tätersicht uninteressant. von Warnmeldungen oder von Informationen über neue Modus Aus Sicht der Ermittler und Fahnder ist die den Erfolg be- Operandi u. Ä. als äußert effektiv erwiesen hat. Denn dadurch ist gründende Vorraussetzung, dass StA und Gericht ausreichend eine schnelle Reaktionsfähigkeit der zuständigen Fachdienststel- Kenntnis über das Phänomen und die professionell reisenden len möglich, die aufgrund der hohen, europaweiten Mobilität Täter besitzen. Dazu wird – trotz Bearbeitung in der Allgemeinen der Tätergruppierungen erfolgskritisch ist.52 Abteilung – ein sehr guter Kontakt und regelmäßiger Austausch Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass es sich hier- (z. B. Hospitationen StA bei der TaDiFa, beobachtende Teilnahme bei um einen ergänzenden Informationsstrang mit zusätzli- an operativen Einsätzen) gepflegt.60 chem Aufwand handelt. Meldedienstliche Verpflichtungen oder 6.5 Prävention als Baustein der Bekämpfungsstrategie Rechtshilfeersuchen zur Erlangung von gerichtsverwertbaren Er- kenntnissen werden dadurch nicht obsolet.53 Prävention und Opferschutz wird beim PP München federfüh- Zweite Säule des SPOC ist eine Strukturdatenbank, die auf rend durch das K 105 betrieben. In Bezug auf den Taschendieb- technischer Basis des Ermittlungs‑ und Analyseunterstützungs- stahl erfolgt regelmäßig eine Thematisierung bei Veranstaltun- systems EASy/rsCASE54 lokal beim PP München mit beschränkten gen und Vorträgen mit entsprechendem Zielpublikum. Schreib-/Leserechten betrieben wird.55 Darin werden die übermit- Anlassbezogen – auch unter Einbindung der örtlich zuständi- telten Daten von Taschendiebstahlstätern eingepflegt bei denen gen Polizeiinspektionen – werden bei Veranstaltungen Maßnah- mindestens der Verdacht besteht, dass sie reisend in Ländern men der verhaltensorientierten Prävention (Verteilung von mehr- der EU oder Drittstaaten Taten begangen haben oder begehen sprachigen Faltblättern, Anbringung von Plakaten, Durchführung werden.56 Alle Netzwerkteilnehmer können personenbezogene von Beratungsgesprächen u. Ä.) durchgeführt. Gezielte Hinweise Anfragen an den SPOC richten, der nach dem Prinzip einer In- sollen insbesondere Tatgelegenheiten reduzieren und die Auf- dexdatei im Trefferfall Auskunft über den originären Datenbe- merksamkeit potentieller Opfer erhöhen. Beispielhaft ist hierbei sitzer bzw. die sachbearbeitende Dienststelle gibt. Aktuell sind die Aktion „Rote Karte für Taschendiebe“61. Diese wird seit 1999 bereits mehr Datensätze vorhanden als bei der vergleichbaren auf dem Christkindlmarkt am Marienplatz durchgeführt. Damit Europol-Datenbank.57 Eigeninitiativ werden aus dem Datenbe- konnte statistisch die durchschnittliche tägliche Deliktsbelastung stand heraus erkannte Serienzusammenhänge an die tangierten während des Veranstaltungszeitraumes in den Folgejahren um Dienststellen gemeldet.58 rund 75 % (12  3) gesenkt werden.62 Neben der elektronischen Vernetzung findet auch ein persön- Weiterhin werden durch den MVV an Bahnhöfen Durchsagen licher Austausch im Rahmen von gegenseitigen Unterstützungs- durchgeführt sowie (Warn-)Hinweise im Ticker der Zielzuganzei- einsätzen bei (Groß‑) Veranstaltungen (z. B. Oktoberfest, Kölner ger gegeben. An besonders stark frequentierten Bahnhöfen in Karneval) statt. Bei derartigen Veranstaltungen ist mit einem ver- Veranstaltungsnähe besteht die Möglichkeit über die Verkehrs- mehrten Auftreten von Taschendieben zu rechnen, so dass der betriebe die Info‑ bzw. Werbescreens zur Einblendung mehrspra- konzentrierte Einsatz von geschulten Fahndern durchaus sinnvoll chiger Hinweise der Polizei zu nutzen.63 und geboten ist. Seit 15.9.2014 stehen dem PP München zur Verbreitung von Präventions‑ und Verhaltenshinweise auch Social-Media-Kanäle 6.4 Unterstützung und Fortsetzung der polizeilichen bei Facebook und Twitter zur Verfügung. Damit konnte eine Strategie bei der Justiz weitere Erhöhung der Reichweite dieser polizeilichen Botschaften Als weitere wichtige Säule in der Bekämpfung des Taschendieb- erreicht werden.64 stahls ist die Unterstützung und Fortsetzung der polizeilichen Strategie im Verantwortungsbereich der Justiz zu sehen. 7. Herausforderung der Zukunft: Dies beginnt bereits bei der rechtlichen Einordnung von Ta- Taschendiebstahl 2.0? schendiebstählen als gewerbs‑ oder bandenmäßig begangene Near Field Communication – kurz: NFC. Diese Technologie er- Diebstähle (§§ 243 Abs. 1 Nr. 3, 244 Abs. 1 Nr. 2 StGB). Bei der möglicht es kontaktlos mittels international normierter Funktech- Staatsanwaltschaft München erfolgt in der Regel die Annahme nik Daten auf kurze Entfernungen zu übertragen. Grundlage eines Anfangsverdachts hinsichtlich dieser Deliktsformen – auch ist die Radio Frequency Identification-Technologie (RFID), welche aufgrund der Entscheidung des BGH59 zum Begriff der „Bande“ – eine Identifizierung und Authentifizierung des Nutzers zulässt. sehr frühzeitig. Zur Begründung der obigen Tatbestandmerkmale RFID benötigt einen Transponder, der sehr klein sein kann und sind die bestehenden Personenerkenntnisse aus eigenen Ermitt- so auch in Kreditkarten oder Mobiltelefonen Platz findet. Als lungen sowie aus den Rückmeldungen zu europaweiten Ad hoc- technisches Gegenüber fungiert ein Lesegerät, welches bei NFC Anfragen über den SPOC (Ziff. 6.3.) und die Dokumentation der den passiven Transponder durch Funkwellen induktiv mit Strom Tatbegehung auf Videoaufzeichnungen unverzichtbar (Ziff. 6.2.). versorgt und damit ein Senden bzw. Abrufen der darauf gespei- Die daraus resultierende Legitimierung für bzw. die Bean- cherten Daten möglich macht.65 tragung von Folgemaßnahmen (z. B. Anordnung von Untersu- Eine Nutzung findet bereits verbreitet statt, so z. B. als papier- chungshaft) trägt maßgeblich zu einem generalpräventiven Ef- lose Eintrittskarte, bei Zutrittskontrollen und beim Bezahlen von fekt – zumindest für den Bereich München – bei. Regelmäßig kleineren Beträgen ohne weitere Verifizierung.66 Eine britische werden im Vergleich zu anderen Phänomenbereich (z. B. Ge- Studie schätzt, dass es bis 2019 ca. 516 Mio. Nutzer geben wird, waltkriminalität) und Bundesländern relativ hohe Freiheitsstra- die den Service des kontaktlosen Bezahlens in Anspruch nehmen fen, auch bei Ersttätern, ausgesprochen, die vermutlich diesen werden.67 Grund hierfür ist u. a. die Integration von NFC-Applika- Effekt noch verstärken. Festnahmeerfolge und abgeschlossene tionen in Smartphones (z. B. iPhone 6 mit ApplePay68). Aufgrund Verfahren werden durch entsprechende Pressearbeit öffentlich- eigener Stromversorgung können diese sowohl als Transponder keitswirksam gemacht. Hinsichtlich der Kosten-Nutzen-Relation zur Bezahlung als auch als Lesegerät fungieren.

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Momentan bestehen noch nachgewiesene Sicherheitslücken, 5 Bundeskriminalamt (Hrsg.), 2014, S. 15. so dass speziell präparierte Mobiltelefone mittels einer „Mobile 6 Bundeskriminalamt (Hrsg.), 2014, S. 15. 7 Hintergrundgespräch am 26.4.2016 im PP München mit K 65/TaDiFa. Pickpocketing Application“ – beispielhaft durch Auflegen auf ein 8 Bundeskriminalamt (Hrsg.), 2014, S. 16. Portemonnaie – sensible Daten von Kreditkarten unerlaubt und 9 Trickdiebstahl wird in der PKS mit keiner eigenen Schlüsselzahl ausge- unbemerkt auslesen können.69 Dies bestätigt auch eine Studie wiesen. Er wird nach den Tatumständen statistisch beim betreffenden des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik.70 Diebstahlsschlüssel erfasst. 10 Harnisch, 1962, S. 13. Die Einfachheit des Modus Operandi zeigt beispielsweise eine 11 Harnisch, 1962, S. 12. Reportage des ARD-Magazins „Report München“. Nach fachli- 12 Die PKS (Bund) 2015 wurde noch nicht veröffentlicht. Daher musste auf cher Einschätzung eines Fahnders des PP München dort, wird die die Zahlen aus 2014 zurückgegriffen werden. unmittelbare Tatentdeckung deutlich erschwert, da keine länger 13 Bundeskriminalamt, 2015, Tabelle 01(Grundtabelle – ohne Tatortvertei- lung), Schlüsselzahl *90*00. andauernden „Fingerfertigkeiten“ mehr notwendig sind. Der Da- 14 Bundeskriminalamt, 2015, S. 215. tenklau wird folglich oft erst nach missbräuchlichem Gebrauch 15 Bundeskriminalamt, 2015, S. 217, 219. bemerkt.71 16 Bundeskriminalamt, 2015, S. 219. Erleben wir möglicherweise dadurch eine Vermengung von 17 Bundeskriminalamt, 2015, S. 131. 18 Prondzinski, 2015a, S. 8 f.; Bundeskriminalamt, 2015, S. 219. Taschendiebstahl, Cyber-Kriminalität und Kreditkartenbetrug 19 Bundeskriminalamt, 2015, S. 216. 72 (Skimming ) zu einem Taschendiebstahl 2.0? Auf tiefer gehende 20 Prondzinski, 2015b, S. 19; Hintergrundgespräch am 26.4.2016 im PP Ausführungen muss an dieser Stelle verzichtet werden. Es war München mit K 65/TaDiFa. € € meine Absicht einen Impuls zu setzen! 21 Bsp.: Personalausweis (28 ), Führerschein (45 ), Fahrzeugschein (15 €), EC-Karte (20 €), Kreditkarte (25 €), Bibliotheksausweis (10 €), Monatskarte ÖPNV (55 €) + angenommen Nebenkosten (250 €, z. B. 8. Fazit Verdienstausfall wg. Amtsgängen, Lichtbilder etc.) = ca. 500 €, belie- Taschendiebstahl hört sich für Nichtbetroffene – aber auch im- big erweiterbar und Smartphone noch nicht eingerechnet (http://www. mer noch für den ein oder anderen Polizeibeamten oder politisch praeventionstag.de/dokumentation/download.cms?id=965 – Folie 18 – abgerufen am 1.5.2016) Verantwortlichen – wie eine Lappalie an. Der Schaden für den 22 Bundeskriminalamt, 2015, Tabelle 07_BKA, Schlüsselzahl *90*00. Einzelnen mag gering sein. Das Gesamtausmaß ist jedoch alar- 23 Korn/Wagner, 2011, S. 7 mierend. Seit mehr als 15 Jahren erleben wir eine stetige Interna- 24 Hintergrundgespräch am 26.4.2016 im PP München mit K 65/TaDiFa tionalisierung und Professionalisierung in diesem Deliktsbereich. 25 „(besonders in Wirtschaft und Politik) bestmögliche [bereits erprobte] Methode, Maßnahme o. Ä. zur Durchführung, Umsetzung von etwas“ Hochmobile Tätergruppen sind grenzüberschreitend in den Met- (http://www.duden.de/rechtschreibung/Best_Practice – abgerufen am ropolen Europas und bei Großveranstaltungen tätig. 1.5.2016) Die Strafverfolgungsbehörden müssen daher durch schnelle 26 Hintergrundgespräch am 26.4.2016 im PP München mit K 65/TaDiFa Weitergabe und Zusammenführung von Informationen auf diese 27 Polizeipräsidium München, 2003, S. 1 Entwicklung reagieren. Auch der Sammlung und Analyse vor- 28 Werden Personenbezeichnungen in dieser Arbeit aus Grunden der besse- ren Lesbarkeit lediglich in der männlichen oder weiblichen Form verwen- handener Daten auf europäischer Ebene kommt besondere Be- det, so schließt dies das jeweils andere Geschlecht mit ein. deutung zu. Es gilt Strukturen zu erkennen und diese durch 29 Polizeipräsidium München, 2016a, S. 52; Hintergrundgespräch am 26.4. entsprechende Ermittlungsverfahren zu zerschlagen, so wie es 2016 im PP München mit K 65/TaDiFa. bspw. beim Phänomen des Enkeltricks mittlerweile verbreitet 30 Steinbauer, 2010. 31 Bayerischer Landtag, 2015, S. 2. 73 praktiziert wird. Zu prüfen wären m. E. nach Maßnahmen der 32 Polizeipräsidium München, 2015a. Finanzermittlung bzw. Finanzabschöpfung. 33 Polizeipräsidium München, 2015b. Auf lokaler Ebene ist die operative Bekämpfung an Hot Spots 34 Polizeipräsidium München, 2016b. zu stärken. Dabei sind die Vorteile privater sowie die rechtlichen 35 Polizeipräsidium München, 2015a, S. 1; Polizeipräsidium München, 2015b, S. 1. Möglichkeiten polizeilicher Videoüberwachung auszuschöpfen. 36 Polizeipräsidium München, 2015a, S. 3. Die verhaltensorientierte Prävention – auch unter Nutzung von 37 Hintergrundgespräch am 26.4.2016 im PP München mit K 65/TaDiFa. Sozialen Medien und Einbindung gesellschaftlicher Träger74 – ist 38 Polizeipräsidium München, 2015a, S. 3; Bayerischer Landtag, 2001, S. 4. anlassbezogen zu forcieren. Der Zusammenarbeit mit der Justiz 39 Im Münchner Verkehrsverbund (MVV) sind die Betreiber der öffentlichen Verkehrsmittel in München zusammengeschlossen. Es handelt sich dabei und der Gleichklang bei der Beurteilung des Phänomens als Teil um die Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG – U-Bahn, Tram und Bus) von organisierter Kriminalität kommt besonders hohe Bedeutung sowie die Deutsche Bahn (DB – S-Bahn, Regional‑ und Fernbahnverkehr). zu. 40 Süddeutsche Zeitung (Internet), 2015. Die allgemeine Demografieentwicklung wird die Zahl von po- 41 Hintergrundgespräch am 26.4.2016 im PP München mit K 65/TaDiFa. 42 Polizeipräsidium München, 2016c. tentiellen, älteren Opfern weiter steigen lassen. Für die Täter wird 43 Bouma/Baan/Burghouts u. a., 2014, S. 1. sich das Einkommensgefälle innerhalb Europas nicht auf abseh- 44 Dt.: Kleinkriminalität. bare Zeit zum Positiven hin nivellieren. Somit wird das Phänomen 45 European Commission, 2004, S. 7. – besonders in seiner organisierten Form – weiterhin bestehen 46 Europol, 2013. 47 Hintergrundgespräch am 26.4.2016 im PP München mit Abschnitt K. bleiben bzw. sogar anwachsen. 48 Europol, 2014; Europol, 2015. 49 Auswerteschwerpunkt für Eigentumskriminalität. Anmerkungen 50 Analysis Work File (AWF) Serious and Organised Crime (SOC) bei Europol. 1 B. Z. – Berliner Zeitung (Internet), 2015. 51 Bayerisches Landeskriminalamt, 2013, S. 2; Bundeskriminalamt, 2013, 2 Landtag Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), 2016, S. 2. S. 2. 3 Landtag Nordrhein-Westfalen (Hrsg.), 2016, S. 1 ff. 52 Polizeipräsidium München, 2014, S. 1 f.; Hintergrundgespräch am 26.4. 4 Es handelt sich hierbei um keine standardisierten Interviews im Sinne 2016 im PP München mit Abschnitt K. der qualitativen Sozialforschung, sondern um Hintergrundgespräche mit 53 Bundeskriminalamt, 2013, S. 2. Experten aus der Praxis. Diese Gesprächsergebnisse wurden – ohne Doku- 54 Eder (Internet), 2005. mentation der Fragestellungen – in stichpunktartigen Gedächtnisproto- 55 Hintergrundgespräch am 26.4.2016 im PP München mit Abschnitt K. kollen durch den Verfasser niedergeschrieben und liegen der Hausarbeit 56 Polizeipräsidium München, 2014, S. 3. als Anhang bei. 57 Hintergrundgespräch am 26.4.2016 im PP München mit Abschnitt K.

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58 Polizeipräsidium München, 2014, S. 3. Eder, Gerald 2005: EASY – die zukunftsweisende Ermittlungssoftware. In: Die 59 BGHSt 46, 321. Kriminalpolizei (2005). 60 Hintergrundgespräch am 26.4.2016 im PP München mit K 65/TaDiFa. European Commission (Hrsg.) 2004: 2004 organised crime 61 Bei der Aktion „Rote Karte für Taschendiebe“ werden uniformierte Beamte report – Open Version. Office for Official Publications of the European im Gedränge des Christkindlmarktes selbst zu vermeintlichen Taschendie- Communities. Luxemburg. ben. Sie versuchen die Unachtsamkeit der Besucher auszunutzen, um z. B. Hagen, Bernd; Ludwig, Joachim 2014: Strategische Herausforderungen bei eine ‚Rote Karte‘ in einer offenen Tasche zu platzieren oder Gegenstände der Bekämpfung organisierter Kriminalität am Beispiel „Enkeltrick“. In: der unbemerkt zu entnehmen. Unmittelbar im Anschluss wird die betreffende kriminalist (2014), Heft 11, S. 5 – 11. Person mit der Bitte die eigene Tasche zu durchsuchen angesprochen Harnisch, Gerhard 1962: Taschendiebe. Aus: Bundeskriminalamt (Hrsg.) 1962: um – aufbauend auf dem zumeinst erstaunten Ergebnis – entsprechende Schriftenreihe des Bundeskriminalamts. Wiesbaden. Präventionshinweise im Gespräch zu vermitteln. Heymig, Sandro; Kahr, Robert 2016: Evaluation der polizeilichen Social Media- 62 Polizeiinspektion 11 München, 2013 [sic!]. Nutzung – Erfahrungs des Polizeipräsidiums München. In: Kriminalistik, 70. 63 persönliche Mitteilung des Leiters des K 105 am 19.4.2016 an Verfasser Jg. (2016), Heft 4, S. 222 – 227. per E-Mail. Korn, Günter; Wagner, Norbert 2011: Die operative Bekämpfung von Taschen‑ 64 Heymig/Kahr, 2016, S. 226. diebstählen – ein kriminalstrategisches Muss in deutschen Großstädten. In: 65 BSI, 2004, S. 22 f. der kriminalist (2011), Heft 11, S. 5 – 9. 66 Rodríguez/Vila, 2015, S. 88. Landtag Nordrhein-Westfalen (Hrsg.) 2016: Antrag auf Einsetzung eines 67 Juniper Research (Internet), 2014. Untersuchungsausschusses gemäß Artikel 41 der Landesverfassung zu 68 „Now paying in stores happens in one natural motion – there’s no need den massiven Straftaten in der Silvesternacht 2015 und zur Frage von to open an app or even wake your display thanks to the innovative rechtsfreien Raumen in Nordrhein-Westfalen („Untersuchungsausschuss Near Field Communication antenna in iPhone 6s, iPhone 6 and iPhone Silvesternacht 2015“). Drs. 16/10798 vom 19.1.2016. 16. Wahlperiode. SE. To pay, just hold your iPhone near the contactless reader with your Düsseldorf. finger on Touch ID.“ (http://www.apple.com/apple-pay/– abgerufen am Polizeiinspektion 11 München 2013 [sic!]: Bekämpfung des Taschendiebstahls 21.4.2016). in der Vorweihnachtszeit 2013 im Innenstadtbereich – Erfahrungsbericht 69 Caney/Dorros/Kennedy u. a., 2013, Ziff. 6 (Dokument ohne Seitenzahl); 2013 (III-2130/13). München (nicht veröffentlicht). Rodríguez/Vila, 2015. Polizeipräsidium München 2003: Rahmenkonzeption zur Bekämpfung des or‑ 70 BSI, 2004, S. 45. ganisierten Taschendiebstahls; Errichtung einer Taschendiebfahndung beim 71 ARD, 2012, 0:00 – 7:04. Kommissariat 213 (PRdS-E31d-221 – 3/03). München (nicht veröffentlicht). 72 „Der englische Begriff ‚Skimming‘ bedeutet ‚Abschöpfen‘ oder ‚Absah‑ Polizeipräsidium München 2014: Bundesweite Koordinierung Taschendieb‑ nen‘ und steht für eine Methode, illegal elektronische Daten von Zah‑ stahl. Schreiben des Polizeipräsidiums München, Abschnitt Kriminalpolizei, lungskarten (girocard und Kreditkarte) auszuspähen.“ (www.polizei-bera- vom 14.1.2014 an alle Landeskriminalämter und das Bundespolizeipräsi- tung.de/themen-und-tipps/betrug/betrug-an-geldautomaten/skimming. dium. München (nicht veröffentlicht). html – abgerufen am 21.4.2016). Polizeipräsidium München 2015a: Anordnung der Datenerhebung gemäß 73 Hagen/Ludwig, 2014, S. 11. Art. 32 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 PAG durch Polizeivizepräsident Robert Kopp 74 Z. B. Münchner Sicherheitsforum e. V. (www.muenchner-sicherheitsfo- (hier: Offene, zeitlich begrenzte, stationäre Videoüberwachung auf dem rum.de), Münchner Blaulicht e. V. – Polizeiverein für Bürgerbegegnungen Festwiesengelände anlässlich des „Oktoberfestes“ – E31B-2134 – 1/14). und Prävention (www.muechnerblaulicht.de). München (nicht veröffentlicht). Polizeipräsidium München 2015b: Anordnung der Datenerhebung gemäß Literaturverzeichnis Art. 32 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 PAG durch Polizeivizepräsident Werner Feiler Bayerischer Landtag (Hrsg.) 2001: Gesetzentwurf zur Änderung des Gesetzes (hier: Offene, zeitlich begrenzte, stationäre Videoüberwachung am Münch‑ über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei (Poli‑ ner Marienplatz anlässlich des „Christkindlmarktes“ – E31B-2134 – 1/11). zeiaufgabengesetz − PAG) vom 26.4.2001. Drs. 14/6505 vom 26.4.2001. München (nicht veröffentlicht). 14. Wahlperiode. München. Polizeipräsidium München 2016a: Geschäftsverteilungsplan des Polizeipräsidi‑ Bayerischer Landtag (Hrsg.) 2015: Schriftliche Anfrage der Abgeordne‑ ums München (Stand: 1.2.2016). München (nicht veröffentlicht). S. 51 – 53. ten Katharina Schulze (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) vom 2.10.2014 – Polizeipräsidium München 2016b: Pressebericht vom 5.2.2016 – Mitteilung Videouberwachung in Bayern. Drs. 17/4409 vom 9.1.2015. 17. Wahlpe- Nr. 227 (Faschingstreiben in der Münchner Innenstadt). München. riode. München. Polizeipräsidium München 2016c: Sonderauswertung Taschendiebstahl für Bayerisches Landeskriminalamt 2013: „European Pickpocket Conference“ vom KHK Gögelein. München (nicht veröffentlicht). 13. – 15. Mai 2013 in Den Haag, hier: Koordinierung von Taschendieb‑ Prondzinski, Peter von 2015a: Einbrecher kommen nachmittags, Taschendiebe stahlswarnmeldungen an Europol. Schreiben des Bayerischen Landeskrimi‑ suchen die Nähe!. In: Deutsches Polizeiblatt (2015) Heft 2, S. 6 – 9. nalamtes vom 14.8.2013 an das Bundeskriminalamt, Az. 531-1122. Mün- Prondzinski, Peter von 2015b: Augen auf und Tasche zu. In: Deutsches Polizei- chen (nicht veröffentlicht). blatt (2015) Heft 2, S. 19 – 21. Bouma, Henri; Baan, Jan; Burghouts, Gertjan u. a. 2014: Automatic de‑ Rodríguez, Ricardo; Vila, José 2015: Practical Experiences on NFC Relay At‑ tection of suspicious behavior of pickpockets with track-based fea‑ tacks with Android: Virtual Pickpocketing Revisited. Aus: Mangard, Stefan; tures in a shopping mall. In: Proc. SPIE, Vol. 9253 (2014). http://dx.doi. Schaumont, Patrick (Hrsg.) 2015: Lecture Notes in Computer Science – Ra- org/10.1117/12.2066851 [abgerufen am 21.4.2016]. dio Frequency Identification, Vol. 9440 (2015). Cham (Schweiz). Springer Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (Hrsg.) 2004: Risiken und International Publishing AG. 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Europol 2013: Europol hosts International Pick Pocketing Conference (Press 14. September 1990 (GVBl. S. 397) BayRS 2012-1-1-I, das zuletzt durch Release). www.europol.europa.eu/print/content/europol-hosts-internatio- § 2 G zur Änd. des Bayerischen VersammlungsG und des PolizeiaufgabenG nal-pick-pocketing-conference [abgerufen am 15.4.2016] vom 23.11.2015 (GVBl. S. 410) geändert worden ist. Europol 2014: Experts gather for conference on international pickpocke‑ Strafgesetzbuch (StGB) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. Novem- ting gangs (Press Release). www.europol.europa.eu/latest_news/experts- ber 1998 (BGBl. Teil I, S. 3322), das zuletzt durch Artikel 5 des Gesetzes gather-for-conference-on-international-pickpocketing-gangs [abgerufen vom 10. Dezember 2015 (BGBl. Teil I, S. 2218) geändert worden ist. am 15.4.2016] Strafprozessordnung (StPO) in der Fassung der Bekanntmachung vom 7. April Europol 2015: International pickpocketing gangs conference (Press Release). 1987 (BGBl. Teil I, S. 1074, 1319), die zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes www.europol.europa.eu/content/international-pickpocketing-gangs-confe- vom 21. Dezember 2015 (BGBl. Teil I, S. 2525) geändert worden ist. rence [abgerufen am 15.4.2016] Juniper Research 2014: Apple Pay and HCE to push NFC payment users to Bildquellenverzeichnis more than 500 million by 2019, Juniper Research finds. www.juniperre- Abbildung 1 – „Der Gaukler“ von Hieronymus Bosch: The Yorck Project: search.com/press/press-releases/apple-pay-and-hce-to-push-nfc-payment- 10 000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. DIRECTMEDIA­ Pu- users-to-mor [abgerufen am 21.4.2016] blishing GmbH. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hieronymus_ Süddeutsche Zeitung 2015: Stadt der 10 000 Augen – Videoüberwachung Bosch_051.jpg. in München. www.sueddeutsche.de/muenchen/videoueberwachung-in- Abbildung 2 – „Die Treulosigkeit der Welt“ von Pieter Bruegel dem Älte- muenchen-stadt-der-augen-1.2316618 [abgerufen am 28.4.2016] ren: The Yorck Project: 10 000 Meisterwerke der Malerei. DVD-ROM, 2002. DIRECT­MEDIA Publishing GmbH. https://commons.wikimedia.org/wiki/ File:Pieter_Bruegel_d._Ä._035.jpg. Rechtsquellen-/Rechtsprechungsverzeichnis BGH, Großer Senat für Strafsachen, Beschl. v. 22.3.2001, GSSt 1/00, BGHSt 46, 321 = NJW 2001, 2266; NStZ 2001, 421. Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei Kontakt (Polizeiaufgabengesetz – PAG) in der Fassung der Bekanntmachung vom [email protected]

Unabhängige Zeitschrift für die kriminalistische Wissenschaft und Praxis · Kriminalistik 71. Jahrgang Herausgeber: Klaus Welter lic. iur Thomas Sollberger Urheberrecht: Prof. Dr. Jürgen Stock Leitender Kriminaldirektor, DHPol Chef Kriminalabteilung Kantonspolizei Bern Die in dieser Zeitschrift veröffentlichten Bei- Gerneralsekretär IKPO – Interpol, Lyon Dr. Karl-Heinz Blümel Dr. Esther Omlin träge – auch die bearbeiteten Gerichtsent- scheidungen und Leitsätze – sind urheber- Leiter Abt. 3, Bundespolizeipräsidium Oberstaatsanwältin des Kantons Obwalden Holger Münch Potsdam rechtlich geschützt. Übersetzung, Nachdruck Präsident des Bundeskriminalamtes – auch von Abbildungen –, Vervielfältigungen Redaktion: Österreich: auf photomechanischem oder ähnlichem Ralf Michelfelder Wege oder im Magnettonverfahren. Vortrag, Bernd Fuchs (bf), Chefredakteur Präsident des LKA Baden-Württemberg Mag. (FH) Gerhard Brenner Funk- und Fernsehsendung sowie Speiche- Leitender Kriminaldirektor a. D., [email protected] rung in Datenverarbeitungsanlagen – auch Robert Heimberger Postfach 110354, 69072 Heidelberg, auszugsweise – sind nur mit Quellenangaben Präsident des Bayerischen LKA [email protected], Tel. 0162/2555435 und nach schriftlicher Genehmigung durch Verlag: Christian Steiof Redaktion Recht aktuell: den Verlag gestattet. Namentlich gezeichnete C.F. Müller GmbH · Kriminalistik Direktor des LKA Berlin Prof. Dr. Barbara Blum (bb) Artikel müssen nicht die Meinung der Redak- Waldhofer Str. 100 tion wiedergeben. Aus Gründen der besseren Dirk Volkland Prof. Dr. Jürgen Vahle (jv) 69123 Heidelberg Lesbarkeit wird bei Personenbezeichnungen Direktor beim Polizeipräsidium, Fachdirektion Redaktion Campus: Tel. 06221/489-416 die männliche oder weibliche Form verwendet. Landeskriminalamt, Brandenburg Fax 06221/489-624 Dabei ist das jeweils andere Geschlecht selbst- Carl-Ernst Brisach www.kriminalistik.de verständlich mit eingeschlossen. Es werden Andrea Wittrock Direktor beim BKA a. D., nur unveröffentlichte Originalarbeiten ange- Leiterin LKA Bremen nommen. Die Verfasser erklären sich mit einer Klaus Welter Verlagsredaktion: Thomas Menzel Ltd. Kriminaldirektor i. H., Leiter FG 11, nicht sinnentstellenden redaktionellen Bearbei- Leiter des LKA Hamburg DHPol, Münster Judith Hamm, Tel. 06221/489–416 tung einverstanden. Mit der Annahme eines [email protected] Manuskriptes gehen sämtliche Verfügungs- Sabine Thurau Ralf Gromann und Verwertungsrechte auf den Verlag über. Präsidentin des Hessischen LKA Kriminaldirektor i. H., Dozent im FG 11, Anzeigen: DHPol, Münster Vertrieb: Judith Hamm, Telefon 06221/489–416 Ingolf Mager C.F. Müller GmbH Direktor des LKA Mecklenburg-Vorpommern Norbert Pöggeler Es gilt die Anzeigenpreisliste Nr. 44 vom Kriminaldirektor i. H., Dozent im FG 12, 1. Januar 2017 Abonnentenservice Uwe Kolmey DHPol, Münster Frau Jutta Müller Präsident des LKA Niedersachsen Hultschiner Straße 8 Schweiz: Bezugsbedingungen: 81677 München Uwe Jacob Dr. Peter W. Pfefferli Bezugspreise 2017: Inland: € 184,99 + Email: [email protected] Direktor des LKA Nordrhein-Westfalen € € Telefon: +49 89 2183-7110 Forensisches Institut Zürich 27,50 Versandkosten. Ausland: 184,99 € Telefax: +49 89 2183-7620 Johannes Kunz [email protected] + 33,– Versandkosten, sFr 254,– inkl. Versandkosten. Einzelheft € 19,99 zzgl. Leiter LKA Rheinland-Pfalz Schweiz: lic. iur. Christian Aebi Versandkosten. Vorzugspreis für Studen- Harald Schnur Oberstaatsanwalt, Staatsanwaltschaft des ten (nur bei Vorlage einer gültigen Imma- Vertriebsstelle Schweiz (Zahlungen, Adressänderungen): Leiter Direktion 2, Kriminalitätsbekämpfung/ Kantons Zug trikulationsbescheinigung): € 89,99 zzgl. Ursula Meier, Giacomettistr. 1, Landeskriminalamt, beim Landespolizeipräsi- Versandkosten. Alle Preise verstehen sich lic iur. Alberto Fabbri, LL. M. CH-8049 Zürich,Tel./Fax +41(0)443421991, dium Saarland inkl. 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Das Abonnement verlängert Druck: Direktor des LKA Schleswig-Holstein sich zu den jeweils gültigen Bedingungen Fürsprecher Jürg Noth um ein Jahr, wenn es nicht 8 Wochen vor AZ Druck und Datentechnik GmbH, Frank-Michael Schwarz Chef Grenzwachtkorps GWK, Eidg. Ablauf des Bezugszeitraums schriftlich ge- Heisinger Straße 16, 87437 Kempten Präsident des LKA Thüringen Finanzdepartement Bern kündigt wird. ISSN 0023-4699

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