IWK 10 Jahre „Frauen sichtbar machen“ biografiA – datenbank und lexikon österreichischer frauen HRSG. VON ILSE KOROTIN

Ilse Korotin, Edith Stumpf-Fischer, Christa Bittermann-Wille, Helga Hofmann-Weinberger VORWORTE ...... 2

Brigitte Bischof NATURWISSENSCHAFTERINNEN AN DER UNIVERSITÄT WIEN BIOGRAFISCHE SKIZZEN UND ALLGEMEINE TRENDS ...... 5

Edith Stumpf-Fischer „… AUS DEM DUNKEL WIEDER AUFGETAUCHT“ ZUM BEISPIEL FRAUEN IM BUCHWESEN ...... 13

Ilse Korotin „WAS WIRD UNS DIESE FRAU DOKTOR SCHON WICHTIGES ZU SAGEN HABEN?“ INTELLEKTUELLE FRAUEN IM WIEN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT ...... 16

Susanne Blumesberger UNFASSBARE BIOGRAFIEN… VON DER MÖGLICHKEIT UND UNMÖGLICHKEIT, DEN LEBENSWEGEN JÜDISCHER FRAUEN NACHZUSPÜREN ...... 22

Christine Kanzler, Karin Nusko KEINE HELDINNEN? ÖSTERREICHISCHE FRAUEN IM WIDERSTAND GEGEN DEN NATIONALSOZIALISMUS ...... 30

Klara Löffler DAS (AUTO-)BIOGRAFISCHE INTERESSE. AUF EINE LANGE ZUKUNFT! VON DER TOPIK DER FINDUNG ZUR TOPIK DER ERFINDUNG ...... 38

Ingrid Roitner HELENA ANTONIA AUS LÜTTICH EINE VIRGO BARBATA AM HOF DER ERZHERZOGIN MARIA IN GRAZ ...... 41

Felicitas Seebacher „DIE MACHT DER IDEE“ – ROSA KERSCHBAUMER UND DIE ÖFFNUNG DER UNIVERSITÄT WIEN FÜR DAS ‚ANDERE“ GESCHLECHT ...... 50

Brigitte Dorfer „SO ANSCHEINEND TRAGÖDIENLOS“ – DAS LEBEN VON MARTHA TAUSK ...... 57

DIE AUTORINNEN ...... 63

ISSN: 0020 - 2320 MITTEILUNGEN DES INSTITUTS FÜR WISSENSCHAFT UND KUNST 63. JAHRGANG 2008, NR. 1-2, Euro 12,50 Linie des Blattes: Verständigung der Öffentlichkeit über die Arbeit des Instituts für Wissenschaft und Kunst sowie Veröffentlichungen von wissenschaftlichen Arbeiten, die damit in Zusammenhang stehen. Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben die Meinung der AutorInnen wieder und müssen nicht mit der redaktionellen Auffassung übereinstimmen. Eigentümer, Herausgeber und Verleger: Institut für Wissenschaft und Kunst. Redaktion, Layout: Dr. Thomas Hübel. Alle: 1090 Wien, Berggasse 17/1, Telefon: (1) 317 43 42, E-Mail: [email protected], Homepage: http://www.univie.ac.at/iwk. Druck: AV+Astoria Druck, 1030 Wien, Faradaygasse 6, Telefon: (1) 797 85-0 / Fax: (1) 797 85-218 IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008

ILSE KOROTIN 10 JAHRE „FRAUEN SICHTBAR MACHEN“ biografiA – DATENBANK UND LEXIKON ÖSTERREICHISCHER FRAUEN

Am 1. Juli 1998 startete die Projektinitiative „biografiA. schung, der Wissenschaftsgeschichte und Frauenfor- datenbank und lexikon österreichischer frauen“1 mit dem schung. Durch wissenschaftliche Projektarbeit, Publika- Ziel einer epochenumspannenden historisch-biografischen tionen und öffentliche Veranstaltungen wird biografiA Aufarbeitung österreichischer Frauenpersönlichkeiten. national und international als Vernetzungsplattform für Das Projekt biografiA ist eingebettet in die Tätigkeit der biografisch orientierte ForscherInnen wahrgenommen. Als Dokumentationsstelle Frauenforschung, welche als auto- interaktive Drehscheibe für MeinungsbildnerInnen aus nomes Studentinnenprojekt an der Universität Wien ihren Wissenschaft, Kunst und Kultur und den Medien fördert Anfang nahm und seit dem Jahr 1985 am Institut für biografiA die Wahrnehmung für spezifisch weibliche Wissenschaft und Kunst verankert ist. Themen und Strukturen im öffentlichen Bewusstsein. Vielseitigem Engagement ist es zu verdanken, dass die Das Jubiläumsheft zeigt einen Ausschnitt des Datenbank biografiA derzeit Einträge zu rund 15.000 Spektrums der fachspezifischen Kooperationen. Es Frauen aus allen Wirkungsbereichen und Zeitepochen beinhaltet biografische Studien, basierend auf Vorträgen im aufweisen kann. Der Erfolg des Unternehmens liegt vor Arbeitskreis „biografiA. Neue Ergebnisse der Frauenbio- allem auch im Aufbau eines Netzwerkes, in dem der grafieforschung“ ebenso wie Berichte über mehrjährig Austausch mit in- und ausländischen ForscherInnen, mit durchgeführte Modulprojekte. Archiven, Bibliotheken und Dokumentationsstellen eine Zu danken ist allen KollegInnen, Kooperationspart- zentrale Rolle spielt. nerInnen, ForscherInnen und FreundInnen des Projekts, die Der zeitliche Rahmen des Projekts spannt sich von der in den vergangenen Jahren zum Erfolg von biografiA bei- erstmaligen Nennung Österreichs bis zur Gegenwart und getragen haben. bezieht sich auf Österreich in seinen jeweiligen historischen Grenzen, wobei Schwerpunkte im Bereich der Ersten Frauenbewegung, der jüdischen Geschichte, der Wissen- ANMERKUNG: schaftsgeschichte, der Widerstands- sowie der Exilfor- schung erkennbar sind. 1 Das Basisprojekt wurde vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur in vier Projektphasen finanziert. Thematische Modulprojekte ermöglichten es ExpertIn- Thematische Modulprojekte konnten mit Unterstützung des nen, einzelne biografische Themenbereiche intensiver zu Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, des bearbeiten, wodurch Kompetenzerweiterungen und Zukunftsfonds der Republik Österreich, des Nationalfonds der Schwerpunktbildungen realisiert werden konnten. Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus sowie der biografiA bietet die Grundlage für weitergehende MA 57 Frauenförderung und Koordinierung von Frauen- Forschungen im Bereich der feministischen Geschichtsfor- angelegenheiten realisiert werden.

EDITH STUMPF-FISCHER AM ANFANG WAR – EINE FUSSNOTE

„So fehlt in Österreich immer noch ein biographisches Lexi- aus dem Beitrag von Helga Hofmann-Weinberger und kon der Frau: biographische Daten zu österreichischen Christa Wille2 mit dem Titel „Von der ‚Palatina’ zur Virtual Frauen müssen mühsam aus verschiedenen lexikalischen Library – Frauenspuren, Frauenberuf, Fraueninformation“. Quellen zusammengetragen werden. Dass ein solches Aufmerksam las ich als Herausgeberin der Festschrift Projekt auch in Zeiten europäischer ‚Sparpakete’ realisier- die Beiträge und dieser Satz elektrisierte mich förmlich: Der bar ist, zeigt das Beispiel eines vergleichbaren kleineren Gedanke lag doch so nahe! Warum war er nicht schon EU-Landes, nämlich Dänemark.“ früher aufgetaucht? Diese Sätze stehen auf S. 109 als Anmerkung 30 der Um gleich vorwegzunehmen, was ich zu diesem Zeit- Festschrift für Magda Strebl, der ersten Frau an der Spitze punkt noch nicht wusste: er war schon früher aufgetaucht – der Österreichischen Nationalbibliothek,1 und sie stammen viel früher: unter der ersten Wissenschaftsministerin Dr.

2 ILSE KOROTIN / EDITH STUMPF-FISCHER IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008

Hertha Firnberg, von ihr sehr begrüßt und unterstützt, orientierten Begriff „Beruf“ der bei Frauen oft eher zutref- hatten Univ. Prof. Dr. Erika Weinzierl und Dr. Ruth Aspöck fende Begriff „Wirkungsbereich“ eingeführt u. a. m. bereits biographische Daten über Frauen gesammelt. Doch Bei der Auswahl der Personen herrscht das Bemühen, sie mussten mit ganz einfachen Computern der ersten und möglichst weit über den traditionellen Kanon berühmter zweiten Generation arbeiten, und woran das Projekt Frauen und typischer Kategorien (wie Herrscherinnen, eigentlich gescheitert sei, seien die notwendigen materiellen Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen…) hinauszugehen. Mittel gewesen. So sei diese Sammlung ein relativ statt- Nun sind inzwischen erfreulicherweise bereits zahl- licher Torso geblieben, berichtet Erika Weinzierl.3 Dem reiche biographische Arbeiten über Frauengruppen wie Projekt biografiA aber sollte dieses Material (dank der Komponistinnen, Malerinnen, Politikerinnen u. a. erschie- Zustimmung von Erika Weinzierl) zugute kommen. nen. Aber es gibt noch viele bisher zu wenig beachtete Be- Doch so weit war es noch lange nicht. Zunächst reiche – oder auch Frauen, die zu keiner dieser Gruppen mussten die zwei wesentlichen Voraussetzungen geklärt gehören; hier erfüllt biografiA eine wichtige Funktion. Dazu bzw. geschaffen werden, und das waren – wie stets – ein Beispiel: es gibt eine Margaretha Lupac-Stiftung für Personal und Geld. Parlamentarismus und Demokratie, die alle zwei Jahre Ich wandte mich an die für Frauenförderung zuständige einen Preis vergibt. Im Österreich-Lexikon scheint sie nicht Abteilung des Wissenschaftsministeriums und fand in ihrer auf. Im Internet erfährt man, dass Frau Margaretha Lupac, Leiterin, Ministerialrätin Dr. Eva Knollmayer, die ich durch Jahrgang 1910, mit letztwilliger Verfügung ihr ganzes viele Jahre konstruktiver Zusammenarbeit im Ressort, ins- Vermögen dem Parlament vermachte. Zum Andenken an besondere in der Kommission zur Förderung der Frauen im sie wurde 2001 die Stiftung eingerichtet. Doch wer war Bundesdienst kannte, und in ihrer Mitarbeiterin Dr. Roberta diese Frau? Antwort auf diese Frage gibt die Datenbank Schaller-Steidl größtes Verständnis, Beratung und nachhal- biografiA, denn Frau Dr. Susanne Sanystin (Parlament) tige Unterstützung. Im Zuge der Überlegungen, wer dieses ging dem Lebensweg von Margaretha Lupac nach und Projekt leiten könnte, wurde beschlossen, eine diesbezüg- stellte die Ergebnisse ihrer Nachforschung der Datenbank liche Anfrage an Frau Dr. Ilse Korotin zu richten, die Leiterin zur Verfügung. der Dokumentationsstelle Frauenforschung des IWK Das Projekt biografiA hat jedoch nicht nur eine mög- (Institut für Wissenschaft und Kunst); sie arbeitete gerade – lichst breite Erfassung aller Lebensbereiche zum Ziel, gemeinsam mit Brigitta Keintzel – an einem einschlägigen sondern auch eine erweiterte Spurensuche, die möglichst Projekt, dem biographischen Lexikon „Wissenschafterinnen tief in die Vergangenheit reicht. Sie ist die Voraussetzung in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken“, das 2002 für eine geschichtliche Betrachtung – womöglich bis zu den im Böhlau Verlag erschienen ist. Und sie sagte zu. ersten als individuelle Persönlichkeiten fassbaren Frauen im Hinsichtlich der Finanzierung fand das Projekt entschei- Gebiet des heutigen Österreich, zum Beispiel Frauen, die dende Förderung durch das Wissenschaftsministerium hier zur Römerzeit lebten: Wer waren sie, wie lebten sie, (namentlich seien hier Sekt.Chef Dr. Sigurd Höllinger, „die Alte von Lendorf“ etwa, eine offenbar vornehme Frau Min.Rat Peter Seitz und Reg.Rat Robert Horvath genannt). aus dem 2. Jh. n. Chr. im heutigen Kärnten, oder Aurelia Die Durchführung erfolgte in mehreren Schritten: Die Primula, ebenfalls in Kärnten, die „ihrem über alles ersten Gespräche fanden im Sommer 1997 statt; bis Ende geliebten, verdienstvollen Ehemann“ Iulius Caius im 3. Jh. 1997 wurde der Strukturplan einer Vorbereitungsphase n. Chr. einen Grabstein errichten ließ; oder die Atilia im 1. ausgearbeitet und 1998 durchgeführt; unter anderem Jh. n. Chr. in der heutigen Steiermark, in ihrer norischen wurden Stellungnahmen zahlreicher wissenschaftlicher Tracht mit breiter Polosmütze, und viele andere, über die Expertinnen eingeholt und vorgelegt, die das Projekt ein- Grabsteine und Inschriften berichten? Anhand hellig als wichtiges Desiderat begrüßten. Mit 1.7.1998 epigraphischer und archäologischer Zeugnisse könnten konnte die Realisierung in Angriff genommen werden. zahlreiche Frauen aus dieser Zeit in das Licht der Sehr förderlich erwies sich auch die Zusammenarbeit Geschichte geholt werden. mit dem Österreichischen Biographischen Lexikon der Das Projekt biografiA trägt den Untertitel „Biografische Österreichischen Akademie der Wissenschaften, vertreten Datenbank und Lexikon österreichischer Frauen“ und damit durch Dr. Elisabeth Lebensaft, unter anderem im Hinblick ist ein Programm ausgedrückt: Begonnen wurde mit dem auf deren EDV-technische Erfahrung. Sammeln möglichst vieler Daten unterschiedlichsten Was den Zeitrahmen betrifft, so wurde auf Wunsch des Umfanges und dies zweckmäßigerweise in Form einer Wissenschaftsministeriums zunächst die Priorität auf das Datenbank. Doch von Anfang an bestand die Absicht, die 19. und 20. Jahrhundert gelegt, dabei jedoch stets der dafür geeigneten Daten auch in gedruckter Form als gesamte Zeitraum der Geschichte Österreichs im Auge Lexikon zu publizieren, und dieses Ziel wurde nie aus den behalten. Augen verloren. Besonderes Gewicht wurde von Anfang an auf die Nun konnte – wieder dank der Unterstützung durch das Berücksichtigung frauenspezifischer Erfordernisse gelegt; Wissenschaftsministerium – auch dieser zweite wichtige so werden alle eruierbaren Namensformen vermerkt und Schritt in Angriff genommen werden. zusammengeführt, weil die bei Frauen häufigen Namens- Und so ist der Zeitpunkt absehbar, wo aus der kleinen änderungen, meist durch Heirat, zum Verschwinden von Fußnote nicht nur eine Datenbank mit tausenden Eintra- Frauenspuren führen können. Auch wurde unter den gungen, sondern auch ein mehrbändiges Lexikon hervor- „Eckdaten“ neben dem am männlichen Lebensverlauf gehen wird.

EDITH STUMPF-FISCHER 3 IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008

ANMERKUNGEN: biografieforschung. Desiderate der österreichischen Frauen- biografieforschung. Wien 2001. (Österreichisches Biographisches 1 Edith Stumpf-Fischer (Hg.): Der wohlinformierte Mensch – Eine Lexikon – Schriftenreihe. 7.) Je ein Exemplar des Endberichts Utopie. Graz 1997. befindet sich am IWK (Institut für Wissenschaft und Kunst), am 2 Inzwischen Bittermann-Wille. Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien und in der Biblio- 3 Einleitung S. 10 f. In: Elisabeth Lebensaft (Hg.): Frauen- thek des Österreichischen Biographischen Lexikons.

CHRISTA BITTERMANN-WILLE HELGA HOFMANN-WEINBERGER KLEINE RANDBEMERKUNG, GROSSE WIRKUNG

„So fehlt in Österreich immer noch ein biographisches schwung genommen. Viele grundlegende bibliographische Lexikon der Frau: biographische Daten zu österreichischen Nachschlagewerke entstanden – hier seien nur einige Frauen müssen mühsam aus verschiedenen lexikalischen erwähnt: „The book of women’s firsts” (1992), „Chambers Quellen zusammengetragen werden.“ biographical dictionary of women” (1996), „European Diesen „Stoßseufzer“ haben wir 1997 nach fünf Jahren immigrant women in the United States: a biographical praktischer Arbeit in frauenspezifischer Information und dictionary” (1994). Dokumentation schriftlich an die Frauen-Community Leider waren diese wegen ihres geographischen geschickt. Schwerpunkts für FrauenforscherInnen hierzulande nur Denn bereits in den Anfangs- und Aufbaujahren von eingeschränkt von Nutzen. Die skandinavischen Länder Ariadne, der frauenspezifischen Servicestelle an der waren nicht nur mit ihrer schwedischen Literatur-Datenbank Österreichischen Nationalbibliothek, war die Arbeit mit (bio-) KVINNSAM für uns ein Vorbild – sie hatten auch bei der bibliographischen Nachschlagewerken über Frauen eine Erarbeitung historischer Frauendaten, mit dem „Dansk „conditio sine qua non“ – aber sie wurde uns auch in Kvindebiografisk Leksikon“ (vier Bände), das mittlerweile unserer großen Universalbibliothek nicht leicht gemacht. auch online abfragbar ist, die Nase vorn. Doch wer war Wenn die sogenannten Klassiker der biographischen schon der dänischen Sprache mächtig? Nachschlagewerke, wie das „Österreichische Biographische Erste zaghafte deutschsprachige Versuche, den bio- Lexikon“ oder „der Wurzbach“ kein gewünschtes Ergebnis graphischen Frauenanteil sichtbar zu machen, waren das lieferten, war guter Rat „teuer“. Denn die Anzahl Schweizer „Lexikon der Frau“ (1953-54) und die deutschen frauenspezifischer deutschsprachiger Lexika – so wir sie in Publikationen „Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert“ den Katalogen und Sammlungen ausfindig machten – (1993) oder „Frauen, die die Welt bewegten: geniale konnte an den „berühmten zehn Fingern“ abgezählt werden. Frauen, der Vergangenheit entrissen“ (1997) und „Frauen Glück hatten wir noch, wenn es um die Suche nach der Antike: von Aspasia bis Zenobia“ (1994). Schriftstellerinnen ging: Da konnten wir in den „Biographien Die letzten zehn Jahre brachten endlich den innovativen der österreichischen Dichterinnen und Schriftstellerinnen“ und erwünschten Durchbruch für die Frauenbiogra- der engagierten niederösterreichischen Lehrerin Marianne phieforschung: Dank biografiA ist eine biografische Nigg oder in Sophie Patakys „Lexikon deutscher Frauen der Datenbank und ein Lexikon österreichischer Frauen längst Feder“ aus dem Jahr 1898 fündig werden. Schwieriger kein Desideratum mehr, sondern ein äußerst nützliches wurde die Suche nach biographischen Daten von Instrumentarium geworden. Frauenspezifische Kriterien bei Künstlerinnen, Politikerinnen, Journalistinnen – geradezu der Erarbeitung der Datensätze, ein themenspezifisches unmöglich nach Wissenschaftlerinnen und Frauen- Modulsystem, das Wissenschafterinnen, Kinder- und rechtlerinnen – hoffnungslos, wenn diese Frauen auch noch Jugendbuchautorinnen, Frauenrechtlerinnen etc. in den ins Exil mussten oder von den Nazis ermordet wurden. Fokus stellt, haben dieses Frauenprojekt zu einem Biographieforschung war stets in männlicher international renommierten Vorzeigemodell gemacht. Für (Wissenschafts-)Hand, daher war der weibliche Anteil in die Aufarbeitung unseres historischen Bestandes, für viele Lexika und Nachschlagewerken nur mühsam biografische Anfragen an Ariadne, gibt es jetzt eine zusammenzutragen. Rechercheadresse: www.biografia.at. Da ging es unseren Kolleginnen aus dem angelsäch- Wir freuen uns, dass wir diesen Stein ins Rollen sischen Raum um vieles besser – dort hatte die Frauen- gebracht haben, dass Edith Stumpf „unseren Faden forschung bzw. Feministische Forschung ab den 1970er aufnahm“ und dass Ilse Korotin und ihr Team dieses Jahren sowohl auf theoretischem Gebiet, als auch in den Frauenprojekt seit zehn Jahren unermüdlich tragen, einzelnen Wissenschaftsdisziplinen einen immensen Auf- expandieren und am Leben gehalten haben.

4 EDITH STUMPF-FISCHER / CHRISTA BITTERMANN-WILLE / HELGA HOFMANN-WEINBERGER IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008

BRIGITTE BISCHOF NATURWISSENSCHAFTERINNEN AN DER UNIVERSITÄT WIEN BIOGRAFISCHE SKIZZEN UND ALLGEMEINE TRENDS1

AUSGANGSPUNKT UND EINLEITUNG schaftliche Fakultät, die erst 1975 aus der Aufteilung der Philosophischen Fakultät hervorging) tätigen Frauen. Die Die Suche nach den Frauen in der Wissenschaft ist ein ers- Definition „Naturwissenschafterin“ wurde recht breit gefasst. ter und zentraler Punkt feministischer Auseinandersetzung In das Sample aufgenommen wurden Frauen, die an der mit (Natur-)Wissenschaft. Universität Wien eine naturwissenschaftliche Dissertation Seit den achtziger Jahren finden sich vermehrt histori- verfasst haben, bzw. an einem der entsprechenden Institute sche Studien, Biografien und Biografien-Sammlungen über als Mitarbeiterin angeführt wurden. Frauen, die bedeutende Beiträge zur wissenschaftlichen Nach der Vorstellung der ersten Studentinnen der Na- Entwicklung geliefert haben, aber in der wissenschaftshisto- turwissenschaften an der Universität Wien wird im Folgen- rischen Literatur weitgehend ignoriert wurden.2 Die Bücher den die Entwicklung des Frauenstudiums der Naturwissen- erzählen vom Leben der Töchter Hypatias3, von „uneasy schaften vorgestellt. Es wird ein Überblick über Zahl, Vertei- carreers“4, ihrem lautlosen Aufbruch5, von patenten Frauen6 lung und den weiteren Werdegang der Absolventinnen der und schönen Geistern7, und dass aller Männerkultur zum naturwissenschaftlichen Studienzweige an der Universität Trotz8 nicht nur Mme Curie9 Lorbeeren erntete.10 Wien geboten. Über die Beschreibung einzelner Biografien Die Biografien dieser Frauen zeigen, dass sie zu eben- hinausgehend sollten Möglichkeiten und Grenzen von Na- solchen Leistungen fähig sind, wie ihre Kollegen, dass auch turwissenschafterinnen aufgezeigt, Trends und Entwicklun- sie würdig sind, große Preise entgegenzunehmen. Diese gen ausgemacht, unterstützende und/oder ausschließende Würdenträgerinnen sind sichtbare und lebendige Argumen- Mechanismen beleuchtet und gängige herrschende Vorur- te gegen jene Stimmen, die Frauen jegliche Fähigkeit zu teile als solche erkannt und demontiert werden. Abschlie- wissenschaftlicher Arbeit abgesprochen haben. So wertvoll ßend werden die Biografien von zwei Naturwissenschafte- ihre Geschichten als Vorzeigebeispiele sein können, sowe- rinnen ausführlicher vorgestellt. nig sind sie repräsentativ für die Situation von Frauen in der Wissenschaft. Die Motivation für vorliegendes Projekt bestand in der DIE ERSTEN Hypothese, dass bei systematischer Suche und besonde- rem Augenmerk auf alle Ebenen der Universität mehr Frau- Die erste Promotion einer Frau, die ihr Studium auch wirk- en in den Naturwissenschaften zu finden sein werden. Die- lich an der Wiener Universität absolviert hatte, fand im Juni se Frauen sollten benannt und ihre Leistungen gewürdigt 1900 statt.13 Es handelte sich um den Studienabschluss der werden. Damit wird einerseits der Anteil von Frauen an der Mathematikerin Cäcilie Wendt14. Sie gehörte zu den drei Wissensproduktion und deren Weitergabe nach dem Motto Frauen, die im Wintersemester 1897/98, dem ersten Se- „righting the record“11 thematisiert. Andererseits werden mester nach Zulassung von Frauen zum Hochschulstudium, durch die möglichst vollständige Recherche, die sich nicht als ordentliche Hörerinnen an der Philosophischen Fakultät auf die wenigen besonders erfolgreichen beschränkt, Dis- der Universität Wien inskribieren konnten. Sie promovierte kriminierungsmechanismen aufgezeigt. mit einer mathematischen Arbeit, die bereits ihre zweite Ein oberflächlicher Blick auf die wenigen, offiziell aner- wissenschaftliche Veröffentlichung darstellte.15 Im selben kannten Wissenschafterinnen wird dem Beitrag von Frauen Jahr legte sie die Lehramtsprüfung16 ab und wirkte bis zum nicht gerecht. Um das Leben und Wirken von Wissenschaf- Ersten Weltkrieg an der gymnasialen Mädchenmittelschule terinnen, und im Speziellen von Naturwissenschafterinnen, des Vereines für erweiterte Frauenbildung in Wien17 und dem schleichenden Vergessenwerden zu entreißen, ist eine veröffentlichte nebenbei physikalische Arbeiten.18 genauere und detailliertere Betrachtung notwendig. Eine Ein Jahr nach ihr promovierte Emma Ott19 in Botanik. systematische Aufarbeitung der Situation von Frauen in Na- Auch sie hatte bereits im Wintersemester 1897/98 als or- turwissenschaft, wie sie am Max-Planck-Institut für Wissen- dentliche Hörerin an der philosophischen Fakultät inskribiert schaftsgeschichte zum Beispiel für Deutschland aufbereitet und während ihres Studiums erste Arbeiten veröffentlicht.20 wurde12, fehlte für den österreichischen Raum. Anschließend an ihr Studium in Wien wirkte sie als Aus- Der Zugang zur Analyse der Situation von Frauen in den hilfsassistentin an der Lehrkanzel für Botanik an der Prager Naturwissenschaften in Österreich erfolgte mit der biografi- deutschen Universität bei Günther Beck von Mannagetta.21 schen Methode. Ausgehend von den Dissertationsverzeich- Neben diesen ‚Ersten’ finden wir weitere Mathematike- nissen und mittels der Personalstandsverzeichnisse der rinnen, Botanikerinnen, Chemikerinnen, Physikerinnen, Mi- Universität Wien begann die Suche nach Lebensläufen und neraloginnen, etwas später auch Meteorologinnen und Geo- Geschichten der Absolventinnen der naturwissenschaftli- loginnen (siehe Tabelle). Ein Blick auf die heute meist un- chen Studienfächer sowie der an den jeweiligen Instituten bekannten Absolventinnen der ersten Jahre offenbart uns (bezugnehmend auf die heute Formal- und Naturwissen- zahlreiche erstaunliche Lebensskizzen.22

BRIGITTE BISCHOF 5 IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008

Tabelle: Pionierinnen der einzelnen Studienrichtungen ten ‚weichen’ Geisteswissenschaften den ‚harten’ Naturwis-

senschaften vorgezogen hätten. In Bezug auf die Absolven- Botanik Emma Ott 1901 tinnen an der Universität Wien kann dies als unzulässiger Chemie Margarete Furcht 1902 Rückschluss und Vorurteil entlarvt werden. Geologie Martha Furlani 1910 Ein Vergleich der Dissertationszahlen von Frauen in den Mathematik Cäcilie Wendt 1900 naturwissenschaftlichen Fächern mit der Entwicklung der Meteorologie Flora Hochsinger 1910 allgemeinen Absolventinnenzahl der Philosophischen Fa- 25 Mineralogie Hilda Gerhart 1905 kultät gibt schnell Aufschluss über den hohen Anteil der Pharmakognosie Editha Siersch 1925 Naturwissenschaften. Bis 1930 entspricht die Zahl der na- turwissenschaftlichen Dissertationen einem Anteil von zirka Physik Olga Steindler 1903 40 Prozent der an Frauen vergebenen akademischen Gra- Zoologie Henriette Boltzmann 1905 de „Doctor philosophiae“. Die Studienwahl der Studentinnen zeigt insgesamt ein breites Interessenspektrum der Frauen und weist keine klaren Schwerpunkte in Richtung Literatur- ENTWICKLUNG DES FRAUENSTUDIUMS IN DEN oder Sprachstudien auf.26 NATURWISSENSCHAFTEN Dass es sich bei der Studienfachwahl der Studentinnen nicht unbedingt um spezifisch weibliche Vorlieben handelte, Auf der Ebene der Studierenden sehen wir, dass sofort zeigt der Vergleich mit der allgemeinen Studienverteilung, nach Zulassung zum Hochschulstudium Frauen diesen beziehungsweise die Analyse des Frauenanteils in den je- Weg eingeschlagen und in vielen Fällen naturwissenschaft- weiligen Fachrichtungen. liche Fächer gewählt haben. Entgegen der Annahme, Frauen wären in den naturwis- In der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts ha- senschaftlichen Disziplinen seit jeher in gleichem Maße un- ben insgesamt zirka 1100 Frauen eine Dissertation in einem terrepräsentiert, ist die Präsenz von Naturwissenschafterin- naturwissenschaftlichen Studienfach eingereicht. nen an der Universität Wien gerade in der Zwischenkriegs- Das Fach Chemie zählt in der ersten Hälfte des zwan- zeit bemerkenswert. In der Mathematik beträgt der Frauen- zigsten Jahrhunderts in den Naturwissenschaften allgemein anteil in der Zwischenkriegszeit 28 Prozent.27 In der Physik und unter den Naturwissenschafterinnen zur beliebtesten liegt er in den dreißiger Jahren im Schnitt sogar bei 35 Pro- Disziplin.23 An zweiter Stelle an der Universität Wien liegt zent.28 Erste Analysen für die größeren Studienfächer lie- die Botanik gefolgt von der Physik. Bereits deutlich geringer fern einen durchschnittlichen Frauenanteil bei den Disserta- ist die Zahl der Zoologinnen, wobei die Zoologie noch zu tionen zwischen zirka 20 Prozent (z. B. Chemie) und 40 den größeren Studienrichtungen zählt. Mathematik und Prozent (z. B. Botanik). Pharmazie, die aber erst seit Mitte der zwanziger Jahre ei- nen Doktoratsabschluss besitzt, bilden die Brücken zu den kleinen Disziplinen der Geowissenschaften. Mit nur vier WEITERER WERDEGANG DER NATURWISSENSCHAF- Dissertantinnen bildet die Astronomie das Schlusslicht. Ins- TERINNEN gesamt unterscheidet sich die Aufteilung der Dissertationen auf die einzelnen Fächer erheblich von der heutigen Zeit. Was wurde aus den Naturwissenschafterinnen nach dem Nicht die biologischen Disziplinen, sondern Chemie, Physik Studium, wie sah ihr weiterer Werdegang aus? Während bis und verwandte Fachrichtungen liegen mit einem Anteil von zum Studienabschluss die Unterlagen im Archiv der Univer- in Summe 59% gegenüber 36% für Botanik und Zoologie sität gesammelt vorliegen, gestaltet sich die Recherche weit vorne bei der Fächerwahl der Naturwissenschafterin- nach dem weiteren Werdegang der Absolventinnen un- nen.24 gleich schwieriger. Über die Studienmotivation geben die Daneben ist die Verteilung der Dissertationen über die Studienunterlagen nur in den seltensten Fällen Auskunft. Jahre je nach Disziplin recht unterschiedlich. In den biologi- Meist fiel jedoch ohnehin erst nach der Promotion die Ent- schen Wissenschaften weist die Anzahl der Dissertationen scheidung über den weiteren Werdegang, ob die wissen- eine relativ gleichmäßige Verteilung auf, während im Ver- schaftliche Tätigkeit fortgesetzt werden konnte, der Weg ins gleich dazu in Chemie und Physik deutliche Schwankungen Lehramt gewählt, ganz andere Wege eingeschlagen oder erkennbar sind. In den Zwanzigern ist ein Boom der Chemie der Rückzug ins Private folgte. zu erkennen, der in den Dreißigern von der Physik abgelöst Für eine allgemeine Darstellung der beruflichen Situati- wird. on der Universitätsabsolventinnen in den ersten Jahrzehn- Eine genauere Analyse der Absolventinnenzahlen in ten kann auf den Bericht von Marie Fessler im „Handbuch den einzelnen Disziplinen und deren zeitliche Entwicklung der Frauenarbeit in Österreich“ zurückgegriffen werden:29 veranschaulicht das unterschiedliche Interesse der Frauen An den Hochschulen, auf der Ebene der Hochschulassis- im naturwissenschaftlichen Bereich. Diese Entwicklung tentinnen, gibt es laut Fessler in Wien eine reine Chemike- kann andererseits als Indikator für die unterschiedliche Auf- rin, eine „Dr.chem.pharm.“ und zwei „Dr.pharm.“ in Graz, nahme und die verschieden wahrgenommenen Möglichkei- sowie drei Physikerinnen, eine Mathematikerin und eine ten der Studentinnen gewertet werden. Astronomin an ausländischen Universitäten. Im Gemeinde- Rückblickend wird oft davon ausgegangen, dass Stu- dienst erwähnt sie zwei Chemikerinnen, die im Bereich der dentinnen bei ihrer Fächerwahl immer schon die sogenann- Fürsorge tätig sind, und in der Sozialversicherung vier

6 BRIGITTE BISCHOF IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008

Chemikerinnen und eine Pharmazeutin, die im Laboratori- diese Hinweise in einschlägigen Verzeichnissen und Lexika umsdienst bei den Krankenkassen durchaus auch Aufstiegs- zu finden. Im „Biografisch-literarischen Handwörterbuch der chancen hätten. In einem eigenen Abschnitt geht Fessler exakten Naturwissenschaften“32, ursprünglich herausgege- auf weitere Berufsmöglichkeiten von Chemikerinnen und benen von Johann C. Poggendorff, sind vierzehn österrei- Physikerinnen ein. Sie zählt eine Abteilungsleiterin in der chische bzw. in Österreich tätige Naturwissenschafterinnen Heilmittelstelle und eine Analytikerin im Volksgesundheits- genannt. Das sind immerhin fast ein Viertel der Frauen, die amt und weiters ein weibliches Vorstandsmitglied in einer bis zu Band 7a einen Eintrag erhalten haben. Aber auch im chemisch-technischen Versuchsanstalt auf. In der Industrie „Lexikon der Naturwissenschafterinnen und naturkundigen sind vorwiegend Laboratoriumschemikerinnen beschäftigt, Frauen Europas“33, welches über 500 Einträge enthält, nur in einem Betrieb gibt es eine Abteilungsleiterin. Insge- kommen nur rund ein Dutzend österreichische Naturwis- samt kommt sie in Wien auf zwölf Chemikerinnen und öster- senschafterinnen vor.34 reichweit etwa auf 25. Bei den Physikerinnen geht Fessler ebenfalls von zwölf Anstellungen aus, davon einige in der Glühlampenindustrie. Kurz geht sie in ihrer Zusammenstel- AUSSERUNIVERSITÄRE MÖGLICHKEITEN lung auf die Bereiche Pharmazie und Versicherungsma- thematik ein, für letzteres verzeichnet sie drei Doktorinnen. Die beruflichen Aussichten für junge WissenschafterInnen Abschließend weist sie noch auf den Beruf der Patentan- waren insbesondere in der Nachkriegszeit in Österreich wältin als Möglichkeit für Naturwissenschafterinnen hin. wenig hoffnungsvoll und ähnlich wie ihre Kollegen suchten Zusammenfassend resümiert Marie Fessler über die ar- Wissenschafterinnen außerhalb der Universität oder im beitende Frau in den akademischen Berufen, dass von den Ausland nach Betätigungsfeldern, zum Beispiel an den neu in den ersten 30 Jahren Frauenstudium promovierten Aka- errichteten Kaiser-Wilhelm-Instituten in Deutschland35, bzw. demikerinnen etwa 20 Prozent in ihrem Beruf tätig gewesen finanzierten Auslandsaufenthalte mit Stipendien.36 seien. Hauptberuflich wissenschaftlich tätig gewesen, An der Akademie der Wissenschaften in Wien hatten schätzt sie, seien etwa zwei Prozent. Dabei nicht betrachtet sich ebenfalls neue Institute etabliert, an denen auch Frau- wurden die Bereiche Medizin und das Mittelschullehramt. en willkommen waren. Wie zum Beispiel das Institut für Ra- Letzteres scheint jedoch eine nahe liegende Berufsper- diumforschung, welches auf eine private Stiftung zurückging spektive für gebildete Frauen zu sein, zudem der Beruf der und an dem sich bis 1938 besonders viele Wissenschafte- Lehrerin einen angesehenen Frauenberuf darstellte. Viele rinnen sammelten.37 Ein erheblicher Teil der von Frauen der Naturwissenschafterinnen haben tatsächlich neben der verfassten Dissertationen aus dem Bereich der Physik ist Promotion auch eine Lehramtsprüfung abgelegt. Bei den an diesem Institut durchgeführt worden, aber auch nach Mathematikerinnen waren es zwei Drittel, bei den Physike- dem Studium bot das Institut vielen Frauen die Möglichkeit rinnen der Zwischenkriegszeit etwa 40 Prozent. Im letzteren der wissenschaftlichen Tätigkeit, die in den institutseigenen Fall konnte gezeigt werden, dass Frauen damit überdurch- Veröffentlichungen38 ihren Niederschlag findet. schnittlich oft diesen zusätzlichen Weg gewählt haben.30 Ähnlich verhält es sich mit der Biologischen Versuchs- Offen bleibt die Frage, ob das Doktorat oder das Lehr- anstalt. Dieses privat gegründete Labor wurde 1914 der amt die ursprüngliche Motivation zum Studium war. Fakt ist, Akademie übergeben. Auch hier waren in der Zwischen- dass für das Lehramt an Mittelschulen eine Dissertation kriegszeit viele Wissenschafterinnen tätig.39 nicht vorgeschrieben war, gleichzeitig kann der jeweilige Die erste Frau, die über eine längere Zeit am Radi- zweite Abschnitt als mögliche Verbesserung der Jobchan- uminstitut forschte und in den Mitteilungen veröffentlichte, cen angestrebt worden sein. Ob die Lehramtskandidatinnen war die Chemikerin Stefanie Horovitz40. Sie arbeitete in den auch als Mittelschullehrerinnen tätig waren, ist noch nicht Jahren des Ersten Weltkrieges gemeinsam mit Otto Hö- systematisch untersucht. Einige Absolventinnen sind jedoch nigschmid zu Atomgewichtsbestimmungen. Nach dem Ende später sogar als Schulleiterinnen zu finden.31 des Krieges und dem Zerfall der Österreich-Ungarischen Eine Form der Sichtbarkeit einer wissenschaftlichen Tä- Monarchie trennten sich die Wege der beiden Wissenschaf- tigkeit sind Publikationen. Die Ernsthaftigkeit und Güte des terInnen. Horovitz verließ die Naturwissenschaft und wir fin- Frauenstudiums kann anhand des hohen Anteils von Stu- den sie in der Zwischenkriegszeit wieder als Mitglied im dentinnen mit Veröffentlichungen gemessen werden. Insge- Verein für Individualpsychologie.41 samt konnte bei mittlerweile 22 Prozent der Naturwissen- Neben den Frauen im Personalstand des Institutes42 schafterinnen im Minimum eine Veröffentlichung recher- finden sich zahlreiche weitere Frauen als freie Mitarbeite- chiert werden. In der Mathematik oder der Chemie hat jede rinnen. Als Beispiel sei hier Marietta Blau43 angeführt, die in vierte Dissertantin zumindest eine Veröffentlichung, bei den den letzten Jahren auch die Aufmerksamkeit der allgemei- Physikerinnen liegt die Rate bei 39 Prozent. Die unter- nen Wissenschaftsgeschichte erlangte.44 Die Physikerin hat schiedliche Publikationsrate in den einzelnen Fächern ent- nach dem Studienabschluss in Wien zunächst am Zentral- spricht einerseits den Gegebenheiten, andererseits fehlt, röntgeninstitut und am Wiener Institut für Radiumforschung insbesondere in den Biowissenschaften, noch die gründli- gearbeitet. Anschließend ging sie nach , wo sie in ei- che Durchsicht der entsprechenden Referatsorgane. ner Röntgenröhrenfabrik beschäftigt war, bis sich ihr die Bei zirka vierzehn Prozent der Absolventinnen konnten Möglichkeit bot, bei Friedrich Dessauer in Frankfurt am bislang Hinweise auf eine weitergehende wissenschaftliche Main am Institut für physikalische Grundlagen der Medizin Tätigkeit gefunden werden. In den seltensten Fällen sind als Assistentin angestellt zu werden. Aus persönlichen

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Gründen musste sie jedoch 1923 nach Wien zurückkehren. Verlauf. Sie werden, oft noch während des Studiums, als Hier wirkte sie bis zu ihrer Emigration 1938 als freie Mitar- Demonstratorinnen oder über ein Stipendium angestellt, beiterin am Institut für Radiumforschung. Als sie sich nach wechseln in einer der folgenden Perioden auf eine höher den Möglichkeiten einer eventuellen Habilitation erkundigte, renommierte und auch höher remunerierte Position und er- soll die Antwort gelautet haben, als Frau und Jüdin hätte sie halten schließlich eine Anstellung als (außerordentliche) keine Chance.45 Der latente Antisemitismus verwehrte be- Assistentin. Im Unterschied dazu finden wir aber auch Bei- sonders jüdischen Wissenschafterinnen den Zugang zu ei- spiele mit willkürlichem Wechseln zwischen den einzelnen ner universitären Karriere. Karrierestufen. Meist sind die weiblichen Ersatzkräfte in ei- ner niedrigeren Position als die vertretenen Kollegen einge- stuft und ihre Verweildauer ist relativ gering. UNIVERSITÄRE ANBINDUNGEN

Erste Anstellungen von Frauen an den Instituten der Uni- ENTWICKLUNG DER UNIVERSITÄREN MÖGLICH- versität Wien werden in den Kriegsjahren sicht- und nach- KEITEN weisbar.46 Fast an jedem Institut sind eine oder auch meh- rere Frauen als Kriegsersatzkräfte zu finden. Während des Nach sechs Jahren Anstellung an einem Institut bestand die Ersten Weltkrieges und in den ersten Jahren danach wur- Pflicht, sich zu habilitieren, da die Stelle ansonsten nicht den Frauen als Ersatzkräfte für zum Militär einberufene mehr verlängert werden konnte. Jedoch gelang es Frauen Männer bzw. in Ermangelung von männlichen Bewerbun- nur in Ausnahmefällen, sich weiter wissenschaftlich zu qua- gen an naturwissenschaftlichen Instituten der Universität lifizieren und eine Hochschullaufbahn anzutreten. Wien angestellt. Diese Hürde der universitären Laufbahn zu überwinden, An fast jedem der naturwissenschaftlichen Institute fin- versuchte erstmals Leonore Brecher, die nach mehrjähriger den wir eine solche ‚Ersatzkraft’, sei es z. B. Elisabeth Norst Forschungstätigkeit an der Biologischen Versuchsanstalt am Ersten Physikalischen Institut, Ludmilla Stenzel am Bo- um Habilitation ansuchte. Die Zoologin reichte 1923 ihr Ge- tanischen Institut, Margarethe Erban am Pflanzenphysiolo- such ein, welches nach einigen Verzögerungen 1926 abge- gischen Institut, Martha Weithofer am Ersten Zoologischen lehnt wurde.49 Institut, Rautgundis Rotter am Zweiten Chemischen Labora- Auch die Physikerin Marie Anna Schirmann, die acht torium oder Brunhild Hellwig am Mineralogischen Institut. Jahre als außerordentliche Assistentin am Dritten Physikali- Auch an den entsprechenden Instituten der medizinischen schen Institut angestellt war, suchte 1930 vergeblich um Fakultät finden wir Chemikerinnen, z. B. Marianne Soffner Habilitation an. am Institut für angewandte medizinische Chemie. Im ersten Fall wurde der Kandidatin die persönliche Im Folgenden soll stellvertretend die Mineralogin Brun- Eignung abgesprochen. Im zweiten Fall wurde die persönli- hild Hellwig vorgestellt werden, die laut Personalstandsver- che Eignung nicht mehr bezweifelt, dafür die fachliche ab- zeichnis von 1919/20 bis 1921/22 am Mineralogischen Insti- gesprochen. Neben frauenfeindlichen Vorbehalten dürfte tut der Universität Wien tätig war. Antisemitismus mitgespielt haben. Die unterschiedliche offi- 1896 in Suczawa in der Bukowina als Tochter des zielle Argumentationsweise weist desgleichen auf einen Oberpostverwalters geboren, besuchte Brunhild Hellwig zu- langsamen Wandel der Einstellung der Professoren hin. nächst die Volksschule und das öffentliche Mädchenlyce- Waren diese Versuche noch vergeblich, kommt es ab um. Nach der Lycealmatura belegte sie den zweijährigen 1933 zu den ersten erfolgreichen Habilitationen von Natur- Realgymnasial-Kurs am Staatsgymnasium Suczawa und wissenschafterinnen an der Philosophischen Fakultät50 der legte im November 1915 die Reifeprüfung ab. In den Universität Wien. Das erstaunliche an diesem Verlauf liegt Kriegsjahren kam sie nach Wien und inskribierte an der in der widersprüchlichen Entwicklung der Absolventinnen- Universität. Noch während des Studiums wurde sie am mi- zahlen im Vergleich zu den weiteren universitären Berufs- neralogischen Institut bei Cornelio Doelter angestellt. Im möglichkeiten. ersten Antrag47 versuchte Doelter, sie als Assistentin zu be- In der Schweiz, wo Frauen bereits weitaus früher zum stellen, mangels eines Studienabschlusses wurde jedoch Hochschulstudium zugelassen waren, finden sich auch ent- nur ein Demonstratorenstipendium bewilligt. Ihre Anstellung sprechend früher habilitierte Naturwissenschafterinnen.51 wurde daraufhin regelmäßig und zuletzt bis 30.9.1923 ver- Auch in den deutschen Ländern, wo die Immatrikulation von längert. Hellwig hatte 1920 ihr Studium mit der Dissertation Frauen vergleichsweise spät, vor allem später als in Öster- „Versuch über die Entstehung von Tonerdephosphaten“ bei reich, geregelt wurde (zwischen 1900 in Baden und 1908 in Doelter abgeschlossen und 1923 die Lehramtsprüfung für Preußen und 1909 in Mecklenburg),52 sind die ersten Habili- Naturgeschichte und Geografie abgelegt. Ab 1925 unter- tationen von Naturwissenschafterinnen früher möglich. Mit richtete Flasch-Hellwig, die inzwischen geheiratet hatte, Na- Lise Meitner (1922) und Hilde Geiringer-Pollaczek (1927) turgeschichte und Geografie und wurde 1933 pragmatisiert. begegnen uns bezeichnenderweise zwei ehemalige Absol- Daneben legte sie 1926 die Lehramtsprüfung für Esperanto ventinnen der Universität Wien, die nach Berlin gegangen ab und bemühte sich ab 1928 wiederholt aber vergeblich um waren, da sie in Wien keine adäquaten Möglichkeiten zur ein diesbezügliches Lektorat an der Universität Wien.48 Fortführung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit gesehen hatten. Ähnlich wie bei Hellwig nimmt die universitäre Laufbahn bei einigen ‚Ersatzkräften’ zunächst einen relativ normalen

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ERSTE ERFOLGREICHE HABILITATIONEN ten in Österreich und der Beteiligung von Frauen manifes- tiert sich im Jahr 1938 eine nachhaltige Zäsur. Die Offenheit der Naturwissenschaften an der Universität Ebenso wie allgemein, ist auch in Bezug auf die Auswir- Wien gegenüber Frauen, die sich in den Dissertationszah- kungen auf die Naturwissenschaften an der Universität len zu zeigen schien, fand offenbar ein Ende, sobald sie Wien eine Differenzierung notwendig. Die einzelnen Diszip- eine universitäre Laufbahn anstrebten und nicht mehr mit linen und Institute sind unterschiedlich betroffen und die der Stellung als Assistentin zufrieden waren. Insofern bilden Nachwirkungen unterschiedlich langfristig.60 die erfolgreichen Habilitationen im Bereich der Naturwis- Neben den abstrakten Brüchen in der Entwicklung der senschaften an der Philosophischen Fakultät der Universität Promotionszahlen gab es die ganz konkreten in Form der Wien eher die Ausnahme. Vertreibung von WissenschafterInnen aus rassistischen Hier habilitierte sich als erste Frau eine Physikerin, die und/oder politischen Motivationen. Auch viele Naturwissen- zunächst eigentlich gar nicht beabsichtigt hatte, zu studie- schafterinnen, die an der Universität Wien studiert hatten, ren. Franziska Seidl53 (1892-1983) hatte als 19jährige den waren betroffen.61 Jedoch nicht in der Form von Entlassun- Gymnasiallehrer Wenzel Seidl geheiratet, der u.a. auch gen, da es unter den Frauen im Personalstand der natur- Physik unterrichtete. Nach dem Tod ihres Mannes im Ersten wissenschaftlichen Universitätsinstitute kaum (mehr) jüdi- Weltkrieg holte sie die Matura nach, um an der Universität sche Wissenschafterinnen gab. Aber auch als freie Mitar- Wien zu studieren. Bereits gegen Ende des Studiums (1923) beiterinnen oder Studentinnen konnten sie ihre Forschun- wurde sie am Ersten Physikalischen Institut bei Ernst Lecher gen nicht mehr weiterführen. angestellt. 1933 habilitierte sie sich für Experimentalphysik und konnte in den folgenden Jahren auf eine zwar unspek- takuläre, jedoch stetige universitäre Karriere verweisen. LEONORE BRECHER UND MARIE ANNA SCHIRMANN 1935 folgt die Habilitation von Elise Hofmann54 (1889- 1955). Die Paläobotanikerin war hauptberuflich als Lehrerin Stellvertretend für viele andere seien hier die Biografien je- tätig und widmete sich sozusagen nebenbei der Botanik, ner zwei Wiener Naturwissenschafterinnen ausführlicher insbesondere den fossilen Hölzern. Ihre wissenschaftliche behandelt, die sich vergeblich bemüht hatten, in Wien eine Tätigkeit führte sie großteils in einem privat eingerichteten universitäre Karriere einzuschlagen. Hatte der latente und Labor durch. Nach ihrer Habilitation 1935 war sie am Bota- wieder aufkeimende Wiener Antisemitismus ihre wissen- nischen Institut der Universität Wien tätig, da sie jedoch die schaftliche Karriere unterbrochen bzw. beendet, so wirkte einzige Vertreterin ihres speziellen Fachgebietes in Öster- sich der „“ an das Deutsche Reich und die Ver- reich war, wurde sie wohl von keinem der Professoren als treibungs- und Vernichtungspolitik des Nationalsozialismus direkte Konkurrenz betrachtet. noch weitaus gravierender auf ihr Leben aus. 1937 folgt bereits die zweite Physikerin. Berta Karlik55 Leonore Brecher wurde 1886 in der rumänischen Han- (1904-1990) war ab 1933 als wissenschaftliche Hilfskraft delsstadt Botoschani geboren. Nach dem Besuch des Mäd- am Wiener Institut für Radiumforschung angestellt. Hier chengymnasiums in Jassy und der Ablegung der Matur- verbrachte sie ihre gesamte universitäre Karriere. Nach ih- aprüfung am „Nationalmuseum“ inskribierte sie an der wis- rer Habilitation 1937 veränderte sich ihre Position zunächst senschaftlichen Fakultät der Jassyer Universität. Im zweiten nicht, auch nicht nach dem ‚Anschluss’ Österreichs. Klare Studienjahr wechselte sie an die Universität Czernowitz, Karriereperspektiven eröffneten sich für Karlik jedoch nach musste jedoch nach dem dritten Semester ihr Studium un- 1945. Sie übernahm zunächst provisorisch die Leitung des terbrechen. 1913 setzte sie, nunmehr als ordentliche Höre- Institutes und wurde später zur ersten ordentlichen Profes- rin, ihre Studien fort. Mit Ausbruch des Krieges kam sie an sorin der Universität Wien ernannt. die Universität Wien, wo sie 1916 ihre zoologische Disserta- Ein Vergleich der einzelnen Disziplinen bringt die unter- tion zur Approbation einreichte. Bereits die Forschungen für schiedliche und teils widersprüchliche Entwicklung der uni- ihre Dissertation hatte sie bei Hans Przibram an der Biolo- versitären Arbeits- und Karrieremöglichkeiten zutage. In der gischen Versuchsanstalt durchgeführt.62 Auch in den fol- Chemie, dem naturwissenschaftlichen Bereich mit den genden Jahren war sie weiterhin an der Versuchsanstalt meisten Absolventinnen, gibt es keine einzige Habilitation tätig und veröffentlicht in den Berichten aus der Biologi- einer Frau an der Philosophischen Fakultät der Universität schen Versuchsanstalt und im Anzeiger der Österreichi- Wien56 im betrachteten Zeitraum und lange darüber hin- schen Akademie der Wissenschaften.63 Gleichzeitig ist sie aus.57 In der Physik konnten sich bis 1945 insgesamt drei als Vortragende der Volkshochschule tätig. Im Ok- Frauen habilitieren.58 Erst danach reißt die Entwicklung ab. tober 1923 reicht Brecher an der Philosophischen Fakultät Umgekehrt finden wir in den Biowissenschaften ab 1945 der Universität Wien um die venia legendi für Zoolo- zahlreiche Habilitationen von Frauen,59 die großteils in den gie/Experimentalzoologie an.64 Nachdem ihr zunächst von Kriegsjahren den Grundstein ihrer wissenschaftlichen Karri- der eingesetzten Kommission nahe gelegt worden war, ihr ere legten. Ansuchen bis zur endgültigen Regelung der Nachbesetzung der freien Lehrkanzel für Zoologie zurückzuziehen,65 ent- schloss die Kommission im Juli 1926 gegen die Stimme ih- DER „ANSCHLUSS“ UND SEINE AUSWIRKUNGEN res Förderers Hans Przibram, die Habilitation abzulehnen, da sie „nicht geeignet sei, den Studenten gegenüber die für Bei der Betrachtung der Geschichte der Naturwissenschaf- einen Dozenten erforderliche Autorität aufrecht zu erhal-

BRIGITTE BISCHOF 9 IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 ten,“66 kurz ihr die persönliche Eignung fehle. Bereits 1923 Sie stellte sich bereits Ende des siebten Semesters zur war Leonore Brecher mit einem Stipendium der „American Kriegsdienstleistung dem k.u.k. Kriegsministerium als Phy- Association of University Women“ für ein Jahr nach Rostock sikerin zur Verfügung und wirkte am k.u.k. Flieger-Radio- gegangen, und 1925 ermöglichte ihr ein Stipendium der Versuchslaboratorium am elektrotechnischen Institut der „Notgemeinschaft deutscher Wissenschafter“ einen Aufent- Technischen Hochschule in Wien. Darauf folgte ein zirka halt in Berlin, wo sie unter anderem bei der Zellforscherin eineinhalb-jähriger Aufenthalt am physikalischen Institut der Rhoda Erdmann arbeitete.67 Wohl nach dem negativen Be- Staatsuniversität Uppsala (Leitung G. Granquist, Präsident scheid von der Universität Wien nahm Brecher ein bis 1931 der Nobelkommission für Physik).79 Sie hatte im Juli 1919 befristetes Stipendium des Yarrow Research Fellowships vom akademischen Senat der Universität Wien das Ludwig des Girton College, Cambridge, an. Sie nutzte das Stipen- Freiherr von Haber Linsberg’sche Reisestipendium erhal- dium für Forschungen in England, Rostock und Kiel.68 Nach ten, war aber aufgrund der schlechten Verhältnisse nicht der Machtergreifung Hitlers bemühte sich Brecher wieder- nach Deutschland, sondern nach Schweden gegangen. holt, im englischsprachigen Ausland unterzukommen, da sie Im Anschluss an ihren Auslandsaufenthalt war sie als in Deutschland keine Unterstützung mehr erwarten konnte außerordentliche Assistentin am III. Physikalischen Institut und auch ihr Kieler Unterstützer, der Physiologe Rudolf Hö- der Universität Wien unter der Leitung von Felix Ehrenhaft ber, von den Nürnberger Gesetzen betroffen, von seinem von 1922/23 bis 1929/30 angestellt. Seit 1923 war sie auf Lehrstuhl vertrieben wurde.69 Sie kehrte nach Wien zurück dem Gebiet der Hochvakuumphysik tätig und mit der Ein- und wird wiederum in den Berichten der Biologischen Ver- richtung und Ausgestaltung einer eigenen Anlage betraut. suchsanstalt als Mitarbeiterin angeführt.70 Bereits ab 1932 Neben ihrer eigenen wissenschaftlichen Arbeit war sie auch finden sich auch wieder Veröffentlichungen in den Publika- mit der Betreuung von Dissertationen betraut. Die Weiter- tionsorganen der Österreichischen Akademie der Wissen- bestellung von Mai 1928 bis Ende April 1930 wurde „ganz schaften.71 In diese Zeit fallen weitere Versuche Brechers, ausnahmsweise und unter ausdrücklicher Verwahrung ge- über das „Academic Assistance Council”, die spätere „Soci- gen jegliche Beispielsfolgerungen“80 beschlossen. Ab zirka ety for the Protection of Science and Learning“ und das 1929 war sie über den Präsidenten des österreichischen „Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign Schol- Nationalkommittes Sektionschef Kusminky zudem Mitglied ars” respektive das „American Council for Émigrés in the in der internationalen beleuchtungstechnischen Kommission Professions” eine Arbeitsstelle im Ausland zu erhalten.72 (I.B.C.). Im Mai 1930 suchte Schirmann um Habilitation für Trotz eines (unbezahlten) Forschungsaufenthaltes am Bio- Physik an.81 Sie hatte keine eigene Habilitationsschrift als chemischen Institut in Cardiff im November 193873, musste solche eingereicht, sondern eine Sammlung aus neun Ver- sie in das nunmehr dem Deutschen Reich angehörende öffentlichungen bzw. Patentanmeldungen unter dem Titel Wien zurückkehren. Im September 1942 wurde sie nach „Neue Wege zur Erzeugung, Erhaltung und Messung ext- Maly Trostinec (bei Minsk) deportiert und ermordet.74 remster Hochvakua und die Untersuchung der physikali- Auch Marie Anna Schirmann versuchte nach dem An- schen Eigenschaften entgaster Materie im Vakuum, insbe- schluss Österreichs an das Deutsche Reich vergeblich über sondere der Reibungselektrizität zwischen festen Körpern das „Emergency Committee in Aid of Displaced Foreign und Gasen“. Die persönliche Eignung wurde ihr zugespro- Scholars” eine Ausreisemöglichkeit in die USA zu bekom- chen, nicht jedoch die fachliche Eignung. men75. Sie wurde im März 1941 mit 998 anderen Männern, Nach ihrem Ausscheiden von der Universität Wien setz- Frauen und Kindern nach Modliborzyce im Bezirk Janow te Anna Marie Schirmann ihre Tätigkeit in einem eigenen Lubelski, Distrikt Lublin (Polen), deportiert.76 Die Ghettos im physikalisch-technischen Privatlaboratorium für Hochvaku- Distrikt Lublin wurden im Herbst 1942 liquidiert. umforschung und Elektromedizin fort.82 1934 brachte die Marie Anna Schirmann, 1893 in Wien geboren, „ent- „ehemalige Assistentin am Physikalischen Institut“ ein stamme einer alten Gelehrten- und Künstlerfamilie, in wel- Handbuch der physikalischen Methoden in der Elektromedi- cher sich mehrere Vertreter der naturwissenschaftlichen zin heraus.83 Fächer, wie Mathematiker, Astronomen vorfanden.“77 Ihr Vater Moritz Schirmann war Musikprofessor am alten Wiener Konservatorium. Ihre Mutter hatte als Hospitantin SCHLUSSBETRACHTUNG Medizin studiert und war am St. Anna Kinderspital tätig. Be- dingt durch die Tätigkeit ihres Vaters führte Schirmann ihre Die Präsenz von Frauen in den Naturwissenschaften war an Gymnasialstudien in verschiedenen Privatlehranstalten in der Universität Wien in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Wien, München und Berlin durch. Nach dem Tod des Va- Jahrhunderts größer, als rückblickend oft vermutet wird. Es ters kehrte sie nach Wien zurück und trat 1914 in die achte finden sich zahlreiche Frauen, die ein naturwissenschaftli- Klasse des Privat-Mädchenobergymnasiums des Vereins ches Fach an der Universität studiert und abgeschlossen für erweiterte Frauenbildung in Wien ein, wo sie im Juli haben. Etliche Naturwissenschafterinnen sind nach dem 1914 maturierte. Ab Herbst 1914 studierte sie acht Semes- Studium weiter wissenschaftlich tätig und in der Zwischen- ter an der Universität Wien Physik in Verbindung mit Ma- kriegszeit werden sie auch an den Instituten angestellt. Vie- thematik und promovierte mit der Dissertation „Dispersion le der Naturwissenschafterinnen führten ihre wissenschaftli- und Polychroismus des polarisierten Lichtes, das von Ein- che Arbeit jedoch ohne feste Anstellung und Bezahlung zelteilchen von der Größenordnung der Wellenlänge des durch. In den entsprechenden Fachkreisen waren ihre For- Lichtes abgebeugt wird“ im Juli 1918 bei Ernst Lecher.78 schungen aber durchwegs anerkannt. Es scheint, als würde

10 BRIGITTE BISCHOF IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 sich die Universität ganz dem Zutritt von Frauen öffnen, 13 In den Statistiken zum Frauenstudium an der Universität Wien zumindest hatten sie schon den Fuß in der Tür. Aber hier tauchen zwei frühere Promotionen auf. Gabriele Possaner von endete die besondere Entwicklung an der Wiener Universi- Ehrenthal ließ ihre Schweizer Medizinausbildung nostrifizieren, Gabriele von Wartensleben hatte an ausländischen Universitäten tät, die sich in der großen Anzahl von Absolventinnen wi- studiert und in Wien ihre Dissertation eingereicht. derspiegelte. Als freie Mitarbeiterinnen an universitären wie 14 Siehe auch Brigitte Bischof: Wiener Mathematikerinnen in der außeruniversitären Einrichtungen und als Assistentinnen ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Broschüre herausgegeben durchaus akzeptiert, finden sie selten die Möglichkeit zu vom Frauenförderungsprojekt der Fakultät für Mathematik der einer weiteren wissenschaftlichen Qualifikation. Als gleich- Universität Wien, Wien 2008. wertige Mitglieder der Universität sind Frauen nur ganz ver- 15 Siehe Lebenslauf Rigorosenakt 1297, Archiv der Universität Wien. einzelt und im Vergleich mit anderen Ländern deutlich spä- 16 Index Lehramtsprüfungen, Archiv der Universität Wien. ter willkommen. 17 Österreichisches Staatsarchiv AVA-Unterricht Verein für erweiter- Dass diese Frauen heute nicht mehr bekannt sind, be- te Frauenbildung 1888-1938/39: Lehrkräfte. ziehungsweise als vereinzelte Ausnahmen dargestellt wer- 18 Z.B. mit Egon von Schweidler: Über die spezifische Geschwindig- den, kommt nicht daher, dass sie einfach ‚vergessen’ wur- keit der Ionen in flüssigen Dielektrikas. Physikalische Zeitschrift den, sondern ist einer mehrfachen Verdrängung zuzu- 10, 1909, S. 279-382. 19 Rigorosenprotokoll PN 1370, Archiv der Universität Wien. schreiben. 20 Beilage zum Rigorosenakt 1370, Archiv der Universität Wien. 21 Siehe Neues Frauenleben, 15. Jg., Nr. 12, 1903, S. 19. 22 Siehe z.B. Brigitte Bischof: Naturwissenschafterinnen an der Uni- ANMERKUNGEN: versität Wien, Ariadne, Forum für Frauen- und Geschlechterge- schichte 41, Mai 2002, S. 26-31, insbesondere den Abschnitt „Die 1 Der Beitrag fasst Ergebnisse des Forschungsprojektes „Naturwis- Pionierinnen“. senschafterinnen; biografische und wissenschaftsgeschichtliche 23 Zu Chemikerinnen in Deutschland siehe Mirjam Wiemeler: Wis- Studien zu Naturwissenschafterinnen der ehemaligen philosophi- senschaftshistorische Forschung über Chemikerinnen der ersten schen Fakultät der Universität Wien“ (Modul Naturwissenschafte- Hälfte des 20. Jahrhunderts in: Helene Götschel und Hans Dadu- rinnen/biografiA) am Institut für Wissenschaft und Kunst, Doku- da (Hg.): Perspektivenwechsel, Frauen- und Geschlechterfor- mentationsstelle Frauenforschung (Finanzierung ÖNB Jubiläums- schung zu Mathematik und Naturwissenschaften, Mössingen- fondsprojekt Nr. 8545) und neuere Recherchen zusammen. Talheim 2001, S. 54-96. 2 Margaret Rossiter: Women scientists in America: struggles and 24 Die restlichen fünf Prozent fallen auf Mathematik. strategies to 1940, Baltimore 1983; Marilyn B. Ogilvie: Women in 25 Vgl. Anna Lind: Das Frauenstudium in Österreich, Deutschland Science, Cambridge 1990; Gabriele Kass-Simon und Patricia und der Schweiz, Dissertation Wien 1961, S. 183. Farnes (Hg.): Women of Science, Righting the Record, Blooming- 26 Siehe auch Renate Tuma: Studienwahl-Fächerwahl- ton 1990; Louise Grinstein, Rose K. Rose und Miriam H. Rafailo- Studienabschlüsse, in: Waltraud Heindl und Marina Tichy: „Durch vich: Women in Chemistry and Physics, Westport 1993; B. F. Erkenntnis zu Freiheit und Glück“, Frauen an der Universität Wien Shearer und B. S. Shearer: Notable Women in the Physical Sci- (ab 1897), Wien 1990, S. 79-92. ences, Westport 1993; Renate Strohmeier: Lexikon der Naturwis- 27 Siehe Brigitte Bischof: Wiener Mathematikerinnen, a.a.O. S. 11. senschafterinnen und naturkundigen Frauen Europas, Thun / 28 Brigitte Bischof: Physikerinnen, 100 Jahre Frauenstudium an den Frankfurt am Main 1998; Mary R.S. Creese und Thomas Creese: Physikalischen Instituten der Universität Wien, Broschüre zur Ladies in the Laboratory?, American and British Women in Sci- Ausstellung, Wien 1998; dies.: Frauen am Wiener Institut für Ra- ence 1800-1900, Lanham, Md. 1998; Marilyn B. Ogilvie (Hg.): diumforschung, Diplomarbeit Wien 2000. The biographical dictionary of women in science, NY 2000; Mary 29 Siehe Marie Fessler: Die übrigen akademischen Berufe, in: R. S. Creese und Thomas Creese: Ladies in the Laboratory II, Kammer für Arbeiter und Angestellte (Hg.): Handbuch der Frau- Westeuropean Women in Science 1800-1900, Lanham 2004; und enarbeit in Österreich, Wien 1930, S. 305-312. andere. 30 Brigitte Bischof: Women in Physics in , in: M. Kokowski 3 Margaret Alic: Hypatias Töchter, Zürich 1987. (Hg.): The Global and the Local: The History of Science and the 4 Pnina G. Abir-Am und Dorinda Outram: Uneasy Carreers and Cultural Integration of Europe, Proceedings of the 2nd ICESHS, Intimate Lifes, New Brunswick 1987. Cracow, 2007, 517-525. 5 Renate Feyl: Der lautlose Aufbruch, Frankfurt am Main 1983. 31 Beispiele: Olga Steindler-Ehrenhaft: Mädchengymnasium (MG) 6 Ethilie Ann Vare und Greg Ptacek: Patente Frauen, Wien 1989. Wien 2 und Handelsakademie für Mädchen, Elise Deiner: MG 7 Londa Schiebinger: Schöne Geister, Stuttgart 1993. Wien 2, später Berta Leitmeier und Anna Nowak; Marie Buchma- 8 Renate Tobies (Hg.): „Aller Männerkultur zum Trotz“, Frauen in yer: MG Wien 4, Margarete Halledauer: MG Baden, Hedwig Mathematik und Naturwissenschaften, Frankfurt / New York 1997. Krause: MG St. Pölten. 9 Charlotte Kerner: Nicht nur Mme Curie, Weinheim 1990. 32 Johann Christian Poggendorff (Hg.): Biografisch-literarisches 10 Olga S. Opfell: The lady laureates, Metuchen 1986. Handwörterbuch der exakten Naturwissenschaften Band 1-7a, 11 Gabriele Kass-Simon und Patricia Farnes (Hg.): Women of Sci- 1863ff. ence, Righting the Record, a.a.O. 33 Renate Strohmeier: Lexikon, a.a.O. 12 Annette Vogt: Lise Meitner und ihre Kolleginnen – Naturwissen- 34 Weitaus erfreulicher ist die Zahl der Naturwissenschafterinnen in schafterinnen in den Instituten der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft der Sammlung von Brigitta Keintzel und Ilse Korotin (Hg.): Wis- zwischen 1912 und 1945, Preprint 46, Max-Plank-Institut für Wis- senschafterinnen in und aus Österreich, Leben-Werk-Wirkung, senschaftsgeschichte, Berlin 1996; dies.: Vom Hintereingang zum Wien 2002. Hauptportal – Wissenschaftlerinnen in der Kaiser-Wilhelm- 35 Annette Vogt a.a.O. Gesellschaft, Preprint 67, Max-Planck-Institut für Wissenschafts- 36 Siehe biografische Beispiele. geschichte, Berlin 1997; dies.: Wissenschaftlerinnen in Kaiser- 37 Brigitte Bischof: Frauen am Wiener Institut für Radiumforschung Wilhelm-Instituten A-Z. Archiv der Max-Planck-Gesellschaft, Ber- a.a.O.; Maria Rentetzi: Trafficking Materials and Gendered Exper- lin 1999; dies.: Vom Hintereingang zum Hauptportal? Lise Meitner imental Practices: Radiumresearch in Early 20th Century Vienna, und ihre Kolleginnen an der Berliner Universität und in der Kaiser- Gutenberg ebook, 2007 Wilhelm-Gesellschaft, Stuttgart 2007.

BRIGITTE BISCHOF 11 IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008

38 Mitteilungen des Institutes für Radiumforschung. Separata aus 57 1975 habilitierte sich Nelly Brinda Konopik (1921-1996) für physi- den Sitzungsberichten der Österreichischen Akademie der Wis- kalische Chemie. senschaften. 58 Herta Wambacher (1903-1940), Schülerin und Mitarbeiterin von 39 1920-1934 waren unter den 109 Forschungsstudierenden und Marietta Blau, habilitiert 1940. Mitgliedern des Personals 39 Frauen. Vgl. Rentetzi, a.a.O. Chap- 59 1945 Gertraud Repp, 1946 Lotte Reuter, 1948 Elisabeth Woess, ter 4 (http://gutenberg-e.org/rentetzi/chapter04.html) 1950 Hermine Leinfellner, 1951 Gertrude Eberl-Rothe, 1952 An- 40 Siehe auch Marlene F. Rayner-Canham und Geoffrey W. Rayner- neliese Strenger, 1953 Gertrud Pleskot, 1956 Maria Luhan, 1956 Canham: A Crucial Role in the Discovery of Isotopes in: dies.: A Annemarie Ziegler, 1957 Agnes Ruttner. Devotion to Their Science. Pioneer Women of Radioactivity, Mon- 60 Siehe Entwicklung der Habilitationen in den einzelnen Bereichen. treal 1997, S192-195. Auch ergeben sich wieder Möglichkeiten für junge Wissenschafte- 41 Zu Horovitz als Individualpsychologin siehe auch Clara Kenner: rinnen durch die Absenz der Männer in den Kriegsjahren. Der Wiener Verein für Individualpsychologie. Emigration und Exil 61 Die Suche nach Naturwissenschafterinnen österreichischer Her- seiner Mitglieder, Dissertation Graz 2000. kunft ist in Emigrationslexika scheinbar erfolgreicher als in ein- 42 Hilda Fonovits, Elisabeth Karamichailowa und Berta Karlik. schlägigen Lexika zu ‚berühmten’ Wissenschafter(Inne)n. Vgl. Pe- 43 Brigitte Bischof: Marietta Blau, in: Gerhard Heindl (Hg.): Wissen- ter Weibel und Friedrich Stadler (Hg.): Vertreibung der Vernunft – schaft und Forschung in Österreich, Frankfurt am Main 2000; The Cultural Exodus From , Wien 1993; hier finden sich 42 dies.: Marietta Blau, Physikerinnen an der Universität Wien – Por- Naturwissenschafterinnen. traits, in: Koryphäe Nr. 29, Mai 2001, S. 6-7. 62 Siehe cv in Rigorosenakt PN 4255, Archiv der Universität Wien. 44 Peter L. Galison: Marietta Blau: Between Nazis and Nuclei, Phys- 63 Verzeichnis der von der Akademie der Wissenschaften in Wien ics Today Nov. 1997, S42-48; ders.: Image and logic: A Material herausgegebenen Schriften, Wien 1926; Dokumentation zur Ös- Culture of Microphysics, Chicago, London 1997. Brigitte Stroh- terreichischen Akademie der Wissenschaften 1847-1972, II. maier und Robert Rosner: Marietta Blau, Sterne der Zertrümme- Band, Wien 1975. rung, Wien 2003, 2006 ins Englische und ins Spanische über- 64 Personalakt Leonore Brecher, Phil. Dekanat, Archiv der Universi- setzt. tät Wien. 45 Leopold Halpern: Marietta Blau: Discoverer of the Cosmic Ray 65 Protokoll der Habil.-Kommission 22.1.1925, Personalakt Leonore „Stars“, in: Marlene F. Rayner-Canham und Geoffrey W. Rayner- Brecher, Phil. Dekanat, Archiv der Universität Wien. Canham a.a.O. S. 196-204. 66 Protokoll der Habil.-Kommission 18.6.1926, Personalakt Leonore 46 Da die unteren Ebenen der Universitätshierarchie relativ schlecht Brecher, Phil. Dekanat, Archiv der Universität Wien. dokumentiert sind, eröffneten sich hier methodische Schwierigkei- 67 Siehe Internet: Die vertriebenen Persönlichkeiten und Wissen- ten. Die entsprechenden Einträge in den Personalstandsver- schaftler der Kieler Universität, Dr. Leonore Brecher zeichnissen der Universität Wien setzen erst nach 1918 ein, sie http://www.uni-kiel.de/ns-zeit/bios/brecher-leonore.shtml sind nicht einheitlich beziehungsweise nicht verlässlich, beson- (15.5.2008) (Universität Kiel). ders hinsichtlich der Vollständigkeit aber auch bezüglich der tat- 68 Ibid. sächlichen Art der Anstellung und Bezahlung. Gleichzeitig ist der 69 Ibid. Aktenstand des Universitätsarchivs relativ lückenhaft. Personal- 70 Berichte der Biologischen Versuchsanstalt in Almanach der Ös- akten für Personen dieser Ebene sind nur in Ausnahmefällen an- terreichischen Akademie der Wissenschaften 1936 und 1937. gelegt. Meist können nur ungefähre Zeiten der Anstellung ange- 71 Dokumentation zur Österreichischen Akademie der Wissenschaf- geben werden, Hinweise auf spätere Tätigkeit sind in seltensten ten 1847-1972, II. Band, Wien 1975. Fällen vorhanden. 72 Internetrecherche: New York Public Library: Emergency Commit- 47 Staatsarchiv AVA Unterricht-allgemein 10366 aus 1919 bzw. Phil. tee in Aid of Displaced Foreign Scholars, Non Grantees 1934- Dekanat DZ 1227 aus 1918/19, Archiv der Universität Wien. 1940 und Nachweise in weiteren Online-Archiven und Universität 48 Vgl. Rigorosenprotokoll und Rigorosenakt 4843, sowie Personal- Kiel. akt Brunhild Flasch-Hellwig, Phil. Dekanat, Archiv der Universität 73 Universität Kiel. Wien. 74 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Da- 49 Personalakt Leonore Brecher, Phil. Dekanat, Archiv der Universi- tenbank der Shoaopfer. tät Wien. 75 Internetrecherche: New York Public Library: Emergency Commit- 50 An der medizinischen Fakultät hatte sich 1930 Anna Simona tee in Aid of Displaced Foreign Scholars, Non Grantees 1939- Spiegel-Adolf (1893-1983) für angewandte medizinische Chemie 1942. (Kolloidchemie) habilitiert. 76 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, Daten- 51 Verein feministische Wissenschaft Schweiz (Hg): Ebenso neu als bank der Shoaopfer. kühn, 120 Jahre Frauenstudium an der Universität Zürich, Zürich 77 cv, Habilitationsantrag Anna Maria Schirmann, Phil. Dekanat, 1988. Archiv Universität Wien. 52 Vgl. Renate Tobies (Hg.): a.a.O. S. 21. 78 Rigorosenprotokoll PN 4533, Archiv Universität Wien. 53 Brigitte Bischof: Physikerinnen, a.a.O.., S. 15-17 und dies.: Seidl, 79 cv Rigorosenakt PN 4533, Archiv Universität Wien. Franziska, geb. Vicari in: Brigitta Keintzel und Ilse Korotin: Wis- 80 Beschluss des Professorenkollegiums vom 25.2.1928, Personal- senschafterinnen in und aus Österreich, Wien 2002, S. 678-681 akt Anna Maria Schirmann, Phil. Dekanat, Archiv der Universität 54 Brigitte Bischof: Elise Hofmann. In Britta Keintzel und Ilse Korotin Wien. (Hg.) a.a.O. S. 301-304. 81 Habilantrag Anna Maria Schirmann, Phil. Dekanat, Archiv Univer- 55 Brigitte Bischof: „...junge Wienerinnen zertrümmern Atome...“, sität Wien. Frauen am Wiener Institut für Radiumforschung, Thalheim 2004, 82 Siehe Eintrag Schirmann Marie Anna in H.C. Poggendorff a.a.O. S. 133-157. 6. Ausgabe, Band 4, Berlin 1939. 56 Jedoch, wie erwähnt an der Medizinischen Fakultät. 1945 habili- 83 Dr. Marie Anna Schirmann, ehemalige Assistentin am Physikali- tierte sich dann an der Technischen Hochschule die Chemikerin schen Institut der Universität Wien: Die physikalisch-technischen Margarete Garzuly-Janke. Vgl. Juliane Mikoletzky, Ute Georgea- Methoden der Elektromedizin und ihre Apparate, Berlin / Wien copol-Winischhofer, Margit Ohl: „Dem Zug der Zeit entsprechend 1934. ...“ Zur Geschichte des Frauenstudiums in Österreich am Beispiel der Technischen Universität Wien. WUV-Verlag Wien 1997, S. 165f.

12 BRIGITTE BISCHOF

IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 keit, so traf ich Käthe an. Wie glücklich waren wir, als es dass es den propagierten idealisierten Einheitstyp von Ehe uns gelungen ist, sie als Strickerin am Block zu beschäftigen. und Familie als „ewige“ und „unveränderbare“ soziale Insti- Dann saß sie unter ihren Kameradinnen, lauter jüdische tutionen in der modernen Gesellschaft nicht gibt, vielmehr Genossinnen aller Nationen, um den Block wurden Wachen sich diese ständig wandeln und erweitern. aufgestellt, um eine nahende SS sofort zu melden, und „Im sozialen Raum“ – so Helene Bauer 1927 – „reiht Käthe las die Zeitung vor, natürlich mit Kommentar. Voller sich ein neuer Ehetypus den bereits bestehenden an: Die Glück sahen wir, wie sie sich erholte. Niemals, auch nicht in geistig und ökonomisch unabhängige Frau wurzelt schon ihrer schwersten Zeit, kam ein Wort des Mißmuts oder der unmittelbar in der Gesellschaft und übernimmt ihr gegen- Klage über ihre Lippen, sie war der ewige Optimist und die über Verpflichtungen, an denen der Mann keinen Anteil ewige Illegale.“4 Käthe Leichter überlebte das Konzentrati- mehr hat. Sie repräsentiert nach außen nur sich selbst. Je onslager nicht. mehr Möglichkeiten ihr geboten werden, in außerhäusli- „Als der Befehl zum Antreten kam, gingen wir“ – schreibt chem Wirkungskreis ihre schöpferische Arbeitslust zu be- Rosa Jochmann – „Hand in Hand, in der kalten Winternacht friedigen, eine desto geringere Rolle kann die Ehe in ihrem nebeneinander zu den bereitstehenden Autos, und plötzlich Lebensplan einnehmen. Statt ihr Leben ihrer Ehe anzupas- sagte Käthe: ‚Rosi, ich weiß, du magst es nicht hören, aber sen, wird sie nun trachten, ihre Ehe einem Leben anzupas- schau, wenn es wirklich sein sollte, daß ich sterben muß, sen, das nun seinen Schwerpunkt nach außen verlegt hat.“7 dann, bitte, sage meinen Buben, wie sehr ich sie geliebt Käthe Leichter, Helene Bauer und mit ihnen viele ande- habe, wie gern ich sie gesehen hätte, und, daß meine letz- re intellektuelle Frauen stellten sich trotz der weitverbreite- ten Gedanken bei ihnen sein werden. Den Genossen aber ten Ignoranz ihrer Genossen in den Dienst der ArbeiterIn- sage, wenn wir wieder da sein werden: So gern ich die an- nenbewegung. Sie vertraten die sozialistische Vorstellung, dere Zeit auch erlebt hätte, ich würde mein Leben doch dass die Diskriminierung der Frauen mit der Umstrukturie- nicht anders leben, wenn ich es noch einmal von vorne be- rung der Gesellschaft im Sinne einer sozialistischen Gesell- ginnen könnte.’“5 schaftsauffassung aufgehoben würde. Es war nach Eva Kreisky eine „historische Zwangsehe“, Viele dieser Frauen kamen aus aufgeklärten jüdischen welche die Frauenemanzipation an die politische Emanzipa- Familien des Bürgertums, die als Reaktion auf den Antise- tion des Proletariats band. Immerhin war die sozialdemokra- mitismus ein distanziertes Verhältnis zu ihrer religiösen tische Partei die erste politische Partei Österreichs, welche Tradition entwickelt hatten. die Beseitigung der gesetzlichen Benachteiligung der Frau Die 1938 in die USA emigrierte Ärztin und Psychoanaly- und seit 1892 die Forderung nach Einführung des Frauen- tikerin Else Pappenheim sagte dazu: „Ich habe keine Be- wahlrechts in ihr Programm aufgenommen hatte und sie ziehung zum Judentum gehabt, (war von Geburt an protes- war die einzige Partei, die sich zur prinzipiellen Ebenbürtig- tantisch), außer daß ich gewußt habe, daß mein Vater Jude keit der Geschlechter bekannte, ohne sich je auf eine gott- war. Die Schwarzwaldschule, in die ich gegangen bin, war gewollte oder naturgegebene Unterlegenheit der Frauen zu völlig gemischt. Man mußte zwar eine Stunde in der Woche berufen. Religionsunterricht haben, aber das hat nichts bedeutet. Ich Dennoch fand keiner der austromarxistischen Theoreti- habe niemanden gekannt, der irgendwie religiös war.“8 ker die Frage der Frauen einer gründlichen Analyse wert. In der Sozialdemokratie, in welcher die Religion keine Die Ansprüche und Anstrengungen der Genossinnen, sich Rolle mehr spielen sollte, suchten die Frauen, die nicht und andere Frauen zu organisieren, stieß in den Anfängen mehr länger Außenseiterinnen sein wollten, eine Lösung ih- der proletarischen Frauenbewegung auf massive Wider- rer Probleme. Darüber hinaus wurden Frauen bürgerlicher stände und sie wurden der „Sonderbündelei“ und des „Sek- Herkunft oft auch durch die Verarmung ihrer Schicht nach tierertums“ verdächtigt. Nur sehr wenige Frauen veröffent- dem Ersten Weltkrieg für soziale Anliegen sensibilisiert. lichten schließlich auch im „Kampf“, dem seit 1908 erschei- Der Modernisierungsschub nach 1918 eröffnete neue nendem theoretischen Organ der österreichischen Sozial- Bildungsmöglichkeiten für Mädchen, die insbesondere von demokratie. aufgeklärten jüdischen Familien in Anspruch genommen Eine der wenigen intellektuellen Frauen war die Sozial- wurden. Die alle gesellschaftlichen Schichten betreffende wissenschafterin Helene Bauer, die nicht nur als Verfasse- ökonomische Notwendigkeit einer Berufstätigkeit der Frau rin zahlreicher Beiträge, sondern auch als Redakteurin der wurde von den Töchtern unzufriedener bürgerlicher Mütter Zeitschrift wirkte. In dem 1927 erschienenem Artikel „Ehe als Chance und Befreiung verstanden.9 und soziale Schichtung“6 setzte sich Helene Bauer mit ver- Modelle neuer Verhaltensweisen zwischen den Ge- schiedenen, gleichzeitig vorkommenden sozialen Typen schlechtern – auch hinsichtlich sexueller Egalitätserfahrun- von Ehe und Familie auseinander, aus denen sich unter- gen – wurden zum Schrecken der Elterngeneration – von schiedliche Interessenslagen der Männer, Frauen und Kin- den jungen Frauen in der Jugendbewegung erprobt. der in Bezug auf staatliche Interventionen ergeben. Auf die Die grundsätzliche Vereinbarkeit von Berufstätigkeit und Notwendigkeit rechtlicher Regelungen, auf Veränderungen Mütterlichkeit wurde von diesen Frauen nicht mehr in Frage der ökonomischen Grundlagen und auf begleitende Maß- gestellt. Radikale Lösungen wie die Abschaffung des Ein- nahmen wie die Schaffung von Einrichtungen der gemein- zelhaushaltes wurden diskutiert. Realisiert wurden Gemein- schaftlichen Erziehung (von Kinderkrippen über Kindergär- schaftseinrichtungen wie zentrale Waschküchen, wie die ten bis zu Ganztagsschulen). Helene Bauer zeigt damit, „Wiener öffentliche Küchenbetriebsgesellschaft“ (kurz: WÖK

ILSE KOROTIN 17 IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 genannt), aber auch das Experiment eines „Einküchenhau- der Freud‘schen Psychoanalyse hervor, stand aber mit dem ses“10 im 15. Wiener Gemeindebezirk. Gedanken des Gemeinschaftssinns und -gefühls der Be- Die junge Architektin Margarethe Schütte-Lihotzky ent- grifflichkeit der AustromarxistInnen viel näher. warf Siedlungshäuser und beschäftigte sich intensiv mit Adlers Theorie ist geprägt von einem unbedingten Er- Fragen der Bewältigung der Hauswirtschaft, Arbeitsabläufe ziehungsoptimismus. Den Umwelteinflüssen wird in der wurden systematisiert und rationalisiert, wie etwa beim Entwicklung des Menschen eine hervorragende Rolle zuge- Entwurf der späteren „Frankfurter Küche“. 1921 erschien schrieben. Auch damit rückte Adler der Grundkonzeption Lihotzkys erster Artikel mit dem Titel „Einiges über die Ein- des Marxismus näher.19 richtung österreichischer Häuser unter besonderer Berück- Ein großes und wichtiges Praxisfeld der Individualpsy- sichtigung der Siedlungsbauten“. Im ersten Absatz formu- chologinnen lag in den Erziehungsberatungsstellen. Eine lierte sie: „Das Wohnhaus ist die realisierte Organisation der initiativen Mitgestalterinnen, Regine Seidler, wies in der unserer Lebensgewohnheiten“11. Die Architektin offenbarte „Internationalen Zeitschrift für Individualpsychologie“ auf damit schon früh, was sie auch später auszeichnete, „ihr das Bedürfnis sozialer Fürsorge hin: „Die Errichtung der in- Beharren auf der gründlichen Erforschung des gesellschaft- dividualpsychologischen Erziehungsberatungsstellen erfolg- lichen Umfeldes allen Bauens“.12 te aus der Überzeugung heraus, daß für das weitere Eine „Revolution des Alltags“ forderte auch die Journa- Schicksal der Kinder, die sich in Erziehungsschwierigkeiten, listin und Politikerin Marianne Pollak in zahlreichen Artikeln Charakterfehlern oder im Zustande der Verwahrlosung be- und in ihrem 1933 erschienenem Buch „Eine Frau studiert finden, in erster Reihe die individualpsychologische Aufklä- den Sozialismus“. Die gesamte Lebenskultur der Arbeite- rung und Erziehung ihrer Erzieher entscheidend ist.“20 rInnen sollte umgestaltet werden und bereits ein Stück der Die LeiterInnen der Erziehungsberatungsstellen kamen sozialistischen Gesellschaft vorwegnehmen oder zumindest jeweils aus dem Bereich der Medizin und der Pädagogik doch den Weg dorthin weisen.13 „Die erste Forderung muß und unterstützten ursprünglich die LehrerInnenschaft in ih- ... lauten, alles Veraltete, Zeit und Arbeit Verschwendende ren Erziehungsproblemen. Später wurden parallel dazu aus der Wohnung und der Hauswirtschaft zu entfernen.“14 auch allgemein zugängliche „Behandlungsberatungsstellen“ Wird bedacht, dass Frauen in Österreich erst ab 189715 errichtet, die „vornehmlich auch von den Eltern und Fami- studieren durften, so ist der Höhepunkt beruflicher und intel- lienangehörigen, mit und ohne Kinder, sowie auch von Kin- lektueller Emanzipation von Frauen im Wien der Zwischen- dern und Jugendlichen allein, freiwillig aufgesucht wur- kriegszeit zutiefst beeindruckend. den.“21 Sie waren derart konzipiert, dass zumeist ein männ- Ein bis heute ganz besonderes Zentrum frauenspezifi- licher Leiter und eine weibliche Leiterin bestellt wurden. schen Wirkens machte sich im Rahmen der Sozial- und Bil- Leiterinnen waren u. a.: Martha Holub, Alexandra Adler, dungsreformen des „Roten Wien“ der Zwischenkriegszeit Elly Rotwein, Regine Seidler, Hilde Krampflitschek und Ly- bemerkbar, wo sich immer deutlicher die Frage nach einer dia Sicher, um nur einige zu nennen. praktisch um- und einsetzbaren Psychologie und Pädagogik Unter der Leitung von Alice Friedmann und Stefanie stellte. Horovitz, letztere war übrigens auch studierte Chemikerin, In dieser Zeit entwickelte sich Wien durch die psycholo- wurde auf der Linken Wienzeile ein Erziehungsheim einge- gischen Schulen und zahlreichen MitarbeiterInnen von Sig- richtet. Es gab heilpädagogische Einrichtungen, eine Ver- mund Freud, Alfred Adler sowie Charlotte und Karl Bühler suchsschule, Ambulatorien und Sexualberatungsstellen. mehr und mehr zu einem internationalen Zentrum der Kin- Eine wichtige Initiatorin der individualpsychologischen der- und Jugendforschung. Es entstanden wichtige Beiträge Sexualberatungsstellen war Sophie Lazarsfeld (die Mutter zur Theorie und Praxis der Klinischen Psychologie, der von Paul Lazarsfeld). Sie führte Ehe-, Familien- und Sexu- Entwicklungs- und Sozialpsychologie, der Psychotherapie alberatungen in ihrer eigenen Praxis durch. Auf diese Erfah- und der Heilpädagogik.16 rungen stützte sich auch ihr 1931 erschienenes Buch „Wie Die personellen und weltanschaulichen Querverbindun- die Frau den Mann erlebt. Fremde Bekenntnisse und eige- gen zwischen „Psychologischem“ und „Rotem“ Wien waren ne Betrachtungen.“ zahlreich, wobei die Individualpsychologie im Vergleich zur Mit anderer politischer Zielsetzung als die der Sozial- Psychoanalyse durch deren starke pädagogische Orientie- demokraten gründete Wilhelm Reich (ermutigt von Freud) rung von den Sozialdemokraten bevorzugt wurde.17 die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Se- So war etwa der sozialdemokratische Schulreformer xualforschung“ und eröffnete sechs Sexualberatungsklini- Carl Furtmüller – einer der engsten Mitarbeiter von Otto ken für Arbeiter und Angestellte. Jede Stelle war zwei Stun- Glöckel – ein Individualpsychologe der ersten Stunde. den täglich geöffnet, jedermann/frau konnte sich hier Hilfe, Furtmüllers Frau Aline wiederum war sozialistische Ge- Unterstützung, Rat und Information über Erziehungsfragen, meinderätin und unterrichtete an der Schwarzwaldschule Eheprobleme, Geburtenregelung, sexuelle Probleme und Französisch. Sie zählte zu Käthe Leichters engeren Freun- Sexualerziehung holen.22 deskreis, „durch die gemeinsame Liebe zur Musik wie zur Zu den Leiterinnen der Sexualberatungsstellen gehörten französischen Literatur“18, so Leichter, waren sich die bei- die Ärztin Marie Frischauf und die Psychoanalytikerinnen den Frauen nicht nur über die politische Gesinnung, son- Anny Angel, Annie Reich und Edith Buxbaum. dern auch persönlich näher gekommen. Annie Reich und Marie Frischauf verfassten gemeinsam Die Individualpsychologie Alfred Adlers ging zwar aus die sexualpolitische Schrift „Ist Abtreibung schädlich?“, die

18 ILSE KOROTIN IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 sie als populäre Aufklärungsbroschüre gestalteten. In einfa- ten Einrichtung: cher Sprache gehalten, auf theoretische Ausführungen ver- „Da diese Kinder im Vorschulalter sind und ein Zugang zichtend setzten sie sich mit den ethischen und medizini- zu ihren Familien nicht möglich ist, bestand unsere Lösung schen Argumenten der Abtreibungsgegner auseinander. An darin, für eine Gruppe von ihnen eine separate Organisation einigen Beispielen zeigen sie auch jene Schicksale, die der zu schaffen, zwischen einer Kinderkrippe und einem Kin- Abtreibungsparagraph notwendig nach sich zog, um daraus dergarten [...] Wir wählten Kinder aus den ärmsten Familien ihre Forderungen zu entwickeln: „Sollten diese lebenswich- Wiens aus, deren Väter arbeitlos waren und auf der Straße tigen Forderungen nicht nur Buchstaben bleiben, dann bettelten und deren Mütter bestenfalls als Putzfrauen arbei- müssen Organisationen geschaffen werden, die in den Be- teten. Die Voraussetzung für die Aufnahme war, daß sich trieben und auf der Strasse den Kampf für ihre Durchset- das Kind einigermaßen selbständig bewegen konnte, in zung aufnehmen. Ihre Verwirklichung von irgend einem manchen Fällen allerdings durch Kriechen und nicht durch Kongress für Sexualreform oder von irgend einer liberalen Gehen. [...] Die Eltern waren überglücklich über die gute Regierung zu erwarten, wäre Illusion, nur die Gewalt der Pflege; die Kinder gediehen und vergalten es uns ihrerseits Masse selbst wird sie erzwingen.“23 dadurch, daß wir über die ersten Schritte des Kindes heraus Annie Reich zählte zu den VertreterInnen der marxis- aus der biologischen Einheit von Mutter und Kind Erfahrun- tisch orientierten PsychoanalytikerInnen, wie uns aus die- gen sammeln konnten.“27 sem Zusammenhang bis heute besonders Wilhelm Reich. Die Beobachtungen und Aufzeichnungen der Betreue- Siegfried Bernfeld und Otto Fenichel bekannt sind. Mit sei- rInnen wurden in einem einfachen Indexsystem dokumen- nem 1925 in Wien erschienenem Buch „Sisyphos – oder tiert und später im englischen Exil zum wichtigsten, wissen- Die Grenzen der Erziehung“ wurde Bernfeld neben Hermine schaftlichen Instrumentarium von Anna Freud und Dorothy Hug-Hellmuth und Anna Freud einer der ersten und wich- Burlingham – dem Hampstead-Index – weiterentwickelt. tigsten Wegbereiter für die Anwendung der Psychoanalyse Auch die universitäre Psychologie, vertreten durch Karl auf die Pädagogik. und Charlotte Bühler, stand in einem engen Austausch mit Hermine Hug-Hellmuth war ursprünglich Lehrerin. Sie den sozial- und bildungspolitischen Intentionen der Wiener promovierte 1908 mit der Arbeit „Untersuchungen über die Stadtverwaltung. Gemeindeeigene Einrichtungen konnten physikalischen und chemischen Eigenschaften der radioak- als Forschungsstätten benützt werden, wie etwa das psy- tiven Niederschläge an der Anode und Kathode“. Ab 1911 chologisch-pädagogische Laboratorium der LehrerInnen- publizierte sie zu kinderanalytischen Themen. 1923 leitete akademie. Charlotte Bühlers gutes Verhältnis zu den Für- sie die Erziehungsberatungsstelle des Psychoanalytischen sorgebehörden erschloss attraktive Beobachtungs- und Ar- Ambulatoriums. International bekannt wurde Hug-Hellmuth beitsgebiete wie die „Städtische Kinderübernahmestelle“. mit der Publikation des „Tagebuch(s) eines halbwüchsigen Diese galt als das „Juwel“ des sozialdemokratischen Re- Mädchens von 11-14½ Jahren“, das 1919 anonym in erster formwerks unter dem Stadtrat Julius Tandler. Geforscht Auflage, später unter ihrer HerausgeberInnenschaft er- wurde aber auch in Kindergärten, Horten, Schulen aller Gat- schien, wobei die lebhafte Diskussion um die Authentizität tungen und in Mütterberatungsstellen. als Tagebuch und die AutorInnenschaft bis nach dem Tod Unter der Psychologin Charlotte Bühler als Forschungs- Hug-Hellmuths anhielt. Die Analytikerin wurde 1924 Opfer direktorin des Psychologischen Institutes entwickelten viele eines durch ihren Neffen verübten Raubmordes.24 junge Frauen ihr Interesse an der Wissenschaft. Die junge, Auch Anna Freud war ursprünglich Lehrerin gewesen. dynamische und akademisch bereits erfolgreiche Wissen- 1923 veröffentlichte sie ihre erste kinderanalytische Arbeit schafterin setzte in ihrem Forschungsbereich auf persönli- in der Zeitschrift „Imago“ unter dem Titel „Ein hysterisches che, sehr individuelle Beziehungen zu ihren oft nur wenig Symptom bei einem zweieinvierteljährigen Knaben“. Neben jüngeren Schülerinnen. einem Kurs in Psychoanalytischer Pädagogik am Wiener Hilde Spiel dissertierte 1936 am Psychologischen Insti- Lehrinstitut, der nicht nur KandidatInnen, sondern auch Leh- tut und skizzierte die Persönlichkeit ihrer Lehrerin folgen- rerInnen und SozialarbeiterInnen zugänglich war,25 entstand dermaßen: in Zusammenarbeit mit der Wiener Stadtverwaltung eine „Die Professorin steht auf der Plattform und doziert. vierteilige Vortragsreihe für Horterzieherinnen. Diese Vor- Charlotte Bühler – schmal und schwarz gekleidet, mit dunk- träge sind Inhalt des 1930 erschienenen Buches „Einfüh- lem kurzgeschnittenem Haar – unterstreicht ihren Vortrag, rung in die Psychoanalyse für Pädagogen“.26 der sehr norddeutsch klingt und etwas spitz, mit graziösen Mit der finanziellen Unterstützung der Amerikanerin Bewegungen der Hände. Der Studentin in dem staubigen, Edith Jackson, die von Sigmund Freud analysiert und von seit 1884 nicht erneuerten Hörsaal, fällt mit einem Mal auf, Anna Freud am Wiener Institut in Kinderanalyse ausgebildet daß die langen weißen Finger der Professorin in blutrot la- worden war, gründete Anna Freud eine Kinderkrippe für ckierten Nägeln enden. Das ist einer der revolutionierends- Kinder unter zwei Jahren, die sogenannte „Jackson-Krippe“. ten Eindrücke dieses ersten Semesters, ein so knappes und Eine Kinderkrippe für so kleine Kinder war damals etwas bildhaftes Signal der emanzipierten Frau, wie es uns die völlig Neues und entstand in der Absicht, direkte Informati- Fraudoktor (gemeint ist hier die Reformpädagogin Eugenie onen über das frühe Lebensalter zu sammeln. Schwarzwald, Anm.) mit ihrem Wunsch nach lieben, be- Anna Freud betonte in einem Rückblick auch das sozia- scheidenen und hausfraulichen Schulmädchen nicht gege- le Anliegen, der im Februar 1937 am Rudolfsplatz eröffne- ben hat. Charlotte Bühler übt die Professur erst seit einem

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Jahr aus, doch sie ist selbstbewußt, als wäre ihr klar, daß brauchte für jeden Monat des ersten Jahres Beobachtungs- sie die neue, die Nachkriegsfrau verkörpert. Den völkischen daten über einen zusammenhängenden Zeitraum von vier- Kommilitoninnen, die in ihren Dirndlkleidern muffig herum- undzwanzig Stunden. Lotte war eine ihrer Quellen, und Paul sitzen, ist sie nicht geheuer. Bald wandern sie, in umge- (d. i. Paul Lazarsfeld) und ich wechselten uns alle vier kehrter Richtung, zur Germanistik ab.“28 Stunden ab, um getreulich jede Geste, jedes Lächeln, jeden Durch die finanzielle Unterstützung der Rockefeller- Laut zu protokollieren. Ihr (Lotte, Anm.) war es gleich.“30 Foundation gelang es dem Wiener Institut über 10 Jahre Nancy Chodorow hat auf die ungewöhnliche Mitwirkung hindurch kontinuierliche kinderpsychologische Grundlagen- von Frauen in der Geschichte der Psychoanalyse hingewie- forschung zu betreiben und dafür auch MitarbeiterInnen zu sen und darauf aufmerksam gemacht, wie die Präsenz von beschäftigen. (Ich nenne nur einige Namen: Hedda Bolgar, Frauen Erkenntnisse verändert und erweitert haben.31 Hildegard Hetzer, Lotte Schenk-Danzinger, Else Frenkel- Mit ihrem Verfahren der assoziativen Interpretation sei Brunswik, Herta Herzog, Käthe Wolf, Ilse Hellmann und die Psychoanalyse eine „weiche“, von Frauen bevorzugte Lieselotte Frankl. Die beiden letztgenannten Psychologin- Wissenschaft. Jedoch konnten sich Frauen auch in der nen wurden später in London Mitarbeiterinnen in Anna nicht weniger Anziehungskraft ausübenden Bühler-Schule Freuds Hampstead War Nurseries.) behaupten, welche häufig experimentell und mathematisch- Viele Lehrerinnen, die die vorgeschriebenen Universi- statistisch vorging. tätskurse besuchten, wurden durch die kreative Atmosphäre Im Spannungsfeld von Jugendkulturbewegung, aufklä- am Institut angeregt und nahmen die intellektuelle Heraus- rerisch orientiertem Intellektualismus, Reformpädagogik und forderung an. Sie beschränkten sich nicht lediglich auf die Lebensreform entwickelte sich hier – im Zusammenspiel mit im Ausbildungsprogramm vorgesehenen Seminare, son- der zahlenmäßig hohen Präsenz von Frauen – auch auf dern widmeten sich in eigenen wissenschaftlichen Arbeiten wissenschaftlicher Ebene ein neuer Forschungsstil, der an der Auswertung des in der Praxis reichlich gewonnenen Gemeinschaftsarbeit orientiert war. Der „Werkstattcharak- Materials und erwarben das Doktorat. ter“ (so Paul Lazarsfeld) und das Bewusstsein, an der „Ent- Dazu ein erläuterndes Zitat: „Unter Anleitung von Dr. stehung eines großen Theoriemodells mitzuwirken“ (so Ch. Bühler beobachteten 30 Lehrer und Lehrerinnen Wiens Charlotte Schenk-Danzinger), ließen einerseits Platz für die in ersten Volksschulklassen an 12 Knaben-, 16 Mädchen- intellektuelle Kreativität der einzelnen Mitglieder und schu- und 2 Koedukationsklassen nach einer vom Psychologi- fen zudem das notwendige Gemeinschaftsgefühl. „Wir jun- schen Institut ausgearbeiteten Anleitung die Schulneulinge gen, an der Untersuchung von Kindern und Jugendlichen in den ersten Schultagen hinsichtlich der persönlichen Kon- beteiligten Psychologen fühlten uns bei der Eroberung von takte, den sozialen Beziehungen zwischen den Kindern, um Neuland in einer Aufbruchstimmung.“32 die Umstände und Bedingungen ihres Zustandekommens, Disziplingeschichtlich ist zu bemerken, dass sich gerade ihren Inhalt und ihre Struktur kennenzulernen. In den ersten im Bereich der Psychologie, vielmehr aber noch in der Psy- zwei Schulwochen wohnten auch unauffällige Beobachter choanalyse, in den Exilländern tragfeste wissenschaftliche aus dem Psychologischen Institut bei, um ihre Beobachtun- und personelle Netzwerke bildeten, in denen Frauen bis gen unmittelbar ungestört von jeder Lehrverpflichtung pro- heute eine bedeutende Rolle spielen. tokollieren zu können.“ 29 In der Entwicklung der Kinder- und Jugendforschung sahen sich Frauen zur aktiven Teilnahme und Mitgestaltung SCHLUSSBEMERKUNG des wissenschaftlichen Feldes aufgefordert, weil dadurch traditionelle weibliche Einflußbereiche ins Blickfeld gerückt Natürlich hätte ich auch auf andere Wissenschaftsdiszipli- werden. Die Problemsensibilität, die aus sogenannten nen zurückgreifen können, nicht gerade auf solche, die auf „weiblichen Berufsfeldern“ resultierte, erwies sich als Inspi- traditionelle weibliche Einflussbereiche fokussieren und an rationsquelle für Reflexion und Theoriebildung, die Orte spezifisch weibliche Qualitäten appellieren, wie – bei Nancy selbst als „Forschungslabor“. Chodorow – die Psychoanalyse hinsichtlich ihrer Forderung Die Tatsache, dass Kinder und die kindliche Entwick- nach Empathiefähigkeit. lung von zentraler und nicht von peripherer Bedeutung sind, Es wäre auch möglich gewesen, das Vorurteil zu entlar- öffnete diesen Bereich für Frauen, welchen eine besondere ven, Frauen hätten immer schon die sogenannten „wei- Empathiefähigkeit, konkret eine bessere Einfühlung und chen“ Geisteswissenschaften den „harten“ Naturwissen- Vorstellung in bezug auf die Empfindungen eines Kleinkin- schaften vorgezogen.33 des, zugesprochen wird. Zahlreiche theoretische Überle- Dennoch: Die Präsenz und das von Frauen eingebrach- gungen aus dieser Zeit resultierten auch tatsächlich aus te kreative Potential in der Entwicklung der psychologischen Beobachtungen der Entwicklung eigener Kinder. Disziplinen in der Zwischenkriegszeit und vor allem auch Die Sozialpsychologin und spätere Mit-Verfasserin der der damit zu verbindende kooperative Forschungsstil ist so Studie „Die Arbeitslosen von Marienthal“ Marie Jahoda be- eindrucksvoll, dass in unserem heutigen Zusammenhang richtet über die Zeit nach der Geburt ihrer Tochter Lotte (der daran erinnert werden muss. heute in den USA lebenden Sozialwissenschafterin Lotte Die Situation in der österreichischen Wissenschafts- Bailyn): landschaft nach 1945 war geprägt von einer patriarchalen „Charlotte Bühler entwickelte damals ihre Babytests und Wissenschaftpolitik und -kultur, die losgelöst war von der

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Erinnerung an ehemals hier wirkende Frauen und von arbeit, hg. v. d. Kammer für Arbeiter und Angestellte in Wien Frauen dominierten kreativen Gruppen. (Red. Dr. Käthe Leichter), Wien 1930, S. 415. Überlagert vom Frauenbild des Faschismus und vom 15 1897 philosophische Fakultät, 1900 medizinische und Pharamzie, 1919 juridische, 1923 evangelisch-theologische, 1946 katholisch- Antisemitismus wurde durch die Verfolgung, Vertreibung theologische Fakultät. und Ermordung dieser Frauen die Erinnerung an sie ver- 16 Vgl. Bernhard Handlbauer: Psychoanalytikerinnen und Individu- schüttet. Mit ihnen waren aber auch ihr Engagement in ei- alpsychologinnen im Roten Wien. In: Ingrisch, Korotin, Zwiauer ner politisch und kulturell hoffnungsvollen Zeitspanne, ihre (Hg.), S. 75. Ideen, ihre Analysen und ihre Sicht der Welt, die eigentlich 17 A. a. O., S. 77. einen wichtigen Teil der intellektuellen Tradition von Frauen 18 Steiner, S. 77. 19 Johannes Reichmayer: Spurensuche in der Geschichte der Psy- ausmacht, vertrieben worden. Erst mit dem wiederentdeck- choanalyse. Frankfurt/M. 1994, S. 77. ten Wissen um diese Tradition können wir in einer kritisch- 20 Regina Seidler , Ladislaus Zilahi: Die individualpsychologischen verstehenden Auseinandersetzung wirklich an die Ge- Erziehungsberatungsstellen in Wien. In: IZI, Bd. 7 1929, S. 162. schichte intellektueller Frauen anknüpfen.34 21 Ebd. 22 Johannes Reichmayr: Spurensuche in der Geschichte der Psy- choanalyse. Frankfurt/M. 1994, S. 78. Karl Fallend: Wilhelm Reich in Wien. Psychoanalyse und Politik. Wien-Sazburg 1988, ANMERKUNGEN: S. 115f.

23 „Ist Abtreibung schädlich?“ S. 37. Zit. n. Fallend, S. 136. 1 Der Text beruht auf einem Vortrag auf der Tagung „Das Ver- 24 Ulrike Hoffmann-Richter: Hermine Hug-Hellmuth. In: Keintzel, Ko- schwinden der Frauen“ am 14.11.2005, veranstaltet von der MA rotin, S. 322-325. 57 Frauenabteilung der Stadt Wien. In der Folge wurde die Auto- 25 Elisabeth Young-Bruehl: Anna Freud. Eine Biographie. Erster rin von der MA 57 2006 mit der Durchführung des biografiA- Teil: Die Wiener Jahre. Wien 1995, S. 229. Modulprojekts „Intellektuelle Frauen und ihr Wirken im Wien der 26 Harald Leupold-Löwenthal: Anna Freud. In: Keintzel, Korotin, S. Zwischenkriegszeit: Schwerpunkt Psychoanalyse“ beauftragt. 194-198. 2 Käthe Leichter: Leben und Werk. Hg. v. Herbert Steiner. Wien 27 Anna Freud. In: Young-Brühl, S. 320f. 1973, S. 76. 28 Hilde Spiel: Die hellen und die finsteren Zeiten. Erinnerungen 3 Vgl. Barbara Serloth: Käthe Leichter. In: Brigitta Keintzel, Ilse Ko- 1911-1946. München 1989, S. 80. rotin (Hg.): Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben 29 Viktor Fadrus: Professor Dr. Karl Bühlers Wirken an der Wiener Werk Wirken. Wien 2002, S. 459. Universität im Dienste der Lehrerbildung, Lehrerfortbildung und 4 Hans Waschek (Hg.): Rosa Jochmann. Ein Kampf , der nie zu der Neugestaltung des österreichischen Schulwesens. In: Fest- Ende geht. Reden und Aufsätze. Wien 1994, S. 264 f. gabe zum 80. Geburtstag von Karl Bühler. Wiener Zeitschrift für 5 A. a. O., S. 266. Philosophie / Psychologie / Pädagogik. Band VII, Heft 1, 1959, S. 6 Helene Bauer: Ehe und soziale Schichtung. In: Der Kampf, Juli 16. 1927, S. 319-324. In: Johann Dvorak: Helene Bauer. Materialisti- 30 Marie Jahoda: „Ich habe die Welt nicht verändert“. Lebenserinne- sche Theorien von Wirtschaft und Gesellschaft und der Austro- rungen einer Pionierin der Sozialforschung. Hg. v. Steffani Engler, marxismus. In: Doris Ingrisch, Ilse Korotin, Charlotte Zwiauer: Die Brigitte Hasenjürgen. Frankfurt/M. 1997, S. 47. Revolutionierung des Alltags. Zur intellektuellen Kultur von Frau- 31 Nancy Julia Chodorow: Psychoanalyse und Psychoanalytikerin- en im Wien der Zwischenkriegszeit. Frankfurt/M., S. 28 ff. nen. In: Psyche, 41. Jg., Heft 9, Sept. 1987, S. 400 ff. 7 A. a. O., S. 322. In: Ingrisch et al. S. 34. 32 Hildegard Hetzer: Karl Bühlers Anteil an der kinder- und jugend- 8 In: Elfi Hartenstein: Heimat wider Willen. Emigranten in New York. psychologischen Forschung im Wiener Institut. In: Arnim Esch- Begegnungen. Berg am See 1991, S. 234. bach (Hg.): Karl Bühler’s Theory of Language. Amsterdam 1988, 9 Helga Embacher: Außenseiterinnen: bürgerlich, jüdisch, intelle- S. 20. kuell links. In: L’Homme Z. F. G., 2. Jg., H. 2, 1991, S. 57 ff. 33 Brigitte Bischof: Biografische und wissenschafsgeschichtliche 10 Der „Heimhof“ in der Pilgerimgasse 22. Studien zu Naturwissenschafterinnen. Endbericht zum Jubiläums- 11 Grete Lihotzky: Einiges über die Errichtung österreichischer Häu- fonds-Projekt d. ÖNB Nr. 8545, S. 16/17 sowie den Beitrag in ser unter besonderer Berücksichtigung der Siedlungsbauten. In: diesem Heft.. Schlesisches Heim, Breslau, 8/1921. Zit. in: Christine Zwingl: 34 Maßgeblich für diesen Beitrag waren die gemeinsam mit Doris Grete Lihotzky, Architektin in Wien, 1919-1926. In: Ingrisch, Koro- Ingrisch und Charlotte Zwiauer verfassten einleitenden Texte zu tin, Zwiauer, S. 245. dem Sammelband: Doris Ingrisch, Ilse Korotin, Charlotte Zwiauer 12 Friedrich Achleitner: Bauen für eine bessere Welt. In: Werkkata- (Hg.) Die Revolutionierung des Alltags. Zur intellektuellen Kultur log Margarete Schütte-Lihotzky, Soziale Architektur, Zeitzeugin von Frauen im Wien der Zwischenkriegszeit. Frankfurt/M. 2004 eines Jahrhunderts. Wien 1993. und zum Projektendbericht: Aspekte universitärer und außeruni- 13 Michaela Schneider, Margit Wolfsberger: Marianne Pollak – versitärer Jugendforschung von Frauen im Wien der Zwischen- Schreiben für den Neuen Menschen. In: Ingrisch, Korotin, Zwi- kriegskeit. Wien 1996 (hier auch gem. m. René Korotin und Karl auer, S. 165. Stockreiter) 14 Marianne Pollak: Beruf und Haushalt. In: Handbuch der Frauen-

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SUSANNE BLUMESBERGER UNFASSBARE BIOGRAFIEN… VON DER MÖGLICHKEIT UND UNMÖGLICHKEIT, DEN LEBENSWEGEN JÜDISCHER FRAUEN NACHZUSPÜREN

An manchen Tagen verarbeite ich Auschwitz ganz Leben, sondern auch Erinnerungen wurden ausgelöscht, gut, dann gibt es Tage, da denke ich voll Trauer, und Namenswechsel erschweren die Spurensuche zusätzlich. Tage, da denke ich voll Grauen an diese Zeit zurück. Bei Frauen jüdischer Herkunft gestaltet sich die Suche noch Ein solches Lager war ein so einschneidendes Erleb- schwieriger, sie sind in Lexika unterrepräsentiert, die An- nis in einem Menschenleben, dass man es unmöglich nahme von neuen Namen ist noch häufiger. Da sich das aus einem Leben wegdenken kann, Das bleibt bis zum letzten Atemzug! (Ostermann, S. 217) Projekt biografiA zum Ziel gesetzt hat, besonders jene Frauen sichtbar zu machen, die sonst unbemerkt bleiben, standen Frauen jüdischer Herkunft schon bald im Mittel- Über ihre Interviewpartnerinnen für das Buch „Frauen- punkt des Interesses. In mehreren Modulprojekten wurde Leben im Exil“ schreiben Waltraud Kannonier-Finster und versucht, dem Leben und Wirken von jüdischen Frauen Meinrad Ziegler: nachzuspüren. Derzeit sind über 14800 Datensätze zu Frauen in biografiA gespeichert, davon sind knapp 4000 jü- In zweifacher Weise ist die Biographie der interviewten discher Herkunft, also mehr als ein Viertel. Frauen als Abweichung von einem normalen Lebenslauf Dabei handelt es sich jedoch um eine Gruppe, die hete- zu betrachten. Einerseits zerstörte die Vertreibung ins rogener nicht sein könnte, die Frauen hatten unterschiedli- Exil vorerst jede Möglichkeit des Eintritts in einen den che familiäre Hintergründe, sie kamen sowohl aus reichen gesellschaftlichen Erwartungen entsprechenden Le- als auch aus armen Familien, manche waren sehr gebildet, benslauf mit erlebter Jugend und daran schließender andere konnten kaum eine Schule besuchen. Einige zählten Familiengründung. Andererseits war die Zeit des Natio- zur Elite Österreichs, lenkten das gesellschaftliche Leben nalsozialismus für Menschen jüdischer Herkunft über- und waren politisch hochaktiv, andere lebten im Hintergrund haupt eine „nicht normal gelebte Zeit“. Ins Exil zu ge- ein unauffälliges Leben. Während einige Biografien bereits hen, war in gewisser Weise eine „abnormale Biogra- relativ gut erforscht sind, sind bei anderen nur mehr Spuren phie“ einer Jüdin dieser Zeit, denn eine normale Biogra- aufzufinden. Diese wenigen und unsicheren Spuren galt es phie hätte in Auschwitz geendet. (Kannonier/Ziegler, S. zu sichern und gleichzeitig auf den unterschiedlichsten We- 64) gen zu neuen Fakten zu kommen, neue Namen zu erfahren und so vielleicht wieder einer Frau ihren Namen und ihre Diesen „abnormalen Biografien“ nachzugehen war auch das Geschichte zurückzugeben. Ziel des 2002 von der Österreichischen Nationalbibliothek Dass dies ein Projekt ohne Ende ist, wurde schon sehr herausgegebenen und im Münchner Saur Verlag erschie- bald deutlich. Dabei hieß es in zwei Richtungen zu arbeiten, nenen „Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren einerseits in die Breite, um möglichst viele Frauen wieder jüdischer Herkunft. 18. bis 20. Jahrhundert“. Rund 8000 sichtbar machen zu können und andererseits auch in die Personen konnten in Form von Kurzbiografien dargestellt Tiefe, um möglichst viele Details erfahren zu können. Dabei werden, knapp 10% davon waren Frauen. Das Handbuch hieß es aber rasch arbeiten, denn auf Zeitzeuginnen wer- und das projektbegleitend entstandene Archiv mit dem ge- den wir bald verzichten müssen. sammelten Material, das nicht in dieser Fülle in die knapp 2008 ist das Jahr der Erinnerung an den vor siebzig gehaltenen Biografien einfließen konnte, ist heute an der Jahren stattgefundenen „Anschluss“ und die darauf folgen- ÖNB zugänglich. Handbuch und Archiv bildeten einen we- den tiefgreifenden politischen Entwicklungen. Durch mehre- sentlichen Grundstock für das Modul „Jüdische Frauen“ in re schon vorgelegte und geplante Publikationen in der Rei- biografiA. he „biografiA. Neue Ergebnisse der Frauenbiografiefor- „Man muß sich hinzudenken, dass das einzelne oder schung“, durch Tagungen, Vorträge und andere Aktivitäten kollektive Sich-Anstemmen gegen das Vergessen mit un- rund um biografiA soll jedoch auch gezeigt werden, dass es geheurer Mühe verbunden, in vieler Hinsicht fast eine Sisy- nicht genug sein kann, sich – wenn überhaupt – in einem phusarbeit ist, während sich das Vergessen von Gedanken- bestimmten Jahr, derer zu erinnern, die vertrieben, verfolgt und Wissensgut sozusagen von alleine vollzieht […]“ oder ermordet wurden. Jüdinnen und Juden haben bis 1938 (Wilcke, S. 275). Dieses Zitat ist im Vorwort des dreibändi- mitten unter uns gelebt, waren NachbarInnen, FreundInnen, gen Handbuches zu lesen und zeigt, mit welchem Ziel sol- SchulkollegInnen, GeschäftskollegInnen, ÄrztInnen und che Lexika herausgegeben werden: Den Kampf gegen das LehrerInnen unserer Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern, Vergessen aufzunehmen. sie sollen in Erinnerung bleiben, nicht nur während so ge- Doch bei dem Versuch, das Leben von Jüdinnen und nannter Gedenkjahre. Juden im 20. Jahrhundert nachzuvollziehen und festzuhal- Um diese – sehr heterogenen – Gruppen von Frauen ten, stößt man auf zahlreiche Schwierigkeiten. Vertreibung, dokumentieren zu können, war außer der Auswertung von Flucht und Emigration verwischten oft Spuren. Nicht nur publizierten Materialien, von elektronischen Quellen (wobei das Internet im Laufe der Projektlaufzeit immer mehr an

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Bedeutung gewann), einer Recherche in diversen Archiven te. Ich glaube die Opfer haben als einzige das Recht zu und Bibliotheken, vor allem auch der Kontakt mit ExpertIn- vergessen. (Elfriede Gerstl: In: DÖW (Hg.): Jüdische nen, KollegInnen, ForscherInnen, NachlassverwalterInnen, Schicksale, S. 683) aber auch mit Personen, die sich aus persönlichen Gründen mit einer Biografie beschäftigten, wichtig. Einladungen zu Aussagen, wie die von Elfriede Gerstl, die, 1932 in Wien Tagungen, Vorträgen oder Arbeitskreisen brachten mitunter geboren, die NS-Zeit in verschiedenen Verstecken überleb- wertvolle Kontakte und neue Erkenntnisse mit sich. te, zeigen, wie wichtig der künstlerische Ausdruck von Men- Das Projekt war schon von Beginn an von der Leiterin schen war, denen die Würde, die Heimat und das Recht zu Dr. Ilse Korotin als Modulsystem konzipiert worden, was leben gestohlen wurde sich in der Praxis als sehr gute Lösung erwies. Die Kon- Unsere heutige Kultur baut auf das Wirken zahlreicher zentration auf eine bestimmte Personengruppe wurde durch namenlos gewordener Männer und was oft vergessen wird, Drittmittelfinanzierungen erst möglich gemacht. Wesentlich auch auf dem von zahlreichen Frauen auf. Ihnen wieder ei- dazu beigetragen haben vor allem der Jubiläumsfonds der nen Namen und eine Geschichte zu geben, bedeutet auch Oesterreichischen Nationalbank, der Nationalfonds der Re- ein Stück unserer eigenen Kultur wieder sichtbar zu ma- publik Österreich und die Hochschuljubiläumsstiftung der chen. Stadt Wien zur Förderung von Wissenschaft. Die einzelnen Schwerpunkte waren dabei die Recherche nach kaum Aktivitäten waren so konzipiert, dass sie einander gut er- bekannten Autorinnen und das Bemühen um eine Rekon- gänzten. struktion ihrer Lebensläufe und ihres Wirkens, die Einbet- Um die Möglichkeit zu haben, sich auf Frauen jüdischer tung der Einzelschicksale in die jeweiligen historischen ge- Herkunft zu konzentrieren, wurde im Jahr 2002 beim Jubi- sellschaftlichen Bedingungen, das Betrachten der Werke läumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank das zwei- und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft, das Erken- jährige Projekt „Biografische Datenbank und Lexikon öster- nen der Frauennetzwerke und die Sichtbarmachung durch reichischer Frauen. Modul Jüdische Frauen in Österreich eine gezielte Fotorecherche. und ihr Beitrag zu Wissenschaft, Kunst und Kultur. Schwer- Genutzt wurde neben den bereits genannten Quellen punkt 18. bis 20. Jahrhundert. Ein biografischer Überblick“ vor allem das Wissen von Forscherinnen und Forschern eingereicht, das von Gen.Dir.a.D. Dr. Johann Marte geleitet abseits der Universität. Als Beispiel sei hier nur die Biogra- und von der Autorin bearbeitet wurde.1 Aufbauend auf die fie von Käthe Olshausen-Schönberger, 1881 in Mödling ge- schon in der Datenbank biografiA vorhandenen Biografien boren und 1968 in Graz gestorben, genannt, bei der sich konnten ca. 2500 Datensätze zu Frauen jüdischer Herkunft der Enkel mit seiner Familiengeschichte beschäftigt und erstellt werden. noch zahlreiches nicht publiziertes Material in Form von Dabei wurden individuelle, unverwechselbare Lebens- Korrespondenzen und Aufzeichnungen bereithält. Käthe läufe von Wissenschafterinnen aller Disziplinen, Schriftstel- Olshausen-Schönberger versuchte 1933 ihren stark gegen lerinnen, Schauspielerinnen, Tänzerinnen, Musikerinnen die militärische Diktatur gerichteten Roman „Land der Frau- und von Persönlichkeiten, die in anderer Form öffentlich tä- en“ in Hitler-Deutschland zu veröffentlichen, die Publikation tig waren, wie Wohltäterinnen, Stifterinnen, Sportlerinnen, gelang ihr erst zwei Jahren danach in England und in den Unternehmerinnen, Lehrerinnen usw. nachgezeichnet. Die USA. Schwierigkeiten, mit denen jüdische Frauen zu kämpfen Projektbegleitend konnten mehrere Vorträge im In- und hatten, ganze Familien waren ausgelöscht oder in fremde Ausland zum Thema „Jüdische Schriftstellerinnen“ gehalten Länder vertrieben worden, hinterließen Spuren. So meinte werden, 2005 startete der Arbeitskreis „Frauen schreiben die Künstlerin Käthe Berl: „Österreicherin, das kann ich sa- gegen Hindernisse“ am Institut für Wissenschaft und Kunst. gen, bin ich keine mehr. Ich bin und bleibe eine Emigrantin, Im Mittelpunkt des Interesses stand die Frage, inwieweit die absolut. Ich habe einen amerikanischen Paß und fühle mich weibliche Biografie Einfluss auf das Schreiben hat und um- wohl hier“. (Käthe Berl, in: Hartenstein, S. 70) gekehrt, wie das Publizieren von Texten auf das weitere Zu Projektende war deutlich, dass weitere Schritte zur Leben wirken kann – erneut mit Schwerpunkt auf Frauen Aufarbeitung von Frauenbiografien mit jüdischem Hinter- jüdischer Herkunft. Zu vier Autorinnen konnten während der grund unternommen werden mussten. 2004 wurde das An- Projektlaufzeit – zum Teil in Kooperation mit der Österrei- schlussprojekt „Die jüdischen Schriftstellerinnen Öster- chischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturfor- reichs: Ihr Leben, ihr Schicksal und ihr Schaffen“ bewilligt.2 schung (ÖG-KJLF) – Tagungen konzipiert und durchgeführt Dabei standen jene Frauen im Vordergrund, die in ir- werden. Eine davon war Adrienne Thomas gewidmet, die gendeiner Weise schriftstellerisch tätig waren. Eine von meinte: „Vielleicht konnte man zu Kindern noch reden. Mit ihnen ist Elfriede Gerstl, die meinte: den Erwachsenen hatte ich keine gemeinsame Sprache mehr“ (zitiert nach Gürtler, Schmid-Bortenschlager, S. 265). Das ist mir schon oft gesagt worden, dass ich das doch So war es nicht nur möglich, immer wieder Projekter- schriftstellerisch bearbeiten sollte. Das ist ja sehr unan- gebnisse öffentlich zu präsentieren, sondern auch durch genehm und selbstquälerisch, sich überhaupt an diese das Einbeziehen von in- und ausländischen Wissenschafte- Zeit, an die ganze Situation zu erinnern. Das würde rInnen neue Erkenntnisse in das Projekt einfließen zu las- wirklich eine Analyse brauchen, und das hab’ ich mir sen. Zu jeder Tagung ist ein Tagungsband in der Reihe „bi- halt immer erspart. Aber ich hab’ es in einigen Fällen ografiA. Neue Ergebnisse der Frauenbiografieforschung“ aufgeschrieben, aber nicht so ausführlich, wie ich könn- geplant. „Alex Wedding (1905-1966) und die proletarische

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Kinder- und Jugendliteratur“ erschien bereits im März 2007. gemeldet. Am 30.6.1939 erhielt Gisela die Staatsbürger- Im Mai 2008 folgte der Band „Mimi Grossberg (1905-10997) schaft des „Deutschen Reiches“. Vom 28.7.1936 an lebte Pionierin – Mentorin – Networkerin“. sie unter dem Namen ihres Vermieters Johann Gissemann. Noch spezieller war das Projekt „Leben und Wirken jü- Sie wurde von dort am 2.11.1941 abgemeldet und am discher Kinder- und Jugendbuchautorinnen aus Österreich“, 23.11.1941 über Wien nach Kowno deportiert. das die Hochschuljubiläumsstiftung der Stadt Wien 2003 Gabriele (Elli) Kafka, (Prag, 22.9.1889-Chelmno, 1942) förderte.3 war die älteste Schwester von Franz Kafka. Ihr Vater Her- Hier standen die Lebensläufe von Frauen, die für Kinder mann Kafka (1852-1931) und ihre Mutter Julie Kafka (1856- und Jugendliche schreiben bzw. geschrieben haben, im 1934) entstammten beide jüdischen Familien. Der Vater Vordergrund. Die Kinder- und Jugendliteratur galt lange Zeit kam aus der Provinz, arbeitete zunächst als reisender Ver- als Nische für Frauen, die sich schriftstellerisch betätigen treter, später als selbstständiger Galanteriewarenhändler. wollten, denen es aber aus gesellschaftlichen Gründen Julie Kafka stammte aus einer wohlhabenden Familie aus nicht möglich war, über einen anderen Bereich als Kirche, Podiebrad, war sehr gebildet und arbeitete täglich bis zu Kinder und Küche zu schreiben. Für Frauen der vorigen zwölf Stunden im Geschäft ihres Mannes. Die Kinder wur- Jahrhunderte war das Schreiben und hier ganz besonders den vom wechselnden Dienstpersonal erzogen. Am das Verfassen von Büchern für junge Leserinnen und Leser 27.11.1910 heiratete Elli den Geschäftsmann Karl Hermann eine der wenigen Möglichkeiten, an die Öffentlichkeit treten (gest. 1939), es war eine, wie damals üblich, arrangierte zu können ohne gesellschaftliche Tabus brechen zu müs- Ehe. Durch ihre reichlich bemessene Mitgift und die Ge- sen. Demnach findet man nicht nur in den Werken interes- schäftsideen ihres Mannes, er produzierte den Werkstoff sante Aussagen und Hinweise auf die Lebensbedingungen Asbest, konnten die Prager Asbestwerke Hermann & Co der jeweiligen Epoche, auch die Biografien der Verfasserin- gegründet werden. Sie wurde mit ihrer Tochter Hanne nen sind unglaublich vielfältig, spannend und manchmal Seidner am 21. Oktober 1941 in das Ghetto Lodz deportiert. auch tragisch. Sie sagen nicht nur über die Kulturgeschichte Ein Jahr später wurde sie in das Vernichtungslager Kulmhof Österreichs, sondern ganz besonders auch über die Ge- gebracht und dort ermordet. schichte der Frau sehr viel aus. Für die Wissenschaft inte- Da sich das Projekt „biografiA“ auch mit Frauen befasst, ressant, aber leider sehr oft erschütternd lesen sich dabei die in den ehemaligen Kronländern tätig waren, erschien es die Lebensbeschreibungen jener Frauen, die jüdischer Her- besonders lohnend, sich mit Prager Frauen zu beschäfti- kunft waren. Viele von ihnen waren sich ihres Judentums gen. Es ist heute kaum bekannt, dass sich fast alle Frauen nicht bewusst, bevor sie von den Nationalsozialisten zu im Umfeld des „Prager Kreises“ aktiv und engagiert „Nichtarierinnen“ erklärt wurden. Bei vielen verlieren sich gesellschaftlich, journalistisch und literarisch für die die Spuren durch Namenwechsel, Emigration oder Deporta- „zionistische Sache“ einsetzten. Mit der Gründung von tion. Mehrere emigrierte Kinder- und Jugend- Vereinen und dem Organisieren von Vorträgen und buchautorinnen, wie die 1925 in Wien geborene und heute Lesungen schufen sie eine Plattform für die moderne in England lebende Eva Ibbotson oder die drei Jahre später deutschsprachige Literatur. Zu ihnen gehörten auch Ottla geborene Lore Segal, die heute als Schriftstellerin in Ameri- Kafka (die Schwester Franz Kafkas), Elsa Brod (die Frau ka lebt, sind heute in Österreich der Allgemeinheit kaum Max Brods), Else Bergmann (die Frau Hugo Bergmanns), bekannt. Kaum Spuren hinterließen auch jene, die die NS- Berta Fanta und viele andere, die heute der Öffentlichkeit Zeit nicht überlebten, wie, um nur ein Beispiel zu nennen, kaum bekannt sind. Berta Fanta, deren Haus bald zu einem Ilse Weber, die 1927 „Jüdische Kindermärchen“ veröffent- Zentrum des Prager kulturellen Lebens wurde, meinte lichte und 1944 in Auschwitz ermordet wurde. Ihre Worte bezeichnenderweise: „Es gibt Schlingpflanzen, deren Sten- „Ich wandere durch Theresienstadt, das Herz so schwer wie gel spiralförmig wächst, man hat Versuche gemacht, die Blei, bis jäh mein Weg ein Ende hat, dort hart an der Bas- entgegengesetzte Richtung zu erzwingen, die Pflanze büß- tei“4 lassen ihr erlebtes Leid erahnen. te dabei ihr Leben ein, die Menschen wollen die Richtung Ergänzend zu der eingangs beschriebenen Studie för- unserer Charakterspirale in einem fort an uns ändern. Ge- derte der Nationalfonds der Republik Österreich mit dem lingt der Versuch, dann ist auch unsere Persönlichkeit ge- Projekt „Jüdische Frauen in Österreich und ihr Beitrag zu storben.“ (Tagebuch von Berta Fanta, 21.11.1900, zitiert Wissenschaft, Kunst und Kultur. Ein biografischer Überblick. nach Gimpl, S. 52) Schwerpunkt Opfer des Holocaust“ die Erforschung jener Um das Leben dieser Frauen näher untersuchen zu Jüdinnen, die den Holocaust nicht überlebten. Die erschre- können, wurde unter der Leitung von Dr. Ilse Korotin – ckend große Anzahl an aufgenommenen Frauen – die erneut beim Jubiläumsfonds der österreichischen selbstverständlich noch zu ergänzen ist – zeigt, wie viele Nationalbank – ein zweijähriges Projekt mit dem Titel „Die Frauen, egal ob aus dem öffentlichen Leben oder unbe- Frauen des jüdischen ‚Prager Kreises’. Kreative Netzwerke kannt, dem Holocaust zum Opfer fielen, bzw. durch den Na- und Transaktionsfelder aus historisch-biografischer tionalsozialismus bedroht waren. Perspektive“5 eingereicht. Seit der Bewilligung im Jahre Als Beispiel sollen hier zwei Frauen genannt werden: 2006 arbeiten die Autorin und Rahel Rosa Neubauer daran, Gisela Bermann (Stuhlweissenburg, 20.1.1875-Kowno, die Bedeutung des von Frauen geschaffenen kulturellen 29.11.1941), Handarbeiterin, wuchs in Caslau in einer jüdi- Netzwerkes, in dem Prag als ehemaliges Zentrum der schen Familie auf. Sie zog mit ihrem Vater nach Innsbruck Monarchie eine wichtige Rolle spielte, wieder bewusst zu und war dort polizeilich vom 16.2.1918 bis zum 28.7.1936 machen.

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Wer wirklich zum „Prager Kreis“ zu zählen ist, ist immer navische Literatur an und war als Bibliothekarin im 1900 er- noch eine Streitfrage unter HistorikerInnen und Literaturwis- öffneten Wiener Frauenclub tätig7. Ihr Arbeits- und Lebens- senschafterInnen. Dies soll für die Arbeit aber nicht von Be- mittelpunkt lag in der Gumpendorferstraße 25 in Wien. 1905 lang sein, da mit „Prager Kreis“ ohnehin, zumindest bis vor erhielt sie die goldene Medaille Litteris et Artibus durch den kurzer Zeit, nur Männer gemeint waren. König Oskar von Schweden und Norwegen. Sie war unter Es wurden über den „Prager Kreis“ und dessen Mitglie- anderem Mitglied des von Rosa Mayreder 1893 gegründe- der unzählige Studien veröffentlicht, Frauen kamen jedoch ten Allgemeinen Österreichischen Frauenvereines8, aus darin kaum vor, wenn, dann nur sehr am Rande. Interes- dem sie später austrat. Am 6.8.1941 starb sie in Wien. sant ist deshalb, dass Max Brod in seinem Buch „Der Pra- Obwohl Marie Franzos zahlreiche Bücher von bekann- ger Kreis“, 1966 erschienen, drei Frauen, sozusagen als ten Autorinnen und Autoren ins Deutsche übersetzt hat und Vorreiterinnen, darstellt. Die erste ist Marie von Ebner- somit den deutschsprachigen Leserinnen und Lesern die Eschenbach, die meisterhaft das Deutsche und Tschechi- skandinavische Literatur nähergebracht hat, ist über ihr Le- sche zu verbinden wusste, die zweite Bertha von Suttner ben bislang kaum Näheres bekannt. Nur die zahlreichen und die dritte Božena Nemčova. Auch Auguste Hauschner, Übersetzungen von Marie Franzos, unter anderem die Wer- mit der er in Kontakt war, lobte er in seinem Buch als Frau, ke von Ellen Key, Selma Lagerlöf, Hjalmar Bergman, Hjlmar die sehr viel für andere getan hat. Georg Gimpl verwendete Soederberg, August Strindberg, die teilweise sehr oft neu als erster den Begriff „weiblicher Prager Kreis“6, worüber aufgelegt wurden, und die umfangreiche Korrespondenz noch zu diskutieren wäre. lassen die Lebens- und Arbeitsbedingungen erahnen. Zu einigen Frauen konnten auch Einzelstudien durchge- Ihr Briefnachlass – mehr als 3000 Stück – befindet sich führt werden, unter anderem „Wien 1938 – Das Ende zahl- zum Teil in der Autographen-, Handschriften- und Nachlass- reicher Karrieren. Am Beispiel der Übersetzerin Marie Fran- Sammlung der Österreichischen Nationalbibliothek9, sowie zos (1870-1941)“, ein Projekt der Hochschuljubiläumsstif- in Nachlässen anderer Schriftstellerinnen und Schriftsteller. tung der Stadt Wien. Das sich dort befindende Briefkonvolut umfasst den Zeit- Marie Franzos, eine heute in der Öffentlichkeit wenig raum von 1894 bis 1939. bekannte Übersetzerin, stand in diesem einjährigen Projekt Einige ihrer KorrespondenzpartnerInnen waren: Vicky im Mittelpunkt. Mittels biobibliografischer Recherche wurde Baum, Martin Buber, Paula Grogger, Ellen Key, Alfred nicht nur ihr eigener Lebensweg nachgezeichnet, sondern Klaar, Alfred Polgar, Felix Salten, Helene Scheu-Riesz, gleichzeitig auch die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arthur Schnitzler, Stefan Zweig und viele andere. Dieser vom Nationalsozialismus bedrohten Übersetzerinnen in Ös- Auszug genügt, um zu erkennen, in welch bedeutender lite- terreich beleuchtet. Ein weiterer Schwerpunkt des For- rarischer Szene sich Marie Franzos bewegt hat. Ein mehr- schungsvorhabens war die Betrachtung des literarischen jähriger Briefwechsel fand mit dem schwedischen Schrift- Netzes, das sich, wie man an der regen Korrespondenz von steller Per Hallström (1866-1960) statt, dessen bedeutends- KünstlerInnen in Wien im ersten Drittel des 20. Jahrhun- te Übersetzerin und Vermittlerin sie seit 1895 war. Die Brie- derts erkennen kann, entwickelte. Als Übersetzerin war Ma- fe Hallströms (101 Stück von 1895 bis 1939) befinden sich rie Franzos nicht nur mit zahlreichen Verlagen im In- und seit 1942 an der Österreichischen Nationalbibliothek. Sie Ausland in Kontakt, sondern auch mit Kolleginnen und Kol- behandeln vor allem die Probleme in Zusammenhang mit legen sowie mit Autorinnen und Autoren. Aus den erhalten den Übersetzungen und Veröffentlichungen von Hallströms gebliebenen Briefen lassen sich Querverbindungen, Bezie- Werken und zeigen außerdem die Sicht Hallströms auf sei- hungen und Arbeitsbedingungen ablesen, man könnte sie ne Werke. Viel Mühe, so wird aus den Briefen ersichtlich, fast als „Seismographen der politischen Erdbeben“ in der verwendete Franzos auf die Suche nach Verlagen und politischen Landschaft des Europa vor dem „Anschluss“ be- Bühnen für Hallströms Arbeiten. Es wird aber auch deutlich, zeichnen, in dem Rassenwahn und Antisemitismus immer dass Hallström seine Übersetzerin, die die Gabe hatte, die bedrohlicher wurden. feinen Nuancen seiner Sprache zur Geltung kommen zu Marie Franzos (Pseud. Francis Maro), von ihren Brief- lassen, sehr geschätzt hat. Für Hallström war es deshalb partnerInnen auch Mi(t)zi genannt, wurde als Tochter des sehr bitter, dass er als Sekretär der Schwedischen Akade- Advokaten Max Franzos (1826-1893) und der Übersetzerin mie 1933 Marie Franzos in ihrer ökonomischen Notlage Bertha Ostersetzer (1850-1932) am 17.9.1870 in Wien ge- nicht helfen konnte.10 Bisherige Sichtungen haben ergeben, boren. Ihr Bruder, Emil Franzos, war Rechtsanwalt und dass sich am Inhalt dieser zahlreichen Briefe viel ablesen Syndikus des Verbandes der österreichischen Theaterdirek- lässt. So wird nicht nur der Arbeitsprozess zwischen Autorin toren. Er starb 1928 in Wien. oder Autor und Übersetzerin beschrieben, auch die jeweili- Ein Onkel von Marie Franzos war der Journalist Karl gen Arbeitsbedingungen im In- und Ausland sowie die Ver- Emil Franzos (1848-1904). Marie Franzos wurde also in ei- änderungen, die sich durch die politischen Rahmenbedin- ne schriftstellerisch tätige Familie geboren. gungen ergaben, werden deutlich. Nach Absolvierung der französischen Staatsprüfung an Nicht zuletzt zeigen diese Briefe auch, wie schwierig der Damenakademie in Wien begann sie als Übersetzerin sich das Leben einer schreibenden Frau Anfang der dreißi- zu arbeiten. Sie übertrug Werke aus dem Schwedischen, ger Jahre in Österreich gestaltete, wenn sie jüdischer Her- Norwegischen, Dänischen, Italienischen, Spanischen und kunft war. Englischen ins Deutsche und hielt zusätzlich literarische Aus arbeitsökonomischen Gründen konnte für dieses Konferenzen ab. Außerdem bot sie Vorträge über skandi- Projekt nur ein Teil des Nachlasses autopsiert werden, au-

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ßerdem war eine tiefergehende Recherche nur in Öster- schwieriger, sich den Lebensunterhalt zu verdienen. Marie reich möglich. Trotzdem war es möglich, einen guten Ein- Franzos lebte alleine, der Tod der Mutter hatte sie sehr tief blick in das Leben und Wirken Marie Franzos zu erhalten. getroffen, sie scheint aber nicht nur unter Einsamkeit, son- Ein Ergebnis der Studie ist die Erkenntnis, dass das dern auch unter finanziellen Problemen gelitten zu haben. Schreiben von Briefen ein wesentlicher Teil ihrer Arbeit war. Die Briefe zeigen nicht nur jene üblichen Probleme auf, Nur durch ein unglaublich großes Netzwerk – das zeigt uns mit denen ÜbersetzerInnen zu kämpfen hatten: Die unun- die Liste der KorrespondenzpartnerInnen – war es ihr mög- terbrochenen Bemühungen um Aufträge, rechtliche Ver- lich, zahlreiche Werke zum Teil von bedeutenden Schrift- wicklungen und Schwierigkeiten, sondern auch jene, die stellerInnen aus dem skandinavischen Raum ins Deutsche damit zusammenhingen, dass Marie Franzos als alleinste- zu übersetzen. hende Frau gänzlich auf sich selbst gestellt war und dass Den Briefen ist zu entnehmen, dass sich Marie Franzos sie jüdischer Herkunft war. um die meisten Übersetzungen selbst bemüht hat, obwohl Marie Franzos hat mit einigen SchriftstellerInnen über sie – da sie wegen der Qualität ihrer Arbeit sehr angesehen Jahre und sogar Jahrzehnte korrespondiert, einige von war – auch immer von AutorInnen um Übersetzungen gebe- ihnen hat sie auch besucht bzw. ist von ihnen in Wien be- ten wurden, seltener scheint es, haben sich Verlage an sie sucht worden. Das führte einerseits zu einem großen Ver- gewendet. Die Übersetzungen sicherten nicht nur das Ein- trauen und damit zu einem mehr oder weniger reibungsar- kommen von Marie Franzos, sie waren auch den meisten men Ablauf des Übersetzungsprozesses und andererseits SchriftstellerInnen sehr willkommen, die ja ebenfalls – meist auch dazu, dass auch persönliche Dinge angesprochen 50% – des Übersetzungshonorars bekamen. Der Weg von wurden. der Idee zur Ausführung war nicht nur sehr lang, sondern Die Briefe geben aber nicht nur Auskunft über Marie teilweise auch sehr hindernisreich. So musste zunächst ge- Franzos selbst, sondern sagen auch viel über die Persön- klärt werden, ob nicht schon eine deutsche Übersetzung lichkeiten ihrer KorrespondenzpartnerInnen aus, über die vorliegt, ob nicht ein/e andere/r ÜbersetzerIn damit beauf- jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Bedingungen tragt ist, ob es rechtliche Probleme geben kann usw. Dann und die damit verbundenen Arbeitsbedingungen. Wir be- war zu überlegen, in welcher Form die Übersetzung er- kommen dabei aber auch Einblick in das Verlagswesen. scheinen soll, ob vielleicht gleich mehrere Bücher zu einem Nach Projektende wurde offensichtlich, dass noch zahl- Band zusammengefasst werden sollten. Weiters mussten reiche weitere Schritte notwendig wären, um das Leben Ma- finanzielle Dinge zwischen AutorIn, Verlag und Übersetzerin ria Franzos ausführlich dokumentieren zu können. So fehlt besprochen werden. Wenn alles geklärt war, kam es in den bislang eine Aufarbeitung des gesamten Nachlasses, auch meisten Fällen zu weiteren Überlegungen, die Stil, Wort- jener Teile, die im Ausland, vor allem in Schweden vorhan- wahl usw. betrafen. den sind, die Übersetzung der nichtdeutschen Korrespon- Schwierigkeiten traten vor allem dann auf, wenn es denz, eine weiterführende Recherche über die Familie von rechtliche Probleme gab, Zusagen von Verlagen wieder zu- Marie Franzos und über ihre sonstigen Tätigkeiten. Die rückgenommen wurden, äußere Bedingungen ein Zustan- Durchsicht der Nachlässe ihrer KorrespondenzpartnerInnen dekommen der Zusammenarbeit behinderten, wie das könnte ebenfalls weitere Hinweise auf Marie Franzos ge- durch den Ersten Weltkrieg sehr oft der Fall gewesen sein ben. Eine ausführliche Recherche zu anderen Übersetze- dürfte. So sind nachweislich zahlreiche Korrespondenzstü- rInnen aus dieser Zeit wäre ebenso hilfreich, um mehr über cke verloren gegangen, Briefe mussten ein zweites, die jeweiligen Arbeits- und Lebensbedingungen zu erfahren. manchmal auch ein drittes Mal geschrieben werden. Die So könnte Schritt für Schritt eine Übersicht über ein in der Zensur war ein weiteres Hindernis. Viele SchriftstellerInnen Forschung etwas vernachlässigtes Gebiet entstehen, näm- konnten nicht genug Deutsch, um Briefe in dieser Sprache lich über das der Übersetzungstätigkeit. zu verfassen. In den Kriegsjahren war man aber dazu auf- Wie schon erwähnt, finden sich derzeit knapp 4000 gefordert, Briefe in Deutsch zu verfassen. Ein wichtiges Frauen jüdischer Herkunft in der Datenbank biografiA. Die Thema war aber auch Konkurrenz. Die ÜbersetzerIn war Arbeit an Vorträgen zu einzelnen Frauen, Netzwerken oder mehr oder weniger den Verlagen und den jeweiligen Auto- ausgewählten Werken11 trug ebenfalls zu einer Vertiefung rInnen „ausgeliefert“, der Markt war groß, nur durch ihren über das Leben und Wirken einzelner Frauen oder speziel- hohen Bekanntheitsgrad war es Marie Franzos möglich, so len Themen bei und half mit, die jeweiligen Datensätze er- viele Aufträge zu erhalten. gänzen zu können. Der aufkommende Nationalsozialismus hinterließ eben- Die meisten Frauen findet man im Bereich der Gesund- falls seine Spuren, wie das folgende Zitat, ein Ausschnitt heits- und Sozialberufe, auch die Literatur und die Kultur- aus dem Briefwechsel zwischen einem Verlag und Marie und Geisteswissenschaften sind stark vertreten. Franzos, zeigt: „[…] Wir empfingen mit bestem Dank Ihren Unter dem Bereich „Gesundheits- und Sozialberufe“ Brief vom 10. Oktober, müssen Ihnen aber sagen, dass sich sind Ärztinnen, Krankenschwestern, Psychologinnen, Psy- in bezug auf den von Ihnen geplanten Band neuer Sachen choanalytikerinnen, Pharmazeutinnen, Sozialarbeiterinnen, von Selma Lagerlöf an unseren nach sehr reiflichen Überle- Fürsorgerinnen usw. zu finden. Unter ihnen zum Beispiel gungen gefassten Entschlüsse leider nichts ändern wird Anna Freud aber auch die weniger bekannte Regina […]“ (Brief vom Albert Langen-Georg Müller Verlag an Ma- Kopstein (1885-1941), Mitbegründerin des Vereins „Frau- rie Franzos, 10.10.1938) enhort“, der sich die Aufgabe stellte, Wöchnerinnen und Zusagen wurden zurückgenommen, es wurde immer arme Frauen zu unterstützen. Sie wurde am 15.12.1941

26 SUSANNE BLUMESBERGER IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 nach Opole, Distrikt Lublin, deportiert. Oder Rosa Walk nen, Chemikerinnen, Physikerinnen, Mathematikerinnen, (1893-1942), eine Psychoanalytikerin, die von der Genetikerinnen u.s.w. finden sich unter „Naturwissenschaf- verhaftet wurde. Die zweitgrößte Gruppe umfasst alle Frau- ten“. Die bekannte Physikerin Marietta Blau, die zweimal en, die sich mit Literatur beschäftigen. Schriftstellerinnen, zum Nobelpreis vorgeschlagen wurde, ist eine von ihnen. Übersetzerinnen, Kritikerinnen, Feuilletonistinnen und Er- Die allseits bekannte Lise Meitner eine andere. Gerty Cori, zählerinnen sind hier zu finden. Zahlreiche bekannte Na- die 1947 zusammen mit ihrem Mann den Nobelpreis für men könnten hier aufgelistet werden, wie zum Beispiel Physik erhielt, soll als dritte genannt werden. Unter dem et- Emma Adler, Vicki Baum, Elfriede Gerstl, Alma Johanna was sperrigen Begriff „Informationswesen“ finden wir Jour- Koenig, Mira Lobe und viele andere, aber auch wenig be- nalistinnen, Zeitungsherausgeberinnen, Dokumentarinnen, kannte wie Fanny Neuda (1819-1894), Autorin des ersten Pressereferentinnen, Feuilletonistinnen, wie etwa Jenny von einer Frau geschriebenen jüdischen Andachtsbuches Liebmann, die auch als Übersetzerin tätig war. Aus der Poli- (1855) oder die Illustratorin und Malerin Tom Seidmann- tik sind etwa zu nennen: Gisi Fleischmann, eine Zionistin, Freud (1892-1930). Eine weitere große Gruppe bilden die die 1944 in Auschwitz ermordet wurde, oder Käthe Leichter, Kultur- und Geisteswissenschaften, die sich aus Germanis- deren Leben 1942 in Ravensbrück endete. Aus der Gruppe tinnen, Literatur- und Sprachwissenschafterinnen, Romanis- des „Sports“ wären Hedy Bienenfeld zu nennen, die als tinnen, Historikerinnen, Ethnologinnen, Publizistinnen, Phi- Schwimmerin 1929 den Weltrekord aufstellte, oder Ruth losophinnen, Kunsthistorikerinnen u.s.w. zusammensetzt. Langer-Lawrence, die 1936, obwohl sie damals österreichi- Eugenie Goldstern (1884-1942), Ethnologin, in Izbica er- sche Schwimm-Meisterin über 100m und 400m Freistil war, mordet, oder Marie Jahoda (1907-2001), Soziologin, die mit die Teilnahme an den Olympischen Spielen verweigerte. Ihr Paul Lazarsfeld die bekannte Studie „Die Arbeitslosen von wurden daraufhin vom Verband der österreichischen Marienthal“ durchführte und 1997 ihre Autobiografie „Ich Schwimmvereine alle Titel und Ehrungen aberkannt. „Ver- habe die Welt nicht verändert“ veröffentlichte, sind hier ver- waltung und Büro“ umfasst Berufe wie Sekretärin, Büroan- treten, weiters Ruth Klüger, geb. 1931, Überlebende von gestellte, Buchhalterin usw. Erna Zeichner etwa kam 1939 Theresienstadt und Auschwitz, die 1992 ihre Erinnerungen in das landwirtschaftliche Vorbereitungslager „Hachscha- „Weiter leben. Eine Jugend“ veröffentlichte, und die Philolo- rach“ am Gut Markhof bei Marchegg. Sie konnte mit einem gin und Hochschulprofessorin Margarete Pazi (1920-1997). illegalen Palästinatransport über einen längeren Zwischen- Unter „Bildende Kunst“ finden wir Malerinnen, Grafikerin- aufenthalt in Jugoslawien fliehen, kam am 6. April 1941 in nen, Designerinnen, Bühnenbildnerinnen, Bildhauerinnen, Palästina an, studierte an der Hebrew University und war Illustratorinnen, Kustümdesignerinnen u.s.w.: Friedl Dicker- später in der Erwachsenenbildung tätig. Unter „Rechtswis- Brandeis, Charlotte Lichtblau, Malva Schalek oder Lisl Weil. senschaft“ findet sich etwa Helene Popper, in deren Woh- Eine große Gruppe bilden jene Frauen, die mit Musik zu tun nung am 12. Februar 1934 die letzte Sitzung des Parteivor- hatten, Opernsängerinnen, Komponistinnen, Pianistinnen standes der SDAP stattfand. Die promovierte Staatswissen- u.s.w. Zu nennen ist hier Alma Maria Rosé, Konzertsolistin, schafterin wurde wegen Hochverrat verhaftet, floh nach deren Weg in Birkenau endete, oder Gitta Alpar, die glückli- dem „Anschluss“ nach Schweden und war ab August 1944 cherweise auch im Exil in Kalifornien als Operettensängerin Vorstandsmitglied der „Österreichischen Vereinigung in große Erfolge verzeichnen konnte. Unter „Wirtschaft und Schweden“. 1946 kehrte sie nach Wien zurück, wurde Mit- Dienstleistung“ wurden Unternehmerinnen aufgenommen, glied der SPÖ und erhielt führende Funktionen im „Österrei- Sekretärinnen, Buch- und Holzhändlerinnen, Marktfahrerin- chischen Fürsorge- und Wohlfahrtsverband Volkshilfe“. nen, Mühlen- und Kinobesitzerinnen, Friseurinnen, Apothe- „Sozial- und Wirtschaftswissenschaften“ umfasst etwa So- kerinnen und Krämerinnen. Viele von ihnen mussten miter- zialwissenschafterinnen und Ökonominnen, wie Martha leben, wie ihre Betriebe „arisiert“ wurden, so zum Beispiel Stephanie Browne, die 1898 in Wien geboren, Wirtschafts- Elise Brod, die in Riga ermordet wurde oder Hermine Gold- wissenschaften studierte, 1921 mit Auszeichnung promo- farb, die mit ihren Töchtern als Marktfahrerin tätig war und vierte, sich 1922 evangelisch taufen ließ und der trotzdem in Auschwitz den Tod fand. Oder die Friseurin Franziska die Habilitation verwehrt blieb. 1939 gelang ihr die Flucht Brestian, die 1942 in Minsk ums Leben kam. Mehr Glück nach Großbritannien, ein Jahr später in die USA, dort stu- hatte Margareta Glas-Larsson, die Auschwitz überlebte und dierte sie an der Columbia University, war über zwanzig in Schweden Kosmetiksalons eröffnete. Lehrerinnen, Päda- Jahre lang als Professorin tätig und galt als Expertin für die goginnen, Schulgründerinnen, Kindergartenerzieherinnen, Wirtschaft Japans. Als Beispiel für eine Vertreterin der Sprachtherapeutinnen fallen in die Gruppe „Bildung und Er- Gruppe „Handwerks- und Industrieberufe“ soll hier Eva Gut- ziehung“. Unter ihnen die 1925 in Wien geborene Hannah freund genannt werden, die schon seit ihrer Geburt 1926 in Fischer, die ein bewegendes Leben hinter sich hat. 1938 Wien kein unproblematisches Leben vor sich hatte. Als un- emigrierte sie mit einem Kindertransport nach England, wo eheliches Kind geboren, verbrachte sie mehrere Jahre in sie später mit Anna Freud zusammenarbeitete, nach ihrer unterschiedlichen Heimen und in Pflegefamilien, wo sie in Rückkehr nach Wien war sie bis zu ihrer Pensionierung großer Armut aufwuchs. Kontakte hatte sie nur zu ihren 1990 Leiterin der Wiener Bildungsanstalt für Kindergärtne- leiblichen Großeltern, die den Holocaust nicht überlebten. rInnen. Das Leben der Pädagogin und Schulgründerin Sa- Auch sie selbst wurde von den Nazis verfolgt, sie musste ih- lome (Salka) Goldman endete 1942 in Theresienstadt. Sie re Schule verlassen und an eine Schule für jüdische Kinder hatte in Wien 1903 das Cottage-Lyzeum gegründet, das un- wechseln. Sie wurde mehrmals verhaftet und 1943 nach ter anderem von Anna Freud besucht wurde. Botanikerin- Ravensbrück deportiert, unter anderem musste sie

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Zwangsarbeit für die Firma Siemens leisten. Sie kam nach salen lässt sich in Ansätzen erkennen, wie viel Leid der ihrer Befreiung nach Österreich zurück und arbeitete zu- oder die einzelne Person unter dem Nationalsozialismus nächst in einer Strickfabrik und ab 1951 Akkord in einer erfahren musste. Kunststofffirma. Von den vier Theologinnen ist Eveline 4. Dabei ist es sicher wichtig, sich mit jenen zu befassen, Goodmann-Thau zu nennen, die 1934 in Wien geboren die in der Öffentlichkeit tätig waren, aber mindestens wurde, 1939 in die Niederlande floh, dort die Jahre 1940 bis ebenso wichtig ist es, auch jene Personen in die For- 1945 versteckt überlebte und später in Amsterdam den ers- schung einzubeziehen, die nicht in Lexika zu finden ten hebräischen Kindergarten gründete. 1950 ging sie nach sind, denn durch sie wird das Ausmaß der Judenverfol- Israel, war als Lehrerin tätig und unterrichtete später an gung und -vernichtung besonders deutlich. mehreren Universitäten. 1998 gründete und leitete sie die 5. Nicht vergessen werden sollten auch jene, die Selbst- „Hermann-Cohen-Akademie für Religion, Wissenschaft und mord begingen, um nicht in die Hände der Nazis zu fal- Kunst“. 2001/2002 war sie Rabbinerin der liberalen Ge- len. meinde Or Chadasch und Professorin für jüdische Kultur- 6. Von der zukünftigen Forschung sollten auch alle Kinder philosophie in Wien. 2003 erschien im Wiener Czernin Ver- berücksichtigt werden, die Opfer des Holocaust wurden. lag „Eine Rabbinerin in Wien, Betrachtungen“. Die kleinste 7. Nicht vergessen werden sollten auch jene Frauen, die Gruppe ist die der Technikerinnen. Eine von ihnen ist Eli unglaublichen Mut bewiesen, die im Widerstand tätig Sternberg, die 1936 bis 1939 an der TH Wien studierte. waren bzw. anderen halfen und zuletzt an sich selbst 1938 emigrierte sie nach Großbritannien, besuchte 1938/39 dachten, wie etwa Ottla Kafka, die Schwester Franz die Universität London, ging ein Jahr später in die USA und Kafkas, die mit einem „arischen“ Mann verheiratet ge- studierte 1939 bis 1941 an der Universität North Carolina. wesen war, dadurch unter Schutz stand, aber aus Sorge 1951 wurde sie Professorin für Mechanik, lehrte 1956/57 als um ihn die Scheidung einreichte und daraufhin nach Gastprofessorin an der TH Delft in den Niederlanden, war Theresienstadt und später nach Auschwitz deportiert 1957 bis 1964 erneut Professorin an der Brown University wurde, von wo sie nicht mehr zurückkehrte. in Providence und 1964 am California Institut of Technology 8. Nicht zuletzt sollten auch die Leistungen der umge- in Pasadena. Sie nahm zahlreiche Gastprofessuren an, un- kommenen Frauen nicht vergessen werden. Sie waren ter anderem in Tokio und Glasgow, veröffentlichte zahlrei- in vielen Bereichen, vor allem in emanzipatorischer Hin- che Fachbeiträge und war Mitherausgeberin von Fachzeit- sicht Vorreiterinnen. schriften. 9. Es sind noch viele weiße Flecken in der Forschungs- Das Projekt bzw. vielmehr die einzelnen kleineren Stu- landschaft zu entdecken. Vieles sollte noch viel deutli- dien haben gezeigt, dass Frauen jüdischer Herkunft in zahl- cher in das öffentliche Bewusstsein dringen. reichen Bereichen des öffentlichen Lebens gewirkt haben. Vom Antisemitismus waren schon jene Frauen betroffen, die lange Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg gelebt haben und auch jene, die danach zur Welt kamen, denn die Familien ANMERKUNGEN: dieser Frauen waren durch die Nationalsozialisten zerstört, 1 Projektnummer 10031. im schlimmsten Fall ermordet worden. Die große Anzahl der 2 Von Ernst Seibert geleitet und von der Autorin bearbeitet. Pro- Opfer macht betroffen, die einzelnen Schicksale der Men- jektnummer 11148. schen rücken bei der intensiven Beschäftigung mit den Le- 3 Projektnummer H-1421/2002. bensläufen nahe und erschüttern. biografiA versucht, den 4 Ilse Weber in: In deinen Mauern wohnt das Leid. 5 Projektnummer 12038. Frauen wenigstens ihren Namen und ihre Geschichte zu- 6 Georg Gimpl: Weil der Boden hier selbst brennt... Aus dem Pra- rückzugeben, eine Basis zu schaffen für künftige Forsche- ger Salon der Berta Fanta (1865-1918). Fürth im Wald: Vitalis rInnengenerationen, denn die Arbeit in biografiA kann nur 2004. ein Anfang sein. 7 In der Eröffnungsrede vom 15.11.1900 wies die Präsidentin vor Beschäftigt man sich näher mit den einzelnen Schicksa- allem auf die Bedeutung der neu errichteten Lesehalle für die Bil- len, lässt sich, abgesehen davon, dass bloße Namen wie- dung der Frauen hin. 8 Die Gründungsversammlung fand am 28.1.1893 im Sitzungssaal der zu Persönlichkeiten mit individuellen Schicksalen wer- des alten Rathauses in Wien statt. Präsidentin war Auguste Fi- den, Folgendes erkennen: ckert, Vizepräsidentin Rosa Mayreder. Ziele des Vereins waren unter anderem die staatsbürgerliche Gleichstellung der Frau und 1. „Die Frau jüdischer Herkunft“ gibt es nicht, es gibt nur die Zulassung zu allen Bildungsstätten und Berufen. zahlreiche unverwechselbare Frauen, die sich mehr o- 9 Der Briefnachlass von Marie Franzos befindet sich an der Öster- der weniger dem Judentum zugehörig fühlten und un- reichischen Nationalbibliothek unter der Signatur HAN Autogr. 305/1-309/28. abhängig davon Opfer wurden. 10 Helge Gullberg: Per Hallström och Marie Franzos. Studier i en 2. So viele Studien es heute auch zu Jüdinnen und Juden brevsamling. Göteborg 1968, S. 67. gibt, die Forschung über jene, die den Holocaust nicht 11 Die einzelnen Vorträge sind den jeweiligen Semesterprogrammen überlebten ist lange noch nicht abgeschlossen, es sind des IWK zu entnehmen. noch lange nicht alle Namen erfasst, und schon gar nicht alle gewaltsam abgebrochenen Lebensläufe re- konstruiert. 3. Erst durch die intensive Beschäftigung mit Einzelschick-

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LITERATUR: forschung. Hg. Ilse Korotin) Blumesberger, Susanne: Kinder- und Jugendbuchautorinnen jüdi- Blumesberger, Susanne (Hg.): Mimi Grossberg (1905-1997) Pionierin scher Herkunft und ihr Beitrag zur österreichischen Literatur. In: – Mentorin – Networkerin. Wien: Edition Praesens 2008. (5. Band Lauritsch, Andrea M.: Zions Töchter. Jüdische Frauen in Literatur, der Reihe biografiA. Neue Ergebnisse der Frauenbiografiefor- Kunst und Politik. Wien: LIT Verlag 2006, S. 121-138 (Edition schung. Hg. Ilse Korotin) Mnemosyne. Hg. von Armin A. Wallas, Primus-Heinz Kucher, An- Blumesberger, Susanne: „… Und doch hier noch nicht angekommen drea M. Lauritsch, Band 14). – wie immer und überall!“ Hertha Pauli: Schriftstellerin, literari- Blumesberger, Susanne: Kinderbücher zwischen den Kriegen. Ein li- sche Agentin und Brückenbauerin. In: Biblos. Beiträge zu Buch, terarisches Quartett der anderen Art – die Tagungen zu Helene Bibliothek und Schrift. Herausgegeben von der Österreichischen Scheu-Riesz, Alex Wedding, Hertha Pauli und Adrienne Thomas. Nationalbibliothek Wien: Phoibos Heft 55,1 (2006), S. 7-20. In: libri liberorum. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft Blumesberger, Susanne: Wien 1938 – Das Ende zahlreicher Karrie- für Kinder- und Jugendliteraturforschung Wien: Praesens Verlag ren. Am Beispiel der Übersetzerin Marie Franzos (1870-1941). Jahrgang 8 Heft 25-26/April 2007, S. 23-27 (mit Ernst Seibert). Ein Projekt der Hochschuljubiläumsstiftung der Stadt Wien. In: Blumesberger, Susanne: Mira Lobe. Stationen eines bewegten Le- Biblos. Beiträge zu Buch, Bibliothek und Schrift. Herausgegeben bens. In: Seibert, Ernst; Heidi Lexe (Hg.): Mira Lobe …in aller von der Österreichischen Nationalbibliothek Wien: Phoibos Heft Kinderwelt. Wien: Edition Praesens 2005, S. 11-17 (Kinder- und 55,2 (2006), S. 148-149. Jugendliteraturforschung in Österreich, Band 7). Blumesberger, Susanne: Auguste Lazar (1887-1970). Schreiben als Blumesberger, Susanne: Scheu-Riesz, Helene. Schriftstellerin, Verle- Widerstand. In: libri liberorum. Mitteilungen der Österreichischen gerin, Frauenrechtlerin und Übersetzerin. In: Arbeitskreis Eman- Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung Wien: zipation und Partnerschaft. Feministische Zeitschrift für Politik Praesens Verlag Jahrgang 8 Heft 27/November 2007, S. 18 f. und Gesellschaft. Was wird aus Österreichs Frauen? 30. Jahr- Blumesberger, Susanne: Bibliothekarin im Exil. Beruf oder Berufung? gang Nr. 1/2003 Wien, S. 17-19. In: Korotin, Ilse (Hg.): Österreichische Bibliothekarinnen auf der Blumesberger, Susanne: Sesam öffne dich. Die Leseräume der Hele- Flucht. Verfolgt, verdrängt, vergessen?. Wien: Praesens 2007, S. ne Scheu-Riesz. Eine Vision einer modernen Bibliothek für Kinder 49-76. (4. Band der Reihe biografiA. Neue Ergebnisse der Frau- nach dem ersten Weltkrieg. In: Biblos. Beiträge zu Buch, Biblio- enbiografieforschung. Hg. Ilse Korotin) thek und Schrift. Herausgegeben von der Österreichischen Natio- Blumesberger, Susanne: Die Frauen des jüdischen Prager Kreises. nalbibliothek Wien: Phoibos Heft 52,2 (2003), S. 21-24. In: libri liberorum. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft Blumesberger, Susanne; Ernst Seibert (Hg.): Alex Wedding (1905- für Kinder- und Jugendliteraturforschung Wien: Praesens Verlag 1966) und die proletarische Kinder- und Jugendliteratur. Wien: Jahrgang 8 Heft 27/November 2007, S. 29-32 (mit Rahel Rosa Edition Praesens, 2007. (3. Band der Reihe biografiA. Neue Er- Neubauer) gebnisse der Frauenbiografieforschung. Hg. Ilse Korotin) Blumesberger, Susanne: Die jüdischen Schriftstellerinnen Öster- Buchegger, Birgit: Stiller Brotberuf oder subversive Rebellion? Öster- reichs. Ihr Leben, ihr Schicksal und ihr Schaffen. Ein For- reichische Übersetzerinnen im 19. Jahrhundert. Eine Spurensu- schungsprojekt. In: Biblos. Beiträge zu Buch, Bibliothek und che. Dipl.-A. Graz. 2002. Schrift. Herausgegeben von der Österreichischen Nationalbiblio- Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands (Hg.): Jüdi- thek Wien: Phoibos Heft 54,1 (2005), S. 161-162. sche Schicksale. Berichte von Verfolgten (Erzählte Geschichte. Blumesberger, Susanne: Eine Bronzetafel für Alex Wedding. In: libri Berichte von Widerstandskämpfern und Verfolgten, Band 3) liberorum. Mitteilungen der Österreichischen Gesellschaft für Kin- Wien: ÖBV 1992. der- und Jugendliteraturforschung Wien: Praesens Verlag Jahr- Gimpl, Georg: Weil der Boden selbst hier brennt... Aus dem Prager gang 8 Heft 27/November 2007, S. 25 f. Salon der Berta Fanta (1865-1918). Furth im Wald: Vitalis 2000. Blumesberger, Susanne: Fanny Neuda als Botin religiöser Literatur Gullberg, Helge: Per Hallström och Marie Franzos. Studier i en brev- von Frau zu Frau. Theologische Schriften für Frauen und Mäd- samling. Göteborg 1968. chen aus weiblicher Hand. In: Biblos. Beiträge zu Buch, Bibliothek Gürtler, Christa; Sigrid Schmid-Bortenschlager: Erfolg und Verfolgung. und Schrift. Herausgegeben von der Österreichischen National- Österreichische Schriftstellerinnen 1918-1945. Wien: Residenz bibliothek Wien: Phoibos Heft 52,1 (2003), S. 7-21. 2002. Blumesberger, Susanne: Frauen schreiben gegen Hindernisse. Zu Hartenstein, Elfi: Heimat wider Willen. Emigranten in New York. Be- den Wechselwirkungen von Biografie und Schreiben im weibli- gegnungen. Berg am See: Verlagsgemeinschaft Berg 1991. chen Lebenszusammenhang. Sammelband zur Tagung am Kannonier-Finster, Waltraud; Meinrad Ziegler: Frauen-Leben im Exil. 7.11.2003 am Institut für Wissenschaft und Kunst. Wien: Edition Biographische Fallgeschichten. Böhlau 1996. Praesens 2004. Ostermann, Dagmar: Eine Lebensreise durch Konzentrationslager. Blumesberger, Susanne: Helene Scheu-Riesz (1880-1970). Eine Frau Hg. von Martin Krist. Wien: Turia und Kant 2005. zwischen den Welten. In: libri liberorum. Mitteilungen der Öster- Österreichische Nationalbibliothek: Handbuch österreichischer Auto- reichischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung rinnen und Autoren jüdischer Herkunft. 18. bis 20. Jahrhundert. Wien: Praesens Verlag Jahrgang 6 Heft 21-22/Dezember 2005, München: Saur 2002. S. 47-49. Weber, Ilse: In deinen Mauern wohnt das Leid. Gedichte aus dem KZ Blumesberger, Susanne: Helene Scheu-Riesz. (1880-1970). Eine Theresienstadt. Gerlingen: Bleicher 1991. Frau zwischen den Welten. Wien: Edition Praesens, 2005. (1. Wilcke, Gudrun: Vergessene Jugendschriftsteller der Erich-Kästner- Band der Reihe biografiA. Neue Ergebnisse der Frauenbiografie- Generation. Frankfurt am Main u.a.: Lang 1999.

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CHRISTINE KANZLER KARIN NUSKO KEINE HELDINNEN? ÖSTERREICHISCHE FRAUEN IM WIDERSTAND GEGEN DEN NATIONALSOZIALISMUS1

Im folgenden Beitrag wird das Themenmodul „Österreichi- satorischen Zusammenhangs reduzierte.5 Innerhalb einer sche Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus. solchen hierarchischen Sichtweise mussten viele weniger Eine biografische Datenbank“ des Projekts biografiA. Bio- spektakuläre Formen des Widerstands zwangsläufig minder grafische Datenbank und Lexikon österreichischer Frauen bewertet werden und wurden von vornherein aus der For- vorgestellt. schung ausgeklammert. Im Rahmen des Projektes soll eine möglichst ausführli- Heute wird der Widerstandsforschung eine differenzierte che datenmäßige Erfassung von Frauen aus allen politi- Begriffsbestimmung zugrunde gelegt, die ein breites Spekt- schen und weltanschaulichen Lagern erfolgen, die individu- rum von möglicher Opposition gegen das Regime des Nati- ellen oder organisierten Widerstand gegen die nationalsozi- onalsozialismus mit einbezieht und sich vom bewussten, alistische Diktatur geleistet haben. Das Projekt stellt sich die organisierten politischen Widerstand über soziale Wider- Aufgabe, nicht nur die Namen und Lebensgeschichten be- stands- und Sabotagehandlungen bis hin zu individuellem, kannter österreichischer Widerstandskämpferinnen wieder moralisch oder religiös motivierten, in vielen Fällen auch in Erinnerung zu rufen, sondern vor allem auch den Spuren weniger bewusstem Protestverhalten erstreckt.6 Hierzu vergessener oder bislang noch nicht dokumentierter Frauen zählt der Widerstand der politischen Gruppierungen wie et- nachzugehen und ihre Leistungen im Widerstand aufzuzei- wa der Revolutionären Sozialisten, der Kommunisten, des gen. bürgerlich-katholischen Lagers oder der Legitimisten, deren Die Dokumentation soll die mannigfaltigen Aspekte Mitglieder sowohl auf österreichischem Territorium als auch weiblicher Präsenz im österreichischen Widerstand gegen in den Exilländern (z. B. in Großbritannien, Frankreich oder den Nationalsozialismus veranschaulichen. Sie soll neben der Sowjetunion) agierten. Zahlreiche Exilantinnen und einer möglichst umfassenden inhaltlichen Auffächerung des Exilanten kämpften auch in den Alliierten Armeen. Angehö- Widerstands von Frauen eine mögliche Verortung weibli- rige ethnischer Minderheiten wie der Tschechen oder der cher Widerstandshandlungen in weiblichen Lebenszusam- Slowenen waren in eigenen Gruppierungen aktiv, im Fall menhängen sichtbar machen, aber auch die Überwindung der Letzteren in Partisanenverbänden diesseits und jenseits tradierter Rollenbilder durch die Entscheidung zum Wider- der Grenze. Aber auch Angehörige der verschiedenen Kon- stand aufweisen. In Relation zur unterschiedlichen gesell- fessionen, wie Katholiken oder die Zeugen Jehovas, leiste- schaftlichen, politischen und weltanschaulichen Herkunft ten individuell oder in kleinen Gruppen Widerstand gegen sollen gemeinsame, aber auch unterschiedliche Beweg- die nationalsozialistische Diktatur. Hilfeleistung und solidari- gründe widerständischen Handelns erkennbar werden. sches Verhalten gegenüber Verfolgten muss im Rahmen eines solchen erweiterten Widerstandsbegriffs ebenso als widerständisches Verhalten gewertet werden. Dazu gehört WIDERSTAND VON FRAUEN: etwa das Beherbergen von Widerstandskämpfern oder ras- DER UNTERSCHÄTZTE WIDERSTAND sistisch Verfolgten, ein Bereich, in dem deutlich mehr Frau- en als Männer tätig waren. Und schließlich muss jeglicher Frauen haben im Widerstand gegen die nationalsozialisti- Versuch von Opfern der nationalsozialistischen Rassenpoli- sche Diktatur in Österreich eine maßgebliche Rolle gespielt. tik, sich den Ausgrenzungs- und Vernichtungsintentionen Ein zahlenmäßiger Beleg des Anteils der Frauen am Wider- des Regimes zu entziehen, wie die Weigerung, den gelben stand gegen den Nationalsozialismus steht noch aus. Neue- Stern zu tragen oder einen diskriminierenden Zusatznamen re Schätzungen rangieren von − eindeutig zu niedrig veran- zu führen, als Akt der Selbstbehauptung und damit des Wi- schlagten − 11,6%2 bis zu 20-30%3 bei einer Gesamtzahl derstands gesehen werden. Selbst unter den extremen Be- von geschätzten 100.000 Widerstandskämpfern. dingungen in den Konzentrationslagern war es noch mög- Als Trägerinnen des österreichischen Widerstands fan- lich, organisierten Widerstand zu leisten oder solidarische den Frauen in der zeithistorischen Forschung erst relativ Zusammenhänge herzustellen. Besonders die letzten Bei- spät Berücksichtigung. Dies liegt zum einen daran, dass spiele machen deutlich, dass angesichts der thematischen sich die Widerstandsforschung in Österreich erst in den – und im Falle zahlreicher WiderstandskämpferInnen auch 60er Jahren entfaltete (mit der Gründung des Dokumentati- individualbiografischen – Verschränkung von Widerstand, onsarchivs des österreichischen Widerstandes – im Fol- Verfolgung und Exil eine deutliche begriffliche Abgrenzung genden: DÖW – und den Instituten für Zeitgeschichte), zum zwischen „WiderstandskämpferIn“ und „Opfer“ oft schwierig anderen wurde seitens einer männlich dominierten Ge- ist. Am Ende der Skala von widerständischen Handlungen schichtsforschung4 ein verengtes Verständnis des Begriffs steht individuelles Oppositionsverhalten wie etwa Bummelei „Widerstand“ angelegt, das diesen im Wesentlichen auf po- und Krankfeiern, Festhalten am Kirchgang oder Hören von litische und militärische Aktivitäten innerhalb eines organi- „Feindsendern“ bis hin zu Beziehungen zu Zwangsarbeitern

30 CHRISTINE KANZLER / KARIN NUSKO IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 und Kriegsgefangenen. Es dürfen hier aber qualitative Un- erweitert wird.19 terschiede zwischen bewusster Entscheidung zum Wider- Eines der wenigen Beispiele für die Bearbeitung weiter- stand und weniger bewusstem Protestverhalten nicht nivel- führender Problematiken ist die 2001 erschienene Studie liert werden. von Helga Amesberger und Brigitte Halbmayer20, die auf Basis von Oral-History-Interviews mit ehemaligen Insassin- nen des Konzentrationslagers Ravensbrück unter anderem DER WIDERSTAND VON FRAUEN IN DER ÖSTER- motivationsbildende Faktoren zur Entscheidung zum Wider- REICHISCHEN WIDERSTANDSFORSCHUNG stand sowie die geschlechtsspezifische Ausprägung von Widerstandshandlungen untersuchten. Eine gesonderte und Dokumentiert wurde die Rolle der österreichischen Frauen umfassende biografische Erfassung der Frauen des öster- im Widerstand in größerem Umfang erstmals in den 60er reichischen Widerstands, die systematische Analysen der Jahren durch Publikationen der Widerstandskämpferin und frauenspezifischen Aspekte widerständischen Verhaltens im Mitarbeiterin am DÖW Tilly Spiegel.7 In ihrer 1974 erschie- NS-Staat auf einer breiten Materialbasis unterstützen könn- nenen Dissertation8 präsentierte Inge Brauneis eine um- te, steht bislang noch aus und soll durch das laufende Pro- fangreiche Datensammlung über österreichische Wider- jekt in Angriff genommen werden. standskämpferinnen, aufgeschlüsselt nach politischer Zu- gehörigkeit. Mit der Anwendung neuer, aus den Sozialwis- senschaften übernommener Forschungsmethoden wie der AUFNAHMEKRITERIEN FÜR DIE BIOGRAFISCHE Oral History und unter dem Einfluss der Neuen Frauenbe- DOKUMENTATION wegung hat die Erforschung des Frauenwiderstands einen Aufschwung genommen. Insbesondere die als Ergebnis von Frauen waren in sämtlichen Bereichen des österreichischen Oral-History-Projekten vorgelegten Publikationen des Auto- Widerstands vertreten. Im Sinne des in der Widerstandsfor- rinnenteams Karin Berger, Elisabeth Holzinger, Lotte Po- schung angelegten breiten Widerstandsbegriffs finden dgornik und Lisbeth N. Trallori9 setzten Maßstäbe für eine Frauen in die Dokumentation Aufnahme, die in folgenden Neubewertung bislang unterschätzter Formen des Wider- Bereichen tätig waren: stands unter geschlechtsspezifischer Perspektive. Die Rolle weiblicher Widerstandskämpfer fand auch in den vom DÖW Widerstand der Arbeiterbewegung herausgegebenen Quelleneditionen „Widerstand und Ver- Konservativer Widerstand folgung“10, in denen anhand von umfangreichem Archivma- Widerstand überparteilicher Gruppen terial ein differenziertes Spektrum widerständischer Aktivitä- Widerstand religiöser Gruppierungen ten dokumentiert wird, entsprechende Berücksichtigung. Widerstand ethnischer Gruppen Auch in den Oral-History-Dokumentationen „Erzählte Ge- Widerstand in Betrieben schichte“11 und der Reihe „Österreicher im Exil“12 des DÖW Militärischer und bewaffneter Widerstand wird das Wirken der Frauen im Widerstand beleuchtet. Widerstand in Gefängnissen und Lagern Im Rahmen neuerer Forschungsprojekte und Veröffent- Widerstand im Exil lichungen im Themenkomplex Widerstand – Exil – Verfol- Individueller Widerstand gung, die sich aber zumeist nicht speziell mit dem weibli- chen Widerstand befassen, insbesondere im Bereich der Es sollen auch Handlungsbereiche berücksichtigt werden, Biografik, erschienen in den letzten Jahren Publikationen, die erst in letzter Zeit verstärkt ins Blickfeld der Forschung die zum Teil unbekanntes Material zu Widerstandskämpfe- gerückt sind, wie der sogenannte Rettungswiderstand rinnen aus Österreich enthalten. Zu erwähnen sind hier et- (Schutz und Hilfe für Verfolgte des NS-Regimes, die oft auf wa das von Hans Landauer zusammengestellte Lexikon ös- individueller Basis oder in kleinen „privaten“ Netzwerken ge- terreichischer Spanienkämpfer“13 und der von Willi Weinert leistet wurde) und die Versuche von Angehörigen verfolgter besorgte Führer durch den Ehrenhain für die hingerichteten Bevölkerungsgruppen, sich und andere der Verfolgung zu Widerstandskämpfer am Wiener Zentralfriedhof.14 Mehrere entziehen. Auch das Engagement von Frauen in den Alliier- Publikationen jüngeren Datums sind einzelnen Frauenper- ten Armeen und Geheimdiensten, das zum Teil noch kaum sönlichkeiten aus dem österreichischen Widerstand und ih- Berücksichtigung in der Forschung fand, soll durch die sys- rem Werk gewidmet.15 Religionsgemeinschaften wie die ka- tematische Erfassung biografischer Daten näher erschlos- tholische Kirche oder die Zeugen Jehovas haben in den sen werden. letzten Jahren Widerstand leistende Frauen aus ihren Rei- Die zahlreichen Überschneidungen, die sich zwischen hen im Rahmen einschlägiger Publikationen gewürdigt.16 den genannten Bereichen ergeben, sind an den Lebensver- Verstärkt werden auch regionalgeschichtliche Aspekte des läufen einzelner Personen zu erkennen. Widerstands von Frauen gegen den Nationalsozialismus er- Als zeitlicher Rahmen für die Widerstandstätigkeit wer- forscht.17 Nicht zuletzt wurde eine Reihe von Selbstzeug- den die Jahre 1938 – 1945 gesetzt, die historische Periode nissen inhaftierter Widerstandskämpferinnen und -kämpfer vom „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische publiziert.18 Der beschämende Umgang der Republik Öster- Deutschland im März 1938 bis zur Niederlage des national- reich mit ehemaligen Widerstandskämpferinnen wird von sozialistischen Regimes im Frühjahr 1945. Andrea Strutz anhand der steirischen Opferfürsorge doku- Erfasst werden Personen, die im Österreich der histori- mentiert, womit auch der Blickwinkel auf die Zeit nach 1945 schen Grenzen vor 1918 oder in der Ersten Republik gebo-

CHRISTINE KANZLER / KARIN NUSKO 31 IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 ren wurden, die österreichische Staatsbürgerschaft erwar- derstand die ihnen von den autoritären und diktatorischen ben oder ihren Lebensmittelpunkt in Österreich hatten. Regimes zugewiesene Rolle durchbrochen? Diese Fragen Die Widerstandstätigkeit bildet in den Biografien einen konnten von der Widerstandsforschung bis heute nicht ein- essentiellen Bestandteil, doch soll sich die Darstellung nicht deutig beantwortet werden.22 auf diesen zeitlich begrenzten Lebensabschnitt beschrän- Obzwar Frauen und Männer im Allgemeinen gemein- ken, sondern, je nach Quellenlage, den gesamten Lebens- sam im Widerstand aktiv waren, gab es auch Versuche, die zeitraum umfassen. In vielen Fällen beschränkte sich das Frauen im Rahmen von Widerstandsgruppen gesondert zu Engagement gegen soziale Ungerechtigkeit, Einschränkung organisieren. Gruppierungen und Netzwerke von Mädchen demokratischer Freiheiten oder Diskriminierung keineswegs oder Frauen entstanden aber auch spontan. Im Widerstand auf die Periode des Nationalsozialismus. selbst wurden die typischen Rollenzuweisungen an Frauen Nicht immer erlauben die vorliegenden Quellen eine zum Teil fortgeschrieben, wobei diese aber vielfach auch zweifelsfreie Einschätzung, ob eine Handlung tatsächlich bewusst ausgenutzt wurden, um sich der Überprüfung und als Widerstandshandlung zu bewerten ist. Dies betrifft vor Verfolgung zu entziehen. allem individuelle Handlungen, durch die sich eine Person in Gegensatz zum herrschenden Regime setzte und die entsprechend geahndet wurden (Beispiele sind etwa uner- FRAUEN IM WIDERSTAND – EINE UNVOLLSTÄNDIGE laubte Kontakte mit Verfolgten des NS-Regimes, die AUFZÄHLUNG manchmal aus eigennützigen, manchmal aber auch aus po- litischen oder humanitären Beweggründen gepflogen wur- Im Folgenden sollen einige der Frauen vorgestellt werden, den). Die Aufnahme in die Datenbank kann hier nur von Fall die sich in unterschiedlichsten Zusammenhängen der natio- zu Fall entschieden werden. Grundsätzlich soll die Doku- nalsozialistischen Diktatur entgegengestellt haben.“23 mentation offen sein für eventuell abweichende Lebensge- „Unspektakuläre“ Tätigkeiten wie Kurierdienste, Aus- schichten. spähen wichtiger Informationen, Schmuggeln von illegalem Ziel ist die Erstellung von Kurzbiografien, die den forma- Material, Kassieren und Verteilen von Unterstützungsgel- len und inhaltlichen Kriterien des Projekts „biografiA. Bio- dern, Gewährung von Unterschlupf, Organisierung von Me- grafische Datenbank und Lexikon österreichischer Frauen“ dikamenten und Lebensmitteln etc. bildeten jene Infrastruk- und dem dort entwickelten frauenspezifischen Kategorien- tur, ohne die ein politisch organisierter Widerstand gar nicht rahmen entsprechen.21 Zur Erfassung in der Datenbank möglich gewesen wäre. Diese Tätigkeiten wurden sehr oft werden einschlägige Publikationen, Archivbestände sowie von Frauen ausgeübt und waren zum Teil ganz bewusst in Dokumente aus Privathand herangezogen und systema- deren spezifisch weiblichen Lebens und Alltagszusammen- tisch ausgewertet. Zu jeder Personen wird, sofern möglich, hang eingebettet, um unauffällig agieren zu können. Frauen ein Dossier angelegt. Nach einer Groberfassung (Eckdaten entwarfen aber auch Texte und Parolen für Flugblätter, or- und wichtigste Lebensdaten) werden in einem zweiten Ar- ganisierten Papier, Schreibmaschinen und Abziehapparate beitsgang ausführlichere Lebensläufe erstellt. Der Ausarbei- und verteilten antifaschistische Schriften. Ab Ende 1939 tungsgrad ist vom verfügbaren Quellenmaterial abhängig, übernahmen Frauen immer mehr Tätigkeiten im Wider- sodass die Biografien von unterschiedlicher Informations- stand, da wegen des Fronteinsatzes und der zahlreichen dichte sind. Verhaftungen immer weniger Männer für die illegale Arbeit zur Verfügung standen.

GESCHLECHTSSPEZIFISCHE ASPEKTE DES WIDER- ELISABETH FÜRSCHUSS STANDS Geb. 2.11.1882 Gest. Steyr, 1958 Die erweiterte Definition des Begriffs „Widerstand“ führt zur Elisabeth Fürschuß wird 1934 Mitglied der seit 1933 verbo- Frage, ob es spezifisch weibliche Formen des Widerstands tenen kommunistischen Partei und hat bereits einige Erfah- gab und in der Konsequenz zur Neubewertung der Wider- rung mit der Arbeit in der Illegalität, als sie nach der natio- standshandlungen von Frauen innerhalb der Widerstands- nalsozialistischen Machtübernahme für die oberösterreichi- forschung. Bei der Erforschung des Widerstands von Frau- sche Widerstandsbewegung tätig wird. Sie beschafft Quar- en stellen sich folgende Fragen: tiere für Verfolgte, übermittelt Nachrichten und versorgt im Hat die gesellschaftlich bedingte Geschlechterrolle die Untergrund lebende Widerstandskämpfer mit Lebensmitteln Widerstandshandlungen von Frauen beeinflusst? Lässt sich und Medikamenten. Sie war auch maßgeblich an der Ret- die Rolle der Frauen im Widerstand auf eine untergeordne- tungsaktion des zum Tode verurteilten kommunistischen te, gleichsam „dienende“, „fürsorgliche“ und „aufopfernde“ Widerstandskämpfers Josef Bloderer beteiligt. Ende No- reduzieren? Gibt es Varianten im Ausmaß der Gleichbe- vember 1944 gelang es diesem, gemeinsam mit seinen rechtigung von Widerstandskämpferinnen mit ihren männli- Mithäftlingen Franz Draber und Karl Punzer aus dem chen Kampfgefährten je nach sozialer oder politischer Zu- Zuchthaus München-Stadlheim zu fliehen. Die Flucht Karl gehörigkeit? Gibt es überhaupt einen Unterschied zwischen Punzers war letztlich nicht erfolgreich. Er wurde erneut ge- den Handlungen von Frauen und Männern im Widerstand, fangen genommen und am 5. Dezember 1944 enthauptet. wo doch alle das gleiche Risiko der Verfolgung auf sich Josef Bloderer erreichte nach einem langen und gefähr- nahmen? Und haben Frauen nicht gerade durch ihren Wi- lichen Fußmarsch Anfang Dezember 1944 Oberösterreich

32 CHRISTINE KANZLER / KARIN NUSKO IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 und konnte durch Vermittlung von Elisabeth Fürschuß Ver- sation im Lager beschützt, indem sie Arbeitskommandos bindungen zur kommunistischen Widerstandsbewegung zugeteilt wird und so der Vernichtung in den Gaskammern aufbauen. In seinem Versteck in Leonstein-Penzell wird er entgeht. In ihren Erinnerungen betont sie die Solidarität im von Elisabeth Fürschuß mit Lebensmitteln und Geld ver- Lager. Mitte Jänner 1945 wird das Lager Auschwitz evaku- sorgt. Sie ist es auch, die die lebensgefährliche Aufgabe iert und Ester Tencer wird mit vielen anderen KZ- übernimmt, von der illegalen KPÖ-Leitung gefälschte Aus- InsassInnen auf den Todesmarsch nach Ravensbrück ge- weispapiere und sogar eine Pistole zu Josef Bloderer zu be- schickt. Von dort wird sie Mitte April 1945 vom Roten Kreuz fördern. Auf ihrem Weg von Steyr nach Leonzell wird sie nach Schweden evakuiert. von dem elfjährigen Ziehsohn Heinz begleitet, Elisabeth Ester Tencer kehrt über Belgien, Warschau und Tsche- Fürschuß selbst ist zu diesem Zeitpunkt 62 Jahre alt. Diese chien im April 1947 nach Wien zurück und engagiert sich ab doppelte Tarnung, eine ältere Frau in Begleitung eines Kin- ihrer Pensionierung im Dokumentationsarchiv des Österrei- des, scheint sie für die Gestapo unauffällig zu machen. Eli- chischen Widerstandes als ehrenamtliche Mitarbeiterin. sabeth Fürschuß wird nicht verhaftet, obwohl sie den Kon- takt mit dem gesuchten Josef Bloderer einige Wochen hin- In den seltensten Fällen drangen Frauen in ausgesproche- durch aufrechterhält. ne Männerdomänen vor, indem sie leitende Positionen im Nach einem Lebensabend in bescheidenen Verhältnis- Widerstand einnahmen oder mit der Waffe in der Hand sen, den sie gemeinsam mit ihrem Ziehsohn verbringt, stirbt kämpften. Es sei aber betont, dass zahlreiche Frauen, sie 1958 in Steyr. ebenso wie Männer, als Funktionärinnen und Verbindungs- personen, als Autorinnen von Flugschriften sowie als Teil- Ein extremes Beispiel des bewussten Einsatzes von Weib- nehmerinnen an militanten Aktionen, wie zum Beispiel lichkeit war die Soldatenarbeit österreichischer Wider- Brandlegungen und Sabotageaktionen, wirkten. standskämpferinnen in Belgien und Frankreich („Mädelar- beit“), in deren Rahmen Frauen persönliche Kontakte zu JOSEFINE BRUNNER Wehrmachtssoldaten knüpften, um im Gespräch defätisti- Geborene Ragnes, gesch. Welser sche Haltungen zu verstärken und im Idealfall auch Propa- Deckname: „Erika“ gandamaterial unter den Truppen zu verbreiten. Hausangestellte Geb. Innsbruck, 26.2.1909 ESTER TENCER Gest. München-Stadelheim, 8.9.1943 Buchhalterin Josefine Brunner wurde als uneheliches Kind geboren. Sie Geb. Ryglice (Polen), 1.4.1909 wuchs in Pflegefamilien auf. Nach dem Besuch der Pflicht- Gest. Wien, 27.7.1990 schule verdiente sie ihren Lebensunterhalt als Hausange- Ester Tencer wurde als Tochter eines Rabbiners in Galizien stellte. Im Oktober 1926 ehelichte sie den Tischlergesellen geboren. Die Familie übersiedelte 1914 nach Wien. Josef Welser. Von 1932 bis Anfang 1934 war sie Mitglied Tencer absolvierte die Handelsschule und erhielt eine der Sozialdemokratischen Partei. Nach ihrer Scheidung von Ausbildung zur Buchhalterin. Josef Welser 1935 lebte sie mit dem Eisenbahner Alois Sie kommt mit der kommunistischen Studentenbewe- Brunner zusammen, den sie im August 1938 heiratete. Alois gung in Kontakt und ist ab 1936 für die im Austrofaschismus Brunner war Leiter des Stützpunkts Wörgl, eines grenz- verbotene Rote Hilfe tätig. überschreitenden Netzwerkes linker Sozialisten, das der 1939 flieht Ester Tencer nach Antwerpen und schließt Deutsche Waldemar von Knoeringen vom Exil aus in Öster- sich dort der jüdischen kommunistischen Partei an. Nach reich und Deutschland ins Leben gerufen hatte. Ziel war der der Besetzung Belgiens durch die deutsche Wehrmacht im Austausch von Informationen über die politischen, wirt- Mai 1940 stellt sie illegales Propagandamaterial her und schaftlichen und militärischen Geschehnisse sowie die Vor- verteilt dieses gemeinsam mit anderen österreichischen bereitung auf eine Machtübernahme nach der Niederlage WiderstandskämpferInnen in den deutschen Kasernen. des Nationalsozialismus. Ab 1942 setzen in Belgien die Deportationen ein. Die Da Alois Brunner als Teilnehmer am Februaraufstand Mutter und zwei Schwestern von Ester Tencer werden Ende 1934 politisch belastet war, übernahm Josefine Brunner Februar 1943 verhaftet und gelten seither als verschollen. 1937 seine Aufgaben als Stützpunktleiter. In der Tschecho- Vermutlich sind sie in einem Vernichtungslager umgekom- slowakei wurde sie für ihre Tätigkeit politisch eingeschult men. und in modernsten Techniken der Herstellung und Übermitt- Ester Tencer leistete Widerstand gegen die Nationalso- lung geheimer Nachrichten instruiert. Im Rahmen ihrer um- zialisten, indem sie sich zur sogenannten „Mädelarbeit“ zur fangreichen Kuriertätigkeit in Österreich, Deutschland und Verfügung stellte. Ziel der Aktivistinnen der „Mädelgruppen“ der Schweiz sorgte Josefine Brunner für die Aufrechterhal- war es, Agitation gegen den Krieg zu betreiben und die Sol- tung des Kontakts zu Waldemar von Knoeringen sowie zu daten zu demoralisieren. An dieser Form der Sabotage ist einzelnen Zweigstellen der Organisation. Sie übermittelte Ester Tencer bis zu ihrer Verhaftung im Frühjahr 1943 be- Nachrichten und Lageberichte, die sie zum Teil auch selbst teiligt. Sie wird bis Jänner 1944 in einer Einzelzelle gefan- verfasste, und nahm an Funktionärsbesprechungen teil. gen gehalten und dann über das Durchgangslager Malines Diese Tätigkeit setzte sie auch nach dem „Anschluss“ Ös- nach Auschwitz deportiert. terreichs an das Deutsche Reich fort. Die Widerstandsgrup- Ester Tencer wird von der illegalen politischen Organi- pe um das Ehepaar Brunner unterhielt unter anderem enge

CHRISTINE KANZLER / KARIN NUSKO 33 IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008

Verbindungen zum Wiener Stützpunkt, der von Otto Johann sanennamen „Zala“ wird sie Mitglied des Bezirksausschus- Haas geleitet wurde. Im Jahr 1941 transportierte Josefine ses der OF für das Jauntal und später Sekretärin der Anti- Brunner Schusswaffen und Munition von Deutschland nach faschistischen Frauenbewegung für ganz Kärnten. Sie Wörgl. Sie beschaffte mit Hilfe eines deutschen Genossen nimmt auch an Gefechten teil. Wenige Tage nach ihrer Ver- außerdem eine Mischung aus Eisenfeilspänen für geplante haftung wird ihr Hof, auf dem sich gerade ein Partisan be- Sabotageaktionen an Zügen, mit denen Truppen und militä- findet, von der SS überfallen. Sämtliche Lebensmittel wer- rische Ausrüstung durch Tirol transportiert wurden. den geplündert und das Wirtschaftsgebäude samt landwirt- Im Verlauf des Jahres 1942 gelang es der Gestapo, das schaftlichen Geräten, Getreide und Futtervorräten in Brand Widerstandsnetz österreichweit aufzurollen. Alois und Jose- gesteckt. Ein Teil der Familie wird in Konzentrationslager fine Brunner wurden am 16. Mai festgenommen und wegen deportiert. Vorbereitung zum Hochverrat angeklagt. In der Verhand- 1944 begab sich Johanna Sadolschek ins befreite Ge- lung vor dem Volksgerichtshof am 28. Mai 1943 wurde das biet Dolenska nach Jugoslawien, um eine Kaderschulung Ehepaar zum Tod verurteilt und in der Haftanstalt München- zu absolvieren. Wieder zurück in Kärnten setzte sie ihre Tä- Stadelheim hingerichtet. tigkeit als Funktionärin der Frauenbewegung fort. Als Vor- sitzende des Gebietsausschusses der Antifaschistischen In der Kärntner Partisanenbewegung waren zahlreiche Frauenfront gehörte sie zugleich dem Gebietsausschuss Frauen aus der verfolgten slowenischen Minderheit aktiv, der OF für Kärnten an. Im Mai 1945 zieht sie mit ihrem Ba- großteils im Rahmen eines Unterstützungsnetzes für die taillon ins befreite Klagenfurt/Celovec ein. Freischärler. Einige wenige schlossen sich den kämpfenden Obwohl Johanna Sadolschek nach 1945 als Sekretärin Verbänden an. des Verbandes slowenischer Frauen tätig ist, bleibt ihr nun für Politik wenig Zeit, es gilt den Hof wieder aufzubauen. Als JOHANNA SADOLSCHEK kränkend empfindet sie die jahrzehntelange Missachtung Sadolšek Ivana, Partisanenname: "Zala" des Beitrags der Slowenen zur Befreiung Kärntens seitens Bäuerin des offiziellen Österreich. Johanna Sadolschek, die in Lob- Geb. Lobnig/Lobnik, Unterkärnten, 1923 nig/Lobnik lebt, ist Trägerin der goldenen Auszeichnung der Johanna Sadolschek, Kind einer ledigen Mutter, gehörte der OF. Im Gedenkjahr 2005 wurde sie zusammen mit den slowenischen Volksgruppe an. Sie wächst in großer Armut ehemaligen Widerstandskämpferinnen Apolonija-Lonki auf dem Hof der Familie auf, der von ihrer Mutter und ihrer Schellander und Ana Zablatnig mit dem Grünen Frauen- Großmutter bewirtschaftet wird. 1940 heiratet sie den würdigungspreis ausgezeichnet. Nachbarssohn Michael Sadolschek, damit der Hof in Män- nerhände gelangt. Während sich Johannas Familie nach Abseits des politisch organisierten Widerstands wirkten der Machtergreifung Hitlers anfänglich noch Hoffnungen auf Frauen oft in kleinen Netzwerken im Freundes- und Be- eine bessere Zukunft macht – so wird der Hof vor der kanntenkreis, als Helferinnen für politische AktivistInnen Zwangsexekution bewahrt –, wird sie durch die Umsiedlun- oder Angehörige verfolgter Minderheiten. Durch das coura- gen und Vertreibungen der Kärntner Slowenen, die Inhaftie- gierte Eingreifen dieser Menschen wurden zahlreiche Leben rungen und die Nachrichten über die Gräuel in den Kon- gerettet, und es scheint auch, dass dieses Handlungsfeld zentrationslagern eines Besseren belehrt. eine Domäne von Frauen war. Im Herbst 1942 tauchen erstmals Partisanen der „Os- vobodilna Fronta“ (OF) auf dem Hof auf, und Johanna Sa- FRIDA MEINHARDT dolschek verweigert ihnen ihre Hilfe nicht und wird von Ka- Geborene Friederike Müller von Mühlwerth, Baronesse von rel Prušnik-Gašper für die „Antifaschistische Frauenfront“ Mühlwerth-Gärtner der OF geworben. Als Vorsitzende der Lobniger Frauen ist Schauspielerin und Vortragskünstlerin sie zuständig für die Gründung weiterer Frauengruppen, die Geb. 1883 unter anderem in Ebriach/Obirsko, Ferlach/Borovlje und Gest. Wien, 20.3.1955 Klagenfurt/Celovec entstehen. Die Frauen organisieren für Frida Meinhardt, eine Großnichte von Marie Ebner von die Partisanen Kleidung, Nahrung und Medikamente und Eschenbach, begann ihre Laufbahn als Schauspielerin am leiten Nachrichten weiter. Daneben verteilen sie Flugzettel Deutschen Volkstheater und wirkte an verschiedenen Büh- und versuchen die zur Wehrmacht eingezogenen slowe- nen, bevor sie sich ausschließlich der Vortragskunst widme- nischstämmigen Soldaten davon zu überzeugen, zu den te. Auf ausgedehnten Tourneen, die sie auch ins Ausland Partisanen überzulaufen. Der Hof der Sadolscheks wird zu führten, trug sie aus Werken der österreichischen Gegen- einem wichtigen Stützpunkt für die Partisanen. wartsliteratur vor. Mit besonderem Engagement betätigte Im Oktober 1943 wird Johanna Sadolschek, die seit sich Frida Meinhardt als Rezitatorin in Wiener Arbeiterbil- längerem unter der Beobachtung der Gestapo stand, fest- dungsvereinen. Im Dezember 1907 lernte sie bei einem ih- genommen. Nach einem Kreuzverhör wird sie nachts ge- rer Vortragsabende den noch unbekannten Arbeiterschrift- fesselt von 70 Gendarmen und einigen Gestapobeamten steller Alfons Petzold kennen. Überzeugt von dessen Ta- durch den Wald eskortiert, um sie zu einem Partisanenbun- lent, unterstützte sie ihn fortan in großzügiger Weise und ker zu führen. Johanna Sadolschek kann in einer waghalsi- legte so den Grundstein zur erfolgreichen Laufbahn Pet- gen Flucht entkommen und schlägt sich zum Lager des Ba- zolds. Nach dessen Tod im Jahr 1923 blieb Frida Meinhardt taillons von Karel Prušnik-Gašper durch. Unter dem Parti- seiner in Kitzbühel ansässigen Witwe Hedwig und den drei

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Kindern eng verbunden. schließlich von der Gestapo verhaftet und gab bei ihrer Ein- Im Jahr 1942 klopfte Valerie Laufer, die nach den Nürn- vernahme an, dass sie die Arbeit in einer Waffen oder Muni- berger Gesetzen als Jüdin galt, an die Tür der ihr persönlich tionsfabrik mit Rücksicht auf ihren Glauben verweigern nicht bekannten Künstlerin. Sie war nach der Deportation müsse. Sie wurde vor dem Sondergericht Wien wegen Ver- ihrer Schwester Marianne im Herbst 1941 untergetaucht, gehens gegen die „Verordnung zum Schutze der Wehrkraft um diesem Schicksal zu entgehen. Frida Meinhardt zögerte des Deutschen Volkes“ angeklagt. Bei der Hauptverhand- nicht, die Unbekannte in ihrer Wohnung in der Wiener Brei- lung am 12.2.1942 zu ihrer Einstellung befragt, erklärte sie, tegasse 7 aufzunehmen. Angesichts der schwierigen Ver- dass man einen Angreifer nicht töten, sondern höchstens sorgung ihres Schützlings mit Gütern des täglichen Bedarfs kampfunfähig machen dürfe. Auf Belehrung des Gerichts vertraute sich Frida Meinhardt ihrer Freundin Hedwig Pet- über das „staatliche Notwehrrecht“ distanzierte sich Johan- zold an. Diese wiederum weihte ihre Tochter Christiane ein, na Grübling von der Lehre der Bibelforscher, erklärte sich die in Wien mit dem Textilindustriellen Stefan Esders ver- zur Arbeit in einer Munitionsfabrik bereit, soweit dies ihre heiratet war. Christiane Esders konnte aus den Beständen Gesundheit zulasse, und leistete den Deutschen Gruß. Sie des Kaufhauses Esders Kleidung abzweigen, und auch mit wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt. Lebensmitteln half sie aus. Eine weitere Verbündete war die Nach der Abbüßung des Großteils der Strafe wurde sie Hausmeisterin Jäger, die Stillschweigen bewahrte, wenn an die Gestapo zurücküberstellt, wo sie gestand, nur des- Valerie Laufer ihr Versteck verließ, was nach der Beschaf- halb ihrem Glauben abgeschworen zu haben, um nicht zu fung falscher Papiere durch Frida Meinhardt leichter mög- einer Zuchthausstrafe verurteilt zu werden. Da sie sich nach lich war. Meinhardt nahm Laufer sogar in den öffentlichen wie vor als Zeugin Jehovas bekannte, wurde Johanna Luftschutzkeller mit. So überlebte Valerie Laufer bis zur Be- Grübling ins Konzentrationslager Ravensbrück eingeliefert. freiung. Da sie wie so viele Betroffene der nationalsozialisti- schen Beraubungspolitik ihre Wohnung nicht zurückerhielt, Auch wenn die Widerstandstätigkeit oft in organisierten blieb sie bei Frida Meinhardt, mit der sie mittlerweile eine Gruppen erfolgte, musste letztlich jede einzelne Frau die tiefe Freundschaft verband, bis zu deren Tod im Jahr 1955 Entscheidung für sich alleine treffen, Widerstand zu leisten wohnen. und somit bewusst das Risiko von Sanktionen auf sich Ein weiteres Verdienst Frida Meinhardts war die Rettung nehmen. Diese reichten von Verwarnungen, Haftstrafen, In- von Manuskripten der in Sobibor ermordeten Schriftstellerin ternierung in Konzentrationslagern bis hin zur Todesstrafe. Else Feldmann, die diese ihr vor ihrer Deportation zur Auf- Auch vor der Anwendung der Folter waren Frauen nicht ge- bewahrung überlassen hatte, für die Nachwelt.24 schützt. Für zahlreiche Widerstandskämpferinnen endete ihr Engagement denn auch tatsächlich mit dem Tode. Eini- Viele Frauen verweigerten aus weltanschaulichen Gründen ge hielten der psychischen und physischen Belastung nicht dem nationalsozialistischen Regime den Gehorsam. Ihre stand und machten ihrem Leben selbst ein Ende. Doch Weltanschauung galt ihnen als höheres Gut als die Staats- selbst noch in Gefängnissen und Lagern hörten Frauen ideologie, nach der Handlungen, die bisher als der individu- nicht auf, Widerstand zu leisten. ellen Lebensführung zugehörig empfunden wurden, verbo- ten oder unter Strafe gestellt wurden. Dies betraf insbeson- HERMINE JURSA dere Angehörige von Religionsgemeinschaften. Das Fest- Geborene Nierlich, gesch. Huber halten am Glauben sprengte den privaten Rahmen dann, Deckname: „Roserl“ wenn die Religionsausübung mit einer Unterstützung bzw. Parteifunktionärin Teilhabe an zentralen Bereichen der nationalsozialistischen Geb. Wien, 29.12.1912 Politik, wie etwa der Kriegsführung, unvereinbar war. So Gest. Wien, 12.2.2000 verweigerten die BibelforscherInnen die Arbeit in der Rüs- Hermine Jursa wird in armen Verhältnissen in Wien als tungsindustrie. Tochter einer Hausgehilfin geboren. Nach dem Tod ihrer Mutter wird sie bei Pflegeeltern im Waldviertel unterge- JOHANNA GRÜBLING bracht. Geborene Krist Sie arbeitet in einer Strumpffabrik, da „Mädchen nichts Hausfrau zu lernen haben“, wie ihr von den Pflegeeltern versichert Geb. Wien, 25.9.1901 wird. 1929 übersiedelt sie nach Wien und arbeitet als Wä- Johanna Grübling war die Tochter der Bandmacher Johan- scherin und Dienstmädchen. 1934 heiratet sie den Fleisch- na und August Krist. Nach dem Besuch der Volks und Bür- hauer Ottokar Huber und ist bis zu ihrer Verhaftung 1939 gerschule brachte sie sich als landwirtschaftliche Hilfsarbei- glücklich verheiratet, während sie allerdings in Ravensbrück terin durch. Im Jahr 1925 heiratete sie den Glasbläser Jo- interniert ist, lässt sich Ottokar scheiden. Durch ihre Nach- hann Grübling. Der Ehe entstammte ein Sohn. Im Jahr 1931 barn kommt sie mit politischen Ideen in Kontakt und ist ab fand sie Anschluss an die Internationale Bibelforscherverei- 1936 im Rahmen einer kommunistischen Widerstandsgrup- nigung (IBV, heute: Zeugen Jehovas) und ließ sich nach de- pe an verschiedenen illegalen Aktionen beteiligt. Sie verteilt ren Ritus taufen. Auch nach der Machtergreifung der Natio- Flugschriften und bemalt Wände mit Parolen, die sowohl nalsozialisten, für die die IBV als wehrfeindliche Verbindung gegen das austrofaschistische Regime als auch gegen die galt, setzte sie gemeinsam mit anderen Bibelforschern das nationalsozialistische Partei gerichtet sind. Nach der natio- so genannte Bibelstudium fort. Johanna Grübling wurde nalsozialistischen Machtübernahme setzt sie ihre Wider-

CHRISTINE KANZLER / KARIN NUSKO 35 IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 standstätigkeit fort und stellt ihrer Wohnung für Schulungen Frauen in öffentlichen Funktionen nicht willkommen waren und Vorträge der KPÖ zur Verfügung. Hermine Jursa wird und Widerstandskämpferinnen sowie Verfolgte des NS- im Zuge einer von der Gestapo durchgeführten Verhaf- Regimes in der Bevölkerung vielfach auf Ressentiments tungswelle am 25. August 1939 verhaftet, im Jänner 1942 oder Ablehnung stießen.26 Seitens der mit der Opferfürsor- zu zweieinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt und in das KZ ge beschäftigten Behörden wurde die Widerstandstätigkeit Ravensbrück deportiert. Dort besorgt ihr Rosa Jochmann von Frauen oft nicht als solche anerkannt und Entschädi- Arbeit in der Effektenkammer, später wird sie der Hand- gungsansprüche abgelehnt.27 werkskolonne von Hanna Sturm, der sogenannten „Sturm- kolonne“, zugeteilt. Die Mitarbeiterinnen dieser Handwerks- kolonne werden im gesamten Lager eingesetzt und haben RESÜMEE so die Möglichkeit, anderen Insassinnen zu helfen, indem sie Nachrichten übermitteln und Lebensmittel schmuggeln, Eine biografische Dokumentation österreichischer Wider- die sie den Bedürftigsten im Lager zukommen lassen. Die standskämpferinnen im Sinne einer Bestandsaufnahme „Sturmkolonne“ übernimmt auch kleinere Reparaturen für vorhandenen und Erschließung neuen Materials, die sich an die Häftlinge. Eine Hilfeleistung, die von der Lagerleitung dem oben ausgeführten Widerstandsbegriff orientiert und streng verboten war und die Todesstrafe nach sich ziehen ein breites Spektrum des weiblichen Widerstands sichtbar konnte. Hermine Jursa ist auch in dem von der kommunisti- macht, ist Ziel des laufenden Forschungsprojektes. schen Widerstands- und Spanienkämpferin Mela Ernst An- Neben der Bereitstellung einer möglichst umfassenden, fang 1944 gegründeten illegalen Widerstandskomitee tätig, öffentlich zugänglichen Quellenbasis für weiterführende das sich zur Aufgabe gestellt hat, das Leben von Gefange- Forschungen zum weiblichen Widerstand soll die Dokumen- nen zu erleichtern und sie vor der Vernichtung zu bewah- tation dazu beitragen, den Anteil der Frauen am Kampf ge- ren. Hermine Jursa ist an der Rettungsaktion für Gerti gen Nationalsozialismus und Diktatur zu würdigen und die Schindel und Edith Rosenblüth (Wexberg) beteiligt. Die bei- Erinnerung an sie zu bewahren. den Frauen können unter falschen Namen und Häftlings- Projektbegleitend wird von März 2008 bis Juni 2009 am nummern mit einem Rot-Kreuz Transport aus dem KZ ge- Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK) eine Vortragsrei- schmuggelt werden. he veranstaltet28, die Forscherinnen und Forschern eine Nach der Befreiung von Ravensbrück im April 1945 Plattform zur Präsentation ihrer Arbeitsergebnisse vor einer kehrt Hermine Jursa gemeinsam mit Mali Fritz zu Fuß nach interessierten Öffentlichkeit bietet. Künftig soll auch ver- Wien zurück. 1946 heiratet sie den ehemaligen Spanien- sucht werden, noch lebende Zeitzeuginnen bzw. deren An- kämpfer Wilhelm Jursa. gehörige einzuladen, über ihre Erinnerungen zu sprechen. Hermine Jursa wurde zwar eine Opferrente bewilligt, um Im Rahmen unserer Arbeit ergaben sich bereits erste Kon- diese zu erhalten, musste sie aber die gesundheitlichen takte zu Personen, die entweder selbst Widerstand geleistet Folgeschäden ihrer KZ-Haft regelmäßig überprüfen lassen. oder in einem familiären Bezug zu widerständischen Frauen Sie empfindet diese Maßnahme als behördliche Schikane, stehen. Durch die Kooperation mit anderen Dokumentati- zumal sie von dem behandelten Arzt zu hören bekommt, onsstellen und Archiven wird der wissenschaftliche Aus- dass es den Soldaten an der Front schlechter gegangen tausch gefördert. wäre als den KZ-InsassInnen. Sie leidet allgemein unter Wie das gesamte Projekt biografiA. Datenbank und Le- den negativen Reaktionen ihrer Landsleute auf ihre KZ- xikon österreichischer Frauen versteht sich auch das The- Erfahrungen. menmodul „Österreichische Frauen im Widerstand gegen Hermine Jursa ist sofort nach ihrer Rückkehr für die den Nationalsozialismus“ als Schnittstelle für wissenschaft- KPÖ aktiv. Sie war in der Bezirksgruppe Erdberg als Bil- liche und persönliche Kontakte und Initiativen. dungs- und Frauenreferentin tätig und engagierte sich spä- ter in der Friedensbewegung. Ihre Tätigkeit für die Lager- gemeinschaft Ravensbrück übte sie bis ins hohe Alter aus. ANMERKUNGEN: Viele der überlebenden Widerstandskämpferinnen haben versucht, die Erinnerung an ihre ehemaligen Mitkämpferin- 1 Laufzeit: Oktober 2007 bis September 2009. Das Projekt wird nen durch mündliche oder schriftliche Darstellung wach zu vom Zukunftsfonds der Republik Österreich und dem National- halten. Von den Frauen selbst wurden in der Rückschau ih- fonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus gefördert. re Leistungen im Widerstand bagatellisiert; als symptoma- 2 Radomir Luža: Der Widerstand in Österreich. 1938-1945, Wien tisch für diese Zurückhaltung mag der Titel der Memoiren 1985, S. 330. von Toni Bruha, die in einer Widerstandsgruppe von Wiener 3 Vgl. Erika Thurner: Austrian Women in the AntiNazi Resistance Tschechen sowie im Lagerwiderstand von Ravensbrück ak- Movement in Belgian Exile. In: Women in Austria, ed. by Günter tiv war, angeführt werden: „Ich war keine Heldin“25. Viel- Bischof, Anton Pelinka, Erika Thurner, New Brunswick, New Jer- leicht wurde die Unterbewertung des weiblichen Wider- sey 1998, S. 30. 4 Vgl. Brigitte Bailer-Galanda: Zur Rolle der Frauen im Widerstand stands durch die Geschichtsschreibung von den Protago- oder Die im Dunkeln sieht man nicht. In: Dokumentationsarchiv nistinnen selbst auch insofern befördert, als viele sich nach des österreichischen Widerstandes (Hg.): Jahrbuch 1990, S. 13f. 1945 in einen lange entbehrten privaten und familiären Zu- 5 Vgl. Gerhard Botz: Methoden und Theorieprobleme der histori- sammenhang zurückzogen, zumal auch nach dem Krieg schen Widerstandsforschung. In: Helmut Konrad, Wolfgang Neu-

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gebauer (Hg.): Arbeiterbewegung – Faschismus – Nationalbe- gau Oberdonau. In: Gabriella Hauch (Hg.): Frauen im Reichsgau wußtsein, Zürich 1983, S. 137f.; Wolfgang Neugebauer: Was ist Oberdonau. Geschlechtsspezifische Bruchlinien im Nationalsozia- Widerstand? In: Dokumentationsarchiv des österreichischen Wi- lismus, Linz 2006, S. 281-344. derstandes (Hg.): Jahrbuch 1986, S. 61-71. 18 Z.B. Karin Nusko: Am Ende des Weges. Letzte Briefe von hinge- 6 Vgl. Botz 1983, S. 143-151; Wolfgang Neugebauer: Widerstand richteten österreichischen Widerstandskämpferinnen am Landes- und Opposition. In: NS-Herrschaft in Österreich. Ein Handbuch. gericht Wien (1941–1943). In: Frauen schreiben gegen Hinder- Hg. v. Emmerich Tálos [u.a.], Wien 2000, S. 187f., 205-207. nisse. Zu den Wechselwirkungen von Biografie und Schreiben im 7 Frauen im österreichischen Widerstandskampf, Wien 1963 (= weiblichen Lebenszusammenhang. Hg. v. Susanne Blumesber- Sondernummer Von Frau zu Frau); Frauen und Mädchen im ös- ger, 2004, S. 93-103. terreichischen Widerstand, Wien, Frankfurt, Zürich 1967 19 „... unser Kampf galt einem sauberen, freien und demokratischen 8 Widerstand von Frauen in Österreich gegen den Nationalsozia- Österreich ...“. Fallbeispiele steirischer Widerstandskämpferinnen lismus 1938–1945, Phil. Diss., Wien 1974 und ihre Behandlung als NS-Opfer in der Zweiten Republik, in: 9 „Der Himmel ist blau. Kann sein.“ Frauen im Widerstand. Öster- Maria Cäsar, Heimo Halbrainer (Hg.): Die im Dunkeln sieht man reich 1938 – 1945. Wien 1985 und „Ich geb dir einen Mantel, daß doch. Frauen im Widerstand – Verfolgung von Frauen in der Stei- du ihn noch in Freiheit tragen kannst.“ Widerstehen im KZ. Öster- ermark, Graz 2007, S. 153-169. reichische Frauen erzählen, Wien 1987 20 Vom Leben und Überleben – Wege nach Ravensbrück. Das 10 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Frauenkonzentrationslager in der Erinnerung, Wien 2001 (Bd. 1: Widerstand und Verfolgung in den österreichischen Bundeslän- Dokumentation und Analysen, Bd. 2: Lebensgeschichten). dern 1934-1945. Eine Dokumentationsreihe (Wien: Wien 1975, 21 Ilse Korotin, Ursula Scholda: Frauen sichtbar machen. Das Pro- 19842, : Wien 1979, 19832, Oberösterreich: Wien jekt biografiA. Biografische Datenbank und Lexikon österreichi- 1982, Tirol: Wien 1984, Niederösterreich: Wien 1987, Salzburg: scher Frauen. In: Elisabeth Lebensaft (Hg.): Desiderate der öster- Wien 1991). reichischen Frauenbiografieforschung. Symposion des Instituts 11 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): für Wissenschaft und Kunst abgehalten in der Österreichischen Erzählte Geschichte. Berichte von Widerstandskämpfern und Ver- Nationalbibliothek am 17. November 2000, (Österreichisches Bi- folgten (Bd. 1: Arbeiterbewegung, Wien, München 1985, Bd. 2: ographisches Lexikon, Schriftenreihe, 7) Österreichische Akade- Katholiken, Konservative, Legitimisten, Wien 1992, Bd. 3: Jüdi- mie der Wissenschaften, Wien 2001, S. 64. sche Schicksale, Wien 1992, 19932, Bd. 4: Die Kärntner Slowe- 22 Vgl. hierzu: Christl Wickert, Widerstand und Dissens von Frauen nen, Klagenfurt/Celovec, Wien 1990). – ein Überblick. In: Frauen gegen die Diktatur – Widerstand und 12 Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.): Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland. Hg. v. Christl Österreicher im Exil. Eine Dokumentationsreihe (Frankreich: Wickert, Berlin 1995, S. 1831; Claudia Fröhlich: Widerstand von Wien, München 1984, Spanien: Wien, München 1986, Belgien: Frauen. In: Peter Steinbach, Johannes Tuchel (Hg.): Widerstand Wien 1987, Großbritannien: Wien 1992, USA: Wien 1995, Sow- gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933-1945, Berlin 2004, jetunion: Wien 1999, Mexiko: Wien 2002). S. 249-265. 13 Hans Landauer in Zusammenarbeit mit Erich Hackl: Lexikon der 23 Die zur Erstellung der Biografien verwendeten Quellen werden österreichischen Spanienkämpfer 1936–1939, Wien 2003. hier nicht eigens angeführt; sie finden sich in der Datenbank. 14 Willi Weinert: „Mich könnt ihr löschen, aber nicht das Feuer“ – ein 24 Für den Hinweis auf Frida Meinhardt und Informationen Dank an Führer durch den Ehrenhain der Gruppe 40 am Wiener Andreas Esders, Wien. Zentralfriedhof für die hingerichteten WiderstandskämpferInnen, 25 Bruha, Antonia: Ich war keine Heldin, Wien, München, Zürich Wien 2004, 20052. 1984; Wien, München, 1995. 15 Z.B. „Gegen Rassenhass und Menschennot“. Irene Harand – Le- 26 Zur Positionierung der Frauen im Widerstand und der Rezeption ben und Werk einer ungewöhnlichen Widerstandskämpferin. Hg. des weiblichen Widerstands nach 1945 vgl. auch Bailer-Galanda von Christian Klösch [u.a.], 2004; „Ich bin immer schon eine poli- 1990, S. 16-22. Vgl. auch dies.: Die Opfer des Nationalsozialis- tische Frau gewesen“. Maria Cäsar – Widerstandskämpferin und mus und die so genannte Wiedergutmachung. In: NS-Herrschaft Zeitzeugin. Eine Würdigung aus Anlass ihres 86. Geburtstages. in Österreich. Ein Handbuch. Hg. v. Emmerich Tálos [u.a.], Wien Hg. v. Heimo Halbrainer, Graz 2006. 2000, S. 884-901. 16 „Sr. Maria Restituta Kafka Märtyrin aus dem Widerstand“. Doku- 27 Vgl. „... unser Kampf galt einem sauberen, freien und demokrati- mentation, 1998 (sowie zahlreiche weitere Publikationen zu Sr. schen Österreich ...“. Fallbeispiele steirischer Widerstandskämp- Restituta anlässlich ihrer Seligsprechung); Anita Farkas: Ge- ferinnen und ihre Behandlung als NS-Opfer in der Zweiten Re- schichte(n) ins Leben holen. Die Bibelforscherinnen des Frauen- publik, in: Maria Cäsar, Heimo Halbrainer (Hg.): Die im Dunkeln konzentrationslagers St. Lambrecht, 2004. sieht man doch. Frauen im Widerstand – Verfolgung von Frauen 17 Maria Cäsar, Heimo Halbrainer (Hg.): Die im Dunkeln sieht man in der Steiermark, Graz 2007, S. 153-169. doch. Frauen im Widerstand – Verfolgung von Frauen in der Stei- 28 Näheres zu den Vorträgen: Homepage des IWK ermark, Graz 2007; Martina Gugglberger: „Versuche, anständig (www.univie.ac.at/iwk) zu bleiben“. Widerstand und Verfolgung von Frauen im Reichs-

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KLARA LÖFFLER DAS (AUTO-)BIOGRAFISCHE INTERESSE. AUF EINE LANGE ZUKUNFT! VON DER TOPIK DER FINDUNG ZUR TOPIK DER ERFINDUNG

Lebensnah, praxisbezogen, anwendungsorientiert hat sie forschung und einer verstärkten und umfassenden Biografi- zu sein, die Forschung. An die wissenschaftliche Arbeit un- sierung unserer Alltage seit den 1970er Jahren ist diese Di- serer Zeit werden derartige Forderungen allenthalben, so agnose zu bekräftigen: das Interesse am (Auto-) reflexhaft wie unreflektiert, gestellt. Inwiefern und warum Biografischen ist nicht modisch, gleichzeitig aber ist Forschung lebensnah sein muss, sein kann oder sein soll, Kracauers Urteil zu modifizieren: dieses Interesse bedeutet dies scheint kaum der Diskussion wert. Versteht es sich von mehr als nur eine Flucht oder Ausflucht. selbst? Die Praxis von Prüfverfahren, Begutachtungen und Eva- luationen, die ja nicht nur Qualität sichern, sondern auch I. Transparenz schaffen sollen, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Prämissen und Maßstäbe dieser Operationen des BIOGRAPHY®. Das Bürgerspiel. Urteilens und Beurteilens nur in den seltensten Fällen offen Das Spielziel von BIOGRAPHY® ist es, ein möglichst erfüll- gelegt werden. Der Gedanke an Adorno und Horkheimer, tes und ausgeglichenes Leben zu gestalten. Phantasietätig- an deren Befund von der Dialektik der Aufklärung, liegt na- keit, Lebensentscheidungen und Objektwelt in eine „glückli- he. Was wissenschaftliche Arbeit in und für die Alltage be- che Balance“ zu bekommen.3 deutet, wie Individuen und Gruppen auf wissenschaftliche Materialien und Daten reagieren, wie sie mit den Ergebnis- Mit einem einfachen, aber wirksamen Kunstgriff ironisiert sen umgehen und diese in ihre Wissenshaushalte integrie- der Medienwissenschaftler Georg Seeßlen ein Grundgefühl, ren (oder nicht), dies interessiert allenfalls am Rande – wie- das uns allen – welchem Geschlecht, Milieu, Gesellschaft derum unter spezifischen Aspekten der verbesserten An- wir auch angehören – gemeinsam ist, das Grundgefühl wendbarkeit und Instrumentalisierung von Wissen. nämlich, dass wir Akteure und Konstrukteure unserer Bio- Lebens- und praxisnah aber ist wissenschaftliche Arbeit graphie sind, dass wir „unser Leben in der Hand haben“ 4. und ist das hieraus entstandene Wissen nicht dann, wenn Indem Seeßlen BIOGRAPHY® als Spiel entwirft, beschreibt es einer politischen oder ökonomischen, oft kurz geschlos- er das zeitgenössische Ideal einer gelungenen Biografie, senen Logik einer Verwertbarkeit folgt. Lebens- und praxis- um zugleich und vor allem anderen uns darauf zurückzu- nah ist sie dann, wenn sie in den Alltagen der Zeitgenossen verweisen auf das, was Leben und Alltag vor allem anderen auf Resonanzen stößt und selbst Resonanzen zu erzeugen bestimmt, auf den Zufall. Eine solche Erinnerung tut sicher- im Stande ist. Das Projekt „biografiA. biografische daten- lich Not in Zeiten einer umfassenden Biografisierung spät- bank und lexikon österreichischer frauen“ ist ein Beispiel für moderner, postindustrieller Gesellschaften. derartig lebensnahe Forschungsarbeit. In klug aufgebauten Die Entwicklung zu einer Selbst- und Weltdeutung, die Modulen und weitreichenden Kooperationen ist hier ein (au- vom Ich ausgeht, ist ganz wesentlich, wenn auch keines- to-)biografischer Fundus am Entstehen, der keineswegs nur wegs nur, mit der Geschichte der Aufklärung verknüpft, in für den Wissenschaftsbetrieb gedacht ist und von diesem der die Entdeckung des Individuums und der Subjektivität, genutzt wird. Programmatisch ist vielmehr die Öffnung die- wie auch die Idealisierung der Entwicklungsfähigkeit des ser Datenbank für alle Interessierten. Wie sich im Alltag der Einzelnen, ein zentrales Thema war. „Das beredte Nach- Arbeit an der Datenbank, etwa im konkreten Fall von Anfra- denken über sich selbst wird zum Signum der entstehenden gen erweist, erfährt dieses Modell große Resonanz. Den bürgerlichen Gesellschaft.“5 Zugleich aber wird diese Bio- Hintergründen dieser Resonanz möchte ich im folgenden grafisierung des Lebens zum sozialen Gebot, hat diese ein Stück weit nachgehen. Subjektivierung in spezifischen Formen und Institutionen zu Am wenigsten, dies sei vorweg betont, sind es modi- geschehen. sche Gründe, die die Popularität von Biografien bzw. Auto- Dass sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Worten biografien bei den Nutzerinnen und Nutzern von Datenban- von Peter Gay nach und nach auch die „sogenannten nor- ken ausmachen. Siegfried Kracauer stellte schon 1930 rich- malen Bürger [...] in großen Massen der Wallfahrt ins Innere tig: „Man hat die Neigung zur biographischen Darstellung, des Menschen“6 anschlossen, ist gleichermaßen als Akt der die sich seit einiger Zeit in Westeuropa eingenistet hat, kur- persönlichen Befreiung wie auch als Akt der gesellschaftli- zerhand als eine Mode abfertigen wollen. Sie ist es so we- chen und kulturellen Zu- und Einordnung zu verstehen. nig, wie die Kriegsromane es waren. Vielmehr sind ihre un- Man/frau verschrieb sich dieser neuen Kultur der Selbst- modischen Gründe in den weltgeschichtlichen Ereignissen wahrnehmung und ‚verschrieb‘ sich damit auch den gesell- der letzten anderthalb Jahrzehnte zu suchen.“1 Kracauer schaftlichen und kulturellen Imperativen der sich formieren- erklärt das Interesse am Biografischen aus den zeithistori- den und ausdifferenzierenden bürgerlichen Gesellschaft. schen Bedingungen nach dem Ersten Weltkrieg „als Flucht, Dass und vor allem wie die Zeitgenossen des 20. Jahrhun- ja Ausflucht“2. Nach der Etablierung der Alltagsgeschichts- derts aus unterschiedlichsten Milieus und Kontexten mit

38 KLARA LÖFFLER IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 großer Selbstverständlichkeit in den verschiedensten Kultu- II. ren ihre ganz eigene Biografie reklamieren, dies wiederum ist nicht ohne die Entwicklung der mitteleuropäischen Ge- sellschaften zu Massen- und Medienkulturen zu begreifen. (Auto-)Biografisches steht ebenso für die Handlungsfähig- Da gibt es ein nachhaltig wirksames Spannungsverhältnis keiten und Handlungsmöglichkeiten der Individuen und als zwischen offenem, individuellem Projekt und standardisier- Individuen wie für die Rahmenbedingungen und Anforde- tem gesellschaftlichen und kulturellen Programm, das jedes rungen von Gesellschaften an das Individuum. „Alles Reden Biografieren (ob im Schriftlichen oder im Mündlichen) beein- und alle Reflexion über das eigene Leben handelt nicht nur flusst. vom gelebten, sondern auch vom möglichen Leben.“13 Die Mit der Soziologin Eva Illouz lässt sich insbesondere im (Auto-)Biografie ist Ort und Medium der „Erfindung des 20. Jahrhundert von einer Entwicklung sprechen, in der „die Ich“14, der individuellen Identitätsarbeit. Die (auto-) Bildung des Kapitalismus Hand in Hand ging [und geht; KL] biografische Erzählung wie auch das Erzählen sind das kul- mit der Bildung einer stark spezialisierten emotionalen Kul- turelle Repertoire und die Kulturtechnik, mittels derer die tur.“7 „Niemals zuvor ist das private Selbst derart öffentlich Einzelnen das Erlebte und Erfahrene in ihr Leben integrie- inszeniert worden, niemals zuvor ist es so sehr auf die Dis- ren, zu integrieren versuchen. Horizont dieses zeitgenössi- kurse und Werte der ökonomischen und politischen Sphäre schen Erzählens ist der eines geschlossenen Sinngefüges zugeschnitten worden.“8 Illouz zeigt, wie sich die kulturellen Biografie, das den moralisch-ethischen, aber auch ästheti- Diskurse der Therapie und Psychologie, des Feminismus schen Standards, etwa von Reflexivität, Flexibilität oder und der Ökonomie im Verlauf dieses Jahrhunderts, insbe- Originalität, genügt. Lebensverlauf wie Narrativ aber sind in sondere in den letzten fünfzig Jahren zu einem spezifischen die „Logiken alternativer und pluraler Leben eingebunden, Amalgam verbunden haben und in der Forderung nach hin und her gerissen im Schatten der vermuteten einheitli- Selbstthematisierung zum Ausdruck kommt. Das therapeu- chen Geschichte.“15 Dies bedingt die kontinuierliche Ausei- tische Narrativ der Selbstverwirklichung und Selbsthilfe nandersetzung mit der Biografie, deren Ergebnis immer führte zu einer tiefgreifenden Transformation des Selbst, auch das Heraustreten aus dem alten Selbst sein kann.16 seiner emotionalen Stile, seiner intimen ebenso wie seiner Ausgangspunkt dieser Identitätsarbeit ist nicht bloß die öffentlichen Beziehungen. persönliche, sondern auch die Lebensgeschichte der Ande- So ist der forcierte Umbau der Arbeitswelten, wie er in ren. Dies eben macht die anhaltende Popularität biografi- den letzten beiden Jahrzehnten zu beobachten ist, nicht scher Formate und Genres in unterschiedlichsten Techno- denkbar ohne die Kulturtechniken des (Auto-) logien und Medien quer durch soziale Schichtungen aus. Biografierens, in seinen mündlichen wie schriftlichen Versi- Die selbstverständliche Aufmerksamkeit für die eigene Bio- onen und in den unterschiedlichsten Formaten. Unter dem grafie steht in enger Verschränkung mit dem gesteigerten Aspekt einer „Kulturtechnikfolgenabschätzung“9 ging ich Interesse für die Biografien von Zeitgenossen ebenso wie diesen Anwendungen des Biografischen in postindustriellen früherer Generationen. Nicht selten ist es die historische, Arbeitswelten nach: Anleitungen zur ständigen Selbstbefra- räumliche, aber auch soziale Distanz, das Andere eines gung etwa sind gängiger Bestandteil von Managementrat- fremden Lebens, das eine (Auto-)Biografie attraktiv macht. gebern, Lebensgeschichten in der Logik der Unternehmer- Die Lust am Lesen von Biografien erklärt Mario Erdheim biografie sind zentrale Versatzstücke neoliberalistischer Ar- aus dieser spezifischen Wechselbeziehung und deren Lo- gumentation.10 gik: „Weil man am Fremden oft Dinge erkennen kann, die Angesichts der fortschreitenden Subjektivierung des Ar- man im Eigenen oft übersieht, wenden wir uns zuerst dem beitslebens ließe sich von einem Verschleiß der Kulturtech- fernen Fremden zu.“17 nik des Biografisierens sprechen. Doch der Prozess der Eigene wie auch fremde Lebensgeschichten werden er- Subjektivierung ist und bleibt auch eine Form von Selbster- zählt und geschrieben, aufgezeichnet, fotografiert und ge- mächtigung, die Gestaltungsspielräume freisetzen kann. filmt, ins Netz und auf die Homepage (der Begriff ist dann Statt von „Pathologien des Selbst“11, wie von Illouz vorge- Programm) gestellt. Für die klassische Version, die Biogra- schlagen, ist mehrdeutiger von „Technologien des Selbst“, fie in Buchversion, melden die Verlage Jahr für Jahr neue mit Michel Foucault also zu argumentieren: „Technologien Rekordumsätze, während die (vermeintlichen) Meinungs- des Selbst, die es dem Einzelnen ermöglichen, aus eigener führer etwa des Magazins „Der Spiegel“ im typischerweise Kraft oder mit Hilfe anderer eine Reihe von Operationen an kritischen Modus deutscher akademischer Milieus titeln: seinem Körper oder seiner Seele, seinem Denken, seinem „Die Popularität von Lebensbeschreibungen ist ungebro- Verhalten und seiner Existenzweise vorzunehmen, mit dem chen, und seit einigen Jahren hat sich zusätzlich ein neuer Ziel, sich so zu verändern, daß er einen gewissen Zustand Markt von Jedermann-Memoiren entwickelt. Doch beide des Glücks, der Reinheit, der Weisheit, der Vollkommenheit Phänomene haben ihre Tücken.“18 Die Zahl der Internet- oder der Unsterblichkeit erlangt.“12 Foren, die Hilfen anbieten in der Verschriftlichung der eige- nen Biografie, aber auch der Erarbeitung der Familienge- schichte erweitert sich ständig und ist längst unübersehbar. Bemerkenswert häufig sind insbesondere jene Webseiten, die „Biographiearbeit“ als therapeutische Maßnahmen an- bieten.19

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Dieses therapeutisch ausgerichtete Angebot ist Konse- Ordnungen organisiert wurden und worden sind, so ist dies quenz des „neuen emotionalen Stils“20 der Gegenwart und die eine Seite der Geschichte der Archivierung von Autobi- zielt auf Männer wie auf Frauen. Unter dem Vorzeichen ografien. Auf der anderen Seite aber ist und bleibt auch ein emotionaler Intelligenz wird sorgsames und präzises Speichergedächtnis wie das Archiv, darauf verweist Ass- Selbstmanagement aller, besonders aber derer, die im Ar- mann mit Nachdruck, ein „Repertoire verpaßter Möglichkei- beitsleben stehen, eingefordert. Vor allem anderen aber ten, alternativer Optionen und ungenutzter Chancen“29, dies sind es Frauen, ob berufstätig oder nicht, die derartige Me- umso mehr, als sich deren Zahl und Varianten im letzten dienangebote, insbesondere diejenigen in Buchform, nut- Drittel des 20. Jahrhunderts in dramatischer Weise verviel- zen. Frauen sind es freilich auch, die seit den 1970er Jah- fältigt und ausdifferenziert haben. ren eine, so die Einschätzung von Ulrich Beck und Elisa- Auch wenn für jedes Archiv die Frage nach Interessen- beth Beck-Gernsheim, „nachholende Individualisierung“21 lagen und Machtstrukturen, wie sie etwa in der Auswahl von erfahren und verstärkt Identitätsarbeit leisten müssen. Denn Dokumenten manifest werden, zu stellen ist, so verschieben unter den Bedingungen gegenwärtiger Arbeitsalltage wird sich die Akzente, wenn ein Archiv als Datenbank mit Inter- es zunehmend schwierig, unterschiedliche soziale Ebenen netportal konfiguriert ist. Die entscheidend neue Qualität und Rollen zu integrieren. Kohärente und stabile Rollenmo- dieses Speichergedächtnisses ist dessen offene Architektur delle und Identitätsentwürfe – als Berufstätige, als Partne- und damit die allgemeine Verfügbarkeit im Format eines in- rin, als Mutter – funktionieren in den Alltagen der Gegen- teraktiven Mediums. Zwar bleibt eine spezifische Eigenge- wart immer weniger. Während Männer sehr viel länger und setzlichkeit der über die Datenbanken einseh- und abfrag- erfolgreicher diese Problematik postindustrieller Lebensfüh- baren Dokumente erhalten; sie werden zunächst und rung ausblenden konnten und können, mussten und müs- grundsätzlich als verlässliche und sichere Daten angesehen sen sich Frauen biografisch früher und nachhaltiger mit die- und erfüllen somit Funktionen in einem bestimmten Dis- sen Friktionen auseinandersetzen. Dies dürfte eines, unter kurssystem. Doch erlaubt das Prinzip Datenbank unter- vielen anderen Motiven sein, warum Frauen die Lebensge- schiedlichste Umgangsweisen mit dem hier präsentierten schichten anderer (Frauen) gerne lesen, warum Frauen Wissen. Denn es ermöglicht eine individuelle Auswahl und insgesamt gerne und mehr lesen als Männer. Lesen und Li- Montage vor dem Hintergrund spezifischer Interessen und teratur (in einem allgemeinen Sinne) kann da für Vieles ste- Intentionen. Datenbanken unterstützen das, was bereits in hen: „Die Literatur aber ist eine der effizientesten Formen und mit Archiven herkömmlicher Ordnung grundsätzlich der Bewirtschaftung von Zeit: Sie ist auch nachholende möglich und auch zu beobachten war, etwa bei Familienfor- Welterfahrung, Erprobung fremder Lebensverhältnisse, eine schern und Genealogen: die selbstbewusste Aneigung und Schule der Lebensklugheit und ein zweiter Bildungsweg des Verfügung, die Subjektivierung von zunächst kollektivem literarischen Intellekts.“22 und kontrolliertem Wissen. Freilich steht den Leserinnen – mehr noch als den Le- In dieser Perspektive können Datenbanken wie „biogra- sern – das Ideal der Selbstverwirklichung immer wieder im fiA“ anderes und mehr als die wissenschaftliche Arbeit in Weg; die Verquickung des therapeutischen mit dem femi- den klassischen Formaten des Buches oder des Aufsatzes nistischen Narrativ spielt hier eine nicht unwichtige Rolle. leisten. Über das Themenfeld der Biografien von Österrei- Für Jean-Claude Kaufmann führt dieses Dilemma für Sin- cherinnen stellen sie die Verbindung her zwischen unter- gle-Frauen nicht selten in eine „Flugbahn der Autonomie“23. schiedlichen Alltags- und Wissenschaftskulturen, die wiede- rum durch Abfragen und Ergänzungen zur Erweiterung und Vernetzung des biografischen Wissens beitragen. So, viel- III. leicht nur so kann Interesse entstehen.

In der „Aufmerksamkeit auf das Leben“24, wie Henri Berg- son das Phänomen (Auto-)Biografie charakterisiert, treffen ANMERKUNGEN: sich Alltags-, Medien- und Wissenschaftskulturen. Wie an keiner anderen Ausdrucksform ließen sich an den zeitge- 1 Siegfried Kracauer: Die Biographie als neubürgerliche Kunstform nössischen Formen und Konjunkturen der Selbstthematisie- [1930]. In: Ders.: Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt/M. rung und des Umgangs mit (auto-)biografischen Materialien 1977, S. 75-80, hier S. 75. und Techniken die Mechanismen des Kulturtransfers25 stu- 2 Kracauer (wie Anm. 1), ebd. dieren – auch deshalb, weil heute die Wechselbeziehung 3 Georg Seeßlen: BIOGRAPHY®. Das Bürgerspiel. In: Wespen- zwischen dem an das Subjekt gebundenen „Funktionsge- nest Nr. 117, 1999, S. 66-69. dächtnis“26 und dem Gedächtnis zweiter Ordnung, dem 4 Vgl. Peter Alheit: „Individuelle Modernisierung“ – Zur Logik bio- 27 graphischer Konstruktion in modernisierten modernen Gesell- „Speichergedächtnis“ , etwa der Geschichtswissenschaf- schaften. In: Stefan Hradil (Hg.): Differenz und Integration. Die ten, zunehmend enger wird. Nicht von ungefähr stellt Aleida Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kon- Assmann in ihrer Definition der beiden Begriffe diesen in gresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden engem Bezug zueinander vor. 1996. Frankfurt/M., New York 1997, S. 941-951, S. 943. Wenn Manfred Schneider von den „Politiken der autobi- 5 Richard van Dülmen: Die Entdeckung des Individuums. 1500- ographischen Archive“28 berichtet, davon also, wie zwischen 1800. Frankfurt/M. 1997, S. 12. 1800 und 2000 Autobiografien in spezifischen Logiken und

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6 Peter Gay: Die Macht des Herzens. Das 19. Jahrhundert und die 18 Rainer Traub: Das Dilemma der Biografen. ln: Spiegel Special Nr. Erforschung des Ich. München 1997, S. 11. 5, 2007, S. 7-10, hierS. 7. 7 Eva lllouz: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Adorno­ 19 Als typisches Beispiel die Seite "Auf meinen Spuren" von drei Vorlesungen 2004. Institut für Sozialforschung an der Johann Therapeuten bzw. Therapeutinnen angeboten: Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main. Frankfurt/M. http://www.biographiearbeit.org, Zugriff am 13.02.08 2006, S. 12. 20 lllouz (wie Anm. 7), S. 30. 8 lllouz (wie Anm. 7), S. 12. 21 Ulrich Beck, Elisabeth Beck-Gernsheim: Das ganz normale Cha· 9 Armin Nassehi: Wasser auf dem Mars, Leben auf der Erde. os der Liebe. Frankfurt/M. 1990, S. 7-19. Warum die Sozialwissenschaften nützlicher sind, als ihre Kritiker 22 Thomas Steinfeld: Damenwahl. Zwei Drittel alles Leser sind heute ahnen. ln: Die Zeit vom 06.05.04, Nr. 20, Leserinnen. ln: Süddeutsche Zeitung Nr. 223, vom http://www.zeit.de/2004/20, Zugriff am 06.05.2004. 27./28.09.2003, S. I. 10 Vgl. dazu Klara Löffler: Anwendungen des Biographischen. Son­ 23 Jean-Ciaude Kaufmann: Singlefrau und Märchenprinz. Warum dierungen in den neuen Arbeitswelten. ln. Thomas Hengartner, viele Frauen lieber allein leben. München 2006, S. 191-193. Brigitta Schmidt-Lauber (Hg.): Leben - Erzählen. Beiträge zur 24 Henri Bergson, zit. nach Peter Matussek: Aufmerksamkeit. ln: Ni­ Biographie- und Erzählforschung. Festschrift für Albrecht Leh· colas Pethes, Jens Ruchatz (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. mannzum 65. Geburtstag. Berlin 2004, S. 183-197. Ein interdisziplinäres Lexikon. Reinbek b. Harnburg 2001, S. 59f, 11 lllouz (wie Anm. 7), u.a. S. 43. hier S. 60. 12 Michel Foucault: Technologien des Selbst. ln: Ders., Rux Martin, 25 Vgl. Ralf Lindner: Kulturtransfer. Zum Verhältnis von Alltags-, Luther H. Martin, u. a.: Technologien des Selbst. Frankfurt/M. Medien- und Wissenschaftskulturen. ln: Berliner Journal für So­ 1993, S. 24-62, hier S. 26. ziologie 4 (1994), H. 2, S. 193-202. 13 Reinhard Sieder: Die Rückkehr des Subjekts in den Kulturwis­ 26 Zu den Begriffen und zur Unterscheidung zwischen Funktionsge­ senschaften. ln: Ders.: Die Rückkehr des Subjekts in den Kultur­ dächtnis und Speichergedächtnis Aleida Assmann: Erinnerungs­ wissenschaften. Wien 2004, S. 15-59, hier S. 32. räume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. 14 Vgl. Titel Jean-Ciaude Kaufmann: Die Erfindung des Ich. Eine München (3. Aufl.) 2006, S. 133-145. Theorie der Identität. Konstanz 2004. 27 Assmann (wie Anm. 26), ebd. 15 Vgl. Kaufmann (wie Anm. 14), S. 166. 28 Manfred Schneider: Politik der Lebensgeschichte um 1800 und 16 Vgl. dazu Kapitel "Heraustreten aus sich Selbst" bei Kaufmann das autobiographische Wissen im Theoriedesign des 20. Jahr· (wie Anm. 14), S. 171-175. hunderts. ln: Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 17 Mario Erdheim: Klatsch und Tratsch. ln: Kursbuch Juni 2002, 1800. München 1999, S. 267-288. S.179-189, hierS.182. 29 Assmann (wie Anm. 26), S. 137.

INGRID ROITNER HELENA ANTONIA AUS LÜTTICH EINE VIRGO BARBATA AM HOF DER ERZHERZOGIN MARIA IN GRAZ (t 1608)*

Seit Ende 2002 erfuhr der Schwerpunkt Mittelalter und Frü• 1559/60-1615)7 der Helena Antonia, im Landesarchiv in he Neuzeit durch die Mitarbeit der Autorin eine wesentliche Graz aufmerksam gemacht. Der von Custos signierte Erweiterung.1 Aus diesem Bereich soll hier eine Frau vorge­ Stich zeigt eine Person mit grobem männlichem Gesicht stellt werden, die erst 2007 in das Projekt "biografiA" Auf­ und dichtem Bartwuchs und weiblicher Statur in Ganzkör• nahme fand, Helena Antonia aus Lüttich, die zur famiJia2 der perfigur, gekleidet im Stile einer adeligen Dame oder Hof­ Erzherzogin Maria von lnnerösterreich3 (1551-1608)4 in dame ihrer Zeit.B Die rechte Hand ruht auf einer Stuhllehne. Graz gehörte, und als virgo barbata eine Berühmtheit ihrer Dem Bild ist folgende lateinische und deutsche Legende Zeit war und bis ins 19. Jahrhundert als Kuriosität bekannt beigefügt: Helena Antonia nata in Archiepiscopatu Leodien­ war. ln der Gegenwart ist sie im allgemeinen Bewusstsein si. JEt(ate) sure XVIII a Ser(enissi)ma Arciducissa Aust(rire) nicht mehr präsent, findet aber in Abhandlungen Erwäh• Maria vidua Grrecij educata. Helena Antonia geboren im nung, die aus medizinhistorischer Perspektive das Phäno• Ertzbistum Littich Ihres alter 18 jar Ertzoge zue Grätz etc.9 men des Hirsutismus beleuchtet, der übermäßigen Behaa­ Mit dem Befund, dass der Kupferstich das einzige Zeugnis rung der Frau im Gesicht und am Körper, die heute von der Existenz der Helena Antonia am Grazer Hof war, gab Fachärzten diagnostiziert und therapiert wird.5 ich mich zufrieden, denn auch Josef von Zahn merkte wei­ ln ihrer Dissertation über Erzherzogin Maria machte Jo­ ter an "Ihr Name und ihre Stellung wird, soviel bekannt, nir­ hanna Wehner auch auf Helena Antonia aufmerksam: "Am gends sonst erwähnt." Indirekt wurde dieser Befund durch Hofe Marias soll auch eine bärtige Jungfrau, Helena Anto­ Johanna Wehner, die im Rahmen ihrer Dissertation um­ nia aus Lüttich, erzogen worden sein."6 Dem bibliografi­ fangreiche Archivstudien betrieben und auch der personel­ schen Hinweis bei Fritz Popelka in seiner Geschichte der len Umgebung Marias Beachtung und Dokumentation zuteil Stadt Graz, ging sie aber nicht weiter nach. Josef von werden hatte lassen, bestätigt.1o Erst ein zufälliger Fund Zahn hatte nämlich 1882 auf einen Kupferstich von Do­ des Nachtrags zum Bild von Josef von Zahn aus dem nach­ minik Custos Dominik (auch Domenik) Custos (um folgenden Jahr (1883) in eben derselben Zeitschrift mit wei-

KLARA LÖFFLER 41 IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 teren bibliografischen Angaben zu Quellen und einem Port- III. Die Menstruation ist bis dato nicht eingetreten. rät Helenas von Friedrich Wonna ließen mich die Recher- IV. Sie erfreut sich bester Gesundheit und ist unbeschwer- chen erneut aufnehmen.11 ten Gemüts. Helena Antonia ist in gutes Beispiel dafür, wie schwierig V. Sie hat eine äußerst gutartige Natur, sie ist sehr liebens- es für das Mittelalter und die Frühe Neuzeit ist, biografische würdig und ruhig, von guter Auffassungsgabe, ist aber nicht Daten für eine Person zu erheben und deren Lebensum- sehr scharfsinnig. stände näher zu beleuchten, noch dazu, wenn es sich nicht VI. Sie ist von mittlerer Größe, stämmig und wohl proportio- um eine Person handelt, auf die das Klischee Herrscherin niert. oder Heilige zutrifft, wenngleich dies auch in solchen Fällen VII. Angaben zu ihrem Geburtsdatum macht sie keine, sie nur sehr selten möglich ist. Im Folgenden soll veranschau- könnte sie auch vergessen haben.19 licht werden, dass es sich lohnt, solche mühevollen und Voß beendet sein Schreiben mit dem Hinweis, falls Ol- zeitraubenden Arbeiten auf sich zu nehmen, und das mo noch mehr wissen wolle, könne er ihn in Mailand antref- durchaus mehr Licht ins Dunkel um die Person der Helena fen, wohin er sich begebe und (wo er) mit der durchlauch- gebracht und die Frage einer Beantwortung zugeführt wer- tigsten Königin und ihrer Mutter sei.20 Diese Angaben wei- den kann, wie eine Frau, aus heutiger Sicht mit einem kör- sen auf die Reise der Erzherzogin Margarete21 in Beglei- perlichen Makel behaftet, in den Hofdienst einer Fürstin tung ihrer Mutter nach Spanien 1598/99 anlässlich ihrer kommt. Heirat mit dem spanischen Thronfolger Philipp. Die Reise ist recht gut dokumentiert. Der Brautzug brach am 30. Sep- tember 1598 in Graz auf; erst Ende August 1599 war Erz- VON LÜTTICH NACH GRAZ herzogin Maria wieder in Graz.22 Da Philipp II. (1527-1598) am 13. September 1598 starb23 – die Nachricht vom Tod Das einzige bislang bekannte schriftliche Zeugnis über ihre des Monarchen erreichte Maria und Margarete in Villach – Herkunft und ihren Werdegang bietet ein Brief in italieni- ,24 wurde aus der Vermählung mit dem Kronprinzen eine scher Sprache des Gisbert Voß von Vossenburg († nach Hochzeit mit dem spanischen König.25 Margarete und Maria 1629), des nachmaligen kaiserlichen Rates,12 den Markus hielten sich mit ihrem Gefolge vom 30. November bis zum Anton Olmo in sein Werk „Physiologia barbae humanae“, 3. Februar 1599 in Mailand auf.26 Der Brief des Dr. Voß da- das in erster Auflage in Bologna 1602 und in zweiter 1603 tiert Di Gratz 1599,27 und das ergibt einige Ungereimtheiten. erschienen war, inseriert hatte.13 Olmo schickt sich an, in Von den Briefen, die Erzherzogin Maria während dieser seinem Werk zeitgenössische Frauen mit Bartwuchs zu Reise an ihren Sohn, den damaligen Erzherzog und späte- verzeichnen und nennt allen voran Helena Antonia, der nun, ren Kaiser Ferdinand II. (1578-1637)28 schrieb, haben sich so merkt er an, von der durchlauchtigsten Königin von Spa- 46 erhalten.29 Die Erzherzogin erwähnt des Öfteren einen nien, der Tochter der Erzherzogin Maria von Österreich in Doctor,30 doch ist nicht mit letzter Sicherheit zu sagen, ob Graz, Unterhalt gewährt wird.14 Im Anschluss daran fügt er sie damit auch jeweils Gisbert Voß meint, denn die Reise den Brief, ein Antwortschreiben von Gisbert Voß an ihn, begleitete auch ein anderer Arzt, nämlich Giovanni Battista Olmo, an.15 Wie aus den Ausführungen nach dem Inserat Clario († 1615). Er war der Sohn des Leibarztes Erzherzog des Briefes weiter hervorgeht, hatte Olmo anscheinend ei- Karls II. von Innerösterreich (1540-1590),31 Leonardo Clario nen Kupferstich von Helena Antonia 1597 in Brescia erwor- († 1599). Der in Udine um 1570 geborene Giovanni Battista ben16 und aus der Art der Abfassung des Briefes, lässt sich Clario hatte in Padua Medizin studiert und trat 1599 in Graz schließen, dass Olmo sich offenkundig an Voß gewandt hat, die Nachfolge seines Vaters als medicus aulicus ohne Ge- um Näheres über ihre Person zu erfahren und um seine halt an. Er machte eine beachtliche Karriere. 1600 wurde er fachliche Beurteilung zu diesem Fall einzuholen. zum Leibarzt Ferdinands berufen und 1609 in den Adels- Gisbert Voß wusste zu berichten, dass Helena nun 20 stand erhoben. Aus seiner umfangreichen Bibliothek befin- Jahre alt sei, ein völlig männliches Gesicht und einen kas- den sich noch heute über 60 Bücher in der Universitätsbib- tanienbraunen, fast schwarzen dichten Vollbart habe, der liothek in Graz.32 Giovanni Battista Clario hat auch einen bis zur Taille herabreiche. Dieser habe zur Verwunderung Bericht in italienischer Sprache über die Reise des Braut- ihrer Eltern zu sprießen begonnen, als sie im Alter von neun zugs von Graz über Klagenfurt, Villach, Lienz, Brixen und Jahren war. Als diese ihn rasierten, wuchs der Bart von Bozen nach Trient verfasst. Den weiteren Verlauf der Reise Neuem. Da die Eltern arm waren, vertrauten sie die Tochter zunächst nach Ferarra und dann weiter nach Spanien hät- dem Bischof von Lüttich in Flandern und dann Erzbischof ten Clarios Angaben zufolge andere bereits mit größerer von Köln, Herzog Ernst von Bayern,17 der sie seiner Sorgfalt aufgeschrieben. Sein Bericht trägt das Datum 20. Schwester, der erlauchtesten Erzherzogin Maria und Mutter März 1600. Gewidmet ist seine kleine Schrift Erzherzog der spanischen Königin Margarete, mit der Helena einige Maximilian Ernst, dem Hoch- und Deutschmeister (1583- Jahre erzogen wurde, schenkte.18 1616), Margaretes Bruder.33 In einem Brief der Erzherzogin In sieben Punkten fasst Gisbert Voß den Befund zu- Maria an ihren Sohn Ferdinand, der schon auf der Rückrei- sammen: se von Spanien in Italien geschrieben wurde, ist Gisbert I. Ihr Bart ist stark, voll und dicht, ein Schnurrbart über dem Voß explizit genannt. Viele von Marias Mitreisenden waren Mund und dichter Bartwuchs auf beiden Seiten der Wangen an Fieber erkrankt und Marias Befürchtungen, dass auch und um das Kinn herum. sie und der sie begleitende Arzt davon befallen werden II. Die Brust ist klein. könnten,34 waren Dr. Voß betreffend wahr geworden; er

42 INGRID ROITNER IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 musste in Mantua zurückbleiben. Maria beklagt sich im mehrfach aufgelegt.41 Schreiben an ihren Sohn: Klag Dir treulich, dass ich Pater Max Bartels hat das Werk Johann Georg Schencks Johannes in Bolonia am Fieber gelassen hab (ist sehr krank noch im 19. Jahrhundert in seinen Abhandlungen „Ueber gewest) und den Doctor Gisbert zu Mantua, auch im Fieber, abnorme Behaarung beim Menschen“ herangezogen, um dass ich den geistlich und leiblichen Arzt hab hinten las- auf Helena zu verweisen. Für ihn war es das älteste be- sen.35 Während ihres Aufenthaltes in Mailand im Dezember kannte Bildnis einer bärtigen Frau. Den Kupferstich hat er 1598 entließ die Erzherzogin einen Teil ihres Gefolges und im Kupferstichkabinett in Berlin eingesehen,42 wo sich auch schickte die Leute nach Graz zurück.36 Den Doctor hatte sie heute noch ein Exemplar befindet.43 bei sich gelassen.37 Da der von Olmo zitierte Brief des Dr. Auch in das Lehrbuch der Anatomie seines Vaters Voß in Graz 1599 abgefasst ist und er seinem italienischen Caspar Bartholin (1585-1629), das der berühmte dänische Kollegen Olmo mitteilt, er könne ihn in Mailand bei der spa- Arzt Thomas Bartholin (1616-1680) neu und verbessert nischen Königin und ihrer Mutter antreffen, ist es als mög- herausgegeben hat und erstmals 1641 in erster und 1672 in lich und durchaus als wahrscheinlich zu erachten, dass Dr. vierter Auflage erschienen war,44 fand Helena Eingang. Gisbert Voß erst 1599 kurz vor der Weiterreise nach Spani- Doch sind die Angaben, die er zu ihrem Lebensumfeld en in Mailand zum Hochzeitszug stieß und Dr. Clario ablös- macht, sehr vage, und es mutet sonderbar an, dass er sie te. Dr. Clario befand sich nämlich im Februar 1599 in Graz ein Mädchen von dreißig Jahren nennt.45 Woher er seine und gab dort eine Supplik ein, die auch die Kosten der Rei- Kenntnisse von ihr hat, ist unklar. Weder lassen sich eine se nach Italien betrafen.38 Giovanni Battista Clario kann Kenntnis des Kupferstiches von Dominik Custos noch das auch als möglicher Mittelsmann zwischen Olmo und Voß Werk von Olmo explizit nachweisen. gelten. Vielleicht hatte sich Olmo zunächst an Clario ge- Auch im bedeutendsten Lexikon des 18. Jahrhunderts, wandt, der zunächst die Reise der Erzherzogin und ihrer dem Universallexikon von Johann Zedler, ist Helena ver- Tochter begleitete, möglicherweise kannten sie sich aus zeichnet. Den Angaben ist zu entnehmen, dass die Kennt- Padua, wo Clario studiert hatte. Auch Olmo hatte Verbin- nisse über sie wahrscheinlich aus dem Werk des Markus dungen zu Padua. Er bezeichnet sich im Titelblatt der Aus- Anton Olmo bezogen wurden.46 gaben seines Werkes als Marcus Antonius Vlmus Patavi- Der Kupferstich dürfte weit verbreitet gewesen sein. Der nus, Philosophus, et Medicus Bonon(iensis). Kupferstich in der Porträtsammlung des Steiermärkischen Die Angabe Olmos, dass Helena nun im Dienste der Landesarchivs in Graz wurde bereits eingangs erwähnt. Al- spanischen Königin stehe, kann keinen Wahrheitsgehalt lerdings ist er nicht mehr auffindbar.47 In Wien befinden sich beanspruchen. Denn unter den Dienerinnen, die Erzherzo- jeweils ein Exemplar im Bildarchiv der Österreichischen Na- gin Maria in einem Brief aus Spanien 1599 grüßen lässt, er- tionalbibliothek48 und in der Albertina.49 Leider sind aber die scheint nicht nur eine Helena, eine parttet Hellena ist auch näheren Umstände der Entstehung des Stiches bislang in den Hofstaatslisten des Grazer Hofes 1598 und 1600- nicht geklärt. Es ist auch nicht bekannt, wer den vor allem 1607 verzeichnet.39 Vielleicht hat Markus Anton Olmo Hele- für Erzherzog Ferdinand II. von Tirol und auch seit 1607 für na Antonia mit einer anderen bärtigen Frau verwechselt, die Kaiser Rudolf II. in Prag tätigen, aus Antwerpen stammen- sich seit 1590 am Königshof in Spanien aufgehalten haben den Augsburger Stecher und Verleger50 den Auftrag gege- soll, nämlich Brigida dal Rio, bekannt als bärtige Frau von ben hat, Helena ins Bild zu setzen. Das gesamte Werk von Peñaranda. Von ihr existiert ein Ölgemälde von Juan Sán- Dominik Custos harrt in der kunstgeschichtlichen Forschung chez Cotán († 1627) aus dem Jahr 1590.40 noch der Aufarbeitung.51 Die Österreichische Nationalbibliothek verfügt darüber hinaus über einen Kupferstich von Giovanni Orlandi (um DER KUPFERSTICH DES DOMINIK KUSTOS UND 1590-1640) aus Rom mit der folgenden Bildlegende in itali- WEITERE BILDLICHE QUELLEN enischer Sprache: Helena Antonia nata in Germania nel’ Archiepiscopato Leodiense del’ Eta sua de XVIII anni Die zweitwichtigste Quelle für Helenas Leben am Grazer Giovanni Orlandi forma Roma.52 Vorlage dafür dürfte der Hof ist der bereits erwähnte Kupferstich von Dominik Stich von Custos gewesen sein; die Abbildung ist identisch, Custos († 1615). Diesem Kupferstich verdankt Helena An- nur seitenverkehrt. Auch hier wären die näheren Umstände tonia vor allem ihre Berühmtheit. Einen solchen hatte Olmo, von Zeitpunkt, Auftraggeber, Interessentenkreis und Ver- wie bereits erwähnt, 1597 in Brescia erworben und ihn ver- breitung noch zu erhellen. mutlich veranlasst, Erkundigungen über sie in Graz einzu- Neben den Kupferstichen von Dominik Custos bzw. holen. Aus der Legende geht hervor, dass sie zum Zeit- Giovanni Orlandi sind weitere Bilder von Helena Antonia punkt, da Custos den Stich fertigte, 18 Jahre alt war. Für die bekannt. Am 14. März 2006 wurde auf Burg Trausnitz in Datierung des Bildnisses ist demnach diese Angabe termi- Landshut, einer Dependence des Bayerischen Landesmu- nus ante quem. seums in München, ein Ölbild mit dem Porträt einer bärtigen Der Stadtarzt von Freiburg im Breisgau Johannes Frau der Öffentlichkeit präsentiert, das bislang im Depot des Schenk von Grafenberg (1530-1598) beruft sich auf ihn und Museums lagerte. Das Brustbild zeigt eine Person mit zitiert die Legende, wenn er Helena in seinem 1584-1597 Schnurrbart und Bartwuchs seitlich an den Wangen und am erstmals in Basel erschienenen und sieben Bände umfas- Kinn. Sie trägt ein Spitzenhäubchen und eine Halskrause. senden Werk über die Krankheiten der einzelnen Körpertei- Das Bild trägt am oberen Rand eine Inschrift: Helena, ex le, als Fall anführt. Das Werk wurde im 17. Jahrhundert familia Ser(enissi)ma Dvcissæ Bavariæ, A(nn)o 1595, ad

INGRID ROITNER 43 IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 vivum et naturaliter depicta, et delineata. Darob wurde die Natur ist es letztlich auch zu verdanken, dass sich Porträts Porträtierte für eine „Prinzessin Helena von Bayern“ gehal- von dem als Haarmenschen berühmten Pedro und seiner ten, deren Existenz allerdings nicht nachgewiesen werden zwei ältesten Kinder heute in der Ambraser Kunstsammlung konnte. Es war gelungen, die Dargestellte mit Helena Anto- befinden. Pedro Gonzalez gilt als der als der älteste doku- nia zu identifizieren. Im Verzeichnis der Münchner Kunst- mentierte Fall von Hypertrychochis universalis congenita, kammer von 1598 ist das Bild vermerkt, zusammen mit drei auch als „Ambras-Syndrom“ bekannt. Symptom dieser ge- anderen Bildern von zwei anderen Frauen, deren besonde- netisch bedingten Krankheit ist eine seit der Geburt existie- res Merkmal eine starke Behaarung im Gesicht bzw. ein rende starke Behaarung von Gesicht und Körper. Der um Bart war, nämlich als ein eine Junckfraw Galeckha von Lüt- 1537 auf der Kanarischen Insel Teneriffa geborene, hispa- tich.53 Der Maler des Bildes, als dessen Entstehungsort nisierte und getaufte Don Pedro war um 1537 unter nicht Graz vermutet wird, ist unbekannt. Das Bild war wahr- geklärten Umständen als Geschenk an König Heinrich II. scheinlich ein Geschenk der Erzherzogin Maria von Inner- von Frankreich (1519-1559) gelangt. Am französischen Kö- österreich an ihren Bruder Herzog Wilhelm V. von Bayern nigshof erhielt er eine gute Erziehung, und dort wurde auch (1548-1626; reg. 1579-1597)54 in München.55 Galeckha ist die Heirat mit der vermutlich aus Paris stammenden Cathe- als Herkunftsbezeichnung anzusehen und verweist auf ei- rine arrangiert, die nicht von dieser starken Behaarung be- nen galizischen Hintergrund Helenas bzw. ihrer Familie.56 troffen war. Der sehr kultivierte „Don Pedro“ stand bis Ende Das Bild wirft auch ein Schlaglicht auf die Mentalität der der 1580er im Dienste des Königshofes als „sommelier de Zeit. Das 16. Jahrhundert war nicht nur die Zeit, die mit ih- panneterie bouche“, dann wird die Familie an den Herzog rem Interesse an allem Außergewöhnlichen und -natür- von Parma verschenkt. Pedro Gonzales starb nach 1617, lichen zur Entstehung der großen Kunst- und Wunderkam- sein genaues Todesdatum ist nicht bekannt, in Capidomen- mern an den europäischen Fürstenhöfen beitrug, in denen te am See von Bolsena, wo auch seine Frau am 5. Juni artificalia, naturalia und mirabilia und je nach Schwerpunkt 1623 ihr Leben beschloss. In Italien hatte sein ältester Sohn auch exotica und scientificia gesammelt wurden,57 sondern Henri (Enrico) (um 1580-1656) durch Finanzgeschäfte den auch der Mensch war zum Sammelobjekt geworden.58 An sozialen Aufstieg geschafft.66 den Höfen waren geistig und körperlich deviante Menschen Herzog Wilhelm war dank seiner Beziehungen zum wie Narren und Närrinnen, Riesen, Zwerge und Zwergin- französischen Königshof um 1580 in den Besitz von Zeich- nen, aber auch Menschen anderer Hautfarbe und exoti- nungen der Köpfe von Pedro Gonzalez, seiner Frau und der scher Herkunft wie Mohren und Mohrinnen, Türken und beiden ältesten Kinder Henri (Enrico) und Madeleine (Mad- Türkinnen anzutreffen, die im Dienste von Fürst und Fürstin dalena) (um 1575-1642) gelangt, nach denen er von einem standen, zur Belustigung der Hofgesellschaft dienten, in Münchner Maler ganzfigurige Porträts herstellen ließ. Klein- theatralischen und musikalischen Aufführungen bei Festen formatige Brustbilder der Familie Gonzales waren als Ge- zum Einsatz kamen, aber auch als lebende Demonstrati- schenk nach Graz an seine Schwester Maria und ihren ons- und Prestigeobjekte fürstlicher Macht- und Prachtent- Mann Erzherzog Karl gelangt, wie aus überlieferten Brieff- faltung fungierten. Sie wurden an andere Höfe vermittelt, ragmenten einer Korrespondenz zwischen Wilhelm und sei- verschenkt und weitervererbt.59 Zahlreiche Bilder, mitunter nem Schwager und seiner Schwester aus dem Frühjahr die einzigen Hinweise zu ihrer Person, zeugen von ihrer 1583 hervorgeht. Das Erzherzogspaar hatte Gefallen und Existenz.60 Interesse an diesen Bildern gefunden. Sie wollten mehr In- Als Bildnisse von „Wundermenschen“ fanden solche formationen über die Familie und erbaten Porträts in ganzer Porträts von wirklich lebenden Narren, Riesen, Zwergen, Figur, die Wilhelm versprach, herstellen zu lassen und zu Menschen mit übermäßiger Behaarung und anderen be- schicken.67 In Graz haben sich allerdings keine Bilder erhal- sonderen Merkmalen Aufnahme in die Kunstkammern, wo ten, weder die kleinformatigen Tafeln noch die versproche- sie mit Herrscherporträts, Porträts von Angehörigen der nen ganzfigurigen Porträts. Die vier großen Münchener Familie, Mitgliedern anderer Fürstenhäuser, herausragen- Bildnisse der Familie Gonzales dürfte der bayerische Her- den Persönlichkeiten wie bildende Künstler, Dichter und zog später seinem an Kuriositäten ebenso interessierten Denker, berühmten Feldherren und Entdeckern eine friedli- Neffen Erzherzog Ferdinand II. von Tirol (1529-1595)68 che Koexistenz bildeten.61 vermacht haben. Er hatte sich um 1580 auf Schloss Ambras Am Hof Herzog Wilhelms V. von Bayern in Landshut auf bei Innsbruck seine berühmte Kunst- und Wunderkammer Burg Trausnitz tummelten sich zahlreiche solcher außerge- eingerichtet. Pedro Gonzales und seine Kinder werden in wöhnlichen Menschen. Neben Narren und Zwergen, schar- ganzer Figur gezeigt, während die Mutter der beiden nur zu te er auch Mohren und Türken um sich.62 Seine Schwester drei Viertel mit leicht nach links gedrehtem Oberkörper ab- Maria in Graz dürfte ganz im Stile der Zeit diese Vorlieben gebildet ist.69 Nach der Vorlage diese Bilder aus dem Besitz und Interesse mit ihm geteilt haben. Auch in ihrem Hofstaat Wilhelms hat Ferdinand dann auch noch kleinformatige befinden sich eine Zwergin namens Sophia und eine Türkin Brustbilder der Familie herstellen lassen.70 namens Maria.63 Sie selbst bemüht sich für ihre Schwägerin Der Briefwechsel zwischen Herzog Wilhelm von Bayern in München, Wilhelms Frau Renata, eine Närrin ausfindig und dem innerösterreichischen Erzherzogspaar bezeugt zu machen und schickt ihr Christina, eine alte Närrin, die sie das große Interesse, das Maria und ihr Mann an Menschen prüft und dann für gut befindet.64 Als ihre eigene Närrin Mail mit abnormer Behaarung hatten. Von diesem Interesse stirbt, ist sie sehr betroffen.65 dürfte auch Wilhelms und Marias Bruder Ernst, der Lütticher Herzog Wilhelms Interesse für menschliche Wunder der Erzbischof, Kenntnis gehabt haben und Helena an Maria

44 INGRID ROITNER IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 weitergereicht haben, die wohl zu diesem Zeitpunkt schon der Kult der Heiligen Wilgefortis, auch Ontcommer (die von Witwe war; Erzherzog Karl war am 10. Juli 1590 gestor- Kummer Befreiende), Kümmernis etc. ausgehend von den ben.71 Das heute in München bzw. in Landshut auf Burg heutigen Niederlanden und Belgien verbreitet. Der Kern der Tausnitz aufbewahrte mit 1595 datierte Bild bezeugt durch Legende besagt, dass die Tochter des heidnischen Königs seine Legende auch Helenas Anwesenheit am Grazer Hof. von Portugal, heimlich Christin geworden war. Als sie die Maria wird es wohl eine Freude gewesen sein, die Samm- von ihrem Vater gewünschte Ehe mit dem König von Sizili- lung bärtiger Frauen ihres Bruders Wilhelm auch mit einem en eingehen soll, gibt sie sich als Braut Christi zu erkennen. Bild der Helena zu bereichern. Um ihren Willen zu brechen, lässt der Vater sie einkerkern. Auf ein weiteres Aquarellbild der Helena macht Christian Im Gefängnis bittet sie Gott inständig, er möge ihre Jung- August Vulpius in der Abhandlung über bärtige Weiber auf- fräulichkeit bewahren und sie so verändern, dass kein Mann merksam. Er weiß zu berichten, dass sich in der Herzogli- sie mehr begehre. Gott erhört ihre Bitte, und ihr wächst ein chen Bibliothek in Weimar ein Bild befand, das der Weima- langer Bart. Der entsetzte und erzürnte Vater lässt sie hie- rer Kanzleivorsteher Friedrich Wonna (1667-1688) kopiert rauf kreuzigen, damit sie so ihrem Bräutigam ähnlich wer- hatte, wie aus der Beischrift zu entnehmen war: Copiam de.80 hanc fecit Fridericus Wonna Saxo Vinariens(is) Cancellista; Vielleicht hatten auch die Eltern Helenas im Sinne, ihre d. 17. Jun(ii) 1699; oben stand zu lesen: Jungfer Helena Tochter möge ein geistliches Leben führen, als sie diese Antonia, gebohren im Stift Lüttich. Es zeigt eine Person mit dem Lütticher Erzbischof übergaben. Der weltlichen Freu- langem dunklem Bart, der bis zu Brust reicht und einem den sehr zugetane Ernst von Bayern aber hat sie seiner weiblichen Körper, der bis zur Hüfte abgebildet ist. Das Schwester geschenkt, wo sie unter Obhut der streng gläu- Kleid entspricht auch hier wieder der Bekleidung adeliger bigen Maria81 auch ihre Jungfräulichkeit bewahren konnte, Damen. Laut Vulpius war das Kleid, das sie trug, grün. In jedoch zum Mitglied der Hofgesellschaft geworden war. der Linken hält sie als Ausweis besonderer Eleganz Hand- Es ist anzunehmen, dass durch weitere Forschungen in schuhe,72 die Rechte stützt sie auf einen Tisch. Von diesem den diversen Archiven und Bibliotheken sich Helenas Le- Bildnis bringt er einen Stahlstich seiner Abhandlung mit der ben, vor allem ihr Nachleben, noch besser konturieren lie- Bildunterschrift: Helena Antonia, gebohren im Stift Lüttich. ße. Nach einem Original Gemälde auf der Herzogl(ichen) Biblio- thek zu Weimar.73 Die weiteren Informationen über Helena hat er Olmo entnommen.74 Über die Vorlage von Wonnas ANMERKUNGEN: Bildnis bringt er keine Informationen. Diese Kopie Wonnas scheint auch weit verbreitet gewe- * Ich danke Frau Dr. Vera Hammer, Naturhistorisches Museum, sen zu sein. 1733 ist ein solches Bild von Helena in der Wien, Frau Mag. Margot Rauch, Kunsthistorisches Museum, 75 Schloß Ambras, Innsbruck, für freundliche Auskünfte. Mein be- Magdalenenbibliothek in Breslau bezeugt. Im Nachtrag zu sonderer Dank gilt Frau Dr. Gertrude Jackson, Wien, für die steti- seiner Abhandlung macht Vulpius auf ähnliche Bilder (Ko- ge Diskussion des gesamten Fragenkomplexes, für die Hilfe mit pien) aufmerksam, die sich damals in der Elisabeth Biblio- dem Italienischen und für eine kritische Lektüre des Textes. thek in Breslau und „in anderen Häusern“ befunden haben 1 Vgl. zum Schwerpunkt auch Ingrid Roitner, Das Projekt biografiA: sollen.76 In den Beständen der genannten Bibliotheken Biografische Datenbank und Lexikon österreichischer Frauen und könnten sich noch Spuren finden, die auf das Original der der Schwerpunkt Frauen des Mittelalters und der früheren Neu- zeit, in: Montfort 56 (2004) S. 243-252. Kopie(n) bzw. auf die näheren Umstände von deren Entste- 2 Vgl. zum Begriff familia Martin Kintzinger, Art.: Familie [weitere], hung und Verbreitung hinweisen könnten. Ein Exemplar des in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder Bildnisses von Friedrich Wonna befindet sich auch im Bild- und Begriffe, zwei Teilbde, hrsg. von Werner Paravicini, bearbei- archiv der Österreichischen Nationalbibliothek. Es dürfte ei- tet von Jan Hirschbiegel und Jörg Weitlaufer (Residenzenfor- ner Ausgabe von Vulpius’ Buch der Curiositäten entnom- schung 15, 1 und 2), Ostfildern 2005, Bd. 1, Sp. 57: „Eine men worden sein; es ist auf blauem Passepartout aufgezo- f(ür)s(t)l(iche) Familie war Teil der höf(ischen) Öffentlichkeit. In einem solchen Verständnis begriffl(ich) erst seit der Frühen Neu- gen. Oben in der linken Ecke trägt es den Vermerk zeit belegt, bedeutete familia in der m(ittel)a(lterlichen) Gesell- K(aiserliche) Akademie.77 schaft zugl(eich) die Gemeinschaft aller im Haus Lebenden, wie- Die Bildlegende von Friedrich Wonnas Porträt und des- derum des Hausvorstandes und seiner leibl(ichen) Verwandten, sen Kopien lässt keinen Zusammenhang mehr mit Helena dann aber auch der Diener und Vertrauten. Dieses Verständnis Antonia und ihrem Aufenthalt am Grazer Hof der Erzherzo- von Familie bezeichnet die unmittelbare Umgebung des gin Maria erkennen; nur ihre Herkunft aus Lüttich blieb noch F(ür)s(t)en (entourage), deren Zugänglichkeit und Zugehörigkeit – außerhalb verwandtschaftlicher Bindung, aber auch mit dieser bestehen. Mit dem Bild in der Magdalenenbibliothek in überschneidend – durch ein persönliches Vertrauensverhältnis Breslau war dann auch die Sage verbunden, dass Helena zum Fürsten und durch Funktionen am Hof bestimmt war.“ (Er- aus Kummer ein Bart gewachsen sei, weil sie kein Mann gänzungen I. R.). heiraten wollte.78 Es handelt sich hier um eine Umkehrung 3 Innerösterreich umfasst Steiermark, Kärnten, Krain, Görz, Inneris- des Motivs der bärtigen Jungfrau. Geschichten vom wun- trien, Fiume, Triest und die habsburgischen Besitzungen in Fraul. derbaren Bartwuchs, der die Betroffene so hässlich machte 4 Zur Person siehe Friedrich von Hurter, Bild einer christlichen Fürstin. Maria Erherzogin von Österreich, Herzogin von Bayern, und sie davor bewahrte, eine unerwünschte Heirat einzuge- Schaffhausen 1960; zu Maria ist auch heranzuziehen Ders., Ge- hen und es ihr so gestattete, ein Gott geweihtes Leben zu schichte Kaiser Ferdinands II. (wie Anm. 28); Johanna Wehner, führen, gehen bis ins 6. Jahrhundert zurück.79 Seit dem 14. Maria von Bayern, Erzherzogin von Österreich. Ihr Leben bis zum und 15. Jahrhundert hatte sich im deutschsprachigen Raum Tod ihres Gemahls (1590), ungedruckte Diss. phil., Graz 1965;

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Georg Heilingsetzer, Art.: Maria, Gemahlin von Karl II. von Inner 16 Marci Antonii Vlmi Patauini Physiologia Barbæ humanæ (wie österreich, in: Die Habsburger. Ein biographisches Lexikon, hrsg. Anm. 13) S. 307C: Huius virginis Effigiem Typis æreis excussam, von Brigitte Hamann, Wien 1988, S. 288f.; Hanna Schäffer, Maria & vendibilem vidimus, emimusq; Brixiæ anno 1597. von Bayern und die Musik. Musik-Mäzenatentum am bayrischen 17 Zu Ernst von Bayern (1554-1612), Kurfürst-Erzbischof von Köln und am innerösterreichischen Hof, in: Zeitschrift des Historischen (reg. 1583-1612), Bischof von Freising, Hildesheim und Lüttich, Vereins für Steiermark 83 (1992), S. 205-272; Erzherzogin Maria Bischof von Münster (reg. 1585-1612) siehe Harm Klueting, Ge- ist eine bislang in der Forschung in ihrer Bedeutung völlig unter- schichte Westfalens. Das Land zwischen Rhein und Weser vom schätzte Person und ihre Biographie ein dringendes Forschungs- 8. bis 20. Jahrhundert, Paderborn 1998, S. 121, 132-134, 143; desiderat. Max Braubach, Art.: Ernst, Herzog von Bayern, Erzbischof und 5 Vgl. Albrecht Scholz, Die bärtige Dresdnerin und andere Bilder Kurfürst von Köln, in: Neue Deutsche Biographie, 4, Berlin 1959, des Hirsutismus, in: Aktuelle Dermatologie 31 (2005) S. 171-174, S. 614f. . hier S. 173 jedoch ohne Angabe der Quelle. 18 Marci Antonii Vlmi Patauini Physiologia Barbæ humanæ (wie 6 Wehner (wie Anm. 4) S. 103. Anm. 13) S. 307A. 7 Zur Person siehe Claudia Däubler-Hauschke / Friederike 19 Marci Antonii Vlmi Patauini Physiologia Barbæ humanæ (wie Thomas, Art.: Custos (Balten, Custodis, de Coster, de Wachler?), Anm. 13) S. 307B-C. in: Saur allgemeines Künstlerlexikon. Die bildenden Künstler aller 20 Marci Antonii Vlmi Patauini Physiologia Barbæ humanæ (wie Zeiten und Völker, begründet und mithrsg. von Günter Meissner, Anm. 13) S. 307C. Bd. 23, München [u. a.] 1999, S. 209f. Im Werkverzeichnis bei F 21 Zur Person siehe Felix Becker, Art.: Margarete von Österreich, W. H. Hollstein, German Engravings, Etchings and Woodcuts c. Königin von Spanien und Portugal, in: Die Habsburger (wie Anm. 1400-1700, Bd. 6: Cranach – Drusse, hrsg. von K. G. Boon / R. 4) S. 278f.; María Jesús Pérez Martín, Margarita de Austria, reina W. Scheller, Amsterdam (o. J.), S. 179-183 ist der Kupferstich der de España, Madrid 1961; Magdalena S. Sánchez, The Empress, Helena Antonia nicht angeführt. the Queen, and the Nun. Women and Power at the Court of 8 Vgl. Annemarie Bönsch, Adelige Bekleidungsformen zwischen Philipp III of Spain (The John Hopkins University Studies 116th 1500 und 1700, in: Adel im Wandel. Politik, Kultur, Konfession Series), Baltimore/London 1998; zur Heirat Margaretes mit Philipp 1500-1700. Katalog der Ausstellung, Rosenburg 12. Mai – 28. III. von Spanien siehe auch Sabine Weiss, Haus Österreich – Oktober 1990, hrsg. von der Kulturabteilung des Amtes der Nie- Casa de Austria. Habsburgische Familienbeziehungen als Brü- derösterreichischen Landesregierung: Schriftleitung Herbert Knitt- ckenschlag zwischen Österreich und Spanien, in: Die Europapoli- ler u. a. (Katalog des Niederösterreichischen Landesmuseums, tik Innerösterreichs um 1598 und die EU-Politik Österreichs 1998. Neue Folge Nr. 251, Wien 1990, S. 169-187. Referate des internationalen Symposions „400 Jahre Europapoli- 9 Joseph von Zahn, Eine Miss Pastrana am erzherzog. Hofe in tik Innerösterreichs um 1598 und Österreich zur Zeit seiner EU- Graz, in: Steiermärkischen Geschichtsblätter 2 (Heft 4) 1882, S. Präsidentschaft 1998“ vom 29./30. Oktober 1998 in Graz, hrsg. 258f., Abb. S. 259; Fritz Popelka, Geschichte der Stadt Graz, Bd. von Othmar Pickl (Forschungen zur geschichtlichen Landeskunde 2, Graz 1935; zweite Auflage, Bd. 2: mit den Häuser- und Gas- der Steiermark 43), Graz 2003, S. 57-107, hier S. 80ff. senbuch der Vorstädte am rechten Murufer von Hans Pirchegger, 22 Vgl. Johann Rainer, „Du glückliches Österreich heirate“. Die Graz 1955, unveränderter Nachdruck Graz/Wien 1960, S. 422; Hochzeit der innerösterreichischen Prinzessin Margarete mit Kö- Abb. Tafel 26, Abb. 60. nig Philipp III. von Spanien 1598/99 (Veröffentlichungen der His- 10 Wehner (wie Anm. 4) S. 102 erwähnt Helena unter Berufung auf torischen Landeskommision für Steiermark. Arbeiten zur Quellen- Fritz Popelka (wie vorige Anm.). kunde 38), Graz 1998 (Kurzfassung der Darstellung und Itinerar 11 Joseph von Zahn, Nachtrag zum Bild „Eine Miss Pastrana am auch, in: Die Europapolitik [wie Anm. 21] S. 19-21); Elisabeth de erzherzog. Hofe in Graz“, in: Steiermärkischen Geschichtsblätter Felip-Jaud, Der fürstliche Brautzug durch Tirol (1598). Eine Rei- 4 1883, S. 185 mit Abb. S. 186. Mit „Miss Pastrana“ im Titel wird sebeschreibung, verfaßt von Giovanni Battista Clario, in: Tiroler auf Julia Pastrana aus Mexiko (1834-1860), die an Hypertrichosis Heimat 61 (1997) S. 113-145. erkrankte, nicht einmal 1,40 m große sogenannte Affenfrau ange- 23 Zur Person siehe Horst Pietschmann, Art.: Philipp II., spanisch spielt, die in den 1850er Jahren auf einer Europatournee zur Felipe II, der „Kluge“, König von Spanien, von Portugal Filipe I, in: Schau gestellt wurde,; vgl. Christopher Hals Gylseth / Lars O. To- Die Habsburger (wie Anm. 4) S. 385-390. verud, Julia Pastrana: The Tragic Story of the Victorian Ape Wo- 24 Vgl. Rainer (wie Anm. 22) S. 12. men, Haynes/Sutton 2003 (nicht eingesehen). 25 Zur Person siehe Felix Becker, Art.: Philipp III., „der Fromme“ von 12 Zur Person siehe Constant von Wurzbach, Biographisches Lexi- Spanien, in: Die Habsburger (wie Anm. 4) S. 390-393. kon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 51 (1885), Nachdruck Bad 26 Vgl. Rainer (wie Anm. 22) S. 18-20. Feilnbach 2001, S. 304. 27 Marci Antonii Vlmi Patauini Physiologia Barbæ humanæ (wie 13 Marci Antonii Vlmi Patauini Physiologia Barbae humanae, Sectio Anm. 13) S. 307C. III, c. II, Bononiae 1602, Editio altera Bononiae 1603, S. 307A-C: 28 Zur Person siehe grundlegend Friedrich von Hurter, Geschichte Gisbertus Vuossius. Historia Helenæ Antoniæ Virginis Barbatæ. Kaiser Ferdinands II. und seiner Eltern. Personen-, Haus-, und 14 Marci Antonii Vlmi Patauini Physiologia Barbæ humanæ (wie Landesgeschichte, 11 Bände, Schaffhausen 1850/61; Felix Be- Anm. 13) S. 307A: Viget adhuc nostra ætate nobilissimum Testi- cker, Art.: Ferdinand II., Kaiser, in: Die Habsburger (wie Anm. 4) monium Fœminis quoque BARBAM dari; Præcipua est Helena S. 109-112. virgo, quæ alitur nunc apud Serenissimam Hispaniarum Reginam, 29 Am bequemsten zugänglich in der folgenden Ausgabe: Sechs- Filiam Archducissæ Mariæ Austriacæ Græcij. Leider gelang es undvierzig Briefe der Erzherzogin an Ferdinand 1588-1599, hrsg. mir nicht zu Markus Anton Olmo etwas ausfindig zu machen. Jo- von Ferdinand Khull, Graz 1898. hann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexikon, 30 So Brief 5 (Spital, 9. Oktober 1598); Brief 14 (Mailand, 15. De- Bd. 49, Halle/Leipzig 1746, 2. vollständiger photomechanischer zember 1598); Brief 15 ((Mailand, 22. Dezember 1598); bereits Nachdruck, Graz 1994, Sp. 764 (s. u. Ulmus Marcus Anton) führt auf der Rückreise Brief 42 (Bomporto, 17. Juli 1599), Khull (wie seine Werke an, bietet aber keine biografischen Daten. Anm. 29) S. 15, 49, 50f.; Hurter, Geschichte Ferdinands II. (wie 15 Marci Antonii Vlmi Patauini Physiologia Barbae humanae (wie Anm. 28) Bd. 4, S. 396, Anm. 4 (Beilage 5) und S. 422, Anm. 2 Anm. 13) S. 307A: Gisbertus Vuossius cum intelexisset hoc à me (Beilage 15) identifiziert ihn mit Gisbert Voß, den Leibarzt der susceptum scribendi Argumentum, hæc meis interrogationibus Erzherzogin Maria; auch Khull (wie Anm. 29) S. 50, Anm. 11 respondebat. (Brief 15).

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31 Zur Person siehe Georg Heilingsetzer, Art.: Karl II., Erzherzog 5 Bde. und Erg.bd, 2. Auflage, durchgesehen und ergänzt von W. von Innerösterreich, in: Die Habsburger (wie Anm. 4) S. 203-206; Haberling / F. Hübotter / H. Vierordt, Berlin/Wien 1928/35, hier, zu Karl ist auch heranzuziehen Ders., Geschichte Kaiser Ferdi- Bd. 5 (1934) S. 64. nands II. (wie Anm. 28). 42 Max Bartels, Ueber abnorme Behaarung beim Menschen, in: 32 Zur Person siehe L. Firpo, Art.: Giovanni Battista Clario, in: Dizio- Zeitschrift für Ethnologie 8 (1876) S. 110-129, hier S. 127f. (An- nario Biografico degli Italiani, hrsg. von Gianni Ballistreri, Bd. 26, merkung) und 11 (1879) S. 145-194 (zweiter Aufsatz), hier S. Rom 1982, Sp. 138-142; vgl. auch Helfried Valentinitsch, Die 168. Grazer Stadtpfarrkirche zum Heiligen Blut als Begräbnisstätte 43 Berlin, Staatliche Museen, Kupferstichkabinett, Inventarnr. 176- vom 15. bis zum 18. Jahrhundert, in: Historisches Jahrbuch der 82; ein Erwerbsdatum und eine Provenienz des Blattes ist nicht Stadt Graz 7/8 (1975) S. 25-63, hier besonders S. 34-37; zu- bekannt. Ich danke Herrn Dr. Michael Roth, Staatliche Museen zu sammenfassend auch de Felip-Jaud (wie Anm. 22) S. 123, Anm. Berlin, Kupferstichkabinett, für freundliche Auskünfte (E-Mail vom 3. 6. Mai 2008). 33 Giovanni Battista Clario, Relatione delle cose succese nel uiaggio 44 Zu den genannten Personen und ihren Werken siehe P. L. di Graz à Trento della Sermma Margherita Arcidsa d’Austria, et Panum, Art. : Bartholinus, Casparius B. sen, in: Biographisches Sposa dell’invittissimo Re di Spagno Don Filipp iijo mentre era Lexikon der herausragenden Ärzte (wie Anm. 42) Bd. 1 (1929) S. condotta in Ispagna, ed. und deutsche Übersetzung de Felip- 356-359. Jaud (wie Anm. 22) S. 126-145; der Bericht ist auch abgedruckt 45 Thomae Bartholini Casp. Fil. Anatomia, ex Caspari Bartholini Pa- bei Rainer, Du glückliches Österreich (wie Anm. 22) S. 60-75; zu rentis Institutionibus, Omnique Recentiorum et propriis Observan- Erzherzog Maximilian siehe Bernhard Demel, Art.: Maximilian tionibus Tertium ad sanguinis Circulationem Reformata […], Ernst, in: Die Habsburger (wie Anm. 4) S. 366-367. Hagae-Comitis 1666, p. 305: Rarum est quod in Gynęco Archidu- 34 Vgl. Brief 42 (Bonport, 17. Juli 1599), Khull (wie Anm. 29) S. cissæ Austriæ, visa fuerit juvencula 30 annorum, quae a teneris 131f.: Ich lass schier an allen Orten Kranke hinter mir […] Jetzt annis ante mensium eruptionem barbam instar viri promissam stehts nur an dem, dass ich und der Docter krank werden. cum mystacibus gestaret: […]. Die Stelle wird auch zitiert in: Ja- 35 Brief 43 (Valarei, 23. Juli 1599), Khull (wie Anm. 29) S. 133. cobi Bürlini, De fœminis ex suppressione mensium barbatis Dis- 36 Brief 14 (Mailand, 15. Dezember 1598), Khull (wie Anm. 29) S. putatio medica ad diem 23 Junii A. C. 1664, XI, Altdorfii 1664, p. 49: Ich jag Dein Hofgesind alles heim, außer den Küchenmeister, 8. Die einzelnen Auflagen von Bartholins Werk sowie die Auflage Frankepan, Engeleder Herzenkraft behalt ich mir und den Preiner aus der Jakob Bürlin zitiert, konnte ich nicht überprüfen, da sie und Attemis. Zu den genannten Personen siehe Khull (wie Anm. mir nicht zu Verfügung standen. 29) ebendort, Anm. 7-13. 46 Zedler (wie Anm. 14) Bd. 12 (1735, Nachdruck 1994) Sp. 1235 (s. 37 Brief 15 (Mailand, 15. Dezember 1598), Khull (wie Anm. 29) S. u. Helena): Helena (Antonia), eine wunderns würdige Jungfrau, 50f.: So zeucht Dein Gesind alles fort außer des Preiners, Athi- so von der Ertz-Herzogin Maria von Oesterreich Tochter, zu mis, Frankabän, Engeleder Herzenkraft Doctor und etliche Offi- Graitz unterhalten ward, und einen grossen männlichen Bart hat- zier: die behalt ich bei mir. te. Ihr Bildnis ist an. 1597 in Kupfer gestochen worden, darunter 38 Firpo (wie Anm. 32) Sp. 141; auch Valentinitsch (wie Anm. 32) folgende Worde zu lesen waren: Helena Antonia nata in Ar- merkt S. 36 an: „1598 begleitete er die Erzherzoginwitwe Maria chiepiscopatu Leodiensi aetat. 18. a Serenissima Archiducissa zumindest auf einer Teilstrecke ihrer Reise nach Spanien und Austr. Vidua Gaercy educata. bewarb sich im folgenden Jahr um eine feste Anstellung als Leib- 47 Graz, Steiermärkisches Landesarchiv, Porträtsammlung, Signa- arzt.“ (Leider ohne Angabe des genauen Datums.) tur: Pastrana, Antonia Helena mit dem Vermerk Bartdame; 39 Der Brief ist ohne Ort und Datum, Khull (wie Anm. 29) Anhang S. freundliche Mitteilung von Dr. Peter Wiesflecker (Briefe vom 9. 140-142, hier S. 142: In der an ihre Ziehtochter Katerl gerichtete Mai 2007 und 23. Jänner 2008). Adresse heißt es: Grüß mir die Martha, Andtl, Käterl, Weidtnerin, 48 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv, Sign. Pg 164 Anschtasia, Helena, Agel, Dein Susanna und mein lieben klein 002: I; der Stich stammt aus der Sammlung Prinz Eugen. Karl. Wien, Österreichisches Staatsarchiv/Finanz- und Hofkam- 49 Wien, Albertina, Inventarnr. DG 19 967 (DI 34a, fol. 36); Das merarchiv/Archiv der Hofkammer, Niederösterreichische Exemplar stammt aus den historischen Beständen der Samm- Herrschaftsakten W 61a/36b, Schachtel 789, fol. 701-874: Hof- lung, eine Provenienz ist nicht bekannt. Ich danke Frau Dr. Bar- staat der verwitweten Erzherzogin Maria und der jungen bara Dossi, Wien, Albertina, für freundliche Auskünfte (E-Mail Herrschaft, 1596-1607, hier fol. 748r, 790r, 798r, 805r, 814r, vom 7. Mai 2008). 824v, 832r, 845v, 862r. Leider konnte ich die Hofstaatslisten erst 50 Vgl. Däubler-Hauschke/Thomas (wie Anm. 7) S. 209. nach Abschluss des Beitrags einsehen und nicht mehr vollständig 51 Vgl. Walter Dietl, Die Elogien der Ambraser Fürstenbildnisse. Die auswerten. Kupferstiche des Dominicus Custos (1599). Leben und Werk ih- 40 Vgl. Victor I. Stoichita / Anne Maria Coderch, Goya. The Last res Autors Marcus Henning (Commentationes aenipontanae 23: Carnival, London 1999, S. 53f., S. 56 Abb. 23. Tirolensia Latina 2), S. 8, Anm. 3. 41 Johanne Schenckio a Grafenberg Observantionvm raram, no- 52 Wien, Bildarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek, Sign. Pg varvm, admirabilvm, et monstrosarvm, De barba. Observatio XIV, 164 002: Ia; der Stich stammt ebenfalls aus der Sammlung Prinz Francofurti 1600, Tomus I, p. 18: Helena Antonia nata in Archie- Eugen. Zu Giovanni Orlandi siehe Lotte Pulvermacher, Art.: Or- piscopatu Leodiensi, aetatis suae annorum XVIII. a sereniss(ima) landi, Giovanni, in: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler Archiducissæ Austriæ Maria Vidua Gręcii educata, facie et meto von der Antike bis zur Gegenwart, begründet von Ulrich Thieme / Viri instar barbata, muliebri alias habitu. Cuius Eiconem Domini- Felix Becker unter Mitwirkung von etwa 400 Fachgelehrten bear- cus Custodis Augustae affabre in æve excudit. Ex qua charta nos beitet und redigiert von H. Vollmer u. a., hrsg. von Hans Vollmer, transtulimus. Schenckius. Hier wird nach der zweibändigen Aus- Bd. 26, Leipzig 1932, S. 47. gabe von 1600 zitiert, da mir leider die erste Ausgabe nicht zu- 53 Johann Baptist Fickler, Das Münchner Kunstkammerinventar, gänglich war, so konnte ich auch nicht überprüfen, ob Helena be- hrsg. von Peter Diemer in Zusammenarbeit mit Elke Bujok / reits in der ersten Auflage erwähnt wird, was für eine genaue Da- Dorothea Diemer, Johann Baptist Fickler. Das Inventar der tierung von erheblicher Relevanz wäre. Das Werk wurde in Frei- Münchner herzoglichen Kunstkammer von 1598. Editionsband. burg 1604, Frankfurt 1609 und 1665 und in Lyon 1644 erneut Transkription der Inventarhandschrift cgm 2133 (Bayerische Aka- aufgelegt; zu Person und Werk siehe E. Gurlt, Art.: Johannes demie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, Schenck von Grafenberg, in: Biographisches Lexikon der heraus- Abhandlungen, Neue Folge, Heft 125), München 2004, S. 202: ragenden Ärzte aller Zeiten und Völker, hrsg. von August Hirsch, Nr. (2870) (2839): Vier gleiche dafeln, auf der ersten ein nack-

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hendt Weibsbrustbild mit einem schwarzen bartt, darbei geschri- 1994; Philipp Blom, Sammelwunder, Sammelwahn. Szenen aus ben: Jungfraw Margreth Lechnerin von Lauffen. Nr. 2871 (2840): der Geschichte der Leidenschaft, Frankfurt am Main 2004; zum Auf der andern ein beclaidt Weibsbrustbildt mit einem langen Zusammenhang von Staunen, Wunder und Naturphilosophie Lor- schwarzen bart, auch obgemelts Namens. Nr. 2872 (2841): Auf raine Daston / Katharina Park, Wunder und die Ordnung der Na- der 3. Junckfraw Galeckha von Lüttich auch gebartet Nr. 2873 tur 1150-1750, Frankfurt am Main 2002 (englische Originalaus- (2842): Auf der 4. Junckfraw Catharina Gansel von Paris, haret et gabe: Wonder and the Order of Nature 1150-1750, New York barttet uber das ganz angesicht. Unter einen anderen Gruppe 1998). von Bildern findet sich ein weiteres Bild eines Mädchens von 9 58 Vgl. dazu und auch zum folgenden Margot Rauch, Der Mensch Jahren mit auffallender Behaarung: S. 203, Nr. 2880 (2849): Ein als Sammelobjekt, in: Die Entdeckung der Natur (wie Anm. 57) S. däfl drauf ein jung Mädl von 9 Jaren, haret und barttet, darbey 133-135; Dies., „Alles was seltsam ist“ – das Bildnis eines behin- diese schrifft: Puella barbata Lusitana, Anno ætatis IX, Christi derten Menschen als Sammelobjekt, in: Das Bildnis eines behin- MDLXI. Vgl. auch die Forschungen von Anna Koopstra zu dem derten Mannes. Bildkultur der Behinderung vom 16. bis ins 21. aus dem Suermondt-Ludwig Museum in Aachen am 6. Juni 1972 Jahrhundert. Wissenschaftlicher Sammelband, hrsg. von Petra gestohlenen, Willem Key (1515/16-1568) aus Antwerpen zuge- Fliege / Volker Schönwiese, Ulm 2007, S. 119-136. schriebenen Kopfporträt der bärtigen Margaret Halseber aus Ba- 59 Vgl. dazu jeweils mit weiterführender Literatur Hans Rudolf Vel- sel gezeigt, von dem mehrere Exemplare im Umlauf waren; eines ten, Art.: Hofnarren und Gerhardt Petrat Art.: Zwerge, Riesen, dieser Bilder wurde am 8. Mai 2008 bei Sotheby’s in Amsterdam Mohren, beide, in: Höfe und Residenzen (wie Anm. 2) Sp. 65-69; versteigert. Siehe dazu künftig den Beitrag von Anna Koopstra im Sp. 69-74; zum ganzen Themenkomplex ist ein Artikel der Autorin Gemäldekatalog zu den Nachkriegsverlusten des Aachener Su- in Vorbereitung. ermondt-Ludwig-Museums (in Druckvorbereitung für 2008); ich 60 Vgl. etwa Erika Tietze-Conrat, Dwarfs and Jesters in Art, London danke Frau Dr. Anna Koopstra, Aachen, mir Einsicht in ihr noch 1957; Lorenz Seelig, Hans Miliechs Bildnis des Münchener Hof- unveröffentlichtes Manuskript gewährt zu haben. Das berühmtes- narren Mertl Witz aus dem Jahr 1545, in: Pantheon. Internationa- te solcher Bilder ist wohl das von Jusepe de Ribeira der stillenden le Jahreszeitschrift für Kunst 47 (1999) S. 185-189; Carlo Ginz- Magdalena Ventura mit Bart von 1631; vgl. Alfonso E. Pérez burg, Le peintre et le bouffon: le «Portrait de Gonella» de Jean Sánchez, Art.: The Bearded Women (Magdalena Ventura with Fouquet, in Revue de l’art 111 (1996) S. 25-29; John Southworth, Her Husband), in: Jusepe de Ribeira 1591-1652, Begleitband zur Fools and Jesters at the English Court, London 1998 mit zahlrei- Ausstellung, The Metropolitan Museum of Art, New York (Sep- chen Abbildungen; Barry Wind, ’A Foul and a Pestilent Congraga- tember 18-November 29, 1992), hrsg. von Dems. / Nicola Spino- tion‛. Images of ’Freaks‛ in Baroque Art, Aldershot/Brookfield, sa, New York 1992, S. 93-95; weitere Beispiele aus späterer Zeit Vermont 1998; Lutz Malke, Nachruf auf Narren, in: Narren, Port- bringt Scholz (wie Anm. 5). räts, Feste, Sinnbilder, Schwankbücher und Spielkarten aus dem 54 Vgl. zu seinen kulturellen Interessen Berndt Ph. Baader, Der 15.-17. Jahrhundert, hrsg. von Dems., Berlin 2001, S. 9-57; Mar- bayerische Renaissancehof Herzog Wilhelms V. (1568-1579). Ein got Rauch, Elisabeth oder „wem ein Hofnarr nötig ist“ sowie Ve- Beitrag zur bayerischen und deutschen Kulturgeschichte des 16. rena Oberhöller, Zum Bildnis der Elisabeth: zwischen Anerken- Jahrhunderts (Sammlung Heitz. Akademische Abhandlung zur nung und Projektion, beide, in: Das Bildnis eines behinderten Kulturgeschichte V, 3), Leipzig/Straßburg 1943. Mannes (wie Anm. 58), S. 262-271; S. 272-305; Paul H. D. Ka- 55 München, Bayrisches Nationalmuseum, Dependence Landshut, plan, Isabella d’Este and Black African Women; Annemarie Jor- Burg Trausnitz, Inventarnr. R 1718; vgl. dazu die website dan, Images of Empire: Slaves in the Lisbon Household and http://www.bayerisches-nationalmuseum.de/presse/kunstkam Court of Catherine of Austria, beide, in: African Women, in: Black mer/images23jpg; zuletzt abgerufen am 7. Mai 2008; siehe auch Africans in Renaissance Europe, hrsg. von T. F. Earle /K. P. Lo- Kunst- und Wunderkammer Burg Trausnitz, hrsg. von Renate Ei- we, Cambridge 2005, S. 111-154; S. 155-180. kelmann, bearb. von Sigrid Sangl unter Mitarbeit von Birgitta 61 Vgl. für die Kunstkammer Erzherzogs Ferdinands II. von Tirol auf Heid, München 2007, S. 34 mit Abb. Für freundliche Auskünfte Schloss Ambras bei Innsbruck das Inventar von 1621 Haubt In- danke ich Dr. Björn Statnik und für die Erlaubnis, das Bild zu pub- ventary Ober das fürstlich Schloß Ombras sambt der Kunst: auch lizieren, danke ich Frau Dr. Nina Gockerell vom Bayerischen Na- Rüsst camer und Bibliodeca Ec. [März 1621], Kunsthistorisches tionalmuseum, München (E-Mail vom 7. und 28. Jänner 2008). Museum Wien, Kunstkammer, fol. 357r-365v; zum Inventar der 56 Vgl. lateinisch: Gallaecia bzw. Gallaeci für die Landschaft und de- an die tausend Stück umfassende Kleinbildserie, die sich heute ren Bewohner der heutige Provinz Galicia im nordwestlichen im Münzkabinett des Kunsthistorischen Museums in Wien befin- Spanien nahe Portugal; vgl. auch spanisch: gallegga, Galizierin. det, siehe Friedrich Kenner, Die Porträtsammlung des Erzherzogs 57 Siehe dazu nur in Auswahl Elisabeth Scheicher, Die Kunst- und Ferdinand von Tirol, in: Jahrbuch der kunsthistorischen Samm- Wunderkammern der Habsburger, Wien/München/Zürich 1979; lungen des Allerhöchsten Kaiserhauses 14 (1893), S. 37-186; 15 Géza von Habsburg, Fürstliche Kunstkammern in Europa, Stutt- (1894) S. 147-259; 17 (1896) S. 101-274; 18 (1897) S. 135-261; gart/Berlin/Köln 1997; Die Entdeckung der Natur in den Kunst- 19 (1898) S. 6-146; für die Münchner Kunstkammer vgl. Johann kammern des 16. und 17. Jahrhunderts, Katalog der Ausstellung, Baptist Fickler, Das Münchner Kunstkammerinventar (wie Schloß Ambras, Innsbruck, 22. Juni – 31. Oktober 2006 und Anm.53); zum Ganzen Rauch, Das Bildnis eines behinderten Kunsthistorisches Museum Wien, 12. Februar – 20. Mai 2007, Menschen (wie Anm. 60) S. 128; Dies., Der Mensch als Sammel- hrsg. von Wilfried Seipel, Wien 2006; Exotica. Portugals Entde- objekt (wie Anm. 58) S. 133. ckungen im Spiegel fürstlicher Kunst- und Wunderkammern der 62 Vgl. Baader (wie Anm. 54) S. 83-87; Peter Martin, Schwarze Teu- Renaissance; Katalog der Ausstellung, Wien, Kunsthistorisches fel, edle Mohren. Mit einem Nachwort von Hans Werner Debrun- Museum, 3. März – 21. Mai, hrsg. von Wilfried Seipel, Mailand ner, Hamburg 1993, S. 47 und S. 49. 2000; es sei auch besonders auf die Sammlungstätigkeit zweier 63 Zu Sophia siehe das Hofstaatsverzeichnis der Erzherzogin Maria Fürstinnen aus dem Haus Habsburg verwiesen: Margarete von vom 29. Juli 1573, hrsg. von Viktor Thiel, I. Die Hof- und Zentral- Österreich (1459-1519) und Katharina von Österreich, Königin behörde Innerösterreichs 1564-1623, in: Archiv für österreichi- von Portugal (1507-1578); vgl. Dagmar Eichberger, Leben mit sche Geschichte 102 (1916/17) S. 1-210, S. 187-190 (Hofstaats- Kunst – Wirken durch Kunst. Sammelwesen und Hofkunst unter verzeichnis), hier S. 188; zu Maria, der Türkin, siehe das Ver- Margarete von Österreich, Regentin der Niederlande, Turnhout zeichnis der Legate, durch die Erzherzogin Maria aufgesetzt, Hur- 2002; Annemarie Jordan, The Development of Catherine of Aus- ter, Geschichte Ferdinands II. (wie Anm. 28) Bd. 5, S. 582f., Bei- tria’s Collections in the Queen’s Household: Its Character and lage 227, hier S. 582; siehe auch den Brief an ihre Kinder aus Cost, ungedruckte Diss. phil., Provodence, RI, Brown University, Spanien Khull (wie Anm. 29) Anhang S. 140-142, hier S. 142: an

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ihre Ziehtochter Katerl schreibt die Erzherzogin: Mein liebes Ka- Friedrich Wonna sie auch Zedler (wie Anm. 14) Bd. 58 (1748, terl, wie sind es viele schwarze Leute hier wie die schwarz Maria! Nachdruck 1994), Sp. 1512 (s. u. Friedrich Wonna), wonach Weitere Zwerginnen und Narren finden sich in Anm. 39 genann- Wonna 1667-1688 der Weimarer Kanzlei vorstand. ten Grazer Hofstaatslisten. 74 (Vulpius) (wie Anm. 73) S. 67f. Als weitere Quelle nennt er auch 64 Vgl. Baader (wie Anm. 54) S. 84; Wehner (wie Anm. 4) S. 102. noch Jochii Tractatus de foeminae barbatae, Jenae 1702 p. 9. 65 Brief der Erzherzogin Maria an Hermann von Attimis (Attems) Dieses Werk konnte ich nicht einsehen. Da Vulpius nichts bringt, vom 7. November 1607, Hurter, Geschichte Ferdinands II. (wie was über Olmo hinausgeht, ist anzunehmen, daß Joch auch Ol- Anm. 28) Bd. 5, S. 405f., Beilage 178, hier S. 405; vgl. auch dazu mo referiert. Text und Bild Vulpius’ werden im Beitrag „Haarmen- ebendort, S. 370 mit Anm. 146. schen und Bartweiber, in: Daheim 19 (1883) S. 316-318, hier S. 66 Das Leben von Pedro Gonzales und seiner Familie, Pedro und 317, Abb. S. 316 wiedergegeben. seine Frau hatten insgesamt sieben Kinder, wurde ausgezeichnet 75 Gomolki, Breslauer Merkwürdigkeiten (1733): „In der Maria- rekonstruiert und dargestellt von Roberto Zapperi, Der wilde Magdalenenbibliothek zu Breslau ist ein Bild der bärtigen Jungfer Mann von Teneriffa. Die wundersame Geschichte des Pedro von Lüttich […], zitiert in: Dittrich (ohne Vornamen), Schlesische Gonzalez und seiner Kinder, München 2004. Kümmernisbilder, in: Jahres-Bericht des Neisser Kunst- und Alter- 67 Vgl. Zapperi (wie Anm. 66) S. 53ff.; die Brieffragmente sind abge- tums-Vereins 7 (1903) S. 35-38, hier S. 37. druckt S. 194f. 76 (Vulpius) (wie Anm. 73) S. 572; die Breslauer Beiträge (1802), die 68 Zur Person siehe Josef Hirn: Erzherzog Ferdinand II. von Tirol, als Quelle angeführt werden, waren mir nicht zugänglich. Geschichte seiner Regierung und seiner Länder, zwei Bde., Inns- 77 Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv, Sign. Pg 164 bruck 1885/87; Franz Heinz Hye, Art.: Ferdinand II. von Öster- 002: II; das Bild stammt aus dem Bestand der Fideikommiss. reich-Tirol, in: Die Habsburger (wie Anm. 4) S. 105-109. 78 Dittrich (wie Anm.75) S. 37 zitiert Gomolki, Breslauer Merkwür- 69 Wien, Kunsthistorisches Museum, Inventarnrn. GG 8329-8332. digkeiten (1733): „In der Maria-Magdalenenbibliothek zu Breslau 70 Wien, Kunsthistorisches Museum, Inventarnrn. 5417-5420; vgl. ist ein Bild der bärtigen Jungfer von Lüttich, von welcher man zum Ganzen Zapperi (wie Anm. 66) S. 61-72 mit den Abb.; zu sagt, daß sie vor grossen Kummer weil sie kein Mann nehmen den vier Kleinporträts vgl. auch Sabine Pénot, Art.: Der „rauch wolle (!) den Bart bekommen haben soll.“ Dittrich merkt dazu an: Mann aus München“; Die Frau des „rauch Mann aus München“; „(Auch eine Auffassung!)“ Die Tochter des „rauch Mann aus München“; Der Sohn „rauch 79 Vgl. Jane Tibbets Schulenburg, Forgetful of Their Sex. Female Mann aus München“, in: Arcimboldo 1526-1593. Katalog der Sanctity and Society, ca. 500-1100, Chicago/London 1998, S. Ausstellung Musée du Luxemburg, Paris, 15. September 2007 - 152f. 13. Jänner 2008; Kunsthistorisches Museum Wien, 12. Februar – 80 Zur Legende und zum Kult der heiligen Wilgefortis siehe Konrad 11. Juni 2008, hrsg. von Sylvia Ferino-Pagden, Mailand 2008, S. Kunze, Art.: Wilgefortis (Ontkommer, Kümmernis), in: Die deut- 167-168, Kat. Nr. IV. 27; vgl. auch Christiane Hertel, Hairy Issues. sche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 10 Berlin Portraits of Petrus Gonsalus and His Family in Archduke Ferdi- [u.a.] 21998, Sp. 1081-1083; Regine Schweizer-Vüllers, Die Heili- nand’s Kunstkammer and Their Context, in: Journal of the History ge am Kreuz. Studien zum weiblichen Gottesbild im späten Mit- of Collections 13 (2001) S. 1-22. telalter und in der Barockzeit (Deutsche Literatur von den Anfän- 71 Vgl. Heilingsetzer, Karl II. (wie Anm. 31) S. 203. gen bis 1700 26), Bern/Berlin [u. a.] 1997; zur Verehrung in Eng- 72 Zum Handschuh als besonderes Attribut einer adeligen Dame land Schulenburg (wie Anm. 79) S. 462f., Anm. 103; Britta-Juliane siehe Herbert Knittler, Art.: Epitaph der Susanna Teufel (Halbfigu- Kruse, Die bärtige Heilige. Wilgefortis als Identifikationsfigur für renrelief um 1590, Winzerndorf (N. Ö.), Filialkirche Mariae Him- Eheverweigerinnen und Helferin der Ehefrauen, in: Böse Frauen melfahrt), in: Adel im Wandel (wie Anm. 8) S. 107, Kat. Nr. 4. 14; – Gute Frauen. Darstellungskonventionen in Texten und Bildern S. 108 Abb. der Frühen Neuzeit, hrsg. von Ulrike Gaebel / Erika Kartschoke 73 (Christian August Vulpius), Die bärtigen Weiber, in: Curiositäten (Literatur – Imagination – Realität. Anglistische, germanistische, der physisch-literarisch-artistisch-historischen Vor- und Mitwelt romanistische Studien 28), Trier 2001; S. 155-187. zur angenehmen Unterhaltung für gebildete Leser, Erster Band, 81 Zu Marias Frömmigkeit siehe Hurter, Maria (wie Anm. 4) S. 378ff. Weimar 1811, S. 64-68, hier S. 67 mit Anm. +; Abb. Tafel V; zu

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FELICITAS SEEBACHER DIE MACHT DER IDEE – ROSA KERSCHBAUMER UND DIE ÖFFNUNG DER UNIVERSITÄT WIEN FÜR DAS ‚ANDERE“ GESCHLECHT

1. HÖHERE MÄDCHENBILDUNG UND MEDIZINSTUDIUM 2. RAISSA UND JENJA VON SCHLIKOW

Das aufstrebende Bürgertum des 19. Jahrhunderts Wassilij Dimitriewitsch Schlikow, Absolvent der Universität erwartete, dass sich die Frau dem Mann unterordne und die Moskau und Adelaide Alexandrewna12 heirateten 1850 in Lebensaufgabe in der Erziehung von Kindern sah.1 Höhere Moskau. Beide gehörten dem russischen Adel an.13 Am 21. Bildung war mit diesem Rollenklischee nicht vereinbar. Als April 185114 wurde ihre erste Tochter Raissa geboren, am die Habsburgermonarchie am 21. Dezember 1867 ihre ers- 15. Juli 185315 die zweite Tochter Jenja (Virginie) und vier te „repräsentative Verfassung" erhielt, wurde das mit Artikel Jahre später ein Sohn namens Tolja, der im zweiten Le- 18 zugesicherte Recht auf freie Berufswahl der Frauen bensjahr an einer Lungenentzündung starb.16 Die beiden einfach negiert.2 1870 forderte Marianne Hainisch, Mädchen wurden der aristokratischen Tradition entspre- Gründerin des „Frauenerwerbvereins“ in Wien, mit der chend, von französischen und englischen Gouvernanten Errichtung eines Realgymnasiums für Mädchen die Durch- sowie russischen Hauslehrern erzogen, wobei besonderer setzung des Rechtes auf gleiche Bildungschancen für beide Wert auf ausgezeichnete Sprachkenntnisse gelegt wurde.17 Geschlechter. Trotz gesicherter Finanzierung sei der Antrag Im Lehrplan habe nur „Mathematik und Latein zum Pro- sogar von „hochgebildeten Frauen“ abgelehnt worden.3 gramm der Knabengymnasien“ gefehlt, schrieb Raissa in Während Frauen in Amerika und in anderen Ländern der „autobiographischen Skizze“. Diese Fächer habe sie Europas ein Doktorat in Medizin erwerben konnten, lehnten sich „ohne Wissen [ihrer] Eltern“ angeeignet.18 Jenja die „männlichen Eliten“ der medizinischen Fakultät der erwähnte in ihren „Erinnerungen“, dass sie mit vierzehn Universität Wien das Medizinstudium für Frauen weiterhin Jahren bereits vier Sprachen beherrscht und die „Klassiker ab. Das „Naturgesetz“ weise jedem „Wesen eine bestimmte im Original“ gelesen habe.19 Den Sommer verbrachte die Mission in der Schöpfung“ zu, erklärte Rektor Joseph Familie am Landgut Dubki, im Gouvernement Tula20, dem Späth, Professor für Gynäkologie und Geburtshilfe, in sei- Erbe der Mutter.21 Jenja und Raissa bezeichneten es als ihr ner Inaugurationsrede 1872.4 Weil die „Geschlechterdiffe- „Paradies“.22 Sie beobachteten die Natur und sahen, wie ihr renz“ den Ort bestimme, der für „jedes Individuum [...] nach Vater Verletzungen und Krankheiten der Untertanen mit seiner Eigenart am besten pass[e]“,5 widerspreche es „un- verschiedenen Tees, Salben und „homöopathischen Heil- serem Gefühle, eine in ihrer Jugendblüthe aufknospende mitteln“ behandelte, weil es im ganzen Bezirk nur einen Arzt Jungfrau mit dem Skalpelle in der Hand die Leichen durch- gab.23 Als Jenja vierzehn und Raissa sechzehn Jahre alt wühlen zu sehen“.6 Das Medizinstudium war mit hohem waren, wurde der Privatunterricht, den Bildungsnormen ih- Prestige verbunden und die weibliche Konkurrenz sollte von rer Gesellschaftsklasse entsprechend, beendet. Um die der „Männerbastion Universität“7 ferngehalten werden. Nach Mädchen in die Gesellschaft einzuführen, wurden private Marita Kraus stand hinter der Abwehr die berechtigte Sorge, Tanzabende veranstaltet, wo Raissa gerne mit dem Studen- eine „Verweiblichung“ der Medizin könne das Ansehen des ten und Laienschauspieler Wladimir Putjata getanzt habe.24 ärztlichen Berufsstandes gefährden und im Weiteren zum Raissa sei „hübsch, temperamentvoll und sehr kokett“ ge- Prestigeverlust der gesamten Ärzteschaft führen.8 wesen, beschreibt Jenja ihre Schwester.25 Am 20. August In Russland bot die Regierung bildungsbewussten 1868 heiratete sie Putjata in Dubki nach russisch- Frauen mehr Chancen, auch wenn erfolgreiche Modellver- orthodoxem Ritus. Im Herbst 1869 wurde Raissas erster suche aus Angst vor Rebellion wiederholt abgebrochen Sohn Lodja geboren,26 1870 ihr zweiter.27 wurden. Ab 1858 konnten Russinnen an der militär- Jenja besuchte ab 1870 Vorlesungen in medizinischen Akademie in St. Petersburg studieren. Als allgemeinbildenden Kursen für Frauen in Moskau,28 wo sie sich einige von ihnen politisch aktiv betätigten, wurde Frau- mit den „Vorkämpferinnen“29 der russischen en das Medizinstudium in St. Petersburg verboten. Die Frauenbewegung in Kontakt trat. Sie informierten Jenja Konsequenz war die „erste Emigrationswelle russischer über ein Studium in der Schweiz. 30 Im Frühjahrssemester Studentinnen“ an Schweizer Universitäten, besonders an 1872 inskribierte Jenja an der Universität Zürich auf die Universität Zürich.9 Am 14. Dezember 1867 wurde eine Wunsch des Vaters Naturwissenschaften, obwohl sie lieber Russin als erste Studentin an dieser Universität in Medizin Medizin gewählt hätte.31 Raissa habe Jenja um ihr „freies promoviert: Nadežda Suŝlova habe Frauen in Europa die Leben im Ausland beneide[t]“. 1872 wurde ihr dritter Sohn Universitätstore geöffnet.10 Die Biographien der Russinnen Kolja geboren.32 Raissas Ehemann brach das Studium ab Raissa und Jenja von Schlikow belegen, dass Suŝlova ihre und nahm eine Anstellung bei der Zensurabteilung des Entscheidung zum Medizinstudium stark beeinflusst habe.11 Moskauer Hauptpostamts an. Die Zensur der ausländischen Zeitungen habe sich jedoch nicht mit seiner liberalen „Gesinnung“ vereinbaren lassen. So trat Wladimir Putjata im Sommer 1872 einer fahrenden Schauspielgruppe bei und

50 FELICITAS SEEBACHER IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 bot seiner Frau die Scheidung an. Raissa verließ Moskau 3. „DIE ÄRZTLICHE BERUFSBILDUNG UND DIE PRAXIS und inskribierte im Wintersemester 1872 an der Universität DER FRAUEN“ Zürich Medizin. Ihre Mutter übernahm die Obsorge für die drei Kinder und verbrachte die ersten beiden Am 28. Oktober 1888 konstituierte sich der „Verein für er- Wintersemester mit den Kindern in der Schweiz.33 Auch weiterte Frauenbildung in Wien“. Im Ausschuss waren un- Jenja inskribierte nun Medizin. Trotz mangelnder Vorbildung gefähr gleich viele Damen wie Herren vertreten, was nach gegenüber ihrer Schwester habe Raissa in kurzer Zeit gute außen hin das Bild eines Bildungsvereins vermittelte, in Studienerfolge erzielt.34 dem beide Geschlechter dieselben Rechte besaßen.51 Bis zum Sommersemester 1873 studierten 109 Durch die Mitgliedschaft von Wissenschaftern, Medizinern, russische Studentinnen an der Universität Zürich. Sie Philologen, Pädagogen und Vertretern der Kaiserlichen gliederten sich in „zwei Parteien: die Revolutionärinnen und Akademie der Wissenschaften sowie großbürgerlicher jüdi- die Frauenrechtlerinnen“. Während die einen ihren scher Familien und des Adels repräsentierte der Verein das Aufenthalt in der Schweiz für Protestaktionen gegen „den breite Spektrum der Wiener Gesellschaft.52 Am 2. April russischen Despotismus und Zarismus“ nützten, lehnten die 1889 hielt Kerschbaumer den Eröffnungsvortrag über „Die anderen Zürich als Ort „politischer Propaganda“ ab und ärztliche Berufsbildung und die Praxis der Frauen“. Die konzentrierten sich auf einen erfolgreichen Augenärztin zeigte auf, dass Frauen seit dem Mittelalter an Studienabschluss.35 Nach Raissas Meinung schädigten die verschiedenen Universitäten in Italien, Spanien und politisch radikalen russischen Studentinnen den Ruf der Frankreich lehrten und forschten.53 Beispiel gebend für das russischen Studentinnen und generell die „Frauenfrage“.36 19. Jahrhundert erwähnte Kerschbaumer die Universitäten Im August 1873 wurde allen russischen Studentinnen von in der Schweiz und hier Bern, wo sie persönlich erfahren ihrer Regierung ein Studium an der Universität Zürich habe, wie „der heilige Ernst der Wissenschaft“ für die verboten. Manche kehrten nach Russland zurück und Gleichberechtigung der Studenten und Studentinnen setzten ihr Medizinstudium an der 1872 eröffneten militär- sorgte.54 In Frankreich war ein ordentliches Medizinstudium chirurgischen Akademie in St. Petersburg fort, andere für Frauen ab 1868 möglich, in Schweden ab 1870, in Russ- studierten in Paris weiter, einige wurden in Sibirien land ab 1872, in England ab 1874, in Italien ab 1876 und in inhaftiert. 37 Raissa exmatrikulierte an der Universität Zürich Spanien praktizierten ab 1882 Ärztinnen.55 Die Bedenken am 11. Oktober 187338 und immatrikulierte wie Jenja am 15. der Gegner eines Medizinstudiums für Frauen seien nichtig, Oktober 1873 an der Universität Bern.39 Ende 1873 reiste argumentierte Kerschbaumer.56 Raissas Mutter mit den drei Knaben und der Gouvernante Kerschbaumer widerlegte die „beliebtesten Einwände“ nach Russland zurück. Nach dem Tod ihres Mannes der Gegner, wie die geistige Unfähigkeit der Frauen, be- übersiedelte sie von Moskau auf das Landgut in Dubki und dingt durch ein „geringeres Gewicht des Frauenhirns“. Die machte mit Raissas Kindern keine weiteren „Wissenschaft und Erfahrung“ habe längst nachgewiesen, Auslandsreisen.40 dass die Intelligenz nicht von der Gehirnmasse abhängig Am 7. Juli 187641 wurde Raissa Putjata-Schlikow an der sei.57 Ein weiteres Argument sei die geringe physische Be- Universität Bern promoviert,42 Jenja Schlikow bereits am 7. lastbarkeit der Frau. Allein der erfolgreiche Einsatz von Ärz- Juni desselben Jahres.43 Am 25. Oktober 1876 heiratete tinnen in den amerikanischen Sezessionskriegen oder im Jenja Haruthiun Abeljanz, Professor für Chemie an einem Krimkrieg 1877 beweise das Gegenteil. Ein drittes Argu- Gymnasium und an einer höheren Töchterschule und Pri- ment sei die Unvereinbarkeit von Beruf und Familie, was vatdozent an der Universität Zürich und wurde „Hausfrau ebenso entkräftet werden müsse, da Ärztinnen oft einen und Mutter“.44 Mit achtundvierzig Jahren machte sie in Arzt heiraten würden, der sie in der gemeinsamen Arbeit Schweden eine Massageausbildung.45 Nach ihrer Schei- eher fördere als einschränke. Manche Ärztinnen lehnten die dung am 5. Juli 190246 arbeitete Jenja in Zürich mit Spezia- Ehe sogar ab, da sie durch „höhere Bildung“ nicht mehr auf lisierung auf Heilgymnastik und Massage als Ärztin und die Versorgung durch den Ehemann angewiesen seien. Lehrerin an einer Pflegerinnenschule. Während der „Sai- Kerschbaumer entkräftete überdies die Ansicht, dass ein son“ engagierten sie große Kliniken in Zürich, Kairo, Nizza Medizinstudium „sich mit dem weiblichen Zart- und Scham- oder Vulpera.47 Raissa entschied sich für eine Ausbildung gefühle nicht vertrage und das weibliche Gemüth verro- zur Augenärztin an der Augenklinik der Universität Wien. Ih- he“.58 Gerade die weibliche Empathie trage zum Verständ- re Lehrer waren der Vorstand der Klinik Ferdinand von Arlt nis der Patienten und Patientinnen bei und sensibilisiere für und seine Assistenten Hubert Sattler und Ernst Fuchs.48 Arlt das Leid anderer Menschen. Kerschbaumer versicherte, reichte mehrmals Ansuchen um die Wiederholung von dass „die Idee der Erweiterung der Frauenbildung endlich Raissas Rigorosen beim Professorenkollegium der Medizi- ihre tausendjährigen Fesseln gesprengt“ habe, nicht mehr nischen Fakultät ein. Alle wurden abgelehnt.49 Durch die „der Mann alleine den Stempel des Geistes auf der Stirn“ Heirat mit Friedrich Kerschbaumer, einem ehemaliger As- trage.59 1890 wurde Kerschbaumer, mittlerweile Ausschuss- sistenten Arlts, erhielt Raissa, nun Rosa, als österreichische und Ehrenmitglied im „Verein für erweiterte Frauenbil- Staatsbürgerin die Möglichkeit, in Salzburg gemeinsam mit dung“,60 durch „kaiserliche Entschließung“ die Behandlung ihrem Mann eine Augenklinik zu eröffnen.50 von Augenkrankheiten an der Augenklinik in Salzburg ge- nehmigt.61 Ihre zweite Ehe wurde geschieden und die Au- genärztin führte die Klinik allein weiter.62

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Kerschbaumers neues Frauenbild wurde durch weitere Jahrhunderts „den medizinischen Fortschritt par Vorträge im „Verein für erweiterte Frauenbildung“ bestärkt. excellence“. Die Chirurgie gehörte wie die Innere Medizin Agnes Bluhm63, eine in Berlin praktizierende Ärztin oder und die Geburtshilfe zu den drei „großen“ Disziplinen, in Carl Bernhard Brühl, Professor für Anatomie, appellierten, denen jeder Student Prüfungen ablegen mußte. Die Leiter die Frau nicht in Abhängigkeit vom Manne zu sehen. Un- dieser Kliniken hatten daher in der Hierarchie jeder gewöhnlich für einen Vertreter der Wiener Medizinischen medizinischen Fakultät eine bedeutende Machtposition. Schule des 19. Jahrhunderts plädierte Brühl dafür, dass die Chirurgen setzten Frauen, die in ihre „heiligen Hallen“ Frau zur Trägerin des Fortschritts werden müsse. Brühl eintreten wollten, einen viel größeren Widerstand entgegen stellte dafür eine „anatomische Theorie für das Weib“ auf: als Leiter von Kliniken, die weniger etablierte Disziplinen „Gleiches Gehirn, gleiche Seele, gleiches Recht!“64 Im vertraten, wie zum Beispiel die Augenheilkunde oder die Herbst 1892 wurde in Wien auf Initiative des „Vereins für Hals-, Nasen- und Ohrenheilkunde.71 erweiterte Frauenbildung“ die erste private, deutschsprachi- ge „gymnasiale Mädchenschule“ eröffnet. Der Lehrplan ent- sprach den Bildungsstandards humanistischer Knabengym- 5. ROSA KERSCHBAUMER: „ALBERT UND DIE nasien. Um die Unterschiede zum Gymnasium für Knaben WEIBLICHEN ÄRZTE“ deutlich zu machen, durfte die „gymnasiale Mädchenschule“ auf Anordnung des Unterrichtsministeriums nicht mit der Medizinerinnen, Mediziner, Frauenrechtlerinnen und Päda- Matura abschließen.65 1894 stellte Kerschbaumer Selina gogen kritisierten Alberts Broschüre und widerlegten seine Bloom aus Ohio, eine Absolventin der medizinischen Fakul- Meinung mit internationalen Vergleichen. Kerschbaumer tät der Universität Zürich, an der Augenklinik in Salzburg als verfasste in der „Neuen Revue“ einen Artikel mit dem Titel Assistentin an. Im selben Jahr wurde ihre Kollegin Gabriele „Albert und die weiblichen Ärzte“. Für sie war die Broschüre Possanner von Ehrenthal von Friedrich Schauta, Vorstand eine Diskussionsgrundlage für die Frauenfrage in Öster- der I. Klinik für Gynäkologie und Geburtshilfe an der Univer- reich und ein Beweis für fehlende logische Argumente ge- sität Wien sowie Mitglied im „Verein für erweiterte Frauen- gen ein Frauenstudium. Die Augenärztin verfügte über bildung“, für sechs Monate als „Operationszögling“ aufge- exakte Statistiken aus Russland.72 Sie korrigierte die nommen.66 verfälschten Angaben von Albert und wies nach, dass an der militär-medizinischen Akademie in St. Petersburg von den 1872 bis 188173 aufgenommenen 959 Schülerinnen, 4. EDUARD ALBERT: „DIE FRAUEN UND DAS STUDIUM nicht Absolventinnen, wie Albert fälschlich behaupte, 609, DER MEDICIN“ also 63,5 Prozent, ihr Medizinstudium abgeschlossen hatten. Von 409 Absolventinnen seien die genauen Daten 1895 beauftragte das Unterrichtsministerium Professoren ihrer Einsatz- und Aufgabengebiete vorhanden. Sie der Universität Wien, eine Stellungnahme zum praktizierten im „europäischen Rußland“, im Kaukasus, in Frauenstudium vorzubereiten. Eduard Albert, Vorstand der Sibirien oder in Mittelasien.74 Durch eine Standesstatistik I. Chirurgischen Klinik der Universität Wien, versuchte mit zeigte Kerschbaumer auf, dass von den 409 der Broschüre „Die Frauen und das Studium der Medicin“ praktizierenden Ärztinnen 185 ledig waren, 191 verheiratet, nachzuweisen, dass Frauen für ein Medizinstudium nicht 23 verwitwet, 1 geschieden und von 9 die Angabe fehle. geeignet seien.67 Für Albert kannte die Frau nur ein Dies beweise, dass eine „akademisch gebildete und Lebensziel, nämlich: „Ein Weib will Kinder haben“.68 Frauen medizinisch geschulte Frau“ Ehe, Familie und Beruf seien für Pflegeberufe geeignet, weil sie „mitleidig, zart und durchaus vereinbaren könne. Die Differenz der nicht geduldig“ seien, doch dafür sei, wie bei Hebammen, keine erfassten 200 Frauen bedeute nicht, wie Albert behaupte, „gelehrte Vorbildung“ nötig. Die geringe Erfolgsquote von dass sie sich in die häusliche Idylle zurückgezogen hätten. Frauen in der Medizin demonstrierte Albert am Beispiel von Viele dieser Frauen, die nicht auf ein fixes Einkommen russischen Absolventinnen der militär-medizinischen angewiesen seien, ließen sich gar nicht in die Liste der Akademie in St. Petersburg. Von 1872–1881 seien 959 praktizierenden Ärzte eintragen. Sie würden ihr Ärztinnen im Kurssystem ausgebildet worden. Nach seinen medizinisches Wissen auf ihren Landgütern einsetzen, wo Recherchen praktiziere weniger als die Hälfte. Die Mehrheit sie teilweise private Spitäler betrieben.75 Was Frauen in sei wahrscheinlich verheiratet, nahm Albert an, und erfülle Russland in der Medizin leisteten, könne auch in Österreich damit die eigentliche Aufgabe der Frau, nämlich „ihren erreicht werden.76 Das Frauenstudium sei nicht nur eine Männern […] himmlische Rosen in‘s irdische Leben zu wirtschaftliche und soziale Frage, sondern „im strengsten weben“.69 Alberts wesentlichstes Motiv für das Verfassen Sinne des Wortes“ eine Rechtsfrage. Der moderne Staat als seiner Broschüre war die Sorge, dass junge Medizinerinnen „Rechtsstaat“ müsse das Frauenstudium einfordern. „Die eine Karriere an der Universität anstreben könnten. Macht der Idee“ werde „österreichische Frauen zum Siege „Vielleicht“ werde es auch an der Universität Wien einmal führen“ und nicht „das Veto des Hofrathes Albert“. Sie „eine Frau geben“, welche für eine Professur befähigt sein wünsche sich, dass in Zukunft auch in Österreich Ärztinnen werde. „Wegen dieser Einen“, bemerkte er abwertend in der „ars divina“, wie Albert die Medizin bezeichnete, mit „sollten wir uns nicht echauffiren!“70 Alberts Meinung hatte Ärzten „erfolgreich“ in Konkurrenz treten werden.77 in Medizinerkreisen einen hohen Stellenwert, denn sein Wie ihre erste Rede im „Verein für erweiterte Fach, die Chirurgie, repräsentierte gegen Ende des 19. Frauenbildung“ 1889 wurde auch dieses Plädoyer für das

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Medizinstudium von Frauen von anderen Mitgliedern des postulierte. Mit diesem Gleichheitsprinzip des radikalen Flü- Vereins bekräftigt. Der Historiker und Leiter der gels der bürgerlichen Frauenbewegung konnte sich „gymnasialen Mädchenschule“, Emanuel Hannak, forderte Kerschbaumer nicht identifizieren.87 Die Lehrerin und die im für beide Geschlechter im Medizinstudium und im Bürgertum etablierte Ärztin wurden zu Kontrahentinnen. Als Berufsleben des Arztes die „gleichen Rechte und Pflichten“. der „Allgemeine Österreichische Frauenverein“ im Sommer Es sei eine Verletzung der Frauenrechte, medizinisch 1896 unter Fickerts Führung der Regierung eine Petition interessierten jungen Frauen nur das Recht auf eine vorlegte, die den Wortlaut einer Petition des „Vereines für Ausbildung zur Hebamme oder Krankenschwester zu erweiterte Frauenbildung“ trug, aber durch 5000 Unter- gewähren.78 Erfreut stellte die Symbolfigur der Deutschen schriften ergänzt war, distanzierte sich Kerschbaumer mit Frauenbewegung, Helene Lange, in der Zeitschrift „Die dem „Verein für erweiterte Frauenbildung“ davon.88 Sie Frau“ fest, dass die Gegenstimmen zu Alberts Schrift groß- überließen damit den Erfolg der Umsetzung ihrer Petition teils von Männern abgegeben wurden. Das „Neue Wiener dem „Allgemeinen Österreichischen Frauenverein“. Im glei- Journal“ habe in einer Umfrage die Stellungnahmen der be- chen Jahr verließ Kerschbaumer Österreich und kehrte kanntesten Autoritäten erhoben. Das Resümee sei eine nach Russland zurück.89 vernichtende Kritik der Schrift des „Hofrats“.79 Da der „Ver- Am 11. November 1896 sandte die Augenärztin dem fasser“ die Frauen nur als „Geschlecht“ und nicht als eigen- „Verein für erweiterte Frauenbildung“ aus Leipzig eine zwei ständige „Individuen“ sehe, seien seine „Scheinargumente“ Seiten umfassende „autobiographische Skizze“. Im Zeit- gegen ein Frauenstudium nicht ernst zu nehmen.80 Als vor- raum von 1886 bis 1896 habe sie an ihrer Klinik in Salzburg bildliches Beispiel für eine Gegendarstellung zur Frage des 34.000 Patientinnen und Patienten behandelt und „7000 Frauenstudiums erwähnte Lange die Broschüre des größere Augenoperationen“ durchgeführt. Ihre Patientinnen Journalisten und Mediziners Moriz Kronfeld: „Die Frauen und Patienten waren „Österreicher, Ungarn, Franzosen, und die Medizin. Professor Albert zur Antwort“81. Er hebe Spanier, Russen, Engländer [und] auch zahlreiche Ameri- die Leistungen der Frauen in Kunst und Wissenschaft her- kaner“. Kerschbaumer publizierte über die „normale[...] und vor und zeige auf, welche Erfolge von Frauen, trotz schwie- pathologische[...] Mikroskopie des Auges, sowie über die riger Umstände, erreicht worden seien. Deshalb ehre es die „klinische[...] Ophthalmologie auf operativem Gebiete“90. In Frauen um so mehr, dass hervorragende Männer „in der den Jahresberichten der Augenklinik wurden die Praxisbe- Frau nicht nur das ‚Weibchen’, sondern das Kulturwesen richte dokumentiert. Auch wenn sie die „Lehrtätigkeit an der sehen“. Diese Einstellung sei für die Frauen der wahre neu zu errichtenden medicinischen Akademie für Frauen in „Gewinn“ von Alberts Schrift.82 St. Petersburg“ nach Russland gezogen habe, sei Öster- reich eine „zweite Heimat“ geblieben. Seinen Frauen, die mit ihr „gekämpft haben“, werde [sie] immer warme Sympa- 6. WIDERSTÄNDE UND ERFOLGE thie“ entgegenbringen.91 Zwischen 1897 und 1903 bereiste die Augenärztin im Auftrag der russischen Regierung Sibiri- Das Unterrichtsministerium und die Akademischen Senate en. 92 1903 übernahm sie die Leitung der Augenklinik in der Österreichischen Universitäten negierten die Forderun- Tiflis, Georgien, von 1907 bis 1911 praktizierte Kerschbau- gen nach der Öffnung der Universitäten für Frauen. „So mer wieder in Wien. Mit sechzig Jahren wanderte sie nach lange der Schwerpunkt der Leitung der sozialen Ordnung Amerika aus, wo sie zuerst in Seattle und dann in Los An- noch in dem männlichen Geschlechte ruht“, betonten die geles als Ärztin arbeitete. Dort starb Rosa Kerschbaumer Akademischen Senate 1895, sei es unmöglich, „den Frauen am 27. Juli 1923.93 an der Universität ein Terrain einzuräumen, welches in den Am 19. März 1896 wurde Possanner von Ehrental durch weiteren Folgen unmöglich zu begrenzen wäre".83 Marina eine Verordnung des Ministeriums für Kultus und Unterricht Tichy stellt im Widerstand gegen das Frauenstudium eine die Nostrifikation des Doktordiploms der Universität Zürich deutliche Überschreitung der „Grenze zwischen genehmigt.94 Am 3. September 1900 legitimierte das Wissenschaft und Ideologie“ fest.84 Sie sieht nicht nur die Abgeordnetenhaus des österreichischen Reichsrats das „äußere Gefahr“, welche abgewehrt werden mußte, sondern Medizinstudium für Frauen.95 Erst 1930 habilitierten sich an auch die „Bedrohung von Phantasien“, auf denen die Österreichs Universitäten die ersten Frauen in Medizin: „Weiblichkeitsmythen“ der Kultur des Bürgertums Helene Wastl in Physiologie96 und Carmen Coronini-Cron- beruhten.85 berg in Pathologie.97 Erst 1966 erhielt Erna Lesky, Leiterin Erschwerend in der Durchsetzung des Frauenstudiums des Instituts für Geschichte der Medizin, an der medizini- kam dazu, dass interne Differenzen der einzelnen Frauen- schen Fakultät der Universität Wien einen Lehrstuhl98: ein- vereine die Emanzipationsbewegung in Österreich generell undsiebzig Jahre, nachdem Albert angekündigt hatte, dass schwächten. So warf der progressive „Lehrerinnenwart“ es „vielleicht“ an der Universität Wien einmal „eine Frau dem „Verein für erweiterte Frauenbildung“ vor, er sei zu geben“ werde, welche für eine Professur befähigt sei. 99 konservativ und verändere die Bildungschancen der Frauen in Österreich kaum. Er habe die hohen Erwartungen, wel- che in ihn gesetzt wurden, „leider“ nicht erfüllt.86 Federfüh- RESÜMEE rend in den Angriffen war die feministische Lehrerin Augus- te Fickert, welche die „vollkommene Gleichberechtigung im Um die beharrende Abwehr von Frauen in der Medizin bes- politischen Leben, in der Ausbildung und im Berufsleben“ ser zu verstehen, ist es von Vorteil, die Bedürfnisse der

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Modernisierungsgegner im Kontext der gesellschaftlichen der Universität (Schriftenreihe des Hedwig-Hinze- und ökonomischen Veränderungen des 19. Jahrhunderts Instituts Bremen 5, Berlin 2000) 293–301, hier 294. und den dadurch entstehenden Verlust an Sicherheit zu in- 10 Thomas N. Bonner, Pioneering in Women´s Medical Education in 100 the Swiss Universities 1864–1914. In: Gesnerus. Schweizerische terpretieren. So sind für Johanna Bleker die pseudowis- Zeitschrift für Geschichte der Medizin und der Naturwissenschaf- senschaftlichen Schriften und Debatten der Opposition ge- ten 45, 3/4 (1988) 461–473, hier 464. gen ein Frauenstudium keineswegs nur als Spiegel „antife- 11 Siehe Rosa Kerschbaumer, Autobiographische Skizze. In: Jah- ministischer Geisteshaltung“ zu verstehen, sondern viel- resbericht des Vereins für erweiterte Frauenbildung in Wien, VII. mehr als „Ausdruck realer Veränderungsängste“.101 Trotz Vereinsjahr, October 1895 – October 1896, 8 (1896) 44–45, hier dieser ablehnenden Haltung gegenüber Frauen konnte Ro- 44: Raissa erwähnt, dass sie sich „im 13. Lebensjahr“ für das Medizinstudium entschied, nachdem sie erfahren hatte, dass sa Kerschbaumer mit dem „Verein für erweiterte Frauenbil- Suŝlova an der Universität Zürich Medizin studiert hatte. Ihre Fa- dung in Wien“ das Medizinstudium für Frauen an der Uni- milie habe den „Plan“ vehement abgelehnt und es habe „harte versität Wien durchsetzen. Aus der Erfahrung ihres Medi- Kämpfe“ gegeben, bis Raissa ihren „Willen“ durchsetzen konnte. zinstudiums an den Schweizer Universitäten Zürich und Siehe auch dies., Professor Albert und die weiblichen Aerzte. In: Bern wusste sie, dass die Öffnung der medizinischen Fakul- Neue Revue: Wiener Literatur-Zeitung 6, 44 (1895) 1381–1390, täten der Habsburgermonarchie nur in Kooperation und hier Separatabdruck, 2: Suŝlova habe „wissensdurstigen Frauen den Weg gewiesen“. Siehe weiter Jenja Abeljanz-Schlikow, Von nicht in Konfrontation gelingen würde. Das gebildete Bür- der Moskwa zur Limmat. Aus den Erinnerungen. Ein Tatsachen- gertum und der Adel sahen in der Russin die Repräsentan- bericht über die Emanzipation der russischen Frau. IV. Die Reise tin der ersten Ärztinnengeneration in Österreich. Als nach Zürich. In: „Sie und Er“, 13. Mai 1954, 27 und 35–36, hier 27 imposante Vertreterin der modernen akademisch gebildeten und ebd. V. Wenn Frauen studieren…. In: „Sie und Er“, 20. Mai Frau verwarf Kerschbaumer die traditionsgebundene 1954, 27–28, hier 27: Suŝlova sei das „Vorbild“ von Jenja Schli- „Geschlechterrolle“102 und setzte beeindruckende Akzente kow gewesen. „Ohne sie hätte [sie] gar nicht erfahren, dass Frauen studieren können“. Auszüge aus Jenja Schlikows „Erinne- für die intellektuelle, soziale und emotionale Emanzipation rungen“ wurde bereits 1939 und 1943 in der ´Neuen Zürcher Zei- der Frau in der Gesellschaft und Wissenschaft. tung“ veröffentlicht: Virginia Schlikow, Erinnerungen einer einsti- gen Studentin. Feuilleton. In: Neue Zürcher Zeitung vom 17. De- zember, 160, Sonntagausgabe 2136 (1939) 1 f.; ebd. vom 18. ANMERKUNGEN: Dezember, 160, Mittagausgabe 2148 (1939) 5 f.; ebd. vom 19. Dezember, 160, Mittagausgabe 2154 (1939) 3 f.; Virginia Schli- 1 Gertrud Simon, „Die tüchtige Hausfrau: gebildet, aber nicht ge- kow, Aus meinen Erinnerungen. Neue Zürcher Zeitung vom 15. lehrt“. Das bürgerliche Frauenbild als Erziehungsziel im 18. und Juli, 164, Abendausgabe 1106 (1943) 4 f.; ebd. vom 16. Juli, 164, 19. Jahrhundert. In: Ilse Brehmer, Gertrud Simon (Hg.), Ge- Abendausgabe 1113 (1943) 6 f. schichte der Frauenbildung und Mädchenerziehung in Österreich 12 Matrikeledition der Universität Zürich, Sommersemester 1872, (Graz 1997) 32–43, hier 34. Matrikelnummer 4121, online unter http://www.matrikel. 2 Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, „Und bei allem war man die unizh.ch/pages/60.htm (10. September 2007). Erste“. Einführende Bemerkungen zum Thema Frauen und 13 Abeljanz-Schlikow, Von der Moskwa zur Limmat. I. Kindheit in Medizin. In: Birgit Bolognese-Leuchtenmüller, Sonja Horn (Hg.), Moskau. In: „Sie und Er“, 22. April 1954, 17–19, hier 17: Wassilij Töchter des Hippokrates. 100 Jahre akademische Ärztinnen in Dimitriewitsch Schlikow war ein Nachkomme des tatarischen Österreich (Wien 2000) 9–25, hier 17. Khans Achmed Gizij. Die Großmutter seiner Frau Adelaide war 3 Marianne Hainisch, Bericht über den International Council mit ei- eine Fürstin Uchtonskaja. nem Rückblick auf die österreichische Frauenbewegung an der 14 Matrikeledition der Universität Zürich, Sommersemester 1872, Jahrhundertwende, erstattet am 29. März 1901 (Wien 1901) 12. Matrikelnummer 4121. Anders aber Matrikeledition der Universität 4 Joseph Späth, Das Studium der Medizin und die Frauen. Rekto- Zürich, Wintersemester 1872, Matrikelnummer 4383, online unter ratsrede, gehalten am 12. November 1872. In: Wiener Medizini- (10. September sche Presse 13, 48 (1872) 1109–1118, hier 1112. 2007), wo als Geburtsjahr in der Kopfzeile 1851 angegeben ist, in 5 Ebd., 1113. der Kurzbiographie jedoch 1854. Siehe weiter Kerschbaumer, Au- 6 Ebd., 1117. tobiographische Skizze. In: Jahresbericht des Vereins für erwei- 7 Hans-Georg Hofer, Schwachstellen der männlichen Abwehrfront. terte Frauenbildung in Wien 8 (1896) 44, wo Rosa Kerschbaumer Arztberuf und Medizinstudium im Spiegel der Neurastheniedebat- als Geburtsjahr 1854 angibt. In Abeljanz-Schlikow, Von der Mos- te um 1900. In: Sonja Horn, Ingrid Arias (Hg.), Medizinerinnen kwa zur Limmat. I. Kindheit in Moskau. In: „Sie und Er“, 22. April (Wiener Gespräche zur Sozialgeschichte der Medizin 3, Wien 1954, 17–19, hier 17 und in Schlikow, Erinnerungen einer einsti- 2003) 45–53, hier 48. gen Studentin. In: Neue Zürcher Zeitung vom 17. Dezember, Jg. 8 Marita Kraus, „Man denke sich nur die junge Dame im Seziersaal 160, Sonntagausgabe 2136 (1939) 1 wird Raissas Geburtsjahr ... vor der gänzlich entblößten männlichen Leiche“. Sozialprofil 1851 bestätigt, indem Jenja, geboren 1853, Raissa als ihre „zwei und Berufsausübung weiblicher Ärzte zwischen Kaiserreich und Jahre ältere Schwester“ bezeichnet. Republik. In: Hiltrud Häntzschel, Hadumod Bußmann (Hg.), Be- 15 Matrikeledition der Universität Zürich, Sommersemester 1872, drohlich gescheit. Ein Jahrhundert Frauen und Wissenschaft in Matrikelnummer 4121. Bayern (München 1997) 139–151, hier 140. 16 Abeljanz-Schlikow, Von der Moskwa zur Limmat. I. Kindheit in 9 Anja Burchardt, „Schwestern reicht die Hand zum Bunde“? – Zum Moskau. In: „Sie und Er“, 22. April 1954, 17. Verhältnis zwischen russischen und deutschen Medizinstudentin- 17 Virginia Schlikoff, Wie ich zum Studium nach Zürich kam. In: nen in den Anfängen des Frauenstudiums (1865–1914). In: Eli- Schweizerischer Verband der Akademikerinnen (Hg.), Das Frau- sabeth Dickmann, Eva Schöck-Quinteros (Hg.) unter Mitarbeit enstudium an den Schweizer Hochschulen (Leipzig-Stuttgart von Sigrid Dauks, Barrieren und Karrieren. Die Anfänge des 1928) 55–64, hier 56. Jenja Schlikow verwendet in den verschie- Frauenstudiums in Deutschland. Dokumentationsband der Konfe- denen Ausgaben der Auszüge aus ihren „Erinnerungen“ ver- renz „100 Jahre Frauen in der Wissenschaft“ im Februar 1997 an schiedene Schreibweisen ihres Vor- und Familiennamens.

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18 Kerschbaumer, Autobiographische Skizze. In: Jahresbericht des der Universität Zürich, Sommersemester 1872, Matrikelnummer Vereins für erweiterte Frauenbildung in Wien 8 (1896) 44. 4121: Am 26. September 1949 starb „Virginie Schlikoff“. 19 Schlikow, Aus meinen Erinnerungen. In: Neue Zürcher Zeitung 48 Kerschbaumer, Autobiographische Skizze. In: Jahresbericht des vom 17. Dezember, 160, Sonntagausgabe 2136 (1939) 1. Vereins für erweiterte Frauenbildung in Wien 8 (1896) 45. 20 Abeljanz-Schlikow, Von der Moskwa zur Limmat. I. Kindheit in 49 Margret Friedrich, „Ein Paradies ist uns verschlossen...” Zur Ge- Moskau. In: „Sie und Er“, 22. April 1954, 17. schichte der schulischen Mädchenerziehung in Österreich im 21 Ebd., 18. „langen“ 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Kommission für 22 Abeljanz-Schlikow, Von der Moskwa zur Limmat. II. Sommer auf Neuere Geschichte Österreichs 89, Wien-Köln-Weimar 1999) dem Lande. In: „Sie und Er“, 29. April 1954, 27–28, hier 27. 135. 23 Ebd., 28. 50 Matrikeledition der Universität Zürich, Wintersemester 1872, Mat- 24 Abeljanz-Schlikow, Von der Moskwa zur Limmat. III. Jenja lernt rikelnummer 4383. tanzen. In: „Sie und Er“, 6. Mai 1954, 15–16, hier 15. 51 Jahresbericht des Vereines für erweiterte Frauenbildung in Wien. 25 Ebd., 16. I. Vereinsjahr. October 1888–October 1889, 1 (1889) 1. 26 Abeljanz-Schlikow, Von der Moskwa zur Limmat. IV. Die Reise 52 Beitragende Mitglieder. In: Jahresbericht des Vereines für erwei- nach Zürich. In: „Sie und Er“, 13. Mai 1954, 27. terte Frauenbildung in Wien 1 (1889) 12–14. 27 Ebd., 35. 53 Rosa Kerschbaumer, Ueber die ärztliche Berufsbildung und Pra- 28 Schlikoff, Wie ich zum Studium nach Zürich kam. In: Schweizeri- xis der Frauen. In: Jahresbericht des Vereines für erweiterte scher Verband der Akademikerinnen (Hg.), Das Frauenstudium Frauenbildung in Wien, 1. Vereinsjahr October 1888–October an den Schweizer Hochschulen, 57. 1889, Beilage, 1 (1889) 8. 29 Siehe Eine Jubilarin. In: Neue Zürcher Zeitung vom 15. Juli, Mor- 54 Ebd., 3. genausgabe 1104 (1943) 2: Jenja sei „vom Fieber der damaligen 55 Ebd., 5–7. Frauenemanzipation angesteckt“ worden. 56 Ebd., 3. 30 Schlikow, Aus meinen Erinnerungen. In: Neue Zürcher Zeitung 57 Ebd., 12. vom 17. Dezember, 160, Sonntagausgabe 2136 (1939) 1. 58 Ebd., 13. 31 Schlikoff, Wie ich zum Studium nach Zürich kam. In: Schweizeri- 59 Ebd., 15. scher Verband der Akademikerinnen (Hg.), Das Frauenstudium 60 Irene Bandhauer-Schöffmann, Frauenbewegung und Studentin- an den Schweizer Hochschulen, 57. Siehe dazu Eine Jubilarin. nen. Zum Engagement der österreichischen Frauenvereine für In: Neue Zürcher Zeitung vom 15. Juli, Morgenausgabe Nr. 1104 das Frauenstudium. In: Waltraud Heindl, Marina Tichy (Hg.), (1943) 2: Sie sollte später das Landgut in Dubki übernehmen. "Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück …" Frauen an der Uni- 32 Abeljanz-Schlikow, Von der Moskwa zur Limmat. IV. Die Reise versität Wien (ab 1897). (Schriftenreihe des Universitätsarchivs, nach Zürich. In: „Sie und Er“, 13. Mai 1954, 36. Universität Wien 5, Wien 1990) 49–78, hier 51. 33 Abeljanz-Schlikow, Von der Moskwa zur Limmat. VI. Auf der 61 Friedrich, “Ein Paradies ist uns verschlossen...”, 135. schwarzen Liste. In: „Sie und Er“, 27. Mai 1954, 31–33, hier 31. 62 Matrikeledition der Universität Zürich, Wintersemester 1872, Mat- 34 Ebd., 32. rikelnummer 4383. 35 Schlikoff, Wie ich zum Studium nach Zürich kam. In: Schweizeri- 63 Siehe Agnes Bluhm, Leben und Streben der Studentinnen in Zü- scher Verband der Akademikerinnen (Hg.), Das Frauenstudium rich. Vortrag, gehalten am 1. März 1890 in Wien. In: Jahresbericht an den Schweizer Hochschulen, 61. des Vereines für erweiterte Frauenbildung in Wien 2 (1890) 16– 36 Kerschbaumer, Autobiographische Skizze. In: Jahresbericht des 27, hier 26: Bluhm war überzeugt, dass Frauen ihre „idealen Zie- Vereins für erweiterte Frauenbildung in Wien 8 (1896) 44. le“ erreichen könnten, wenn es ihnen gelänge, sich von der tradi- 37 Schlikoff, Wie ich zum Studium nach Zürich kam. In: Schweizeri- tionellen Mädchenerziehung zu lösen und selbstbewusst aufzu- scher Verband der Akademikerinnen (Hg.), Das Frauenstudium treten. an den Schweizer Hochschulen, 62. 64 Carl Bernhard Brühl, „Einiges über die Gaben der Natur an die 38 Matrikeledition der Universität Zürich, Wintersemester 1872, Mat- Frau und die Consequenzen hieraus für Bedeutung, Stellung, rikelnummer 4383. Aufgaben und Rechte der Frau in der menschlichen 39 Matrikeledition der Universität Zürich, Sommersemester 1872, Gesellschaft“. Ein von Gehirn-Demonstrationen begleiteter Matrikelnummer 4121. Vortrag, gehalten am 30. Mai 1892 im „Vereine für erweiterte 40 Abeljanz-Schlikow, Von der Moskwa zur Limmat. VII. Ich bin Dr. Frauenbildung in Wien“. Separat-Abdruck aus dem Jahres- med. In: „Sie und Er“, 3. Juni 1954, 31–33, hier 31. Berichte des genannten Vereines für 1892 (Wien 1893) 26. 41 Matrikeledition der Universität Zürich, Wintersemester 1872, Mat- 65 Marcella Stern, Gabriele Possanner von Ehrenthal, die erste an rikelnummer 4383. der Universität Wien promovierte Frau. In: Heindl, Tichy (Hg.), 42 Kerschbaumer, Autobiographische Skizze. In: Jahresbericht des "Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück …", 189–219, hier 201. Vereins für erweiterte Frauenbildung in Wien 8 (1896) 45. 66 Jahresbericht. In: Jahresbericht des Vereins für erweiterte Frau- 43 Matrikeledition der Universität Zürich, Sommersemester 1872, enbildung in Wien 6 (1894) 3–8, hier 4. Matrikelnummer 4121. 67 Eduard Albert, Die Frauen und das Studium der Medizin (Wien 44 Abeljanz-Schlikow, Von der Moskwa zur Limmat. VII. Ich bin Dr. 1895) 14. med. In: „Sie und Er“, 3. Juni 1954, 33. 68 Ebd. 7. Siehe Regula Julia Leemann, Chancenungleichheiten im 45 Eine Jubilarin. In: Neue Zürcher Zeitung vom 15. Juli, Morgen- Wissenschaftssystem. Wie Geschlecht und soziale Herkunft Kar- ausgabe Nr. 1104 (1943), 2. rieren beeinflussen (Zürich 2002) 42: Die „Kinderfrage“ werde 46 Matrikeledition der Universität Zürich, Sommersemester 1872, besonders in jenen Männerberufen diskutiert, „in denen das doing Matrikelnummer 4121. gender Teil des professionellen Handelns“ sei. Siehe weiter 47 Abeljanz-Schlikow, Von der Moskwa zur Limmat. VII. Ich bin Dr. Michaela Raggam, Jüdische Studentinnen an der medizinischen med. In: „Sie und Er“, 3. Juni 1954, 33. Siehe Die ältesten Fakultät in Wien. In: Bolognese-Leuchtenmüller, Horn (Hg.), Staatsbürger. In: Volksrecht. Sozialdemokratisches Volksblatt. Of- Töchter des Hippokrates, 139–156, hier 140: Raggam bezeichnet fizielles Organ der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz und Alberts Broschüre als „Pamphlet“, welches als „Kompendium des des Kantons Zürich 51, 46 (1948) 8, wo „Schlikow Virginia, Dr. Antifeminismus zweifelhafte Berühmtheit“ erreicht habe. med., Zürich 7, Heliosstraße 6“, in der Liste der „zehn ältesten 69 Albert, Frauen und das Studium der Medizin, 23 f. Siehe Gabriele Stadtbürgerinnen“ angeführt wird. Siehe weiter Matrikeledition Junginger (Hg.), Maria Gräfin von Linden. Erinnerungen der ers- ten Tübinger Studentin (Tübingen 1991) 98: „Schon in den Ver-

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sen, die von Mitschülerinnen, Lehrern und Lehrerinnen in mein 87 Bandhauer-Schöffmann, Frauenbewegung und Studentinnen. In: Stammbuch eingetragen worden waren, hatten sich die ver- Heindl, Tichy (Hg.), „Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück …", schiedensten Meinungen Bahn gebrochen. Die Frau war eben für 56. die Mehrzahl der Menschen noch ausschließlich die himmlische 88 Ebd., 61. Rosenflechterin.“ 89 Matrikeledition der Universität Zürich, Wintersemester 1872, Mat- 70 Albert, Die Frauen und das Studium der Medizin, 32. rikelnummer 4383. 71 Claudia Huerkamp, Bildungsbürgerinnen. Frauen im Studium und 90 Siehe Rosa Kerschbaumer, Das Sarkom des Auges. Mit einem in akademischen Berufen 1900–1945 (Bürgertum, Beiträge zur Vorwort von Hubert Sattler (Wiesbaden 1900). europäischen Gesellschaftsgeschichte 10, Göttingen 1996) 246. 91 Kerschbaumer, Autobiographische Skizze. In: Jahresbericht des Siehe Michaela Raggam-Blesch, Der „fehlende Ort”. Frauenbe- Vereins für erweiterte Frauenbildung in Wien 8 (1896) 45. wegte Jüdinnen zwischen Antisemitismus und Antifeminismus im 92 Abeljanz-Schlikow, Von der Moskwa zur Limmat. VII. Ich bin Dr. Wien der Jahrhundertwende. In: Ariadne. Forum für Frauen- und med. In: „Sie und Er“, 3. Juni 1954, 33. Geschlechtergeschichte. Gegen-Bewegung der Moderne. Ver- 93 Matrikeledition der Universität Zürich, Wintersemester 1872, Mat- bindungen von Antifeminismus, Antisemitismus und Emanzipation rikelnummer 4383. Siehe Sabine Veits-Falk, Dr. Rosa Kersch- um 1900, 43 (2003) 14–21, hier 14: Der antiemanzipatorische baumer-Putjata (1851–1923). Biographische Forschungen über Diskurs sei verantwortlich, dass Frauen die berufliche Gleichstel- eine Augenärztin in Österreich, Russland und Amerika. Tagungs- lung verwehrt wurde. Die „Emanzipationsgegner“ bemühten sich berichte. XX. Internationales Treffen der Ophthalmohistoriker (Teil jedoch vergebens, die für sie bedrohlich wirkende Veränderung 1). Jahrestagung der Julius Hirschberg-Gesellschaft in Straßburg. der Gesellschaft anzuhalten. In: Der Augenspiegel. Zeitschrift für Klinik und Praxis 1 (2007), 72 Kerschbaumer, Professor Albert und die weiblichen Aerzte. In: online unter: http://www.augenspiegel.com/ Neue Revue 6, 44 (1895) 1. zeitschrift.php/auge/blog/xx-internationales-treffen-der-ophthalmo 73 Siehe Burchardt, „Schwestern reicht die Hand zum Bunde“? In: historiker1/ (26. September 2007): „Die rastlose Ärztin“ arbeitete Dickmann, Schöck-Quinteros (Hg.), Barrieren und Karrieren, 294: ab 1915 am Good Samaritan Hospital in Los Angeles. Als sich eine Gruppe dieser Medizinerinnen nachweislich an der 94 Stern, Gabriele Possanner von Ehrenthal. In: Heindl, Tichy ((Hg.), Ermordung des russischen Zaren 1881 beteiligte, wurden Frauen "Durch Erkenntnis zu Freiheit und Glück …", 202. vom Medizinstudium an der militär-medizinischen Akademie in St. 95 Gertrud Simon, „Durch eisernen Fleiß und rastloses, aufreiben- Petersburg ausgeschlossen. Eine zweite Emigrationswelle russi- des Studium“. Die Anfänge des Frauenstudiums in Österreich. scher Studentinnen ins Ausland folgte. Pionierinnen an der Universität Wien und Graz. In: Brehmer, Si- 74 Kerschbaumer, Professor Albert und die weiblichen Aerzte. In: mon (Hg.), Geschichte der Frauenbildung, 205–219, hier 210. Neue Revue 6, 44 (1895) 2. 96 Sonja Horn, Gabriele Dorffner, „... männliches Geschlecht ist für 75 Ebd., 4. die Zulassung zur Habilitation nicht vorgesehen“. Die ersten an 76 Ebd., 9. der medizinischen Fakultät der Universität Wien habilitierten 77 Ebd., 10. Frauen. In: Bolognese-Leuchtenmüller, Horn (Hg.), Töchter des 78 Emanuel Hannak, Prof. E. Alberts Essay. Die Frauen und das Hippokrates, 117–138, hier 119. Studium der Medicin, kritisch beleuchtet (Wien 1895) 39. 97 Ebd., 124. 79 Helene Lange, Professor Albert und das medizinische Studium 98 Siehe Michael Hubenstorf, Vom Erfolg und Tragik einer Medizin- der Frauen. In: Die Frau 2 (1894/95) 145–148, hier 145. historikerin: Erna Lesky (1911–1986). In: Christoph Meinel, Moni- 80 Ebd., 147. ka Renneberg (Hg.), Geschlechterverhältnisse in Medizin, Natur- 81 Ernst Moriz Kronfeld, Die Frauen und die Medicin. Professor Al- wissenschaft und Technik. Im Auftrag des Vorstandes der Deut- bert zur Antwort. Zugleich eine Darstellung der ganzen Frage schen Gesellschaft für Geschichte der Medizin, Naturwissen- (Wien 1895). schaft und Technik (Bassum-Stuttgart 1996) 98–109, hier 102. 82 Lange, Professor Albert. In: Die Frau 2 (1894/95) 148. 99 Albert, Die Frauen und das Studium der Medizin, 32. 83 Gutachten der Akademischen Senate österreichischer Universitä- 100 Hofer, Schwachstellen der männlichen Abwehrfront. In: Horn, A- ten zum Frauenstudium (1895). Zit. in: Adolf Merkl, Grundzüge rias (Hg.), Medizinerinnen, 48. des österreichischen Hochschulrechtes. In: Österreichische Zeit- 101 Johanna Bleker, Frauen in der Wissenschaft als Gegenstand der schrift für öffentliches Recht 12 (1962) 279. Fortschrittsgeschichte. In: Johanna Bleker (Hg.), Der Eintritt der 84 Marina Tichy, Die geschlechtliche Un-Ordnung. Facetten des Wi- Frauen in die Gelehrtenrepublik. Zur Geschlechterfrage im aka- derstands gegen das Frauenstudium von 1870 bis zur Jahrhun- demischen Selbstverständnis und in der wissenschaftlichen Pra- dertwende. In: Heindl, Tichy (Hg.), "Durch Erkenntnis zu Freiheit xis am Anfang des 20. Jahrhunderts (Abhandlungen zur Ge- und Glück …", 27–48, hier 33. schichte der Medizin und der Naturwissenschaften 84, Hussum 85 Ebd., 29 f. 1998) 10. 86 Der Lehrerinnen-Wart. Monatsblatt für die Interessen des Lehre- 102 Ingrid Arias, Die ersten Ärztinnen in Wien. Ärztliche Karrieren von rinnenthumes 2, 1 (1890) 30. Frauen zwischen 1900 und 1938. In: Bolognese-Leuchtenmüller, Horn (Hg.), Töchter des Hippokrates, 55–78, hier 56.

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BRIGITTE DORFER „SO ANSCHEINEND TRAGÖDIENLOS.“1 DAS LEBEN VON MARTHA TAUSK

Martha Tausk2 ist eine der – wie so viele andere auch – nichts mehr im Wege stand. Vergessenen, eine Pionierin der Sozialdemokratie, eine Martha und Victor zogen nach ihrer Hochzeit nach Ko- Verfechterin der Frauenrechte und eine Frau, die in ihrer tor/Cattaro. Victor musste seine Abschlussprüfungen an der Zeit und unter den bestehenden Bedingungen eine große Universität Sarajevo, die etwa 250 Kilometer entfernt lag, Karriere gemacht hat. Und trotzdem wurde sie vergessen. absolvieren. Vermutlich um den Skandal zu vermeiden, Martha Tausk wurde am 15. Jänner 1881 als Martha dass Martha schon schwanger war, bevor sie heirateten, Frisch geboren. Sie stammte aus einem bürgerlichen, sozi- zogen sie es vor, so abseits zu wohnen. Das erste Kind von aldemokratisch orientierten Elternhaus. Der Vater betrieb Martha und Victor starb bei der Geburt. Martha wollte zu- die Druckerei Frisch in Wien, war Mitbegründer der „Arbei- rück nach Wien, sie blieb einige Wochen dort, um sich zu terzeitung“ (1889) und hatte sehr gute Kontakte zu den füh- erholen und kehrte zurück zu Victor. Beide lebten daraufhin renden Sozialdemokraten der Zeit. Die Mutter, Anna Klu- in Sarajevo und dort wurde im Februar 1902 ihr erster hova, engagierte sich im „Allgemeinen Österreichischen Sohn, Marius; geboren. Frauenverein“ und arbeitete in der Druckerei mit. Beide El- Im Jahr darauf kam ihr zweiter Sohn Victor Hugo zur tern waren Migranten aus dem Osten. Der Vater, jüdischer Welt. Die Differenzen zwischen Victor und seinem Schwie- Herkunft, kam aus Galizien nach Wien. Er war der jüngste gervater Moritz ließen sich nicht vermeiden. Victor war un- Sohn nach dreizehn Schwestern, Geld für ein Studium gab zufrieden mit seinen beruflichen Aufgaben – er wollte ei- es keines und so ging er nach Wien, um sich dort sein Le- gentlich immer schon Medizin studieren, doch dafür reichte ben aufzubauen. Die Mutter war katholisch getauft und kam das Geld nicht – und vor allem kam es immer wieder zu wegen der großen Hungersnot 1866 aus Böhmen in diese Streitereien wegen der 300 Kronen Heiratsgut, die Martha Stadt. Martha hatte zwei Brüder, einen älteren, Justinian, monatlich bekam. Für Martha war diese Situation äußerst Jutz genannt, und einen jüngeren, Hugo. Mit Jutz war sie ihr belastend und ihre Ehe stand auf einer schweren Probe. ganzes Leben lang sehr innig verbunden. Marthas Wunsch, nach Wien zurückzukehren, wurde Martha war eine eifrige Schülerin und sehr wissbegierig. größer. Sie fühlte sich isoliert und ausgeschlossen von al- Ihre Eltern unterstützten Marthas Bestreben. Nach der lem und ihr fehlte ein inspirierendes Umfeld, das sie in Wien Volks- und Bürgerschule besuchte sie ein Jahr lang die Hö- gewohnt war. Der einzige Lichtblick in diesen Jahren war here-Töchter-Schule des Institutes Gunesch, brach diese die beginnende Freundschaft mit Zofka Kveder. Zofka Ausbildung aber ab, weil sie das „affektierte Ganserlgetue“3 Kveder war nur wenig älter als Martha, stammte aus Ljubl- ihrer Mitschülerinnen widerwärtig fand. Martha Frisch ab- jana und lebte zum Zeitpunkt ihrer Begegnung in Prag, wo solvierte im Anschluss daran die Handelsschule, in der sie sie als Journalistin arbeitete. Sie hatte sich in ihren jungen zur guten Buchhalterin ausgebildet wurde. Jahren schon einen Namen als Schriftstellerin gemacht. Ihr Über all die Jahre bekam sie Privatunterricht, unter an- erstes Buch „Misterij zene“ (Mysterium der Frau) erschien derem von Marianne Fickert und ihrer Schwester Auguste, 1900 und beschrieb die Situation der Frauen im slawischen die – obwohl bürgerlich – sich auch im Arbeiterinnen- Süden, die rechtlos waren und als Opfer der gesellschaftli- Bildungsverein engagierte. Nach Beendigung ihrer Schul- chen Umstände lebten. Das Buch war sehr radikal für diese jahre besuchte sie gemeinsam mit Gisela Meitner, der ältes- Zeit und hatte ihr viel Lob, aber auch viel Kritik eingebracht. ten Schwester der späteren Physikerin Lise Meitner, einen Martha war beeindruckt von Zofka, sie beschrieb sie so: privaten Gymnasialkurs. Martha beendete diesen Kurs nicht „[…] groß, schlank, schön – trotz der Augengläser – ju- mehr, sie heiratete zuvor. gendfrisch in Blick, Farben und Bewegungen, lebenssprü- Ihren Mann, Victor Tausk, lernte sie durch ihren Bruder hend und herzenwerbend und herzengewinnend, nicht nur Jutz kennen. Beide studierten Jus an der Universität in bei Männern, bei Frauen und Mädchen, bei allem, was Wien. Martha war 17 Jahre, alt als sie die Bekanntschaft ‚Seele’ hat. […] So viel Mut haben wie Zofka! So warmher- von Victor machte. Victor war in der Slowakei geboren wor- zig und lebenssprühend sein wie Zofka! Was sie alles er- den, später übersiedelten seine Eltern nach Agram/. zählte!“5 Für Wiener Maßstäbe war er ein „grober Provinzler“4 und Martha empfand sich als Gegenteil von Zofka, sie war die Eltern Marthas waren überhaupt nicht angetan vom zu- müde, kraft- und mutlos und enttäuscht von ihrem Eheall- künftigen Mann ihrer einzigen Tochter. Da Martha zum tag, dem sie sich immer weniger gewachsen fühlte. Zeitpunkt ihrer Hochzeit 1900 noch minderjährig war, muss- Im Jahr 1905 entschieden sich Martha und Victor, zu- ten die Eltern ihre Zustimmung erteilen, außerdem bekam rück nach Wien zu gehen. Dass sich ab diesem Zeitpunkt sie ein Heiratsgut von 20.000 Kronen zugesprochen, das in ihre Lebenswege trennen würden, war beiden klar. Martha Monatsraten zu je 300 Kronen ausbezahlt werden sollte. Da zog mit ihren Söhnen in eine kleine Wohnung, konnte noch Martha katholisch getauft war, Victor jedoch jüdischer Her- einige Zeit von den monatlichen 300 Kronen leben und ar- kunft war, ließ sich Victor taufen, damit der Heirat nun beitete später in der Druckerei des Vaters als Buchhalterin.

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Auch wenn sie mit viel weniger Geld auskommen musste, asonen. Aber auch Marthas kurze Liebelei am Beginn ihrer war sie überglücklich, in Wien sein zu können. Ehe mit Josef Wilfan wurde erwähnt. Wilfan war ein Studi- Victor versuchte sich da und dort mit journalistischen enkollege Victors und ganz anders in seinem Temperament Arbeiten über Wasser zu halten. Um für seine Söhne zu be- – er war ruhig, zurückhaltend, nach innen gekehrt. Seinen zahlen, fehlte ihm das Geld. Er entschied sich, nach Berlin Namen erwähnte Martha immer wieder in Briefen und in zu gehen, aber auch dort plagten ihn Existenzängste, denn den schwierigen Jahren, in denen sie gezwungen war, ein eine fixe Stelle war nicht zu finden. Der Kontakt zu Martha Pseudonym zu verwenden, nannte sie sich Marianne Wil- und den Kindern war ihm wichtig und wenn er in Wien war, finger, wohl in Anlehnung an diese große Liebe. wollte er sie unbedingt treffen. Victor war endgültig wieder nach Wien zurückgekehrt Victor hatte in all den Jahren immer wieder Beziehun- und begann Medizin zu studieren. Das war ein lang geheg- gen zu anderen Frauen, Martha äußerte sich kaum dazu, ter Traum von ihm, seine Eltern konnten sich jedoch eine so für sie hatte ein ganz anderes Leben begonnen. Eine der teure Ausbildung nicht leisten. Er nahm Kontakt mit Sig- Frauen Victors, die auch Marthas Leben beeinflusste, war mund Freud auf und war bald Teilnehmer an den Mitt- Grete Meisel-Hess. Sie hatte eine für ihre Zeit sehr gute wochabenden der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Ausbildung und studierte als Gasthörerin der Universität Für sein Studium kamen Paul Federn, Eduard Hitschmann, Wien Philosophie, Soziologie und Biologie. Seit 1902 trat Ludwig Jekels, Max Steiner und Freud auf. Von seinem be- sie als Schriftstellerin an die Öffentlichkeit, unter anderem scheidenen Studentenetat blieb nichts für die Kinder übrig. auch mit dem Buch „Weiberhaß und Weiberverachtung“, ei- Im Jahr 1938 – lange nach dem Tod Victor Tausks – be- ner Abhandlung zu Otto Weiningers frauenfeindlichen The- zahlte sein ältester Sohn die Gelder an jene Unterstützer sen. Grete Meisel-Hess gehörte zu den wichtigsten Vertre- seines Vaters zurück, die sie dringend für die Emigration terinnen der österreichischen Frauenliteratur um die Jahr- gebraucht hatten. (Freud hatte dankend abgelehnt.) hundertwende. Für ihren Roman „Die Stimme“6, der 1907 Während seines Studiums traf Victor sich immer Sonn- erstmals erschien, nahm sie Victor und Martha als Vorlagen tag Nachmittag mit seinen Söhnen. Für Martha war das Le- für die Figuren Dimitri und Helene. ben nicht einfacher. Ihre finanzielle Lage wurde schwieriger. Die Erzählerin Maja Hertz lässt ihr Leben Revue passie- Aber sie fasste einen für ihr Leben äußerst wichtigen Ent- ren und erkennt, dass ihr Leben geprägt ist durch die Funk- schluss. Auf Anraten Otto Bauers, einem Freund ihres Va- tionalisierung und Vereinnahmung von Männern. Ihr zweiter ters, trat sie 1911 in die Sozialdemokratische Partei ein. Sie Ehemann Dimitri, ein Dichter, „[…] kannte kein anderes profilierte sich als Rednerin in der Partei und war eine en- Thema, als den Abgrund des Subjektes. […] Er bohrte in gagierte Mitarbeiterin und Verfechterin für Frauenrechte, in der Seele, daß keine Faser daran heil blieb. … Der Abgrund den ersten Jahren vor allem für die Erlangung des Frauen- des Subjektes war sein täglicher Hausspaziergang und ich wahlrechts. [Maja Hertz] auf diesem anstrengenden Pfad seine Beglei- Aufgrund der prekären Situation in der Firma ihres Va- terin.“7 ters, musste sie sich eine neue Stelle suchen. Nach dem Dimitri wird als sehr rücksichtsloser Mensch beschrie- Tod ihres Vaters, im Oktober 1913, übernahm zuerst Jutz, ben, der mit Helene eine qualvolle Ehe führte. Die Figur der ihr älterer Bruder, den Betrieb. Aber das Geschäft ging Helene hingegen wird als sehr einfühlsam beschrieben: schlecht und musste bald darauf an neue Eigentümer ver- „Der Blick dieser Augen, unter solcher Stirn, war mir selt- kauft werden. Sie nahm daraufhin verschiedene Stellen als sam und schmerzlich: dieser arme verschreckte Blick. Dop- Buchhalterin an, bis sie ein besseres Angebot aus Ag- pelt bange wirkte er, da er hier an einer Frau von ganz ram/Zagreb erhielt. Dort lebten ihre Schwiegereltern, vor al- selbständiger Persönlichkeit zu finden war, an einer eman- lem mit der Mutter, Emilie, geb. Roth, hatte sie auch nach zipierten eigentlich, nicht etwa an einem hilflosen, schwäch- der Trennung von Victor immer guten Kontakt. Martha lebte lichen, anlehnungsbedürftigen kleinen Frauenzimmer. […] in ihrem Haus und arbeitete viel, oft bis zehn Uhr abends. Ich muß gestehen, dass mir dieses grandiose, dieses abso- Der Realwert ihres Verdienstes sank schneller, als dass die lute Laufenlassen nicht wenig imponierte. So anscheinend Gehaltserhöhungen ausgleichen konnten, so war sie ge- tragödienlos, so ohne Szenen, Tränen, Jammer. Freilich zwungen, noch abends Deutsch-Stunden in der Berlitz sah ich es, in dem Stadium, wo sie, Helene, eben schon da Schule zu geben.10 angelangt war.“8 Die Söhne kamen mit Unterstützung von Victor in ein In- Victor war entrüstet darüber, wie er dargestellt wurde. ternat nach Krumau. Bezahlen jedoch musste Martha, denn Den Kontakt mit Grete Meisel-Hess hatte er schon vor Er- Victor studierte noch. scheinen des Buches abgebrochen. Martha war es vor al- Über all die Jahre hatte Martha sehr viel Kraft aus der lem unangenehm, dass ihr Privatleben an die Öffentlichkeit Freundschaft mit Zofka Kveder geschöpft. Zofka lebte mitt- gelangte. lerweile auch in Agram/Zagreb und arbeitete in der Redak- Im Oktober 1908 wurde die Ehe von Martha und Victor tion des „Agramer Tagblattes“. Martha hatte sich verändert, endgültig geschieden. Dem Gesetz nach konnten sie sich war durch ihre harte Zeit viel stärker geworden, die frühere scheiden lassen, da sie nicht katholisch geheiratet hatten, Bewunderung für Zofka trat in den Hintergrund. sondern evangelisch. Wie es damals üblich war, wurden al- Victor beendete 1914 sein Studium in Wien und eröffne- le „Verfehlungen“ der Eheleute aufgezählt.9 Victors Jähzorn, te seine Praxis. Jedoch musste er bald nach der Eröffnung die schlechte Behandlung von Martha seinerseits, seine Li- einrücken.

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Martha lebte sich gut ein in Zagreb und hielt auch von mit einem Minimum von Neurose aufzutreten. Indessen dort aus intensiven Kontakt zu den SozialdemokratInnen, bleibe ich mit herzlich ergebenen Grüßen Ihr dankschuldi- unter anderem zu Adelheid Popp und Friedrich Adler. Es ger Tausk.“13 war auch Adelheid Popp, die Martha nach Graz zu einer Victor Tausk war mit den Vorbereitungen zu seiner Proberede einlud, um ihr einen Start in der steirischen Poli- Hochzeit beschäftigt, doch dazu kam es nicht mehr. Victor tik zu ermöglichen. Marthas älterer Sohn Marius lebte zu Tausk beging Selbstmord. dieser Zeit schon in Graz, er verließ das Internat in Krumau Martha durfte die Vormundschaft für ihre Söhne nicht und wohnte bei Johann Resel, dem Gründer und ersten übernehmen, Victor bat in seinem Abschiedsbrief Eduard Redakteur des Grazer „Arbeiterwillens“. Martha hatte gro- Hitschmann, Psychoanalytiker aus dem Kreis um Sigmund ßen Erfolg bei ihrer Antrittsrede und wurde im Parteisekre- Freud, die Vormundschaft zu übernehmen. Für Martha tariat angestellt. Gleichzeitig übernahm sie eine Funktion im schrieb er folgendes: „Meine geschiedene Frau Martha Vorstand der Allgemeinen Arbeiter Krankenkasse (heute Tausk, geb. Frisch, Graz (…), die Mitvormund ist, bitte ich Steiermärkische Gebietskrankenkasse). sich in allen Verfügungen des Vormunds zu unterwerfen.“14 Mit Ende des Krieges hatten Frauen nun das erreicht, Für Martha war das wieder einmal eine schwere Zeit. wofür sie so viele Jahre kämpften – das Wahlrecht. Im Feb- Sie war nun Witwe, allein verantwortlich für ihre Söhne und ruar 1919 gab es zum ersten Mal Wahlen in Österreich, an musste sich einem Vormund, den Victor aussuchte, unter- denen Frauen teilnehmen durften und gewählt werden werfen. Und sie wusste ja auch, dass ihre Söhne sehr unter konnten. Martha Tausk war schon Ende 1918 in die provi- dem Tod des Vaters litten. Beide engagierten sich in sozi- sorische Landesversammlung der Steiermark eingezogen, ademokratischen Organisationen und Marius wurde sogar dort war sie als erste (und einige Wochen lang einzige) zum Vertrauensmann. Frau in Österreich vertreten. In ihrer ersten Sitzung als Die langjährige Freundin von Martha, Zofka Kveder, hat- Mandatarin, am 6. November 1918, wurde Martha weder te sich immer mehr zurückgezogen. Zofka war eine begrüßt noch persönlich angesprochen. Der Altersvorsit- schwermütige Frau geworden, hatte sich von den Ideen der zende Franz Wagner begrüßte „(…) die Hochverehrten Her- Sozialdemokratie, die sie zuvor durchaus begrüßte, abge- ren Repräsentanten der neuen Landesregierung“11. Martha wandt und hatte sich durch ihren zweiten Mann, dem Statt- war mit 38 Jahren Mitglied der Landesregierung, engagierte halter Kroatiens, dem Nationalismus zugewandt. sich für eine neue Dienstbotenverordnung, arbeitete im Un- Marthas politische Arbeit war vielfältig, sie setzte sich terrichtsausschuss, in dem sie für die Aufhebung des Ehe- ein für die Einführung der Sozialversicherung. Ein wichtiges verbotes für Lehrerinnen eintrat und war als engagierte Anliegen war ihr – auch auf Grund ihrer persönlichen Erfah- Rednerin gerne eingeladen. Ihre Kinder lebten in Graz und rung –, dass Ehejahre wie Arbeitsjahre versicherungspflich- Victor kehrte nach dem Krieg wieder nach Wien zurück, um tig sein sollten.15 Dieses Anliegen ist übrigens bis heute seine Arbeit wieder aufzunehmen. Doch er hatte nur wenige nicht realisiert. Patienten, konnte kaum etwas für seine Söhne bezahlen Mit einigen ihrer Forderungen war Martha auch inner- und wurde von Freud ziemlich unerwartet zurückgewiesen. halb der SozialdemokratInnen auf großen Widerstand ge- Victor fragte bei Freud an, ob er ihn in Analyse nehmen stoßen. In den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts würde. Freud lehnte ab und empfahl Victor eine Analyse bei hatten sich die SozialdemokratInnen stark gemacht für die Helene Deutsch, was Victor als „fürchterliche Kränkung“12 Änderung des § 144 in Form eines Fristenmodells. Umge- empfand, denn Helene Deutsch war um einiges jünger und setzt wurde diese Forderung bekanntlich erst im Jahre in der Analyse unerfahrener als Victor Tausk und sie war 1975. Die SozialdemokratInnen sahen im § 144 einen eine Frau. Die Analyse dauerte nicht allzu lange, da Helene „Klassenparagrafen“, denn von Kriminalisierung und straf- Deutsch eine Weiterarbeit mit ihm ablehnen musste. Tausk rechtlicher Verfolgung waren vor allem finanziell schlechter arbeitete in der Analyse ausschließlich an seiner Beziehung gestellte Frauen betroffen. Marthas Stellungnahme dazu zu Freud, Helene Deutsch, die bei Freud in Analyse war, löste Empörung aus, ihre Forderung war: „Kein Massenge- redete nur mehr über die Analyse von Victor Tausk. Bis bären zum Massensterben, lieber weniger, aber gesunde Freud Helene Deutsch vor die Wahl stellte, entweder die Kinder.“16 Martha will damit erreichen, „daß die ganzen Be- Analyse mit Tausk zu beenden oder ihre eigene Analyse bei dingungen fallen sollten. Damit meinte sie auch die 3- ihm selbst abzubrechen. Helene Deutsch entschied sich für Monats-Frist, denn es würden sich immer auch nach dieser ersteres. Frist unerwartete Gründe ergeben und Frauen würden sich Am 2. Juli 1919, einem Mittwoch, ließ sich Tausk bei von den Strafen nicht abbringen lassen, einen Schwanger- Freud für das Fernbleiben bei dem Treffen der Wiener Psy- schaftsabbruch zu versuchen.“17 choanalytischen Vereinigung entschuldigen: Auch in der Internationalen Arbeit engagierte sich Martha. „Hochverehrter Herr Professor, ich bitte, mein Fernblei- 1923 wurde sie am Kongress in Hamburg Gründungsmit- ben von der heutigen Sitzung zu entschuldigen. Ich bin mit glied der Sozialistischen Arbeiter-Internationale. Auch dort der Lösung meiner entscheidenden Lebensangelegenheiten wurden ihre Ideen gerne diskutiert, wenn sie auch manches beschäftigt und will mich durch den Kontakt mit Ihnen nicht Mal auf Widerstand stießen. So zum Beispiel Marthas Idee in Versuchung bringen lassen, Ihre Hilfe in Anspruch neh- eines internationalen Austausches von Strafentlassenen, men zu wollen. Ich werde wohl sehr bald wieder die Freiheit denen auf diese Weise ein Neuanfang in einer neuen und haben, mich Ihnen nähern zu können. Ich gedenke, dann unbekannten Umgebung ermöglicht wäre.

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Vor allem die Arbeit für die internationalen Organisatio- enrecht veröffentlicht, so finden sich einige Erzählungen nen weckte Marthas Interesse. von Victor Tausk und Zofka Kveder. Erwähnt sollen hier In diesen Jahren hatte Martha wenig Kontakt mit Zofka auch die Texte von Christine Touaillon23 werden, die im Kveder, sie schrieben sich gelegentlich, bis sich in den „Frauenrecht“ recht regelmäßig erschienen. Touaillon war 20iger Jahren des vorigen Jahrhunderts der Kontakt zwi- Germanistin, die sich 1919 in Graz habilitieren wollte, deren schen beiden Frauen intensiver entwickelte. Zofka hatte ei- Ansuchen jedoch abgelehnt wurde, da die Professoren- nige Selbstmordversuche hinter sich, sie litt an „ruinierten schaft – ausschließlich Männer – die Meinung vertrat, dass Nerven“18 und Martha war sehr besorgt um sie. 1926 kam jungen Männern eine Frau als Lehrende nicht zumutbar wä- Zofka nach Graz, um sich zu erholen. Martha verschaffte ihr re. Touaillon habilitierte sich einige Jahre darauf an der Uni- einen Platz in einem Sanatorium auf der Lassnitzhöhe, versität Wien. doch auch dort veränderte sich ihr Zustand nicht sehr. Im Die Zeitschrift brachte auch Nachrichten aus aller Welt letzten Brief, den Zofka am Tisch in Marthas Wohnung hin- und Stellungnahmen zu verschiedenen gesellschaftlichen terlegt hatte, schrieb sie: „Nun ist meine Sprache arm ge- oder sozialen Fragen. Das „Frauenrecht“ wurde sehr erfolg- worden. […] Du gehörst aber weiteren höheren Zielen der reich verkauft und warf schon im ersten Jahr einen Über- Allgemeinheit.“19 Zofka kehrte verzweifelt nach Ag- schuss von 2000 Franken ab und das alles ohne Inserate.24 ram/Zagreb zurück und starb dort am 21. November. Martha war für die Auswahl der Texte zuständig und lehnte Nach dem Tod Zofkas verfasste Martha einen Text über manches ab, was mit ihren Vorstellungen einer sozialdemo- ihren Lebensweg vom armen slowenischen Dorfmädel, der kratischen Frauenzeitschrift nicht konform ging. Damit han- kühnen Rebellin, der schöpferischen Frau, der anerkannten delte sie sich Konflikte und Querelen ein, aber Martha wollte Schriftstellerin bis hin zur Frau des Statthalters Kroatiens, ihren Prinzipien treu bleiben, so lehnte sie einen Artikel von Juraj Demetrovic. Der Text erschien 1930 in Marthas Er- der Präsidentin der Zentralen Frauen-Agitationskommission zählband „Fernambuk und anderes“20. Martha ging auf Spu- der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz, Rosa Gilo- rensuche nach der wahren Zofka Kveder: men-Hulliger ab, da diese im „Frauenrecht“ mit einem Arti- „Welche ist die wahre Zofka? Die junge, lebensprühen- kel eine Diskussion über Geschmacksfragen auslösen woll- de, kraftvolle Rebellin gegen Kirche und Bürgertum? Oder te. die ermattete, gehetzte, an der Meinung und den Blicken „Lehren, dass sich die Arbeiterfrau kein Seidenkleid eben dieser Bürger leidende, also von ihnen schon abhän- kaufen solle, traue ich mich im ‚Frauenrecht’ nicht zu geben. gige Frau, die ihr Selbstvertrauen verliert, weil sie vor denen Die wirklich proletarischen Frauen haben nicht die Wahl nichts mehr gelten sollte, die ihr früher nichts gegolten ha- zwischen ‚einem Seidenkleid und drei bis vier Wochenend- ben.“21 kleidchen‘ – und den anderen möchte ich die Wahl nicht Für Martha brachten die folgenden Jahre einiges Neu- vorschreiben. Wir bekämen dadurch einen so ungeheuren es. 1927 wurde sie in den Bundesrat entsandt und legte ihr Streit über Geschmacksfragen, dass wir die Abonnentinnen Mandat im steirischen Landtag nieder. Martha war wenig er- des ‚Frauenrechts’ dezimieren würden.“25 freut über ihr neues Arbeitsgebiet in Wien: „Der Bundesrat Auch die Hinweise zur Verwendung von verschiedenen ist eine ganz sinnlose, überflüssige Körperschaft ohne Exis- Produkten, sah sich Martha genau an, und erlaubte nicht al- tenzberechtigung.“22 Das, was sie nun hatte, war viel freie les, was vorgeschlagen wurde: Zeit, eine Fahrkarte erster Klasse auf allen Bahn- und „Wie ich nun die Rezepte – wegen deren ich Ihnen ja Schifffahrtslinien Österreichs und das Gefühl einer großen blind vertraue – in die Druckerei geben will, bemerke ich Unzufriedenheit. Sie wollte mehr arbeiten, fühlte sich – mit noch einen Haken. ‚Persil’, das ist eine Marke einer privat- 46 Jahren – zu jung, um in einer ihrer Ansicht nach „bedeu- kapitalistischen Firma – nicht besser und nicht schlechter, tungslosen“ Einrichtung wie dem Bundesrat zu sitzen. Aber als andere Erzeugnisse. […] Meines Wissens gibt es auch Martha arbeitete weiterhin in internationalen Vereinigungen, Co-op-Seifenflocken oder eine dem ‚Persil’ gleichwertige es war ihr ein Anliegen, an einer Einigung der durch den Kaltwasserseife.“26 Krieg gespaltenen Arbeiterbewegung mitzuarbeiten. Am In- Die Querelen und Auseinandersetzungen belasteten ternationalen Kongress in Brüssel 1928 scheiterte die ge- Martha sehr. Ihr wurde vorgeworfen, dass das Blatt zu in- wünschte Einigung. Für Martha allerdings war dieser Kon- ternational sei und dass sie zu viele Artikel von Schweizer gress einer, der wieder einmal Neues in ihr Leben brachte. Genossinnen ablehne. Hinzu kam noch, dass es mit dem Martha wird von Friedrich Adler als internationale Frauen- Umsturz in Deutschland 1933, dem Bürgerkrieg in Öster- sekretärin nach Zürich ins Sekretariat der Sozialistischen reich 1934 und der Diktatur Mussolinis in Italien 1926 für Arbeiter Internationale (SAI) berufen. Sie wurde Mitarbeite- VertreterInnen der Internationalen gefährlich war, ihre Mei- rin von Friedrich Adler und hatte eine große Aufgabe in der nung öffentlich zu vertreten. Innerhalb der Schweizer Be- Schweiz vor sich. Martha wurde zur Herausgeberin der ers- hörden wurde Martha beobachtet und schon im Jahr 1931 ten Zeitschrift für die Schweizer Arbeiterin. Im Jänner 1929 gewarnt, dass sie kritische Artikel gegenüber schweizeri- erschien die erste Nummer des „Frauenrechts“. Martha schen Belangen nicht mit ihren Initialen kennzeichnen soll- schrieb zu verschiedenen Themen, so zum Beispiel zu den te. Martha zeichnete von da an einige Artikel auch in ande- Bestrafungen der Schwangerschaftsunterbrechung, dem ren Zeitungen und Zeitschriften, in denen sie veröffentlichte, Frauenwahlrecht, das ja 1929 in der Schweiz noch immer unter ihrem Pseudonym Marianne Wilfinger. Den Namen nicht durchgesetzt war. Auch Literarisches wurde im Frau- Wilfinger wählte sie in Erinnerung an Josef Wilfan, den von

60 BRIGITTE DORFER IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 ihr so sehr geliebten Studienkollegen ihres Mannes, mit sprechen und schreiben einfach und anstaendig und Nazis dem sie eine kurze Affäre verband. schreiben und reden Nazideutsch, eine Art Verbrecherjar- 1934 entschied sich Martha, nach Österreich zurückzu- gon mit wissenschaftlich klingen sollenden undeutschen gehen, dass sie dort nicht lange bleiben kann, war ihr klar. (WAS IST DAS?) Worten[…]’ […] Ehrlich gestanden, es ist Bis zu ihrer endgültigen Emigration zu ihrem Sohn Marius, ein wenig deprimierend, dass FAST ALLE FREUNDE SO der in den Niederlanden lebte, blieb sie in Wien. Über diese REAGIEREN; WIE DU. […] Du bist anderer Meinung, scha- Jahre schrieb sie: „Mich hat dieser österreichische Bürger- de. Ich erklaere das aus dem deutschen Klima … sei nicht krieg gebrochen. […] Alle Worte müssen doch jetzt den ir- boes darueber.“29 gendwie hart Betroffenen, aus der Bahn Geschleuderten, Als Martha diesen Brief erhielt, war Otto Neurath schon Entwurzelten, Verwundeten (an Leib und Seele), den Ge- verstorben. Mit Friedrich Adler fand sie sich in dieser Debat- fangenen oder den Witwen der Geopferten schal und ver- te um die deutsche Sprache auf einer Linie und sie teilte mit phrast klingen. Ich habe lange gebraucht, bis ich ein Wort ihm ihre zutiefst ablehnende Einstellung zu den allgemeinen zu Papier bringen konnte. Das erste war der Artikel über Ressentiments gegenüber Deutschland und Österreich. Paula Wallisch.“27 Im Jahr 1946 flog Martha zu ihrem Sohn Hugo nach Marthas jüngeren Sohn Hugo und seiner Familie gelang Brasilien. Es war die erste Flugreise, die sie unternahm und 1938 die Ausreise nach Brasilien. In Wien lebte Martha als die sie in einigen Artikeln anschaulich schilderte.30 In Brasi- Rentnerin, mehr schlecht als Recht. Sie bekam eine kleine lien war Martha ein gern gesehener Gast in EmigrantInnen- Pension aus Österreich und lernte eifrig Niederländisch, da kreisen, sie wurde oft eingeladen und ihre politische Ein- sie ja zu Marius nach Nijmegen gehen wollte. Mit Hilfe ge- schätzung, was die Zukunft Europas betraf, hatte großen fälschter Unterlagen konnte Martha 1939 endlich ausreisen. Wert. Durch einen Autounfall, bei dem ihr Auge verletzt Wegen der jüdischen Herkunft ihres Vaters hatten ihr die wurde, war sie in den letzten Wochen ihres Aufenthaltes Behörden das Leben schwer gemacht, bis sie „nach man- sehr eingeschränkt. cherlei Abenteuern mit der Gestapo unseligen Andenkens Nach ihrer Rückkehr nach Nijmegen hatte sich ihr Le- und nach zähem, aber erfolglosem Kampf endlich durch ein ben verändert, sie ging weniger aus dem Haus, schrieb we- Hintertürchen gegen ein ‚Douceur’ von 100 RM [Reichs- niger. Einen Artikel schrieb sie noch aus Anlass des 90. mark, B.D.] einen Pass bekam.“28 Geburtstages von Emma Adler, der Mutter Friedrichs. Martha In Nijmegen lebte Martha in einer kleinen Wohnung und lernte Emma Adler erst in ihren Züricher Jahren kennen, verstand sich blendend mit ihrer Nachbarin. Die zwei hatten Emma war damals schon 70 Jahre alt. Sie kam aus reichem auch während der Okkupation durch Nazi-Deutschland im- Haus und war das einzige Mädchen neben fünf Brüdern. mer wieder Untergetauchte in ihrem Haus versteckt. Martha Durch ihren Bruder Heinrich Braun und Victor Adler freun- lernte ausgezeichnet Niederländisch, hatte einen regen dete sie sich mit den Ideen des Sozialismus an. Nach dem Briefkontakt mit Friedrich Adler, Otto Neurath und vielen Tod Victor Adlers, 1918, verfiel sie in schwere Depressio- anderen Sozialdemokratinnen. Ihr Bruder Jutz lebte wäh- nen. rend des Krieges in Schweden, er war verheiratet mit einer „Nach jahrelanger Krankheit, – an die sie übrigens eine Schwester Lise Meitners und sein Sohn, Robert Frisch, war ganz klare Erinnerung hatte und von der sie oft gewisser- ein enger Mitarbeiter der weltbekannten Physikerin gewor- maszen sachlich und ohne Scheu sprach – wird die nun fast den. Martha schrieb zahlreiche Artikel für Zeitungen und Siebzigjährige zum Erstaunen ihrer Aerzte und zur Erlösung Zeitschriften, die nur zum Teil veröffentlicht wurden. Sie ihrer Naechsten gesund und nimmt mit grosser, gleichsam wollte finanziell unabhängig von ihrem Sohn sein, aber von unverbrauchter Energie ihre Arbeit wieder auf.“31 1944 bis in die 50iger Jahre kam keine Pension aus Öster- Emma Adler sammelte Aphorismen, fertigte Überset- reich, so versuchte sie mit dem Schreiben von Artikeln und zungen an, schrieb an ihren Lebenserinnerungen, kochte Übersetzungen etwas zu verdienen. und verfasste Kochbücher und lernte noch 73-jährig Ma- Martha engagierte sich in der Österreichischen Kolonie, schineschreiben. Die Bilder der stürzenden Denkmäler Vic- die die Heimkehr der ÖsterreicherInnen aus den Niederlan- tor Adlers in Wien aus dem Jahr 1934, eines davon aus den unterstützte. Sie vertrat die Provinzen Gelderland und dem Ottakringer Arbeiterheim, auf dem der Kopf am Boden Nord Brabant. Die österreichische Regierung, die Martha liegend zu sehen ist, waren grauenhaft für sie. Martha um tatkräftige, vor allem finanzielle Unterstützung bat, ant- Tausk erinnerte sich: „Da sagt Emma Adler zu mir. ‚Mich wortete nicht auf Marthas Schreiben. schmerzt nichts mehr, es ist alles versteint in mir. Ver- Nach dem Krieg hatte Martha einen großen Disput mit steint!’“32 Der Artikel erschien in der „Arbeiterzeitung“, Otto Neurath, dabei ging es um die Verwendung des Deut- musste aber aufgrund des großen Papiermangels der schen nach dem Zweiten Weltkrieg. Neurath war nach Eng- Nachkriegszeit sehr kurz gefasst sein. land emigriert und vermied die deutsche Sprache soweit als 1952 kam Martha für ein paar Wochen nach Österreich. möglich, weil er, wie er Martha in langen Briefen aufzeigte, Die politischen Entwicklungen in Österreich sah sie sehr davon überzeugt war, dass die deutsche Sprache an sich, skeptisch und sie fand es empörend, dass ehemalige Nazis auch jene der deutschen Klassiker, den Faschismus vorbe- von den SozialdemokratInnen mit offenen Armen aufge- reitet hatte und dass nicht die Nazis allein die Grausamkei- nommen wurden. ten erfunden hätten. “Ich selbst schaue einem Wiedersehen mit Wien und „Gewiss, wie du sagst ‚einfache, anstaendige Menschen Graz mit gemischten Gefühlen entgegen, – aber abgesehen

BRiGITTE DORFER 61 IWK-MITTEILUNGEN 1-2/2008 von den ca. 30% Vorfreude und 20% Neugierde, wird das 20 Martha Tausk, Fernambuk und anderes , Zürich 1930, S. 3 – 22. vermutlich die einzige Möglichkeit sein, zu meiner in Öster- Es ist der einzige Erzählband von Martha Tausk. reich liegenden Pension zu kommen.“33 21 Martha Tausk, Fernambuk und anderes , Zürich 1930, S. 21f. 22 Martha Tausk an Minka und Fran Govekar, Pfingsten 1927 (nuk In Graz traf sie alte Freunde, Genossinnen und Genos- Ljubljana). sen, WeggefährtInnen und endlich wurde ihr ihre Pension 23 Vgl: Hanna Schnedl-Bubenicek, Wissenschafterin auf Umwegen. ausbezahlt. Aber hier in Österreich hielt sie nichts mehr. Christine Touaillon, geb. Auspitz (1878 – 1928). Versuch einer Die einzige Anerkennung, die Martha Tausk für ihre un- Annäherung, in: Wolfgang J. Huber, Rudolf G. Ardelt, Anton ermüdliche Arbeit in der Sozialdemokratischen Partei be- Staudinger (Hrsg), Unterdrückung und Emanzipation. Festschrift kam, erhielt sie 1956. Von ihrer treuen Briefschreiberin, für Erika Weinzierl zum 60. Geburtstag, Wien, Salzburg 1985, S. 69 – 80. Gabriele Proft, die bis 1953 Vorsitzende der SPÖ Frauen 24 Zit. nach: Heinz Mang, Steiermarks Sozialdemokraten im Sturm war, erhielt Martha wie alle Pionierinnen, die schon vor dem der Zeit. Biographien, Daten, Fakten, Wahlergebnisse, Graz Ersten Weltkrieg in der Partei waren, eine Brosche. „Sie 1988, S. 314. wird dir sicher gut gefallen und man kann sie zu allem tra- 25 Martha Tausk an Rosa Gilomen-Hulliger, 20.6.1931 (IISH). gen. Es ist kein ‚Orden’ sondern ein nettes kleines Ge- 26 Martha Tausk an Rosa Gilomen-Hulliger, 20.6.1931 (Nachtrag) schenk, das auch praktisch ist und einem Freude macht. Ich (IISH). 27 Martha Tausk an Oda Olberg-Lerda, 30.4.1934 (IISH). Paula Wal- weiss, auch Du bist nicht für solche Äusserlichkeiten. Doch lisch war die Frau von Kolomann Wallisch, der im Februar 1934 in es ist eine schöne Erinnerung an längst, längst vergangene, Bruck/ Mur standrechtlich hingerichtet wurde. für uns schöne Zeiten.“34 28 Martha Tausk an Ernst Nobs, 20.5.1945 ( IISH). Einige Monate darauf starb Martha Tausk in Nijmegen, 29 Otto Neurath an Martha Tausk, 19.12.1945 (IISH). wo sie auch begraben liegt. 30 Vgl. dazu: Martha Tausk, Im Fluge von Amsterdam nach Brasili- en (Privatarchiv Rob Tausk) und Marianne Wilfinger, Als Gast in Brasilien o.J. (Privatarchiv Rob Tausk). ANMERKUNGEN: 31 Martha Tausk, Emma Adler – zu ihrem 90. Geburtstag, am 20. Mai 1948 (IIHS). 1 Das Zitat stammt aus dem Roman „Die Stimme“ von Grete Meisl- 32 Ebda. Hess. 33 Martha Tausk an Tinno Kahn, 14.3.1952 (IISH). 2 Brigitte Dorfer, Die Lebensreise der Martha Tausk. Sozialdemo- 34 Gabriele Proft an Martha Tausk, 21.3.1956 ((IISH). kratie und Frauenrechte im Brennpunkt. Innsbruck, Wien, Bozen 2008. 3 Wer war Victor Tausk? Ein biographischer Versuch von seinem ABKÜRZUNGEN: Sohn. In: Victor Tausk, Gesammelte psychoanalytische und lite- rarische Schriften. Wien – Berlin 1983, S. 500. IISH: International Institute of Social History, Amsterdam 4 Paul Roazen, Brudertier. Sigmund Freud und Victor Tausk. Die nuk Ljubljana: Narodna in Univerzitetna Knjižnica, Ljubljana (Universi- Geschichte eines Konflikts. Hamburg 2002, S. 20. tätsbibliothek Ljubljana) 5 Martha Tausk, Fernambuk und anderes, Zürich 1930, S. 5ff. 6 Grete Meisel-Hess, Die Stimme. Roman in Blättern, Berlin 1907. 7 Grete Meisel-Hess, Die Stimme. Berlin 1919, S.112f. 8 Ebda, S. 84f. 9 Scheidungsurkunde, 20.10.1908 (Privatarchiv Rob Tausk). 10 Martha Tausk, Autobiografische Notizen, 13.3.1952, S. 6 (Verein der Geschichte der Arbeiterbewegung, Wien). Vgl. dazu auch: Gabriella Hauch, Vom Frauenstandpunkt aus. Frauen im Parla- ment 1919 – 1933, Wien 1995 (Studien zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte 7). 11 Stenographisches Protokoll über die erste Sitzung der steiermär- kischen provisorischen Landesversammlung am 6.11.1918, S. 1 (Landesarchiv Graz). 12 Marius Tausk, Wer war Victor Tausk? Ein biographischer Versuch von seinem Sohn. In: Victor Tausk, Gesammelte psychoanalyti- sche und literarische Schriften. Wien – Berlin 1983, S. 547. 13 Paul Roazen, Brudertier. Sigmund Freud und Victor Tausk. Die Geschichte eines Konflikts. Hamburg 2002, S. 93. 14 Marius Tausk, Wer war Victor Tausk? Ein biographischer Ver- such von seinem Sohn. In: Victor Tausk, Gesammelte psycho- analytische und literarische Schriften. Wien – Berlin 1983, S. 555. 15 U.a. veröffentlicht in: Die Genossin, Informationsblätter der weib- lichen Funktionäre der sozialdemokratischen Partei Deutsch- lands, Nummer 11, Jahrgang 5, November 1928, S. 399ff. 16 Zit. nach: Heinz Mang, Steiermarks Sozialdemokraten im Sturm der Zeit. Biographien, Daten, Fakten, Wahlergebnisse, Graz 1988, S. 313. 17 Gabriella Hauch, Frauen im Parlament I, Linz 1994, S. 372. 18 Zofka Kveder an Martha Tausk, 20.11.1921 (nuk Ljubljana) 19 Zofka Kveder an Martha Tausk, 25.8.1926 (nuk Ljubljana).

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AUTORINNEN

BRIGITTE BISCHOF: Etablierung von Ariadne – frauenspezifische Information Mag.a rer.nat., Physikerin und Wissenschaftshistorikerin, und Dokumentation im Geschäftsgang der Österreichischen gestaltete bereits während des Studiums eine Ausstellung Nationalbibliothek: zu „100 Jahre Frauenstudium an den Physikalischen Institu- http://www.onb.ac.at/ariadne/ueber_ariadne.htm ten der Universität Wien“. In ihrer Diplomarbeit beschäftigte sie sich mit „Frauen am Wiener Institut für Radiumfor- schung“ (Wien 2000). Danach beteiligte sie sich an Projek- CHRISTINE KANZLER: ten zu den Themenkreisen Frauen in den Naturwissen- Dr.in phil., geb. 1955 in Wien, Studium der Theaterwissen- schaften, Physikgeschichte und Wissenschaftsemigration. schaft, Ausbildungslehrgang für Informations- und Doku- Zur Zeit ist sie Mitarbeiterin am IWK. mentationsfachleute im nichtöffentlichen Bereich. For- schungsschwerpunkte: Exilforschung, Biografieforschung. U.a. Sachbearbeiterin der Projekte „ÖsterreicherInnen im CHRISTA BITTERMANN-WILLE: Exil. Eine bio-bibliografische Datenbank“ (2002) und „Öster- Geb. 1955, Dokumentarin, Informationsspezialistin; Eintritt reichisches Exil auf den Philippinen: Auswertung der Teil- in die Österreichische Nationalbibliothek 1973. 1992 Etab- nachlässe von Mona Lisa Steiner, Hans Steiner und There- lierung von Ariadne – frauenspezifische Information und se Lindenberg“ (2003/04) am Dokumentationsarchiv des ös- Dokumentation im Geschäftsgang der Österreichischen Na- terreichischen Widerstands. Verfasserin von Kurzbiografien tionalbibliothek: für das Projekt biografiA am Institut für Wissenschaft und http://www.onb.ac.at/ariadne/ueber_ariadne.htm Kunst und das Österreichische Biographische Lexikon mit dem Schwerpunkt Widerstandskämpferinnen und Wider- standskämpfer. Auch als Erwachsenenbildnerin für Migran- SUSANNE BLUMESBERGER: tinnen und Migranten tätig. Mag.a Dr.in phil. Seit 1999 Mitarbeiterin des Projekts „bio- grafiA. Datenbank und Lexikon österreichischer Frauen“ am IWK, Koordinatorin und Bearbeiterin mehrerer wissen- ILSE KOROTIN: schaftlicher Forschungsprojekte, Vorträge und Tagungen zu Dr.in phil., Studium der Philosophie und Soziologie, Leiterin den Themen: Frauenbiografieforschung – weibliches der „Dokumentationsstelle Frauenforschung“ am Institut für Schreiben – Exil/Emigration – Kinder- und Jugendliteratur – Wissenschaft und Kunst und des Projekts „biografiA. daten- Konstruktion von weiblichem Wissen. Seit 2007 Mitarbeite- bank und lexikon österreichischer frauen“. Forschungs- rin der Universitätsbibliothek Wien. Lehrbeauftragte am schwerpunkte: Nationalsozialismus, Wissenschaftsge- Institut für Germanistik der Universität Wien. 2003 Preis der schichte, Biografieforschung. Buchpublikationen u. a.: (Hg. Theodor-Körner-Stiftung zur Förderung der Wissenschaft, 2004 Förderungspreis für Wissenschaft der Stadt Wien. gem. mit Brigitta Keintzel): Wissenschafterinnen in und aus Publikationen in in- und ausländischen Fachorganen, Her- Österreich. Leben Werk Wirken. Wien: Böhlau 2002. (Hg.) ausgeberin mehrerer Sammelbände, zuletzt „Mimi Gross- Österreichische Bibliothekarinnen auf der Flucht. Verfolgt, berg (1905-1997). Pionierin – Mentorin – Networkerin" verdrängt, vergessen? (= biografiA. Neue Ergebnisse der (=biografiA. Neue Ergebnisse der Frauenbiografiefor- Frauenbiografieforschung Bd. 4), Wien: Praesens 2007. schung, Band 5), Wien: Praesens 2008.

KLARA LÖFFLER: BRIGITTE DORFER: Geb. 1958. 1980 Gesellenprüfung als Tischlerin. Studium Geb. 1964 in Graz, studierte Germanistik und Geschichte. der Volkskunde, Soziologie und Kunstgeschichte in Würz- Sie unterrichtet am Vorstudienlehrgang der Grazer Universi- burg und Regensburg. 1987 Magister Artium, 1996 Dr. täten und ist Lektorin an der Karl-Franzens-Universität rer.soc. Univ. Tübingen. 2001 Habilitation; seit 2001 ao. Graz. Brigitte Dorfer ist Mitbegründerin der Grazer Frauen- Univ.-Prof. am Institut für Europäische Ethnologie der Univ. StadtSpaziergänge und war Mitarbeiterin am Projekt Wien. Fakultätsbeauftragte für Gleichbehandlung. Arbeits- WOMENT! (Europäische Kulturhauptstadt Graz 2003). Ver- schwerpunkte: Biographie und alltägliches Erzählen, Me- öffentlichungen zur Frauengeschichte u. a.: Die Lebensrei- thodik/Methodenkritik und deren Theorie, Demokratisierung se der Martha Tausk Sozialdemokratie und Frauenrechte und Popularisierung von Wissensordnungen, Tourismus- (Studienverlag Innsbruck 2008) und Freizeitforschung, Stadtethnographie.

HELGA HOFMANN-WEINBERGER: KARIN NUSKO: Mag.a., geb. 1949, Dokumentarin, Informationsspezialistin; Mag.a phil., Studium der Volkskunde, Philosophie und Ge- Eintritt in die Österreichische Nationalbibliothek 1987. 1992 schichte, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts „bio-

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grafiA. datenbank und lexikon österreichischer frauen“ am FELICITAS SEEBACHER: Institut für Wissenschaft und Kunst. Derzeit Bearbeitung Mag.a Dr.in, Studium der Geschichte und Pädagogik, wis- des Zukunftsfonds-Projekts „Österreichische Frauen im Wi- senschaftliche Mitarbeiterin der Alpen-Adria-Universität derstand. Biografisches Lexikon und Dokumentation.“ Ver- Klagenfurt, Vortragende bei internationalen „History of Sci- öffentlichungen u.a.: Am Ende des Weges. Letzte Briefe ence“-Kongressen. Forschungsschwerpunkte: Geschichte von hingerichteten österreichischen Widerstandskämpferin- der Medizin, Geschichte der Wiener Medizinischen Schule, nen im Landesgericht Wien (1941-1943), in: Susanne Blu- Universitätsgeschichte. Monographie: „Freiheit der Natur- mesberger (Hg.): Frauen schreiben gegen Hindernisse. forschung!“ Carl Freiherr von Rokitansky und die Wiener Wien 2004. Medizinische Schule: Wissenschaft und Politik im Konflikt. (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Mathema- tisch-Naturwissenschaftliche Klasse. Veröffentlichungen der INGRID ROITNER: Kommission für Geschichte der Naturwissenschaften, Ma- Studium der Geschichte und Evang. Theologie; seit 2002 thematik und Medizin 56, Wien 2006). freie Mitarbeiterin von biografiA (Schwerpunkt: Mittelalter / Frühe Neuzeit); Publikationen u. a.: verschiedene Artikel zum Admonter Frauenkloster im 12. Jahrhundert, zuletzt: EDITH STUMPF-FISCHER: Sorores inclusae. Bistumspolitik und Klosterreform im Geist Dr. phil., Bibliothekarin, bis 1995 Leiterin der Abteilung für von Cluny/Hirsau in der Diözese Salzburg, in: Revue Mabil- wissenschaftliches Bibliotheks-, Dokumentations- und In- lon, N. S. 18 (2007), S. 73-131. formationswesen im Wissenschaftsministerium; Publikatio- nen zu Themen des Informationswesens sowie über Frauen im Buch- und Bibliothekswesen.

Praesens Verlag Literaturwissenschaft | Sprachwissenschaft | Musikwissenschaft | Kulturwissenschaft http://www.praesens.at

Susanne Blumesberger (Hg.)

HELENE SCHEU-RIESZ (1880-1970) Eine Frau zwischen den Welten

(= biografiA – Neue Ergebnisse der Frauenbiografieforschung, hg. v. Ilse Korotin, Band 1)

2005, ISBN 3-7069-0299-0, 121 S., 20 x 13 cm, geb., mit SW- Abb. Euro [A] 20,00; Euro [D] 19,50

Die Schriftstellerin, Verlegerin, Herausgeberin und Journalistin Helene Scheu-Riesz stammte aus einer politisch aktiven Fami- lie, sie selbst engagierte sich in der Frauenbewegung, schuf Leseräume für arme Kinder und beschäftigte sich mit sozialen Fragen. Ein besonders wichtiges Anliegen war ihr das Veröf- fentlichen von preiswerten Kinder- und Jugendbüchern, eine hoch qualitative und dabei für alle erschwingliche Universal- bibliothek für Kinder war ihr Ziel. Ab 1910 gab sie die „Kone- gens Kinderbücher“ heraus. 1923 gründete sie den Sesam Verlag, um die besten Werke der Weltliteratur für Jugendliche preiswert veröffentlichen zu können. Im Exil in New York grün- dete sie die Island Press. 1954 wieder in Wien, setzte sie sich aktiv mit Schulfragen auseinander, schuf Nacherzählungen von Märchen und übersetzte Kinderbücher aus dem Engli- schen. Bis zu ihrem Tod lebte sie in dem von Adolf Loos für die Familie gebauten „Scheu-Haus“ in Hietzing.

MITTEILUNGEN DES INSTITUTS FÜR WISSENSCHAFT UND KUNST 1–2/2008, EURO 12,50

P.b.b. GZ 02Z030331M Erscheinungsort Wien Verlagspostamt 1090 Wien