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SWR2 Musikstunde

Dänische Entdeckungen (5) Niels Wilhelm Gade und

Von Jörg Lengersdorf

Sendung: Freitag, 31. Juli 2015 9.05 – 10.00 Uhr Redaktion: Ulla Zierau

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SWR2 Musikstunde, 31. Juli 2015

Ich weiß ein Lerchennestlein, und mehr verrat ich nicht, liegt unter einem Ästlein, versteckt vorm Augenlicht. Im Nest da gibt es Junge, in frischem Federkleid Sie piepen, haben Zungen, die Schnäbel offen weit Die beiden alten Lerchen, die fliegen dicht heran Ich denke mir, sie merken, dass man mir trauen kann Ich blinzle hinterm Zaune, da seh´ ich alles fein Ich stell mich auf die Zehen, ich will ganz stille sein. Der Fuchs, der will sie beißen, ein Junge will ans Nest Doch niemand soll es wissen, wo mein Geheimnis ist.

Musik 1, 1.00min Carl Nielsen Jeg ved en laerkerede, Kinderlied Inga Nielsen (Kinderaufnahme, mit 9 Jahren eingesungen, Vater Arne sitzt am Klavier) Voices - Live and studio recordings 1952-2007 Chandos 10444

Im Alter von Neun Jahren machte die damals noch ganz kleine dänische Starsopranistin Inga Nielsen diese Aufnahme mit dem Herrn Papa am Klavier, 1955: „Ich weiß ein Lerchennest“ Carl Nielsen schreibt bis 1931 immer wieder Kinderlieder, Chorlieder, Wanderlieder, Liebeslieder, häufig auf zeitgenössische dänische Gedichte. Und viele dieser winzigen Juwelen werden auch deshalb so populär, weil die einprägsamen Melodien schon zu seinen Lebzeiten in Schulbüchern abgedruckt werden und in Gesangbüchern der Volkshochschulen. Die dänische Singbewegung ist bis heute ohne Carl Nielsens Musik nicht denkbar.

Misstöne häufen sich um 1912 vor allem im Privatleben von Carl und Ehefrau Anne Marie. Das Paar mit 3 Kindern ist ein frühes Beispiel einer Beziehung, in der beide Partner vehement ihre beruflichen Karrieren verfolgen. Anne Marie als erfolgreiche Bildhauerin, Carl als Komponist und Dirigent. Streit und Eifersüchteleien gibt es deswegen eigentlich seit Beginn der Beziehung, aber irgendwann scheint die Liebe unrettbar verloren. Wenn man sich fragt, warum zwischen Eheleuten ein so umfangreicher Briefwechsel existiert wie zwischen Carl und Anne Marie, dann lautet die Begründung denkbar einfach: die beiden sehen sich fast nie. Marie arbeitet oft monatelang ununterbrochen an einem Reiterstandbild für das dänische Königshaus, ist selten daheim. Carl geht derweil auf die Suche nach erotischer Ablenkung.

Musik 2, 1.25min Coda aus: für Klarinette, Fagott, Horn, Cello und Kontrabass Brynildsen, Lars Christian Holm {Klarinette}; Hannevold, Per {Fagott} Olsen, Vidar {Horn}; Guenther, Sally {violc} Eide, Torbjørn {Kontrabass} Labelcode: 03240 BIS Bestellnummer: 428

„Serenata in vano“, vergebliche Serenade, so lautet der Titel dieses humorvollen Nielsen Stücks von 1914, das privat durchaus auf einen ernsten Hintergrund trifft. Das Stück beschreibt, wie der Liebesruf eines Musikers ungehört vor dem Haus der Geliebten verhallt. Carl Nielsens Liebesrufe verhallen zwar um 1914 bei der Ehefrau Anne Marie, dafür werden sie aber zu Anne Maries Unglück wohl zu oft anderweitig erhört. Schon aus ganz jungen Jahren hat Nielsen einen unehelichen Sohn mit einer Dienstmagd, 1912 kommt noch eine uneheliche Tochter dazu: Rachel Siegmann, Spross einer Liaison mit einer jungen Frau vom Theater. Als Carl dann auch noch während Anne Maries langer Abwesenheiten eine Affäre mit dem Kindermädchen beginnt, ist das Maß für die Ehefrau voll. Nach einem letzten gemeinsamen Skiurlaub 1915 trennt sich Anne Marie von Carl Nielsen, das Scheidungsgesuch hat sie bereits eingereicht. Offiziell wird das Gesuch auch 1919 bewilligt, eine Scheidung danach allerdings nie wirksam vollzogen. Letztlich haben sich bis in die Gegenwart sämtliche Nielsen Biografen mit den Krisenjahren des Paares beschäftigt, aber die Recherche bleibt schwierig, denn viele Dokumente bleiben bis heute auf familiären Wunsch unter Verschluss. Sicher ist: Zwischen 1915 und 1922 leben Anne Marie und Carl getrennt.

Die widerstreitenden Kräfte des Lebens beschreibt Carl Nielsen in seiner vierten Symphonie von 1916. Zwei Pauken zerfetzen wild den orchestralen Zusammenhalt. Eine Pauke steht vor, eine hinten im Orchester. „Das Unauslöschliche“ so überschreibt Nielsen seine vierte Symphonie. Die Musik pumpt unablässig Adrenalin…

Musik 3, 2.54min Allegro aus: Sinfonie Nr 4, op 29 Orchester: London Symphony Orchestra Dirigent: Schmidt, Ole Labelcode: 07905 Labelname: UNICORN Bestellnummer: 2000/2

Keine atonale Musik, viel mehr eine durch den Tonraum taumelnde, auch vom Rhythmus hin und hergerissen, die schließlich in ein strahlendes E Dur mündet. Ein Kritiker beschreibt den Triumph der Uraufführung 1916 so: „Zum ersten Mal hat Nielsen ein Meisterwerk geschaffen, das sich zu den höchsten Wolken erhebt, und doch beide Füße fest auf den Boden setzt. Diese eine Symphonie wird außerhalb der Grenzen unseres kleinen Landes triumphieren! Die dänischen Farben werden wehen über dieser aufrüttelnden, virilen menschlichen und doch so fremden neuen Musik. Die Welt da draußen wird die Ohren öffnen und auf Dänemark schauen.“

Die euphorischen Worte des Kritikers greifen vielleicht ein bisschen zu hoch, denn die Welt da draußen hat 1916 auch noch anderes, weniger Erhebendes, im Sinn. Vor den Toren Dänemarks tobt der Weltkrieg.

Im Privaten löst sich langsam das Familienleben in Einzelteile auf. Der Sohn hat seit seiner Kindheit wegen einer Hirnhautentzündung einen irreparablen Hirnschaden, und arbeitet in der Nähe des Ferienhauses der Familie auf wechselnden Bauernhöfen. Die beiden Töchter heiraten. Die erste Tochter wird Arztgattin, die zweite setzt die musikalische Familientradition fort, und verliebt sich in den ungarischen Geiger Emil Telmanyi. Zuerst trifft sich das Liebespaar heimlich in Schweden, denn Carl Nielsen hat Vorbehalte gegen den jungen Mann als Schwiegersohn, versucht wohl gar, seiner Tochter den Geliebten auszureden. Schließlich lenkt der Vater ein. Die beiden lassen sich 1918 trauen, und Carl Nielsen bringt noch zum Fest ein Hochzeitsgeschenk mit: das Orchesterstück „Pan und Syrinx“.

Musik 4, 3.13min Carl Nielsen Pan und Syrinx op. 49 Sinfonieorchester des Schwedischen Rundfunks Dirigent: Salonen, Esa-Pekka (30.06.1958) Finnland Labelcode: 00149 Labelname: CBS MK44934

Die schöne Nymphe Syrinx wird von Gott Pan verfolgt, als sie keinen Ausweg mehr sieht, läuft sie ins Uferschilf eines Flusses, und bittet Göttin Artemis, sie in ein Schilfrohr zu verwandeln. Als Pan dann auf der Suche nach Syrinx vor lauter Schilf die verwandelte Nymphe nicht mehr findet, schneidet er sich aus dem Schilf ein Rohr, bläst darauf, und erfindet so die Panflöte. Pan und Syrinx komponiert Carl Nielsen 1918 für die Hochzeit seiner jüngsten Tochter. Auch das nächste große Projekt Nielsens spielt im Reich von Sagen und Legenden, die äußeren Umstände geraten allerdings deutlich weniger märchenhaft.

Zu einer geplanten monumentalen Aufführung des Bühnenstückes „ und die Wunderlampe“ vom Kopenhagener Dichter Adam Oehlenschläger schreibt Nielsen 1918 eine Schauspielmusik, in die er enorm viel Energie und Ideen steckt. Die Premiere soll ein Feuerwerk an modernster Theatertechnik werden, es wird alles an Effekt aufgefahren, was Kopenhagener Bühnen hergeben. Scheinbar aber wird einiges bei der Planung nicht bedacht, Dramaturgie und Raumbedarf platzen aus allen Nähten, so dass zuletzt die Premiere auf zwei Abende ausgedehnt werden muss, während bei zugebautem Orchestergraben nirgendwo auf der Bühne mehr Platz fürs Orchester bleibt. Als der Produktionsleiter schließlich beschließt, das komplette Orchester unter eine Bühnentreppe zu quetschen , außerdem einige Stücke von Nielsen komplett zu streichen, ist das zu viel für den Komponisten. Empört distanziert sich Nielsen von der gesamten Aufführung, und verlangt, dass sein Name von Plakaten gestrichen, aus Pressemitteilungen und Programmheften genommen wird. Ironischerweise wird Nielsens Musik trotzdem einer der größten Schlager der skandinavischen Musikgeschichte.

Musik 5, 4.29min Carl Nielsen Schlusstanz aus Suite zur Bühnenmusik „Aladdin“ Nach Adam Oehlenschläger Göteborgs Symfoniker, Ltg: Järvi, Neeme Estland;USA 00173 Deutsche Grammophon Bestellnummer: 447757-2

Nach der Premiere der Aladdin Mammutproduktion, von der sich Nielsen offiziell distanziert, stellt der Komponist aus einem Bruchteil der hunderten Seiten Schauspielmusik eine Suite zusammen, die noch heute gern bei Galakonzerten großer Symphonieorchester gegeben wird.

Carl Nielsen arbeitet seit der Aladdin Musik häufig in Ruhe und Abgeschiedenheit auf dem Land. Er hat 1918 eine Sommerresidenz gekauft, wohl auch, um Noch- Ehefrau Anne Marie zurück zu gewinnen. In einem Brief schreibt er: Das Haus in Skagen habe ich extra gekauft in der Hoffnung, Du mögest herkommen um mit mir zusammen zu sein, das weißt Du doch. Zu sehen, wie das entzückende Häuschen meinem Wunsch nicht helfen kann, war so eine große Enttäuschung für mich,“

Bei Landaufenthalten genießt Nielsen so allein die Stille, die er aus seiner Kindheit so gut kennt. In Kopenhagen nimmt er dagegen schon die Annehmlichkeiten modernen Wohnkomforts in Anspruch. Ein Telefon zum Beispiel. Im Herbst 1921 ruft Carl Nielsen den befreundeten Pianisten Christian Christiansen zu Hause an. Der probt gerade mit Bläserkollegen Mozart. Während der Pianist sich am Telefon noch angeregt zu Nielsen spricht, hört der bereits nicht mehr hin. Nielsen ist fasziniert vom Klang, der weiterprobenden Bläser im Hintergrund. Nielsen legt auf, und eilt persönlich zur Wohnung des Pianisten, um den Rest der Bläserprobe zu hören. Am selben Abend beschließt er, ein Bläserquintett zu komponieren.

Musik 6, 2.29min Carl Nielsen Allegro ben moderato aus: Quintett op 43 Pahud, Emmanuel {Flöte} Meyer, Sabine {Klarinette} Schweigert, Stefan {Fagott} Kelly, Jonathan {Oboe} Baborák, Radek {Horn} Labelcode: 06646 Labelname: EMI CLASSICS Bestellnummer: 3 94421 2

Fester Bestandteil des Bläserquintett-Repertoires ist Carl Nielsens op. 43, zu welchem er 1921 während eines Telefonanrufs bei probenden Musikerkollegen inspiriert wird. 1921 ist auch jenes Jahr, in dem der dänische Nationalkomponist Nielsen von der dänischen Chorgesellschaft explizit gebeten wird, ein nationales dänisches Chorwerk zu schreiben. Nach Ende des ersten Weltkriegs ist man im ehemals neutralen Dänemark bemüht, die Bedeutung der Nation auch kulturell wieder zu untermauern.

Zunächst verspürt Nielsen kaum Lust dazu, er arbeitet bereits an seiner fünften Symphonie, außerdem scheint ihn der nationalromantische Text eines amateurdichtenden Doktors zunächst nicht zu inspirieren. Nielsen verlegt sogar das zu vertonende Gedicht, er findet es irgendwo hinter seinem Schreibtisch, allerdings erst wenige Wochen, bevor das Stück seine Premiere haben soll. Doch dann geht alles ganz schnell. Der Text des Doktors aus Fünen scheint in Nielsen alte Kindheitserinnerungen wiederzubeleben. In Nielsens „Frühling auf Fünen“ tauchen die Kindheitsbilder musikalisch wieder auf, die er später in seinen Erinnerungen auch literarisch festhalten wird: die spielenden Inselkinder, der blinde Fiedler, den Nielsen noch in der Kapelle seines Vaters gehört hatte, die leuchtenden Apfelblüten.

„Selbst die Fantasie der zwitschernden Spatzen wird angeregt durch das Kichern der fünischen Mädels, wenn sie jubeln und lachen in den Gärten hinter den Hecken“, schreibt Nielsen später in seinen Erinnerungen.

Musik 7, 3.30min Carl Nielsen Schlusschor aus: Frühling auf Fünen op. 42 Sinfonieorchester und Chor des Dänischen Rundfunks Kinderchor des Sankt Annae-Gymnasiums, Kopenhagen Dirigent: Segerstam, Leif Labelcode: 07038 Labelname: CHANDOS Bestellnummer: 8853

„Wir stecken Blumen in den Hut und lassen die Mäntel wehen. Komm, gib mir einen Kuss, mein Schatz, ohne weiteren Schwatz. Wir tanzen den ganzen Frühling hindurch, und vergessen die Qual des Winters. Die Nacht gehört uns…“, singt der Schlusschor in Carl Nielsens „Frühling auf Fünen“. Die Premiere der Kantate am 8. Juli 1922 in der großen Markthalle von Odense ist ein dänisches Staatsereignis. Das Königspaar ist anwesend, 900 Menschen aus ganz Dänemark singen in den Chören, 8000 Zuschauer sitzen und stehen im Publikum. Für Nielsen indes wird der Weg nach Odense beschwerlich. Wenige Tage vor der Premiere klagt er über Herzbeschwerden, soll eigentlich im Bett bleiben. Aber wie so häufig versetzt eine kurzzeitige Besserung seines Zustands ganz knapp vor dem Konzert Nielsen in arbeitsame Hochstimmung. Im letzten Moment sagt er seine Teilnahme zu, möglicherweise auch, weil er weiß, dass er seine Immer-noch-Ehefrau Anne Marie dort antreffen wird. Und tatsächlich markiert die Aufführung von „Frühling auf Fünen“ die Versöhnung der beiden Eheleute, die seit 7 Jahren getrennte Wege gehen. Möglicherweise bedarf Carl auch der Zuwendung durch Anne Marie mehr denn je. Nach der Premiere verordnet der Doktor wegen des schwachen Herzens einmal mehr strenge Bettruhe, Arbeit wird Nielsen untersagt. Eine einzige Tätigkeit wird ärztlich erlaubt: Nähen. Und so stürzt der ruhelose Carl Nielsen sich im Sommer 1922 auf ein neues Hobby: Handarbeit. Es bleibt kaum ein Freund oder Kollege der Familie, der nicht von Nielsen eine Tischdecke oder ein Tüchlein mit Spitzenbesatz geschenkt bekommt. Und Carl und Anne Marie beschließen nunmehr, zusammen zu bleiben, bis der Tod sie scheidet.

Musik 8, 3.53min Carl Nielsen Allegro (IV) aus Sinfonie Nr. 5 op. 50 San Francisco Symphony Orchestra Dirigent: Blomstedt, Herbert (11.07.1927) Labelcode: 00171 Labelname: Decca Bestellnummer: 421524-2

Nielsens fünfte Sinfonie entsteht zur gleichen Zeit wie die Kantate „Frühling auf Fünen“. Auch hier zeigt sich wieder, welch unglaubliche Ausdrucksbreite Nielsen umspannen kann. Während die Kantate naiv volkstümlich daherkommt, ist die Symphonie ein monumentaler Kampf komplexer orchestraler Klangmassen. Auch wenn am Ende einmal mehr die Harmonie über die Dissonanzen triumphiert, ist das Publikum geschockt. Schon während der Proben bekommt Nielsen von Musikern zu hören, nach seinen Kakophonien könne Arnold Schönberg getrost einpacken. In vielerlei Hinsicht ist das ein unqualifiziertes Urteil, denn hörbar haben Nielsens dissonante Episoden ja wenig mit dem endgültigen Abschied von Tonalität zu tun, wie jene Schönbergs: Nielsen feiert ja gerade den Sieg der alten Harmonie durch lange Kämpfe. Dennoch wird Nielsen vom empörten Publikum völlig unzutreffend in einen Topf mit allen möglichen Neutönern geworfen. „Wir brauchen keine ausländische Invasion solcher Klänge. Schlechte Komponisten haben wir selbst genug“, schallt es ihm in Berlin entgegen. In Stockholm gibt es einen regelrechten Skandal, als ein Teil der Zuhörer schon während des ersten Satzes buhend den Saal verlässt. Nun gehören Skandale in den wilden Zwanzigern aber auch zum Geschäft. Unglücklicherweise sind aber Skandale in Stockholm weniger geschichtsträchtig als in Paris. Auch in dieser Hinsicht bleiben Nielsens Skandale eher Fußnoten. Besonders befremdet ist das Publikum von Nielsens aggressivem Gebrauch des Schlagwerks. Häufig hört man in seinen großen Orchesterwerken Perkussionsinstrumente, die die orchestrale Harmonie auf eine bizarre Art und Weise zerfetzen. So nimmt Carl Nielsen mit seiner sechsten Symphonie jene sarkastische Doppelbödigkeit vorweg, die man viel später erst bei Schostakowitsch hört.

Musik 9, 2.24min Carl Nielsen Finale aus Sinfonie Nr. 6 Orchester der Königlichen Oper Kopenhagen Dirigent: Berglund, Paavo (14.04.1929-25.01.2012) Finnland Labelcode: 00316 RCA Records Label Bestellnummer: RD60427

„Sinfonia Semplice“ – einfache Symphonie nennt Carl Nielsen seine letzte Sinfonie, die sechste, aus dem Jahr 1925. Einfach mögen dem Hörer allenfalls einige volkstümliche Elemente vorkommen, die Nielsen aber immer wieder genüsslich verzerrt durch plötzliche Einwürfe oder perkussive Seitenhiebe. Und so ist der Titel „einfache Symphonie“ allenfalls ein Hinweis auf Nielsens Gemütslage in seinen letzten Jahren. Die sechste Symphonie ist Ausdruck einer künstlerischen Krise, von der Nielsen etwa 1925, zur Zeit seines 60sten Geburtstages, heimgesucht wird. „Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich alle künstlerischen Launen aus meinem Dasein verbannen. Ich würde vielleicht Angestellter, oder irgendetwas Nützliches“, erklärt Nielsen in einem Interview, und lässt durchblicken, dass ihn ein vermeintlich „einfaches Leben“ vielleicht glücklicher gemacht hätte: „Ich wurde ja gezwungen, Musiker zu werden, durch die Umstände. Vielleicht wurde ich auch Musiker, weil ich der Illusion anhing, Musik könne mir Glück und Zufriedenheit bringen… Seelenfrieden für diesen Zwang, etwas zu schaffen, der mich so gequält hat“, äußert Nielsen einem Journalisten gegenüber. Es ist jene Zeit, in der Nielsen sich dennoch ein weiteres Ventil verschafft, für seinen Schaffensdrang. In den Jahren bis 1927 werden zwei Bücher Nielsens veröffentlicht: der autobiographische Bericht einer „Kindheit auf Fünen“ gilt bis heute als literarisches Meisterwerk, ein weiteres Buch mit Essays erhält den Titel „Lebendige Musik“. Auch hier ist Nielsen auf der Suche nach Einfachheit: „Über Musikgeschichte kann man in jedem Lexikon lesen, davon wird man klüger, allerdings kaum musikalischer. Den Übersättigten muss man zeigen, dass man einen melodischen Terzsprung als Gottesgeschenk betrachten sollte, eine Quarte als ein Erlebnis und eine Quinte als höchstes Glück.“

Musik 10, 4.13min Carl Nielsen Allegretto un poco aus: Klarinettenkonzert FS129 Meyer, Sabine (Klarinette) Berliner Philharmoniker Rattle, Simon 06646 EMI CLASSICS Bestellnummer: 3 94421 2

Wieder ist es, wie so häufig in Nielsens Spätwerk, die kleine Trommel, die die Idylle der Musik nachhaltig stört. Man hat sogar behauptet, Maurice Ravel habe in seinem Bolero deswegen eine kleine Trommel so prominent eingesetzt, weil er kurz zuvor Nielsen getroffen habe. 1928, drei Jahre vor seinem Tod, komponiert Carl Nielsen sein Klarinettenkonzert, von dem der Widmungsträger, ein befreundeter Klarinettist behauptet, Nielsen habe zielsicher die schwierigsten Noten gefunden, die man auf einer Klarinette spielen könne.

Äußerlich betrachtet ist Carl Nielsen in diesen letzten Jahren seines Lebens keineswegs zur Ruhe gekommen. Wie in seiner Musik häufig das Naivste neben dem Komplexesten existiert, findet man in seinem Privatleben neben der allgegenwärtigen Sehnsucht nach Einfachheit auch das komplette Gegenteil: den technikbegeisterten Autofahrer Nielsen zum Beispiel. Mit 59 Jahren erst macht Nielsen seinen Führerschein, ist dann aber auch wegen seines unvorsichtigen Umgangs mit verschiedenen Autos gleich in mehrere Unfälle verwickelt. Einmal verliert er auf einer Landpartie ein Rad, das er mühsam in einem Feld suchen muss, bevor es weitergehen kann. Nachdem er dann 1930 mit einer Straßenbahn kollidiert, verbringt er drei Wochen im Krankenhaus.

Obwohl also Nielsen nach außen hin häufig unter Hochdruck zu leben und zu arbeiten scheint, findet seine Musik zuletzt zu einer ganz neuen Form von Innerlichkeit. Zwei der letzten großen Werke Nielsens sind geistliche Musik. Das Orgelwerk und drei Motetten, die Nielsen im Stil der großen niederländischen Meister des 16. Jhds modelliert.

Musik 11, 1.38 Carl Nielsen Benedictus aus Drei Motetten FS139 Chor des Dänischen Rundfunks Rasmussen, Frans 07038 Labelname: CHANDOS Bestellnummer: 8853

Am Ende seines Lebens schreibt Nielsen geistliche Musik. Er bleibt der unvorhersehbare sperrige Individualist der dänischen Musikgeschichte. In Dänemark ist Nielsens Stellung als Nationalheld bis heute unumstritten. Im angelsächsischen Raum hat sich vor allem Dirigent Leonard Bernstein immer wieder für Nielsens Werk stark gemacht. Und hierzulande scheint sich zumindest im Nielsen Jahr 2015 eine echte Renaissance anzudeuten. Man findet Nielsens Werke inzwischen häufig auf den Programmen der großen Sinfonieorchester, die Berliner Festspiele ab September haben einen großen Nielsen Schwerpunkt. Aber noch ist Nielsens Geschichte nicht zu Ende erzählt.

1931 überwacht Nielsen die Vorbereitungen zu einer Neuinszenierung seiner Oper im königlichen Theater Kopenhagen. Als ein Bühnenarbeiter Hilfe mit den Seilzugsystemen der Kulisse benötigt, springt Nielsen herbei, klettert mit 66 Jahren einen Strick hoch, um selbst Hand anzulegen. Die Anstrengung ist zu viel. Er bricht zusammen. Wieder einmal muss er wegen seines schwachen Herzens Bettruhe halten. Und wieder einmal schlägt er die Warnsignale in den Wind, geht trotz anders lautender Ratschläge in seine eigene Opernpremiere, Theaterfieber, zum letzten Mal. Kurz nach der Aufführung kommt Nielsen ins Krankenhaus, stirbt wenige Tage später am 3. Oktober 1931. Bei der Beerdigung 6 Tage später ist sogar das Königspaar anwesend, die Straßen vor der Kathedrale sind überfüllt mit trauernden Menschen. Vielleicht hat Nielsen, der ehemalige bettelarme Fiedelbub aus der Provinz, ja seinen letzten Gedanken schon in seinen Kindheitserinnerungen an die Insel Fünen formuliert, es wäre jedenfalls ein schöner Gedanke: „Ja, ich werde zurückkommen nach Fünen, und Mutter und all meinen Freunden von Kopenhagen erzählen. Dann spiele ich Triller und Doppelgriffe für sie. Und sie werden lächeln…“

Musik 12, auf Schluss Carl Nielsen Eine Fantasiereise zu den Färöern Göteborgs Symfoniker Järvi, Neeme (07.06.1937) Estland;USA Labelcode: 00173 Labelname: Deutsche Grammophon Bestellnummer: 447757-2