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GEORGIA UGUSTA Wissenschaftsmagazin A der Georg-August-Universität Göttingen

ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL Ausgabe 6 · Dezember 2008 Herausgegeben vom Präsidenten der Universität in Zusammenarbeit mit dem Universitätsbund Göttingen GEORG-AUGUST-UNIVERSITÄT GÖTTINGEN

Alumni Göttingen Internationale Alumni-Vereinigung

Alumni Göttingen Internationale Alumni-Vereinigung Georg-August-Universität Göttingen Postanschrift Alumni Göttingen Georg-August-Universität Göttingen Wilhelmsplatz 1 · 37073 Göttingen Alumni Göttingen ist das internatio- Internet nale Netzwerk von Ehemaligen, www.alumni.uni-goettingen.de Absolventen und Studierenden al- ler Fachrichtungen, Wissenschaft- Alumni-Büro Bernd Hackstette · Geschäftsführer Alumni Göttingen e.V. lern, Mitarbeitern sowie Freunden Tel. 0551 / 39 13276 · Fax 0551 / 39 185380 und Förderern der Universität Göt- [email protected] tingen. Dieses Netzwerk wird ge- Susanne Schmidt · Sekretariat tragen von dem gemeinnützigen Tel. 0551 / 39 5380 · Fax 0551 / 39 185380 Verein Alumni Göttingen e.V., der [email protected] im Jahr 2001 gegründet wurde. Der Verein zählt inzwischen mehr als 3.000 Mitglieder und ermög- licht die kontinuierliche und le- bendige Teilhabe und das aktive Mitwirken an der Entwicklung der Georgia Augusta. EDITORIAL

Zahlen, Formeln, ungelöste Rätsel

Die Mathematik nimmt im System matik und von Göttingen als der der Wissenschaften eine »schil- Wiege der modernen Naturwis- lernde Stellung« ein, wie der Göt- senschaften. Die beeindruckende tinger Mathematiker es Ahnengalerie wird angeführt von einmal formulierte. Die von Carl Gauß, der über ein halbes Jahr- Friedrich Gauß als »Königin der hundert in Göttingen lebte und Wissenschaften« titulierte Mathe- forschte. Sein Wirken verhalf der matik gehört nicht zu den Natur- Disziplin und ihren Anwendungen wissenschaften, da sie keine empi- an der Göttinger Universität zu ei- rische Wissenschaft ist. Zugleich ner herausragenden Stellung, die wäre es jedoch, so einer der Auto- in den nachfolgenden Jahren durch Disziplinen vorstellen. Am Ende ren in diesem Forschungsmaga- Dirichlet, Riemann, Klein und wollen wir erlebbar machen, was zin, »gewaltsam«, sie den Geistes- Hilbert weiter ausgebaut wurde. über seine Wissen- wissenschaften zuzuordnen. Sie Auf dieser Grundlage konnte in schaft gesagt hat: »Die Mathema- sei weder eine Buchwissenschaft, der Verknüpfung von Mathematik tik ist das Instrument, welches die noch befasse sie sich mit dem mit Chemie und Physik entstehen, Vermittlung bewirkt zwischen Menschen und dessen Kulturleis- was als Göttinger Nobelpreiswun- Theorie und Praxis, zwischen tungen. Andererseits stellt sie je- der bis heute das Ansehen unserer Denken und Beobachten: sie baut doch selbst eine sehr freie Kultur- Universität mitbestimmt und das die verbindende Brücke und ge- leistung dar. Sie ist letztlich nur wir im Rahmen unseres Zukunfts- staltet sie immer tragfähiger. Da- dem Denken verantwortlich, und konzeptes in der Exzellenzinitiative her kommt es, dass unsere ganze ihre Erkenntnis liegt überwiegend mit neuem Leben füllen wollen. gegenwärtige Kultur, soweit sie im Verstehen von Zusammenhän- Im »Jahr der Mathematik« soll auf der geistigen Durchdringung gen, ohne dass die Empirie das diese Ausgabe unseres Wissen- und Dienstbarmachung der Natur letzte Wort hätte. schaftsmagazins »Georgia Augu- beruht, ihre Grundlage in der Ma- Die Georgia Augusta hat Wis- sta« über die große Geschichte thematik findet.« senschaftsgeschichte geschrieben, der Mathematik hinaus ihre heuti- man spricht im frühen 20. Jahrhun- gen Herausforderungen und ihre Prof. Dr. Kurt von Figura dert von einem Mekka der Mathe- Anwendungen in verschiedenen Präsident , formulae, unsolved riddles

As the Göttingen mathematician standing connections, without physics, made Göttingen’s ›Nobel Felix Klein once put it, mathema- empiricism having the final say. Prize Wonder‹ possible and con- tics occupies an ›enigmatic posi- Scientific history has been writ- tributes to the shaping of our Uni- tion‹ within the systematic order of ten by the Georg-August-Universi- versity’s reputation to this day. In the sciences. Deemed the ›queen tät: in the context of the early 20th realising our institutional strategy of the sciences‹ by Carl Friedrich century the University is referred for the future, as articulated in the Gauss, mathematics does not be- to as a Mecca of mathematics, Excellence Initiative for the pro- long to the natural sciences, since and Göttingen as the cradle of the motion of top-level research in it is not an empirical subject. Yet modern natural sciences. At the , we intend to endow it at the same time it would be an head of the impressive ancestral with new life. »act of force«, according to one of gallery is Gauss, who lived and re- In this, the »Year of Mathema- our authors in this research maga- searched in Göttingen for more tics«, our research magazine goes zine, to assign it to the humanities. than half a century. It was his work beyond presenting the subject’s It is neither a science of the book, that led mathematics and its ap- great history to consider the chal- nor does it deal with the human plications at Göttingen University lenges confronting mathematics being and her cultural achieve- to assume a position of special today and its applications within ments. On the other hand, it itself prominence, a position enhanced various other disciplines. We wish represents a cultural achievement yet further in subsequent years by you stimulating reading. enjoying considerable freedom. Dirichlet, Riemann, Klein and Hil- Mathematics is ultimately ac- bert. What came about on this ba- countable only to thought, and its sis, through the interaction of Prof. Dr. Kurt von Figura findings lie primarily in under- mathematics with chemistry and President INHALTSVERZEICHNIS

Prof. Dr. Felix Mühlhölzer MATHEMATIK LÖST PROBLEME 4 Philosophieren über Mathematik: Warum es so schwer ist Prof. Dr. Florentin Wörgötter 55 Lernende Systeme Mathematik – der Klebstoff für interdisziplinäre MATHEMATIK MACHT GESCHICHTE Forschung

Prof. Dr. Benno Artmann 14 Hochburg der Mathematik Die Göttinger Mathematik und ihre Protagonisten

Prof. Dr. Yuri Tschinkel 24 Die Felix Klein Protokolle Aus dem »Giftschrank« der Mathematischen Fakultät

Prof. Dr. Hubert Goenner Prof. Dr. Axel Munk 30 Exzellenz für die Mathematik 62 … und Gott würfelt doch – aber mit System David Hilbert – Felix Klein – Mit Statistik den Zufall kontrollieren 67 Deutsch-Schweizer Statistik-Forschergruppe: Dr. Cordula Tollmien Statistische Regularisierung unter qualitativen 38 Weibliches Genie Nebenbedingungen – Inferenz, Algorithmen, Frau und Mathematiker: Asymptotik und Anwendungen Prof. Stephan Klasen, Ph.D. 69 Armut messen, erklären und überwinden Armutsforschung, Mathematik und Statistik 73 Courant Forschungszentrum »Armut, Ungleichheit und Wachstum in Entwicklungsländern: Statistische Methoden und empirische Analysen« 75 Tatyana Krivobokova: Die Realität hinter den Daten Von Heidi Niemann Prof. Dr. Anita Schöbel 76 Warten oder nicht warten? 45 Sofja Kowalewskaja (1850 bis 1891) Optimierung im öffentlichen Verkehr die erste promovierte Mathematikerin und die 83 Interdisziplinäre Lehre: Neue Projekte in der erste Professorin im Europa der Neuzeit Mathematik Von Cordula Tollmien

Dr. Axel Wittmann 46 Sterne, Zahlen und Dreiecke Carl Friedrich Gauß – der Fürst der Mathematik als Astronom und Geodät

86 Mathematik-Olympiade: Früh übt sich ...... wer ein guter Mathematiker werden will

Prof. Dr. Rainer Kreß 88 Mathematische Methoden in Medizin und Technik Inverse Probleme und Tomographie 92 Graduiertenkolleg »Identifikation in mathematischen Modellen: Synergie stochastischer und numerischer Methoden« ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

MATHEMATIK SCHAFFT WISSEN MATHEMATIK IST KUNST

Prof. Dr. Ralf Meyer Prof. Dr. Thomas Noll 96 Der Raum hinter den Räumen 126 Nach Maß, Zahl und Gewicht Nichtkommutative Geometrie Zahlen und ihre Bedeutung in der christlichen Kunst

103 Graduiertenkolleg »Mathematische Strukturen Prof. Dr. Andreas Waczkat in der modernen Quantenphysik« 136 ars musica – ars mathematica? Musik als quadriviale Kunst und Wissenschaft. Prof. Dr. Thomas Schick Ein antikes Konzept und sein neuzeitliches Erbe 104 Die vierte Dimension ... oder wann ist die Krümmung positiv?

106 Courant Forschungszentrum »Strukturen höherer Ordnung in der Mathematik«

Prof. Dr. Xiaoming Fu, Prof. Dr. Dieter Hogrefe, Prof. Dr. Henning Schulzrinne 112 Kein Tempolimit für die Datenautobahn Visionen für das Internet der Zukunft 116 Zentrum für Informatik 143 Verzeichnis der Autoren und Forschungseinrichtungen

IMPRESSUM

Herausgeber: Der Präsident der Universität Göttingen in Zusammenarbeit mit dem Privatdozentin Dr. Katharina Habermann Universitätsbund Göttingen e.V. 119 Informationsspezialisten am Werk Redaktion: Marietta Fuhrmann-Koch (verantwortlich), Die Göttinger Universitätsbibliothek und ihr Beate Hentschel Sondersammelgebiet »Reine Mathematik« Englischsprachige Texte: Victoria Viebahn Wissenschaftlicher Prof. Dr. med. Matthias Bähr 122 Das Zentralarchiv für Mathematiker-Nachlässe an Beirat: Prof. Dr. Dr. Bertram Brenig Prof. Dr. Rüdiger Hardeland der Niedersächsischen Staats- und Universitäts- Prof. Dr. Reinhard Gregor Kratz bibliothek Göttingen Prof. Dr. Konrad Samwer Prof. Dr. Eva Schumann Ilse Stein Prof. Dr. Dr. h.c. Lutz F. Tietze Thedel von Wallmoden Prof. Dr. Simone Winko Für den Universitätsbund Göttingen e.V.: Prof. Dr. Horst Kern Prof. Dr. Jens Frahm Anschrift Georg-August-Universität Göttingen der Redaktion: Presse, Kommunikation und Marketing Wilhelmsplatz 1, 37073 Göttingen Tel. (0551) 39-4342 Fax (0551) 39-4251 [email protected] Die bisher erschienenen Ausgaben der Georgia Augusta sind www.uni-goettingen.de im Internet abrufbar unter Gestaltung, Layout: Rothe Grafik, Georgsmarienhütte www.uni-goettingen.de/wissenschaftsmagazin Druck: Druckhaus Fromm Ausgabe 1 · Leben braucht Vielfalt – Biodiversität (2002) Auflage: 8.500 Exemplare Ausgabe 2 · Gehirn und Verstehen (2003) Namentlich gekennzeichnete Artikel Ausgabe 3 · Europa – Alte und Neue Welten (2004) geben die Meinung des Verfassers wieder, nicht unbedingt die des Ausgabe 4 · Materialien und Stoffe (2005) Herausgebers oder der Redaktion. Ausgabe 5 · Kulturen und Konflikte (2007) ISSN 0016-8157 Foto: Gisa Kirschmann-Schröder Philosophieren über Mathematik: Warum es so schwer ist

Felix Mühlhölzer

Im Jahr 1979 veröffentlichte der Philosoph Hilary Putnam einen Aufsatz mit dem Titel »Philosophy of Mathe- matics: A Report«, den er bei einem späteren Wiederabdruck (in seiner 1994 erschienen Aufsatzsammlung Words & Life) umbenannte in »Philosophy of Mathematics: Why Nothing Works«. Putnam geht darin die wich- tigsten Standardpositionen in der Philosophie der Mathematik durch, hebt auf originelle Weise einige ihrer we- niger bekannten, aber dennoch grundsätzlichen Mängel hervor und stellt gegen Ende fest, »[a] depressing sur- vey of ›why nothing works‹« gegeben zu haben. Zwar lässt er es mit diesem Urteil nicht gänzlich bewenden, sondern schließt, beginnend mit der Tröstung »while things are dark they are not altogether hopeless«, noch ei- nen kurzen Abschnitt über möglicherweise gangbare Wege aus dem Dunkel an; er gibt in seinem Aufsatz je- doch keine explizite Diagnose, warum denn das Philosophieren über Mathematik augenscheinlich so überaus schwierig ist. Was sind die tieferen Gründe für die von Putnam beschriebene missliche Lage? ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

und Objektivität zu erreichen. Und wir müssen nun verstehen, warum diese echte Philosophie der Mathematik so schwierig ist.

Zwei schlechte Gründe Zwei schlechte Gründe, die man hier vielleicht zu nennen geneigt sein könnte, möchte ich gleich aus dem Weg räumen. Erstens könnte jemand sagen wollen, dass das Philosophieren über Mathe- matik so schwer sei, weil die Ma- thematik selbst so schwer ist. Die- se Meinung ist jedoch ganz falsch in Bezug auf viele der wirklich fundamentalen Fragen der Philo- sophie der Mathematik, die sich zu einem beträchtlichen Teil schon an Beispielen sehr einfa- cher und elementarer Mathematik behandeln lassen. Betrachten wir etwa die übliche und jedermann bekannte Divisionstechnik, die es erlaubt, Brüche wie 1/3, 7/12 etc. in Dezimaldarstellung zu bringen, und mittels derer wir beispiels- weise im Falle von 1/3 als Ergebnis erhalten: 1/3 = 0,333… . Auch oh- ne größere mathematische Kom- petenz versteht hier jeder, dass Mein Verständnis von Philosophie lichsten Fragen, die sich – so ihre sich in dieser Dezimaldarstellung orientiert sich an Kants Charakte- Hoffnung – auf andere Weise als die Ziffer »3« unendlich oft wie- risierung, nach der alle Philoso- die übliche empirisch-wissen- derholt (was durch die drei Pünkt- phie letztlich zur Beantwortung schaftliche beantworten lassen. chen angedeutet wird); dass dies der einen Frage beitragen möchte: Auch Mathematiker bemühen kein Zufall ist, sondern eine ma- »Was ist der Mensch?« – wobei sich innerhalb ihres Faches thematische Notwendigkeit; dass das Wort »Mensch« natürlich manchmal um eine Klärung der die Einsicht in die Wahrheit der nicht im biologischen Sinn ver- eigenen Praxis, wie dies etwa Hil- Gleichung »1/3 = 0,333…« eine standen wird, sondern im Sinne bert mit seiner ›Beweistheorie‹ apriorische ist, das heißt, dass sie des Menschen als geistigem We- versuchte, die selbst als mathema- nicht aus Erfahrung gewonnen sen. Die Philosophie der Mathe- tische Theorie auftritt. Vielleicht wurde, sondern auf rein denkeri- matik handelt dann von denjeni- kann man, worauf Kenny Eas- schem Wege; und jeder spürt auch, gen Äußerungen des menschli- waran hingewiesen hat, sogar dass der durch »1/3 = 0,333…« chen Geistes, die eben den Na- sämtliche von den Mathematikern ausgedrückte Sachverhalt, oder men »Mathematik« tragen. Ihr angebotenen Axiomatisierungen Zusammenhang, ein irgendwie Ziel ist die Klärung wesentlicher ihrer Theorien als Klärungen ihrer formaler ist, der wesentlich sym- Charakteristika dieser Äußerun- Praxis begreifen, und zwar als sol- bolische Manipulationen betrifft, gen, und dies nicht vom Stand- che, die es nun gerade erlauben, und kein ›inhaltlicher‹, wie dies punkt der Mathematiker selbst, innerhalb der Mathematik zu blei- typisch für den Fall empirischer sondern von einem distanzierten ben und eigentlich Philosophi- Sachverhalte ist. Genau die so- Standpunkt, der demjenigen eines schem aus dem Weg zu gehen. eben hervorgehobenen Begriffe – Anthropologen ähnelt. Anders als Echte Philosophie der Mathematik »unendlich«, »mathematische Not- die Anthropologie ist die Philoso- jedoch nimmt bewusst einen ex- wendigkeit«, »a priori«, »formal« phie jedoch keine empirische ternen Standpunkt ein, um ge- – stehen nun im Zentrum der Phi- Wissenschaft, sondern beschäftigt genüber der mathematischen Pra- losophie der Mathematik, und sie sich nur mit den allergrundsätz- xis eine größere Unabhängigkeit erweisen sich als schwierig, auch

6 Universität Göttingen wenn das betreffende mathemati- chen. Sie rühren zu einem großen befasst sie sich mit dem Menschen sche Beispiel selbst ganz elemen- Teil daher, dass die Mathematik in und seinen Kulturleistungen. An- tar ist. Man muß sich zu ihrer Gestalten auftritt – in der spezifi- dererseits weist sie doch eine Klärung nicht unbedingt in höhere schen Art ihrer Sprache und Sym- große Nähe zu den Naturwissen- mathematische Gefilde begeben. bolik –, die uns zu charakteristi- schaften auf, indem sie deren Der zweite schlechte Grund, schen Verwechslungen und kraftvollstes begriffliches Instru- der häufig für die Schwierigkeit falschen Analogien verleiten. So mentarium bereitstellt, und auch, der Philosophie der Mathematik scheinen mathematische Sätze weil sich naturwissenschaftliche genannt wird, betrifft die Abstrakt- Aussagen ganz analog zu den und mathematische Erkenntnis heit der mathematischen Gegen- Aussagen der empirischen Wis- auf erstaunliche Weise gegensei- stände, die nicht in das naturwis- senschaften zu sein, nur dass sie tig befruchten können. Geistes- senschaftliche Weltbild vieler Em- eben mathematische Sachverhal- wissenschaftliche Züge zeigt sie piristen und Naturalisten zu pas- te beschreiben und nicht empiri- immerhin darin, dass sie eine sehr sen scheinen. Empiristen und Na- sche; mathematische Beweise freie Kulturleistung darstellt, die turalisten wollen die Bezugnahme können dann wie Verifikations- letztlich nur unserem Denken ver- auf diese Gegenstände deswegen verfahren für jene Aussagen wir- antwortlich ist und deren Erkennt- als verzichtbar nachweisen – und ken, in Analogie zu Verifikationen nis überwiegend im Verstehen haben nun damit ihre Schwierig- im Empirischen; und mathemati- von Zusammenhängen liegt, ohne keiten. Dies ist jedoch ein für die sche Funktionen können uns vor- dass, wie in den Naturwissenschaf- Philosophie der Mathematik un- kommen wie Maschinen, die bei ten, die Empirie das letzte Wort interessantes Problem, da uns ab- bestimmtem Input einen Output hätte. Vielmehr scheint die Mathe- strakte Gegenstände auch außer- liefern, nur dass sie irgendwie matik in vielen Fällen überhaupt halb der Mathematik völlig ver- starrer, idealer sind als reale Ma- erst die Möglichkeit zu eröffnen, traut sind. Jedes Kind versteht zum schinen (die ja, anders als die ma- dass die Empirie zu klaren theore- Beispiel, was ein Buchstabe ist, et- thematischen, auch einmal kaputt- tischen Entscheidungen führt. wa ein »A«, und zwar im Sinne ei- gehen können). Analogien dieser nes Gestalt-Typs, nicht im Sinne Art drängen sich auf, führen uns Apriorisches Wissen einer konkreten Realisierung die- aber in die Irre. In Wirklichkeit ist durch Beweise ses Typs, und damit hat das Kind die Mathematik und sind ihre Ge- Was sind nun die tieferen Gründe ›Zugang zu einem abstrakten Ge- genstände sui generis, und eine für diese Sonderstellung der Ma- genstand‹, eben, beispielsweise, Grundschwierigkeit der Philoso- thematik und, damit zusammen- dem Buchstaben »A«. Nun erhebt phie der Mathematik liegt darin, hängend, für die spezifischen sich die Mathematik zwar in bequeme Angleichungen an an- Schwierigkeiten der Philosophie schwindelerregende Höhen der deres zu vermeiden und den völ- der Mathematik? Der wichtigste Abstraktion und geht damit weit lig eigenständigen Charakter der Grund liegt vielleicht in der Apri- über Buchstaben-Typen und sons- Mathematik angemessen zu be- orität der Mathematik, also darin, tiges Lebensweltliches hinaus, greifen und zu beschreiben. dass mathematisches Wissen im aber Entfernungen vom Lebens- Diese Schwierigkeit zeigt sich Normalfall kein Erfahrungswissen weltlichen durch Einführung ab- schon auf augenfällige Weise an ist. Es wird durch reines Denken strakter Gegenstände sind charak- der schillernden ›Stellung der Ma- gewonnen und im Normalfall teristisch für die meisten Wissen- thematik im System der Wissen- durch Beweise. Aber was sind schaften, und dass die spezifi- schaften‹ (um eine Formulierung ›mathematische Beweise‹ und schen Gegenstände gerade der Felix Kleins zu benutzen), die sich welche Rolle kommt ihnen genau Mathematik nun aufgrund ihrer im Angelsächsischen sogar darin zu? Und welchen Status haben die Abstraktheit besondere philoso- niederschlägt, dass man dort die Axiome, die wir in vielen (oder so- phische Probleme aufwürfen, ist Mathematik – die von Gauß be- gar allen?) Beweisen einfach vor- überhaupt nicht ausgemacht. Eine kanntlich als »Königin der Wis- aussetzen, ohne sie ihrerseits zu wichtige Ausnahme stellt aller- senschaften« titulierte Mathema- beweisen? Welches Wissen – apri- dings die Beschäftigung mit dem tik! – überhaupt nicht zu den orisches Wissen – haben wir von Unendlichen dar, auf die ich wei- »sciences« zählt. Die Mathematik ihnen? ter unten eingehen werde. gehört sicherlich nicht zu den Na- Betrachten wir zunächst die turwissenschaften, da sie keine Frage nach den Beweisen: was sie Die Einzigartigkeit der empirische Wissenschaft ist, zu- genau sind und welche Rolle ih- Mathematik gleich wäre es jedoch gewalt- nen zukommt. Schon ein Blick in Kommen wir nun zu den echten sam, sie den Geisteswissenschaf- die Geschichte der Mathematik Gründen, die das Philosophieren ten zuzuordnen, denn weder ist zeigt, dass diese Frage nicht leicht über Mathematik so schwer ma- sie eine Buchwissenschaft, noch zu beantworten sein dürfte, denn

Georgia Augusta 6 | 2008 7 ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

dort stößt man, von den Babylo- fen? Diese Frage wird in der an- Die Auffassung (a) vom Beweis niern bis heute, auf die verschie- gelsächsischen Literatur als das als Methode, sich der Wahrheit ei- denartigsten Auffassungen, ver- Truth/Proof problem bezeichnet. nes Satzes zu versichern, droht in schiedenartig im Hinblick auf die Fermats letztes Theorem (F) etwa skeptizistische Abgründe zu gera- erlaubten Beweismittel, die Anfor- handelt ja, wie man vielleicht sa- ten, wodurch plötzlich Auffassung derungen an Strenge, die zugrun- gen möchte, von einer bestimm- (b) attraktiv erscheinen kann: Viel- de liegende Logik, die Rolle der ten mathematischen Struktur, näm- leicht sollten wir Beweise nicht als Anschauung, die Verwendung von lich dem unendlichen Bereich verifizierend, sondern vielmehr Axiomen, und anderes mehr. Da- ganzer Zahlen mit ihren Summen, als sinnstiftend ansehen? – Was rauf kann hier nicht eingegangen Produkten und Potenzen, und (F) könnte dies etwa im Falle von (F) werden. Philosophisch besonders ist nun wahr, wenn in dieser Struk- heißen? Nun, problematisch an wichtig ist die erst im 20. Jahrhun- tur gewisse mathematische Ver- (F) ist das Vorkommnis des Wört- dert aufgeworfene Unterschei- hältnisse herrschen, eben gerade chens »alle«. Vielleicht möchte dung zweier ganz verschiedenar- die von (F) ausgesagten; (F) wird man sagen, dass darin doch keine tiger Grundeinstellungen zu Be- von diesen Verhältnissen sozusa- Schwierigkeit liegt, denn kann weisen: dass man nämlich einen gen wahr ›gemacht‹. Diese Art, man sich nicht einfach vorstellen, Beweis nicht nur (a) als Methode, über Wahrheit zu reden, blendet bei allen Tripeln x, y, z ganzer sich der Wahrheit eines mathema- jedoch unsere mathematische Zahlen, die ungleich Null sind, zu tischen Satzes zu versichern, an- Tätigkeit völlig aus, sodass diese überprüfen, ob sie jeweils für sehen kann, also als mathemati- Tätigkeit, und insbesondere das irgendein n > 2 die Gleichung sche Verifikationsmethode, son- von uns praktizierte Beweisen, xn + yn = zn erfüllen, und wenn dern, alternativ dazu, auch (b) als von der Wahrheit mathematischer dies nicht der Fall ist, dann ist (F) überhaupt erst den Sinn des be- Sätze zunächst einmal völlig ge- eben wahr? Zwar kann man dies wiesenen Satzes bestimmend. Im trennt erscheint! (»Gott sieht, ob wegen der Unendlichkeit des Wort »beweisen« steckt ja »wei- jene mathematischen Verhältnisse Zahlenbereichs natürlich nicht sen«, also »zeigen«, und man vorliegen oder nicht, ganz gleich, wirklich machen, aber handelt es kann sich fragen, was ein Beweis ob und wie wir Menschen zu ih- sich dabei, wie zeigt: zeigt er (a) die Wahrheit nen Zugang haben.«) Dies wird einmal meinte, nicht nur um eine oder (b) den Sinn des bewiesenen besonders deutlich in einem Fall medizinische Unmöglichkeit und Satzes? wie (F), wo der Beweis, wie er tat- keineswegs um eine prinzipielle, Auf den ersten Blick mag (a) als sächlich vorliegt, aufgrund seines sodass sie für den mathemati- überwältigend plausibel erschei- anspruchsvollen Charakters Licht- schen Gehalt von (F) doch nicht nen. Den Sinn etwa von Fermats jahre entfernt ist von dem einfa- wirklich relevant ist? – Diese An- so genanntem ›letzten Theorem‹, chen Bild des Wahrgemachtwer- sicht ist jedoch dubios, da sie den also dem Satz dens durch eine doch ganz ele- mathematischen Gehalt von (F) mentare Struktur, eben diejenige völlig von unserer tatsächlichen (F) Für alle ganzen Zahlen x, y, z, der ganzen Zahlen mit Summen, mathematischen Praxis abkop- die ungleich Null sind, und alle Produkten und Potenzen. Anders pelt. Gute Philosophie sollte sich natürlichen Zahlen n > 2 ist ausgedrückt: Hier scheinen uns an dieser Praxis orientieren, deren xn + yn ≠ zn, zwei völlig verschiedene Kriterien Kernstück eben die tatsächlich scheinen wir doch alle ganz leicht für die Wahrheit von (F) vorzu- durchgeführten Beweise sind. Sie zu verstehen, während sein erst schweben, einerseits das Kriterium zeigen, was Mathematik wirklich im September 1994 gelungener des Wahrgemachtwerdens durch ist. Und es klingt nun keineswegs und wegen seiner Schwierigkeit jene Struktur, andererseits das Kri- abstrus, im Sinne von (b) zu sagen, nur ganz wenigen zugänglicher terium des Bewiesenwerdens dass der wirkliche mathematische Beweis eben zeigt, dass der Satz durch Techniken unserer tatsäch- Gehalt des in (F) vorkommenden tatsächlich wahr ist. So scheint es lichen mathematischen Praxis; »alle« erst durch den tatsächlichen uns – aber die Sache ist in Wirk- und das Problem liegt nun darin, Beweis von (F) gezeigt worden sei. lichkeit nicht so einfach, weil die dass zwischen beiden Kriterien Entsprechend kann man, um Wörter »Wahrheit« und »Sinn« ih- prima facie eine fast kategorial an- ein anderes Beispiel heranzuzie- re Tücken haben, und dies beson- mutende Kluft besteht, deren hen, auch die Auffassung vertre- ders, wenn man sie auf mathema- Überbrückung alles andere als auf ten, Cantors berühmtes Theorem, tische Sätze anwendet. der Hand liegt. Trifft der Beweis dass die Menge der reellen Zahlen Wie zum Beispiel soll man ge- wirklich das, was wir bei der For- von höherer (›überabzählbarer‹) nau die Beziehung zwischen der mulierung des Kriteriums des Unendlichkeit sei als die Menge Wahrheit eines mathematischen Wahrgemachtwerdens verstanden der natürlichen Zahlen, erhalte Satzes und dessen Beweis begrei- zu haben glauben? erst durch die Beweise, die Cantor

8 Universität Göttingen gegeben hat, wirklich mathemati- schen Gehalt, weil man sich vor- her unter jener ›höheren Unend- lichkeit‹ wenig denken konnte. – Trotzdem wirkt Auffassung (b), die Beweise als sinnstiftend dekla- riert, übertrieben, denn sehr Vie- les an mathematischen Sätzen verstehen wir, wie etwa im Falle von (F), doch auch dann, wenn wir den Beweis nicht kennen. Und (b) scheint zudem die be- fremdliche Konsequenz zu haben, oder zumindest nahezulegen, ma- thematischen Sätzen, die ver- schiedene Beweise besitzen (wie das gerade genannte Cantorsche Theorem und zahllose andere ma- thematische Sätze), dann auch entsprechend verschiedenen Sinn Sammlung zuzuschreiben. Solch eine Sicht- metrien im 19. Jahrhundert, die genlehre vielleicht lediglich die mathematischer weise widerspräche bewährter den Gedanken nahelegte – er Bedeutung der Begriffe »Zahl« Modelle im Göttinger Institut für Mathematik mathematischer Praxis, die, wie spielte vor allem für Hilbert eine und »Menge« bestimmten, wo- Foto: Gisa Kirschmann- gesagt, von guter Philosophie ernst große Rolle –, mathematische durch sie dann doch wieder wie Schröder genommen werden sollte. Axiome als ›implizite Definitio- ›Festlegungen‹ erscheinen (wenn Mathematische Beweise haben nen‹ der von ihnen beschriebenen auch nicht wie ›konventionelle‹). also einen schillernden Charakter. Strukturen und damit als ›konven- Erneut treffen wir hier auf eine für Es erscheint natürlich, sie als satz- tionelle Festlegungen‹ aufzufas- die Philosophie der Mathematik verifizierend anzusehen, aber sie sen. Von irgendeiner schwer zu so charakteristische Art des Schil- scheinen auch sinnstiftend zu wir- präzisierenden ›Evidenz‹ der Axi- lerns zwischen verschiedenen ken, und zugleich kann weder die ome, wie man sie traditioneller- Sichtweisen, die uns auf den Sui- eine noch die andere Auffassung weise unterstellte, musste dann generis-Charakter des Mathemati- völlig richtig sein. Die philosophi- nicht mehr die Rede sein, was als schen, hier also nun mathemati- sche Aufgabe in dieser Situation beträchtliche Befreiung von philo- scher Axiome, verweist, der je- besteht darin, den wirklichen Cha- sophisch Dunklem empfunden doch schwer zu treffen ist. rakter mathematischer Beweise, werden konnte. Diese Auffassung ihren Sui-generis-Charakter, in an- ist vielleicht tatsächlich im Falle Mathematische Notwendigkeit gemessenerer Weise zu beschrei- geometrischer Axiome passend, Die Idee der ›Festlegung‹ der ben, und diese Aufgabe ist schwer. und dann auch für die Axiome, Axiome könnte nicht nur deswe- Entsprechend ist es schwer, die die in der abstrakten Algebra, To- gen attraktiv erscheinen, weil sie charakteristische Apriorität der pologie etc. formuliert werden, sie Fragen nach der ›Evidenz‹ der Mathematik richtig zu treffen, und passt jedoch viel weniger auf die Axiome aus dem Weg zu gehen dazu trägt, wie schon gesagt, zu- Standard-Axiome der Arithmetik erlaubt, sondern auch, weil sie sätzlich der unklare Status der (etwa die so genannten ›Peano- uns vielleicht den Weg weist zu Axiome bei, die in mathemati- Axiome‹) oder der Mengenlehre. einem besseren Verständnis ma- schen Beweisen unbewiesen vor- In ihrem Fall scheinen, um einen thematischer Notwendigkeit, also ausgesetzt werden. Auch in ihrem Ausdruck Kurt Gödels zu benut- jenes charakteristischen ›Müssens‹, Fall, wie schon bei den Beweisen zen, uns die Axiome in einer Wei- wie es uns im Falle von »1/3 = selbst, offenbart die Geschichte se ›aufgezwungen‹ zu sein (»forced 0,333…« – die Dreien in 0,333… der Mathematik eine Vielzahl ver- on us« heißt es bei Gödel), die sie müssen endlos wiederkehren – schiedenartigster Auffassungen, nicht wie konventionelle Festle- und auch ansonsten in der Mathe- auf die hier erneut nicht im Ein- gungen wirken lässt, sondern eher matik durchgängig begegnet. Im zelnen eingegangen werden kann. wie evidente Wahrheiten über ei- Falle von Axiomen könnte man Zu philosophisch besonders inte- ne eigenständige mathematische nun immerhin sagen, dass es das ressanten Überlegungen führte Welt. Andererseits drängt sich je- ›Müssen‹ sei, das der bindenden aber die Entdeckung (oder Erfin- doch der Gedanke auf, dass die Kraft einer Festlegung entspringt, dung?) der nicht-euklidischen Geo- Axiome der Arithmetik und Men- so wie auf unseren Straßen alle

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Autos rechts fahren müssen, weil Tatsachen beschreiben, sondern Sinn zu fragen, worauf sich die Zei- wir es so festgelegt haben. Dieser um Regeln des mathematischen chen der Mathematik beziehen Gedanke ist allerdings nicht so Redens, auf die wir uns überein- und was die mathematischen Sätze ohne Weiteres tragfähig, da er stimmend einigen, entweder in- beschreiben. Diese Auffassung hat nicht die notwendige Gültigkeit dem wir sie als Axiome festlegen ihre Stärken: Sie wird insbesonde- der Theoreme und nicht das not- (»Wir wollen uns darauf einigen, re den rechnerischen Zügen der wendige Sichwiederholen der Drei dass durch jeden Punkt P außer- Mathematik gerecht, entspricht je- in der Dezimalentwicklung von halb einer Geraden g genau eine doch keineswegs der mathemati- 1/3 erklärt, etc. Natürlich folgen Gerade h geht, die g nicht schnei- schen Praxis insgesamt und schlägt die Theoreme notwendig aus den det«, etc.) oder indem wir uns auf vor allem den Erfahrungen prakti- Axiomen, und wir können, um die dem Weg über eine Rechnung zierender Mathematiker ins Ge- Notwendigkeit dieses Folgens zu oder einen Beweis auf sie ver- sicht, die mit ihren Zeichen jen- erfassen, Folgerungsregeln for- pflichten lassen. Wer demnach seits aller formalen Manipulatio- mulieren, die wir als Festle- aufgrund entsprechender Rech- nen mathematische Inhalte ver- gungen ansehen mögen, nung sagt: »1/3 = 0,333…«, der binden, die dem Zeichenspiel aber dann bleibt weiterhin äußert nach Wittgenstein eine Re- überhaupt erst Sinn geben. Die (worauf schon Lewis Carroll gel, die er nun für bindend erach- Klärung dessen, was hier »Inhalt« in seiner Geschichte von tet – und genau darin läge die genannt werden kann, ist jedoch Achilles und der Schild- ›mathematische Notwendigkeit‹! äußerst schwierig, und man gerät kröte hingewiesen hat) Diese Auffassung hat jedoch mit erneut in die Situation des Schil- klärungsbedürftig, auf- vielen Problemen zu kämpfen lerns, nun zwischen Formalisti- grund welcher Art von (müssen wir zum Beispiel nicht, schem und Nichtformalisti-schem, Notwendigkeit nun aus damit sie funktioniert, vorweg be- in der eine angemessene Position ihnen etwas folgt. weisen, dass das zugrunde liegen- erst noch gefunden werden muss. Die Klärung des Cha- de Axiomensystem konsistent ist, Hilbert entwickelte in seinem rakters mathematischer womit aber Spannungen mit Gö- mathematischen Grundlegungs- Notwendigkeit gehört zu dels zweitem Unvollständigkeits- programm eine eigene formalisti- den schwierigsten Aufga- Theorem vorprogrammiert sind?), sche Konzeption von Mathematik ben der Philosophie der und sie bedarf genauerer Untersu- (die hier nicht genauer beschrie- Mathematik. Wittgenstein hat chungen, die ein sensibles Einge- ben werden kann), um damit das die extravagante Auffassung ver- hen auf viele Einzelheiten unserer Unendliche zu bändigen, mit dem treten, bei mathematischen Sät- mathematischen Praxis erfordern. man, in den verschiedensten Aus- zen handle es sich im Normalfall prägungen, in der Mathematik überhaupt nicht um deskriptive Formalismus und das Unendliche ständig umgeht, das jedoch zu- Aussagen, die mathematische Wittgensteins Auffassung stellt mit gleich die Gefahr von Inkonsisten- dem Gedanken, dass mathemati- zen heraufbeschwört. In seinem sche Sätze nicht-deskriptiver Na- tiefsinnigen Vortrag »Über das Büste von David Hilbert (1862 – 1943) in der Halle des Mathe- tur seien, eine These in den Raum, Unendliche« aus dem Jahr 1925 matischen Instituts die für den Formalismus in der ruft er mit heute undenkbarem Pa- Fotos: Gisa Philosophie der Mathematik kenn- thos aus, »dass die endgültige Auf- Kirschmann- Schröder zeichnend ist. Formalisten – ge- klärung über das Wesen des Un- nauer: so genannte Spiel-Formalis- endlichen weit über den Bereich ten – fassen die Mathematik als re- spezieller fachwissenschaftlicher gelgeleitetes Spiel mit Zeichen Interessen vielmehr zur Ehre des auf, wobei sie von der Analogie menschlichen Verstandes selbst mit dem Schachspiel inspiriert notwendig geworden« sei. Hilbert werden, dessen Figuren sozusa- hoffte, im Rahmen einer Auffas- gen die ›Zeichen des Schach‹ sung der Mathematik als Zeichen- sind, mit denen gemäß der Schach- spiel strenge Konsistenzbeweise regeln umgegangen wird. Ähn- führen zu können – eine Hoffnung, lich, so der formalistische Gedan- die durch Gödels zweites Unvoll- ke, gehen Mathematiker mit ihren ständigkeits-Theorem jedoch zu- Zeichen um, und so, wie es keinen nichte gemacht wurde, sodass uns Sinn hat zu fragen, worauf sich et- das Unendliche in der Mathema- wa der Läufer im Schach bezieht tik weiterhin relativ ungebändigt, und was eine Schachstellung be- ungebändigt jedenfalls gemessen schreibt, hat es dann auch keinen an Hilberts ursprünglichen Stan-

10 Universität Göttingen dards, entgegentritt. Hermann Zuges schuldig zu machen, ein here mathematische Gefilde bege- Weyl ging so weit, die Mathema- angemesseneres Bild der Mathe- ben!) Bei der ursprünglichen Ent- tik als »die Wissenschaft vom Un- matik zu gewinnen. Sind die kom- wicklung vieler fortgeschrittener endlichen« zu bezeichnen. Selbst plexen Zahlen entdeckt oder er- mathematischer Theorien ist an wenn der in dieser Charakterisie- funden worden? Hat man die empirische Anwendungen zu- rung liegende, prima facie viel- Wahrheit von Fermats letztem nächst überhaupt nicht gedacht leicht überraschende Ausschließ- Theorem entdeckt, oder steckt worden – und doch haben sich die- lichkeitsanspruch berechtigt sein nicht auch darin eine große Por- se Anwendungen dann mit ver- sollte, bliebe für die Philosophie tion Erfindung? Solche Fragen blüffendem Erfolg tatsächlich ein- im Hinblick auf das Unendliche sind schwer zu beantworten und gestellt. (Ein besonders eindrucks- trotzdem noch viel zu tun, denn verlangen differenzierte philoso- volles Beispiel ist die Anwendung wir sollten eine Antwort auf die phische Herangehensweisen. der Theorie der Hilbert-Räume in Frage finden, wie wir Menschen mit unseren begrenzten Fähigkei- ten es denn schaffen, Unendliches einzufangen. An dieser Stelle liegt vielleicht, angeleitet durch Hilberts Vorreitertum, für die Philosophie erneut eine Position mit deutlicher Verwandtschaft zum Formalismus nahe, denn zur Beantwortung je- ner Frage sollte unser Umgang mit den Zeichen für Unendliches im Vordergrund stehen und nicht ›Unendliches selbst‹. Ausgespro- chen schwierig daran ist erneut, eine solche Art von Verwandtschaft zum Formalismus zu finden, der die Inhalte mathematischer Sätze nicht völlig zum Opfer fallen. Im Zusammenhang mit dem Unendlichen drängt sich auch die schon weiter oben im Falle der Treppenaufgang im Mathematischen Institut nicht-euklidischen Geometrien Empirische Anwendbarkeit und der Quantenmechanik.) Dies ist mit Blick auf die aufblitzende Frage auf, ob die Ge- menschliche Gestalt fast so, als würden wir eines Tages Sammlung mathemati- genstände, und auch die entspre- Die bisherigen Betrachtungen entdecken, dass gewisse Gesetz- scher Modelle Foto: Gisa Kirschmann- chenden Sachverhalte, der Ma- betrafen überwiegend die reine mäßigkeiten der Quantenwelt den Schröder thematik entdeckt oder erfunden Mathematik unter völligem Abse- Regeln des Schach genügen, so werden. Sind die bis in schwin- hen von ihren Anwendungen. Es dass man nun durch Schachspie- delerregende Höhen aufsteigen- ist jedoch ein eminent wichtiges len zu physikalischen Vorhersagen den Unendlichkeiten der Mengen- Merkmal der Mathematik, dass sie kommen kann. Die heikle philoso- lehre Entdeckungen oder Erfin- empirische Anwendungen besitzt phische Aufgabe besteht an dieser dungen? Wittgenstein schreibt ganz und bei ihrer Anwendung auch so Stelle darin, das Unverstandene unverblümt: »Der Mathematiker überaus erfolgreich ist. Dieser Er- dieses Phänomens herauszuarbei- ist ein Erfinder, kein Entdecker«. folg mutet im Falle elementarer ten, den Sinn für die wunderbare Diese plakative Aussage wird je- Mathematik, die historisch aus der prästabilierte Harmonie zwischen doch Wittgensteins eigenem skru- Anwendung ja erwachsen ist, reinem Denken und empirischer pulösen und differenzierten Philo- vielleicht wenig erstaunlich an, Wirklichkeit wach zu halten, gegen sophieren nicht gerecht, und es aber sie erscheint geradezu als ein unsere Tendenz, sie wegrationali- erscheint viel lohnender, diejeni- Wunder im Falle fortgeschrittener sieren zu wollen durch Erklärun- gen Züge der Mathematik, die Mathematik, wie sie im Laufe der gen, die sich am Ende doch nur als Ähnlichkeiten mit dem Erfinden, Geschichte, von Rücksichtnahmen Scheinerklärungen erweisen. und diejenigen, die Ähnlichkeiten auf die Anwendung immer weiter Die besondere Schwierigkeit mit dem Entdecken haben, aufzu- sich entfernend, dann entstanden der Philosophie der Mathematik spüren und zu unterscheiden, um ist. (An dieser Stelle müssen wir uns liegt nun darin, dass all die ge- dann, ohne sich der einseitigen auch in der Philosophie der Ma- nannten Probleme, und andere Betonung nur dieses oder jenes thematik schließlich doch in hö- ungenannte mehr, sich so vielfäl-

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tig überkreuzen und die jeweils uns über die Buntheit der tatsäch- die ›menschliche Gestalt‹ der Ma- vorgeschlagenen Lösungen in solch lichen, lebendigen mathemati- thematik begreifen lehren; oder vertrackten gegenseitigen Abhän- schen Praxis, über die Vielfalt ver- weniger metaphorisch gespro- gigkeitsverhältnissen stehen, wie schiedenartigster mathematischer chen: die Gestalt, in der uns in der dies in wohl keinem anderen Ge- Begriffsbildungen, Ideen und Be- Mathematik der vielfältig und le- biet der Philosophie der Fall ist. weistechniken hinwegtäuschen. bendig sich äußernde menschli- Angesichts dieser Sachlage lautet Frege wollte mit seiner vereinheit- che Geist entgegentritt. Kant, der die wichtigste Einsicht, dass die Su- lichenden ›Begriffsschrift‹ den in doch die Frage, was der Mensch che nach einem einheitlichen We- der Mathematik liegenden ge- sei, selbst ins Zentrum der Philo- sen der Mathematik aufgegeben danklichen Inhalt in Reinform her- sophie rückte, hat, wie auch viele werden sollte, auch wenn die Ma- ausdestillieren, im Gegensatz zum, andere Philosophen, allzu oft ver- thematik selbst uns zu solch einer wie er glaubte, diesen Inhalt ver- gessen, dass der Mensch ein le- Suche vielleicht verleitet. hüllenden symbolischen Wild- bendiges Wesen ist, und in der Kant beispielsweise lokalisierte wuchs unserer normalen Praxis. In Philosophie der Mathematik mag ihr Wesen in der ›Konstruktion in Wirklichkeit ist es jedoch so, dass, die Neigung zu solcher Vergess- reiner Anschauung‹, Frege und wie Wittgenstein bemerkt, gerade lichkeit besonders groß sein. Aber Russell sahen es in der Logik, deren die Fregeschen und andere Ver- auch in unserer Praxis der Mathe- Nachfolger in der Mengenlehre. einheitlichungen »die wichtigen matik zeigt sich dieses Leben, al- Solche Vereinheitlichungspro- Formen des Beweises gleichsam bis lerdings auf eine Weise, die sich gramme können mathematisch zur Unkenntlichkeit ein[hüllen], der getreuen Beschreibung stän- interessant sein, aber vom Stand- wie wenn man eine menschliche dig widersetzt. Auch deswegen ist punkt der Philosophie der Mathe- Gestalt in viele Tücher wickelt«. das Philosophieren über Mathe- matik sind sie Phantastereien, die Philosophie der Mathematik sollte matik so schwer.

Why is philosophizing about of the empirical sciences that one sition proved, that a proof ›veri- mathematics so hard? A bad is all too easily led into taking these fies‹' the proposition, but our most reason which one might be temp- similarities at face value, which, natural conception of mathema- ted to give is that it's so hard be- however, generates far-reaching tical truth is in terms of certain cause mathematics itself is so errors and misconceptions. Instead, structures which make the pro- hard. But this can barely be true mathematics should be under- position true, and this conception since many of the most funda- stood as an activity that is sui ge- radically uncouples truth from our mental questions in the philoso- neris, that should not be seen as actually practised methods of phy of mathematics – questions, being in line with other human ac- proof, such that the connection e.g., about the apriority of mathe- tivities, and precisely this is one of between truth and proof gets lost. matical knowledge, about mathe- the fundamental difficulties with (This is what philosophers call the matical necessity, about the our philosophizing about mathe- Truth/Proof problem.) Confronted formal character of mathematics, matics. The sui generis character with this difficulty one might take even about infinity – can be trea- of mathematics already becomes refuge in the view that the proof of ted already at a very elementary immediately evident when we try a mathematical sentence bestows level of mathematics. Another bad to decide whether mathematics sense upon the sentence. But this reason points to the abstract nature belongs to the natural sciences or cannot be correct either because of the objects of mathematics to the humanities. Of course, it in many cases we do have a which, supposedly, prevents them belongs to neither – it is not even considerable understanding of a from being integrated into a scien- called a »science« – and we have mathematical sentence even if we tific world-view. This, again, is not to understand it in its specific soli- are ignorant of its proof; further- a convincing answer since abstract- tariness. more, we are normally unwilling ness per se is nothing specific to Mathematical knowledge is to diagnose, as this view of proofs the objects of mathematics; on the non-empirical (»a priori«) know- would suggest a change of sense contrary, reference to abstract ledge which normally relies on when we find a new proof of a objects pervades our speech in its proofs. But the nature of proofs is proposition already proven (which entirety. hard to grasp, and the same is true occurs rather often in mathe- Good answers turn up if we recog- of the nature of the axioms on matics). As for the axioms, accor- nize that the language of mathe- which proofs are based. One ding to modern tendencies one matics shows on its surface so might think that a proof is simply might be inclined to treat them as many similarities with the language a road to the truth of the propo- ›stipulations‹ or ›agreements‹

12 Universität Göttingen which ›implicitly define‹ the ficulty here consists in giving an coverers or inventors is a vexed mathematical structures which account of this ›mathematical one which, again, challenges us to one wants to talk about, but this content‹ without too much assimi- give differentiated descriptions of view does not seem to be appro- lating it to the descriptive content the sui generis nature of mathe- priate in case of the standard of empirical propositions. matics. axioms of arithmetic and set theory Hilbert developed his own In addition to the characteristics which actually appear to be (as brand of formalism in order to already mentioned, one further Gödel put it) ›forced on us‹ and tame the mathematical infinite, eminently important one is the therefore far away from being which threatened to lead into in- empirical applicability of mathe- stipulated. In sum, we are in trouble consistencies. His brilliant idea matics and the overwhelming suc- when trying to understand the na- was to consider mathematical cess of such applications even in ture of the apriority characteristic theories as ›formula games‹ in cases of very abstract mathematical of mathematical knowledge. order to be able, then, to give theories which prima facie seem Despite its weaknesses, the idea purely combinatorial proofs of very remote from the empirical of a ›stipulation‹ might nonethe- their consistency. Although this world. The philosophical task here less be operative in understanding project failed because of Gödel’s consists in keeping alive our sense mathematical necessity, another Second Incompleteness Theorem, of wonder about this pre-estab- important trait of mathematics. it remains of philosophical in- lished harmony between pure Perhaps it is the sort of necessity terest as it directs our attention to thinking and empirical reality with- brought about by stipulation? This the use of our signs, and especially out trying to rationalize it away. idea might work for axioms, and the signs we invent to refer to This thicket of criss-crossing also for the rules of inference mathematical infinities, which we problems makes the philosophy of which we have explicitly formu- should in fact concentrate on mathematics especially hard, and lated, but it does not tell us any- when pondering the philosophi- it should stop us searching for a thing about the way in which cal question of how we finite uniform essence of mathematics. these axioms and rules bestow human beings are able to capture Mathematics expresses itself in a necessity upon the theorems the infinite. Maybe mathematicians practice full of varied life which proved. Wittgenstein had the radi- do not discover infinite objects should not be suffocated in unifor- cal idea of considering all mathe- but invent them? The question mity. It is extremely difficult, how- matical propositions, axioms and whether, not only with respect to ever, to give adequate des- theorems, not as descriptive state- infinite objects but to many others criptions of this life. ments but as rules of our mathe- as well, mathematicians are dis- matical language. Thus, according to him, mathematical necessity would be the necessity of rules (»The bishop in chess must move diagonally.«). This view, however, Prof. Dr. Felix Mühlhölzer, Jahrgang 1947, studierte is beset with difficulties and needs Mathematik und Physik an den Universitäten Mainz, Bonn und Heidelberg, mit Mathematik-Diplom bei thorough elaboration. Albrecht Dold über »Garbenkohomologie und Cech-ˇ To consider mathematical sen- Kohomologie« im Jahr 1975. Nach einem Zweitstudi- tences as non-descriptive ones is a um Philosophie in München wurde er 1982 bei Wolf- trademark of formalism. Formalists gang Stegmüller über den Zeitbegriff in der Relativitätstheorie pro- see mathematics as a game with moviert und habilitierte sich 1989 an der Universität München über signs, in analogy to chess which is Thomas Kuhns Begriff der Inkommensurabilität. Nach einem Auf- a game with chess pieces. And as enthalt am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität it does not make sense to ask what Bielefeld als Mitglied der Forschergruppe »Semantical Aspects of a position in chess ›describes‹, the Spacetime Theories« in den Jahren 1992/93 war er bis 1997 Professor analogous question does not make für Wissenschaftstheorie und Logik an der Technischen Universität sense, according to formalism, Dresden und ist seitdem Professor für Philosophie an der Universität Göttingen. Seine Arbeit liegt schwerpunktmäßig in der Wissen- with respect to mathematical sen- schaftsphilosophie, insbesondere der Philosophie der Mathematik tences either. This view has its und Physik, umfasst jedoch auch Erkenntnistheorie, Sprachphilo- merits, but it contradicts the non- sophie und Philosophie des Geistes. Er orientiert sich dabei an der algorithmic traits of our mathe- Spätphilosophie Wittgensteins und forscht seit vielen Jahren, ge- matical practice and the experien- fördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, über die noch ces of mathematicians who insist weitgehend unerschlossene Philosophie der Mathematik des späten on using most of their sentences Wittgenstein. with descriptive content. The dif-

Georgia Augusta 6 | 2008 13 Foto: Gisa Kirschmann-Schröder te, Friedrich Althoff, wozuKleinauchnochdieUnterstützungderIndustriegewinnenkonn- bürokratische ZusammenarbeitvonFelixKleinmitdempreußischen Ministerialdirektor spanne von1895bis1933etablieren.Insbesonderedurch vertrauensvolleundun- Als weltweitführendesZentrumderMathematikkonntesich GöttingeninderZeit- der GöttingerGeschichteMathematik befassthat,einigeprominente Akteure vor. Prof. Dr. Benno Artmann, dersichseitseinerEmeritierung inDarmstadtintensivmit ihren Arbeiten dieMathematikdes20.Jahrhunderts zugestalten.ImFolgendenstellt bert –,umineiner Atmosphäre regenundfreienwissenschaftlichen Austausches mit Hil- tivsten MathematikerihrerZeitzusammen–unterihnenderherausragende David Benno Artmann Die GöttingerMathematikundihreProtagonisten Hochburg derMathematik wurde GöttingenzumMekkaderMathematik.Inkamen damalsdie krea-

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Um die Zeit der Gründung der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts er gewisse Leute, die nur auf An- Georg-August-Universität Göttin- war die mathematische Lehr- wendungen sehen, mit kleinen gen 1737 gab es in Deutschland buchliteratur dominiert von Chri- Kindern, die nur interessiert, was kaum kreative Mathematiker, viel- stian Wolff (1679 – 1754), dessen man in den Mund stecken kann. leicht einmal abgesehen von dem Werke um 1760 abgelöst wurden Berühmt und gefürchtet war Schweizer Mathematiker Leonard von den zahlreichen Büchern Kästner für seine satirischen Epi- Euler (1707 – 1783), der ab 1741 Kästners, die in vielen Auflagen gramme, wie das folgende über sei- an der Akademie in lehrte bis um 1800 meist beim Verlag ne Göttinger Professorenkollegen: und forschte. Auch die ersten Pro- Vandenhoek (und Ruprecht) in Georg Augustens Professoren, fessoren für dieses Fach in Göttin- Göttingen erschienen. Ihr Inhalt Das ist nun einmal hergebracht, gen waren gleichzeitig Physiker, reicht von einfachen Übungen zur Sind, sammt und sonders oder, besser gesagt, in heutigem Feldmesskunst bis hin zur »Analy- Wohlgebohren, Sinn Ingenieure. Mit der Berufung sis des Unendlichen«, womit die Doch manche sind nicht: von Abraham Gotthelf Kästner im Differential- und Integralrech- Wohlgemacht. Jahr 1756 kam dann ein Mathe- nung bezeichnet wird. Insbeson- Für den allgemeinen Bekannt- matiker nach Göttingen, der zu- dere die in der Feldmesskunst ent- heitsgrad, aber auch die ironische mindest durch seine Lehrbücher haltene Ballistik wurde von zu- Beurteilung Kästners in den intel- eine außerordentliche Breitenwir- künftigen Artillerieoffizieren be- lektuellen Zirkeln seiner Zeit sei kung erreichte, wobei auch er in sucht. Aus dem damals zu Eng- noch der Philosoph Immanuel gleichem Maße wie als Mathema- land gehörenden Königreich Han- Kant in einem Brief vom 27. Sep- tiker als Literat tätig war. Die Si- nover gingen viele dieser Studen- tember 1791 zitiert: »... ich bin tuation änderte sich schlagartig ten später nach Nordamerika und teils durch eigene Erfahrung, teils, mit der Berufung des genialen Ma- kämpften im Unabhängigkeits- und weit mehr, durch das Beispiel thematikers und Astronomen Carl krieg 1775 bis 1783. der größten Mathematiker über- Friedrich Gauß im Jahr 1807. Trotz seiner stark auf die An- zeugt, dass die bloße Mathematik wendungen hin orientierten Vor- die Seele eines denkenden Man- Bissiger Satiriker und Verfasser lesungen betont Kästner immer nes nicht ausfülle, dass noch et- mathematischer Lehrwerke: wieder den Charakter der Mathe- was anderes und wenn es auch, Abraham Gotthelf Kästner matik als Vorbild der Wissen- wie bei Kästner, nur Dichtkunst Beginnen möchte ich in der Vor- schaften. So fragt er etwa: »Wie wäre, sein muss, was das Gemüt stellung einer Reihe bedeutender kommt es, dass alle Lehrer der durch Beschäftigung der übrigen Göttinger Mathematiker mit Abra- Arithmetik und Geometrie über Anlagen desselben teils nur er- ham Gotthelf Kästner (1719 – alle Sätze vollkommen einig sind? quickt, teils ihm auch abwech- 1800). Kästner kam 1756 aus Von keinen anderen Teilen der selnde Nahrung gibt.« Leipzig als Professor der Mathe- Gelehrsamkeit lässt sich dieses Zum Schluss noch einmal Käst- matik nach Göttingen. Neben sei- weiter sagen, da in ihnen überall, ner selbst: Er schrieb laut Vorwort nen mathematischen Arbeiten nicht über Kleinigkeiten, sondern seine »Geschichte der Mathema- war er eine der Hauptfiguren der ... über die wichtigsten Dinge ge- tik« auch, um »zugleich die Dich- Aufklärung in Deutschland. In der stritten wird.« Ironisch vergleicht ter, die vor der Mathematik fliehen

Kurze Zwischenbemerkung über Primzahlen Mehrere Göttinger Mathematiker haben einen beträchtlichen Teil ihrer Forschungen den Primzahlen gewidmet. Primzahlen sind Zahlen, die nur durch sich selbst und 1 teilbar sind, wie etwa 2, 3, 5, 7, 11, 13, 17, ... , 127, ... . (1 gehört nicht dazu!) Der aus der Antike stammende Name »Primzahl« (numerus primus) bedeutet nichts anderes als »erste Zahl«, weil sie im Einmaleins immer nur an erster Stelle stehen und nie als Vielfache vorkommen können. Schon Euklid (um 300 v. Chr.) be- wies, dass es unendlich viele Primzahlen gibt. Die Verteilung der Prim- zahlen unter den gewöhnlichen Zahlen wird in ständig neuen Anläu- fen erforscht. Ziemlich leicht kann man sehen, dass es beliebig lange »Strecken« von Zahlen gibt, von denen keine einzige eine Primzahl ist. Abraham Gotthelf Kästner (1719 – 1800) Andererseits tauchen immer mal wieder so genannte Zwillinge von

16 Universität Göttingen MATHEMATIK MACHT GESCHICHTE

wie Frauenzimmer vor Maus und Von Carl Friedrich Gauß Frosch, zu belehren«. gezeichnete Karikatur, die seinen Lehrer Kästner zeigt. Neben der fehler- Genialität und Weltruhm: haften Addition beachte Carl Friedrich Gauß man die Beweisfigur zum Satz des Pythago- Carl Friedrich Gauß (1777 – 1855) ras oben links. kam in den Jahren von 1795 bis Abbildung: 1798 als Student und später von Handschriftenabteilung der SUB Göttingen 1807 bis 1855 als Direktor der Sternwarte nach Göttingen. Gauß gehört zusammen mit Archimedes (um 290 – 212 v. Chr.) und New- ton (1643 – 1727) zu den drei größten Mathematikern aller Zei- ten. Seine »Disquisitiones arith- meticae«, die »Zahlentheoreti- schen Untersuchungen«, von 1801 sind eines der bedeutendsten Werke in der Geschichte der Wis- senschaften. Mit diesem Buch zwei leicht zugängliche seiner gen.) Nehmen wir als Beispiel ei- stand Carl Friedrich Gauß im Alter Theoreme, ein arithmetisches ne von dem Philosophen Platon von nur 24 Jahren in der ersten ganz vom Anfang und ein geome- (428 – 348) wegen ihrer vielen Reihe der Mathematiker. Gauß trisches vom Ende des Buches: Faktoren bevorzugte Zahl (Geset- sagt in der Einleitung, dass sich Schon in den Elementen Eu- ze 738a): die Drucklegung vier Jahre hinge- klids (um 300 v. Chr.) steht, dass 5040 = 2 x 2 x 2 x 2 x 3 x 3 x 5 x 7 zogen habe. Folglich hatte er das man jede Zahl in unzerlegbare Warum können hier nur die Werk bereits 1797, mit 20 Jahren, Faktoren, eben in Primzahlen zer- Faktoren 2, 3, 5,7 und diese auch im Wesentlichen fertiggestellt. legen kann, wie etwa 30 = 2 x 3 x nur in der gegebenen Anzahl, vor- Aus seiner Studienzeit ist eine von 5 oder auch eventuell 17 = 17, kommen? Warum wäre dies auch ihm gezeichnete Karikatur seines weil 17 selbst eine Primzahl ist. etwa für eine beliebige 10.000- Professors Kästner überliefert. Ne- Was man nie hinterfragt hatte, stellige Zahl, für die niemand eine ben der fehlerhaften Addition soll- war, ob eine solche Zerlegung et- Primfaktorzerlegung explizit an- te man auch die Beweisfigur zum wa auch für sehr große Zahlen (bis geben kann, immer richtig? Offen- Satz von Pythagoras oben links auf die Reihenfolge der Faktoren) bar hat man das vor Gauß einfach beachten. Sicher konnte der Stu- nur auf eine Art möglich sei. (Man geglaubt. Als eines seiner allerer- dent Gauß nicht mehr viel von soll diese Frage nicht einfach bei- sten Theoreme in den Disquisitio- Kästner lernen. Um einen kleinen seite schieben. Sogar für gewöhn- nes beweist Gauß: Satz 16. Jede Eindruck von den Disquisitiones liche Zahlen wie 1 = 0,9999... zusammengesetzte Zahl lässt sich zu bekommen, betrachten wir nur gibt es verschiedene Darstellun- (bis auf die Reihenfolge) nur auf

Primzahlen auf wie 17, 19 oder 137, 139, also Primzahlen im Abstand zwei. Bis heute ist aber nicht bekannt, ob es unendlich viele Prim- zahlzwillinge gibt. Ein im Jahr 2004 von Ben Green und Terence Tao bewiesenes sensationelles Ergebnis, das mit der Fields-Medaille, dem »Nobelpreis der Mathematiker«, ausgezeichnet wurde, ist folgendes: Eine arithmetische Folge ist eine Reihe von Zahlen in festem Abstand voneinander, wie etwa 5 – 11 – 17 – 23 – 29 mit dem Abstand 6. Die hier genannten Zahlen sind alle Primzahlen, aber die nächste der Rei- he mit Abstand 6 wäre 35, keine Primzahl. Das Green-Tao-Theorem sagt nun: Es gibt unter den Primzahlen arithmetische Folgen von belie- biger endlicher Länge (aber keine von unendlicher Länge). Carl Friedrich Gauß (1777 – 1855)

Georgia Augusta 6 | 2008 17 ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

eine einzige Weise in Primfakto- halbierungen und Kombinationen aus einer Bemerkung in einem sei- ren zerlegen. Ganz gleich, wie weiter kommen kann. Zweitens ner vielen unveröffentlichten Ma- groß und unzugänglich die betref- beweist er, dass für Zahlen wie 7, nuskripte hervorgeht: »Es gibt im- fende Zahl auch sein mag. 9, 11, ... die Kreisteilung mit Zirkel mer Leute, die von der Erhaben- Zu unserem zweiten Beispiel: und Lineal nicht möglich ist. Das heit der ewigen Wahrheiten und Am Ende der Disquisitiones greift hat zum Beispiel zur Folge, dass ihrer göttlichen Schönheit nichts Gauß ein Thema auf, das er als ein Winkel von 40 Grad, wie er wissen und daher den Wert ma- Schlüsselerlebnis kurz vor seinem bei einer Teilung von 360 Grad in thematischer Untersuchungen nur 19. Geburtstag in seinem Tage- neun gleiche Teile auftreten wür- nach ihrer Verwendbarkeit in den buch festhält: Er findet für das re- de, niemals exakt genau konstru- Gebieten der angewandten Wis- gelmäßige 17-Eck (oder die Tei- iert werden kann. Übrigens hat senschaften einzuschätzen ge- lung eines Kreises in 17 gleiche man über die von Gauß oben ge- lernt haben; die obigen Entwick- Teile) eine Konstruktion mit Zirkel nannten fünf Primzahlen keine lungen werden den Nutzen ha- und Lineal. Das regelmäßige anderen der von ihm bestimmten ben, diesen Leuten unsere Unter- Sechseck kann jedes Kind konstru- Art gefunden. Die Suche ging per suchungen angenehmer zu gestal- ieren, wenn es mit dem Zirkel Computer bis zu Zahlen von etli- ten. In der Tat ist allgemein be- spielt. Durch Euklid, der auch die chen Milliarden Dezimalstellen. kannt, von wie großem Nutzen ei- zulässigen Konstruktionsmittel fi- So weiß man bis heute nicht, ob ne so rasch konvergierende Ent- xiert hat, ist uns überliefert, dass noch weitere Kreisteilungen theo- wicklung, wie die aus den obigen den Schülern des Pythagoras (ca. retisch exakt mit Zirkel und Lineal Sätzen entspringende, in der phy- 570 – 490 v. Chr.) die Teilung des konstruierbar sind. sikalischen Astronomie oder der Kreises in 3, 4, 5, 15 (und 8, 10, Nach diesem Frühwerk hat Theorie der Planetenstörungen 12, 16 ...) gleiche Teile gelungen sich Gauß vielen anderen Gebie- ist«. (C.F. Gauß: Nachlass zur war. Gauß setzt erneut bei Euklid ten der reinen und angewandten Theorie des arithmetisch-geome- an und macht einen gewaltigen Mathematik, der Astronomie und trischen Mittels und der Modul- Schritt vorwärts, wie er selbst in Physik gewidmet. Hier soll nur funktionen) Artikel 365 der Disquisitiones be- noch auf die von ihm zusammen tont. Erstens gibt er an, für welche mit dem Physiker Weber erfunde- Mathematische Juwelen: Primzahlen p wie 3, 5, 17, 257, ne erste elektrische Nachrichtenü- Peter Gustav Lejeune Dirichlet 65.537 die Kreis- bertragung verwiesen werden, er Nach dem Tod von Gauß kam Pe- teilung (das p- ist also sozusagen auch der Urva- ter Gustav Lejeune Dirichlet Eck) konstruier- ter des Telefons und anderer heu- (1805 – 1859) als dessen Nachfol- bar ist, und wie te alltäglichen Dinge. Auf die wei- ger nach Göttingen. Gauß selbst man durch ein- tere Entwicklung seiner Theorie hatte bereits 1832 überlegt, ihn fache Winkel- der Planetenbewegung wird an für Göttingen zu gewinnen. Nun anderer Stelle hingewiesen. Trotz war der Kandidat damals aber dieser vielfältigen Aktivitäten gerade mit Rebecca Mendels- hing sein Herz doch immer an sohn, der jüngeren Schwester des der reinen Mathematik, wie Komponisten Felix Mendelssohn-

Das Gauß-Weber-Denkmal auf dem Göttinger Wall Foto: Stadt Göttingen

18 Universität Göttingen MATHEMATIK MACHT GESCHICHTE

Bartholdy, frisch verheiratet und men. Aber sie sind Juwelen, und Geometrie mit Folgen: gehörte dadurch zu einem der an- Juwele legt man nicht auf die Krä- gesehensten Kreise von Kunst und merwaage.« Als Nachfolger von Dirichlet wur- Wissenschaft in Berlin. Da hielt Nun zu dem Theorem: Man de der schon in Göttingen tätige sich der zartfühlende Gauß zurück versucht, in der rätselhaften Ver- Bernhard Riemann (1826 – 1866) und gönnte dem jungen Paar die teilung der Primzahlen unter allen im Jahre 1859 berufen. Er hatte glückliche Zeit in der High Society Zahlen doch Regelmäßigkeiten zu schon hier bei Gauß und in Berlin der Großstadt. Als sie dann doch entdecken, das große Thema aller bei Dirichlet studiert. Gauß war 1855 nach Göttingen kamen, be- Primzahlforscher. Geht man nun von der Dissertation und beson- klagte sich Rebecca anfangs etwas auf die Suche nach Primzahlen – ders von Riemanns Habilitations- über die ungeschlachten Sitten Gauß tat das oft »im Kopf« bei sei- vortrag 1854 tief beeindruckt. Rie- der Göttinger Dienstboten, fand nen ihm manchmal langweiligen mann entwarf dabei die Grund- aber bald für die Familie ein pas- Vermessungsarbeiten –, so stellt ideen der so genannten Riemann- sendes Heim in der Mühlenstraße man leicht fest, dass gerade Zah- schen Geometrie, welche später 1, das heute mit einer Gedenktafel len (außer 2 selbst) keine Prim- unter anderem für die Relativitäts- gekennzeichnet ist. zahlen sein können, ebenso we- theorie wichtig wurde und weit- Obwohl die meisten mathema- nig Zahlen, die auf 5 enden (wie- reichende Folgen bis heute hat. tischen Ergebnisse Dirichlets sich der außer 5 selbst). Bleiben also In einer nur acht Seiten langen einer kurzen Beschreibung entzie- nur Zahlen mit den Endziffern 1, Arbeit zur Zahlentheorie ent- hen, gibt es doch eine zentrale Er- 3, 7 und 9. Diese sind manchmal wickelte Riemann 1859 ganz neue kenntnis über Primzahlen, die für Primzahlen, manchmal nicht. Di- Ideen bezüglich der Verteilung der jedermann zugänglich sein sollte. richlet hat darüber bewiesen: Auf Primzahlen unter den gewöhnli- Vorweg sei gesagt, dass Dirichlet lange Sicht verteilen sich die un- chen Zahlen. Er zeigte, dass man wohl der Erste war, der Gauß’ mo- endlich vielen Primzahlen völlig den Schlüssel zu vielen dahin numentales Frühwerk Disquisitio- gleichmäßig auf die vier mögli- gehörigen Problemen in der Hand nes arithmeticae von 1801 schon chen Typen. Es kommt aber noch hat, wenn man die Nullstellen ei- als junger Mann vollständig ver- besser: Wenn man die letzten zwei ner heute Riemannsche Zeta- standen hatte. Ein Zeitgenosse be- Endziffern einer Zahl berück- Funktion genannten Funktion ge- richtet: »So, wie gewisse Geistli- sichtigt, also von 01, 03, ... bis 99, nau kennt. Seine Vermutung über che mit ihrem Gebetbuch herum- so gibt es 40 mögliche Typen, und die Lage dieser Nullstellen, die ziehen, pflegt Dirichlet nur in Be- wieder herrscht gleichmäßige sprichwörtliche »Riemannsche gleitung eines ganz verlesenen, Verteilung. Geht man noch weiter Vermutung« (Riemann hypothe- aus dem Einband gewichenen Ex- zu drei Endziffern, so gibt es 400 sis) ist heute das größte ungelöste emplares der Disquisitiones auf gleichmäßig besetzte Typen – und Problem der Mathematik. Reisen zu gehen.« Gauß selbst so fort. Es mag einem schwindlig David Hilbert würdigte in einer schreibt 1845 an Alexander von werden, aber so ist es, Dirichlet seiner Vorlesungen Riemanns Humboldt über Dirichlet: »... sei- hat es bewiesen. Und, wie schon Arbeit von 1859 mit den Worten: ne einzelnen Abhandlungen fül- Kästner betont hat, da gibt es dann »... dass wohl selten eine Abhand- len noch gerade kein großes Volu- keine Diskussion mehr. lung von solcher Kürze, Schärfe

Gustav Lejeune Dirichlet (1805 – 1859)

Bernhard Riemann (1826 – 1866)

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und Genialität aus der Feder eines Aus dem Nachruf in den Annalen dem Preußischen Kultusbeamten Menschen geflossen ist, wie die- zitieren wir: »Der mathematische Friedrich Althoff befreundet. Die- ses Meisterwerk eines der größten Unterricht, so wollte Clebsch, soll- ser war bestrebt, in Göttingen einen Geister unserer Wissenschaft.« te von der Anschauung ausgehen, Schwerpunkt in Mathematik und Es gibt Mathematiker, die neben und durch die Anschauung Inter- Physik an den Universitäten des Archimedes, Newton und Gauß esse erwecken. Das eben war bei Deutschen Reichs aufzubauen. auch Riemann und Euler zu den seinen Universitätsvorträgen das Der Zusammenarbeit Kleins und größten aller Mathematiker zählen. Charakteristische: der Gegenstand Althoffs ist es zu verdanken, dass des Vortrags erwuchs vor den Zu- sich Göttingen mit den Berufungen Mathematik anschaulich hörern in organischem Aufbau. von David Hilbert, Hermann Min- unterrichten: Alfred Clebsch Und das in seinem ganzen Wesen kowski, Carl Runge, Edmund Lan- Nach dem Studium in Königsberg und Denken zu Tage tretende, dau und deren vielen hervorragen- und Professuren in Karlsruhe und selbst in seinen einzelnen Ab- den Schülern in der Zeit von 1895 Gießen kam Alfred Clebsch (1833 handlungen erkennbare Streben bis 1914 zu dem mathematischen – 1872) im Jahr 1868 nach Göttin- nach plastischer Darstellung und Zentrum weltweit entwickelte. gen. Durch eine neue Interpretati- künstlerischer Abrundung gab sei- Neben der reinen Mathematik on gewisser Riemannscher Ideen nen Vorträgen eine seltene Vollen- waren Kleins Hauptanliegen der schuf er das noch heute aktuelle dung und Anziehungskraft, und Ausbau der Verbindungen zwi- Forschungsgebiet der algebrai- verwandelte den Gegenstand des schen Mathematik, Naturwissen- schen Kurven und Flächen, von Vortrags in ein Bild von wahrhaft schaften und Technik sowie ande- denen die Kegelschnitte (Ellipsen, idealer Schönheit. Es war, im rerseits die Verstärkung der Ver- Parabeln, Hyperbeln) die einfach- höchsten Sinne des Wortes, ein bindungen zur Schule. Im Auftrag sten Beispiele sind. Viele seiner ästhetischer Genuss, seinem Vor- des Preußischen Kultusministeri- Flächen sind als Gipsmodelle in trage zu folgen.« ums fuhr er 1893 zur Weltausstel- der Sammlung des Mathemati- lung nach Chicago, unter ande- schen Instituts zu sehen. Ausbau mit Durchsetzungskraft rem, um die Praxis des Frauenstu- Clebsch war ein begeisternder und Weitsicht: Felix Klein diums in den USA zu erkunden. Lehrer. Unter seinen zahlreichen 1886 kam Felix Klein (1849 – Seinen Schüler Rudolf Schimmack bedeutenden Schülern nennen 1925) nach Professuren in führte er 1911 zur ersten Habilita- wir nur Felix Klein, der sich 1871 (bereits 1872), München und Lei- tion für Mathematikdidaktik in bei ihm habilitierte. Das Sprach- pzig nach Göttingen. Er galt um Deutschland. rohr seiner Schule waren die von 1880 als der führende Mathemati- Auch die großartige Sammlung ihm zusammen mit ker in Deutschland, der die genia- mathematischer Modelle, die man gegründeten Mathematischen An- len Ideen Riemanns ausarbeitete immer noch im Mathematischen nalen, lange Zeit eine der interna- und einer breiten mathematischen Institut besichtigen kann, ist haupt- tional führenden Zeitschriften in Öffentlichkeit zugänglich machte. sächlich auf Klein zurückzuführen. der Mathematik. Clebsch verstarb Klein war seit einem gemeinsa- Nach dem Bau der Physikalischen mit nur 39 Jahren als Rektor der men Sanitätsdienst im deutsch- Institute ab 1905 in der Bunsen- Georgia Augusta an Diphtherie. französischen Krieg 1870/71 mit straße war auch schon das Grund-

Alfred Clebsch (1833 – 1872)

Diagonalfläche von Clebsch

20 Universität Göttingen MATHEMATIK MACHT GESCHICHTE

stück für ein neues Mathematisches fellos das Zentrum der Mathema- lagen der Geometrie«. Unter die- Institut gekauft, aber der Bau ver- tik in Göttingen. Er hatte schon sem Titel veröffentlichte er die zögerte sich wegen des ersten Welt- vorher in Königsberg durch bahn- Festschrift zur Einweihung des kriegs und der folgenden Inflations- brechende Arbeiten auf sich auf- Gauß-Weber Denkmals in Göttin- zeit bis 1928/1929, so dass Felix merksam gemacht und rechtfertig- gen am 17. Juni 1899. Klein die Erfüllung dieses Wunsch- te die von Althoff und Klein in ihn Der Kreis der Schüler um Hil- traums nicht mehr erleben konnte. gesetzten Erwartungen, indem er bert war sehr erstaunt, als ihr Der Physik-Nobelpreisträger schon um 1900 zusammen mit Meister für das Wintersemester Max Born, der in den Jahren um Henri Poincaré (1854 – 1912) in 1898/99 eine Vorlesung mit dem 1905 Student der Mathematik und Paris der weltweit führende Ma- Titel Elemente der Euklidischen Physik in Göttingen war, be- thematiker war. Für den interna- Geometrie ankündigte. Von dieser schreibt das Wirken Kleins in die- tionalen Mathematikerkongress Vorlesung ist eine handschriftli- ser Zeit mit folgenden Worten: 1900 in Paris wurde er um einen che Ausarbeitung von H. v. Scha- »Klein umfasste nicht nur Mathe- Vortrag über die Zukunft der Ma- per erhalten. Man erhält durch sie matik als eine Einheit, sondern alle thematik im neuen Jahrhundert einen wunderbaren Einblick in Naturwissenschaften. Durch seine gebeten. Seine Antwort war die Hilberts Arbeitsweise während machtvolle Persönlichkeit, unter- Formulierung von 23 aktuellen der Vorlesung, etwa wenn er an- stützt von einer schönen, männli- Problemen, die auch tatsächlich fangs etwas als ungeklärtes Pro- chen Erscheinung, wurde er füh- die Richtung der mathematischen blem hinstellt und einige Wochen rend in der Fakultät und der gan- Forschung in den folgenden fünfzig später sagt: Hier ist die Lösung! zen Universität. Eine der wesentli- Jahren wesentlich beeinflussten. Am Anfang dieser Vorlesung chen Leistungen Kleins war die Hilbert wandte sich alle paar steht eine detaillierte Diskussion Schaffung einer mathematischen Jahre einem völlig neuen Arbeits- verschiedener Axiome der Geo- Schule ersten Ranges durch Beru- gebiet zu. In dieser Universalität metrie, die er mit der folgenden fung anderer Mathematiker von ist er nur mit Gauß vergleichbar Bemerkung abschließt: »Die Rei- Weltruhm. Dass er dies tat ohne und seither nie wieder erreicht henfolge der nun folgenden Sätze den leisesten Anfall von Eifer- worden. So erschloss er in den wird von der in den Lehrbüchern sucht, ist der beste Beweis seiner Jahren um 1905 mit der Entwick- der Elementargeometrie üblichen menschlichen Größe. Mit den lung der Funktionalanalysis die stark abweichen, sie wird dagegen Jahren wurde Klein immer mehr späteren Methoden der Quanten- vielfach übereinstimmen mit der der Zeus, der über den anderen theorie und arbeitete danach mit Reihenfolge bei Euklid. So führen Olympischen Größen thronte. Er Einstein zusammen an der allge- uns diese ganz modernen Unter- hieß bei uns der ›Große Felix‹ und meinen Relativitätstheorie. In den suchungen dazu, den Scharfsinn herrschte über unser Schicksal.« 1920er Jahren widmete er sich mit dieses alten Mathematikers aufs seinen Schülern Fragen der Logik, Höchste zu bewundern.« Wegbereiter der Mathematik des die wiederum später für die Com- Euklid (um 300 v. Chr.) hatte in 20. Jahrhunderts: David Hilbert putertechnologie wichtig wurden. seinen Elementen die Geometrie David Hilbert (1862 – 1943) war Unter seinen Themen ist eines auch auf Axiomen aufgebaut. Da sein nach seiner Berufung 1895 zwei- allgemein zugänglich, die »Grund- Buch aber ein heterogenes Sam-

Felix Klein (1849 – 1925)

David Hilbert (1862 – 1943)

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melwerk ist, ist der beabsichtigte Daran sind zwei Aspekte be- Insbesondere in Bezug auf den Aufbau nur in Teilen wirklich merkenswert: einmal die »für ma- ersten Aspekt hat man die Grund- durchgeführt. Hilbert diskutiert thematische Zwecke genaue und lagen der Geometrie als Grün- die Axiomatik in der Vorlesung in vollständige« Grundlegung der dungsdokument der modernen Ma- vielen Einzelheiten. In der Buch- Theorie durch Axiome, das be- thematik bezeichnet. Der zweite fassung – wieder ein Zeugnis ak- deutet eben auch die vollständige Aspekt gehört eher in die Philoso- tueller Arbeit – ist das dann sehr Ablösung von der Anschauung für phie der Mathematik, in der die komprimiert. Für den (auch für die Beweisführungen. (Natürlich ver- Seinsart der Objekte der Mathe- Mathematik allgemein geltenden) wendet Hilbert dann später sozu- matik auch heute weiter diskutiert grundsätzlichen Standpunkt Hil- sagen als hilfreiche Hinweise für wird. berts dabei zitieren wir die ersten schnelleres Verständnis der Argu- Mit einem Zitat Hilberts soll Worte des Buches: mente auch Zeichnungen.) Dieser diese Einführung in die Gedan- »Erklärung: Wir denken drei Standpunkt hat sich in der heuti- kenwelt einiger berühmter Göttin- verschiedene Systeme von Din- gen Mathematik allgemein durch- ger Mathematiker enden, das er gen: Die Dinge des ersten Systems gesetzt. Zweitens, und im Zusam- 1932 seinem Werk »Anschauliche nennen wir Punkte, ... die des menhang damit, die hier betonte Geometrie« voranstellte: »Im all- zweiten Systems Geraden ... und Formulierung »Wir denken drei gemeinen erfreut sich die Mathe- die des dritten Systems Ebenen ... Systeme ...« , »Wir denken die matik, wenn auch ihre Bedeutung Wir denken die Punkte, Gera- Punkte ... in gewissen Beziehun- anerkannt wird, keiner Beliebt- den, Ebenen in gewissen gegen- gen«. Mit voller Absicht steht hier heit. Das liegt an der weit verbrei- seitigen Beziehungen, ... die ge- nicht das unverbindliche »Wir teten Vorstellung, als sei die Ma- naue und für mathematische denken uns ...«. Die Betonung thematik eine Fortsetzug oder Zwecke vollständige Beschrei- liegt auf der eigenständigen den- Steigerung der Rechenkunst. Die- bung dieser Beziehungen erfolgt kerischen Hervorbringung der ser Vorstellung soll unser Buch durch die Axiome der Geometrie.« Objekte des Denkens. Hier schließt entgegenwirken.« Dass die Ma- Hilbert offenbar an die schon von thematik mehr ist als gesteigerte Richard Dedekind (1831 – 1916, Rechenkunst, sollte auch dieser Schüler von Gauß) betonte Schöp- Beitrag – wie im Übrigen alle Arti- fungskraft des menschlichen Geis- kel in diesem Magazin zum Jahr tes an. der Mathematik – zeigen.

Boysche Fläche - geometrisches Objekt, entdeckt 1902 vom Hilbert-Schüler Werner Boy

22 Universität Göttingen MATHEMATIK MACHT GESCHICHTE

After the founding of the Klein, the most famous mathema- full professors of mathematics, Georg-August-Universität tician in Germany at the time, was which was unheard of in those Göttingen in 1737, the first pro- called to Göttingen. Klein was not days.) fessors to teach mathematics only a very creative mathemati- In the 1920s Emmy Noether would today be regarded more as cian, but also a remarkably suc- and her group in Göttingen de- engineers than as mathematicians. cessful manager. In close cooper- veloped what was then called In 1756 G. A. Kaestner came to ation with the government in Berlin »modern algebra«. This new style Göttingen from Leipzig explicitly he was able to create a mathema- in mathematics was popularized as a professor of mathematics. He tics department with the profes- and became standard right up to wrote a series of very popular text- sors Hilbert, Minkowski, Runge, today through the book under this books, but otherwise was at least and a crew of very talented young very title by van der Waerden, one as active in the of literature as scientists, which constituted the of Noether’s young co-operators. he was in mathematics. mathematical centre of the world Göttingen was long regarded The situation changed com- during the period 1895 – 1914. as the hub of the mathematical pletely, at least with respect to (One has to keep in mind the fact world – a position lost when mathematical research, upon the that around 1900, the University under Nazi rule more than 50 pro- arrival of C. F. Gauss in Göttingen of Göttingen had a total of approxi- fessors and lectures were in 1807. But even he received his mately 1,500 students and four forced to leave the university. position in fact as an astronomer, not as a mathematician. After the death of Gauss, it was clear to the Prof. Dr. Benno Artmann, Jahrgang 1933, hat seit sei- University that his successor had ner Emeritierung 1998 von der TU Darmstadt einen to be a most eminent mathemati- Lehrauftrag für Didaktik der Mathematik am Mathe- cian. That was why they called matischen Institut der Universität Göttingen. Seine Dirichlet, whom Gauss himself Ausbildung begann mit einer Maurerlehre, der das had esteemed highly. The same Abitur auf dem zweiten Bildungsweg sowie ein Studi- was true for Dirichlet’s successor um der Mathematik und Physik an den Universitäten Tübingen, Göt- Riemann. Like Riemann, the next tingen und Gießen folgten. Nach der Promotion 1965 in Gießen war mathematician, Clebsch, died at der Mathematiker von 1966 bis 1968 an der University of Michigan an early age in 1872. A series of (Ann Arbor, USA) und der McMaster University (Hamilton, Ontario, further mathematicians came, but Kanada) tätig. Im Anschluss an die Habilitation (1968) mit Arbeiten aus der projektiven Geometrie in Gießen wurde Benno Artmann dort left Göttingen again for other 1970 zum Professor am Mathematischen Institut berufen. 1974 destinations after only a few years. übernahm er der Leitung einer von der VolkswagenStiftung einge- In the early 1880s the Prussian richteten Arbeitsgruppe für Didaktik der Mathematik an der TU administration decided to estab- Darmstadt. Angeregt durch didaktische Überlegungen zur Elemen- lish the University of Göttingen as targeometrie vertiefte er seine Studien der Elemente Euklids, deren a second centre of mathematics Ergebnisse er in dem Buch »Euclid – The Creation of Mathematics« and physics alongside the univer- (2. Aufl. Springer New York 2001) zusammenfasste. sity of Berlin. This is why Felix

Georgia Augusta 6 | 2008 23 Im so genannten »Giftschrank« der Bibliothek des Mathematischen Instituts in der Göttinger Bunsenstraße stehen 29 Bände der »Protocolle« – Aufzeichnungen der Seminare, die von Felix Klein geleitet wurden: 40 Jahre, mehr als 8.000 Seiten, nicht nur über Mathematik sondern auch Mechanik, Astronomie, Geodäsie, Hydrodynamik, Elektrizität und in späteren Jahren Psychologie, Philosophie und Pädagogik. Diese Protokolle und auch andere Dokumente über Klein, werden hier vorgestellt. Die Felix Klein Protokolle Aus dem »Giftschrank« der Mathematischen Fakultät

Yuri Tschinkel

Aus der Biographie Weite der wissenschaftlichen Auffassung, dem auch Felix Klein wurde am 25. April 1849 in Düsseldorf ge- eine Kenntnis der ausländischen Leistungen wichtig boren. Aus der Autobiographie [4] erfahren wir über erschien, fand damals in Deutschland nur wenig Ver- seinen Vater: »alt-preußisch protestantische Gesin- ständnis. So bekam ich z. B., als ich mich in Berlin auf nung, ... zäher Wille, nie nachlassender Fleiß, nüch- Drängen meines Vaters im Kulturministerium um terner Wirklichkeitssinn, unbedingte Zuverlässigkeit« Empfehlungsschreiben bemühte, die offizielle Ant- und über seine Mutter: »von heiterer Natur und von wort: ›Wir bedürfen keiner französischen oder engli- größerer Beweglichkeit der Auffassung als der Vater.« schen Mathematik.‹« Kurz nach Kleins Promotion 1868 in Bonn starb Der Krieg überraschte Klein in Paris. Er eilte zurück sein Doktorvater Julius Plücker. Die Herausgabe des- nach Deutschland, um in das preußische Heer einzu- sen »Neue Geometrie des Raumes« übernahm der treten. Nach kurzem Militärdienst habilitierte er 1871 Göttinger Alfred Clebsch, der seinerseits diese Aufga- in Göttingen und erhielt bereits 1872 den Ruf auf ei- be an Klein weiterreichte. Also wurde Klein nach Göt- ne Professur in Erlangen: »... der mathematische Be- tingen geholt, wo für ihn eine Zeit »beglückender wis- trieb in Erlangen lag völlig darnieder. Offenbar hatte senschaftlicher Begeisterung einsetzte«. man eine ganz junge Kraft gerufen, damit sie einem Diese war von kurzer Dauer: »So ging ich entge- tief im Schlendrian stecken gebliebenen Karren Vor- gen dem Wunsche von Clebsch, der mir genauso wie spanndienste leistete.« früher Plüecker von diesem Plane abgeraten hatte, Wieder kam das Schicksal dazwischen: Clebsch schon im Herbst 1869 nach Berlin, wo eine ganz an- starb und seine Schüler, teilweise älter als Klein, ka- dere mathematische Richtung herrschte als die, wel- men nach Erlangen. Unter seinen damaligen Hörern che ich bisher kennengelernt hatte. ... Für den Som- waren Max Planck, Adolf Hurwitz und Ferdinand von mer 1870 ging ich mit meinem Freunde Lie zusam- Lindemann. men nach Paris. Den folgenden Winter wollten wir Die nächsten Jahre, in Erlangen (1872 – 1875), dann in England zubringen, was aber der einsetzen- München (1875 – 1880) und Leipzig (1880 – 1886) de Krieg vereitelt hat. Dieser Drang nach möglichster waren voll von angespannter wissenschaftlicher Arbeit, die in Untersuchungen der automorphen Funktionen haben sie lange nicht verstanden. ... Obgleich ich und dem Wettbewerb mit Henri Poincaré kulminierten. Dich daher als Sieger in diesem Kampfe mit den Ber- In [5] werden die Ereignisse der folgenden Jahre so linern betrachte, so glaube ich, dass es für Dich gut zusammengefasst: sein wird, für einige Jahre diese aufreibende Ge- schichten zu verlassen, um so mehr da Deine Ge- 1882: Volles Zusammenklappen der grossen Produkti- sundheit nicht immer befriedigend ist. Du kannst es vität. Unmöglichkeit, wiss. und organisatorische Arbeit mit Ehre machen; denn der Sieg ist Dein. Ich glaube nebst allseitiger Dozententätigkeit mit gleicher Energie übrigens, dass Dein Ruhm sehr viel durch eine Ueber- neben einander herzuführen. ... Bild von dem Mantel, der mir zu weit ist. siedelung nach Baltimore wachsen wird. ... Und was Deutschland betrifft, ... fühle ich mich überzeugt, 1883: Bullfieber betr. Baltimore. 12 Dez. Ruf nach Baltimore. Große Lust, hinzugehen. dass die Berliner Schule Dir genauer folgen wird, [endlose Korrespondenz nach allen Seiten] wenn Du erst in Baltimore bist.« Zu dieser Zeit befand sich das mathematische Zen- 1884: 31. Jan. Baltimore abgelehnt trum Deutschlands zweifelsohne an der Friedrich- 1884: 19/10 Göttingen fängt an zu spuken. Wilhelms-Universität (ab 1949 Humboldt-Universität) 1885: Bruns nach Göttingen! in Berlin. Bruns lehnt Göttingen ab. Die Berliner Schule stand Klein sehr ablehnend ge- 7/8 Ruf nach Göttingen. Angenommen: genüber. Bei der Besetzung einer Professur 1892 wurde Haus mit Garten er mit folgender Begründung übergangen [1, S. 207]: Weniger Geschäfte »... Vor allen Dingen aber mußte darauf Bedacht ge- Preußen. nommen werden, daß die zu Berufenden geeignet gesucht: Konzentriertes wissenschaftliches Dasein sein würden, die seit Generationen an unserer Uni- auf Basis eines vernünftigen Familienlebens versität geübte Anleitung der Studierenden zu ernster und selbstloser Vertiefung in die mathematischen Pro- Im Folgenden ein Auszug aus der Korrespondenz, bleme fortzusetzen. Aus diesem Grunde mußte von vor der Ablehnung des Rufes nach Baltimore im De- Persönlichkeiten wie Professor Felix Klein in Göttin- zember 1883. Der Freund Sophus Lie schrieb an Klein: gen (geb. 1849) abgesehen werden, über dessen wis- »Was Dich und Deine wissenschaftliche Thätig- senschaftliche Leistungen die Urtheile der Gelehrten keit angeht, so glaube ich, dass eine Uebersiedelung sehr getheilt sind, dessen ganze Wirksamkeit aber in nach Baltimore (die doch hoffentlich nur fünf bis zehn Schrift und Lehre mit der eben gekennzeichneten Jahre dauern wird) Dir im grossen Ganzen nützlich Tradition unserer Universität in Widerspruch steht.« und förderlich sein wird. Hierbei sehe ich die Sache Was seine Aktivitäten bei der Anleitung der Stu- folgendermassen. Zwischen Dir und Berlin, wie dierenden anging, hatte Klein zu diesem Zeitpunkt früher zwischen Clebsch und Berlin, besteht ein Ri- bereits 30 Dissertationen betreut, weitere 27 kamen valisiren. Du deinerseits bist gerecht gegen die Berli- noch dazu. Unter seinen Doktoranden waren Maxime ner, die Du verstehst und würdigst. Die Berliner Schu- Bocher, Henry B. Fine, Vergil Snyder, Henry White – le dagegen hat im längsten versucht, Deine Thätigkeit spätere Präsidenten der American Mathematical So- wenn nicht eben ignorieren, so doch möglichst her- ciety. Kleins Göttinger Kollege Hermann Schwarz, der unterzuziehen. Alle Deine glänzenden geometri- sich übrigens im Separatvotum gegen die Berufung schen Arbeiten kommen bei den meisten dieser Her- von Klein nach Göttingen ausgesprochen hatte, geht ren wenig in Betracht. Deine analytischen Arbeiten nach Berlin. Dazu schrieb Klein taktvoll [4, S. 23]: ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

»Hinterher muß ich es als ein Geschenk betrach- Nach der Ablehnung des Rufes durch Hilbert ten, dass allerlei Hemmungen, die in den Verhältnis- bemühten sich die Berliner weiterhin, die vakante sen lagen, sich damals der Ausübung meiner organi- Stelle zu füllen. Bereits einen Monat nach dem obi- satorischen Neigungen entgegenstellten und ich auf gen Brief, ging der nächste Antrag an den Minister [1, diese Weise Zeit zum Ausbau und Abschluß meiner S. 214]. In diesem wurden weitere Kandidaten be- wissenschaftlichen Arbeiten gewann. Denn mit dem sprochen: Fortgange H. A. Schwarzs, der 1892 einem Ruf nach »Herr Runge an der technischen Hochschule zu Berlin Folge leistete, begann für mich eine neue Peri- Hannover ist ein feiner, geistreicher Kopf, aber seit ode meiner Tätigkeit.« langer Zeit nicht mehr Mathematiker, sondern aus- schließlich Physiker. Ehe er sich seinem eigentlichen Forschungsgebiete zuwandte, der physikalischen Op- tik, worin er Vorzügliches geleistet hat, hat er einige kleinere Aufsätze mathematischen Inhalts verfaßt, worin er das, was er bei seinen Lehrern Weierstrass und Kronecker gelernt hat, auf specielle Fragen an- wendet, und die, etwa als Seminararbeiten aufgefaßt, recht beachtenswert sein würden, aber einen An- spruch auf eine mathematische Professur an unserer Universität in keiner Weise begründen können. Seine Berufung würde lediglich eine Verstärkung des physi- kalischen Unterrichts bedeuten. Das dritte Ordinariat für Mathematik aber, auf dessen Erhaltung an unserer Universität Kummer, Weierstrass, Kronecker so hohen Werth gelegt haben, und das die Liberalität der Re- gierung unserer Schwesteruniversität Göttingen in so hoch erfreulicher Weise jetzt ebenfalls zugestanden hat, würde uns zu derselben Zeit auf diesem Umwe- Abb. 1: Aufzeichungen ge thatsächlich wieder entzogen sein.« zur Lehrveranstaltung von Klein, Hilbert und Zum ersten großen Erfolg Kleins, im Rahmen der In der ursprünglichen Fassung fanden sich auch Minkowski im Winter- neu entstandenen Freiräume, wurde die 1895 durch- solche Betrachtungen, die dem voreingenommenen semester 1905/06 zum gesetzte Berufung des 33-jährigen David Hilbert auf Ministerium die Augen öffnen sollten: Thema »Automorphe Funktionen« den Gauß-Lehrstuhl nach Göttingen. Hilberts Vortrag »Wir müssen noch einer mißverständlichen Auf- auf dem Weltkongress der Mathematiker in Paris im fassung vorbeugen, die sich leicht bei denen einstel- Jahr 1900, in dem er die berühmten 23 Probleme for- len kann, die der Mathematik ferner stehen, insbe- mulierte, etablierte ihn als einen der einflussreichsten sondere solchen, die theologisch oder juristisch ge- Mathematiker seiner Zeit. Er überzeugte sogar die schult sind. [...] In der Mathematik gibt es schöpferi- Berliner Schule: Im Jahr 1902 beantragte die Philoso- sche Künstler und nachbildende Handwerker, scharf- phische Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität, sinnige Kritiker und kritiklose Eklektiker. Solche, die Hilbert zum Nachfolger von Fuchs zu berufen. Die Probleme stellen und lösen können und solche, deren Kommission hielt es für nötig, neben viel Lob für Hil- Willen größer ist als ihr Können (gewissenhafte For- bert (»kühnes Genie«) auch die folgende Meinung scher, die es für nötig halten, für ihre Behauptungen dem Minister zukommen zu lassen [1, S. 211]: strenge Beweise beizubringen und geistreiche Feuil- »Die Gründe, welche die Facultät vor 10 Jahren letonisten, die sich darüber erhaben dünken), ...« bewogen haben, Herrn Klein in Göttingen nicht vor- Der »nachbildende Handwerker« in Göttingen be- zuschlagen und auf die wir bitten Bezug nehmen zu antragte bald eine neue Professur: Den ersten Lehrstuhl dürfen, bestehen nicht nur unvermindert fort, sondern Deutschlands für angewandte Mathematik, auf den haben sich inzwischen noch verstärkt, weil er [für 1904 Carl David Runge berufen wurde. Aus dem An- diesen ganzen Zeitraum kaum eine wissenschaftliche trag der Friedrich-Wilhelms-Universität an den Kul- Leistung von Bedeutung aufzuweisen hat und seine tusminister von Trott vom 22. Juni 1914, ein viertes Gedanken mehr und mehr anderen Interessen zuge- Ordinariat zu errichten und Hilbert zu berufen sei fol- wandt zu haben scheint].« gende Passage zitiert: [1, S. 221]: Gleichzeitig bekam der Minister einen Antrag aus »Auch Göttingen hat ja vier etatsmäßige mathe- Göttingen für ein Extraordinariat für reine Mathematik matische Ordinariate. [...] Er [Hilbert] ist einer der als Teil des Bleibeangebots für Hilbert. In diesem Ver- scharfsinnigsten und vielseitigsten Mathematiker, ein gleich gewann Göttingen; Hermann Minkowski, ein Gelehrter von Weltruf, Mitglied der meisten gelehrten Schulfreund von Hilbert, wurde schließlich berufen. Da- Gesellschaften. Wir haben seine Leistungen schon zu bemerkte Klein: »Beginn der Kultur der Gegenwart.« einmal gewürdigt, als wir 1902 seine Berufung an un-

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sere Universität beantragten. Damals hat er den Ruf abgelehnt; inzwischen hat er sich, nachdem Berlin ein kleines Göttingen geworden ist, vielleicht eines besseren besonnen.« Auch diesmal lehnte Hilbert ab. Die Resignation über die Verwandlung von Berlin in ein »kleines Göt- tingen« hatte einen Nachklang im Antrag von 1919 bei dem gescheiterten Versuch, auch in Berlin ein Or- dinariat für angewandte Mathematik zu errichten und Runge zu berufen: »Runge ist ein ausgezeichneter Lehrer; er hat in Göttingen eine sehr inhaltsreiche Tätigkeit entwickelt und sein Institut zu hoher Blüte gebracht; eine Reihe interessanter Dissertationen sind in seinem Institut entstanden. [...] Falls es gelingen sollte, Runge für die Berliner Universität zu gewinnen, worauf die Hoff- nung nicht ganz unberechtigt ist, würde er trotz sei- ner Jahre in wenigen Jahren auch hier ein Zentrum für die angewandte Mathematik schaffen ...« Einen großen Anteil an der skizzierten Transforma- Abb. 2: Portrait von tion der Mathematik in Deutschland hatte Friedrich Felix Klein Althoff, der Klein bereits 1870 während des Krieges kennengelernt hatte. Er wurde 1882 als Universitäts- referent in das preußische Bildungsministerium beru- oben seine schattengebenden Äste frei entfaltet. Sol- fen, stieg 1897 zum Leiter des gesamten Unterrichts- len wir die Wurzel oder die Zweige als den wesentli- und Hochschulwesens auf und war in dieser Funktion cheren Teil ansehen? Die Botaniker belehren uns, daß maßgeblich an der Verteilung der Stellen und Mittel die Frage falsch gestellt ist, daß vielmehr das Leben beteiligt. Für manche war er »Intrigant unter der Mas- des Organismus auf der Wechselwirkung seiner ver- ke eines biederen westfälischen Bauern«, für Felix schiedenen Teile beruht.« Klein dagegen ein effektiver Staatsmann [4, S. 24]: In den Jahren 1880 bis 1895 wurden die Themen »Mißvergnügte Elemente haben in der Presse die der Seminare deutlich präziser. Es ging hauptsächlich Ansicht zu verbreiten gesucht, Althoff sei der Typus um Kleins eigene Forschung in Funktionentheorie eines reaktionären Beamten gewesen, eine Behaup- und Gruppentheorie. Im Wintersemester 1881/82 tung, die aber völlig unzutreffend ist. Die Sache war trug er über seine Arbeit »Riemanns Theorie der alge- vielmehr die, daß er nach oben und unten autokra- braischen Funktionen und ihrer Integrale« vor, im Win- tisch verfuhr und nach opportunistischen Grundsät- tersemester 1882/83 behandelte er »Hyperelliptische, zen handelte, wobei er sich für jedes einmal als rich- Abelsche und Thetafunktionen« und anschließend Abb. 3: Zeichnung von tig erkannte Ziel voll und ganz einsetzte und es unter Felix Klein: Ikositetraeder Ersinnung immer wechselnder Methoden, die gerade für die betreffende Lage Erfolg versprachen, schließ- lich erreichte.«

Die »Protocolle« Die Seminare in Erlangen und Leipzig behandelten viele Gebiete der Mathematik und Physik ohne er- kennbaren Plan. Unter dem Titel »Über verschiedene Gegenstände« wurden Vorträge über »Physikalische Theorie des Nordlichtes«, »Die Elemente der Arith- metik«, »Das Imaginäre in Geometrie« und »Die Ver- teilung der Wärme in der Kugel« gehalten. Felix Klein sprach über Auflösung von Gleichungen vom Grad 5, magnetische Kurven, elastische Saiten, die Gesetze von Ampère und Ohm sowie polarisiertes Licht. Spä- ter schrieb Klein [3, S. 240]: »Ich vergleiche die mathematische Wissenschaft mit einem Baume, der seine Wurzeln nach unten im- mer tiefer in das Erdreich treibt, während er nach

Georgia Augusta 6 | 2008 27 ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

widmete er sich fast ausschließlich den hyperellipti- Gut, die trotz aller Enge bewahrte Lauterkeit der rein schen und hypergeometrischen Funktionen. Nach wissenschaftlichen Forschung, die von keinen Ne- der Berufung von Hilbert und später Minkowski wur- benzwecken beeinflusst wird, durch die Berührung den gemeinsame Seminare über Funktionentheorie, mit den Kreisen des Erwerbs Schaden leiden. Man Mechanik, Differentialgleichungen und automorphe warf mir Amerikanismus vor, sprach vom Verrate an Funktionen organisiert. der Wissenschaft, ja man fürchtete sich sogar, durch Die letzten 15 Jahre seiner Seminartätigkeit an der die Annahme finanzieller Hilfe in gefährliche Abhän- Georgia Augusta waren durch eine unglaubliche Aus- gigkeit zu geraten.« weitung der Themen gekennzeichnet: Zusammen mit Es wurden auch Grenzfragen der Mathematik und Prandtl, Runge und Voigt führte Klein Seminare über Philosophie behandelt, wobei sich mitunter Kleins Elastizitätstheorie, Elektrotechnik, Hydrodynamik, heitere Natur offenbarte. Zu Euclid’s Definition Schiffstheorie und Meteorologie, Baukonstruktion »Fläche ist, was nur Länge und Breite hat« sagte er [3, und Festigkeitslehre durch; mit Bernstein darüber hin- S. 250]: aus ein Seminar über Versicherungsmathematik. Diese »Wenn Sie aber andere Gegenstände, die uns täg- Themenfülle war mit dem Aufbau von Kontakten und lich umgeben, aus kleinerem Abstand betrachten als Kooperationen mit der Industrie [4, S. 27] verbunden: die Wände, z. B. des Morgens nach dem Aufstehen »Den amerikanischen Anregungen folgend, war es den Badeschwamm, mit dem man sich wäscht, oder von vornherein meine Absicht, industrielle Kreise für beim Frühstück die Semmel, die man durchbrochen diese Gedankengänge und für unser Göttinger Institut hat – wo ist da die Oberfläche, die nur Länge und im besonderen zu interessieren. Obwohl mich hier- Breite hat?« bei der Gedanke reizte, in unserm überall auf Staats- hilfe wartenden Volke einmal aus privater Initiative Das Erbe Ideen zur Verwirklichung zu bringen, lag mir dennoch Im Frühjahr 1923 schrieb Felix Klein:»Dabei ist es mir bedeutend mehr an der befruchtenden gegenseitigen aber immer klarer geworden, daß es uns Menschen in Einwirkung, welche ich mir von der Zusammenarbeit nur sehr beschränktem Sinne möglich ist, das eigene des stillen Gelehrten und des im praktischen Leben Schicksal selbstständig zu gestalten, da immer wieder stehenden, schöpferisch tätigen Großindustriellen äußere Umstände, die von unserm Willen unabhän- versprach.« gig sind, maßgebend dazwischen treten.« »Mit diesen Gedanken stieß ich aber überall auf Sein ganzes Leben lang kämpfte Klein um die Er- Widerstand. Zunächst wurde von Seiten der Univer- richtung eines mathematischen Instituts in Göttingen. sitäten die Befürchtung laut, es könnte ihr köstliches Mehrere detaillierte Pläne wurden angenommen und

Abb. 4: Skizze der Kaiser- Wilhelm-Brücke bei Müngsten aus Kleins Unterlagen zum Som- mersemester 1900 »Anwendungen der Elastizitätstheorie«. Die Kaiser-Wilhelm-Brücke war zum Zeitpunkt ihrer Einweihung im Jahr 1897 die größte Brücke der Welt.

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verworfen, weil Krisen, Krieg und Inflation dazwi- The Library of the Mathematics Institute of the schenkamen. Felix Klein starb im Juni 1925. Im Ok- University of Göttingen holds a Giftschrank, or tober 1925 kam A. Trowbridge nach Göttingen, als »poison cabinet«, a collection of rare mathematical Vertreter des International Education Board (IEB), ei- manuscripts and books. A recent report on this ar- ner Rockefeller-Stiftung. Sein Hauptkontakt in Göttin- chive by J. Gray speaks of »a range of material unri- gen war Richard Courant. In seinem Bericht findet valled in quantity and quality«. The Giftschrank in- sich folgende Bemerkung zur Göttinger Mathematik cludes handwritten lecture notes of lectures held in [6, S. 145]: Göttingen by Dirichlet, Riemann, Clebsch, Hilbert, »The group has a lot of »pep« (they are criticized Minkowski, Hasse, Siegel, and Born. The centrepiece as having the ambition of being a world center in of this collection is Felix Klein’s set of seminar records: mathematics and some of the mathematicians [...] in- 8,000 pages, 29 volumes, 40 years of seminar notes. timate that they would be unscrupulous in trying to The article describes Felix Klein’s manifold scientific realize this ambition). [...] The really great eminence interests, as documented in these Protocolle, and his of the Göttingen school of mathematics existed twen- relentless push to develop Göttingen to the leading ty years ago.« centre of mathematics in Germany. Trotz dieser verhaltenen Einschätzung erfolgte In his Evanston Colloquium lectures in 1893, after 1926 das Angebot der Stiftung, ein Institut zu errich- the Chicago World Fair, Klein described his programme ten. Im November 1929 wurde das Institut in der Göt- as follows: »As regards my own higher lectures, I tinger Bunsenstraße eröffnet. Vier Jahre später muss- have pursued a certain plan in selecting the subjects ten Courant und viele seiner Kollegen Göttingen we- for different years, my general aim being to gain, in gen der Judenverfolgung in Deutschland verlassen. the course of time, a complete view of the whole field Richard Courant wurde Professor an der New York of modern mathematics, with particular regard to the University. Er gründete ein neues Institut, das 1965 in intuitional or (in the highest sense of the term) geo- ein großzügiges Gebäude am Washington Square ein- metrical standpoint.« zog. Als er kurz vor seinem Tod 1972 auf den beson- His 40 years of seminars cover not only mathema- deren Geist angesprochen wurde, der in seinem Insti- tics, but also mechanics, astronomy, geodesy, hydro- tut herrsche, antwortete Courant: »It is Göttingen. dynamics, electricity, elasticity, as well as psychology Göttingen is here.« and teaching of mathematics. The Protocolle are now available online, thanks to support by the Clay Mathematics Institute, at www.claymath.org/library/historical/klein/

Prof. Dr. Yuri Tschinkel, Jahrgang Abb. 5: Zeichnung so genannter »Kuppelfachwerke« aus den Auf- zeichnungen Kleins zur Vorlesung »Anwendungen der Elastizitäts- 1964, studierte Mathematik an der theorie« im Sommersemester 1900 Moskauer Staatlichen Universität. Nach der Promotion am Massa- Literatur: chusetts Institute of Technology [1] K.-R. Biermann, Die Mathematik und Ihre Dozenten an der Ber- war er Junior Fellow der Harvard liner Universität 1810-1920, Stationen auf dem Wege eines mathe- Society of Fellows (1992 – 1995) und Leibniz Fel- matischen Zentrums von Weltgeltung, Akademie Verlag, Berlin (1973). low der EC an der École Normale Supérieure in [2] E. Chislenko, Y. Tschinkel, The Felix Klein protocols, Notices Paris (1995 – 1996). Danach lehrte er an der Uni- AMS, 54 (8), 958-968, (2007). versity of Illinois in Chicago und der Princeton [3] F. Klein, Über die Arithmetisierung der Mathematik (1895), in Ge- sammelte Werke II, Springer Verlag (1922). University. Von 2003 bis 2008 war er Inhaber des Gauß-Lehrstuhls an der Georg-August-Univer- [4] F. Klein, Göttinger Professoren (Lebensbilder von eigener Hand): Felix Klein, Mitteilungen des Universitätsbundes Göttingen 5, (1923). sität Göttingen. Jetzt ist er Professor and Chair of [5] Vorläufiges aus Erlangen, München und Leipzig, in K. Jacobs, Mathematics am Courant Institute, New York Hrsg., Felix Klein Handschriftlicher Nachlass, Erlangen, (1977). University. Er lehrt und forscht auf dem Gebiet [6] R. Siegmund-Schultze, Rockefeller and the Internationalization of der Algebraischen Geometrie und Zahlentheorie. Mathematics Between the Two World Wars, Birkhäuser Verlag, (2001).

Georgia Augusta 6 | 2008 29 Foto: Gisa Kirschmann-Schröder MATHEMATIK MACHT GESCHICHTE

Als Carl Friedrich Gauß in der Grundschule die Summe 1 + 2 + ... + 100 ausrechnen sollte und dies durch simple Umordnung (1+100) + (2+99) + ... (50+51) = 50 x 101 in Windeseile schaffte, war sein Lehrer verblüfft. Später konnten Mathematiker zeigen, wann Umordnungen in einer Summe von unendlich vielen Zahlen ohne Ände- rung des Ergebnisses erlaubt sind. Mathematik ist Nachdenken über Strukturen und Algorithmen, nicht bloßes Rechnen. Bedauerlicherweise steht die Bedeutung der Mathematik in keinem angemessenen Verhältnis zur An- erkennung ihrer Leistungen in der Öffentlichkeit. Die Geringschätzung der Mathematik ist allerdings keine Er- findung unserer Tage. Schon 1925 sah Richard Courant ein Bestreben des Mathematikers Felix Klein (1849 – 1925) darin, »[...] die Mathematik von dem Schicksal zu retten, dass sie sich aus dem allgemeinen Kultur- zusammenhange löst und zur Privatangelegenheit eines engen Kreises mehr oder weniger sonderbarer Spezia- listen wird.« Seither hat sich wenig verändert: Lediglich die Informatik als neue, rechnergestützte mathematische Disziplin tritt mit breiterer Akzeptanz als die reine Mathematik in das öffentliche Bewusstsein. Ansonsten gilt noch immer das Bekenntnis als salonfähig, von Mathematik nichts zu verstehen und nichts begreifen zu wollen. Einen besonderen Zugang zur Mathematik eröffnet ihre Geschichte, zu der im ersten Drittel des 20. Jahr- hunderts die Georg-August-Universität in Göttingen wesentliche Beiträge geliefert hat. Hier entstand im Zu- sammenspiel von Preußischem Ministerium und der damaligen Philosophischen Fakultät ein mathematisches Zentrum von Weltrang. Anhand der Kriterien der aktuell abgeschlossenen Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder, in der die Universität Göttingen sich im Oktober 2007 erfolgreich mit ihrem Zukunftskonzept durch- setzen konnte, wird am Beispiel dreier Göttinger Mathematiker zu sehen sein, wie an Göttinger Exzellenz in der Mathematik angeknüpft werden kann und was darüber hinaus in der universitären Lehre und gesellschaft- lichen Ausstrahlung von Göttingen aus erreicht werden konnte.

Exzellenz für die Mathematik David Hilbert – Felix Klein – Hermann Minkowski

Hubert Goenner

Zur Geschichte graph, Erdmagnetfeld) sowie der Die großen Drei Seit Gründung der Universität war angewandten Mathematik (Aus- Als Erster des Dreigestirns erschien die Mathematik in Göttingen eng gleichsrechnung). Wenn auch Felix Klein in Göttingen, einer der mit ihren Anwendungen, etwa im sein Doktorand und Nachfolger bedeutendsten Vertreter der Geo- Vermessungswesen, in der Astro- Bernhard Riemann (1826 – 1866) metrie am Ende des 19. Jahrhun- nomie und besonders in der Phy- diesen Blick auf die Anwendungen derts. Nach seiner Habilitation in sik, verknüpft. Im 18. Jahrhundert nicht besonders pflegte, so ist die Göttingen 1871 führte seine be- ist Abraham Gotthelf Kästner mit seinem Namen verbundene rufliche Laufbahn über Erlangen, (1719 – 1800) von seinem genia- »Riemannsche Geometrie« – eine München und Leipzig 1886 zu- len Nachfolger Carl Friedrich Begriffsbildung in der reinen Ma- rück an die Georgia Augusta. Den Gauß (1777 – 1855) zwar als thematik – Grundlage der Ein- Zenit seiner Wissensproduktion in »bester Mathematiker unter den steinschen Gravitationstheorie (all- der reinen Mathematik hatte Felix Poeten und bester Poet unter den gemeine Relativitätstheorie) ge- Klein bereits überschritten. So ent- Mathematikern« verspottet wor- worden. stand kein Konflikt zwischen sei- den, hat jedoch über seine Bücher Dennoch setzten sich Gauß ner Forschungstätigkeit und sei- und Schüler fachlich nachgewirkt. und seine späteren Kollegen deut- nem aktiven Engagement in der Auch Gauß erzielte neben seinen lich von dem ab, was heutzutage Wissenschaftspolitik. Zusammen bahnbrechenden Beiträgen in der oft kurzsichtig als Bringschuld der mit dem Staatssekretär Friedrich reinen Mathematik (Flächentheo- Wissenschaften angesehen wird, Althoff im Preußischen Kultusmi- rie, Nicht-Euklidische Geometrie, nämlich der unmittelbare Ertrag in nisterium betrieb Klein den Aus- Zahlentheorie) enorme Fortschrit- Form von direkt vermarktbaren bau Göttingens zu einem Zentrum te in der Astronomie (Bahnberech- Ergebnissen: »Die Wissenschaft der Mathematik. In diesem Sinne nung von Himmelskörpern, zum soll die Freundin der Praxis sein, unterstützte er die Berufung des Beispiel des Asteroiden Ceres), aber nicht ihre Sklavin!«, wird zweiten strahlenden Sterns, des der Physik, der Geophysik (Tele- Gauß zitiert. Königsberger Kollegen David Hil-

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bert (1862 – 1943), der sich zu ei- Freundschaft in vielen Gesprä- zu den »Grundlagen der Geome- nem der wenigen universellen chen über ihre mathematischen trie (Axiomatik)« (1898 – 1902), Mathematiker des 20. Jahrhun- Forschungsarbeiten fort. Da Min- Integralgleichungen und Varia- derts entwickelte. Ihn hatte Klein kowski im Alter von nur 44 Jahren tionsprobleme (1902 – 1912) und schon 1885 in Leipzig kennen starb, besetzten die beiden Spit- die »Grundlagen der Mathema- und schätzen gelernt. Hilbert kam zenleute Klein und Hilbert mit ei- tik« (1910 – 1922). Hermann Min- 1895 an die Göttinger Universität. ner großen Schar von Mitarbeitern kowski schließlich trug funda- Im Jahr 1902 konnte Hilbert für längere Zeit das Terrain. mentale Arbeiten über Zahlen- anlässlich eines (von ihm abge- theorie (Geometrie der Zahlen), lehnten) Rufes nach Berlin durch- Spitzenforschung mit konvexe Körper und die geometri- setzen, dass sein Königsberger internationaler Sichtbarkeit sche Formulierung der speziellen Freund und Mathematiker Her- Spitzenforschung mit internatio- Relativitätstheorie bei. Kleins, Hil- mann Minkowski (1864 – 1909) naler Sichtbarkeit – dieses maß- berts und Minkowskis wissen- 1902 aus Zürich nach Göttingen gebliche Kriterium der Exzellenz- schaftlichen Leistungen begegnet berufen wurde. Dass der Freund initiative erfüllten Klein, Hilbert jeder Mathematik- und Physikstu- den Freund nach sich zog, gäbe und Minkowski ohne Zweifel – dent, wenn er die Begriffe »Klein- heute Anlass zu Verdächtigungen. Felix Klein in der reinen Mathe- sche Flasche«, eine Fläche mit In diesem Fall führte die gegensei- matik durch die Theorie der be- Selbstdurchdringung im Anschau- tige Kenntnis und Wertschätzung deutenden Klasse von automor- ungsraum, beziehungsweise den ihrer außergewöhnlichen Bega- phen Funktionen und die Verbin- »Hilbert-Raum«, also den Zu- bungen die drei Forscher zu einer dung von Geometrie und Grup- standsraum der Quantenmecha- für die reine und angewandte Ma- pentheorie (Erlanger Programm) –, nik, oder den »Minkowski-Raum«, thematik sowie die Physik äußerst der die meisten Gebiete der Ma- die Zusammenfassung von Raum fruchtbaren Zusammenarbeit. Bei- thematik beherrschende David und Zeit zu einem vierdimensio- de, Hilbert und Minkowski, hatten Hilbert durch seine Invarianten- nalen Kontinuum, kennen lernt. mit Ferdinand von Lindemann in theorie (1885 – 1893), die Theorie Diese hier skizzierte Verbindung Portrait David Hilberts in den Arbeitsräumen des Königsberg denselben Doktorvater. der algebraischen Zahlkörper zwischen der Mathematik und der Göttinger Mathemati- In Göttingen setzten sie ihre enge (1893 – 1898), Untersuchungen Physik führt uns zur Kooperation schen Instituts zwischen Disziplinen und Institu- Foto: Gisa Kirschmann- Schröder tionen (Interdisziplinarität) und damit zu einem weiteren Kriteri- um der Exzellenz.

Mathematische Physik Insoweit die Physik quantitative Züge der Erscheinungswelt be- schreibt und daraus Vorhersagen für deren zukünftiges Verhalten zieht – zum Beispiel Planeten- bewegungen oder Wettervorher- sagen –, muss sie auf mathemati- sche Methoden zurückgreifen oder diese selbst entwickeln. Letz- teres fällt in das Gebiet der Ma- thematischen Physik, einem als interdisziplinär definierten Teilge- biet der Theoretischen Physik. Dazu gehört als wesentlicher er- kenntnisleitender Beitrag die ma- thematisch exakte Formulierung und Lösung von aus der Physik kommenden Problemen. Das gilt auch dann, wenn für nahe am Ex- periment oder an der Beobach- tung arbeitende Physiker das Pro- blem schon mit genügender Ge- nauigkeit, aber eben nicht mit ma-

32 Universität Göttingen MATHEMATIK MACHT GESCHICHTE

Die großen Drei: Hermann Minkowski (1864 – 1909), David Hilbert (1862 – 1943) und Felix Klein (1849 – 1925) (v. l n. r.) thematischer Strenge (zum Bei- Interesse an der Physik richtete von ihm herausgegebene Enzy- spiel Potentialtheorie, Quanten- sich auf die dort verwendeten ma- klopädie der Mathematischen feldtheorie) erledigt ist. thematischen Strukturen. Er ver- Wissenschaften. Felix Klein be- In Göttingen wurde schon 1850 suchte, Gebiete wie Thermodyna- kam einen Ruf an die Yale Univer- ein »Mathematisch-Physikalisches mik oder Gravitation in mathema- sity, den er ebenso ablehnte wie Seminar« als ein Institut mit einem tische Axiomensysteme einzubet- ein Angebot, in den USA als Aus- eigenen kleinen Etat eingerichtet. ten, aus denen neue physikalische tauschprofessor zu wirken. (Sein Das Interesse der Mathematiker Prinzipien folgen könnten. Nach Kollege Carl Runge nahm diese an der Physik spiegelte sich in ei- ihm war »die Physik viel zu schwer Gelegenheit wahr.) Beim »2. Inter- nem gemeinsam mit Kollegen aus für die Physiker«. In den 1970er nationalen Mathematiker-Kon- der Physik regelmäßig abgehalte- Jahren brach die gemeinsame gress« in Paris im Jahr 1900, an nen Seminar wieder. Von beson- Seminartradition ab. Zurzeit grei- dem auch Minkowski teilnahm, derer Bedeutung war das Seminar fen die Göttinger Professoren Det- hatte Hilbert einen zukunftswei- über Elektronentheorie im Som- lev Buchholz aus der Theoreti- senden Auftritt mit seiner Liste un- mer 1905, das von den drei Ma- schen Physik und der Mathemati- gelöster mathematischer Probleme. thematikern David Hilbert, Her- ker Thomas Schick diese Tradition Schließlich wurde er auch Mit- mann Minkowski und Gustav wieder auf und bieten gemeinsam glied der »American Philosophi- Herglotz sowie dem Geophysiker das »Born-Hilbert Seminar in Ma- cal Society« (1932). Emil Wiechert geleitet wurde. Die thematik und Physik« an. in ihm behandelten Probleme wa- Nachwuchsförderung und ren ähnliche wie die, zu denen International kooperieren Gleichstellung Albert Einstein in seinem »annus Neben der an sich weltweit ange- Zu Hilberts Beerdigung schrieb mirabilis« im Sommer 1905 eine legten Publikationstätigkeit in der berühmte Schüler Minkowskis Lösung veröffentlichte. Schaut man Fachzeitschriften wurden auch vor und dessen Nachfolger in Göttin- sich heute die Liste der Seminar- rund 100 Jahren die internationa- gen, Constantin Carathéodory teilnehmer an, so tauchen neben len Verbindungen durch Kongress- (1873 – 1950): »Von allen Teilen bekannt gewordenen Mathemati- und Vortragsreisen gefestigt. 1893 der Welt strömten seine Schüler kern und Astronomen die späteren nahm Klein als Kommissar des zusammen [..]. Göttingen wurde Physik-Nobelpreisträger Max Laue Preußischen Kultusministers am sozusagen der Sitz eines interna- und Max Born auf. Gleichzeitig Mathematiker-Kongress in Chica- tionalen Mathematiker-Kongres- fand ein von den beiden Mathe- go (USA) anlässlich der Weltaus- ses, der in Permanenz tagte.« An matikern Felix Klein und Carl stellung teil, weiter hielt er Vorträge der Universität Göttingen bestan- Runge sowie den Physikern Her- an der Northwestern University in den für den wissenschaftlichen mann Simon und Ludwig Prandtl Evanston. Eine andere Einladung Nachwuchs auf dem Gebiet der geleitetes Seminar über Elektro- führte ihn 1896 nach Princeton. Mathematik hervorragende Be- Technologie statt. Hilberts For- Ebenso reiste er zu Kollegen in dingungen, ein Kriterium, das schung steuerte wichtige Beiträge Frankreich, Holland und England, auch bei der aktuellen Exzellenz- zur Gastheorie und zur allgemei- auch im Zusammenhang mit der initiative 2006/2007 eine wichtige nen Relativitätstheorie bei. Sein Gewinnung von Autoren für die Rolle spielt. Damals beruhte dies

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auf der Anziehungskraft der Pro- schaft beziehungsweise in der Begriff des Unendlichen«. In den fessoren und keineswegs darauf, Helmholtz-Gemeinschaft aufge- 1930er Jahren berichtete dann der dass allen diesen jungen Forschern gangen. Ebenso brachte er Vorstel- Hilbert-Schüler Hermann Weyl bezahlte Stellen an der Universität lungen zur Reform des Studiums über neue Entwicklungen in der in Aussicht gestanden hätten. und zur Beziehung zu den techni- theoretischen Kosmologie. Klein Dass die Gleichstellung der schen Hochschulen mit. Zusam- war 1908 an der Gründung der Frauen an deutschen Universitä- men mit Hilbert und Minkowski »Internationalen mathematischen ten bis heute nicht selbstverständ- gründete Klein den ersten Lehr- Unterrichtskommission« (IMUK) lich ist, zeigt ihre Erwähnung in stuhl für angewandte Mathematik beteiligt, die eine Bestandsauf- den Richtlinien für die aktuelle Ex- in Deutschland (1904), auf den Carl nahme des Mathematikunterrichts zellenzinitiative. Damals gab es Runge (1856 – 1927) berufen wur- vornehmen wollte, um die Unter- noch größere Hürden zu überwin- de (Runge-Kutta-Verfahren). Klein, richtsmethoden und -inhalte zu den, wie Emmy Noethers Werde- Hilbert und Minkowski gehörten verbessern. Sie besteht als »Inter- gang exemplarisch zeigt (vgl. da- auch zu den Gründungsmitglie- national Commission for Mathe- zu den Beitrag von Cordula Toll- dern der »Deutschen Mathemati- matical Instruction« (ICMI) noch mien in diesem Heft). Unter den ker-Vereinigung« (1890). Zweifel- heute. Außerdem beeinflusste Klein von Felix Klein in 27 Jahren be- los dachte Klein intensiv über die die »Meraner Beschlüsse zur Ein- treuten 50 Doktoranden befanden Breitenwirkung seines Faches führung der Differential- und In- sich zwei, bei David Hilberts 69 nach und handelte entsprechend. tegralrechnung im Gymnasium« Doktoranden in 35 Jahren sechs Zu »Verbreiterung der Standort- (1905). Frauen. Das war nicht selbstver- qualität« zähle ich auch das Wir- ständlich für eine Zeit, in der das ken im Publikationswesen über Und heute? Frauenstudium gerade erst ermög- die Forschungsartikel hinaus. Aus Aus den Ausführungen über Da- licht wurde (in Preußen 1908) und Ausarbeitungen von Vorlesungen vid Hilbert, Hermann Minkowski die selbstständige Lehre von Frauen Felix Kleins und David Hilberts und Felix Klein wird deutlich, dass sogar erst eine Dekade später zu- gingen zahlreiche bedeutende in Göttingen die Exzellenzkriteri- gelassen wurde (Emmy Noether Monografien und Lehrbücher her- en von 2006/2007 schon im ersten 1919). Insbesondere Hilbert un- vor, bei denen Assistenten und Drittel des 20. Jahrhunderts mit terstützte ganz entschieden die Mitarbeiter als Koautoren auftra- Bravour erfüllt wurden. Können Frauenemanzipation in der Wis- ten. Als Beispiele seien Kleins wir aus der Exzellenz von damals senschaft. »Elementarmathematik vom hö- etwas lernen, obgleich die Situati- heren Standpunkt aus« (mit Ernst on heute eine völlig andere ist? Wettbewerb und Standortqualität Hellinger) und Hilberts zweibän- Nicht nur hat sich die »manpower« In einem Bericht von 1902 zu sei- dige »Methoden der mathemati- in der mathematischen Forschung nen USA-Reisen für das Minis- schen Physik« (mit Richard Cou- enorm vergrößert, sondern der terium schrieb Klein: »Denn das rant) genannt. Nicht nur seine Wettbewerb der Ideen umfasst die wissenschaftliche Leben bedarf zu Vorlesungen lagen Klein am Her- ganze Welt. Neben einer ver- fortgesetztem Gedeihen durchaus zen, sondern auch die Arbeits- mehrten Zahl von staatlichen Uni- der Concurrenz. [...]« Damit atmosphäre der Studierenden. Er versitäten existieren in Deutsch- meinte der Wissenschaftler vor- gründete für sie (und die Dozen- land mindestens eine private mit rangig die Konkurrenz der Ideen, ten) das »Mathematische Lese- einem Mathematik-Department nicht einen Wettbewerb um For- zimmer« mit einer Präsenzbiblio- (Bremen), sowie zwei mathemati- schungsgelder. Damals kamen thek. Es wurde von einem Assis- sche Max-Planck-Institute ohne Ideengeber ausschließlich aus Uni- tenten betreut und hielt insbeson- Lehrverpflichtungen. Die politi- versitäten in Europa und zuneh- dere die ausländische Literatur sche Rede vom »Wettbewerb« mend aus den USA. Dennoch hat- bereit. Außerdem gab er Studien- zwischen den Universitäten zielt te Klein als Anregung mitgebracht, pläne heraus. weniger auf die Wissensprodukti- dass es nützlich sei, privates Kapi- Auch die Ausstrahlung über die on als auf die Vermarktung der Er- tal für die Wissenschaft zu mobili- Universität hinaus auf die Lehrer- gebnisse. Einen freien »Markt« für sieren. Zu diesem Zweck rief er im bildung und die Schulreform muss Wissensproduktion in der mathe- Jahr 1889 die »Göttinger Vereini- erwähnt werden: Im Jahr 1892 matischen Grundlagenforschung gung zur Förderung der ange- führte Klein Fortbildungs-Ferien- im Sinne von Angebot und Nach- wandten Physik und Mathematik« kurse für Mathematik- und Physik- frage kann es nicht geben: »Der ins Leben (V. Böttinger, Norddeut- lehrer ein, zunächst in zweijähri- Geist weht, wo er will!« Be- scher Lloyd, Linde, Zeppelin). Sie gem Turnus. Im Oster-Ferienkurs schränkt man sich auf den »Markt« wurde nach dem 1. Weltkrieg auf- 1898 zu den Grundlagen der für Wissensproduzenten, so ist gelöst und ist in der Notgemein- Geometrie las Hilbert »Über den auch dieser durch ein Korsett

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staatlicher Regelungen und durch lich: Zu stark ist die fachliche Dif- einem davon ist die Theoretische die Unterfinanzierung der Univer- ferenzierung fortgeschritten. Die Physik beteiligt. Die neu geschaf- sität recht eingeschränkt. Auch die Projektforschung mit ihren koope- fenen Einheiten können eine Viel- Forschungsfinanzierung hat sich rativen Notwendigkeiten ist ge- zahl von Gästen mit Spezialkennt- enorm gewandelt. Ihre Aufgabe genwärtig in den Vordergrund der nissen für kürzere Zeit aufnehmen. war es seit jeher, einen optimalen Forschungsorganisation gerückt, Die geschichtliche Situation Ausgleich zwischen der Förde- obwohl in der Mathematik – im von Klein, Hilbert und Minkowski rung der kreativen Persönlichkeit Vergleich zur Physik – noch eher kann nicht wiederkehren. Doch und der des unerlässlichen institu- eine »Forschung des Einzelnen« muss man Carathéodory energisch

Foto: Marc-Oliver Schulz tionellen Rahmens zu finden. Im- möglich ist. Am Beweis der Fer- widersprechen, der anlässlich des mer wieder neu muss definiert matschen Vermutung durch And- Begräbnisses von Hilbert unter den werden, wie sich Individuum und rew Wiles beziehungsweise der traurigen Verhältnissen von 1943 organisatorische Struktur in pro- Poincaréschen durch Grigori J. geklagt hatte, »die letzte Blütezeit duktiver Weise verbinden können. Perelman zeigt sich das. Das Ma- für die Mathematik in Göttingen« Innovationsbarrieren können sich thematische Institut ist, ganz in sei vorbei. Vor dem Hintergrund der Wissensproduktion von bei- der Tradition von Felix Klein, an der durch die Exzellenzinitiative den Seiten her in den Weg stellen; einer Vielzahl von Forschungs- gebotenen verbesserten Rahmen- akteursbedingte aus der Persön- initiativen beteiligt. Es sind dies bedingungen ist zu hoffen und lichkeit des Forschers oder system- Graduiertenkollegs der Deutschen zu wünschen, dass die nächste interne, das heißt organisatorische. Forschungsgemeinschaft (DFG) Blütezeit für innovative Forschung Das können insbesondere eine und DFG-Sonderforschungsberei- auf Weltniveau durch die Professo- dem Fach von der Universität ein- che, Exzellenzcluster, Forscher- ren und Nachwuchswissenschaft- geräumte zu geringe Priorität, gruppen, Nachwuchsprogramme, ler der Mathematischen Fakultät forschungsferne, sich ständig än- Gastprogramme und Industrie- schon begonnen hat. dernde Vorgaben in der Ausbil- kooperationen. Im Rahmen der dung, mangelnde Ausstattung und gegenwärtigen Exzellenzinitiative daher permanente Bemühungen wurde zusätzlich ein Courant For- zur Drittmittelbeschaffung sein. schungszentrum »Strukturen höhe- Literatur: Die Universalität der Wissens- rer Ordnung in der Mathematik« C. Reid: Hilbert. Heidelberg: Springer 1970. R. Tobies: Felix Klein. Leipzig: Teubner produktion, wie sie ein Hilbert mit drei Untergruppen für Nach- 1990. D. Hilbert: Hermann Minkowski. Ma- leistete, ist heute nicht mehr mög- wuchsforscher eingeworben; an thematische Annalen 68, 445-471 (1910).

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The article recalls the situa- tion of mathematics at the Prof. Dr. Hubert Goenner, Jahrgang 1936, studierte University of Göttingen in the first Physik und Mathematik an den Universitäten Tübin- third of the 20th century. At the time, gen, Göttingen, Braunschweig und Freiburg und the interplay of the Prussian Mini- schloss sein Studium 1962 ab. 1966 wurde er in Frei- stry for Culture with the Philosophi- burg promoviert, 1973 in Göttingen habilitiert. Aus- cal Faculty of the University estab- landsaufenthalte führten ihn an Universitäten in den lished Göttingen as a mathemati- USA, Kanada und Australien. Hubert Goenner ist seit 1978 Professor cal centre in Germany. Looking an der Göttinger Fakultät für Physik und in der Philosophischen Fakul- back while bearing in mind the tät kooptiert. Der Physiker forschte am Hermann-Föttinger-Institut criteria of the recent »Initiative for für Fluid- und Thermodynamik der Technischen Universität Berlin Excellence« – a competition for sowie am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, Berlin. funds among German universities Von 1996 bis 2005 war Prof. Goenner Mitglied des Fachbeirats des Max-Planck-Instituts für Gravitationsphysik, Golm. Er leitete 1997/98 – we show how magnificently das Göttinger Institut für Wissenschaftsgeschichte, gehörte von 1994 these were met at that time by the bis 2001 der Haushalts- und Planungskommission des Senats und University and its famous mathe- 1998/99 dem Senat der Universität Göttingen an. Der Autor von fünf maticians. Sachbüchern ist seit 2002 im »aktiven Ruhestand«. Seine Forschungs- Besides their research in pure schwerpunkte sind Finsler Geometrie, Relativistische Gravitations- mathematics with its worldwide theorien sowie die Wissenschaftsgeschichte im Umkreis des Faches. acclaim, the area of mathematical physics attracted Felix Klein (1849 – 1925), David Hilbert (1862 – 1943) and Hermann Minkowski ship at Yale University. His rela- port from industry, Klein created (1864 – 1909). All three made tions with colleagues in Europe the »Göttingen Association for the important contributions in this prompted journeys to France, Advancement of Applied Physics field. Best known are the Hilbert England, and the Netherlands, and Mathematics«. Along with space, the state space of non- partially in connection with his Hilbert and Minkowski, he was a relativistic quantum theory, and editorship of the multi-volume founder member of the »German Minkowski space, the union of »Encyclopedia of Mathematics«. Mathematical Society« and worked space and time into a 4-dimensio- With his renowned enumeration untiringly to spread the culture of nal manifold fundamental for of unsolved mathematical pro- mathematics. special and general relativity. blems, Hilbert made an influential Today, due to increasing diffe- Since 1850, a small »Mathemati- appearance at the »International rentiation in the field Hilbert's cal Physics Institute« had existed, Congress of Mathematicians« in universality of scientific produc- holding regular seminars for Paris in 1900. tion seems no longer possible. The physicists and mathematicians for Through the importance of work force in mathematics has in- discussion of their recent pro- their results, the three mathemati- creased enormously and is spread gress. In 1905, a seminar on »el- cians attracted a large of around the globe. Universities are ectron theory« was given by the students. Klein and Hilbert had a treated more and more as mere mathematicians Hilbert, Minkow- total of 119 PhD students among economic units, as if there were a ski, Herglotz, and geophysicist them, including 8 women – at a market for scientific production in Wiechert, as well as a seminar on time when university studies in pure mathematics. Mathematics in »electro-technology« in which the Prussia had only recently been Göttingen has succeeded in win- mathematicians Klein and Runge opened up to women (1908). Like ning financial support in the »In- were joined by applied physicists Hilbert, Klein stressed the impor- itiative for Excellence« and is set- Ludwig Prandtl and Hermann Si- tance of teaching; he also inaugu- ting up a Courant Centre »Higher mon. This seminar tradition has rated a »mathematical reading Order Structures in Mathematics« recently been reinstated. room« for students and lecturers, with theoretical physicists also As far as international contacts making textbooks and recent taking part. Although already in- were concerned, Klein’s were par- issues of journals available. From volved in many fruitful coopera- ticularly numerous. In 1893 he Klein’s and Hilbert’s courses, tive research projects financed by travelled to the United States to numerous books co-authored by the German Research Foundation, take part in a congress of mathe- assistants emerged. Advanced it is to be hoped that the additio- maticians in Chicago, on the oc- training for high school teachers nal input will help the Mathemat- casion of the world fair. He visited was offered in lectures given ics Faculty to reach a new peak in the University of Princeton in during school holidays. With a internationally acclaimed 1896 and declined a professor- view to obtaining financial sup- scientific production.

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Emmy Noether, wahrscheinlich um 1907 Foto: Sammlung Ilse Sponsel, Erlangen MATHEMATIK MACHT GESCHICHTE

»Du warst eine große Mathemati- von echter Verehrung zeugt, klas- braven Bürger noch nicht einmal kerin, ich trage keine Bedenken sischerweise mit dem der sorgen- anständig gekleidete Truppe, die zu sagen, die größte, von der die den Mutter: »Und doch warst Du man die Noether-Boys nannte: die Geschichte zu berichten weiß. […] eine mütterliche Frau mit einem Männer häufig in Hemdsärmeln Die Macht Deines Genies schien warmen Kinderherzen. Deinen ohne Jackett, Emmy Noether in insbesondere die Grenzen Deines Schülern hast Du nicht nur im bequemen Schuhen und einem Geschlechts gesprengt zu haben. Geiste gegeben, ohne Rückhalt weiten Kleid, einen Schirm Darum nannten wir Dich in Göt- und aus der Fülle, sondern sie schwenkend, der vielleicht sogar tingen meist, in ehrfürchtigem scharten sich um Dich wie Küch- wieder einmal kaputt war, laut Spott, den Noether« – so Hermann lein unter den Flügeln einer großen redend, ausladend gestikulierend. Weibliches Genie Frau und Mathematiker: Emmy Noether

Cordula Tollmien

Weyl, ehemaliger Göttinger Kollege Klucke. Du liebtest sie, sorgtest Auch heute noch, über 70 Jah- und Freund und wie Emmy Noether um sie und lebtest mit ihnen in en- re nach Emmy Noethers Tod, 100 1933 aus Deutschland in die USA ger Gemeinschaft.« Jahre nach dem Beginn des Frau- emigriert, in seiner Rede bei der Es steht außer Frage, dass diese enstudiums in Preußen-Deutsch- Trauerfeier für Emmy Noether in Beschreibung zutreffend ist: Alle land und zehn Jahre, nachdem die Bryn Mawr am 17. April 1935. ihre Schüler berichten von Emmy Deutsche Forschungsgemeinschaft Schon die Zeitgenossen waren Noethers Freundlichkeit, ihrer ihr Förderprogramm für herausra- sich – und das nicht erst nach Hilfsbereitschaft, ihrer Sorge um gende junge Wissenschaftlerin- ihrem überraschenden Tod am deren Fortkommen, die sogar so nen und Wissenschaftler nach 14. April 1935 – einig über die weit ging, dass sie ihren Schülern Emmy Noether benannt hat, kann herausragende Bedeutung Emmy bei Publikationen den Vortritt ließ. man über Emmy Noether nicht re- Noethers als Mathematikerin, da- Stadtbekannt waren in Göttingen den, ohne sich auf ihr Frausein zu rüber, dass sie die moderne Ma- ihre unkonventionellen Treffen beziehen. Und dies ist nicht nur thematik nicht nur verändert, son- mit ihren Studenten und Gast- der Tatsache geschuldet, dass die- dern wesentlich mitgeschaffen hörern, die aus ganz Europa, den ses Frausein ihren akademischen hatte. Aber man(n) stimmte auch Vereinigten Staaten, der Sowjet- Werdegang maßgeblich behindert darin überein, dass diese Genia- union, aus Palästina, ja sogar aus hat (in den Anfangsjahren sogar lität im Körper einer Frau etwas Ungewöhnliches, ja fast etwas »Fräulein Noether ist eine große Persönlichkeit; die größte Mathematikerin, die je Ungehöriges war. Weyl ging sogar gelebt hat; und die größte heute lebende Wissenschaftlerin überhaupt, eine noch weiter: Es war, so sagte er in seiner Grabrede, als sprengte die Gelehrte mindestens auf der Ebene von Marie Curie. Von der Geschlechterfrage »urwüchsige, produktive Gestalt ganz abgesehen, ist sie eine von den zehn oder zwölf führenden Mathematikern Deines mathematischen Denkens« der heutigen Generation in der ganzen Welt.« wie »eine fast zu pralle Frucht, die Der amerikanische Mathematiker Norbert Wiener in einem Gutachten Schale Deiner Menschlichkeit«. über Emmy Noether für die Rockefeller-Stiftung, 2. Januar 1935 Er gibt Noethers Genie damit etwas Übermenschliches, Gewaltiges, Rücksichtsloses: »die Sache, um China und Japan, nach Göttingen mehr als ihr Jüdischsein), sondern die es ging, kommandierte allein.« kamen, um mit Emmy Noether zu auch dem Umstand, dass der My- Nichts Behutsames habe es in Em- arbeiten. Wenn sie mit ihren thos von dem vermeintlich un- my Noether gegeben, nichts Zartes, Schülern durch Göttingen zog – weiblichen Genie Emmy Noether nichts Harmonisches: »ein Brocken sie diskutierte Mathematik gern noch immer lebendig ist – so le- menschlichen Urgesteins.« und ausgiebig auf Spaziergängen bendig, dass er beispielsweise un- Weyl kontrastiert dieses titanen- – sah manch Göttinger missbilli- gebrochen Michael Köhlmeiers hafte Bild, das zweifelsohne auch gend auf diese in den Augen der 2007 erschienenen, fast 800-seiti-

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gen, von den Feuilletons hochge- lichen Frau, sondern auch noch Schon vor ihrer Lehrerinnenprü- lobten Roman »Abendland« durch- zu einer Frau, die wie alle Frauen fung hatte sie zusätzlich privaten zieht. Köhlmeier macht Emmy letztendlich an ihrem ungenügen- Mathematikunterricht erhalten Noether in seinem Roman zu den eigenen Äußeren (ver)zwei- und auch während ihrer Gasthö- einer repräsentativen Figur der felt. So wandelt sich Emmy Noether rerinnenzeit mathematische Vor- europäischen Geschichte des 20. von Weyl zu Köhlmeier von einem lesungen gehört. Nach dem Abitur Jahrhunderts, was insofern stim- genialen Urgestein, das außerhalb zog es sie dann direkt in die mig ist, als dieses Jahrhundert als seines Geschlechts steht, zu ei- »Hochburg der Mathematik«, nach das Jahrhundert der (Emanzipati- nem zutiefst verunsicherten weib- Göttingen. Dort lehrten damals on der) Frau angesehen werden lichen Wesen, das auch Genie hat. Felix Klein, ein guter Freund Max kann und Emmy Noether zudem Noethers und engagierter Förde- als Jüdin für die zivilisatorische Emmy Noethers Lebensweg in rer des Frauenstudiums, und Da- Katastrophe des 20. Jahrhunderts Kürze vid Hilbert, der durch seine da- steht. Im 20. Jahrhundert erfolgte Emmy Noether wurde als älteste mals noch neuen axiomatischen darüber hinaus auch eine bisher Tochter des bekannten Mathema- mathematischen Methoden Em- nicht gekannte Mathematisierung tikers Max Noether am 23. März my Noethers spätere wissenschaft- der Welt, eine umfassende mathe- 1882 in Erlangen geboren. Ihr liche Fragestellungen nachhaltig matische Durchdringung unserer folgten drei Brüder, von denen der beeinflusste. unmittelbaren Umwelt. Köhlmeier zwei Jahre jüngere Fritz Noether Doch nach einer schweren Er- streift allerdings Emmy Noethers ebenfalls Mathematiker wurde. krankung im Frühjahr 1904 muss- mathematische Bedeutung nur Sie erhielt zunächst die übliche, te Emmy Noether zunächst nach kursorisch und macht sie stattdes- damals für bürgerliche Mädchen Erlangen zurückkehren, wo sie ihr sen zum Zentrum eines Diskurses vorgesehene Ausbildung und leg- Studium im Wintersemester 1904/ über Hässlichkeit, der sich an ih- te Ostern 1900 die bayrische 05 fortsetzte – diesmal als regulä- rem exzessiv beschriebenen Dick- Staatsprüfung für Lehrerinnen in re Studentin, denn Bayern hatte sein entzündet. Und nicht nur das: Englisch und Französisch ab. Da- seine Universitäten schon im Win- Er behauptet, sie habe an diesem mit gab sie sich jedoch nicht zu- tersemester 1903/04 für Frauen angeblichen Hässlichsein gelitten frieden, sondern schrieb sich geöffnet. Sie studierte hauptsäch- (wofür es in den allerdings nur anschließend als Gasthörerin an lich bei ihrem Vater und bei Paul spärlichen persönlichen Zeugnis- der Erlanger Universität ein und Gordan, bei dem sie nach nur sen aus Emmy Noethers Leben im bereitete sich so auf die Reifeprü- sechs Semestern 1907 mit einer Übrigen keinerlei Hinweise gibt) fung vor, die sie im Juli 1903 am Arbeit aus dem Gebiet der Invari- und macht sie damit nicht nur – königlichen Realgymnasium in antentheorie »summa cum laude« wie Weyl – zur trotz allem mütter- Nürnberg als Externe ablegte. promovierte. Bereits ein Jahr nach ihrer Pro- motion wurde Emmy Noether zum Mitglied des Circolo Mate- matico di Palermo gewählt und 1909 auch in die renommierte Deutsche Mathematiker-Vereini- gung aufgenommen, auf deren Jahresversammlung in Salzburg sie bereits im selben Jahr ihren ersten Vortrag hielt. Im Übrigen aber arbeitete sie acht Jahre lang am Mathematischen Institut in Er- langen (unter anderem auch bei der Betreuung von Doktoranden) ohne Anstellung oder Vertrag, das heißt also ohne jede Vergütung. Sie unterstützte dabei sowohl ih- ren Vater als auch Gordans Nach- folger Ernst Fischer, der der Hil- Emmy Noether im Kreise von Schülern, Kollegen und Freunden aus dem In- und Ausland in Göttingen (Friedländer bert-Schule zuzurechnen ist und Weg) im Sommer 1931. Identifizieren lassen sich der französische Mathematiker Paul Duriell (zweiter von rechts) und Emmy Noether den entscheiden- seine Frau, der Assistent von Edmund Landau, Hans Heinrich Heilbronn (rechts neben Emmy Noether), Kurt Mahler (ganz rechts) und Max Zorn (zweiter von links), die beide wie Emmy Noether aus NS-Deutschland emigrieren mussten. den Anstoß zu ihrer Beschäftigung Foto: Bildarchiv des Mathematischen Forschungsinstituts Oberwolfach mit abstrakter Algebra gab.

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Nachdem Emmy Noether be- Emmy Noether mit reits 1913/14 ihren wissenschaftli- ihren drei Brüdern (Fritz Noether sitzend), chen und persönlichen Kontakt zu vor 1918 Hilbert und Klein intensiviert hat- Foto: Sammlung te, siedelte sie 1915 endgültig Ilse Sponsel, Erlangen nach Göttingen über – mit nichts in der Hand als der Aussicht auf eine interessante und befriedigen- de wissenschaftliche Zusammen- arbeit mit Hilbert und Klein, die damals gerade mit der Einstein- schen Relativitätstheorie beschäf- tigt waren und in diesem Zusam- menhang von Emmy Noethers Kenntnissen in der Invarianten- theorie profitieren wollten. Denn eine ihren wissenschaftlichen Leistungen angemessene Stellung an der Universität konnten ihr Hil- bert und Klein natürlich auch in Göttingen nicht bieten. Doch sie versuchten zumindest die Voraus- setzungen dafür zu schaffen, in- dem sie Emmy Noether ermunter- ten, bereits im Juli 1915 einen An- trag auf Habilitation zu stellen. Das Problem war nur, dass in Fakultät. Gegen den Antrag spra- Habilitationssache Noether noch Preußen 1907 die Habilitation chen sich allerdings fast alle Mit- einmal nachgefragt hatte, teilte der von Frauen an den Universitäten glieder der Historisch-philologi- Minister am 5. November 1917 schon einmal ausführlich disku- schen Abteilung aus, die jedoch mit, dass die Frage der Frauenhabi- tiert und abgelehnt worden war, wenigstens nicht verhinderten, dass litation nur grundsätzlich entschie- was der Minister für geistliche und ein Gesuch um eine Ausnahmege- den werden könne und er deshalb, Unterrichtsangelegenheiten in ei- nehmigung für Emmy Noether an »selbst wenn im Einzelfall da- nem Erlass vom 29. Mai 1908 fest- das Ministerium weitergeleitet durch gewisse Härten unvermeid- geschrieben hatte. Das Habilita- wurde. Auf dieses Gesuch reagier- bar sind«, die Zulassung von Aus- tionsverfahren Emmy Noethers te das Ministerium jedoch einfach nahmen nicht genehmigen könne. brauchte daher insgesamt drei An- nicht, so dass zwei Jahre lang erst Bemerkenswerterweise kam läufe und zog sich bis zum Mai einmal praktisch nichts geschah. der Anstoß, nach dem Krieg er- 1919 hin. Hilbert erreichte durch ein per- neut einen Habilitationsantrag für Im Juli 1915 stellte Emmy sönliches Gespräch beim Minister Emmy Noether zu stellen, nicht Noether ihren Antrag auf Habilita- lediglich, dass Emmy Noether un- von ihren Göttinger Kollegen, tion. Auch den Mathematikern ter seinem Namen Seminare an- sondern von Albert Einstein, der wäre es zwar, wie es etwa Ed- bieten konnte, und setzte sogar sie durch ihre Zusammenarbeit mund Landau in dankenswerter durch, dass sie namentlich im mit Hilbert und Klein in Fragen Offenheit formulierte, viel lieber Vorlesungsverzeichnis genannt der Gravitations- und Relativitäts- gewesen, wenn es sich bei Emmy wurde. Erst nachdem im Sommer theorie kennen- und schätzen ge- Noether um einen Mann gehan- 1917 die Mathematisch-naturwis- lernt hatte. Auf eine entsprechen- delt hätte (er halte das weibliche senschaftliche Abteilung in der de Nachfrage Einsteins bei Klein Gehirn für ungeeignet zur mathe- matischen Produktion und Emmy »Ich habe bisher, was produktive Leistungen betrifft die schlechtesten Erfahrungen Noether für eine der seltenen Aus- in Bezug auf die studierenden Damen gemacht und halte das weibliche Gehirn für nahmen, schrieb Landau), aber sie ungeeignet zur mathematischen Produktion, Frl. Noether halte ich aber für eine befürworteten den Antrag den- noch einmütig, und mehrheitlich der seltenen Ausnahmen.« tat dies auch die gesamte Ma- Der Göttinger Mathematiker Edmund Landau in seinem Gutachten für thematisch-naturwissenschaftliche die Habilitation von Emmy Noether, 1. August 1915 Abteilung der Philosophischen

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1920 habilitiert wurden, der Frau- der Mathematischen Annalen, ob- en endlich generell und allgemein wohl sie nicht nur einige ihrer das Recht auf Habilitation zu- wichtigsten Arbeiten in dieser sprach. Im Herbst-Zwischense- Zeitschrift veröffentlichte, son- mester 1919, das für die Kriegs- dern für die Annalen auch eine heimkehrer vom 22. September Vielzahl von Arbeiten anderer re- bis zum 20. Dezember angesetzt digierte. Sie vertrat lediglich im worden war, konnte Emmy Noether Sommersemester 1930 den Zah- zum ersten Mal eine Lehrveran- lentheoretiker staltung unter ihrem eigenen Na- auf seinem Frankfurter Lehrstuhl, men ankündigen. während dieser in Göttingen las, Emmy Noethers weitere beruf- und verbrachte auf Einladung ihrer liche Karriere ist schnell wieder- russischen Mathematikerfreunde gegeben: Im April 1922 erhielt sie 1928/29 ein Studienjahr in Mos- den Titel eines »nicht-beamteten kau, in dem sie auch Vorlesungen außerordentlichen Professors«, hielt. immerhin unter Verkürzung der Das einzige Mal, dass man Em- eigentlich als Voraussetzung ge- my Noether in Deutschland ohne forderten mindestens sechs Jahre jede Einschränkung ihren männli- dauernden Privatdozentenzeit. chen Kollegen gleichstellte, war, Doch mit diesem Titel war keiner- als die Nationalsozialisten sie auf- lei Vergütung verbunden. Emmy grund des Gesetzes zur »Wieder- Noether war bis dahin auf die Un- herstellung des Berufsbeamten- terstützung ihres Vaters angewie- tums« vom 7. April 1933 am 25. sen gewesen und lebte nach des- April 1933 von ihrer Tätigkeit an sen Tod 1921 von einem kleinen der Universität beurlaubten, ob- geerbten Vermögen, das durch die wohl sie als nicht verbeamtete Pro- steigende Inflation langsam aufge- fessorin zu diesem Zeitpunkt streng Emmy Noether mit zehrt wurde. Erstmals im Sommer- genommen vom Gesetz noch gar ihrem Bruder Fritz an der vom 27. Dezember 1918 wurde semester 1923 erhielt sie deshalb nicht betroffen war. Emmy Noether Ostsee, Sommer 1933 dieser sofort tätig, und am 15. Feb- einen gering, aber immerhin über- gehörte damit zu den ersten sechs Foto: Sammlung Ilse Sponsel, Erlangen ruar 1919 stellte die Mathema- haupt dotierten Lehrauftrag. Und jüdischen Wissenschaftlern, de- tisch-naturwissenschaftliche Ab- dieser Lehrauftrag, der jedes Se- nen untersagt wurde, weiter an teilung beim Ministerium erneut mester erneuert werden musste, der Göttinger Universität zu leh- einen Antrag auf Habilitation von bezeichnet nun nicht etwa den ren. Über ihre ausländischen wis- Emmy Noether – wieder beantrag- Anfang, sondern das Ende ihrer uni- senschaftlichen Freunde gelang te sie nur eine Ausnahmegeneh- versitären Karriere. Emmy Noether, ihr die Emigration in die USA, und migung, da der Erlass vom Mai die in den 1920er Jahren unter den als Gastprofessorin in Bryn Mawr 1908 immer noch in Kraft war. Göttinger Mathematikern zwei- erhielt Emmy Noether dann erst- Diesmal wurde diese jedoch end- fellos die produktivste war, erhielt mals in ihrem Leben ein Gehalt, lich erteilt, und zwar am 8. Mai nie einen Ruf an eine deutsche das mehr war als nur ein Almosen. 1919. Danach wurde das Habili- Universität, wurde nicht in die Eins ist jedoch wichtig festzu- tationsverfahren für Emmy Noether Göttinger Akademie der Wissen- halten: Emmy Noethers Außensei- in bemerkenswerter Schnelligkeit schaften aufgenommen und noch terposition innerhalb der akade- abgewickelt: Nachdem eine be- nicht einmal Redaktionsmitglied mischen Institutionen entsprach reits im Juli 1918 der Göttinger Gesellschaft der Wissenschaften vorgelegte Arbeit als Habilitati- »Alle Fakultätsmitglieder sind darüber einig, […] dass ein onsschrift anerkannt worden war, weiblicher Kopf nur ganz ausnahmsweise schöpferische wis- wurde sie am 4. Juni 1919 als Pri- senschaftliche Leistungen hervorbringen wird. Besonders aber vatdozentin in Göttingen zugelas- zur ununterbrochenen Lehrtätigkeit vor unseren Studenten ist sen. Emmy Noether war damit die eine Frau wegen der mit dem weiblichen Organismus zusam- erste an der Göttinger Universität menhängenden Erscheinungen überhaupt nicht geeignet.« habilitierte Frau – und eine von fünf Frauen im gesamten Deut- Sondervotum gegen die Habilitation von Emmy Noether, schen Reich, die noch vor dem of- 19. November 1915 fiziellen Erlass vom 21. Februar

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nicht ihrer Stellung in der scienti- hat so weite Verbreitung gefunden Vielleicht hat niemand so wie Du fic community. Für ihre neuen wie kein anderes Werk über die- dazu beigetragen, die axiomati- wissenschaftlichen Erkenntnisse sen Gegenstand. Es hat daher maß- sche Denkweise, die früher nur und Methoden fand sie Anerken- geblich dazu beigetragen, dass zur logischen Erhellung der Grund- nung nicht nur bei ihren Göttinger Emmy Noethers mathematische lagen benutzt wurde, in ein schlag- Kollegen, sondern bei Mathemati- Ideen sich in der nachfolgenden kräftiges Instrument für die kon- kern in der ganzen Welt. Einstein Mathematikergeneration durch- krete vorwärtsstrebende Forschung lobte ihren Beitrag zur Invarian- setzten. 1935 verfasste van der umzuformen.« tentheorie, dem wir das heute so Waerden einen Nachruf auf Em- genannte Noether-Theorem ver- my Noether, in dem er ihr mathe- danken, das den Schlüssel für die matisches Credo mit sehr schö- Beziehung zwischen Symmetrie- nen, auch für Nichtmathematiker und Erhaltungsgesetzen in der verständlichen Worten zusam- Physik lieferte und in der mathe- menfasste: »Die Maxime, von der matischen Physik eine bedeuten- sich Emmy Noether immer hat lei- de Rolle spielt. 1921 legte Emmy ten lassen, könnte man folgender- Noether ihre grundlegende Arbeit maßen formulieren: ›Alle Bezie- mit dem Titel »Idealtheorie in hungen zwischen Zahlen, Funktio- Ringbereichen« vor, die der nie- nen und Operationen werden erst derländische Mathematiker Bartel dann durchsichtig, verallgemeine- van der Waerden, der Emmy rungsfähig und wirklich fruchtbar, Noether 1924 in Göttingen ken- wenn sie von ihren besonderen nengelernt hatte und von ihr Objekten losgelöst und auf allge- nachhaltig beeinflusst wurde, in meine begriffliche Zusammenhän- seinem Nachruf auf sie 1935 be- ge zurückgeführt sind.‹« reits als »klassisch« bezeichnete. Uns ist die von Emmy Noether Sie definierte darin grundlegende vertretene abstrakte, »begriffliche« Begriffe der kommutativen Alge- Methode in der Algebra heute so bra und nach Meinung vieler heu- selbstverständlich geworden, dass tiger Mathematiker begann die wir geneigt sind, diese Methode abstrakte Algebra als eigenständi- mit der Mathematik selbst gleich- ge Disziplin überhaupt erst mit zusetzen. Dabei vergessen wir, dieser Arbeit. 1932 ehrte man sie, dass sich dieser Standpunkt in der indem sie auf dem Internationa- ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts len Mathematikerkongress in erst allmählich durchsetzen muss- Zürich als erste und einzige Frau te, was maßgeblich Emmy Noether überhaupt das Hauptreferat halten zu verdanken ist. Emmy Noethers durfte. Sie entwickelte darin ein Einfluss auf andere Mathematiker Emmy Noether in Programm, das ihrer Überzeu- war so groß wie nur bei ganz we- Bryn Mawr 1935 gung Ausdruck verlieh, dass die nigen anderen Mathematikern, Foto: Sammlung Peter Roquette, Heidelberg nichtkommutative Algebra, der Hilbert vielleicht ausgenommen. sie sich inzwischen zugewandt Dieser Einfluss beschränkte sich hatte, von einfacheren Gesetzen dabei keineswegs auf die Algebra, beherrscht werde als die kommu- sondern schloss auch andere tative. Dieser Vortrag wurde zu ei- Fachrichtungen ein. »Meine Me- nem wahren Triumph für die von thoden sind Arbeits- und Auf- ihr vertretene, damals noch kei- fassungsmethoden und daher Hinweise: neswegs überall anerkannte For- anonym überall eingedrungen«, Ich danke Andrea Albrecht, Universi- tät Freiburg, für den Hinweis auf den schungsrichtung. schrieb sie einmal erklärend dazu Roman »Abendland« von Michael Van der Waerden hat ein jedem an ihren Freund, den Göttinger Köhlmeier und die fruchtbare Diskus- Mathematiker bekanntes Lehr- Mathematiker . sion darüber. Die Arbeiten und Quel- buch über »Moderne Algebra« ge- »Die Algebra hat ein anderes leneditionen von Peter Roquette zu schrieben, das 1930 erstmals er- Gesicht bekommen durch Dein Emmy Noether waren für diesen Auf- satz von großer Bedeutung. Zu weite- schien und danach immer wieder Werk«, sagte Weyl an ihrem Grab: ren Informationen über Emmy Noether aufgelegt wurde. Dieses Buch »Mit vielen deutschen Buchstaben siehe die ausführliche Darstellung zu baut unter anderem auf Vorlesun- hat Du Deinen Namen in ihre Ta- Leben, Werk und Rezeptionsgeschich- gen von Emmy Noether auf und fel unauslöschlich eingetragen. te auf www.tollmien.com.

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Emmy Noether was born on 1920s and a worldwide magnet though her mathematical genius March 23, 1882 in Erlangen, for mathematicians eager to work was clearly acknowledged by her Germany and died 53 years later with her, was never to receive the contemporaries, the earliest obi- in exile in the USA, on April 14, offer of a professorship at any Ger- tuaries and most of the biographies 1935. These dates mark a life that man university. Nor was she in- written about her life included was both unique and outstanding vited to become a member of the comments on her physical appear- as well as typical and ordinary: ex- Göttingen Academy of Sciences. ance, and point out her supposed ceptional because her mathemati- The only occasion when she was lack of feminine charms. This cal achievements were superior – treated equally to her contemporary image of Emmy Noether has been Noether is considered to have been male mathematician colleagues sustained in conscious memory, the founder of modern abstract al- was on April 25, 1933, when the and she has even become a literary gebra – and typical because she National Socialists forced her to prototype of the masculine, ugly faced the barriers that were com- take a leave of absence and event- female genius, whose amorphous mon to all women and Jews seek- ually to emigrate to the USA. form is only counterbalanced and ing a place in the academic and Today Emmy Noether, whose softened by a warm heart and a intellectual world of her time. research covered almost the whole motherly spirit. So even today, this Noether’s first contact with Göt- range of topics within the 19th and superior mathematician continues tingen came in 1904, when she 20th century algebraic tradition, is to be confined and judged within entered the University after com- recognized as the most significant the narrow cultural boundaries of pleting her Abitur (the German female mathematician ever to have her sex, boundaries that impeded high school diploma) and met Da- lived, and her core contribution to her in her lifetime from achieving vid Hilbert. His new methods of the development of modern an academic career equal to axiomatic mathematics signifi- mathematics is unquestioned. Al- her abilities. cantly influenced her own scien- tific inquiry and future develop- ment. However, for personal rea- sons she continued her studies in Erlangen, where she attained her Dr. Cordula Tollmien, Jahrgang 1951, studierte von 1970 bis 1975 Mathematik und Physik an der Uni- doctor’s degree in 1907. She con- versität Göttingen. Nach dem Staatsexamen war sie tinued to research and teach in Er- Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt »Hochschul- langen for many years, but was didaktik« am IV. Physikalischen Institut der Univer- denied an official position or salary. sität. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre veröffent- Through the initiative of Felix lichte Cordula Tollmien erste schriftstellerische und historische Klein and David Hilbert she came Arbeiten. 1986 nahm sie ein Studium der Mittleren und Neueren to Göttingen in 1915, where, with Geschichte an der Universität Göttingen auf. Gleichzeitig erschien only a few brief interruptions, she ihr erstes Kinderbuch »La gatta heißt Katze«, für das sie 1986 den remained until 1933. Peter-Härtling-Preis zugesprochen bekam. Seitdem hat sie eine Viel- Emmy Noether’s attempt to zahl von Kinder- und Jugendbüchern veröffentlicht. Seit 1987 er- qualify for a professorship (Habili- schienen zahlreiche historische Arbeiten, unter anderem zur Ge- schichte der Göttinger Juden, außerdem Biographien von Emmy tation) was blocked by the Prussian Noether, Sofja Kowalewskaja, Julia Lermontowa und Marie Curie. Minister of Education, and only at Von 1991 bis 1993 war Tollmien als wissenschaftliche Lektorin für the end of World War I, in May of die Hamburger Stiftung für Sozialgeschichte tätig. Ab 1994 forschte 1919, was she able to complete Tollmien für eine von der Stadt Göttingen in Auftrag gegebene Stadt- her qualification. In April 1922 geschichte zum Thema Nationalsozialismus in Göttingen. Mit dem she was granted the title of ›außer- Ergebnis dieser Forschungen wurde sie 1998 von der Philosophi- ordentlicher Professor‹ which came schen Fakultät der Universität Göttingen promoviert. Für die Stadt without any remuneration. So she Göttingen entstand zudem eine historische Studie über die in Göt- applied for, and received, a minor tingen beschäftigten NS-Zwangsarbeiter. Tollmiens ausführliche Bio- teaching position for the 1923 graphie über Emmy Noether »Sind wir doch der Meinung, daß ein summer semester, which brought weiblicher Kopf nur ganz ausnahmsweise in der Mathematik schöp- ferisch tätig sein kann ...« wird demnächst in überarbeiteter und we- in a small wage. This position, re- sentlich erweiterter Form neu erscheinen. Sie beschäftigt sich zurzeit quiring renewal every semester, mit der Erforschung des Freundinnenkreises um Sofja Kowalewskaja, was not the beginning of her uni- also mit der Lebensgeschichte der Frauen, die im Zuge der russi- versity career, but its peak. schen Bildungs- und Emanzipationsbewegung der 1860er Jahre Emmy Noether, without a doubt nach Deutschland zum Studium kamen. Cordula Tollmien lebt als the most productive of the mathe- freiberufliche Schriftstellerin und Historikerin in Hann. Münden. maticians at Göttingen in the

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Sofja Kowalewskaja (1850 bis 1891) – die erste promovierte Mathematikerin und die erste Professorin im Europa der Neuzeit

Am 15. Januar 1850 als die zweite über Abelsche Integrale und eine Tochter eines zaristischen Offiziers dritte über die Gestalt der Saturn- in Moskau geboren, verbrachte ringe. Sofja beantragte außerdem Sofja Korwin-Krukowskaja (so ihr die Befreiung von der mündlichen Geburtsname) die prägenden Jah- Prüfung, eine Vergünstigung, die re ihrer Kindheit und Jugend auf zuvor schon einige englische und dem väterlichen Landgut Palibino amerikanische Kandidaten in An- im Gouvernement Witebsk. Schon spruch genommen hatten und die in jungen Jahren zeigte sich ihre man auch ihr – da ihre Arbeiten mathematische Begabung, und sie »weit über das Maß der an eine ertrotzte von ihrem Vater eine ma- Dissertation zu stellenden Anfor- thematische Ausbildung bei ver- derungen« hinausgingen – ge- schiedenen Privatlehrern. Unter währte. So wurde Sofja Kowale- dem Einfluss ihrer älteren Schwes- wskaja im Alter von 24 Jahren »in ter kam sie schon als junges Mäd- absentia« von der Universität Göt- chen in Kontakt mit der so genann- tingen »summa cum laude« pro- ten nihilistischen Bewegung – einer moviert und seitdem ist ihr Name Sofja Kowalewskaja nach 1880 aus dem Kampf gegen die Leib- Foto: Institut Mittag Leffler Djursholm, mit der Göttinger Universität ver- eigenschaft hervorgegangenen in- Schweden bunden, ohne dass sie jemals einen tellektuellen Jugendbewegung der Fuß nach Göttingen gesetzt hätte. 1860er Jahre in Russland, die sich und ließ sie ihre eigenen Weg ge- Sofja Kowalewskaja war die gegen die konservativen Moral- hen. 1868 lernte Sofja den späte- erste Frau, die nach Dorothea vorstellungen der Vätergeneration ren Paläontologen Wladimir Ko- Schlözer in Göttingen promoviert und die herrschenden verkruste- walewski kennen, der bereit war, wurde. Sie war die erste Frau ten politischen Strukturen wandte sie unter den genannten Bedin- überhaupt, die einen Doktorgrad und sich insbesondere der Auf- gungen zu heiraten. Im September in der Mathematik erwarb, und sie klärung und Ausbildung der Land- 1868 heirateten sie und im April war auch die erste Frau, die einen bevölkerung und dem Kampf für 1869 brachen sie gemeinsam ordentlichen Lehrstuhl an einer die Emanzipation der Frauen ver- nach Heidelberg auf, wo es Sofja Universität erhielt (1884 an der schrieben hatte. Um den Frauen gelang, die dortigen Professoren Universität Stockholm). Darüber auch gegen den Willen ihrer Väter zu überreden, ihr den Besuch von hinaus war sie eine politisch sehr eine wissenschaftliche Ausbildung Vorlesungen zu erlauben. Nach bewusste Frau, die sich aktiv für zu ermöglichen, hatte sich bei zwei Semestern in Heidelberg die Rechte aller Frauen auf Aus- den Nihilisten die Institution der wechselte Sofja Kowalewskaja bildung einsetzte, und sie feierte Scheinehe etabliert. Ein zur »Be- nach Berlin, wo sie Schülerin des nicht nur wissenschaftliche Trium- freiung der russischen Töchter« seinerzeit bekanntesten deut- phe (1888 verlieh ihr die Pariser bereiter junger Mann heiratete schen Mathematikers Karl Weier- Akademie der Wissenschaften für eine studierwillige junge Frau und straß wurde, der ihr vier Jahre lang ihre Arbeit »Über die Bewegung begleitete diese – da Frauen in Privatunterricht erteilte. Auf Anre- eines starren Körpers um einen Russland ein Studium nicht mög- gung und mit Unterstützung von festen Punkt unter dem Einfluss lich war – nach der Eheschließung Weierstraß beantragte Sofja Ko- der Schwerkraft« den renommier- ins Ausland, damit sie dort ein Stu- walewskaja im Sommer 1874 dann ten Bordin-Preis), sondern mit der dium aufnehmen konnte. Die die Zulassung zur Promotion an Veröffentlichung ihrer Kindheits- Eheleute lebten dort entweder wie der Göttinger Universität. Vor- erinnerungen 1889 auch literari- Bruder und Schwester zusammen, sichtshalber legte sie gleich drei sche. Am 10. Februar 1891 starb oder aber der »fiktive Ehemann« eigenständige wissenschaftliche Sofja Kowalewskaja überraschend verließ seine angetraute Ehefrau Abhandlungen vor: eine über par- im Alter von nur 41 Jahren. gleich nach der Eheschließung tielle Differentialgleichungen, eine Cordula Tollmien

Georgia Augusta 6 | 2008 45 Carl Friedrich Gauß, am 30. April 1777 in Braunschweig geboren und seit frühester Jugend eine außerge- wöhnliche mathematische Begabung, entwickelte sich als Student in Göttingen (1795 – 1798), als junger Pri- vatgelehrter in Braunschweig (1799 – 1807) und als Praktikant an der Sternwarte Seeberg (1803) immer mehr zum Astronomen und brachte es in diesem Fach schon in jungen Jahren zu Weltruhm. Im Juli 1807 wurde er als Professor für Astronomie und Direktor der Universitäts-Sternwarte nach Göttingen berufen. Hier wurde die Astronomie – neben der Geodäsie, der Mathematik und der Physik – endgültig zu Gauß’ Hauptarbeitsgebiet. Unter Gauß’ Direktion erlangte die Göttinger Sternwarte in den Jahren 1807 – 1855 Weltruhm und galt zu die- ser Zeit als die bedeutendste in Deutschland. Im Folgenden wird über Leben und Werk von Gauß als Astronom und Geodät berichtet, beides Wissenschaften, die ohne solide mathematische Grundlagen nicht existieren könnten. Gauß, der zweimal verheiratet war und im Privatleben außergewöhnlich viel persönliches Leid er- dulden musste, starb hochgeehrt im Alter von fast 78 Jahren. Das Gesamtwerk von Gauß bleibt legendär und ist auch heute noch bei Weitem nicht in allen Einzelheiten erforscht und verstanden. Die Göttinger Universitäts- Sternwarte versinnbildlicht als nationales Denkmal das Leben und das Werk von Carl Friedrich Gauß als Astro- nom, Physiker und Mathematiker für alle Zeiten.

Sterne, Zahlen und Dreiecke Carl Friedrich Gauß – der Fürst der Mathematik als Astronom und Geodät

Axel Wittmann Gauß’ Jugend und Studienzeit tion ist eher selten, da sie zwei Auszahlung des Wochenlohnes Am 25. November 1804 schrieb miteinander fast unvereinbare Ta- an seine Gesellen verlas, mit dün- Carl Friedrich Gauß an seinen Stu- lente in einer Person voraussetzt. nem Stimmchen aus dem Hinter- dienfreund Farkas Bolyai: » ... die Carl Friedrich Gauß wurde am grund korrigierte. Und natürlich praktische Astronomie: sie ist 30. April 1777 im Hause seiner El- hatte er recht. Gauß erzählte später nach meinem Gefühle, nächst tern in Braunschweig geboren. im Scherz, er habe eher rechnen den Freuden des Herzens und der Der schöne Fachwerkbau (Abb. 1) als sprechen gelernt, und seine Beschauung der Wahrheit in der wurde im 2. Weltkrieg zerstört. schnelle Lösung der berühmten reinen Mathesis der süsseste Ge- Gauß stammte aus einfachen mit- arithmetischen Summationsaufga- nuss, den wir auf Erden haben telständischen Verhältnissen: Der be (Summe der Zahlen von 1 bis können.« Gauß’ Unterstreichung Vater, Gebhard Gauß, war Haus- 100) als Schüler der Büttnerschen kennzeichnet, wo er die Prioritä- besitzer und übte mehrere qualifi- Schreib- und Rechenschule in ten setzt. Schon während seines zierte Handwerksberufe gleich- Braunschweig ist legendär. Viel Studiums in Göttingen (1795 – zeitig aus; außerdem war er noch später, in einem Brief an Heinrich 1798) hatte Gauß sein Interesse so etwas wie ein Versicherungs- Christian Schumacher vom 6. Ja- zunehmend der Astronomie zuge- agent. Carl Friedrich, sein einziger nuar 1842, äußerte Gauß sich zu wandt, und zwar nicht nur der Sohn aus zweiter Ehe, zeigte sein seinen Fähigkeiten im Kopfrech- theoretischen, rechnenden, Rechentalent schon als Drei- nen wie folgt: »Uebrigens habe ich sondern auch der prakti- jähriger, indem er eine niemahls Rechnungsfertigkeit ab- schen, beobachten- fehlerhafte Abrech- sichtlich irgendwie cultivirt, sonst den Astronomie: nung seines Vaters, hätte sie sich ohne Zweifel viel Diese Kombina- die dieser bei der weiter treiben lassen; ich lege da- ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

zur Astronomie fast unausweich- bias Mayer (1723 – 1762) un- lich, denn wie könnte man sich sterblichen Ruhm erlangt hatte, beispielsweise ein sphärisches betrachtete Gauß als Student Carl Dreieck besser veranschaulichen, Felix von Seyffers im Winterseme- als durch das berühmte Sommer- ster 1795/96 erstmals den Him- dreieck der Sterne Wega, Deneb mel durch ein Teleskop. Gauß’ da- und Atair (Abb. 2)? Und wie könn- mals schon ziemlich alter Profes- te man sich die Eigenschaften ei- sor für Mathematik und Physik, ner Ellipse schöner veranschauli- Abraham Gotthelf Kästner (der chen als durch die harmonische schon Lehrer Lichtenbergs gewe- Bewegung der Planeten in konfo- sen war), war immerhin von 1767 kalen (stets die Sonne im Brenn- bis 1789 auch Direktor der Göt- punkt habenden) Ellipsenbahnen? tinger Sternwarte und trug – sei es Schon im Alter von 14 Jahren be- durch sein vorgenanntes Buch saß Gauß ein Astronomiebuch von oder durch die Praxis – sicherlich Abraham Gotthelf Kästner, und er auch dazu bei, das Interesse für versah dieses mit schon sehr sach- Astronomie in Gauß zu fördern. kundigen, manchmal auch bissi- Jedenfalls entlieh sich der Student gen Anmerkungen, nicht ahnend, Gauß nachweislich zahlreiche dass eben dieser Kästner später Bücher über Astronomie aus der sein akademischer Lehrer in Göt- Universitätsbibliothek. Nachge- tingen sein würde. Überhaupt war wiesen ist auch, dass Gauß die es eine Eigenart von Gauß, seine Lichtenbergsche Ausgabe der Wer- Bücher mit handschriftlichen No- ke seines berühmten Vorgängers tizen und Anmerkungen zu ver- Tobias Mayer (erschienen 1775) Abb. 1: Das im 2. Welt- rauf gar keinen Werth, ausser in so zieren (was ihren Wert kurzfristig besaß und las, denn er hat darin krieg zerstörte Geburts- fern sie Mittel, nicht aber Zweck gemindert, nachträglich aber er- unter anderem handschriftlich ei- haus von Carl Friedrich Gauß in Braunschweig ist.« Gauß vertrat die Ansicht, dass höht hat). Wir können also fest- nen von Mayer im Jahre 1756 im (Archiv der Gauß- Rechenkünstler wie Johann Mar- halten, dass Gauß sich ab 1791 Sternbild Fische beobachteten Gesellschaft/Repro tin Dase (die damals auf Jahr- mit Astronomie beschäftigte, zu- Stern als den (erst 1781 von Wil- Verfasser) märkten auftraten) von Mathema- nächst jedoch nur theoretisch, also liam Herschel entdeckten) Plane- tik nicht wirklich etwas verstün- ohne eigene Beobachtungen. Denn ten Uranus markiert. (Abb. 3) den, als »mechanische Hilfsrech- ein Fernrohr gab es in seinem Als Gauß 1798 im Alter von 22 ner« aber wohl brauchbar seien. Elternhaus nicht. Jahren nach Braunschweig zurück- Aufgrund seiner besonderen Leis- In Göttingen hatte die Ge- kehrte, galt er zumindest in priva- tungen in der gymnasialen Ober- schichte der Astronomie als Lehr- ten Kreisen bereits als kompeten- stufe wurde Gauß im Alter von 14 fach im Jahre 1748 mit einem Be- ter Privatlehrer für Astronomie. So Jahren dem Braunschweiger Wel- such des (astronomiebegeisterten) waren die Weichen gestellt, und fenherzog Carl Wilhelm Ferdin- Königs Georg II. und der Beob- Gauß bildete sich in den folgen- and vorgestellt und erhielt von achtung und Berechnung einer den Jahren als Autodidakt in Braun- diesem ein Stipendium, das ihm partiellen Sonnenfinsternis be- schweig zum theoretischen Astro- den Kauf von Lehrbüchern und gonnen. Bald darauf, nach einer – nomen aus. Im Jahre 1799 promo- später auch ein Studium an der vernünftigerweise bald wieder vierte er bei Johann Friedrich Pfaff Universität Göttingen ermöglich- aufgegebenen – Suche nach einem in Helmstedt mit einer so heraus- te: Ein solches Studium hätte Platz für ein Observatorium in der ragenden mathematischen Arbeit, Gauß’ Vater weder bezahlen kön- Innenstadt – erfolgte der Bau der dass ihm die mündliche Prüfung nen noch bezahlen wollen. Denn ersten Göttinger Sternwarte auf (allerdings auf seinen eigenen An- nach Gebhard Gauß’ Ansicht hätte dem »Turm zur Windmühle«, ei- trag hin) erlassen werden konnte. Carl Friedrich einen »anständigen« nem inzwischen nicht mehr vor- Seine zahlentheoretischen Arbei- Lehrberuf ergreifen sollen. handenen Turm der südlichen ten fasste Gauß in den 1801 er- Schon als Schüler in Braun- Stadtmauer in der heutigen Turm- schienenen »Disquisitiones Arith- schweig beschäftigte sich Gauß straße: Die Gestirne beobachtet meticae« zusammen, einem fun- intensiv mit Mathematik, unter man nämlich »am schicklichsten damentalen Werk, das jedoch nur anderem der Häufigkeit und Ver- im Mittag«, das heißt im Süden, wenige der begabtesten Mathema- teilung der Primzahlen, der Berech- und nicht durch den Dunst der tiker überhaupt verstehen konnten nung von Kegelschnitten usw. Stadt. An dieser Sternwarte, die und durch das Gauß deshalb nicht Und dabei ist ein gewisser Kontakt bereits durch den Astronomen To- gerade Weltbekanntheit erlangte.

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Nach seiner Promotion war Gauß Abb. 2: Das aus den Privatgelehrter in Braunschweig, hellen Sternen Wega (oben rechts), Deneb wohnte nicht mehr bei den Eltern (oben links) und Atair und erhielt eine regelmäßige Be- (unten) gebildete zahlung von Herzog Carl Wilhelm »Sommerdreieck« (Foto: © Andy Steere/ Ferdinand. Um Gauß in Braun- USA, 26. Juni 1996, mit schweig zu halten, plante der Her- freundlicher Genehmi- zog sogar den Bau einer Sternwar- gung A. Steere 2008) te für ihn. Zu deren Realisierung kam es infolge des Kriegstodes des Herzogs im Jahre 1806 jedoch nicht mehr, und Gauß, der seit 1805 verheiratet war und eine Fa- milie zu ernähren hatte, verlor da- durch auch sein regelmäßiges Ein- kommen.

Gauß’ Wandel zum praktischen Astronomen Seine erste und eigentliche Aus- bildung in beobachtender Astro- nomie (die unter anderem wegen des meist schlechten Wetters ei- serne Nerven und der Kälte wegen stählerne Gesundheit verlangt) er- hielt Gauß im Herbst 1803 durch den Herzoglich-Gothaer Astrono- men Franz Xaver von Zach, des- sen Zeitschrift: »Monatliche Cor- respondenz zur Beförderung der Erd- und Himmelskunde« (kurz: »M.C«.) die erste Fachzeitschrift mit Erlass vom 1. März 1582 ver- rumschlug, geschah am Abend des war, die Gauß regelmäßig las. Am kündeten verbal-tabellarischen 1. Januar 1801 ein Ereignis, das 28. August 1803 traf sich Gauß Vorschriften einen handlichen nu- Gauß’ Hinwendung zur Astrono- mit Zach auf dem Brocken und merischen Algorithmus zu ent- mie für immer besiegelte: Nach- begleitete ihn danach zur herzog- wickeln, der seitdem als »Gauß- dem man im Altertum Jahrtausen- lichen Sternwarte auf den Seeberg sche Osterformel« bekannt ist. de hindurch am Himmel nur die bei Gotha, wo er sich in prakti- Während sich Gauß noch mit fünf großen Planeten Merkur bis scher Astronomie ausbilden ließ. der sehr schwierigen Theorie der Saturn gekannt hatte, war 1781 Gauß’ erste astronomische Publi- Bahnberechnung des Mondes he- der Planet Uranus entdeckt wor- kation – eine theoretische Arbeit – war schon drei Jahre zuvor in der M.C. erschienen. Dabei handelte es sich um einen mathematischen Algorithmus (ein Formelsystem) zur Berechnung des Datums des Osterfestes für alle Zeiten. Zur Festlegung des Osterfestes wird nämlich nicht der tatsächliche Abb. 3: Handschriftliche Lauf des Mondes (der dafür viel zu Anmerkung »Uranus« kompliziert ist) verwendet, son- von Gauß in seinem dern man benutzt Näherungsvor- persönlichen Exemplar von Tobias Mayers Stern- schriften, die der Astronom Chris- katalog, herausgegeben toph Clavius um 1580 für die rö- von Georg Christoph misch-katholische Kirche ausge- Lichtenberg 1775 (Universität Göttingen/ arbeitet hat. Gauß gelang es, an- Handschriftenabteilung stelle der von Papst Gregor XIII. der SUB Göttingen)

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den, und man stellte fest, dass die blamieren. Er beobachtete bis man war sich einig, dass dies ein- Abstände dieser sechs Planeten zum 11. Februar weiter, erkrankte zig und allein durch Gauß’ Be- plus der Erde von der Sonne – er- dann aber heftig. Außerdem wur- rechnungen möglich geworden mittelt aus ihren Umlaufzeiten de das Wetter schlecht, und das war. Dadurch wurde Gauß im Al- mithilfe des dritten Keplerschen Piazzische Gestirn wanderte im ter von nur 24 Jahren schlagartig Gesetzes – mit einer gewissen Re- Laufe der Monate näher zur Son- weltberühmt, denn die Nachricht gelmäßigkeit zunahmen und da- ne. So ging der neue Planet wie- von dem neuen Planeten verbrei- bei einer »Titius-Bode-Gesetz« ge- der verloren. tete sich in Windeseile in allen nannten Formel folgten. Aber zwi- Nicht jedoch in Gauß’ Kopf! Gazetten der Welt. Seit dem 27. schen Mars und Jupiter klaffte ei- Piazzi hatte nämlich seine Daten September 2007 ist die Raumson- ne auffällige Lücke: Dort gehörte an vertrauenswürdige Astronomen de »DAWN« der NASA zur Vesta ein noch unbekannter Planet hin! gesandt, und mit dem September- und zur Ceres unterwegs, und man »Wie man sieht, so muss man heft der M.C. erreichten diese darf auf deren Nahaufnahmen im zwischen Mars und Jupiter einen auch Carl Friedrich Gauß. Dieser August 2011 (Vesta) beziehungs- imaginären Planeten setzen.«, so erfand eine besondere Methode, weise Februar 2015 (Ceres) ge- Lichtenberg in seiner Vorlesung. die Bahn des Planeten trotz der spannt sein. Jeder wollte diesen natürlich ent- sehr wenigen Beobachtungen mit Ab Januar 1802 korrespondier- decken, bot sich hier doch eine hoher Genauigkeit zu berechnen, te Gauß regelmäßig mit seinem Möglichkeit, auch ohne akademi- und sagte dessen Position in einer Freund und Förderer Wilhelm Ol- sche Ausbildung zu Weltruhm zu Tabelle, die sich bis zum 31. De- bers. Dieser war praktischer Arzt gelangen. Am Abend des 1. Janu- zember 1801 erstreckte, voraus – in Bremen und gleichzeitig einer ar 1801 fand der italienische As- und zwar um etwa 10 Grad weiter der bedeutendsten Amateurastro- tronom Giuseppe Piazzi im Stern- östlich als alle anderen Berech- nomen aller Zeiten; er besaß zu- bild Stier ein kleines Sternchen nungen seiner berühmten Kolle- dem einen ausgeprägten Sinn für 8. Größe, das an den folgenden gen Piazzi, Olbers, Lalande und zukunftsträchtige Entwicklungen Abenden seine Position veränder- Burckhardt! Gauß behielt recht, und wirkte im Hintergrund dezent te, und zwar in einer Weise, die denn in der Nacht zum 8. Dezem- auch als Wissenschaftsmanager eine Bahn in der vermuteten Ent- ber 1801 gelang es Zach, die Ce- auf seine Freunde ein. Am be- Abb. 4: »Entdeckungs- fernung von der Sonne (2,8 AE) res aufgrund der Gaußschen Vor- kanntesten ist Olbers heute durch foto« der Ceres: Anblick nahelegte (Abb. 4). Wie man ver- hersage – und nur aufgrund dieser das so genannte »Olberssche Para- des Sternhimmels am Abend des 1. Januar stehen kann, posaunte Piazzi sei- – im Sternbild Jungfrau wiederzu- doxon« in der Kosmologie, seine 1801 mit markierter Posi- ne Entdeckung nicht gleich in die entdecken. Bald danach, am 1. Ja- aber wohl bedeutendste astrono- tion der Ceres etwas Welt hinaus, um sich nicht mit nuar 1802 (dem Jahrestag der Ent- mische Entdeckung bzw. Förder- unterhalb des Stern- haufens der Plejaden fehlerhaften Beobachtungen oder deckung), fand auch Olbers in leistung war die des Talents von (Computersimulation falschen Schlussfolgerungen zu Bremen die Ceres wieder, und Carl Friedrich Gauß (und seine Verfasser) zweitbedeutendste die des Talents von Friedrich Wilhelm Bessel), denn man hat es ganz wesentlich ihm zu verdanken, dass Gauß fünf Jahre später – statt einem Ruf nach St. Petersburg zu folgen – auf die Direktorenstelle der »neuen«, in den Jahren 1803 bis 1816 errich- teten Göttinger Sternwarte beru- fen wurde. Am 1. September 1804 entdeckte Karl-Ludwig Harding in Lilienthal den dritten Klein- planeten (»Juno«) und erhielt dar- aufhin 1805 einen Ruf nach Göt- tingen: Harding, der 1803 bereits die Ausrichtung und den Meridian für die neue Göttinger Sternwarte festgelegt hatte, wurde also noch vor Gauß an die Göttinger Stern- warte berufen, jedoch nicht als ihr Direktor (den suchte man noch), sondern als Extraordinarius. Har-

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ding wurde auch durch den 1822 bei könne nur gelten, was man publizierten Sternkatalog »Atlas aufgrund zuverlässiger, bestätigter Novus Coelestis« bekannt. Beobachtungen und aufgrund des »strengen Calcüls« wisse, nicht, Gauß als Astronom in Göttingen was man glaube, träume oder auf- Durch Patent vom 25. Juli 1807 grund von aus der Luft gegriffenen wurde Gauß an die Universität Hypothesen vermute: »Das Mei- Göttingen berufen und ihm »die nen in der Astronomie hört erst da ordentliche Professur der Astrono- auf, und das eigentliche Wissen mie beygelegt«. Nach dem Wort- fängt bei den Gegenständen an, laut des Patents sollte Gauß »mit die einer mathematischen Behand- seinem Freunde, dem Professor lung fähig sind.« Obwohl Gauß philosophiae extraordinarius Har- sehr ungern Vorlesungen hielt (sie ding« die »Direction über die da- nahmen ihm, insbesondere im sige Sternwarte gemeinschaftlich« Falle unbegabter Zuhörer, zu viel übernehmen. Das entsprach aller- seiner Zeit), war er als akademi- dings nicht dem Wesen von Gauß, scher Lehrer außergewöhnlich er- und in der Realität war stets Gauß folgreich: Zahlreiche seiner Schüler der alleinige Direktor der Stern- wurden später Direktoren anderer warte. Die anfänglich recht enge Sternwarten (und sein Schüler Freundschaft mit Harding litt im Wilhelm Klinkerfues schließlich Laufe der Jahre unter mancher sogar sein Nachfolger für prakti- Umständlichkeit des letzteren und sche Astronomie an der Göttinger vielleicht auch unter der psychi- Sternwarte). schen Belastung, die der frühe Tod In den Jahren nach seinem seines nach Harding benannten Dienstantritt stellte Gauß – »Dr. Sohnes Ludwig für Gauß bedeute- Gauss, der die Bahn keines am te. Allerdings musste Gauß mit sei- Himmel erscheinenden Fremd- ner Familie zunächst noch inner- lings unbeachtet lässt«, so Zach – Abb. 5: Nach Gauß: Studierende in der Kup- halb der Stadtmauern wohnen – allerlei Beobachtungen an, so et- astronomie: So etwas wie Astro- pel der Historischen längere Zeit davon in der heutigen wa der beiden berühmten Kome- physik gab es – mangels Spektro- Sternwarte.Die Kuppel Kurzen Straße 15 –, denn aufgrund ten von 1811. Im Jahre 1809 ver- skopie und Fotografie, geschweige wurde 1887 errichtet, das abgebildete der französischen Besetzung, un- öffentlichte Gauß seine noch denn Computer und Raumsonden Teleskop Anfang des ter der Göttingen seit 1806 zum weitgehend in Braunschweig ent- – zu Gauß’ Zeiten natürlich noch 20. Jahrhunderts Königreich Westphalen Jérôme standene Untersuchung über die nicht (Gauß programmierend an darin aufgestellt. Foto: Marc-Oliver Schulz Bonapartes gehörte, konnte die Bahnbewegung der Himmelskör- einem heutigen PC wäre eine ge- Sternwarte nicht termingerecht fer- per: Theoria Motus Corporum Co- radezu atemberaubende Vorstel- tiggestellt werden. Erst im Spät- elestium in sectionibus conicis so- lung). Die genauesten Berechnun- herbst 1816 konnte Gauß einzie- lem ambientium (Theorie der Be- gen der Bahnen der neu entdeck- hen. Damit begann eine Zeit inten- wegung der Himmelskörper, wel- ten Kleinplaneten und Kometen, siver astronomischer Arbeiten, che in Kegelschnittbahnen die aber auch der Bewegung von Ster- durch die die Göttinger Sternwarte Sonne umlaufen). Diese ist Gauß’ nen und des Sonnensystems (Apex- (als Institution, nicht als Gebäude) astronomisches Hauptwerk und bewegung) gelangen damals Gauß, zum zweiten Mal – nach der Zeit zählt noch heute zu den unent- und seiner Autorität – nicht nur als unter Tobias Mayer – Weltgeltung behrlichen Grundlagen einer an- Astronom, sondern auch als Ma- erlangte, und auf die in allen Ein- ständigen Ausbildung für Astrono- thematiker, Geodät und Physiker – zelheiten hier aus Platzgründen men. Gauß’ wichtigste Aufgabe war die Berühmtheit der Göttinger nicht eingegangen werden kann nach seinem Amtsantritt war aber Sternwarte als der »ersten Deutsch- In seiner zu Beginn des Som- die Ausstattung der neuen Stern- lands« zu verdanken. mersemesters 1808 gehaltenen warte mit modernen Instrumen- Sehr viel (vielleicht zu viel) Zeit Antrittsvorlesung erläuterte Gauß ten, insbesondere zwei Meridi- verwendete Gauß aber auch auf seinen Zuhörern, dass sich die ankreisen im Ost- und Westsaal die Beobachtung des Polarsterns Astronomie in erster Linie darauf (Abb. 6), denn aus der alten Stern- und einiger anderer Standardster- beziehe, die Gesetze der Bahnbe- warte hatte man lediglich einige ne sowie der Sonne, um aus deren wegung der Himmelskörper so- sehr veraltete Instrumente überneh- gemessener Winkelhöhe über wie deren Erscheinungen und de- men können. Die damalige Astro- dem Horizont die geographische ren Ursachen zu erforschen. Da- nomie war eine reine Positions- Breite der Sternwarte mit einer

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südlich verlaufende Strecke durch den Meridian der Sternwarte: Zu diesem Zweck wurde 1821 auf dem Steinkopf im Friedländer Holz, zwölf Kilometer südlich der Sternwarte, das »Südliche Meridi- anzeichen« errichtet, ein kleines Bauwerk aus Sandstein, auf des- sen Schlitze die Fäden des Meri- diankreises zentriert und so des- sen Justierung geprüft werden konnten. Die Länge des mittleren Meridiangrades (die ein Maß für die Größe der Erde darstellt, die wiederum als Maßeinheit im Pla- netensystem dient) ermittelte Gauß aus Sternhöhen-Messun- gen, die er 1827 zusammen mit Johann David Nehus sowohl in Altona bei als auch in Göttingen durchführte. Die Gauß- schen Dreiecksmessungen – bei denen ihn Artillerieoffiziere aus Abb. 6: Meridiankreise Hannover (darunter sein ältester der Göttinger Sternwarte Genauigkeit von Bruchteilen von Friedrich Küstner erstmals nach- Sohn Joseph) unterstützten – wur- Links: Reichenbachkreis im Westsaal. Bogensekunden zu bestimmen. gewiesenen) »Polhöhenschwan- den später noch bis 1847 fortge- Rechts: Repsoldkreis Dabei hatte er immer wieder mit kungen« tatsächlich gibt und dass setzt und führten unter anderem im Ostsaal optisch-mechanischen Fehlern, diese seine gemessenen Breiten- zu Präzisionslandkarten des Lan- (Sammlung Sternwarte/ Repro Verfasser) wie etwa der Durchbiegung oder werte beeinflussten. des Hannover von Göttingen bis der Erwärmung seiner Fernrohre, zur Nordseeküste. Ein weiteres zu kämpfen, und er wusste noch Gauß’ Schaffensperiode als wichtiges Ergebnis war die damit nicht, dass es die (von seinem Geodät und Physiker verbundene Einführung der »Gauß-

Abb. 7: Gaußsches Vorbild Leonhard Euler 1755 vor- In den Jahren ab 1820 beschäftig- Krüger-Koordinaten« in das amtli- Heliotrop 2. Bauart, hergesagten, 1844 von Friedrich te sich Gauß ganz überwiegend che Landkartenwesen. Und durch Exemplar der Samm- Wilhelm Bessel andeutungsweise mit der ihm mit Order vom 9. Mai seine mathematische Behandlung lung Sternwarte (Institut für Astrophysik/ beobachteten und 1888 von Karl 1820 durch König Georg IV. auf- der Geometrie auf gekrümmten Foto: Verfasser) getragenen Triangulation des Kö- Flächen – speziell auf dem Erdel- nigreichs Hannover. Dabei wird lipsoid und dem Geoid (welches das Land mit genauestens ausge- Gauß’ Schüler Listing so benann- messenen Dreiecken überzogen, te) – legte Gauß auch gleich die deren Ausgleichung Gauß nach der Grundlagen der Differentialgeo- Methode der kleinsten Quadrate metrie und der höheren Geodäsie, (hier sind mathematische Poten- wie sie heute zum Beispiel bei zen, nicht etwa »kleine Recht- GPS-Koordinaten tagtäglich An- ecke« als Gegensatz zu »Drei- wendung finden. ecken« gemeint) vornahm. Als In den Jahren 1824 bis 1844, in Hilfs- und Messinstrument der die unter anderem auch die Epo- Geodäsie erfand und entwickelte che seiner erdmagnetischen Mes- Gauß in den Jahren 1818 – 1820 sungen mit Wilhelm Weber und den so genannten Heliotrop (Abb. die Erfindung des weltweit ersten 7), ein Instrument, das Sonnen- elektromagnetischen Telegraphen licht in eine ganz genau bestimm- (1833) fällt, hat Gauß nur wenige te Richtung zu spiegeln gestattet. astronomische Beobachtungen Zur Ausrichtung seines Dreiecks- ausgeführt. Er beobachtete aber netzes, aber auch des Reichen- den Merkurdurchgang vom 5. Mai bachschen Meridiankreises, be- 1832, die Wiederkehr des Halley- nötigte Gauß eine genau nord- schen Kometen 1835 (für den er –

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möglicherweise sogar als Erster – ner Antrittsvorlesung und in sei- nacht (registriert von Freund Lis- die Existenz eines »festen Kerns« nen Briefen an Freunde und Kol- ting), verstarb Carl Friedrich Gauß postulierte), die Sonnenfinsternis- legen – spielten astronomische friedlich in seinem Lehnstuhl in se von 1836 und 1839 sowie 1843 Themen die ganz überwiegende der Sternwarte und wurde am 26. das Zodiakallicht und einen lang- Rolle, gefolgt von Landesvermes- Februar auf dem Albanifriedhof in schweifigen Kometen, der am 27. sung, Mathematik, Technik, Phy- Göttingen beigesetzt (Abb. 8). »Er Februar 1843 in nur etwa 130.000 sik, Persönlichem und gelegent- beschloss sein Leben, um zu den km Abstand an der Oberfläche der lich auch etwas Wissenschafts-, Welten überzugehen, die er so Sonne vorbeischrammte. Das Jah- Finanz- und Hochschulpolitik. lange eifrig beobachtet hatte«, wie resbudget der Sternwarte (inklusi- Am 23. Februar 1855, eine Stun- es in einer Würdigung im Braun- ve des Magnetischen Observatori- de und zwei Minuten nach Mitter- schweigischen Magazin hieß. ums) betrug zu jener Zeit nur 150 Reichstaler, was ungefähr dem Dreifachen der Jahresmiete einer Abb. 8: Grab von Carl Göttinger Studentenbude oder dem Friedrich Gauß (»Erb- Gegenwert von 464 Litern guten Begrebniss« der Familie Gauß) auf dem Albani- Weines im Faß (den Gauß meist friedhof in Göttingen über Hamburg zu importieren (Foto: Verfasser) pflegte; auch bei der Feldarbeit hatte er einen »Weinkeller« dabei) entsprach.

Gauß’ letztes Lebensjahrzehnt Ab etwa 1844 beschäftigte sich Gauß wieder stärker mit Astrono- mie. Unter anderem verfolgte er bissig kommentierend die Na- mensdiskussion um den 1846 von Johann Gottfried Galle, Assistent seines Schülers Encke in Berlin, entdeckten neuen Großplaneten »Leverrier« bzw. »Neptun« und beobachtete diesen vom 27. Sep- tember 1846 an als einer der ers- ten Astronomen weltweit auch selbst (schon Galilei hatte Neptun beobachtet, ihn aber für einen Stern gehalten). Unter anderem schrieb Gauß: »Das Bedürfniss, Dr. Axel D. Wittmann, Jahrgang 1943, legte 1963 in dass nicht so viele Namen ge- Braunschweig das Abitur ab. Danach studierte er Phy- braucht werden, als Astronomen sik und Astronomie an der Universität Göttingen und sind, wird von Selbst eine Verstän- wurde 1973 über ein sonnenspektroskopisches The- digung mit der Zeit herbeiführen«. ma promoviert. Von 1973 bis 2008 war er wissen- So war es dann auch. Die letzten schaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Sonnenphysik von Gauß selbst noch ausgeführten an der Universitäts-Sternwarte Göttingen (seit dem Umzug 2005 im astronomischen Beobachtungen Institut für Astrophysik). Seit August 2008 ist Dr. Wittmann im Ruhe- beziehen sich auf die Kleinplane- stand und als freier Mitarbeiter der Universität Göttingen weiterhin ten Iris, Flora, Parthenope und eng verbunden. Dr. Wittmann ist Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Victoria während der Jahre 1847 Vereinigungen, darunter der Astronomischen Gesellschaft (AG), der bis 1850 sowie auf die berühmte – International Astronomical Union (IAU) sowie der Gauß-Gesellschaft e.V. Göttingen. Seit Oktober 2001 ist Dr. Wittmann Geschäftsführer im Baltikum totale – Sonnenfins- der Gauß-Gesellschaft. Seine Arbeitsgebiete sind Sonnenphysik und ternis vom 28. Juli 1851. Gauß’ Spektroskopie, Numerische Astrophysik, Himmelsmechanik, Re- intensive astronomische Schaffens- duktion von Beobachtungen, Computersteuerung von Teleskopen, perioden fallen vor allem in die Jah- Datenerfassung und digitale Bildverarbeitung. Ein besonderer Inter- re 1801 – 1823 und 1844 – 1851. essensschwerpunkt des Wissenschaftlers sind die Geschichte der In Gauß’ akademischer Lehrtätig- Astronomie und Leben und Werk von Carl Friedrich Gauß. keit – wie im Übrigen auch in sei-

Georgia Augusta 6 | 2008 53 ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Carl Friedrich Gauss, born twice, had to endure severe pain in Coordinates‹ (equivalent to the in Brunswick on April 30, his private life, losing both of his UTM coordinates used today) and 1777, was one of the most out- spouses and two of his children at to his contributions to geodesy, standing mathematicians and an early age, and seeing two of his curved surfaces, and non-Euclide- scientists of all time. His talents sons emigrate to America. In 1809 an . When combined became evident when he was a Gauss published his main astro- with latitude measurements, such child attending primary school, nomical monograph, »Theoria a survey can play a part in the where an older friend, Martin Bar- motus …« (Theory of motion of determination of the earth’s di- tels, gave him support in learning celestial bodies orbiting the Sun in mensions and, thus, of the cosmic mathematics. When at high school conic sections), in which he de- distance scale. Between 1830 and (again together with Bartels, and scribed a novel method of orbital 1840 Gauss, together with Wil- assisted by his teacher Zimmer- calculations in the solar system helm Weber, investigated mag- mann), Gauss was granted a scho- involving his method of least- netism, electricity, and the earth’s larship by Duke Carl Wilhelm Fer- squares and ingeniously-designed magnetic field. This research also dinand. As a student in Göttingen iterative techniques. One of Gauss’ led to the construction of the first (1795–1798) and a post-doc at main tasks upon taking up his po- electromagnetic telegraph (1833), Brunswick (1799–1806) Gauss’ sition in Göttingen was to equip but more or less ended when Weber interest in astronomy steadily the Observatory with modern in- (one of the ›Göttingen Seven‹) was grew. Although somewhat short- struments, in particular meridian relieved of his duties for an interval sighted, he not only became emi- , repetition circles, and a of about ten years. Among other nent as a theoretical astronomer, heliometer. Much of Gauss’ work things, Gauss observed a transit of but also as a practical one. In dealt with positional observations Mercury (1832), Halley’s comet 1807, a few years after his spect- of the sun, moon, planets, comets (1835), the solar eclipses of 1836 acular mathematical re-discovery and stars (astrophysics not being and 1839, the sun-grazer comet of of the ›lost‹ minor planet Ceres, in existence at the time, since 1843, and the newly-discovered Gauss was appointed Professor of photography and spectroscopy planet Neptune. He published his Astronomy and Director of the had not yet been invented). Gauss observations in the journal Astro- Göttingen University Observ- drew no great satisfaction from nomische Nachrichten which had atory, where he lived and worked lecturing, but he was nevertheless been founded by one of his pupils until his death in 1855. At Göttin- successful even with this: many of and friends, Heinrich Christian gen Gauss’ main fields of research his former students later became Schumacher. Gauss travelled little, were astronomy, mathematics, directors of observatories them- but regularly corresponded with geodesy, and physics, in each of selves, and Wilhelm Klinkerfues, the Bremen astronomer Olbers, which he made outstanding con- his former assistant, even followed the Gotha astronomer von Zach, tributions. During the time of his in his footsteps as one of his suc- the Königsberg astronomer Bessel, directorship (1807–1855) the Göt- cessors at the Göttingen Observ- and many others. Gauss received tingen Observatory became world atory. Several of Gauss’ students many high honours and was a famous and was considered »fore- also emerged as famous math- member of international acad- most« in Germany. The present ematicians. Between 1820 and emies and learned societies (never article reports on Gauss’ life and 1830 Gauss spent a great deal of attending them, however). He died work as an astronomer and time outdoors, performing a tri- peacefully asleep in his armchair geodesist, disciplines which angulation (land-survey) of north- on February 23, 1855, and is buried could not exist without solid ern Germany, up to the North Sea in Göttingen, very close to mathematical foundations. coast. This led to his development his beloved »Sternwarte«. Gauss, who was married of the so-called ›Gauss-Krueger- Lernende Systeme Mathematik – der Klebstoff für interdisziplinäre Forschung

Florentin Wörgötter

Viele Bereiche der Mathematik werden in speziellen Anwendungen benötigt und deshalb weiterentwickelt. Am Beispiel der Neuroinformatik stellt Prof. Dr. Florentin Wörgötter dar, wie sehr mathematische Metho- den fächerübergreifende Verbindungen erzeugen. Für den Wissenschaft- ler am Bernstein Centre for Computational Neuroscience in Göttingen ist die verbindende Sprache der Mathematik geradezu die zentrale Trieb- feder, die es ermöglicht, dass Biologen, Mediziner, Neurowissenschaftler, Psychologen, Physiker und Informatiker zusammenarbeiten. Wörgötters leitende Forschungsfrage lautet dabei: »Wie kann man Hirnfunktionen auf künstliche Systeme wie beispielsweise Roboter übertragen?« Am Bei- spiel von lernenden Systemen zeigt der Wissenschaftler die faszinieren- de »Klebewirkung der Mathematik«.

Foto: Gisa Kirschmann-Schröder. Alle weiteren Abbildungen im Text stammen vom Verfasser. ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Alle höheren und selbst viele der matische Theorie zum Thema ad- stärke erhöht. Dieser als Langzeit- einfachen Lebewesen lernen. Das aptive, also lernende, Systeme potenzierung (LTP) bekannte Ef- Lernen dient der Anpassung an ei- entwickelt. Bevor wir dazu kom- fekt wurde in der Folgezeit an fast ne sich verändernde Umwelt und men, ist es jedoch interessant, allen bekannten Neuronentypen erhöht die Überlebenschancen zunächst einmal zu verstehen, nachgewiesen. des Individuums. Lernen kann was sich im Gehirn beim Lernen Man kann davon ausgehen, prinzipiell auf drei Arten erfolgen: verändert. dass sich alle, selbst die komple- Erstens durch Versuch und Irrtum, xesten Lernvorgänge im Gehirn, zweitens durch Belohnung und Be- Lernen – Verschaltungen im Hirn auf die eine oder andere Weise auf strafung und drittens durch expli- Es kann als gesichert angesehen die Hebbsche Lernregel zurück- zite Anweisungen, beispielsweise werden, dass Lernen die Verbin- führen lassen, denn selbst nach von einem Lehrer. Menschen be- dungsstellen zwischen Nerven- nunmehr 40 Jahren Forschung ist nutzen alle drei Lernformen, ein- zellen, den Synapsen, modifiziert. es nicht gelungen, einen anderen fache Tiere nur die erste und kom- Im Jahr 1949, lange vor den ersten ebenso fundamentalen physiolo- plexere Tiere – Säugetiere und Vö- physiologischen Befunden dazu, gischen Lernmechanismus zu ent- gel – die ersten beiden. Es ist inte- hat der kanadische Psychologe decken. Hebbsches Lernen – also ressant, dass auch wir Menschen Donald Hebb (1904 – 1985) dies die Verstärkung von Synapsen als Kleinkinder zunächst meistens als den zentralen Lernmechanis- durch Eingangs-Ausgangskorrela- die ersten beiden Verfahren nut- mus vorgeschlagen. Seine kom- tion, oft jedoch stark biophysika- zen – jeder weiß, wie kleine Kin- plexe wissenschaftliche Aussage lisch modifiziert – scheint in der der wieder und wieder versuchen, wurde später prägnant in dem Tat die ›Mutter aller Lernregeln‹ durch Versuch und Irrtum einfa- Satz zusammengefasst: »What fi- im Gehirn zu sein. che geometrische Formen durch res together, wires together«. Sie Viele mathematische Lernver- zufälliges Drehen ineinanderzu- bedeutet, dass Nervenzellen, die fahren benutzen die Hebbsche stecken. Erst mit fortgeschrittenem gleichzeitig aktiv sind, die sie ver- Regel auf recht direkte Weise; Alter können wir durch Beloh- bindenden Synapsen verstärken. zum Beispiel ist es damit möglich, nung (zum Beispiel Lob) lernen Diese »Hebbsche Lernregel« lässt Ähnlichkeiten – also Korrelatio- oder sogar gezielt den Anweisun- sich mathematisch schreiben als: nen – innerhalb großer Datensät- gen eines Lehrers folgen. ω(t+∆t) ←ω(t) + µ x(t) v(t), wobei ze zu finden und grafisch als Welche Veränderungen treten x(t) die Aktivität des Eingangsneu- Landkarte darzustellen. Diese so beim Lernen im Gehirn auf? Wie rons und v(t) die des Ausgangsneu- genannten »Kohonen-Karten« oder werden Lerninhalte gespeichert? rons ist. Dabei sind die Neuronen »Kohonen-Netze« sind nach ihrem Wie können wir Gelerntes wieder durch die Synapse ω miteinander Entdecker, dem finnischen Wis- abrufen? Warum vergessen wir oft verbunden. Das heißt, die Verän- senschaftler Teuvo Kohonen be- mühsam Gelerntes, wohingegen derung der Synapse ω nach einem nannt. Sie finden mittlerweile manch anderes sich in unser Ge- Zeitschritt ∆t folgt der Korrelation vielfältige Anwendung im Bereich dächtnis geradezu »eingegraben« zwischen Eingangs- und Aus- des Data-Minings. hat, sodass wir uns ein Leben lang gangssignal. Der Faktor µ heißt Lernen durch Korrelationen ist daran erinnern. Und: Was hat das Lernrate und ist normalerweise ei- jedoch ein sehr, sehr langsamer Ganze mit Mathematik zu tun? ne kleine positive Zahl, da jedes Prozess. Beim eingangs beschrie- Historisch kann man dies nach- Lernereignis die Synapse nur ein benen Kinderspiel, bei dem geo- vollziehen, da etwa 30 bis 45 Jah- wenig verändern soll. Immerhin metrische Objekte durch die pas- re nach dem Bekanntwerden der möchte niemand, dass jedes Sin- sende Öffnung gesteckt werden ersten quantitativen Experimente, nesereignis das Gedächtnis sofort müssen, gibt es sehr viele falsche die sich mit dem Thema Lernen verändert. Lernen braucht Zeit und oft nur eine richtige Orientie- befassten (zum Beispiel Pawlovs und Wiederholung (kleine Lernra- rung. Nimmt man noch dazu, dass berühmter Hund, englischspra- te), ansonsten würde man allzu oft jede Bewegung (Drehung), immer chige Erstpublikation 1927), die zufällige, also bedeutungslose, etwas inakkurat ist, dann wird ersten mathematischen Modelle Korrelationen erlernen. Der erste klar, wieso es für einen Zweijähri- dazu entworfen wurden (Richard zur Hebbschen Lernregel passen- gen so frustrierend ist, dies durch Bellman 1957, dynamische Pro- de physiologische Befund wurde Versuch und Irrtum zu erlernen. grammierung, Robert A. Rescorla 1973 von Tim Bliss und Terje Der Dreijährige, dem man sagt, und Allan A. Wagner 1972 mit Lomo erhoben. Die Wissenschaft- »Gut, weiter so!« oder »Schlecht, dem Rescorla-Wagner-Modell, ler konnten an einem speziellen mach’s anders!« (Lernen durch psychologische Modellierung). Neuronentyp zeigen, dass sich bei Belohnung/Bestrafung), kommt Davon ausgehend hat sich bis korrelierter Eingangs-Ausgangs- schon schneller zum Ziel, und ei- heute eine weit verzweigte mathe- aktivität tatsächlich die Synapsen- nem noch älteren Kind kann man

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explizit sagen: »Dreh das mal nach oben, dann passt es!« (Lernen durch explizite Anweisungen). Unserem Gehirn ist es also of- fensichtlich gelungen – ausge- hend von der Hebbschen Korrela- tionsregel – neue effizientere Lern- regeln zu entwickeln; zum Bei- spiel das Lernen durch Belohnung/ Bestrafung (Reinforcement Lear- ning), welches man mathematisch schreiben kann als: ω(t+∆t) ← ω(t) + µ[r – (v(t-1) - v(t))]. In aufeinan- derfolgenden Lernschritten wird durch diese Lernregel versucht, immer besser vorherzusagen, wie groß der zu einem Zeitpunkt zu erwartende Reward r sein wird, wobei r also ein numerischer Be- Abb. 1: Hebbsches Lernen (A,B) und Lernen durch Belohnung (Reinforcement Learning, C-E). In (A) sieht man ein Neu- lohnungsterm ist. Die Differenz ron (schwarz), welches Eingangssignal X1 erhält und Ausgangssignal V erzeugt. Das Eingangssignal wird über die Syna- ω pse 1 an das Neuron geleitet. Wenn man Eingang X1 zum Zeitpunkt Null in (B) lang anhaltend stimuliert, dann erhält v(t-1) – v(t) ist dabei die Vorhersa- ω man eine Verstärkung der Synapse 1. Hier ist das Ausgangssignal des Neurons intrazellulär gemessen worden und ge, wie gut die zu erwartende Be- man sieht, dass es größer ist (Langzeitpotenzierung). Dieses Neuron befand sich im Hippocampus, einer phylogene- lohnung zwischen zwei Zeit- tisch sehr alten Hirnstruktur, die mit Lernen und Gedächtnis in Verbindung gebracht wird. Der rechte Teil der Abbildung zeigt ein Experiment, bei dem ein Neuron aus den Basalganglien (Substantia Nigra) registriert worden ist. Das Ver- schritten geschätzt wurde. Sobald suchstier lernte nach und nach die Assoziation eines konditionierenden Reizes (KR) mit einer Belohnung r (reward). Das diese Vorhersage gleich r ist, ist Neuron reproduziert mit seiner Aktivität das Verhalten des Schätzfehlers δ, wie im Text beschrieben. Fehler kleiner als die Schätzung optimal, und das Null werden neuronal nicht mehr direkt abgebildet, da Neurone keine negative Aktivität erzeugen können. Von daher ist das Fehlersignal in (E) bei Null abgeschnitten. Lernen hört auf. Das generelle Ziel eines jeden Reinforcement Learning Algorithmus ist es, die komplexe und eigenständige ma- nem anderen Teil der Basalgangli- gesamte (durch Aktionen des Ler- thematische Disziplin. Zentrale en, dem Striatum, drücken die Er- nenden ›eingesammelte‹) Beloh- Konvergenzbeweise wurden mitt- wartung einer Belohnung (genau- nung zu maximieren. Das heißt, lerweile erarbeitet und die kom- er Belohnungsstärke) durch ihre Reinforcement Learning ist zielge- plexe, veränderliche Dynamik Aktivität aus. Man kann nun ganz richtet. Dies ist ein zentraler Un- solcher Systeme wird zunehmend generell feststellen, dass es nur terschied zum Hebbschen Lernen, besser verstanden. Insgesamt war durch die Entwicklung der mathe- welches lediglich von Korrelatio- jedoch das Reinforcement Learn- matischen Theorie des Reinforce- nen in den Daten getrieben wird. ing lange Zeit eine Domäne des ment Learning überhaupt möglich (vgl. Abb. 1) »Machine Learning« und wurde war, diese neuronalen Antworten Der Schätzfehler wurde mit δ bestenfalls durch psychologische überhaupt zu verstehen. abgekürzt, wobei δ = r + v(t) - v(t-1) Experimente motiviert. Eine zentrale Frage, die uns an ist, und man wird noch sehen, In den frühen 1990er Jahre tra- dieser Stelle bewegt, ist jedoch: warum δ eine so hohe Bedeutung ten jedoch mehr und mehr Befun- Wenn sich letztendlich im Gehirn hat. Die Konvergenz des Verfah- de zu Tage, die zeigten, dass Neu- alles Lernen auf die Hebbsche Re- rens beruht darauf, dass, wenn die rone in den Basalganglien1, einer gel zurückführen lassen muss, wie Schätzung zwischen zwei beliebi- Hirnstruktur, die für motorische kann man dies für die oben hinge- gen Schritten korrekt ist, sie dann Planung und Exekution zuständig schriebene Reinforcement Lern- auch im Grenzfall überall korrekt ist, in der Tat anscheinend Aspek- regel erreichen? Dabei muss man ist. Die Theorie des Reinforce- te dieses Lernverfahrens mehr oder auch noch sicher stellen, dass man ment Learnings hat sich, unab- weniger direkt repräsentieren. Spe- nur mit mathematischen Opera- hängig von den bestehenden psy- zielle Zellen, die in der Substantia tionen arbeitet, die durch Neuro- chologischen Befunden, aus dem Nigra als Überträgerstoff das Do- ne auch tatsächlich durchgeführt Bereich der dynamischen Pro- pamin verwenden, sind dabei of- werden können. Hier gibt es viele grammierung – vereinfacht sind fensichtlich in der Lage, den Probleme, angefangen damit, dass das Computerprogramme, die Schätzfehler δ durch ihre Aktivität Reinforcement Learning aufgrund sich selbst anpassen können – darzustellen1. Andere Zellen in ei- seiner Abstammung vom »Machine hauptsächlich in den 1980er Jah- 1 Bekannt sind diese Zellen besonders durch ihre Bedeutung bei der Parkinsonschen ren entwickelt und ist jetzt eine Krankheit, wo dieser Zelltyp abstirbt.

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möglich, Reinforcement Learning ohne Zusatzneuron allein durch Hebbsches Lernen nachzubilden. Die mathematische Theorie des Drei-Faktor-Lernens wurde maß- geblich in Göttingen entwickelt. (vgl. Abb. 2) Es ist nicht möglich, in der Kür- ze dieses Artikels auch noch auf das Lernen durch explizite Anweisun- gen (›supervised learning‹) einzu-

Abb. 2: Lernregeln für zwei Eingangssignale X0 und X1 schematisch dargestellt. Die runden roten Symbole gehen, auch haben wir etliche an- mit dem Summationszeichen stellen die lernfähigen Neurone dar. Sie summieren ihre Eingänge nach der Formel: dere Lernaspekte gar nicht erst er- ω ω ω v= 0X0 + 1X1, wobei 0,1 die synaptischen Gewichte sind. In rot sieht man also den neuronalen Schaltkreis, der das wähnt, wie zum Beispiel Lernen Ausgangssignal v liefert. Mit diesem Signal könnte zum Beispiel eine Verhaltensreaktion erzeugt werden. In grün sieht ω man den »Lernschaltkreis«, dieser beeinflusst die Synapse 1. Das Verstärkersymbol (Dreieck) stellt die veränderliche durch Vormachen (›imitation learn- ω ω Synapse 1 dar, die anfänglich gleich Null ist. Die Synapse 0 verändert sich nicht. Ihr Ausgang dient als Referenz- ing‹) oder das Lernen rein mo- ω signal, wenn am Anfang des Lernens 1 noch Null ist. Das X im grünen Kreis symbolisiert eine Multiplikation, d/dt eine torischer Fähigkeiten (zum Beispiel Ableitung nach der Zeit. A) Hebbsches Lernen mit zwei Eingängen. B) Lernen durch Belohnung (Reinforcement Lear- ning). Hier braucht man noch ein weiteres Neuron (gelb), welches den δ Fehler (siehe Text) berechnet. Das Symbol r beim Skifahren). Diese Aspekte bezeichnet das Belohnungssignal (reward). C) Drei-Faktor Hebbsches Lernen. Mit dieser Umformulierung ist es mög- werden im Gehirn vermutlich lich, Reinforcement Learning ohne Zusatzneuron allein durch Hebbsches Lernen nachzubilden. Die mathematische durch noch andere komplexe Lern- Theorie des Drei-Faktor Lernens wurde maßgeblich in Göttingen entwickelt. regeln und Neuronentypen2 ver- wirklicht, wobei sich auch hier die Learning« ursprünglich als raum- Es ist in den letzten zwei Jahren Frage stellt: Wie kann man die und zeitdiskrete Mathematik for- durch die Arbeit vieler Theoretiker komplexen Theorien der Selbst- muliert worden war. Weiterhin – auch durch unsere – gelungen, organisation neuronaler Systeme tritt als Problem auf, dass Re- diese Gegensätze auszuräumen weiterentwickeln, besser verstehen inforcement Learning ein Beloh- und die beiden Lernregeln mitein- und für andere Systeme (zum Bei- nungssignal braucht, also einen ander zu einem Drei-Faktor-Modell spiel Roboter) nutzbar machen? weiteren (dritten) Faktor, der zu- zu vereinen, welches ein wichti- nächst einmal in der Hebbschen ger Schritt im Wechselspiel zwi- RunBot Regel nicht vorkommt. Und dann schen mathematischer Lerntheo- Am Bernstein Center in Göttingen gibt es da noch den fundamenta- rie und neurophysiologischer Funk- befassen wir uns insbesondere mit len Konflikt, dass Reinforcement tion war. Mit der Umformulierung der Frage, wie man zweibeinige Learning zielgerichtet ist, Hebb- der Hebbschen Regel in das Drei- Roboter dazu bringen kann, so ge- sches Lernen jedoch nicht. Faktor Hebbsches Lernen ist es hen zu lernen wie der Mensch geht. Durch die Medien sind uns in der Regel jene großen Maschi- nen bekannt, zum Beispiel der von der Firma Honda entwickelte humanoide Roboter ASIMO, die durchaus schnell gehen und sogar joggen können. Jedoch sieht das Bewegungsmuster unnatürlich aus, da diese Maschinen immer versu- chen, ihren Körperschwerpunkt über der Fußfläche zu halten. Je- der Moment der Bewegung wird

2 Es ist hier vielleicht interessant auf die berühmt gewordenen ›Mirror-Neurons‹ hinzuweisen. Es gibt im Gehirn von Affen und Menschen (genauer in der kortikalen Region F5) Neurone, die auf das Vorma- chen bestimmter Handlungen und Ges- Abb. 3: Steuernetzwerk (Links) von RunBot (rechts). An der Maschine sind in rot die verschiedenen Sensoren markiert (G= ten reagieren. Man vermutet deshalb, Fußkontakt, A=Hüftstreckung, AS=Beschleunigungssensor, IRR=Infrarotsensor), in weiß die Motoren (M=Motoren von dass diese Neurone fundamental am Imi- Hüfte, oben, nur einer ist sichtbar; und Knie, unten; sowie UBC=Motor des kleinen Oberkörperelements). Die Sensoren tationslernen beteiligt sind, welches auch S messen die Kniestellung und sind nicht eingezeichnet. Das Netzwerk benutzt diese Sensoren zur Erzeugung der Mo- ein wichtiger Lernmechanismus in der torsignale N. Die kleinen Zahlen geben die numerische Verbindungsstärke an den jeweiligen Synapsen an. Diese Ver- frühen Kindheit von Affen und Menschen bindungen werden durch Hebbsches Lernen verändert, wenn RunBot lernen soll, eine Rampe hinaufzulaufen. (Primaten) ist.

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dabei von Rechnern kontrolliert. Menschen gehen anders, nämlich schwingend! Hier wird der Körper- schwerpunkt wie bei einem dyna- mischen, umgekehrten Pendel im- mer vor und zurück bewegt. Nur behinderte oder sehr alte Men- schen gehen so wie ASIMO. Auch steuern wir unsere Gehbewegun- gen nicht immer und ständig. Das wäre energetisch sehr ungünstig. Stattdessen setzt unser Nervensys- tem nur punktuell ein und der Rest des Bewegungszyklus läuft auto- matisch (unkontrolliert) ab. Die in Göttingen durchgeführten Studien mit einem kleinen Roboter na- mens RunBot zeigen, dass schnel- les menschenähnliches Gehen durch neuronale Netzwerkkon- trolle möglich ist. Diese Netze können genau wie unser Nerven- system punktuelle Kontrolle aus- üben, und dies besser als her- kömmliche Regelkreise. Sie kön- nen auch mithilfe der Hebbschen Regel lernen. Dadurch ist es mög- lich, dass RunBot erlernen kann, auch flache Rampen zu ersteigen. Das hat dazu geführt, dass die Süddeutsche Zeitung in einem Ar- tikel vom 24. Juli 2007 mit dem Titel »Im Stechschritt zu Berge« RunBot zum ersten bergsteigen- den Roboter kürte. Dies greift der tatsächlichen Entwicklung zwar vor, jedoch zeigen diese Arbeiten, dass dynamisches Gehen durch neuronale Kontrolle möglich ist, und dass solche Maschinen ihr Ver- halten durch Lernen verbessern können, genau wie der Mensch. In diesen Forschungsarbeiten werden also verschiedenste Berei- che der Physik (Biomechanik, Theorie dynamischer Systeme), Neurobiologie (neuronale Netze, synaptische Plastizität) und der In- formatik (komplexe Informations- verarbeitung in vernetzten Syste- men) zusammengefügt. Die da- hinterstehenden mathematischen Gleichungssysteme sind und blei- ben dabei der Klebstoff, der es er- möglicht, dass diese vielfältige, interdisziplinäre Arbeit erfolg- reich vorankommt.

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All animals, even the sim- sics of neural networks, their neu- just like in animals – is their abili- plest ones, can learn. Lear- rons and their synapses. But how? ty to learn. Using mathematical ning makes them fitter and gua- Through the work of many theories similar to those that de- rantees better chances for sur- scientists, also in Göttingen, it has scribe learning in our brain, we vival. We distinguish three kinds now become possible to provide can also equip our technical sys- of learning: unsupervised lear- mathematical links between the tems with the ability to adapt and ning (trial and error learning), different formalisms for learning, reconfigure. It has thus become reinforcement learning (learning and we have succeeded in show- possible to implement learning also from reward and punishment), ing, for example, that reinforce- in walking robots (for example and supervised learning (learning ment learning can be formulated Göttingen’s RunBot) to become with the help of a teacher who by pure correlations between sig- more flexible and adapt to chan- provides an error signal as feed- nals. In this way the complex rein- ges in terrain. Hopefully this type back to the learner). Neuroscien- forcement learning rule finds its of research will lead to improved tists all over the world have shown basis in the biophysics of neurons prostheses for human patients how such learning rules are re- and networks. These steps are im- who would greatly benefit from flected in the activity of neurons. portant for our understanding of more flexible and adaptive wal- Learning deficits are being investi- brain function, but they are also of king aids. There is still a long way gated in Psychology and treated interest for improved technical to go before this can be achieved, by Medicine. In addition, these systems. As a consequence, many but a better mathematical under- mechanisms have massively en- of those active in Neuroinformatics standing of learning and adapta- tered technical systems (internet devote their efforts to the design of tion is an indispensable prerequi- search engines, machines, indus- artificial systems (artificial neural site to uniting the different fields trial robots) to make them more network, machines, and robots). A for their work on »the lear- flexible and robust. key ingredient in these systems – ning problem«. There is one strongly binding commonality that facilitates inter- actions between these different fields. It is the mathematical for- malisms by which the different learning rules can be described that allow scientists in these fields »to talk to each other«. Thus, over the last 50 years several mathe- matical theories have emerged Prof. Dr. Florentin Wörgötter, Jahrgang 1960, studier- that capture these different types te Biologie an der Universität Düsseldorf und promo- of learning. vierte 1988 am Universitätsklinikum Essen. Die Habi- From the brain sciences it is litation in den Neurowissenschaften folgte 1993 an known that all more complex lear- der Ruhr-Universität Bochum, an der er am Institut für ning rules must find their basis in Physiologie tätig war. Forschungsaufenthalte führten den Wissenschaftler in die USA (1988 bis 1990), nach China (1994) the modification of the connec- und nach Schweden (1997). Im März 2000 wechselte er an das De- tions between neurons – the synap- partment of Psychology der University of Stirling (Schottland). Dort ses. In Biophysics, this happens by wurde Prof. Wörgötter im Februar 2002 Direktor des Institute of means of a correlation between Neuronal Computational Intelligence and Technology (INCITE) und input and output signals at a given 2003 Leiter einer entsprechenden Unternehmensgründung der Uni- neuron’s synapse. When in- and versitäten Stirling, Edinburgh und Paisley. In seinen Forschungsarbei- outputs are correlated the synapse ten auf dem Gebiet der Wahrnehmung und Bewegungskontrolle be- will get stronger. Fundamentally schäftigt sich Wörgötter insbesondere mit visuellen Systemen sowie this is an unsupervised learning mit biophysikalischen Lernprozessen. Ziel dieser Forschung ist es unter mechanism that relies only on the anderem Maschinen (Roboter) mit adaptiven, d. h. lernfähigen neuro- temporal structure of in- and output nalen Netzen auszustatten, um damit autonomes Verhalten zu erzeu- gen. Zum 1. Juli 2005 nahm Prof. Wörgötter einen Ruf auf die neu signals. The question then arises: eingerichtete Professur für Computational Neuroscience am Bernstein How has our brain managed to Centre for Computational Neuroscience in Göttingen an. In den derive more complex learning rules Bernstein-Zentren arbeiten Wissenschaftler an der Erforschung der from such a simple correlation- neuronalen Grundlagen von Hirnleistungen auf der Basis mathema- based mechanism? Somehow, tischer Modelle. Sie verbinden dabei Experimente, Datenanalyse complex learning mechanisms und Computersimulationen mit neuen theoretischen Konzepten. must be grounded on the biophy-

60 Universität Göttingen

… und Gott würfelt doch – aber mit System Mit Statistik den Zufall kontrollieren

Axel Munk

Statistik, aus dem lateinischen »status«, Zustand oder Lage, hat sich aus dem Bedürfnis entwickelt, das Verhalten großer komplexer Systeme zu verstehen und daraus Handlungsstrategien zu entwickeln, die es erlau- ben, diese Systeme vorherzusagen und steuernd einzugreifen. Solche Systeme setzen sich typischerweise aus vielen kleinen Akteuren zusam- men, die jeder für sich genommen schwer zu beschreiben sind und scheinbar zufällig und unberechenbar agieren. Erst in ihrer Gesamtheit offenbaren sie verblüffende Gesetzmäßigkeiten. Deshalb spielt die Stati- stik beispielsweise bei Versicherungen, im Bankengewerbe oder bei der Prognose der Bevölkerungsentwicklung eine wichtige Rolle. Dass stati- stische Verfahren und mathematische Modellbildung auch bei Musterer- kennung, Biometrie, Tomographie und einer neuen Generation von Mi- kroskopen einen entscheidenden Beitrag leisten, zeigt der folgende Bei- trag. Dabei ist die Georg-August-Universität bereits historisch eng mit der Entwicklung der mathematischen Statistik und der Versicherungsmathe- matik verbunden. Am 1. Oktober 1895 wurde auf Initiative von Felix Klein (1849 – 1925) in Göttingen das erste deutsche Seminar für Versi- cherungswissenschaft gegründet, an dem man den Grad des »Versiche- rungsverständigen« erwerben konnte. Weitere Entwicklungen sind maß- geblich mit anderen Göttinger Namen verbunden, etwa mit Wilhelm Le- xis (1837 – 1914) oder Felix Bernstein (1878 – 1956), dem Begründer des Instituts für Mathematische Stochastik. ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Vier Bausteine für erfolgreiche tiges statistisches Modell (ein Sys- haben. Beispielsweise verlaufen Statistik tem von Gleichungen, welches Fingerabdrücke nicht beliebig Auch wenn sich Verkehrsteilneh- nur die entscheidenden Faktoren sondern sie bestehen aus Linien- mer individuell unterschiedlich berücksichtigt und die Eingabe scharen, die einige markante Ver- verhalten, so lassen sich ihre Un- ›zufälliger‹ Größen auf das We- zweigungspunkte (Minutien) haben fallprognosen doch recht gut be- sentliche reduziert), drittens die (Abb. 1), und diese Vorinformation stimmen: leider – oder glückli- leistungsfähige (effiziente) Berech- spielt eine wesentliche Rolle bei cherweise – nicht für den einzel- nung der Gleichungen und viertens der automatischen Klassifizierung. nen, aber das ist für ein Versiche- die Möglichkeit zur Computer- Diese Minutien ›automatisch‹ aus rungsunternehmen auch nicht simulation (zum ›Ausprobieren‹ dem Bild eines Fingers zu extrahie- entscheidend. Um etwa die KFZ- unzähliger zufälliger Szenarien). ren, ist eine sehr komplizierte Auf- Prämien festzulegen, ist es nur gabe, die geometrische, algorith- wichtig, die Gesamtheit »im Blick Mustererkennung – Automaten mische und statistische Methoden zu haben«. Um den ›Risikofakto- brauchen Vorbilder erfordert (Abb 2). Der letzte Schritt ren‹ entsprechend Prämien festle- Diese vier Bausteine bilden das (matching) ist dann, die Lage der gen zu können, spielen unter an- Grundgerüst moderner Statistik Minutien zweier Fingerabdrücke zu derem das Geschlecht, das Alter und lassen sich in unterschiedli- vergleichen. Falls diese genügend des Fahrers und der Wagentyp chen Bereichen finden und ver- deutlich übereinstimmen, gilt der eine wichtige Rolle. Dass Frauen wenden. So arbeiten Verfahren Finger als korrekt identifiziert und schlechter einparken können als der Mustererkennung nach dem- der Person wird beispielsweise der Männer, ist statistisch nicht erwie- selben Prinzip: Wenn ein Kunde Zugang zu einem Raum gewährt. sen, dass sie aber weniger Verkehrs- im Supermarkt seine Pfandfla- Um nun ein leistungsfähiges unfälle verursachen, ist unbestrit- schen in einen Automaten ein- Erkennungssystem zu entwickeln, ten. Auch räumliche Strukturen wirft, so hat dieser Automat (ge- welches eine Person einem Sys- (Landkreis oder Stadt) beeinflus- nauer: die Rechenvorschriften, die tem anhand ihres digital aufge- sen das Schadensrisiko. Versiche- sich hinter der Software des Auto- nommenen Fingerabdruckes zu- rungsmathematiker versuchen, die maten verbergen) schon viele am ordnet (etwa bei der Zugangsbe- wesentlichen Faktoren zu identifi- Computer generierte und echte rechtigung zu einem Telefon oder zieren und in einem statistischen Flaschen ›gesehen‹ und klassifi- Computer), müssen also genau Modell zu erfassen. Ihre Aufgabe ziert. Das statistische Modell wur- diese vier Schritte vollzogen wer- besteht letztlich darin, ein System de so trainiert, dass der Fehler ei- den: Datenerhebung, mathema- von Gleichungen zu finden, in das ner falschen Klassifikation mög- tisch-statistische Modellbildung, als Input möglichst viele aufge- lichst klein ist. Dabei geht es bei effiziente Berechnung und Com- nommene Schadensfälle (Daten) dieser Mustererkennung um die putersimulation. sowie die Faktoren für einen ›typi- Gewährleistung von zwei Dingen: Solche Systeme werden mitt- schen‹ Versicherungsnehmer ein- (1) der Supermarktbetreiber möch- lerweile in verschiedenen Anwen- gehen. Als Output erhält man zum te keine falschen Flaschen unter- dungsbereichen eingesetzt, und Beispiel die geschätzte Wahr- geschoben bekommen und dafür sie sind nicht unumstritten. Dabei scheinlichkeit, einen Schaden ei- Pfandgeld zahlen, und (2) der geht man davon aus, dass jeder ner bestimmten Höhe zu verursa- Kunde möchte für alle Pfandfla- Abdruck eine Person eindeutig chen. Diese Ergebnisse der Versi- schen auch sein Geld zurück. bestimmt, das heißt es gibt keine cherungsmathematik bestimmen In das Modell – genauso wie zwei Menschen mit demselben die Prämienkalkulation des Auto- zur Berechnung der Versicherungs- Abdruck. Untersuchungen zeigen versicherers. Eine Versicherung prämie – gehen wichtige Vorinfor- in der Tat, dass etwa auch bei ein- oder auch eine Krankenkasse funk- mationen ein, die mathematisch eiigen Zwillingen die Abdrücke tioniert nur, wenn sie viele ›Akteu- beschrieben werden müssen. Bei unterschiedlich sind, wenn auch re‹ hat. Schwankungen durch den Flaschen ist dies nicht allzu kom- nur in geringem Maß. Unterschie- Einzelnen mitteln sich hier aus. pliziert, ihre ›Muster‹ sind noch de, die für das menschliche Auge Am Beispiel der Autoversiche- recht einfach, schwieriger wird es oftmals leicht auszumachen sind, rung kann man gut erkennen, wel- bei komplexen Mustern, wie sie können jedoch in ihrer mathema- che Bausteine nötig sind, um den beispielsweise in der Biometrie tischen Handhabung sehr schwie- Zufall erfolgreich zu kontrollie- erkannt werden müssen. Bei der rig sein. Andere Probleme entste- ren: Erstens eine gute Datenerhe- Iris-, Gesichts- oder Fingerab- hen durch die zeitliche Verände- bung (Datenbestand eines Versi- druckerkennung haben wir es mit rung eines Abdruckes oder die cherungsunternehmens), zwei- sehr komplexen Gegenständen zu Möglichkeit, Fingerabdrücke zu tens ein ›einfaches‹, das heißt gut tun, die jedoch bei genauerem kopieren und das System so zu berechenbares, aber aussagekräf- Hinsehen spezifische Strukturen überlisten.

64 Universität Göttingen MATHEMATIK LÖST PROBLEME

Die digitale Aufnahme eines tischer Methoden. Theorien wer- Abb. 1: Extraktion und Abdrucks ergibt niemals genau den durch empirische Befunde Matching: Zerlegung ei- nes Fingerabdruckes in dasselbe Bild: Die Lichtverhältnis- überprüft und modifiziert, hieraus sein ›Skelett‹ zur Prüfung se verändern sich kontinuierlich entstehen Modelle. Solche statisti- der Übereinstimmung und Finger sind permanent klei- schen Modelle haben zum Teil ei- von gefundenen Minuti- en (blaue Punkte sind nen Verletzungen ausgesetzt. Die- ne erstaunliche Universalität: Die Endungen, rote Punkte se Einflüsse im Detail zu messen Gleichungen und Zufallsmecha- sind Verzweigungen), oder bei der Berechnung im Ein- nismen, die Teilen der Computer- indem ihre Lage und Orientierung verglichen zelnen zu berücksichtigen, ist ge- tomographie zugrunde liegen, werden nauso hoffnungslos wie die mor- ähneln stark denen, die bei der Copyright: K. Mieloch, gendliche Gemütsverfassung eines Fluoreszenzmikroskopie auftau- P. Mihailescu, A. Munk Autofahrers auf dem Weg zur Ar- chen, auch wenn physikalisch beit, der zufällig im Stau gelandet sehr verschiedene Prozesse da- ist, in eine Schadensprognose mit hinter stehen. In der Positronen- einzubeziehen. Solche Schwan- Emissionstomographie (PET) wer- kungen lassen sich jedoch mit ge- den Photonen, die aus dem zufäl- eigneten statistischen Methoden ligen Zerfallsprozess eines radio- herausfiltern. Erkennungssysteme aktiven Präparates stammen, in skopie werden fluoreszente Mar- machen Fehler; dies lässt sich nie Detektoren gezählt, die das Un- ker, die sich etwa an bestimmte völlig ausschließen, man kann nur tersuchungsobjekt umgeben (vgl. Proteine anheften lassen, mit ei- versuchen, sie zu minimieren. dazu den Beitrag von Rainer Kreß nem Laser angeregt und die resul- Weitgehend unverstanden ist bei- für weitere Techniken der Tomo- tierenden Photonen (die kleinen spielsweise bisher, wie sich die Fin- graphie). So kann etwa eine Auf- Akteure sind hier also ›Lichtteil- gerabdrücke im Laufe eines Lebens nahme der Herzdurchblutung ge- chen‹) in Detektoren gezählt. So Abb. 2: Am Fingerprint verändern und wie sich dies auf Er- wonnen werden, ohne dass inva- kann man auf die räumliche Ver- Lab (FiLab) entwickelte kennungsfehler auswirken kann. siv eingegriffen werden muss. teilung von Proteinstrukturen in Software aus der Das ist momentan Forschungs- Dort, wo die Durchblutung stärker Zellen schließen und erhält wert- Arbeitsgruppe von P. Mihailescu gegenstand eines Göttinger Projek- ist, fließt mehr radioaktives Mate- volle Information über diese Bau- (VW-Stiftungsprofessur: tes in Kooperation mit dem Bundes- rial hindurch, und mehr Photonen steine des Körpers. Eine grundle- Explicite and Compu- kriminalamt (BKA) Wiesbaden. werden emittiert. Schlecht durch- gende Technik, um leistungsstarke tational Methods in and blutete Bereiche können erkannt Mikroskope zu entwickeln, die ei- Pattern Recognition) Statistik als Querschnitts- werden. In der Fluoreszenzmikro- nen wesentlich höheren Auflö- und A. Munk wissenschaft Copyright: K.Mieloch, P. Mihailescu, A. Munk Statistik ist keine isolierte Diszi- plin, sondern eine Querschnitts- wissenschaft. Es ist ihre Stärke – und ihre Schwäche –, mittels ma- thematischer Techniken, insbe- sondere wahrscheinlichkeitstheo- retischer Modellbildung, von dem konkreten Anwendungsfeld zu abstrahieren und so tiefer liegen- de zufallsbedingte Strukturen zu erkennen und nutzbar zu ma- chen. Der Statistiker und Wahr- scheinlichkeitstheoretiker Persi Diaconis, Mathematiker an der University of Stanford (USA), hat die Statistik als die »Physik der Zahlen« bezeichnet, und in der Tat ist die Vorgehensweise ähnlich: Auch Physiker versuchen komple- xe Systeme durch einfachere Mo- delle zu beschreiben, gerade so einfach, dass die entscheidenden Eigenschaften noch sichtbar sind – und bedienen sich sehr oft statis-

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sungsgrad als herkömmliche Licht- und problemspezifische Modifi- dass der nicht würfelt.« Heute mikroskope haben, geht auf bahn- kationen der statistischen Verfahren dürfen wir sagen: Er würfelt doch brechende Arbeiten von Stefan werden notwendig. Die deutsch- – aber mit System. Hell vom Göttinger Max-Planck- schweizerische Forschergruppe Institut für biophysikalische Che- »Statistische Regularisierung«, die Wetter, Börse, Industrie – über- mie zurück. In einem gemeinsa- von der Deutschen Forschungsge- all steht Mathematik dahinter men, vom Bundesministerium für meinschaft (DFG) und dem Die mathematische Statistik selbst Bildung und Forschung (BMBF) Schweizer Nationalfonds (SNF) steht hier nur exemplarisch für geförderten Verbundprojekt wer- gefördert wird, hat sich für die viele Bereiche der Mathematik – den momentan statistische Me- nächsten Jahre zum Ziel gesetzt, eine Querschnittsdisziplin, die thoden entwickelt, um zu verbes- solche universellen statistischen bewusst oder unbewusst in un- serten Bildrekonstruktionen zu ge- Strukturen und Modelle zu finden zähligen Bereichen eingesetzt langen. Die gezählten Photonen und für verschiedene Disziplinen wird und eine tragende Rolle folgen demselben statistischen nutzbar zu machen. spielt. Oftmals ist allerdings kaum Gesetz wie in der PET: einem so Die beschriebenen Beispiele noch sichtbar, welchen Beitrag genannten »Poisson-Prozess«. stehen für eine Fülle von gemein- die Mathematik zu verschiedenen Der Poisson-Prozess zur Mo- samen statistischen Prinzipien, die technologischen Entwicklungen dellierung spielt immer dann eine auf den ersten Blick sehr unter- leistet oder im Vorfeld geleistet wichtige Rolle, wenn seltene Er- schiedliche Disziplinen miteinan- hat. Mathematiker arbeiten oft im eignisse gezählt werden. In der der verbinden. Typischerweise fal- Hintergrund. Nur eine detaillierte Versicherungsmathematik bei- len bei allen sehr große Da- Auseinandersetzung mit dem Ge- spielsweise gelten Schäden in die- tenmengen an. In einer sich im- genstand lässt erkennen, wie viel sem Sinne als selten. Nicht viel mer stärker ausdifferenzierenden Mathematik nötig ist, um eine Pro- anders verhält es sich mit den ein- Wissenschaftslandschaft, in der duktionsstraße zu takten, Wetter- gehenden Anrufen in einem Call man die Entwicklungen in Berei- vorhersagen zu machen oder an- Center oder den Verspätungszei- chen, die dem eigenen Arbeitsge- gemessene Preise für komplizierte ten der Bahn, deren Kenntnis biet fern liegen, kaum noch ver- Börsenkontrakte auszurechnen. wichtig für eine effiziente Stand- folgen und verstehen kann, hat Die grundlegende mathematische ortplanung ist (vgl. dazu den Bei- dies etwas Beruhigendes: Als Al- Theorie um diese ›Optionspreise‹ trag von Anita Schöbel). Sind die- bert Einstein mit der Quantenphy- zu bestimmen, wurde beispiels- se Strukturen verstanden, werden sik konfrontiert wurde, postulierte weise schon Mitte der 1940er Jah- Gemeinsamkeiten sichtbar und er 1926 in einem Brief an Max re von dem japanischen Wahr- statistische Methoden lassen sich Born: »Die Theorie liefert viel, scheinlichkeitstheoretiker It¯o Ki- erfolgreich von einem Gebiet auf aber dem Geheimnis des Alten yoshi entwickelt (und sogar in ein anderes übertragen. Fast immer bringt sie uns doch nicht näher. Je- Grundzügen einige Zeit früher steckt der Teufel jedoch im Detail, denfalls bin ich überzeugt davon, von dem Mathematiker Wolfgang Handelsraum in der Börse Döblin, dem zweiten Sohn des Schriftstellers Alfred Döblin). Den Nobelpreis für Wirtschaftswissen- schaften für ihr Modell der Op- tionspreisbewertung erhielten Fi- scher Black and Myron S. Scholes im Jahre 1997. Ihr Modell lässt sich leicht aus dem It¯o-Kalkül her- leiten. So verhält es sich mit vielen ›Erfindungen‹: Die Entwicklung der zugrunde liegenden mathe- matischen Theorie liegt häufig viele Jahre zurück. Bei ihrer Ent- stehung war oft nicht klar, wofür sie später gut sein sollte. Mathe- matische Theorien und Resultate – im Gegensatz zu Erfindungen – sind nicht patentrechtlich ge- schützt (und das ist auch gut so, denn jeder soll gleichermaßen da-

66 Universität Göttingen MATHEMATIK LÖST PROBLEME

von profitieren können). Leider tentieren lassen (die unter anderem Mathematik wieder stärker als das besteht häufig Gefahr, dass ihr in der modernen Signalverarbei- wahrgenommen wird, was sie für Beitrag verloren geht oder nur noch tung unverzichtbar sind) oder It¯o die Gesellschaft bedeutet, näm- wenig Beachtung findet. In der den nach ihm benannten Kalkül, lich die einzigartige Möglichkeit, Öffentlichkeit wird der bedeuten- und jedes Telekommunikations- als Querschnittsdisziplin vielen de Beitrag der Mathematik an vie- unternehmen oder jede Bank täglichen Herausforderungen in len Entwicklungen deshalb nicht müsste dafür eine Schutzgebühr den unterschiedlichsten Berei- mehr angemessen gewürdigt. Stel- bezahlen … chen mit ihrem seit jeher stärksten len wir uns vor, Carl Friedrich Gauß Das Jahr der Mathematik kann Instrumentarium zu begegnen: hätte die komplexen Zahlen pa- einen Beitrag dazu leisten, dass Präzision, Klarheit und Struktur.

Deutsch-Schweizer Statistik-Forschergruppe: »Statistische Regularisierung unter qualitativen Nebenbedingungen – Inferenz, Algorithmen, Asymptotik und Anwendungen«

(red.) Zum 1. April 2008 wurde ei- Kollegen Prof. Lutz Dümbgen von dass die gemeinsame mathemati- ne binationale Forschergruppe der Universität Bern. Die beiden sche Sprache und die verwende- zum Thema »Statistische Regula- Wissenschaftler hatten die Idee zu ten statistischen Analysemethoden risierung« in einer gemeinsamen dieser Initiative vor zwei Jahren noch weitere verborgene Ähnlich- Initiative von der Deutschen gemeinsam entwickelt. keiten offen legen werden. Forschungsgemeinschaft (DFG) Die binationale Forschergrup- Dementsprechend ist die Grup- und dem Schweizer National- pe zählt zu den ersten gemein- pe interdisziplinär besetzt: Statisti- fonds (SNF) eingerichtet. Die schaftlich von DFG und SNF fi- ker, Mathematiker, Computerwis- Gruppe wird durch die DFG und nanzierten Forscherguppen. Die senschaftler und Ökonomen arbei- den SNF insgesamt mit etwa zwei Förderorganisationen haben bei ten eng zusammen. Die Forscher- Millionen Euro in den ersten drei der Einrichtung des Programms gruppe ist zusätzlich mit weiteren Jahren gefördert und arbeitet an intensiv zusammengearbeitet und renommierten Forschungseinrich- den Standorten Göttingen, Mann- mit den Wissenschaftlern Pionier- tungen weltweit vernetzt, darunter heim, Bern und Zürich. Bei erfolg- arbeit geleistet. Die in dem Ver- den US-Universitäten in Florida, reicher Arbeit wird das Vorhaben bund kooperierenden Wissen- Berkeley und Stanford, der Uni- für weitere drei Jahre gefördert. schaftler legten hierzu einen ge- versität Paris VI sowie der Whar- Dabei spielt die Universität Göt- meinsamen Antrag vor, der von ton School of Business in Philadel- tingen eine zentrale Rolle: Von DFG und SNF begutachtet wurde. phia. Bestandteil der Förderung ist den insgesamt 13 Teilprojekten Der grundlegende Forschungs- folgerichtig ein Austauschpro- entfallen sieben Projekte auf Göt- ansatz besteht darin, auf den ersten gramm für Gastwissenschaftler tingen, davon sechs auf die Ma- Blick so verschieden scheinende und Mitglieder der Gruppe. thematischen Fakultät (Prof. Dr. Bereiche wie Systembiologie, Öko- Die beteiligten elf Wissenschaft- Thorsten Hohage, Prof. Dr. Axel nometrie oder Atmosphärenfor- ler versprechen sich einerseits Munk, Prof. Dr. Martin Schlather, schung über die zugrunde liegen- große Fortschritte für die eigene Prof. Dr. Jeanette Woerner) und ei- de statistische Methodik, die stati- Disziplin durch das gegenseitige nes auf die Wirtschaftswissen- stische Regularisierung, zusam- Lernen voneinander und ander- schaftliche Fakultät (Prof. Dr. Ste- menzuführen. In den letzten Jah- seits ein tieferes Verständnis ein- fan Sperlich). Das Niedersächsi- ren haben sich in diesen Diszipli- heitlicher gemeinsamer Prinzipi- sche Ministerium für Wissenschaft nen eigene statistische Methoden en und Strukturen. Eine Auftakt- und Kultur (MWK) unterstützt zu- mit großem Tempo entwickelt, konferenz zu diesem Thema fand sätzlich eines der Göttinger Pro- und verblüffende Ähnlichkeiten vom 20. bis 22. November 2008 jekte. Die Gesamtkoordination werden erst neuerdings sichtbar. in Göttingen statt. liegt bei Prof. Munk vom Institut Auch wenn diese Gebiete augen- Weitere Informationen im In- für Mathematische Stochastik zu- scheinlich wenig miteinander zu ternet unter www.stochastik.math. sammen mit seinem Schweizer tun haben: Die Forscher erwarten, uni-goettingen.de/FOR916.

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The study of statistics (from though at first glance these disci- centration, which contains import- lat. status) has emerged from plines appear to us to differ great- ant information about the organ. the need to understand the be- ly, common statistical problems This is an example of a statistical haviour of large complex systems, and their rigorous mathematical inverse problem where the aim is with the aim of developing strate- formulation may lead to surprising to reconstruct ›reversely‹ the in- gies that allow the prediction of similarities. Positron emission to- tensity function from the random such systems and intervention in- mography enables a physician to collected in the detector to them. Typically, such systems visualize blood flow in, or meta- tubes. In fluorescent light micro- are constituted by many small bolic activity of, an organ. To this scopy a protein is labelled with a protagonists, and each of them is end a biochemical metabolite (e.g. fluorescent marker, and from the difficult to describe individually. glucose) is labelled with a positron resulting photon emissions the They appear to us as random and emitting radioactive material, and protein structure in a cell can be non-predictable. Only as a whole the resulting photons are counted recovered. It turns out that exactly do they display surprising princi- using a PET scanner consisting of the same statistical model as for ples and laws. Therefore, statistics a number of detector tubes, posi- PET is suitable to describe this set- plays a significant role in many tioned so that parts of the body are ting, the only difference being that areas of daily life, such as in in- surrounded. These counts follow the equations are now determined surance, in banking, or for the pre- a certain probability law, a so- by the physics of the microscope diction of population develop- called Poisson process, which instead of by the PET scanner. ment. It is less obviously apparent typically occurs when radioactive Again, a Poisson process des- that together with mathematical decay is observed. In a statistical cribes very well the random natu- modelling, statistical methods now- model, a set of ›random‹ equa- re of the photon counts. Poisson adays play a significant role in tions driven by the detector geo- processes are often used for mo- pattern recognition, biometrics, metry and the underlying physics delling rare events and an insured medical imaging and in the im- links these counts (and hence the loss is (hopefully) a rare event, in provement of a new generation of Poisson process) to the intensity general. Hence, this suggests that microscopes, for example. Al- function of, say, the glucose con- similar statistical methods link such different fields as nanooptics and insurance mathematics. This often allows transfer of statistical methods from one area of appli- cation to another, and hidden commonalities arise. These and Prof. Dr. Axel Munk, Jahrgang 1967, studierte von related issues are currently being 1987 bis 1992 Mathematik und Philosophie an der investigated within a German- Universität Göttingen. Nach dem Diplom wurde er Swiss research group by statisti- 1994 als Stipendiat der Studienstiftung des Deutschen cians, computer scientists, nu- Volkes in Mathematischer Statistik in Göttingen pro- merical analysts and econometri- moviert. Anschließend war er mit einem DFG-For- cians in Göttingen together with schungsstipendium an der TU Dresden, der Cornell University und colleagues from Bern, Mannheim der Wharton School of Buisiness in Philadelphia tätig. Von 1995 an and Zürich. arbeitete er an der Ruhr-Universität Bochum als Hochschulassistent und habilitierte sich dort 1999 in Mathematik. Nach Professuren in Historically, since the work of Siegen und Paderborn wurde er 2002 auf den Lehrstuhl für Mathe- C. F. Gauss some 200 years ago matische Stochastik nach Göttingen berufen. Zwischenzeitliche Gast- the Georg-August-Universität has aufenthalte führten ihn unter anderem an die University of Florida been strongly associated with the und die University of North Carolina. Sein Arbeitsgebiet ist die an- development of mathematical stat- gewandte und mathematische Statistik mit einem Schwerpunkt in istics and insurance mathematics. der Regressionsanalyse und der statistischen Bildverarbeitung. Er ist In 1895 on the initiative of Felix Gründungsmitglied des Statistischen Zentrums und des Courant For- Klein (1849 – 1925) the first semi- schungszentrums »Poverty, Equity and Growth in Developing and nar for actuarial sciences was set Transition Countries«, Sprecher der DFG-SNF Forschergruppe »Sta- up in Göttingen. Further develop- tistische Regularisierung«, Teilprojektleiter am Sonderforschungsbe- ments are also closely linked with reich »Nanoscale Photonic Imaging« und im BMBF-Verbundprojekt ›INVERS‹ im Rahmen der BMBF Initiative »Gesundheit und Medi- Göttingen scientists such as Wil- zintechnik«, Koordinator des DFG Projektes »Geodätische Haupt- helm Lexis (1837 – 1914) and Felix komponentenanalyse« sowie stellvertretender Sprecher des Gradu- Bernstein (1878 – 1956), founder iertenkollegs »Identifikation in mathematischen Modellen«. of the Institute of Mathema- tical Stochastics.

68 Universität Göttingen Armut messen, erklären und überwinden Armutsforschung, Mathematik und Statistik

Stephan Klasen

Nach den neuesten Zahlen der Weltbank leben 1,4 Milliarden Menschen in extremer Armut. Das ist die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist: In den letzten zwei Jahrzehnten hat die Zahl der Menschen in abso- luter Armut um über 500 Millionen abgenommen und es wird erwartet, dass sie in den nächsten zehn Jahren noch einmal um einige Hundert Millionen Menschen abnehmen wird. Wie werden diese Kennziffern er- hoben, wie verlässlich sind sie und wie sind sie zu interpretieren? Letzt- lich stellt sich natürlich die Frage, wie kann man Armut bekämpfen? Nur die richtigen Ausgangsfragen, aussagekräftige Daten und korrekte Be- rechnungen sowie schlüssige Interpretationen können den Weg zu poli- tischen Lösungen weisen. © Ullstein ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Armut ist ein vielschichtiges Phä- wendung. Arm gilt in den USA, wird die Armutsquote einfach nomen, das von vielen Betroffenen wer weniger Einkommen hat, als er über Summenbildung errechnet. sehr unterschiedlich empfunden benötigen würde, um einen Wa- Aber man könnte natürlich auch und erfahren wird. Es hängt si- renkorb von lebensnotwenigen andere Arten der Aggregation vor- cherlich nicht nur vom fehlenden Gütern zu kaufen. Dieser Waren- nehmen, die sicherlich das Phä- Einkommen ab. Armut, vor allem korb ist ein von Ernährungsfach- nomen besser abbilden würde. in Entwicklungsländern, hängt leuten zusammengestellter preis- Solche Armutsmaße wurden in auch mit verringerten Bildungs- günstiger Speiseplan, multipliziert den 1960er und 1970er Jahren chancen, schlechter medizini- mit dem Faktor drei, um Kosten unter anderem von den Wissen- scher Versorgung, ungesunder für Wohnung, Kleidung, etc. zu schaftlern David Watts, Amartya Umwelt, fehlender adäquater Be- berücksichtigen. Sen, James Foster, J. Greer und E. hausung und fehlendem Zugang Der zweite Schritt ist die Ag- Thorbekke im Rahmen der axio- zu sauberem Wasser sowie mit ge- gregation der Armen in Bezug auf matischen Armutsforschung ent- sellschaftlicher Stigmatisierung die gesamte Bevölkerung. Sum- wickelt. Zum Beispiel schlagen und ähnlichen Problemen zusam- miert man einfach nur die Anzahl Foster, Greer und Thorbekke die men. Um wirksame Maßnahmen der Armen auf? Oder wird berück- Armutslücke als alternatives Ag- gegen Armut ergreifen zu können, sichtigt, dass manche der Armen gregationsmaß vor. Hier werden muss dieses Phänomen allerdings deutlich ärmer sind als andere? Je nicht einfach die Armen gezählt, klar definiert und gemessen sowie nachdem, wie Armutslinien ge- sondern die jeweilige Distanz der die Ursachen analysiert werden. setzt und das Aggregationspro- Einkommen der Armen zur Ar- Hier spielen Mathematik und Sta- blem gelöst wird, kann man ver- mutslinie quantifizert. Je weiter tistik, in enger Verbindung mit der schiedene Armutsmaße herleiten die Einkommen der Armen unter Volkswirtschaftslehre, eine ent- und damit auch die oben genann- der Armutsgrenze liegen, desto scheidende Rolle. ten Zahlen erklären. Bei der Mes- größer die Armut. In einem alter- Während Armut schon bei den sung der globalen Armut, die zur nativen Maß schlagen sie vor, die alten Griechen, im Alten und Zahl von 1,4 Milliarden Men- Distanz zur Armut zu quadrieren Neuen Testament und bei Adam schen führte, wird die Armutslinie und damit tiefe Armut besonders Smith, dem Urvater der Volkswirt- bei einem Einkommen von 1.25 stark zu gewichten. Diese axio- schaftslehre, thematisiert wurde, US Dollar pro Kopf und Tag ge- matische Armutsforschung ist un- ist die moderne quantitative Ar- setzt, wobei diese Armutslinie auf- trennbar mit Mathematik verbun- mutsforschung vergleichsweise grund von Kaufkraftunterschieden den. Diese Maße werden nämlich jung. Ein erster Versuch der Ar- verschiedener Währungen ange- hergeleitet, indem man wün- mutsmessung wurde in England passt wird. Das ergibt ein absolu- schenswerte Axiome über Armuts- von Seebohm Rowntree im Jahr tes Armutsmaß, das überall das- maße postuliert und dann analy- 1913 unternommen. Er dokumen- selbe Niveau hat. Wenn die Ein- tisch herleitet und beweist, wel- tierte das Ausgabenverhalten von kommen der Armen steigen, wird che Maße diese Axiome erfüllen Arbeiterfamilien, um damit Armut die Armut sinken. Aggregation er- (und welche nicht). besser erfassbar zu machen. folgt über die Summenbildung. Manchmal wird damit auch die so Dynamische Komponenten für Arm oder relativ arm? genannte Armutsquote berechnet, differenziertere Aussagen Moderne Armutsforschung die den Anteil der Armen an der Während diese Erkenntnisse sich nach dem 2. Weltkrieg Gesamtbevölkerung angibt. schon in der Literatur etabliert ha- Nach dem 2. Weltkrieg wurde das Bei der Berechnung von Armut ben, wird die axiomatische Ar- Thema wieder aufgenommen, und in Deutschland werden Haushal- mutsforschung gegenwärtig wei- dieser Zeitpunkt markiert den Be- te, die weniger als 60 Prozent des terentwickelt und um eine dyna- ginn der modernen theoretischen Durchschnittseinkommens ver- mische Komponente ergänzt, die und empirischen Armutsforschung. dienen, als arm bezeichnet. Hier das Armutsrisiko beziehungswei- Armutsmessung erfolgt in zwei handelt es sich um ein relatives se die Verweildauer in der Armut Schritten: In einem ersten Schritt Armutsmaß. Wenn alle in Deutsch- berücksichtigt. Wie kann man muss definiert werden, wer in ei- land gleichermaßen reicher wer- identifizieren und aggregieren, ner Bevölkerung als arm gilt und den, steigt auch das Durchschnitts- welche Haushalte und Personen wer nicht. Das heißt, man braucht einkommen, und damit würde von chronischer Armut betroffen eine Armutslinie, die die Armen sich an der Armut nichts ändern. sind; wie kann man demgegen- von den Nichtarmen trennt. Die Armut wird nur dann reduziert, über Haushalte in einem dynami- erste Armutslinie wurde in den wenn sich das Einkommen der Ar- schen Armutsmaß berücksichti- 1950er Jahren in den USA ent- men relativ zum Durchschnitts- gen, die einem beständigen Ar- wickelt und findet heute noch An- einkommen ändert. Auch hier mutsrisiko ausgesetzt sind, aber

70 Universität Göttingen MATHEMATIK LÖST PROBLEME

deren Einkommen nur zeitweise Vier Themen der Armuts- separat zu testen. Zum Beispiel unter die Armutslinie sinkt? Diese forschung werden Instrumentenvariablen Themen der dynamischen Ar- Während diese statistischen Pro- benutzt oder Paneldatenmetho- mutsmessung sind Teil des For- bleme schon recht lange bekannt den angewendet, um diese Pro- schungsprogramms des neu ge- sind und es eine Reihe von geeig- bleme zu lösen. Mit Instrumenten- gründeten Courant Zentrums »Ar- neten Lösungen gibt, wird die Sa- variablen versucht man Variablen mut, Ungleichheit und Wachstum che komplexer, wenn es um die zu finden, die die Kinderzahl be- in Entwicklungsländern: Statisti- Analyse von Armut geht. Hier tau- einflussen, aber nicht direkt die sche Methoden und empirische chen schwierigere statistische Fra- Armut. Bei Panelmethoden wer- Analysen«, das mit Mitteln der gestellungen auf. Vier davon seien den Haushalte über mehrere Jahre Förderlinie 3 der Exzellenzinitiati- beispielhaft genannt, da sie wich- hinweg beobachtet, um zu über- ve des Bundes und der Länder in tige Forschungsthemen im neuen prüfen, ob zuerst die Armut oder diesem Jahr an der Georg-August- Courant Zentrum sind. Eine Pro- zuerst der Kinderreichtum zu be- Universität Göttingen eingerichtet blemstellung ist die Frage nach obachten war. Solche Daten sind wurde. Im Zentrum arbeiten Ent- der Richtung der Kausalität bei der allerdings nur vereinzelt erhältlich wicklungs- und Agrarökonomen, Suche nach den Ursachen der Ar- und gerade in Entwicklungsländern Mathematiker und Statistiker zu- mut. Betrachten wir zum Beispiel noch eher selten. Deshalb erhebt sammen, um sich dem Problem den kausalen Zusammenhang zum Beispiel die DFG-Forscher- der Messung und Analyse von Ar- zwischen Familiengröße und Ar- gruppe »Vulnerability to Poverty«, mut zu widmen. mut. In fast allen Ländern der in der Göttinger Entwicklungsöko- Um Armut tatsächlich messen Welt, reichen wie armen, sind nomen gemeinsam mit Forschern und interpretieren zu können, große und kinderreiche Familien der Universitäten und benötigt man geeignete Daten. häufiger arm als kleine Haushalte. Hannover an der dynamischen Hier spielt Statistik eine entschei- Unklar ist allerdings die Kausa- Messung von Armut und deren dende Rolle. Mit der Definition lität. Führen Kinder zu mehr Ar- Ursachen arbeiten, solche Panel- von Armutslinien nach dem 2. mut oder haben arme Menschen daten gegenwärtig in Thailand und Weltkrieg wurden auch in mehre- mehr Kinder? Oder bleiben in ar- Vietnam. Man stellt fest, dass die ren Ländern Daten erhoben, um men Haushalten die Kinder ein- Kausalität hier stark kontextabhän- Armut empirisch zu messen. Hier fach nur länger zu Hause, anstatt gig ist. In vielen sehr armen Ent- war neben den USA interessanter- sich selbstständig zu machen und wicklungsländern ist das Problem weise Indien einer der Vorreiter- führen dadurch zu größerer Ar- eher, dass ärmere Haushalte mehr staaten. Seit Anfang der 1950er mut? Mit einfachen Korrelationen Kinder haben, während in reichen Jahre werden dort in fast jedem lassen sich diese Fragen nicht be- Ländern Kinderreichtum Armut Jahr über 100.000 Haushalte über antworten. Stattdessen müssen verursacht, weil vor allem die feh- Armut in Deutschland: Berliner Bürger, darunter ihr Ausgabeverhalten befragt. Mit hier statistische Verfahren zum lende außerhäusliche Kinderbe- viele Familien mit den Daten aus dieser Stichprobe Einsatz kommen, die versuchen, treuung die Verdienstmöglichkei- KIndern, versorgen sich wird anschließend bestimmt, in diese kausalen Zusammenhänge ten von Müttern einschränkt. mit Lebensmitteln bei einer Berliner Tafel. wie vielen Haushalten der Kon- © Ullstein sum unterhalb der Armutslinie liegt. Statistische Überlegungen entscheiden über die Größe der Stichprobe, die Identifikation von Haushalten, die befragt werden, die Verwendung von Gewichten bei der Aggregation und die Berechnung von Verlässlichkeit der berechneten Armutsquoten. Obschon letztere häufig nicht be- richtet wird, gehört zu jeder be- richteten Armutsstatistik ein Konfi- denzintervall, mit dem man die Verlässlichkeit der berechneten Rate einschätzen kann. Je nach- dem, wie die Daten erhoben wer- den, kann die Berechnung dieser Konfidenzintervalle recht kom- plex sein.

Georgia Augusta 6 | 2008 71 ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Eine zweite Frage ist, welche Mangel an Bildung, Krankheit, ge- Selbstversorger und vermarkten Faktoren die räumliche Verteilung sellschaftlicher Stigmatisierung häufig einen kleinen Überschuss der Armut determinieren. Armut und Isolation zusammenhängen, an Nahrungsmitteln, um sich mit ist regional sehr unterschiedlich selbst wenn das Einkommen über anderen Gütern zu versorgen. verteilt. Ist das nur Zufall? Liegt der Armutsgrenze liegt. Wenn Höhere Preise würden höhere das an der unterschiedlichen regio- man eine solche multidimensio- Einkommen bedeuten. Aber die nalen Ausstattung der Bevölkerung nale Konzeption zugrunde legt, entscheidende Frage ist, ob und mit Bildung und Produktions- stellt sich sofort die Frage, wie wann diese höheren Weltmarkt- gütern? Oder gibt es regionale man diese Dimensionen der Ar- preise überhaupt in entlegenen »Armutsfallen« in dem Sinne, mut miteinander verbindet, bezie- ländlichen Gegenden ankommen. dass in manchen Regionen das hungsweise gewichtet. Ist man Dauert das Wochen oder Monate, schlechte wirtschaftliche und so- nur dann arm, wenn man in jeder oder kommen sie gar nie an, weil ziale Umfeld bedingt, dass Men- Dimension Mangel aufweist, oder Zwischenhändler die höheren schen dort in Armut verbleiben, ist man schon arm, wenn man in Preise nie an die Bauern weiter- die an anderen Orten möglicher- einer Dimension als arm bezeich- reichen? Wie schnell werden um- weise erfolgreich wären? Hier bie- net würde? Dies sind zum Teil gekehrt die gestiegenen Preise für ten Erkenntnisse der räumlichen schwierige konzeptionelle Fra- Düngemittel und Pestizide an die Statistik einige Antworten. Man gen, sie bergen aber auch statisti- Bauern weitergereicht? Auch hier kann in statistische Modelle von sche Probleme. Wie kann man sind statische Methoden gefor- Armut eine räumliche Dimension durch geeignete statistische Me- dert, diesmal aus der Zeitreihen- als zusätzlichen Faktor einbauen. thoden diese multidimensionale ökonometrie, bei der die Korrela- Dies ist ein aktives Forschungsfeld Sicht von Armut auf wenige Di- tionen zwischen Preisserien, auch für Mathematiker und Statistiker, mensionen reduzieren, anhand in Abhängigkeit von natürlichen die sich mit räumlicher Modellie- derer das Problem messbar ist? Barrieren und vorhandener Infra- rung befassen. Hier werden verschiedene Verfah- struktur, in unterschiedlichen Ein dritter Forschungsstrang ren der Faktoren- oder Hauptkom- Märkten eines Landes untersucht beschäftigt sich mit der Viel- ponentenanalyse verwandt, um werden. Auch dies ist ein Thema schichtigkeit der Armut. Zumeist solche Dimensionenreduktion zu des Courant Forschungszentrums, wird Armut nur am Einkommen betreiben. Aber auch dies ist ein dem sich besonders die Agraröko- festgemacht, aber dies ist eine gro- aktives Forschungsfeld und ein nomen widmen. be Vereinfachung und Verzerrung wichtiges Thema im Courant For- Man kann vielleicht den Ein- der tatsächlichen Situation. Wenn schungszentrum. druck gewinnen, dass diese Bei- man Armut als geringere Lebens- Schließlich beschäftigt sich ei- spiele doch eher auf potenziell in- qualität oder, wie der indische ne vierte wichtige Frage mit der teressante, aber doch realitätsfer- Wirtschaftsnobelpreisträger und Transmission von Preisen und an- ne akademische Spielereien hin- Ehrendoktor der Universität Göt- deren Marktsignalen, gerade auch auslaufen. Aber das wäre weit ge- tingen Amartya Sen es bezeichnen im ländlichen Raum. Der jetzige fehlt: Bei den vier Beispielen, wie würde, als »Mangel an Fähigkei- weltweite Preisauftrieb bei Grund- auch den anderen Themen der Ar- ten und Möglichkeiten, ein le- nahrungsmitteln ist ein gutes Bei- mutsforschung, lässt sich eine di- Sri Lanka, Galle: benswertes Leben zu führen«, spiel. Eigentlich sollten viele är- rekte Politikrelevanz ableiten. Mit Markt. Obst, Gemüse, Früchte, Gewürze und sieht, stellt mangelndes Einkom- mere Haushalte in Entwicklungs- der Erforschung eines kausalen andere Lebensmittel men nur eine Dimension dar. Ge- ländern davon profitieren. Diese Zusammenhangs zwischen Armut werden hier von den rade in Entwicklungsländern kann Familien leben nämlich zumeist und Familiengröße kann die Poli- Bauern und Händlern der Gegend verkauft. geringe Lebensqualität auch mit in ländlichen Gegenden, sind tik besser verstehen, ob die erfolg- © Ullstein reiche Geburtenkontrolle oder al- ternativ eine bessere Familienför- derung und Vereinbarkeit von Be- ruf und Familie Erfolg verspre- chende Instrumente sind, um das Problem der Kinderarmut in den Griff zu bekommen. Ebenso ge- ben räumliche Armutsfallen An- lass, ihnen mit einer gezielten Re- gionalpolitik entgegenzuwirken. Nur ein besseres Verständnis der Vielschichtigkeit von Armut kann dazu führen, dass man adäquat

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Courant Forschungszentrum »Armut, Ungleichheit und Wachstum in Entwicklungsländern: Statistische Methoden und empirische Analysen«

(red.) 1,4 Milliarden Menschen Im Courant Forschungszentrum werden kann, gehört ebenso in oder circa 26 Prozent der Bevöl- »Armut, Ungleichheit und Wachs- das Spektrum der Fragestellungen kerung in Entwicklungsländern le- tum in Entwicklungsländern: Statisti- wie die Frage nach Armutsrisiken in ben in extremer Armut. Auf dem sche Methoden und empirische unterschiedlichen Regionen. Gän- Millenniumsgipfel im Jahr 2000 Analysen« werden insbesondere gige Darstellungen von Kausalitä- wurde Armutsbekämpfung von Fragen von dynamischer Armuts- ten zwischen Einkommensstruktur, der Weltgemeinschaft als zentra- messung, Determinanten der Ar- Bildungszugang und regionalen les Ziel formuliert, die Fortschritte mut, Transmission von Preisen Besonderheiten werden kritisch bisher sind jedoch unzureichend und Politikmaßnahmen in ländli- hinterfragt. Die Forscher interes- und regional sehr ungleich ver- chen Gegenden, und die dazu- siert, unter welchen Bedingungen teilt. Um der Armut mit angemes- gehörigen statistischen Methoden es Bevölkerungsgruppen gelingen senen Maßnahmen begegnen zu thematisiert. An dem Zentrum sind kann, sich und/oder nachwachsen- können, müssen ihre Einflussfak- Stephan Klasen, Axel Dreher, Caro- de Generationen aus der Armut zu toren theoretisch und empirisch la Grün und Stefan Sperlich, Walter befreien. Sie möchten die Determi- genauer analysiert werden. Zucchini aus der Wirtschaftswis- nanten identifizieren, die zu einer Auf den daraus folgenden er- senschaftlichen Fakultät, Bern- Steigerung der landwirtschaftlichen heblichen Forschungsbedarf hat hard Brümmer, Stephan von Cra- Produktivität, einer verbesserten die Georg-August-Universität Göt- mon-Taubadel und Matin Qaim Einkommenssituation und besseren tingen mit der Einrichtung eines aus der Agrarwissenschaftlichen Bildungschancen führen können. neuartigen Forschungszentrums Fakultät sowie Axel Munk und Umgekehrt fragen sie, warum po- reagiert. Unter der Leitung des Martin Schlather aus der Mathema- litische Reformen oder technolo- Göttinger Ökonomen Prof. Ste- tischen Fakultät beteiligt. Drei gische Neuerungen häufig nicht phan Klasen, Ph.D., wurde im Nachwuchsforschergruppen wer- den gewünschten Effekt haben. Frühjahr 2008 das Courant Zen- den eingerichtet: Die erste befasst Der Einfluss von politischen, öko- trum »Armut, Ungleichheit und sich schwerpunktmäßig mit den nomischen und agropolitischen Wachstum in Entwicklungslän- Determinanten von Armut und ih- Interventionen auf die Armutsent- dern: Statistische Methoden und rer Messung; die zweite konzen- wicklung in unterschiedlichen Re- empirische Analysen« gegründet. triert sich auf Fragen ländlicher gionen der Welt ist ein wesentli- Die Einrichtung von zunächst fünf Märkte, Transmission von Preisen cher Untersuchungsgegenstand. Courant Forschungszentren an und den Zugang zu (landwirtschaft- Das Courant Forschungszen- der Universität Göttingen ist Teil licher) Technologie; eine dritte be- trum knüpft damit an bereits erfolg- des Zukunftskonzeptes der Uni- schäftigt sich mit Fragen von empi- reich arbeitende interdisziplinäre versität, mit dem sie in 2007 in der rischen Methoden und Statistik. Forschergruppen mit Göttinger Exzellenzinitiative des Bundes Für alle drei Forschergruppe wur- Beteiligung an: die DFG Forscher- und der Länder erfolgreich war. Es den hochqualifizierte Nachwuchs- gruppe »Impact of shocks on the umfasst vier Maßnahmen: Brain wissenschaftlerinnen und Wissen- vulnerability to poverty: conse- Gain, Brain Sustain, Lichtenberg- schaftler gefunden: Die Methoden- quences for development of emer- Kolleg, Göttingen International. gruppe ist mit Juniorprofessorin Ta- ging Southeast Asian economies« Sie sollen deutsche und ausländi- tyana Krivobokova aus Kasachstan (gemeinsam mit den Universitäten sche Spitzenforscher anziehen schon besetzt, und kürzlich haben Hannover, Frankfurt am Main und und an die Universität binden so- die Kolumbianerin Marcela Ibanez- Gießen), den Göttinger Sonderfor- wie die Entwicklung eines ge- Dias und der Chinese Xiahua Yu die schungsbereich STORMA (»Stabi- meinsamen Forschungscampus Angebote für Juniorprofessuren in lity of Rainforest Margins«), das mit den außeruniversitären For- der »Armuts- und Transmissions- internationale Forschungsnetz- schungseinrichtungen in Göttin- gruppe« angenommen. Darüber werk »Poverty, Equity, and Growth gen beschleunigen. Eine der hinaus verstärkt der äthiopische Network« sowie die Deutsch- Schlüsselmaßnahmen im Rahmen Ökonom Admassu Shiferaw als Schweizer Statistik-Forschergrup- von Brain Gain ist die Unterstüt- post-doc die »Armutsgruppe«. pe »Statistische Regularisierung zung von Nachwuchsforschungs- Mit welchen Instrumenten Ar- unter qualitativen Nebenbedin- gruppen in den Courant For- mut angemessen identifiziert, de- gungen – Inferenz, Algorithmen, schungszentren. finiert, gemessen und quantifiziert Asymptotik und Anwendungen«.

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gegensteuern kann. Schließlich Die quantitative Armutsforschung, wichtigen Beitrag dazu leisten, hängt die Wirkung von Politik die mithilfe neuer statistischer die Grundlagen für erfolgreichere auch von der Transmission dieser Methoden versucht, das Problem Armutsreduktion zu schaffen – vor Signale über Raum und Zeit ab. besser zu erfassen, kann einen allem in den Entwicklungsländern.

According to the most re- tistical Methods, Empirical Analy- able help. Similarly, analysis of the cent data from the World ses and Policy Issues‹ which has distribution and development of Bank, about 1.4 billion people in received seed funding from the so- poverty across space and time the world are living in absolute called Excellence Initiative. requires new methods of spatial poverty. Measuring and analyzing A second focus of the newly statistics that are currently being this poverty is a prerequisite for established research centre con- developed. Third, statistical dimen- designing appropriate interven- centrates on the empirics of po- sion-reduction techniques are cri- tions for overcoming it. While verty analysis. Here statistical tical to capture the essence of this much of this analysis is done by methods play a very important multidimensional concept. Lastly, economists and other social role and, appropriately, the centre when thinking about anti-poverty scientists, basic tools of poverty includes four senior researchers policies, the transmission of such analyses come from mathematics from the fields of statistics and policies as well as market signals and statistics. This short article econometrics. Among the empiri- across space is a crucial factor in- highlights these linkages between cal issues to be addressed in pov- fluencing the timing and success economics, mathematics, and sta- erty research are causality issues. of such initiatives. Thus the mar- tistics in studying world poverty. For example, there is a clear and riage between economic poverty Poverty is a multidimensional strong association between pover- research, statistics and mathema- phenomenon. But to capture it ty and household size, with large tics allows a much better under- adequately requires a quantitative households being poorer in vir- standing of the trends and deter- representation. And here the tools tually all developing countries. minants of poverty and the poten- of mathematics have proven to be But the direction of causality is tial of policy to affect. These are indispensable. In particular, so- unclear. Here, appropriate statisti- then logically the themes of called axiomatic poverty measure- cal techniques can be of consider- the new research centre. ment, where desirable axioms about poverty measures are postu- lated and resulting poverty mea- sures have been derived, has pro- ven critical for formalizing our concepts of poverty and rendering Prof. Stephan Klasen, Jahrgang 1966, studierte Wirt- them measurable as a result. This schaftswissenschaften an der Harvard University, way, for example, poverty mea- Cambridge (USA) und schloss sein Studium 1994 mit sures have been devised that do einem Ph.D. in Economics ab. Als Research Assistent not only the poor, but ap- arbeitete Stephan Klasen für seinen Doktorvater propriately consider the depth of Amartya Sen (Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaf- ten 1998). Nach Tätigkeiten für die Weltbank in Washington und Jo- poverty and the distribution of hannesburg (Südafrika) setzte er seine wissenschaftliche Karriere am incomes among the poor in the Centre for History and Economics 1996 in Cambridge, Großbritan- analysis. nien, fort. Im Jahr 1998 wurde der Ökonom an die Universität Mün- Currently the frontier of poverty chen (LMU) berufen und wechselte im September 2003 auf den research has moved to dynamic Lehrstuhl für Entwicklungsökonomie und Empirische Wirtschaftsfor- concepts of poverty where one schung an die Universität Göttingen. Hier leitet er das Ibero-Amerika attempts to capture poverty risk, Institut für Wirtschaftsforschung. Schwerpunkte seiner Forschung sometimes also called vulnerabi- und Lehre sind: Armut, Ungleichheit und Wohlstand, Determinan- lity to poverty, and distinguish be- ten der Arbeitslosigkeit, Unterernährung und Kindersterblichkeit so- tween chronic and transitory po- wie armutsorientiertes Wirtschaftswachstum. Zu diesen Themen ist verty. Developing and applying er an zahlreichen Drittmittelprojekten als Projektleiter beteiligt. Prof. Klasen ist Koordinator des Courant Forrschungszentrums »Armut, measures to capture poverty in Ungleichheit und Wachstum in Entwicklungsländern«. Als Mitglied this dynamic sense is one of the des European Development Network und des wissenschaftlichen themes of the newly-founded Beirats des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit Courant Research Centre ›Pover- und Entwicklung berät der Wissenschaftler die Politik. Prof. Klasen ty, Equity, and Growth in Develo- ist Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. ping and Transition Countries: Sta-

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Tatyana Krivobokova Die Realität hinter den Daten von Heidi Niemann

»Ich bin ein leidenschaftlicher Statistiker, und ich will, dass Sie das auch werden.« Gleich beim ersten Gespräch mit ihrem zukün- ftigen Doktorvater bekam Tatyana Krivobokova diesen Satz zu hören. In ihrer Heimat hatte die 34-Jähri- ge zunächst an der Kasachischen Nationalen Universität in Almaty Angewandte Mathematik studiert. Nach dem Diplom siedelte sie nach Deutschland um, wo sie an der Universität Kaiserslautern ein Masterstudium in Finanzmathe- matik absolvierte. Da es für diesen internationalen Studiengang kei- ne Stipendien gab, musste sie sich ihren Lebensunterhalt selbst ver- dienen. Die Mathematikerin fand eine Stelle am Fraunhofer-Institut ziplinäre Ausrichtung dieser For- die Wissenschaftler den Einfluss für Experimentelles Software En- schungen, sondern auch der kon- und die Wechselwirkungen vieler gineering. Zu ihren Aufgaben ge- krete Bezug zur sozialen Realität. unterschiedlicher sozialer und ge- hörte unter anderem die Auswer- Die Auswertung von Zahlenko- sundheitlicher Faktoren untersu- tung von Daten. So kam sie erst- lonnen und Tabellen könne dabei chen. Dazu gehören zum Beispiel mals mit dem Tätigkeitsfeld der helfen, komplexe Zusammenhän- Ernährung, ärztliche Versorgung Statistik in Berührung. Nach dem ge zu erfassen, zu entschlüsseln oder Umweltbelastungen. Erst Masterbbschluss wechselte sie an und angemessene Lösungen für durch das Zusammentragen und die Universität Bielefeld, um dort Probleme zu finden. »Mein Dok- die Auswertung entsprechender an der Fakultät für Wirtschafts- torvater hat mich gelehrt: Statistik Daten erschließen sich die komple- wissenschaften zu promovieren. ist die Kunst, aus Daten Informa- xen Zusammenhänge. Je gründ- Anschließend arbeitete sie als Post- tionen zu gewinnen«, betont Tat- licher die Analyse, desto passge- doktorandin an der Katholischen yana Krivobokova. nauer lassen sich Lösungsansätze Universität Leuven in Belgien. Die Wissenschaftlerin wird sta- entwickeln. Jetzt steht Tatyana Krivobokova tistische Methoden entwickeln, Tatyana Krivobokova freut sich, vor ihrer nächsten Herausforde- die auf die speziellen Fragestel- dass bereits alle Forschungsmittel rung: Seit Juli 2008 ist sie Junior- lungen der im Courant Forschungs- zur Verfügung stehen und sie so- professorin und Leiterin einer zentrum forschenden Wirtschafts- fort mit dem Aufbau ihrer Nach- Nachwuchsgruppe an der Univer- und Agrarwissenschaftler zuge- wuchsgruppe beginnen kann. Da- sität Göttingen. Die aus Mitteln schnitten sind. »Wir sind damit bei schätzt sie das gesamte For- der Exzellenzinitiative finanzierte die methodischen Problemlöser schungsumfeld in Göttingen. »Ich Gruppe gehört zum Courant For- für die anderen Forscher«, sagt die wurde gleich gefragt, ob ich in ei- schungszentrum »Armut, Un- Mathematikerin. Gerade auf dem nem Graduiertenkolleg an der gleichheit und Wachstum in Ent- Gebiet der Entwicklungsländer- Mathematischen Fakultät mitwir- wicklungsländern: Statistische forschung gebe es einen großen ken möchte.« Über die Georgia Methoden und empirische Analy- Bedarf an speziellen Methoden Augusta sagt die junge Wissen- sen«, in der sie das Teilgebiet der Statistik. Um beispielsweise schaftlerin: »Es gibt hier so tolle »Econometrics and Statistical Me- die Ursachen der hohen Kinder- Voraussetzungen und so viele thods« bearbeitet. Die Statistikerin sterblichkeit in einem afrikani- Möglichkeiten zu forschen – man reizt dabei nicht nur die interdis- schen Land zu ergründen, müssen muss nur alles schaffen.«

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Warten oder nicht warten?

Optimierung im öffentlichen Verkehr

Anita Schöbel

»Meine Damen und Herren, unser Zug hat derzeit leider eine Verspätung von 15 Minuten, sodass wir Göttingen voraussichtlich um 17.16 Uhr erreichen werden. Über Ihre Anschlussverbindungen in Göttingen wer- den wir Sie noch rechtzeitig informieren.« Ähnliche Durchsagen hat wohl jeder Bahnreisende schon einmal gehört. Ist Göttingen der End- bahnhof der Reise, ist so eine Verspätung lästig. Möchte ein Fahrgast aber noch in einen anderen Zug umsteigen, beginnt für ihn oft eine Zit- terpartie: Wird mein Anschlusszug warten? Werde ich es schaffen, wenn ich schnell zum Abfahrtsgleis renne? Wie komme ich weiter, wenn ich den Zug nicht mehr erreiche? ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Anschlusssicherung im verstehen und darauf basierend öffentlichen Verkehr »gute« Dispositionsentscheidun- Die Entscheidung, ob ein Zug auf gen treffen zu können, wurde an einen verspäteten Zubringer war- der Universität Göttingen ein ma- ten soll oder nicht, wird derzeit in thematisches Modell zur Anschluss- den Dispositionszentralen der sicherung für den Zugverkehr ent- Deutschen Bahn getroffen. Für wickelt. Göttingen zuständig ist die Dispo- sitionszentrale in Hannover. Bei Modell ihren Entscheidungen greifen die Im Fall von (unvorhergesehenen) Disponenten auf feste Wartezeit- Verspätungen geht es darum, den regeln (und ihre oft langjährigen geplanten Fahrplan online – also Erfahrungen) zurück. Bei einem möglichst schnell! – zu einem Gesamtumfang von täglich 33.000 Dispositionsfahrplan anzupassen. Zügen auf mehr als 34.000 Kilo- Dieser soll die aus den Quellver- meter Gleisen lässt sich aber spätungen resultierenden Folge- leicht vorstellen, dass die Auswir- verspätungen möglichst gering kungen von (sich teils gegenseitig halten. Dazu müssen zwei grund- beeinflussenden) Dispositionsent- sätzliche Typen von Entscheidun- durchschnittliche Verspätung der scheidungen kaum überschaubar gen getroffen werden: Passagiere bei Ankunft an ihren sind. Schon bei einem einzigen – Warten oder nicht warten? (An- Zielbahnhöfen zu minimieren. Anschluss mit einem verspäteten schlusskonflikte): Soll ein An- Um die wesentlichen Einflüsse Zubringerzug und einem einzigen schlusszug auf einen verspäte- von Zugverspätungen darzustel- Abbringer müssen verschiedene ten Zubringerzug warten oder len, definiert man ein so genanntes Kundengruppen betrachtet wer- soll er pünktlich abfahren? Ereignis-Netzwerk (Abb. 1), in dem den: Wie viele Passagiere wollen – Prioritätsentscheidung (Bele- jede Abfahrt und jede Ankunft ei- umsteigen? Wann fährt der nächs- gungskonflikte): Welcher Zug nes Fahrzeuges an einem Bahnhof te Anschlusszug? Wie viel Verspä- darf zuerst auf welches Gleis? als Knoten dargestellt wird. tung muss der Abbringerzug in Kauf Diese Ereignisse sind durch Ak- nehmen, wenn er wartet? Ist das In dem in Göttingen erarbeite- tivitäten miteinander verbunden. nachfolgende Gleis zu der späte- ten Optimierungsmodell werden Sie stellen die Beziehungen zwi- ren Abfahrtszeit überhaupt frei? diese beiden Entscheidungen aus schen den Ereignissen dar. Man Wie viele Passagiere sitzen in dem Sicht der Passagiere betrachtet. unterscheidet verschiedene Typen Abbringer und werden sie wieder- Das Ziel besteht darin, einen Dis- von solchen Aktivitäten: um nachfolgende Anschlüsse er- positionsfahrplan zu finden, bei Fahraktivitäten modellieren die reichen? dem die Auswirkungen von Quell- Fahrt eines Zuges zwischen ei- Abb. 1: Ein Ereignis- Um solch ein komplexes Sys- verspätungen auf die Passagiere ner Abfahrt und einer Ankunft aktivitätsnetzwerk für tem mit all seinen Einschränkun- so gering wie möglich ausfallen. Warteaktivitäten modellieren drei Fahrzeuge an zwei Haltestellen gen und Übertragungen besser zu Konkret ist das Ziel dabei, die die Zeit am Bahnhof, die ein Zug zwischen seiner Ankunft und seiner Abfahrt dort ver- bringt und Umsteigeaktivitäten modellie- ren das Umsteigen der Fahrgä- ste. Sie verbinden also die An- kunft eines Fahrzeuges an einer Haltestelle mit der Abfahrt ei- nes anderen Fahrzeuges an der selben Haltestelle. Um Kapazitätsrestriktionen zu modellieren sind Zugfolgezeit- Aktivitäten nötig, die sicher- stellen, dass der Sicherheitsab- stand zwischen aufeinander fol- genden Zügen eingehalten wird und dass sich auf eingleisigen Strecken keine Züge begegnen.

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Für jede Aktivität a bestimmt man ihre technisch mi- Lösungsverfahren nimale Zeitdauer La. Bei Fahraktivitäten ist das bei- Für Gebiete, bis zu einer Größe, die der des Harzes spielsweise die Zeit, die ein Fahrzeug mindestens entspricht, lässt sich das Problem in wenigen Minuten braucht, um die Entfernung zwischen den Haltestel- optimal lösen. Zum Lösen größerer Beispiele muss len zurückzulegen, bei Umsteigeaktivitäten ist es die man Spezialverfahren entwickeln und schließlich auf Zeit, die die Passagiere zum Umsteigen benötigen. Heuristiken zurückgreifen. Hier hat sich ein speziell Um nun das Anschlusssicherungsproblem in For- für das Anschlusssicherungsproblem entwickeltes meln zu packen, definiert man drei Typen von Varia- Verzweigungsbaumverfahren bewährt, in dem die blen: Die Variablen xi werden für jedes Ereignis i de- Struktur des Problems zum Auffinden von guten finiert und geben die Zeit an, in der das Ereignis im zu Schranken ausgenutzt wird. Es ist zu bemerken, dass bestimmenden Dispositionsfahrplan stattfinden soll. das Ergebnis zunächst einen Dispositionsfahrplan in Um die warten/nicht-warten Entscheidungen einzu- einem Makromodell berechnet. Anschließend müs- beziehen, definiert man für jede Umsteigeaktivität a sen noch weitere Details einbezogen werden, um eine boolesche Variable za, die den Wert 0 annimmt, beispielsweise sämtliche Sicherheitsrestriktionen zu wenn die Umsteigeverbindung gehalten wird und gewährleisten. den Wert 1, wenn das nicht der Fall ist. Die dritte Klasse von Variablen stellt sicher, dass die Kapazitäts- Ausblick restriktionen der Gleise berücksichtigt werden. Für je In der Disposition bestehen nach wie vor viele aus zwei Abfahrtsereignisse i, j definiert man gij = 1 falls praktischer Sicht wichtige und aus theoretischer Sicht Ereignis i vor Ereignis j stattfinden soll, 0 sonst. Das spannende Forschungsfragen. Diese betreffen einer- resultierende Modell lässt sich mit diesen Variablen seits die Integration mit anderen Planungsschritten wie folgt aufschreiben: (wie etwa der Umlaufplanung oder der Gleisbelegung in Bahnhöfen), andererseits die Robustheit des Dis- positionsfahrplans gegen erneute Störungen. Es wird auch daran gearbeitet, die Fahrpläne und die Linien- pläne so anzulegen, dass Störungen nur wenig Aus- wirkungen haben und Schneeballeffekte vermieden werden.

Kooperationen und Projekte Anschlusssicherung und Dispositionsmanagement wurden im Rahmen des Projektes DisKon (»Disposi- tion für die beste Bahn«) der Deutschen Bahn AG in Dabei bezeichnet ti die laut Fahrplan geplante Zeit Kooperation mit der RWTH Aachen (E. Wendler) und für Ereignis i und wi und wa sind Angaben darüber, der TU Dresden (M. Bär) untersucht. Die im Rahmen wie viele Passagiere Ereignis i bzw. Aktivität a benut- dieses Projektes begonnene Forschung wird derzeit zen möchten. Der Parameter M wird als eine Zahl ge- im EU-Projekt ARRIVAL (»Algorithms for Robust and wählt, die mindestens so groß wie die größte auftre- online Railway optimization: Improving the Validity tende Quellverspätung ist. and reliAbility of Large scale systems«) fortgesetzt.

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Der richtige Standort: Das in dem zeitlichen Nachteil, der Bahnhofsplatzierungsproblem durch häufigeres Anhalten der Zü- Einladung zur Geburtstagsfeier! ge entsteht. Eine interessante Fra- Wir feiern in Hessenau zwischen gestellung besteht darin, zu unter- Friedland (ca. 14 km) und Heilbad suchen, ob sich eine (deutliche!) Heiligenstadt (ca. 10 km). Wie so Erhöhung der Anzahl der Halte- oft stellt sich die Frage: Soll ich mit punkte im Regionalverkehr positiv dem Auto oder mit dem öffentli- auf die Nachfrage auswirkt. Um chen Verkehr anreisen? Es stellt dazu zusätzliche Haltepunkte im sich heraus, dass die Verbindung gesamten Gebiet der Bundesrepu- zwischen Göttingen und Fried- blik Deutschland geeignet zu plat- land und zwischen Göttingen und zieren, wurde das folgende ma- Heilbad Heiligenstadt sehr gut ist. thematische Modell entwickelt. Leider hält der Zug in Hessenau aber nicht, so dass sich die Fahrt Modell wegen zehn Kilometern, die von Das Einführen neuer Haltepunkte Heiligenstadt aus mit dem Bus im Regionalverkehr hat für die Fahr- zurückgelegt werden müssen, gäste positive und negative Aus- drastisch verlängert. Die Entschei- wirkungen. Die positiven Auswir- dung fällt also zu Gunsten des ei- kungen bestehen in einem erleich- gen (neuen) Bahnhöfen möglichst genen Autos ... terten Zugang zum Bahnverkehr. viele (neue) Kunden abzudecken. Solch eine Situation lässt sich Inwieweit sich ein verbesserter Diese beiden Wünsche, die An- häufig beobachten: Zwischen den Zugang positiv auf die Nachfrage zahl der abgedeckten Kunden zu Zentren von zwei Städten werden auswirkt, hängt unter anderem maximieren und die Anzahl der attraktive Bahnverbindungen an- von psychologischen Faktoren ab. zu errichtenden Haltestellen zu geboten, oft fehlt aber die Mög- Das folgende Modell betrachtet da- minimieren, widersprechen sich: lichkeit, von dort aus das endgül- her zwei objektivierbare Faktoren: Will man viele Kunden erreichen, tige Fahrtziel zu erreichen. den Abdeckungsgrad der Bevölke- so wird es nötig sein, auch viele Bei der langfristigen Weiterent- rung und die durch neue Halte ent- Bahnhöfe zu errichten. Möchte wicklung der Infrastruktur der stehende zusätzliche Reisezeit. man andererseits Kosten sparen Bahn werden solche Entscheidun- Dazu sei ein Radius r (in Kilo- und wenige Bahnhöfe bauen, so gen berücksichtigt. Neben den metern) gegeben. Im einfachsten werden auch nur wenige neue teuer zu bauenden und zu bewirt- Fall definiert man einen poten- Kunden erreicht. Man kann nun schaftenden Bahnhöfen stellt sich ziellen Kunden als von der Bahn entweder ein Budget vorgeben die Frage nach der Errichtung von abgedeckt, falls seine Entfernung und die neuen Bahnhöfe so ver- einfachen Haltepunkten, die aus- zum nächstgelegenen Bahnhof teilen, dass man möglichst viele schließlich zum Ein- und Ausstei- weniger als r Kilometer beträgt Kunden erreicht, oder man gibt ei- gen in bzw. aus Regionalzügen (Abb. 2). Dabei wird im Bahnver- nen Abdeckungsgrad vor und ver- dienen. Der Vorteil solcher Halte- kehr üblicherweise ein Radius von sucht diesen mit möglichst weni- punkte liegt in einem verbesserten zwei Kilometern angesetzt. gen zusätzlichen Bahnhöfen zu Zugang der Kunden zur Bahn; der Das Ziel des ersten Modells be- realisieren. Minuspunkt liegt aus Fahrgastsicht steht darin, mit möglichst weni- Eine andere Schwierigkeit bei der Modellierung liegt darin, dass man a priori die neuen Haltestel- len überall entlang der bestehen- den Gleise errichten darf. Um zu einer endlichen Kandidatenmen- ge zu kommen, fasst man die po- tenziellen Standorte, von denen aus man die selben Kunden errei- chen kann, zu Intervallen zusam- men. Man kann dann beweisen, dass es reicht, einen repräsen- tativen Punkt s aus jedem Intervall Abb. 2: Ein Ereignis- zu betrachten. Sei S die Menge aktivitätsnetzwerk für drei Fahrzeuge an dieser repräsentativen Punkte. Für zwei Haltestellen jeden solchen Punkt s aus S und

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jeden Kunden i setzt man ais auf den, der in i wohnt und zu seinem als Punkte zu repräsentieren, wur- 1, falls der Punkt s dichter als r an Ziel in j reisen will, bestimmt. Je den erste Ansätze entwickelt, die i liegt; anderenfalls setzt man nach Entfernung wurde dann an- erlauben, sie als echte Flächen zu ais=0. Mithilfe dieser Daten kann genommen, dass der Kunde zu behandeln. Weitere Forschungs- man nun das Problem folgender- Fuß, per Fahrrad/Bus oder mit themen sind die Entwicklung wei- maßen modellieren: Man definiert dem Auto zu dem Bahnhof kommt, terer Heuristiken für das bikriteri- dazu zwei Klassen von boole- und daraus die Reisezeit bis zum elle Problem sowie die Integration schen Entscheidungsvariablen: Bahnhof geschätzt. mit der Linienplanung. Einmal benötigt man Variablen xs, die den Wert eins annehmen, Lösungsverfahren Kooperationen und Anwendung wenn der Punkt s als Haltestelle Das erste Modell lässt sich entlang Das Problem der Haltestellenplat- eingerichtet wird, 0 sonst. Wei- einer einzigen Linie effizient zierung wurde in Zusammenar- terhin benötigt man Variablen yi, durch kürzeste Wege-Verfahren beit mit H.W. Hamacher, A. Lie- die auf 1 gesetzt werden, wenn lösen, ist für beliebige Netze aber bers, M. Schröder, D. Wagner und Kunde i abgedeckt ist, 0 sonst. sehr schwierig. Für dieses Pro- F. Geraets im Rahmen einer Ko- Das resultierende Modell ergibt blem und für die Minimierung der operation mit der Deutschen sich dann als: Tür-zu-Tür-Reisezeit wurden ne- Bahn AG, der Technischen Uni- ben exakten Verfahren daher auch versität Kaiserslautern, der Uni- Heuristiken entwickelt. Im Rah- versität Karlsruhe und dem Fraun- men eines Projektes mit der DB hofer Institut für Techno- und Wirt- AG kam ein »genetisches« Verfah- schaftsmathematik untersucht. ren zum Einsatz. Das Ergebnis er- gab eine Verbesserung der Tür-zu- Gerechte Fahrpreise: Tür-Reisezeit, wenn man die neuen Wabenplanung im ÖPNV In einem erweiterten Modell Haltestellen geschickt platzierte. Geschafft – der Zug ist pünktlich kann die Entwicklung der Tür-zu- in Stuttgart angekommen! Weiter Tür-Reisezeit der Kunden in Ab- Ausblick geht es mit der Stadtbahn U6 bis hängigkeit der neu einzurichten- Im Rahmen der praktischen Im- nach Degerloch und anschließend den Haltestellen optimiert wer- plementierung des Ansatzes wur- mit Bus 74 bis zum vereinbarten den. Dieser Ansatz berücksichtigt de auch eine Variante entwickelt, Treffen an der Universität Hohen- sowohl die von der Haustür bis bei der verschiedene Abdeckungs- heim. Die Haltestelle der Stadt- zum Bahnhof benötigte Zeit wie radien mit unterschiedlichen (psy- bahn ist schnell gefunden, jetzt auch die durch die zusätzlichen chologischen) Effekten betrachtet fehlt nur noch die Fahrkarte aus Halte verlorene Fahrzeit (»Stop- werden können. Weiterhin wurde dem Automaten. Erfreulicherwei- and-Go«) auf der Strecke. Um die die bisher verwendete Vereinfa- se ist es möglich, direkt eine Fahr- Reisezeit bis zum Bahnhof zu be- chung, dass die Kunden als punkt- karte für zwei Zonen zu lösen, die stimmen, wurde zunächst der förmig angenommen wurden, re- für die gesamte Fahrt mit Stadt- nächste Bahnhof für einen Kun- laxiert. Anstatt Siedlungsflächen bahn und Bus gültig ist.

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In Zeiten erhöhter Mobilitäts- rückgelegten Entfernung orien- Die Einführung eines Wabentari- ansprüche versuchen sich auch tiert. Dieser gilt als fair, ist aber fes ist allerdings nicht einfach. die Anbieter von öffentlichem Per- unübersichtlich. Das Tarifgebiet muss in Waben sonennahverkehr miteinander zu Dagegen kosten bei einem Ein- eingeteilt werden und es müssen vernetzen. So entstehen insbeson- heitstarif alle Fahrten gleich viel. die Preise für das Durchfahren von dere in Deutschland immer mehr Das ist sehr übersichtlich, aber einer, zwei, drei, ... Waben defi- Verkehrsverbünde, die sich als leider nicht sonderlich fair. niert werden. Die Verkehrsunter- Ziele unter anderem abgestimmte Als Mittelweg bieten die meis- nehmen möchten dabei keine Ein- Fahrpläne und attraktive Fahrprei- ten Verkehrsverbünde so ge- bußen bei ihren Fahrgeldeinnah- se auf die Fahnen schreiben. Um nannte Waben- oder Zonentarife men hinnehmen, den Kunden an- das Umsteigen wie in obigem Bei- an. Bei einem solchen Tarifsys- dererseits aber auch keine großen spiel in Stuttgart zu erleichtern, tem wird das gesamte Verbund- Preiserhöhungen zumuten. Dabei soll ein Tarifsystem angeboten gebiet in Waben (oder Zonen) sind die Auswirkungen der räum- werden, in dem die Fahrgäste mit eingeteilt. Der Fahrpreis hängt lichen Einteilung der Waben un- nur einer Fahrkarte mehrere Ver- ausschließlich von der Anzahl übersichtlich: Die Verschiebung kehrsunternehmen nutzen dürfen. der befahrenen Waben ab und einer einzelnen Haltestelle von ei- Neben der Tarifergiebigkeit soll ist insbesondere unabhängig ner Wabe in ihre Nachbarwabe dabei auch der Wunsch der Fahr- von den benutzten Verkehrsun- kann große Auswirkungen auf die gäste nach einem fairen und nach- ternehmen. Der Fahrgast kann Fahrgeldeinnahmen haben, da so vollziehbaren Tarifsystem berück- selbst zählen, durch wie viele eine Verschiebung nicht nur die sichtigt werden. Waben er fährt und damit seinen ein- und aussteigenden Fahrgäste Die bekanntesten Tarifsysteme Fahrpreis leicht nachvollziehen. betrifft, sondern auch solche, die Abb. 3: Ein Verkehrsnetz sind die folgenden: Zusätzlich kann man Wabenta- die Haltestelle nur passieren. mit vier Waben und der Der Entfernungstarif, bei dem rife durch geschickte Wahl der zugehörige Waben- sich der Fahrpreis an der zu- Waben sehr flexibel gestalten. Modell graph Wir setzen voraus, dass das beste- hende Verkehrsnetzwerk bekannt ist und beschreiben es durch ei- nen Graphen G=(V,E), in dem V die Menge aller Haltestellen ist und eine Kante {i,j} zwischen zwei Haltestellen i und j besteht, wenn die Haltestellen entlang ei- ner Bus- bezeihungsweise einer Bahnlinie direkt benachbart sind. Ein Wabentarif wird durch sei- ne Waben und die Preise c(n) für das Befahren von n = 1,2,3, ...

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Interdisziplinäre Lehre: Neue Projekte in der Mathematik

(red.) In Forschung und Anwendung wird immer deutlicher, dass Mathematiker keineswegs nur im stil- len Kämmerlein sitzen, sondern zusammen mit ande- ren Fachgebieten an gemeinsamen Projekten for- schen. Prof. Anita Schöbel zeigt in verschiedenen Projekten, wie man interdisziplinäre Zusammenar- beit auch in der Lehre fördern kann. Im Rahmen des Projektes PILZ »Pilotprojekt Inter- disziplinäres Lernen und Zusammenarbeit« an der Universität Göttingen wird in jedem Semester ein ak- tuelles Thema auf der Schnittstelle zwischen Mathe- matik und einem anderen Fach beleuchtet. Dazu sind Waben definiert. Wir partitionieren also die Men- die Studierenden aller Fakultäten, die sich für das ge der Haltestellen in Teilmengen, die den Waben Thema interessieren, eingeladen. In einem einwöchi- entsprechen. Daraus definiert man ein neues gen Kompaktkurs werden zunächst die nötigen Netzwerk, der so genannte Wabengraph (siehe Kenntnisse vermittelt, anschließend arbeiten die Stu- Abb. 3): dierenden in kleinen interdisziplinären Gruppen an Jede Wabe wird als Knoten aufgefasst. praktischen Projekten auf dem entsprechenden Ge- Zwei dieser Wabenknoten sind durch eine Kan- biet. Die ersten beiden PILZ-Kurse beschäftigten sich te verbunden, wenn man direkt von der einen mit Netzwerken in der Bioinformatik (unter Beteili- Wabe in die andere fahren kann. gung der Arbeitsgruppen von Prof. Schöbel, Prof. Die Fahrpreise im zukünftigen Wabensystem kön- Waack und Prof. Wingender) und mit Themen aus der nen nun durch Kürzeste-Wege-Verfahren in die- Logistik (Prof. Schöbel und Prof. Geldermann). Wei- sem Wabengraphen effizient bestimmt werden. tere Kurse für die kommenden Semester sind in Zu- Um einen Wabentarif zu beurteilen, betrachtet sammenarbeit mit den Forstwissenschaften und der man die absoluten Abweichungen zwischen den Physik geplant. neuen Fahrpreisen und den bisher bestehenden Auch in der mathematischen Ausbildung für (oder gewünschten) Preisen der beteiligten Ver- Nicht-Mathematiker werden neue Wege beschritten: kehrsunternehmen für jede einzelne Fahrt durch Zusätzliche Tutorien in den mathematischen Veran- das Tarifgebiet. Die sich ergebenden Histogram- staltungen für die Informatik, die Biologie und die me erlauben eine fundierte Beurteilung der Qua- Geowissenschaften vermitteln den Studierenden die lität des Wabensystems. Als einfache Kennzahlen mathematische Arbeitsweise und helfen beim Ver- können die durchschnittliche absolute Abwei- ständnis des Stoffes. Weiterhin sollen die Vorlesungs- chung oder die maximale absolute Abweichung inhalte stärker aus dem jeweiligen Fach motiviert und herangezogen werden. Bei diesen Kennzahlen mit entsprechenden Beispielen versehen werden. Ein sollten Abweichungen nach oben und nach unten »Sammelsurium« spannender Problemstellungen auf gleich behandelt werden, sodass das Modell die der Schnittstelle zwischen Biologie und Mathematik Interessen der Verkehrsunternehmen und der wurde im Rahmen eines Seminars erarbeitet. Es ver- Fahrgäste gleichermaßen wiedergibt. deutlicht die Bandbreite mathematischer Anwendun- gen in der Biologie. Lösungsverfahren Eine weitere Neuerung fand im Wintersemester Das Problem, eine optimale Wabeneinteilung zu 2008/09 statt: Um Biologiestudierenden und Studie- finden, gehört auch zu den besonders schwierigen renden der Geowissenschaften den Einstieg in die Optimierungsproblemen, sodass mit einem effizi- Mathematik zu erleichtern, wurde für sie erstmalig enten exakten Verfahren derzeit nicht zu rechnen ein mathematisches Propädeutikum angeboten. Eine ist. Sind die Waben aber schon vorgegeben (etwa Woche lang wurden Vorlesungen zum Auffrischen aus politischen Gründen), so ist das Teilproblem, der Schulkenntnisse gehalten und der vermittelte Stoff bei gegebenen Waben die optimalen Preise für anschließend in Gruppenarbeit geübt. Einzelne Fach- das Durchfahren von eins, zwei, drei ... Waben zu vorträge rundeten das Programm ab. finden, sehr leicht lösbar. Für dieses Problem kön-

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nen Formeln angegeben werden, Kooperationen und Mathematik und Operations Re- mit denen diese Wabenpreise be- Anwendungen search, auf dem in den letzten Jah- stimmt werden können. Aus die- Die Theorie zur Tarifplanung ent- ren immense Fortschritte in der sem Ergebnis lassen sich außerdem stand zusammen mit H.W. Hama- Entwicklung und Anwendung von untere Schranken für eine op- cher, TU Kaiserslautern. Die Ent- Algorithmen gemacht wurden. timale Wabeneinteilung ableiten. wicklung der entsprechenden Soft- Anhand der Beispiele Anschluss- Um in annehmbarer Rechen- ware geht auf G. Schöbel zurück. sicherung, Haltestellenplanung zeit eine möglichst gute Waben- Angewendet wurden die Ergebnisse und Tarifplanung wurde aufge- einteilung zu bestimmen, muss bei der Tarifplanung verschiedener zeigt, wie Methoden der diskreten man auf heuristische Ansätze Verkehrsunternehmen und Verkehrs- Optimierung helfen können, den zurückgreifen. Dabei kann man verbünde (zum Beispiel bei der öffentlichen Verkehr mit gleich Algorithmen aus der Clustering- Neuplanung des Tarifsystems im bleibendem Budget für die Fahr- Theorie einsetzen, bei denen man Saarland). gäste zu verbessern. Die drei vor- im ersten Schritt mit so vielen Wa- gestellten Beispiele beziehen sich ben startet, wie es Haltestellen Zusammenfassung auf Projekte, die in Kooperation gibt. In den folgenden Schritten Die diskrete Optimierung ist ein mit Verkehrsunternehmen ausge- werden nach bestimmten Kriteri- Teilgebiet auf der Schnittstelle von führt wurden. en jeweils zwei Waben zusam- mengefasst, bis schließlich die ge- wünschte Wabenanzahl erreicht ist. Im Gegensatz dazu ist es auch möglich, zunächst einen span- nenden Baum maximalen Ge- Prof. Dr. Anita Schöbel, Jahrgang 1969, studierte von wichtes zu bestimmen und aus 1988 bis 1993 Mathematik und Wirtschaftswissen- diesem so viele Kanten zu entfer- schaften an der Technischen Universität Kaiserslau- nen, bis die Anzahl der entstehen- tern. Nach ihrer Promotion 1998 leitete sie den Schwerpunktbereich Verkehr im Fraunhofer Institut den Zusammenhangskomponen- für Techno- und Wirtschaftsmathematik (ITWM) Kai- ten der gewünschten Wabenan- serslautern. Als wissenschaftliche Assistentin kehrte sie 2000 wieder zahl entspricht. Die erstgenannte an die Universität zurück und habilitierte sich 2003 im Fach Mathe- Klasse führt bei einem Greedy- matik. Im Jahr 2004 nahm sie den Ruf an das Institut für Numerische Kriterium, bei dem jeweils die und Angewandte Mathematik an der Universität Göttingen an, des- Waben zusammengefasst wer- sen Direktorin sie derzeit ist. Im Jahr 2006 erhielt sie Rufe nach Wup- den, die die kleinste Verschlechte- pertal und Trier, die sie aber zugunsten der Georg-August-Universität rung der Zielfunktion erzielen, in ablehnte. Prof. Schöbel ist eingebunden in das Graduiertenkolleg der Regel zu besseren Lösungen. »Identifikation in mathematischen Modellen« und Projektleiterin in dem EU-Projekt ARRIVAL. Sie unterhält weitere Forschungskoopera- Ausblick tionen, zum Beispiel mit der Deutschen Bahn. Neben ihrer Forschung in angewandter Mathematik gilt ihr Interesse auch der interdiszi- In der Praxis muss das bisher be- plinären Zusammenarbeit in Forschung und Lehre. handelte Wabenproblem durch weitere Restriktionen ergänzt wer- den. Hierunter fallen Bedingun- gen an die Preistabelle, politische Restriktionen in der Wabeneintei- lung und Sonderregelungen wie beispielsweise leere Waben, so genannte Zählwaben, Haltestellen, die zu mehreren Waben gehören (so genannte Überlappungsberei- che), Kurzstreckentarife, Sonder- preisstufen oder Großwaben. Wäh- rend das Einbeziehen solcher Nebenbedingungen in der Theorie kaum untersucht ist, wurde zur Pla- nung und Evaluierung von Waben- tarifen eine Software entwickelt, die in der Praxis bereits mehrmals erfolgreich eingesetzt wurde.

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Delay management, stop lo- task is hard to solve, we are able The ticket prices for the passen- cation, and tariff planning – to obtain solutions for real-world gers are the subject of the third these are three examples of areas delay management instances in example. There are various possi- in which modern methods of reasonable time. bilities for tariff systems: In a dis- mathematical optimization can In the second example we deal tance tariff, the ticket prices are help to improve the attractiveness with the location of stops along a proportional to the distance trav- of public transportation. railway network. By a stop we elled; in a unit tariff all trips cost the The first example, delay man- mean not a fully equipped main same. The distance tariff is gen- agement, deals with the decision of station but just a place where erally considered to be fair but is whether a connecting train should regional trains can stop and allow difficult to handle, while the unit wait for a delayed feeder train or passengers to board or leave the tariff is a very easy but unjust tariff whether it is better for it to depart train. In this example, we again system. A model in between is the on time. If the train departs on time, consider the problem from a cus- so-called zone tariff system. Here passengers who want to change tomer-oriented point of view. the tariff region is partitioned into miss their connection. On the Having a stop close to your home zones and the ticket prices are de- other hand, if the train waits, it increases the attractiveness of pendent only on the number of may carry over its delay to other public transportation. On the other zones within a journey. The main trains in the network and hence hand, a train stopping every 500 application of zone tariff systems delay other passengers. In our meters is slow and not really at- is when different public transpor- model we aim to minimize the tractive. In order to combine these tation companies form a common sum of all delays of all passengers. two effects we considered the ad- traffic association in which they In order to formulate the problem ditional (or saved) travelling time want to offer one common tariff in mathematical terms, the crucial of all passengers as an objective system for their customers. When question »to wait or not to wait« is function. In a project with Deut- designing a zone tariff system the modelled by binary decision varia- sche Bahn we discussed the ques- shape and the size of the zones is bles. The constraints are formulat- tion of whether travelling time can very important. Constructing fair ed by linear inequalities such that be saved by opening many new tariff zones that meet the require- a so-called linear integer program stops all over Germany. In order to ments of the public transportation is obtained. Our delay manage- tackle this question we developed companies is hence the problem we ment model has been developed different mathematical models and are dealing with. Using methods in a project together with Deut- finally solved the travelling time of clustering theory we were able sche Bahn and is being further re- model using a genetic algorithm. to develop algorithms and software fined within the EU project ARRI- Our results show that the average for the design and evaluation of VAL. Although due to the com- travelling time can indeed be re- tariff zones. It has been applied e.g. plexity and size of railway net- duced if the locations of the new for the traffic association in works the resulting optimization stops are judiciously chosen. Saarland, Germany.

Georgia Augusta 6 | 2008 85 (red.) Regelmäßig an einem Wo- chenende im Februar bevölkern Schülerinnen und Schüler das Mathematische Institut der Georg- August-Universität Göttingen. Seit 2001 findet hier die Niedersächsi- sche Landesrunde der Mathema- tik-Olympiade statt, die Schülern die Möglichkeit bietet, ihre beson- dere Leistungsfähigkeit auf mathe- matischem Gebiet unter Beweis zu stellen. Vierstufig aufgebaut (Schulrun- de, Regionalrunde, Landes- und Bundesrunde) und mit individuel- len Aufgaben für fast jede Klassen- stufe ab Klasse 3/4, erzielt die Ma- thematik-Olympiade eine große Breitenwirkung. Der ursprünglich aus der DDR stammende Wettbe- werb steht heute unter der Schirm- herrschaft des Bundespräsidenten. 200.000 Teilnehmer bundesweit zählt die Mathe-Olympiade derzeit jährlich, Tendenz steigend, davon in Niedersachsen rund 17.000. Für die Niedersächsische Landes- runde werden von den Gymnasi- en schließlich noch knapp 200 Jungen und Mädchen zugelassen. Diese mathematischen Jungtalente sind als zukünftige Studierende für die Universität Göttingen eine in- teressante Gruppe. Die aufwändige Organisation aller Stufen der Nie- dersächsischen Mathe-Olympiade liegt in den Händen eines Organi- sationsteams von rund 15 Göttinger Studierenden und Doktoranden der Mathematik und Physik. Die Landesrunde besteht aus zwei vierstündigen Klausuren. Vor und hinter den Kulissen kümmern Mathematik-Olympiade: Früh übt sich ... sich rund 130 Helfer um die Schü- ler, die den Tag im Institut und die ... wer ein guter Mathematiker Nacht in der Jugendherberge ver- bringen. Neben dem Wettbe- werbsgedanken sollen Spiel und werden will Spaß nicht zu kurz kommen; es gibt Knobelangebote, mathemati- sche Vorträge und Führungen. Die vielen Helfer sorgen vor allem für die zügige Korrektur der Klausu- ren innerhalb nur weniger Stun- den. Höhepunkt des zweitägigen Programms ist die Siegerehrung in der Aula der Universität. In einem

Foto: Philipp Schmale MATHEMATIK LÖST PROBLEME

feierlichen Rahmen und mit Gast- Die Mathematik-Olympiade ist thematikbegeisterte Schüler aus rednern und Musikbeiträgen wer- nur eines von mehreren Angebo- dem ganzen Bundesgebiet treffen. den Urkunden und Preise über- ten in Sachen mathematischer Sie besuchen eine Woche lang reicht. Außerdem wird aus den Schülerförderung an der Georg- Vorlesungen und Übungen zu ei- Besten der Landesrunde die nieder- August-Universität: Der Mathe- nem jährlich wechselnden Thema. sächsische Bundesrundenmann- matische Korrespondenzzirkel ist Jeweils abends wird über die »For- schaft zusammengestellt. eine mathematische Arbeitsge- schungsergebnisse« untereinander Bereits mehrere niedersächsi- meinschaft per Briefwechsel. Alle berichtet – aber auch der Spaß sche Landessieger kamen aus Göt- sechs Wochen werden vier kurz- kommt nicht zu kurz. So wird tradi- tingen. Karen Habermann vom weilige bis anspruchsvolle Aufga- tionell eine große Leonardo-Brücke Felix-Klein-Gymnasium errang ben gestellt, die für Schüler von gebaut – eine selbsttragende Kons- 2008 sogar einen ersten Preis bei Klasse 8 bis zum Abitur gedacht truktion aus Latten ohne Nägel und der Bundesrunde und zeigte den sind. Sie können ihre Lösungen Schrauben. Den Abschluss des Erfolg der Niedersächsischen Ma- und Lösungsansätze einsenden Camps bildet ein mathematischer thematik-Olympiade nicht nur in und das Team des Korrespondenz- Wettstreit mit Knobelaufgaben. der Fläche, sondern auch in der zirkels – derzeit acht Studenten Weitere Angebote sind eine Spitze. Im Jahr 2010 wird das und Doktoranden – korrigiert und AG für Göttinger Schüler sowie Göttinger Organisationsteam der kommentiert die Einsendungen ein dreiwöchiges Propädeutikum Mathe-Olympiade erstmals auch und erstellt ausführliche Beispiel- im September, das Studienanfän- die Bundesrunde des Wettbe- lösungen. So können Schüler, oh- gern in lockerer Form bereits werbs ausrichten und damit die ne räumlich gebunden zu sein, wichtige Grundlagen der Universi- mathematischen Talente der Bun- mathematische Herausforderun- tätsmathematik näherbringt. Und desrepublik im Mathematischen gen außerhalb des Schulunter- schließlich haben sich Mitglieder Institut zu Gast haben. Für dieses richts angehen.(www.math.uni- der Göttinger Mathematischen Fa- Ereignis fehlen zurzeit noch Spon- goettingen.de/zirkel/). kultät mehrfach an der Göttinger soren und Mitstreiter, die sich un- Im Herbst fast jeden Jahres gibt Kinder-Uni mit altersgerechten ter [email protected] es außerdem das Göttinger Ma- Mathematik-Vorlesungen und -Se- melden können. thecamp, zu dem sich vierzig ma- minaren beteiligt.

Die Preisträger der Nie- dersächsischen Landes- runde 2008, darunter Karen Habermann (2. R., rechts), die beim anschließenden Bun- deswettbewerb einen ersten Preis errang. Foto: Werner Fricke

Georgia Augusta 6 | 2008 87 Minendetektoren und Impedanz- schung (BMBF) über drei Jahre ein der Geräte kennen. Der über den tomographie Projektverbund Metalldetektoren Boden geführte Metalldetektor Etwa 100 Millionen zumeist ober- für Humanitäres Minenräumen sendet eine elektromagnetische flächennah vergrabene Landmi- gefördert. Zwölf Institute aus den Welle aus, die von im Boden be- nen gefährden als Hinterlassen- Bereichen Mathematik, Elektro- findlichen Metallteilen gestreut schaften bewaffneter Konflikte in technik, Geophysik und zerstö- wird (vgl. Abb. 1). Die gestreute vielen Ländern die Bevölkerung. rungsfreie Materialprüfverfahren sekundäre Welle induziert in ei- Ihre rasche und vollständige Be- sollten prüfen, ob die hohen Fehl- ner Empfängerspule im Detektor seitigung ist eine große Herausfor- alarmraten beim Einsatz von trag- eine elektrische Spannung. Falls derung. Eines der am häufigsten baren Metalldetektoren konven- letztere als Folge von vorhande- zum Minenräumen eingesetzten tioneller Bauart durch nachge- nen Metallteilen einen Schwell- Geräte ist gegenwärtig der Metall- schaltete mathematische Metho- wert überschreitet, gibt der Detek- detektor. Diese Geräteklasse weist den reduziert werden können. Zu tor ein akustisches Signal. Durch jedoch, bedingt durch allgegen- den beteiligten Forschungsein- eine Messung und Aufzeichnung wärtig im Boden befindliche Me- richtungen gehörte auch das Insti- tallteile, eine hohe Fehlalarmrate tut für Numerische und Ange- auf. Auf Anregung des Auswärti- wandte Mathematik an der Uni- gen Amtes wurde ab 2004 zur Er- versität Göttingen. bringung eines relevanten deut- Um zu erfahren, warum Mathe- schen Beitrags zur Technologie matik die Fehlerrate bei Metall- der Minendetektion vom Bundes- detektoren reduzieren kann, muss ministerium für Bildung und For- man zuerst die Funktionsweise

Mathematische Methoden in Medizin und Technik Inverse Probleme und Tomographie

Rainer Kreß des Verlaufs dieser Spannung wäh- der Streutheorie zur Reduzierung Visualisierung ortsabhängiger elek- rend der Bewegung über den Bo- von Fehlalarmquoten bei der Mi- trischer Leitfähigkeiten. Der elektri- den lässt sich jedoch die Minen- nendetektion bestätigen. sche Widerstand als Reziprokes der detektion quantitativ als ein inver- Die elektrische Impedanztomo- Leitfähigkeit wird auch Impedanz ses Problem für elektromagnetische graphie als unser zweites Beispiel Felder interpretieren: Aus dem ge- ist ein neues nichtinvasives Bild- messenen Spannungsverlauf sol- gebungsverfahren in der Medizin len geometrische Parameter zu und Technik. Es basiert auf einer Form, Größe und Position des ent- deckten metallischen Objekts er- mittelt werden. Weiter unten wer- den Göttinger Forschungsergeb- nisse vorgestellt, die das Potenzial von mathematischen Methoden

Mit MInendetektoren identifizierte Landminen in Mexiko © Ullstein ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Im Vergleich mit der weiter unten betrachteten Röntgentomographie ist die Impedanztomographie um Größenordnungen billiger und vermeidet die gesundheitlichen Gefahren durch Röntgenstrahlen. Nachteil des Verfahrens ist die ver- gleichsweise niedrige räumliche Bildauflösung (vgl. Abb. 3). Zur Bestimmung der Leitfähig- keitsverteilung in einem elektrisch leitfähigen Objekt werden an auf dem Rand angebrachten Elektro- den niederfrequente Ströme ein- geprägt. Die von diesen Strömen hervorgerufenen Spannungen zwi- schen den Elektroden sind abhän- gig von der Leitfähigkeitsvertei- lung im Innern des Objekts. Die Ermittlung dieser Verteilung aus Abb. 1: den eingeprägten Strommustern Schematische Darstel- genannt, und dies erklärt den ers- Nach demselben Prinzip funk- und den dazu gehörenden gemes- lung der Funktionsweise ten Teil der Namensgebung. (Der tionieren technische Anwendun- senen Spannungen stellt ein inver- eines handgehaltenen Metalldetektors zweite Teil der Namensgebung gen beispielsweise bei der Über- ses Problem aus der Elektroma- Abbildung: Verfasser wird weiter unten erläutert wer- wachung der Verteilung von Öl gnetik dar. den.) In der Medizin wird die Im- und Wasser in Pipelines und der Unter einem Schwerpunkt Ma- pedanztomographie eingesetzt, Strömung von verschiedenen Sub- thematik für Innovationen in Indus- um beispielsweise Querschnittbil- stanzen in Mischkesseln in der trie- und Dienstleistungen fördert der des menschlichen Thorax zur chemischen Industrie. In der Denk- das BMBF seit Beginn dieses Jah- Überwachung der Lungenfunk- malpflege lassen sich mit Impe- res einen Projektverbund »Regu- tion zu erhalten. Dabei nutzt das danztomographie Bruchstellen in larisierungsverfahren für die elek- Verfahren die unterschiedlichen Gebäudeteilen aufspüren, und so- trische Impedanztomographie in

Abb. 2: Leitfähigkeiten der Lunge im be- gar in der Forstwirtschaft kann Im- Medizin und Geowissenschaf- Impedanztomographie atmeten und unbeatmeten Zu- pedanztomographie als Instru- ten«. Dieser Verbund besteht aus des Brustkorbs eines stand und des umgebenden Kör- ment zur Qualitätsüberprüfung sechs Instituten aus den Bereichen Patienten des Universi- tätsklinikums Göttingen pergewebes (vgl. Abb. 2) aus. von Bäumen eingesetzt werden. Mathematik, Physik und Medizin Abbildung:Verfasser und hat unter anderem als Ziel, die mathematischen Verfahren der Impedanztomographie im Hin- blick auf ihre praktische Einsatz- fähigkeit in der medizinischen An- wendung weiterzuentwickeln. Von der Universität Göttingen sind an diesem Verbund aus der Mathema- tik das Institut für Numerische und Angewandte Mathematik und aus der Medizin die Abteilung Anaes- thesiologische Forschung am Zen- trum für Anaesthesiologie beteiligt. Ein Teil der Göttinger mathemati- schen Forschungsansätze zu ei- nem effizienten Rekonstruktions- verfahren bei Leitfähigkeitsvertei- lungen mit starken Kontrasten wird weiter unten dargestellt werden. Die Göttinger Beiträge in den beiden Projektverbünden zur Mi-

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nendetektion und zur Impedanz- bei den entsprechenden direkten tomographie stehen in enger the- Problemen die Ursache bekannt, matischer Verbindung mit einer und es wird nach der Wirkung ge- Forschernachwuchsgruppe »Neue fragt, während umgekehrt bei den numerische Verfahren zur Lösung zugeordneten inversen Proble- inverser Probleme«, die im Jahre men aus der Wirkung auf die Ur- 2002 vom Land Niedersachsen sache zurückgeschlossen werden auf Antrag des Verfassers am Insti- soll. Ein typisches Beispiel bildet Abb. 3: Tomographi- tut für Numerische und Ange- die inverse Streutheorie für akusti- sche Aufname von zwei Lungenflügeln wandte Mathematik eingerichtet sche, elektromagnetische und elas- Abbildung: Verfasser wurde und unter Leitung von Pro- tische Wellen. fessor Roland Potthast über fünf Allgemein befasst sich die Streu- der Streuung von elektromagneti- Jahre erfolgreich gearbeitet hat. theorie mit den Auswirkungen schen Wellen an metallischen und Bevor diese Arbeiten etwas ge- von Objekten auf die Ausbreitung nichtmetallischen Objekten von nauer beschrieben werden und von Wellen. Bei einem direkten deren Position, Größe und Gestalt. allgemein verdeutlicht wird, war- Streuproblem sind die ungestört Grundsätzlich ließe sich das obige um und wie Mathematik von Nut- einfallende Welle und das streu- Modellproblem für Wasserwellen zen in der Minendetektion und ende Objekt bekannt, und gefragt dadurch lösen, dass für eine mög- der Impedanztomographie ist, soll ist nach der resultierenden ge- lichst große Zahl von Objekten zunächst geklärt werden, warum streuten Welle. Beim zugehören- vorab experimentell die am See- diese Aufgaben zu der Klasse der den inversen Streuproblem sollen ufer eintreffenden Wellen registriert inversen Probleme zählen. aus Messungen der gestreuten und katalogisiert werden. In der Welle an geeigneten Detektoren konkreten Anwendung kann dann Inverse Probleme geometrische und physikalische durch den Vergleich der tatsächlich In der Mathematik werden zwei Parameter des streuenden Objekts beobachteten Wellen mit den ka- Probleme zueinander invers ge- ermittelt werden. Zur Veranschau- talogisierten Fällen der eingewor- nannt, wenn die Formulierung des lichung kann an Wasserwellen ge- fene Körper identifiziert werden. ersten Problems teilweise oder dacht werden. Die auf einem See Dieses Verfahren und analoge vollständig die Lösung des zwei- durch Einwerfen eines Gegenstan- Vorgehensweisen bei den inver- ten Problems enthält und umge- des erzeugten Wellen hängen von sen Streuproblemen sind in der kehrt. Multiplikation und Division der Gestalt des eingeworfenen Kör- Praxis völlig ungeeignet und müs- sind zueinander invers: die Multi- pers ab. Am Seeufer soll aus der sen durch eine effiziente mathe- plikationsaufgabe 4 x 5 enthält in Form der am Ufer eintreffenden matische Modellierung als inverse der Formulierung das Ergebnis 5 Wasserwellen erschlossen wer- Probleme für Differentialgleichun- der Divisionsaufgabe 20 : 4, und den, ob in der Seemitte ein kugel- gen ersetzt werden. Sowohl für umgekehrt enthält die Formulie- förmiger Stein, ein langer zylindri- die Anwendungen als auch als an- rung der Division das Ergebnis 20 scher Stock oder irgendein ande- spruchsvolle mathematische Auf- der Multiplikation. Nach dieser De- res Objekt ins Wasser geworfen gabe stellt sich bei inversen Streu- finition erscheint es zunächst will- wurde. problemen, und grundsätzlich bei kürlich, nur eines der beiden Pro- Anwendungen findet die inverse allen inversen Problemen, als Ers- bleme als inverses Problem zu be- Streutheorie in der medizinischen tes die Frage nach der eindeutigen zeichnen. Häufig ist jedoch eines Diagnostik (Ultraschalltomogra- Rekonstruierbarkeit, das heißt, die der beiden Probleme einfacher zu phie), der zerstörungsfreien Mate- Frage, ob zur Identifizierung der behandeln und intensiver unter- rialprüfung (zum Beispiel bei der gesuchten geometrischen und phy- sucht, während das zweite Problem Erkennung von defekten ICE-Rad- sikalischen Parameter ausreichend schwieriger und in der mathema- reifen und -Achsen), der seismi- Information vorliegt. Die zweite tischen Literatur noch nicht so aus- schen Erdöl- und Mineralexplora- wichtige Aufgabe bildet die Ent- führlich behandelt ist. Dann wird tion, bei Radar usw. Dabei wer- wicklung, Implementierung und das erste das direkte und das zwei- den vereinfacht gesagt die Unter- Analyse von in der Praxis einsetz- te das inverse Problem genannt. schiede in der Streuung von Schall- baren numerischen Rekonstruk- Inverse Probleme treten in viel- wellen an gesundem oder kran- tionsalgorithmen, die dann in ent- fältiger Weise bei der mathema- kem Körpergewebe ausgenutzt sprechenden Chips in die Meß- tischen Modellierung von nicht- oder von elastischen Wellen an und Visualisierungsgeräte einge- invasiven Evaluierungs- und Bild- Metallkörpern mit oder ohne De- baut werden. Für den aktuellen gebungsverfahren in Naturwissen- fekt oder an Erdschichten mit oder mathematischen Forschungsstand schaften, Medizin und Technik ohne Öl- oder Erzeinschlüssen zu inversen Streuproblemen sei auf. Vereinfacht gesprochen ist hier Man nutzt auch die Abhängigkeit verwiesen auf [2, 3].

Georgia Augusta 6 | 2008 91 ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Graduiertenkolleg »Identifikation in mathemati- schen Modellen: Synergie stochastischer und numerischer Methoden«

(red.) Inverse Probleme sind ein pedanztomographie unter ande- Teil der ausländischen Kollegiaten wesentliches Element des Gradu- rem die Identifizierung von Mo- sind auf Positionen in ihre Her- iertenkollegs 1023 »Identifikation dellparametern bei turbulenten kunftsländer zurückgekehrt und in mathematischen Modellen: Strömungen, stochastische inver- bieten auch für die Göttinger Ma- Synergie stochastischer und nu- se Probleme, Lernverfahren mit thematik auf diese Weise Perspek- merischer Methoden«, das von Kernfunktionen, die Identifizie- tiven für nachhaltige internationa- den beiden Instituten für Mathe- rung von Fingerabdrücken, Se- le wissenschaftliche Kontakte. Mit matische Stochastik und für Nu- quenziermethoden zur Erkennung mehr als 40 Veröffentlichungen in merische und Angewandte Ma- von Fremdgenen und Identifizie- internationalen Journalen und thematik an der Universität Göt- rung von Interdependenzen von mehr als 30 Vorträgen durch die tingen getragen wird. Mit dieser Verspätungen in Verkehrsverbün- Kollegiaten auf internationalen Thematik ist es Ziel des Graduier- den. Als eine zentrale Forschungs- Tagungen ist das Graduiertenkol- tenkollegs, die Kollegiatinnen und idee sind dabei entsprechend dem leg sichtbar geworden. Darüber- Kollegiaten an Identifikation als Untertitel des Graduiertenkollegs hinaus hat das Graduiertenkolleg einen der grundlegenden Aspekte stochastische und deterministi- in Göttingen vier Tagungen mit wissenschaftlicher mathematischer sche Methoden effizient zusam- breiter internationaler Beteiligung Arbeit in den Anwendungen her- mengeführt und gemeinsam wei- zu Teilbereichen seiner For- anzuführen. Dies ist in der ersten terentwickelt worden. Bislang schungsthematik durchgeführt. Bewilligungsphase seit Juli 2004 wurden 18 Promotionen erfolg- Nach einem erfolgreichen Be- vor allem bei inversen Problemen reich abgeschlossen. Die Absol- richtskolloquium im Juni 2008 be- für partielle Differentialgleichun- venten haben Arbeitsplätze in willigte die Deutsche Forschungs- gen und bei Parameter- und Mo- Wissenschaft und Industrie gefun- gemeinschaft im November 2,77 dellidentifikationen in der Statistik den, zum Teil als Postdoktoranden Millionen Euro an Fördermitteln mit Erfolg durchgeführt worden. in Göttingen und außerhalb Göt- zur Weiterführung des Kollegs. Die Forschungsprojekte umfassen tingens und zum Teil in Industrie Sprecher ist Prof. Dr. Rainer Kreß dabei neben inversen Streupro- und Wirtschaft mit engen Bezü- vom Institut für Numerische und blemen und der elektrischen Im- gen zur Thematik des Kollegs. Ein Angewandte Mathematik. oto: Gisa Kirschmann-Schröder oto: F MATHEMATIK LÖST PROBLEME

Inkorrekt gestellte Probleme einer mit sehr vielen dünnen, aus der Dichte in dem Linienintegral ∫ Die inversen Streuprobleme und der Oberfläche ragenden langen L ƒ ds über die Gerade L. Das di- grundsätzlich eine weite Klasse von Nadeln versehenen gleich großen rekte Problem ist, bei bekannter ∫ inversen Problem sind schlecht Kugel verursachten Wasserwellen Dichte ƒ die Linienintegrale L ƒ ds beziehungsweise inkorrekt ge- sich am Seeufer nur wenig unter- für alle die Schicht durchlaufen- stellt. Die Definition der Inkorrekt- scheiden, d.h. zwei sehr vonein- den Geraden L zu berechnen. Das heit eines mathematischen Prob- ander verschiedene Objekte rufen inverse Problem der Röntgento- lems geht zurück auf den franzö- die gleichen Wellenmuster am mographie besteht dagegen in der sischen Mathematiker Jacques So- Ufer hervor und sind daher an Ermittlung der unbekannten Dich- lomon Hadamard (1865 – 1963), Hand dieser Daten nicht signifi- te ƒ aus den gemessenen Inten- der für Modellbildungen bei Pro- kant unterscheidbar. sitätsverlusten, d.h. Linienintegra- blemen aus den Naturwissenschaf- Die Hadamardschen Postulate len über eine endliche Anzahl von ten um 1900 die folgenden drei führten dazu, dass in der Mathe- Geraden L. In den medizinischen Postulate formulierte: 1. Das ma- matik die Forschung über inkor- Anwendungen entspricht ƒ der thematische Modell besitzt eine rekt gestellte Probleme lange Zeit Gewebedichte der durchleuch- Lösung. 2. Das mathematische vernachlässigt wurde, da solche teten Körperorgane, in technischen Modell besitzt höchstens eine Lö- Probleme als nicht geeignet ange- Anwendungen ist ƒ die Material- sung. 3. Die Lösung des mathe- sehen wurden für die Modellie- dichte des evaluierten Objekts. matischen Modells hängt stetig rung angewandter Problemstel- Grundsätzlich ist die Aufgabe, von den Daten ab, das heißt, das lungen. Erst seit etwa vierzig Jah- eine Funktion aus ihren Linien- Problem ist stabil in dem Sinne, ren setzt sich die Erkenntnis durch, integralen zu ermitteln, schon 1917 dass kleine Änderungen der Da- dass eine wachsende Zahl von aus vom österreichischen Mathemati- ten nur zu kleinen Änderungen den Anwendungen stammenden ker Johann Radon (1887 – 1956) der resultierenden Lösung führen. mathematischen Fragestellungen, gelöst worden durch Angabe einer Existenz und Eindeutigkeit einer darunter alle hier betrachteten in- expliziten Inversionsformel. Für Lösung sind unmittelbar evident versen Probleme, zu inkorrekt ge- medizinische Anwendungen wur- als Forderungen an die mathema- stellten Problemen führt, und zwar de die Tomographie erstmals 1963 tische Modellierung von determi- typischerweise unter Verletzung von dem amerikanischen Physiker nistischen Naturvorgängen. Das der dritten Bedingung der Stabi- südafrikanischer Herkunft Allan dritte Postulat ist motiviert durch lität. Entsprechend hat dies zu ei- McLeod Cormack (1924 – 1998) den Umstand, dass in den Anwen- ner Intensivierung der Forschung vorgeschlagen und ab 1970, ins- dungen die Daten in aller Regel auf diesem Gebiet geführt. Ein un- besondere durch die Bemühun- aus Messungen stammen und folg- erlässlicher Aspekt ist dabei die gen des englischen Elektrotechni- lich stets mit Fehlern behaftet sind. Notwendigkeit der Stabilisierung kers Godfrey Newbold Houns- Daher soll sichergestellt werden, von Algorithmen zur Lösung von in- field (1919 – 2004), in die medizi- dass kleine Messfehler in den Da- korrekt gestellten Problemen durch nische Praxis eingeführt. Im Jahr ten nur zu kleinen Abweichungen so genannte Regularisierungsver- 1979 erhielten Cormack und Ho- in der resultierenden Lösung füh- fahren. unsfield den Nobelpreis in Medi- ren. Nach Hadamard nennt man zin für ihre Arbeiten zur Röntgen- ein mathematisches Problem, ins- Tomographie tomographie. In der Folgezeit besondere ein Differentialglei- In der Röntgentomographie wer- wurde die Bezeichnung Tomogra- chungsproblem, korrekt gestellt den zweidimensionale Bilder von phie in nicht völlig korrekter Wei- oder gut gestellt, wenn alle drei übereinanderliegenden parallelen se auch für die Benennung von Forderungen erfüllt sind. Ande- zweidimensionalen Schichten er- auf anderen Methoden aufbauen- renfalls heißt das Problem inkor- zeugt; die Schichten entsprechen den Evaluierungs- und Bildge- rekt gestellt oder schlecht gestellt. der griechischen Vokabel . bungsverfahren benutzt. Unter Der rigorose Nachweis für die Die Bilder einer Schicht werden elektromagnetischen Tomogra- inkorrekte Problemstellung im aufgebaut aus Messungen von In- phieverfahren werden dabei Me- Sinne von Hadamard für die hier tensitätsverlusten beim Durch- thoden zusammengefasst, die betrachteten inversen Streupro- gang von Röntgenstrahlen unter- elektromagnetische Wellen bezie- bleme bedarf tiefer liegender ma- schiedlicher Richtungen. Da die hungsweise Felder benutzen, ein- thematischer Hilfsmittel, so dass Absorption eines Röntgenstrahls schließlich der Grenzfälle elek- wir hier in einer Plausibilitätsbe- lokal proportional zur Dichte ƒ trostatischer oder magnetostati- trachtung wieder die Wasserwel- des durchleuchteten Objekts ist, scher Felder. len heranziehen. Es erscheint un- ergibt sich der Intensitätsverlust Zu diesem Bereich gehören die mittelbar einleuchtend, dass die des Röntgenstrahls entlang einer Minendetektion mit elektromag- durch Einwerfen einer Kugel und Geraden L durch Aufsummieren netischen Wellen und die Impe-

Georgia Augusta 6 | 2008 93 ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

wird. Die gestreute sekundäre mierungsaufgabe konnte demons- Welle induziert in einer Empfän- triert werden, dass auf diese Wei- gerspule des Metalldetektors eine se eine befriedigende Bestimmung Spannung U, deren Verlauf bei von Orts- und Formparametern der Bewegung in einem Bereich des Streuobjekts möglich ist. Da- oberhalb einer vermuteten Mine mit wurde der Nachweis erbracht, grundsätzlich nach entsprechen- dass unter Einsatz von Methoden der Modifikation des Detektorauf- der inversen Streutheorie das baus gemessen werden kann. In oben beschriebene Ziel der Redu- dem inversen Streuproblem zur zierung der Fehlalarmraten beim Minendetektion sollen aus dem ge- Einsatz von Metalldetektoren zum messenen Spannungsverlauf geo- Minenräumen grundsätzlich er- metrische Parameter zu Form, reichbar ist, nach einer entspre- Größe und Position eines ent- chenden messtechnischen Umge- deckten metallischen Objekts er- staltung der Detektoren. mittelt werden. Auf diese Weise Das inverse Problem der Impe- lassen sich durch Vergleich mit danztomographie zur Ermittlung der bekannten Gestalt von Minen der Leitfähigkeitsverteilung aus etwa zu kleine, zu große oder zu am Rand eines elektrisch leitfähi- dünne Objekte als Fehlalarme gen Objekts an Elektroden gemes- charakterisieren. Die Göttinger senen Strom- und Spannungsver- Arbeitsgruppe im Projektverbund teilungen wird für die verwende- hat hierzu das inverse Problem im ten niederfrequenten Ströme durch Sinne der im Folgenden beschrie- die Potenzialgleichung benen Least Squares Minimierung interpretiert und gelöst [4]. Hierzu div grad u = 0 wurden die Gestalt und die Lage Räumung von Minen- feldern in Chile. Ein Sol- danztomographie, bei denen zu der Mine durch eine n-parametri- für das elektrische Potenzial u dat sucht mithilfe eines der Beschreibung Göttinger For- ge Schar von Flächen model- modelliert. Das direkte Problem Detektors nach Land- schungsergebnisse am Ende diese liert, beispielsweise durch Ellipsoi- besteht bei vorgegebener Leit- minen. Zwischen 1974 und 1978 wurde das Aufsatzes etwas mehr mathemati- de, bei denen insgesamt neun Pa- fähigkeit darin, für verschiedene Grenzgebiet zu Bolivien, sche Terminologie unvermeidbar rameter erforderlich sind zur Be- Stromeinprägungen auf dem Rand Peru und Argentinien ist. Die Minendetektion wird mo- schreibung von Position, Größe die zugehörenden Spannungen zu mit Minenfeldern abgesichert. delliert als inverses Streuproblem und Orientierung. Es wird dann ermitteln, d.h. für u ein lineares Foto: Ullstein für die Maxwellschen Differential- diejenige Fläche bestimmt, für die Randwertproblem zu lösen. Das gleichungen die Abweichung des zugehören- zugehörige inverse Problem be- den simulierten Spannungsver- steht in der Ermittlung der ortsab- curl E - iωµH = 0 laufs U() möglichst wenig vom hängigen Leitfähigkeit im Innern curl H + iωεE = σE gemessenen Spannungsverlauf des Objekts aus der so genannten Umess abweicht in dem Sinne, Strom-nach-Spannung Abbildung, für das elektrische Feld E und das dass das Integral die jeder auf dem Rand vorgege- magnetische Feld H. Die physika- benen Stromverteilung die resul- ∫ 2 lischen Größen Dielektrizität , M |U( ) – Umess| ds tierende Spannnungsverteilung magnetische Suszeptibilität und zuordnet. Für eine detaillierte elektrische Leitfähigkeit haben über den Messbereich M des De- Beschreibung der Vielfalt der in dabei für die beteiligten Medien tektors bezüglich des Parameter- der mathematischen Literatur und

Luft, Erde und Metall unterschied- vektors a = (a1, a2, ..., an) mini- von den Anwendern entwickelten liche Werte. Die Frequenz be- miert wird. Unter Verwendung ei- Rekonstruktionsalgorithmen sei wegt sich bei den gebräuchlichen nes numerischen Lösungsverfah- verwiesen auf die Übersichts- Minendetektoren im Kilohertz- rens für das direkte Streuproblem arbeit von L. Borcea aus dem Jahr Bereich. Wie weiter oben schon an Metallkörpern in dem ge- 2002 [1]. beschrieben, sendet der über den schichteten Boden-Luft Medium Bei Leitfähigkeiten mit hohen Boden geführte Detektor ein elek- mit Randintegralgleichungsme- Kontrasten, wie sie zum Beispiel tromagnetisches Feld aus, das von thoden zur Simulation der Span- bei der nichtinvasiven Überwa- der Grenzfläche zwischen Luft nung U() und einer ableitungs- chung der Atmung von Lungen- und Erde und von im Boden freien Simplex-Methode nach patienten auftreten, erscheint es befindlichen Metallteilen gestreut Nelder und Mead für die Mini- sinnvoll, die Leitfähigkeiten durch

94 Universität Göttingen MATHEMATIK LÖST PROBLEME

stückweise konstante Leitfähigkei- schung (Direktor Prof. Dr. Ger- menarbeit wird in dem Projektver- ten zu approximieren. Dieses ver- hard Hellige) und der Arbeitsgrup- bund zur Impedanztomographie einfacht das inverse Problem zu pe Impedanztomographie [6] (Lei- weiter fortgesetzt. einem inversen Randwertproblem ter Dr. Günter Hahn) am Zentrum Die Darstellung dieser For- zur Laplace Gleichung ∆u = 0 für für Anaesthesiologie, Rettungs- schungsaktivitäten macht deutlich, die Bestimmung der Gestalt der und Intensivmedizin der Univer- dass Mathematik ein unerlässli- Ränder zwischen den Teilberei- sitätsmedizin Göttingen ist in cher und bedeutender Bestandteil chen unterschiedlicher konstanter zwei vom Verfasser betreuten Dis- von nichtinvasiven Bildgebungs- Leitfähigkeit sowie den Werten sertationen [5, 7] die theoretische und Evaluierungsverfahren in Me- der Leitfähigkeiten in den Teilbe- Fundierung und eine numerische dizin und Technik ist. Sie veran- reichen. Dieses inverse Randwert- Implementierung für diesen Zu- schaulicht auch eine wesentliche problem ist dann nichtlinearen gang zur Impedanztomographie Stärke der Mathematik: Ihre Me- Randintegralgleichungsmethoden erarbeitet worden. Dazu gehörte thoden sind universell in zunächst zugänglich. auch eine vorläufige Erprobung völlig verschieden erscheinenden In Kooperation mit der Abtei- der Algorithmen an realen Daten Problemstellungen einsetzbar. lung Anaesthesiologische For- aus der Medizin. Diese Zusam-

Over the last two decades, Literatur: [5] Eckel, H. and Kress, R.: Nonlinear inte- inverse problems, in gene- [1] Borcea, L.: Electrical impedance tomo- gral equations for the inverse electrical im- pedance problem. Inverse Problems 23, ral, and inverse scattering pro- graphy. Inverse Problems 18, R99–R136 (2002). 475–491 (2007). blems, in particular, have deve- [2] Colton, D. and Kress, R.: Inverse Acou- [6] Hahn G, Just, A., Dudykevych, T., Fre- loped into an important branch of stic and Electromagnetic Scattering Theory. richs, I., Hinz, J., Quintel, M. and Hellige, G.: mathematics. Scattering theory is 2nd. ed. Springer, Berlin 1998. Imaging pathologic pulmonary air and fluid accumulation by functional and absolute concerned with the effect of ob- [3] Colton, D. and Kress, R.: Using funda- mental solutions in inverse scattering. Inver- EIT. Physiological measurement 27, 187 – jects or inhomogeneities on the se Problems 22, R49–R66 (2006). 198, (2006). propagation of acoustic, electro- [4] Delbary, F., Erhard, K., Kress, R., Pott- [7] Hofmann, B.: Approximation of the in- magnetic or elastic waves. For di- hast, R. and Schulz, J.: Inverse electroma- verse electrical impedance tomography rect scattering problems, the ob- gnetic scattering in a two-layered medium problem by an inverse transmission pro- with an application to mine detection. In- blem. Inverse Problems 14, 1171–1187 jects or inhomogeneities produce verse Problems 24, 015002 (2008). (1998). a scattered wave and the latter has to be computed. Conversely, in in- verse scattering problems from a knowledge on the scattered wave the unknown scattering object has to be retrieved. Inverse scattering has applications in biomedicine, Prof. Dr. Rainer Kreß, Jahrgang 1941, studierte Ma- geophysical exploration, environ- thematik und Physik an der Technischen Hochschule mental pollution, radar imaging Darmstadt, an der er 1968 promoviert wurde und sich and nondestructive testing, among 1969 für das Fach Mathematik habilitierte. Nach einer others. In addition to theoretical zweijährigen Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitar- foundations to inverse scattering, beiter am Max-Planck-Institut für Physik and Astro- the research at the Institute for Nu- physik in München folgte er 1971 einem Ruf auf einen Lehrstuhl merical and Applied Mathematics für Numerische und Angewandte Mathematik an die Universität at the University of Göttingen has Göttingen. Als Gastprofessor war er für längere Zeit an der Univer- been concerned with the applica- sity of Strathclyde in Schottland, der University of Delaware in den tion of tools from inverse scatte- Vereinigten Staaten und an der University of New South Wales in Australien. Von 1993 bis 1995 war Professor Kreß Vizepräsident der ring both in the area of humanita- Universität Göttingen, und seit 1995 ist er Mitglied der Göttinger rian mine detection by metal de- Akademie der Wissenschaften. Sein Hauptforschungsgebiet sind In- tectors and in impedance tomo- tegralgleichungen mit Schwerpunkt auf deren numerischer Lösung graphy (which is a newly develo- und direkte und inverse Probleme aus der Streutheorie. Er ist Autor von ped imaging technique with ap- vier Monographien aus diesem Gebiet, von denen eine in russischer plications in science, medi- und zwei weitere in chinesischer Übersetzung Verbreitung finden. cine and engineering).

Georgia Augusta 6 | 2008 95 CERN Opening Day 2008 © CERN MATHEMATIK SCHAFFT WISSEN

Beim Wort Geometrie denken wir wahrscheinlich zuerst an Punkte, Ge- raden und Kreise. Diese Art von Geometrie ist allerdings für die Quanten- mechanik ungeeignet, schon der Begriff des Punkts verliert dort seinen Sinn. Die nichtkommutative Geometrie verallgemeinert den Begriff des Raums so, dass auch quantenmechanische Phänomene berücksichtigt werden können. Dazu muss zunächst die Geometrie, ausgehend von ei- nem Koordinatensystem, in eine algebraische Sprache übersetzt werden. Anschließend wird darauf eingegangen, wie der Abstandsbegriff in die nichtkommutative Geometrie übertragen werden kann. Dies führt uns abschließend auf quantisierte Invarianten nichtkommutativer Räume. Der Raum hinter den Räumen Nichtkommutative Geometrie

Ralf Meyer

Algebraisierung der Geometrie Auf einer Fläche im Raum, et- Koordinaten wa einer Kugeloberfläche, sollten Seit der Einführung des kartesi- wir nur zwei und nicht drei Koor- schen Koordinatensystems durch dinaten brauchen. Wir können René Descartes (1596 – 1650) aber ein Blatt Papier nicht um ei- werden Punkte des Raums mit Tri- ne Kugel wickeln, ohne es zu ver- peln von Zahlen (x, y, z) – den knittern. Dies wird durch die Koordinaten – identifiziert. Weil Krümmung der Kugel verhindert, wir mit Koordinaten rechnen kön- wie in Thomas Schicks Beitrag ge- nen, wird die Geometrie zu einem nauer besprochen wird. Daher ist Teilgebiet der Algebra. Alle geo- jede Karte einer Kugeloberfläche metrischen Objekte und Opera- verzerrt. Zum Beispiel entspre- tionen lassen sich in die Sprache chen in der klassischen Mercator- der Algebra übersetzen; zum Bei- Projektion (vgl. Abb. 1) der ge- spiel beschreibt die Gleichung samte untere und obere Rand der x2 + y2 + z2 = 1 die Einheitskugel. Karte jeweils einem Punkt, dem Das Rechnen mit Koordinaten ist Nord- und Südpol, sodass polna- auch die Grundlage der klassi- he Regionen wie die Antarktis viel schen Mechanik. Deren Kraftge- größer dargestellt werden, als sie setz erklärt die Beschleunigung ei- sind. Außerdem erscheint die kür- nes Gegenstands durch die darauf zeste Verbindung zwischen zwei wirkenden Kräfte. Die Differenzi- Punkten in dieser Projektion nicht alrechnung liefert eine präzise als gerade Linie. Das merkt man, Definition für Geschwindigkeit wenn man bei einem Transatlan- Abb. 1: Mercator-Projektion und Beschleunigung. Aber schon die Definition der Ableitung als Grenzwert von Differenzenquoti- enten verlangt Rechenoperatio- nen, die ohne Koordinaten un- denkbar wären. Allerdings haben Koordinaten auch ihre Schwächen. Selbst im gewöhnlichen Raum verlangen sie, dass wir den Ursprung und die Koordinatenrichtungen willkür- lich wählen.

Georgia Augusta 6 | 2008 97 ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Faktoren in Produkten egal ist: Es »The angel of geometry and the devil of abstract algebra gilt stets ab = ba. In der nichtkom- fight for the soul of any mathematical theory.« mutativen Geometrie lassen wir Hermann Weyl (1885 – 1955) diese Bedingung fallen und erhal- ten Algebren, die keinem her- tikflug auf dem Bildschirm die Ursprünglich wollten wir die kömmlichen Raum mehr entspre- Flugroute verfolgt: sie sieht zwar Algebra in den Dienst der Geo- chen. Dennoch tun wir so, als deutlich nach Norden gebogen metrie stellen, aber der nun er- wären sie Funktionenalgebren, aus, das ist aber ein Artefakt der reichte Raumbegriff kehrt diese und versuchen, Begriffe aus der gewählten Karte. Verhältnisse um. Haben wir damit Geometrie auf sie auszudehnen. das Kind mit dem Bade ausge- Warum möchte man das über- Mach’s mit Algebra schüttet? haupt? Zum einen gibt es einige Koordinaten sind also einerseits Eine natürliche Stärke des Men- geometrische Konstruktionen von sehr nützlich, andererseits aber oft schen ist seine Fähigkeit, geome- Räumen, die so schlechte Eigen- willkürlich und verzerrend. Darum trische Sachverhalte in Sekunden- schaften haben, dass herkömmliche haben Mathematiker als »Schutz- bruchteilen zu erfassen. Es ist für Ansätze versagen. Oft lassen sie helm« eine Reihe von Konzepten uns buchstäblich ein Kinderspiel, sich aber mit nichtkommutativen geschaffen, die sicherstellen, dass Bälle zu fangen oder auf einem Algebren in Verbindung bringen, beim Arbeiten mit Karten am Ende Bild eine Kugel von einer Brezel die es dann erlauben, doch noch nur kartenunabhängige Ergebnis- zu unterscheiden; Computern wird mit ihnen Geometrie zu betreiben. se herauskommen. Letzteres gerade mühsam bei- Die wichtigste Motivation Eine Karte ordnet jedem Punkt gebracht. Die Algebra scheint da- stammt jedoch aus der theoreti- eine Reihe von Zahlen – seine Ko- gegen eher eine Stärke der Com- schen Physik. Viele Beispiele ordinaten – zu. Um uns nicht für puter zu sein, die – anders als nichtkommutativer Algebren stam- eine Karte entscheiden zu müs- Menschen – ein Gleichungssys- men aus der Quantenmechanik. sen, betrachten wir alle Abbildun- tem mit 100 Gleichungen und In der allgemeinen Relativitäts- gen, die Punkten Zahlen zuord- 100 Unbekannten in einem Au- theorie Einsteins wird die Schwer- nen – solche Abbildungen heißen genblick lösen können. Der geo- kraft zurückgeführt auf die Geo- auch Funktionen. Damit können metrische Zugang scheint daher metrie der Raumzeit. Bisher gibt wir genauso rechnen wie mit Zah- der menschlichen Denkweise viel es noch keine konsistente Theo- len, indem wir ihre Werte in je- besser zu entsprechen als der al- rie, die die allgemeine Relativi- dem Punkt addieren und multipli- gebraische, sodass eine Algebrai- tätstheorie mit der Quantenme- zieren. Mathematiker nennen ei- sierung der Geometrie nicht sehr chanik zusammenbringt. Diese ne Menge von Objekten mit sol- vielversprechend erscheint. offene Frage ist eng verbunden mit chen Rechenoperationen und ge- Diese Ansicht beruht jedoch der nach der Struktur des Raums wissen Eigenschaften eine (kom- auf einem verbreiteten Missver- auf subatomaren Längenskalen, mutative) Algebra. ständnis der Algebra (und viel- die wir bisher noch kaum verste- Der Ausgangspunkt der moder- leicht der Mathematik im Allge- hen. Der Large Hadron Collider nen algebraischen Geometrie ist meinen). Eigentlich hat sie näm- (LHC) am CERN wird die Untersu- die Beobachtung, dass wir allein lich gar nicht so viel mit Rechnen chung dieser Fragen in den näch- aus dieser Algebra A von Funktio- zu tun, sondern mit Sprechen, und sten Jahren hoffentlich durch über- nen die Punkte unseres Raums zu- das können wir tatsächlich immer raschende experimentelle Daten rückgewinnen können. Sei näm- noch besser als Computer. Eine beflügeln. Daneben kann die nicht- lich x ein Punkt unseres Raums, so unserer Hauptstärken hier ist die kommutative Geometrie wichtige können wir Funktionen in x aus- Analogie, die es uns erlaubt, Ideen theoretische Beiträge liefern, in- werten. Diese Funktion auf A ist in einen völlig anderen Kontext zu dem sie eine Sprache bereitstellt, ein Charakter von A, das heißt, sie übertragen. In der nichtkommuta- in der man auch mit derart unan- ist mit den Rechenoperationen in tiven Geometrie benutzen wir schaulichen Räumen noch Geo- A verträglich. Es zeigt sich nun, Ideen aus der Geometrie und der metrie betreiben kann. dass jeder Charakter auf A von mathematischen Physik zur Unter- dieser Form ist, sodass wir die suchung von Räumen, bei denen Physikalische Wurzeln der Punkte unseres Raums mit den die bloße Anschauung versagt. nichtkommutativen Geometrie Charakteren der Algebra A identi- Beim Rechnen mit Funktionen Heisenbergs Quantenmechanik fizieren können. Im Prinzip kön- gelten, wie gesagt, alle Regeln für Um die Bewegung eines Teilchens nen wir also alle Eigenschaften das Rechnen mit Zahlen. Eines vorherzusagen, müssen wir in der unseres Raums durch die Algebra davon, das Kommutativgesetz, klassischen Mechanik seinen Ort ausdrücken. besagt, dass die Reihenfolge der und seine Geschwindigkeit ken-

98 Universität Göttingen MATHEMATIK SCHAFFT WISSEN to: Gisa Kirschmann-Schröder to: Fo

nen. Wir ersetzen die Geschwin- Licht ausstrahlen oder absorbie- servablen rechnen möchte, liegt digkeit durch den Impuls – wenn ren kann. An ihnen lässt sich das es nahe, Observablen als Funktio- man die Relativitätstheorie ver- Atom wie an einem Fingerab- nen zu betrachten, die jeder Spek- υ nachlässigt, so ist das einfach das druck ablesen. So bestimmen wir trallinie ij eine gewisse Amplitu- Produkt aus Geschwindigkeit und heute die chemische Zusammen- de aij zuordnen; diese Amplituden Masse des Teilchens. Nehmen wir setzung entfernter Sterne und Pla- sind komplexe Zahlen, das spielt zur Vereinfachung an, dass unser neten (vgl. Abb. 2). aber hier keine große Rolle. Die Teilchen sich nur auf einer Gera- Rydberg stellte um 1890 fest, Addition geschieht eintragsweise, den bewegt, so ist der Zustands- dass die Spektrallinien des Was- und für das Produkt postulierte raum eines klassischen Teilchens serstoffs sich alle in die Form Werner Heisenberg die Regel eine Ebene mit Ort und Impuls als Koordinaten. In der Quantenmechanik kön- mit einer gewissen Naturkonstan- Weil solche unendlichen Sum- nen aber Ort und Impuls eines ten R und positiven ganzen Zah- men im Allgemeinen nicht kon- υ Teilchens nicht gleichzeitig belie- len i und j bringen lassen. Mit ij vergieren, müssen wir jetzt Bedin- υ υ υ υ big genau festgelegt sein. Der Zu- und jk ist also auch ij + jk = ik gungen an die Amplituden stellen, stand eines Teilchens ist ein viel wieder eine Spektrallinie, aber damit diese Formel überhaupt ei- komplexeres Objekt, aus dem dies gilt nur für Spektrallinien, die nen Sinn hat. Es gibt hier mehrere sich nur Wahrscheinlichkeiten ab- wie oben zusammenpassen. Atom- Möglichkeiten, so dass es ganz leiten lassen, das Teilchen an einem modelle aus der klassischen Me- verschiedene Algebren gibt, die bestimmten Ort oder mit einem chanik sagen dagegen voraus, von sich behaupten können, die- bestimmten Impuls anzutreffen. dass alle Summen von Spektral- ses physikalische System zu be- Mathematisch wird diese Situa- linien wieder Spektrallinien sind. schreiben. Wir beachten solche tion beschrieben durch nichtkom- Die Spektrallinien sind die Unterschiede aber hier nicht. mutative Algebren. grundlegenden beobachtbaren Physikalische Größen wie Ort, Dieser Übergang zu nichtkom- Größen des Atoms – auch Obser- Impuls und Energie lassen sich als mutativen Algebren lässt sich gut vablen genannt. Da man mit Ob- Elemente der Observablenalgebra durch die Beobachtungen der Spektroskopie motivieren. Am En- de des 19. Jahrhunderts wurden Spektren für verschiedene Atome Abb. 2: aufgenommen; sie zeigen, bei Absorptionsspektrum welchen Frequenzen ein Atom eines Sterns

Georgia Augusta 6 | 2008 99 ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

mit Sand bestreut wird. Die dabei auftretenden Chladnischen Klang- figuren (vgl. Abb. 3) beschreiben genau die Nullstellen der Schwin- gungsamplitude. Für uns ist vor allem ein Aspekt wichtig: begrenzen wir die Ener- gie einer Schwingung, so bewegen sich benachbarte Punkte weitge- hend synchron. Wir können sogar den Abstand zwischen Punkten exakt aus der Wechselwirkung der Algebra von Funktionen mit dem Energieoperator berechnen. Diese Umformulierung können wir dann auch auf nichtkommutative Räu- me anwenden. Vom physikalischen Raum er- warten wir, dass er sich auf großen © CERN Längenskalen klassisch verhält: im Alltag bemerken wir quanten- mechanische Effekte ja nicht di- deuten. Aus der Heisenbergschen Der wesentliche Begriff hier ist der rekt. Es ist bisher nicht bekannt, Zeitentwicklungsformel folgt, dass des Abstands: Kennen wir nur die wie man solche Aussagen über eine Observable sich mit der Zeit Punkte eines Raums und die Ab- das Verhalten von nichtkommuta- nicht ändert, wenn sie mit der stände zwischen ihnen, so können tiven Räumen auf großen Län- Energie vertauscht (im Sinne H · x wir alle anderen geometrischen genskalen formulieren kann. Für = x · H, wobei H die Energie und Begriffe daraus rekonstruieren. Der klassische geometrische Objekte x die Observable ist) wird. Also er- Abstand zwischen Punkten hat erlaubt es die so genannte Grob- laubt nur die Nichtkommutativität aber in der nichtkommutativen geometrie, die in Göttingen von der Observablenalgebra einem Geometrie gar keinen Sinn, weil mir und Thomas Schick betrieben quantenmechanischen System, es keine Punkte mehr gibt. Dieses wird, Phänomene auf endlichen sich zu bewegen. Problem wird durch die so ge- Längenskalen herauszufiltern. Ei- Eine Analogie zwischen Hei- nannten Spektraltripel gelöst, die ne der Fragen, mit denen ich mich senbergs Zeitentwicklungsformel ich wiederum durch einen Exkurs beschäftige, ist die Ausdehnung und entsprechenden Formeln in in die Physik erklären möchte. dieser Theorie auf nichtkommuta- der klassischen Mechanik legt Da man sich die Entstehung tive Räume, mit der man ihr klassi- nahe, dass die Orts- und Impuls- von Atomspektren schwer vorstel- sches Verhalten auf großen Län- observablen die so genannte ka- len kann, betrachte ich zunächst genskalen feststellen kann. nonische Vertauschungsrelation Schwingungen makroskopischer Es ist besser, die klassischen erfüllen. Die von dieser Relation Gegenstände, etwa einer Saite oder Schwingungen der Akustik durch erzeugte Algebra heißt auch Weyl- einer Membran. In beiden Fällen Algebra. Sie beschreibt eine quan- ist jede Schwingung eine Mi- tisierte Ebene, bei der die Orts- schung aus harmonischen Schwin- und Impulskoordinaten in Pro- gungen mit gewissen charakteri- dukten nicht miteinander vertau- stischen Frequenzen. Bei der Sai- schen. Diese quantisierte Ebene te zum Beispiel sind dies gerade und ihre Beziehung zur gewöhnli- alle Vielfachen einer Grundfre- che Ebene spielen eine wichtige quenz, die umgekehrt proportio- Rolle in der nichtkommutativen nal zur Länge der Saite ist. Zu je- Geometrie. der dieser Frequenzen gehört ein bestimmtes Schwingungsmuster, Ein Ersatz für den Abstand das die Amplitude der Schwin- In der Geometrie betrachten wir gung in jedem Punkt beschreibt. neben den Punkten eines Raums Bei einer schwingenden dünnen auch Geraden und Kreise, und wir Platte lassen sich diese Muster messen Winkel und Abstände. sichtbar machen, indem die Platte Abb. 3: Chladnische Klangfiguren

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ein quantenmechanisches Analo- nämlich die positive und die ne- zwischen den Zusammenhang gon zu ersetzen. Die für uns rele- gative. Solche quantisierten Infor- mit K-Theorie, bei anderen, etwa vanten Schwingungen beruhen mationen sind stabil bei kleinen bei Ladungen von Elementarteil- auf dem Dirac-Operator, benannt Änderungen an Parametern. Auch chen, ist dies noch unklar. Das ist nach dem britischen Physiker der Dirac-Operator enthält neben eine der Fragen, die im Rahmen Paul Dirac (1902 – 1984). Im ein- dem Wachstum der Eigenwerte des Graduiertenkollegs »Mathe- fachsten Fall der reellen Geraden noch quantisierte Information, die matische Strukturen in der moder- ist der Dirac-Operator bis auf ei- bei kleinen Änderungen stabil nen Quantenphysik« untersucht nen konstanten Faktor der Ablei- bleibt und daher auch in kompli- werden. tungsoperator f |–> f’ , in höheren zierteren Beispielen noch bere- Dimensionen ist er komplizierter. chenbar ist. Zusammenfassung Ursprünglich wurde er eingeführt, Eines meiner Hauptarbeitsge- Zunächst hat uns der Koordina- um Elektronen quantenmecha- biete ist die bivariante K-Theorie, tenbegriff auf eine rein algebrai- nisch zu beschreiben, und dies die sich genau mit solchen quan- sche Beschreibung von geometri- leistet er bis heute. tisierten Informationen befasst. Sie schen Objekten geführt. Diese er- Der Dirac-Operator hat ein dis- heißt bivariant, weil sie von zwei laubt es, Geometrie mit wenig an- kretes »Spektrum«, bestehend aus nichtkommutativen Räumen ab- schaulichen Räumen zu betrei- den möglichen Frequenzen har- hängt, und der Buchstabe K hat ben, wie sie unter anderem in der monischer Schwingungen. Dieses keine besondere Bedeutung – Quantenmechanik auftreten. Ins- Spektrum ist wie ein Fingerab- irgendwie muss die Theorie ja besondere haben wir gesehen, druck unseres Raums, aus dem heißen. Grob gesagt, beschreibt wie man von der Spektroskopie zu man auch einiges über ihn able- diese Theorie, welche quantisierte nichtkommutativen Algebren ge- sen kann, etwa Dimension, Volu- Information für bestimmte Typen führt wird. Ein wichtiges Konzept men und mittlere Krümmung. An- von Spektraltripeln auftreten kann. der nichtkommutativen Geome- ders als bei chemischen Elemen- Besonders interessant ist hier das trie sind Spektraltripel, die den ten wird aber ein Raum durch das Wechselspiel zwischen Analysis Abstand zwischen Punkten erset- Spektrum seines Dirac-Operators und Geometrie. Die Definition zen, der für nichtkommutative nicht eindeutig bestimmt: erst die der bivarianten K-Theorie geht Räume keinen Sinn mehr hat. In Kombination mit der Algebra der von bestimmten Arten von Diffe- der nichtkommutativen Geome- Funktionen legt ihn fest. Diese rentialgleichungen aus und ist trie gibt es noch viele offene Kombination heißt Spektraltripel. entsprechend analytisch geprägt; Grundlagenfragen, deren Beant- Sie ersetzen in der nichtkommuta- aber die Resultate hängen nur von wortung helfen kann, die Struktur tiven Geometrie den Abstandsbe- topologischen Eigenschaften ab. des Raums auf kleinen Längenska- griff, ohne über Punkte reden zu Angefangen mit Plancks Quan- len zu verstehen. Darunter sind müssen. tisierungspostulat für schwarze eher geometrische Fragen, wie die Der Dirac-Operator ist eine Strahler spielen quantisierte Grös- nach der Struktur von nichtkom- Quadratwurzel eines anderen sen natürlich eine zentrale Rolle mutativen Räumen auf großen Operators, der klassische Schwin- für die Quantenmechanik. Bei Längenskalen, und eher quanten- gungen beschreibt. Bei Quadrat- manchen davon, etwa bei topolo- mechanische Fragen, wie die wurzeln von Zahlen gibt es be- gischen Anomalien in der Renor- nach quantisierten Informationen Blick in den CMS- kanntlich zwei Möglichkeiten, mierungstheorie, kennt man in- in der bivarianten K-Theorie. Detektor am CERN Kern- forschungszentrum © CERN

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The idea to describe points mulated in this language, they tive when quantum phenomena in space by Cartesian co- may be applied to problems that are taken into account. ordinates leads to the notion of have nothing to do with geometry. The geometry of a space is tra- manifold – these are spaces that In particular, non-commutative ditionally described by specifying admit local coordinates. The in- geometry tries to combine geo- the distances between points. At troduction of coordinates allows metry and quantum mechanics in first sight, it seems impossible to us to translate geometric problems this fashion. encode such information in the al- into algebraic ones. But it may be Spectroscopic observations in gebraic language of non-commu- misleading to single out a particular the late 19th century may be in- tative geometry – pointlike events coordinate system, and sometimes terpreted naturally in terms of a cannot exist in quantum mecha- any local coordinate system dis- non-commutative algebra of nics. Nevertheless, there is a good torts the geometry of the space. observables. This algebra was first substitute for it, which uses the We have described a space al- made explicit by Heisenberg, who propagation of waves inside a gebraically without introducing also found a conceptual explana- space – which still makes sense in coordinates, using the algebra of tion for its structure in terms of ca- the quantum world. Put simply, the functions on the space, and we nonical commutation relations. distance between two points is re- have seen how to recover the un- Quantum mechanics predicts that placed by the amount of energy derlying space from this algebra as on subatomic length-scales space that is needed for an oscillation to its space of characters. Hence all and time itself behave like a non- separate these two points. Thus constructions in geometry should commutative algebra instead of a the distance function is replaced be translatable into the language classical geometry. Therefore, we by a certain differential operator, of algebra. This is useful because expect the geometry of the real the Dirac operator, introduced by once geometric insights are for- world to become non-commuta- Dirac in order to model electrons in relativistic quantum mecha- nics. The combination of the Di- rac operator and the algebra of functions contains enough infor- mation to recover the manifold and the distances between points in the manifold. Besides the set of its eigenfre- quencies, which is related to the geometry of a space, the Dirac operator also contains some quan- tised information. Due to its dis- © CERN crete character, this information is stable under deformations and can therefore be computed in many examples. By definition, the Prof. Dr. Ralf Meyer, Jahrgang 1974, studierte als Sti- Dirac operator is a square root of pendiat der Studienstiftung des Deutschen Volkes Ma- the Laplace operator. The square thematik an der Universität Osnabrück. Bereits als root of a number is unique up to a Schüler war der dreimalige Sieger des Bundeswettbe- sign; for square roots of operators, werbs Mathematik in den Jahren 1992, 1993 und 1994 als Mathematiktalent aufgefallen. Sein Mathe- there are far more possibilities. matikstudium schloss er 1996 mit dem Diplom ab und wechselte zu Roughly speaking, bivariant K- weiteren Studien 1996/97 an die University of California, Berkeley theory, my own specialty within (USA). Von 1997 bis 1999 bereitete er sich im Rahmen des Sonder- non-commutative geometry, orga- forschungsbereichs »Geometrische Strukturen in der Mathematik« nises these possibilities. While its an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster auf die Promo- definition is an abstraction of cer- tion vor und wurde im Jahr 1999 summa cum laude promoviert. Im tain differential operators appea- Juni 2004 habilitierte sich der Mathematiker in Münster. Nach einer ring in analysis, the end result is a Vertretungsprofessur an der Universität Göttingen im Studienjahr purely topological invariant for 2005/06, erhielt er im April 2006 den Ruf an die Georgia Augusta. non-commutative spaces. K-theory Prof. Meyer ist Sprecher des Graduiertenkollegs »Mathematische is related to – or at least expected Strukturen in der modernen Quantenphysik« und Mitglied im Di- rektorium des Courant Forschungszentrums »Strukturen höherer to be related to – quantised objects Ordnung in der Mathematik«. in quantum mechanics like charges or anomalies.

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Graduiertenkolleg »Mathematische Strukturen in der modernen Quantenphysik«

(red.) Ein Ziel der modernen Ma- (DFG) fördert das Graduiertenkol- nen. Es arbeitet eng mit dem in thematik ist es, die Physik von Ma- leg für einen Zeitraum von vier Göttingen neu etablierten Courant terie, Zeit und Raum auf der Jahren mit rund 1,75 Mio Euro Forschungszentrum »Strukturen Quantenskala zu beschreiben und und finanziert damit 14 Doktoran- höherer Ordnung in der Mathe- zu verstehen. Die theoretische Be- denstipendien und zwei Postdok- matik« (Higher order structures in handlung der dort auftretenden torandenstellen. mathematics) zusammen. Die Phänomene benötigt neue Kon- Das Kolleg bietet Doktoranden Doktoranden haben ausgezeich- zepte und Methoden aus ver- aus Mathematik und theoretischer nete Aussichten auf Stellen im schiedenen Bereichen der Mathe- Physik eine breite Ausbildung, die akademischen Bereich, von der matik, von neuartigen Zugängen es ihnen erlaubt, erfolgreich Fra- reinen Mathematik bis in die theo- zu Geometrie und Topologie über gen im Grenzbereich zwischen retische Physik. Wegen ihrer brei- neue Techniken in der Analysis un- Mathematik und Quantenphysik ten interdisziplinären Ausbildung endlicher Systeme bis zur Theorie zu erforschen. In einer Vorlesung, werden sie auch als Generalisten der Invarianten von Operatoralge- die gemeinsam von einem Mathe- und Problemlöser in zahlreichen bren und zur Kategorientheorie. matiker und einem Physiker ge- Bereichen der Privatwirtschaft ge- Um die grundlegenden Naturge- staltet wird, lernen sie zentrale fragt sein. setze zu formulieren und anzu- Ideen der mathematischen Physik Sprecher des Kollegs ist der wenden, die die physikalischen kennen, einschließlich konzeptio- Mathematiker Prof. Dr. Ralf Mey- Prozesse von der Entstehung von neller und konstruktiver Aspekte er. Weitere beteiligte Hochschul- Teilchen in modernen Beschleuni- der Quantenfeldtheorie und be- lehrer sind Prof. Dr. Detlev Buch- gern bis hin zur Bildung und Ent- stimmter Bereiche der Stringtheo- holz und Prof. Dr. Karl-Henning wicklung unseres Universums be- rie. Die Forschungsarbeit der Kol- Rehren aus dem Institut für Theo- herrschen, sind hier Fortschritte in legiaten wird von interdisziplinären retische Physik, Prof. Dr. Laurent der Forschung wichtig. Betreuungskomitees begleitet und Bartholdi, Dr. Pablo Ramacher, Das am 1. April 2008 an der erfolgt im Rahmen der Georg-Au- Prof. Dr. Thomas Schick, Prof. Dr. Georg-August-Universität Göttin- gust University School of Science Andreas Thom, Prof. Dr. Ingo Witt gen eingerichtete Graduiertenkol- (GAUSS), die eine strukturierte vom Mathematischen Institut so- leg 1493 »Mathematische Struk- Doktorandenausbildung in allen wie die drei neu eingestellten turen in der modernen Quanten- mathematisch-naturwissenschaft- Juniorprofessorinnen Dr. Doro- physik« untersucht die relevanten lichen Fakultäten sicherstellt. thea Bahns, Dr. Hannah Markwig mathematischen Strukturen und Das Graduiertenkolleg ist ein- und Dr. Chenchang Zhu vom Göt- wendet sie auf Probleme aus der gebettet in ein aktives Forschungs- tinger Courant Forschungszen- Quantenfeldtheorie an. Die Deut- umfeld mit etablierten internatio- trum »Strukturen höherer Ord- sche Forschungsgemeinschaft nalen Kontakten und Kooperatio- nung in der Mathematik«.

Foto: Gisa Kirschmann-Schröder

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MATHEMATIK SCHAFFT WISSEN

Carl Friedrich Gauß leitete während seiner Zeit als Professor für Mathematik und Astronomie an der Georgia Augusta die Vermessung des Königreichs Hannover, mit dem Ziel, korrektere Landkarten zu erstellen. Dabei hatte er mit einem Problem zu kämpfen, das auch heute in der Kartographie auftritt: Eine völlig verzerrungsfreie Darstellung des Geländes mit all seinen Hügeln und Tälern auf einem flachen Stück Papier war und ist nicht möglich. Der Grund ist die Krümmung des Geländes. Aber was ist das eigentlich genau? Als genialer Mathe- matiker arbeitete Gauß den mathematischen Kern dieses Problems heraus und begründete damit ein neues Teil- gebiet der Geometrie: die Krümmung von Flächen. Bis heute ist dies ein wichtiger Bereich der Mathematik, der im Laufe der Zeit weiterentwickelt wurde. An der Universität Göttingen wird in der Arbeitsgruppe »Geometrie und Topologie« neben anderen Forschungsfragen vor allem zum Thema Krümmung intensiv geforscht. Die vierte Dimension ... oder wann ist die Krümmung positiv?

Thomas Schick

Mathematisch betrachtet ist eine ständnis als »krumm« bezeichnen wiesen, dass man die Skalarkrüm- Fläche ein zweidimensionales Ob- würden. Anders verhält es sich bei mung auch rein intrinsisch inner- jekt, das vollkommen glatt ist, so- der Krümmung einer Kugelober- halb der Fläche bestimmen kann. dass die Umgebung jeden Punktes fläche. Hier wissen wir aus Erfah- Dazu schaut man sich auf der wie ein verzerrtes Stück einer Ebe- rung, dass sie nicht ohne Defor- Fläche einen sehr kleinen Kreis ne aussieht. Beispiele sind mation in eine Ebene gepresst um den gewählten Punkt herum die Oberfläche einer Kugel, 2- werden kann. Der Unterschied an. Ist seine Länge kleiner als die dimensionale Sphäre genannt, liegt darin, dass ein Blatt immer Länge eines Kreises mit demsel- die Oberfläche eines Rettungs- nur in eine Richtung gebogen ben Radius in der Ebene, so liegt rings, 2-Torus genannt (Abb. 1) werden kann. Die Kugelober- an diesem Punkt positive Krüm- sowie jede Ebene. fläche ist jedoch gleichzeitig in mung vor, ist sie größer, so liegt Unter »Krümmung« stellt man zwei Richtungen gebogen. Die negative vor.2 sich im Alltag ganz unterschied- Skalarkrümmung einer Fläche an liche Dinge vor. Für die mathema- einem Punkt wird nun mithilfe der tische Untersuchung der Krüm- Radien von zwei Kreisen be- mung müssen genaue Festlegungen stimmt, welche sich in zwei senk- getroffen werden. Das geschieht rechten Richtungen möglichst ge- folgendermaßen: Der mathema- nau an die Fläche anschmiegen1 tisch »korrekte« Krümmungsbegriff (Abb. 2 und 3). Hier gibt es noch ordnet jedem Punkt einer Fläche eine Subtilität zu betrachten: eine Zahl zu, die misst, wie stark Wenn die sich ergebenden Kreise die Fläche an diesem Punkt ge- in dieselbe Richtung zeigen, dann krümmt ist. Diese Zahl nennen deklariert man die Krümmung als wir die Skalarkrümmung oder positiv. Dies ist an jedem Punkt Gauß-Krümmung. Weiter unten der Sphäre der Fall. Sollten die wird erklärt, wie die Skalarkrüm- Kreise jedoch in entgegengesetzte mung berechnet wird. Richtungen zeigen, spricht man Von einer Fläche kann nur von negativer Krümmung, zum dann eine verzerrungsfreie Karte Beispiel an einem Sattel wie in Abb. 1: Die Oberfläche hergestellt werden, wenn die Ska- Abb. 3 oder an den »inneren Punk- Wenn die Skalarkrümmung ei- eines Rettungsrings wird larkrümmung überall Null ist. Ein ten« eines Torus. ner Fläche nicht überall Null ist, Torus genannt und ist ein Beispiel für eine gebogenes Blatt Papier oder eine Um die Skalarkrümmung auf kann man keine verzerrungsfreien zweidimensionale Zylinderoberfläche wie in Abb. 2 diese Weise zu bestimmen, muss Karten anfertigen, wie bereits am Fläche. haben die Skalarkrümmung Null, man die Fläche »von außen« be- Beispiel des Zylinders und der Ku- auch wenn wir sie im Alltagsver- trachten. Gauß hat allerdings be- gel dargestellt. Im Folgenden wol- len wir uns die Flächen als aus 1 Die Gauß-Krümmung ist genauer als das Produkt der Kehrwerte dieser Radien definiert. sehr stark dehnbarem Gummi be- 2 Im Detail muss man hier einen Grenzwert bilden und Kreise von immer kleinerem Radius betrachten. Man erhält auf diese Weise aber eine intrinsische Formel für die stehend vorstellen, sodass man Skalarkrümmung. die Fläche deformieren kann. Jede

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Courant Forschungszentrum »Strukturen höherer Ordnung in der Mathematik«

(red.) Das Zukunftskonzept der Patterson, Karl-Henning Rehren, gleichzeitig einen Ruf auf eine Georg-August-Universität Göttin- Ingo Witt und Thomas Schick als W3-Professur am Mathemati- gen, das im Rahmen des Antrags geschäftsführendem Direktor. schen Institut in Göttingen ange- in der zweiten Auswahlrunde der Inzwischen haben drei Nach- nommen hat. Exzellenzinitiative des Bundes und wuchsgruppenleiterinnen Rufe Außerdem bietet das Courant der Länder vorgelegt wurde, um- auf die ausgeschriebenen W1- Forschungszentrum Stellen für fasst verschiedene Maßnahmen: Tenure-Track-Stellen angenom- weitere acht Doktoranden und Brain Gain, Brain Sustain, Lich- men. Im Laufe des Sommers 2008 Postdoktoranden, die insbesondere tenbergKolleg, Göttingen Interna- nahmen die folgenden Gruppen innerhalb der Nachwuchsgruppen tional. Sie sollen deutsche und aus- ihre Arbeit auf: arbeiten werden. Die mathemati- ländische Spitzenforscher anzie- – Dorothea Bahns baut die Grup- schen Schwerpunkte des Zen- hen und an die Universität binden pe »Nichtkommutative Geome- trums orientieren sich an vorhan- sowie die Entwicklung eines ge- trie und mathematische Physik« denen Stärken der Göttinger Ma- meinsam mit den außeruniversitä- auf. Ihr Forschungsgebiet ist die thematischen Fakultät: Geome- ren Forschungseinrichtungen Göt- Verbindung von Quantenfeld- trie, Zahlentheorie und Topologie tingens bestehenden Forschungs- theorie und nicht-kommutativer mit Bezügen zur mathematischen campus beschleunigen. Eine der Geometrie. Sie interessiert sich Physik, wie ja auch an den The- Schlüsselmaßnahmen im Rahmen insbesondere für Renormierung – menschwerpunkten der drei Nach- von Brain Gain ist die Unterstüt- inklusive der analytischen Aspek- wuchsgruppen abzulesen ist. zung von Nachwuchsforschungs- te – von Quantenfeldtheorie auf An jedem Forschungsthema gruppen in neu gegründeten inter- nichtkommutativen Räumen. Die- sind jeweils mehrere Wissen- disziplinären Forschungszentren, ser Formalismus beruht auf quan- schaftler beteiligt. Bemerkenswert den Courant Forschungszentren. tisierten Versionen der Einstein- ist die enge Zusammenarbeit mit Zunächst werden fünf neue Zen- schen Relativitätstheorie. zwei theoretischen Physikern, tren gegründet, die jeweils ein in- – Hannah Markwig leitet die Prof. Dr. Karl-Henning Rehren novatives Forschungsgebiet reprä- Gruppe »Algebraische Geometrie und Prof. Dr. Detlev Buchholz, sentieren. Darunter ist das Courant und Kombinatorik«. Ihr For- dem diesjährigen Träger der Max- Forschungszentrum »Strukturen schungsgebiet ist das sich schnell Planck-Medaille der Deutschen höherer Ordnung in der Mathe- entwickelnde Gebiet der tropi- Physikalischen Gesellschaft. Die- matik« (Higher Order Structures in schen algebraischen Geometrie. se Zusammenarbeit wird verstärkt Mathematics) mit drei Nachwuchs- Sie interessiert sich einerseits für durch das gerade gestartete Gra- gruppen. Das Besondere am Göt- Grundlagenfragen in diesem Ge- duiertenkolleg »Mathematische tinger Konzept ist, dass die Nach- biet, andererseits für Anwendun- Strukturen in der modernen Quan- wuchsgruppenleiter schon weni- gen in der enumerativen algebrai- tenphysik«. Das Forschungszen- ge Jahre nach der Promotion auf schen Geometrie. Beispielsweise trum wird ein umfangreiches Gäs- Tenure-Track-Stellen berufen wer- sollen effektive Wege beschrieben te- und Konferenzprogramm or- den. Dadurch und durch die gute werden, aus der Stringtheorie vor- ganisieren. Hierzu gehört auch Ausstattung ist das Angebot auch ausgesagte Formeln für klassische der Austausch mit Partnerinstitu- im Vergleich zu den besten Uni- Zählprobleme zu beweisen. ten. Beispielsweise wurde im Ok- versitäten im Ausland konkurrenz- – Chenchang Zhu führt die Grup- tober die Konferenz »Symmetries fähig. Ein weiteres Ziel des Zu- pe »Differentialgeometrie«. Hier in Algebra and Number theory« in kunftskonzepts ist die Erhöhung des werden Strukturen aus der hö- enger Partnerschaft mit der Uni- Frauenanteils in Fächern, in denen heren Kategorientheorie wie versität Jerusalem in Göttingen sie bisher unterrepräsentiert sind; Gruppoide, differenzierbare durchgeführt. Für Januar 2009 ist dabei helfen flexible Dual-Career- Stacks und Gerben und ihre An- die Konferenz »Foundations and Angebote. Das Direktorium des wendungen in Poissongeometrie Constructive Aspects of QFT« ge- Zentrums besteht aus den Profes- und symplektischer Geometrie plant. Informationen zum Courant soren Laurent Bartholdi, Detlev untersucht. Frau Zhu ist mit Lau- Forschungszentrum sind im Internet Buchholz, Ralf Meyer, Samuel rent Bartholdi verheiratet, der unter www.crcg.de/wiki abrufbar.

106 Universität Göttingen Die Euler-Charakteristik chi(F) einer Fläche F erhält man, indem man diese Fläche in (gebogene) Polygone zerlegt. Es gilt dann chi(F)= e- k+f, wobei e die Anzahl der Ecken, k die Anzahl der Kanten und f die Anzahl der Flächen ist. Diese Zahl ist unabhängig von der gewählten Zerlegung und hängt nur von der gegebenen Fläche ab (Abbildung 4).

feste Form legt die Abstände auf mengen des Raums vorgestellt ha- der Fläche – eine so genannte Rie- ben. Wichtig war aber nur die mannsche Metrik – fest, und dann Fläche per se, sowie die Längen ist auch die Krümmung wie oben und Abstände auf der Fläche. Auf beschrieben festgelegt. Deforma- diese Weise kann man ganz ab- tionen liefern dann andere dieser strakt eine Fläche mit Riemann- Abb. 2: Metriken, mit anderen Krümmun- scher Mektrik definieren, welche Auch ein gen. So kann man eine Sphäre oh- gar nicht als Teilmenge des dreidi- man auf gebogenes Blatt Papier oder ei- ne Probleme so deformieren, dass mensionalen Raums definiert wer- dem Torus eine ne Zylinderoberfläche man in der Nähe eines Pols die den kann. Betrachten wir hierzu (abstrakte) Riemannsche Metrik, hat überall die Skalar- Krümmung Null erhält, nämlich den Torus. Diesen kann man aus welche überall Krümmung Null krümmung Null, da man es verzerrungsfrei auf ei- indem man sie dort platt drückt. einem quadratischen Blatt Papier hat. Das Gauß-Bonnet-Theorem ne flache Ebene abbil- Ist eine (Gummi-)Fläche, bei- herstellen, indem man zunächst gilt auch für abstrakte Riemann- den kann. Es ist nämlich spielsweise die Sphäre gegeben, ein Paar gegenüberliegender Sei- sche Mannigfaltigkeiten, und in nur in eine Richtung ge- bogen. fragt man sich, ob durch geschick- ten verklebt – dies ist ohne Ver- der Tat hat der Torus Euler-Charak- te Deformation eine vorgegebene zerrungen möglich und ergibt ei- teristik Null. Krümmung erreicht werden kann. ne Röhre – und anschließend die Flächen sind Mannigfaltigkei- Könnte man etwa die Erdober- sich gegenüberliegenden Kreise ten der Dimension zwei. Nicht fläche so deformieren, dass über- am Ende der Röhre (Abb. 5). Um mehr vorstellbar, aber in der Phy- all Krümmung Null vorliegt, was diesen zweiten Verklebeprozess sik, bei Modellierungen und in- die Herstellung von präzisen Land- innerhalb des Raums durchzu- nerhalb der Mathematik wichtig, karten vereinfachen würde? führen, sind Verzerrungen unver- sind die analogen Objekte höhe- Das Theorem von Gauß-Bonnet meidbar. Abstrakt kann man aber rer Dimension. Diese kann man in gibt eine Antwort auf die obige die Metrik einfach unverändert der Regel nur noch durch Formeln Frage: Der Mittelwert der Skalar- lassen und muss dann akzeptie- darstellen. Die zweidimensionale krümmung für alle Punkte einer ren, dass, wenn man an einem En- Sphäre ist gegeben als Menge al- Fläche ist die Euler-Charakteristik de der Röhre angekommen ist, es ler Punkte des gewöhnlichen drei- dieser Fläche, eine Zahl, die nur nahtlos an der gegenüberliegen- dimensionalen Raums mit Koordi- von der (Gummi-)Fläche und nicht den Seite weitergeht. So erhält naten (x,y,z) und mit x2+y2+z2=1. von der Metrik abhängt. Für die Sphäre ist die Euler-Charakteristik Abb. 3: Die abgebildete Fläche wird Sattelfläche gleich 2. Damit ein Mittelwert po- Haupt- Normalen- genannt. Hier zeigen die sitiv sein kann, muss natürlich zu- krümmungs- vektor zwei Anschmiegekreise, mindest an manchen Stellen der ebenen welche in den Haupt- Fläche die Krümmung positiv sein, krümmungsebenen liegen, in entgegen- auf der Sphäre kann man also gesetzte Richtungen. nicht überall den Wert Null errei- Daher ist die Skalarkrüm- chen. Die Euler-Charakteristik des Tangential- mung negativ. Torus wiederum ist Null, sodass ebene man hier keine Metrik erhalten kann, welche überall positive Krümmung aufweist: Positive Be- reiche müssen immer durch nega- tive Bereiche »kompensiert« wer- den, um den Mittelwert Null zu erhalten. Bis jetzt haben wir nur Flächen betrachtet, die wir uns als Teil-

Georgia Augusta 6 | 2008 107 ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Abb. 4: Ein Tetraeder (welcher keine vierte Dimension mensionale Mannigfaltigkeit wie kann zu einer Sphäre zulässt) ist dies natürlich nicht beispielsweise die dreidimensio- »aufgeblasen« werden. Wegen dieser mögli- möglich; wohl aber in Gedanken. nale Sphäre oder der dreidimen- chen Deformation ist Ähnlich kann man die dreidimen- sionale Torus. die Euler-Charakteristik sionale Sphäre auch erhalten, Wichtig ist hier nun die Frage, der Sphäre gleich derje- nigen des Tetraeders. wenn man zwei ausgefüllte Ret- ob diese Mannigfaltigkeit eine Da das Tetraeder aus tungsringe (Volltori) entlang der Metrik mit überall positiver Ska- vier Ecken, sechs Kan- Ränder verklebt. Wie dies zu tun larkrümmung zulässt, weil aktuel- ten und vier Flächen aufgebaut ist, ergibt ist, zeigen die Modelle des Göt- le Messungen aus der Kosmologie sich chi=4-6+4=2. 4-6+4=2 tinger Professors Benno Artmann genau solch ein Modell verlan- in Abb. 6. gen. (Dies hängt mit der Existenz Höherdimensionale Mannig- von »dunkler Energie« zusam- faltigkeiten sind keine reine ma- men.) Manche Erweiterungen der Entsprechend definiert man die n- thematische »Spielerei«. Tatsäch- Relativitätstheorie, insbesondere dimensionale Sphäre als Menge lich ist unsere Welt ja dreidimen- die Stringtheorie, fordern sogar

der »Punkte« (x0+x1 ,..., xn) des sional, und wenn man die Dimen- noch höherdimensionale Mannig- (n+1)-dimensionalen Raums mit sion der Zeit dazu nimmt, sogar faltigkeiten als die zugrunde lie- 2 2 x0 +...+ xn =1, und es gibt den n- vierdimensional. Die allgemeine genden Modelle. dimensionalen Torus als Verwand- Relativitätstheorie beschreibt die Unabhängig von diesen Moti- ten des zweidimensionalen Torus. Welt nun als Riemannsche Man- vationen sind wir als Mathemati- Damit kann man weiterhin rech- nigfaltigkeit.3 Die physikalischen ker neugierig, welche der von uns nen, auch der Begriff der Rie- mannschen Metrik und der Ska- larkrümmung überträgt sich. Bernhard Riemann (1826 – 1846) wurde 1854 mit einem Vortrag über Es gibt eine spezielle dreidi- »Grundlagen der Geometrie« habilitiert. Wie auch bei heutigen mensionale Mannigfaltigkeit, die Habilitationsverfahren hatte er drei Themen zur Auswahl zu stellen. wir uns alle sehr gut vorstellen Damals war es üblich, dass die dritte Alternative nie genommen wurde, und Riemann war daher sehr erschrocken, als sein Dritt- können, nämlich den (unbe- vorschlag »Grundlagen der Geometrie« auf Betreiben von Carl Frie- schränkten) dreidimensionalen drich Gauß ausgewählt wurde. In kurzer, intensiver Arbeit entstand Raum, in dem wir leben. dann allerdings ein Meisterwerk: Riemann entwickelte die Grundla- Annähern können wir uns aber gen der Theorie der Mannigfaltigkeiten beliebiger Dimension und der auch anderen dreidimensionalen allgemeinen Riemannschen Metriken. Genau auf dieser Theorie ba- Mannigfaltigkeiten. Eine zweidi- sieren die allgemeinen Fragestellungen, die in diesem Artikel behan- mensionale Sphäre erhält man, in- delt werden. Abb. 5: Einen Torus er- hält man, indem man dem man zwei Scheiben – in ver- bei einem quadrati- schiedene Richtungen gewölbt – schen Blatt Papier entlang ihrer Ränder zusammen- Eigenschaften werden durch die betrachteten Mannigfaltigkeiten zunächst die linke mit der rechten Kante ver- klebt. Entsprechend kann man die Krümmung der Riemannschen (beliebiger Dimension) Riemann- klebt und dann den sich dreidimensionale Sphäre aus zwei Metrik beschrieben. Da wir in sche Metriken zulassen, sodass ergebenden oberen dreidimensionalen Kugeln erhal- Wirklichkeit nur einen kleinen die Skalarkrümmung überall posi- Kreis mit dem unteren. Führt man die zweite ten, indem man diese in verschie- Ausschnitt der Welt beobachten tiv ist. Wie wir schon gesehen ha- Verklebung »nur in Ge- dene Richtungen einer vierten Di- können, ist noch gar nicht ausge- ben, kann dies bei zweidimensio- danken« aus, erhält mension wölbt und dann an ihren macht, ob die Welt tatsächlich der nalen Mannigfaltigkeiten nur der man eine Riemannsche Metrik auf dem Torus, Rändern zusammenklebt. In der euklidische Raum ist, oder nicht Fall sein, wenn die Euler-Charak- deren Skalarkrümmung Praxis innerhalb unseres Raums vielleicht doch eine andere dreidi- teristik positiv ist. Dies war bei der überall Null ist. Sphäre der Fall, nicht aber beim Torus. Gibt es entsprechende Ein-

3 Und zwar als Riemannsche Mannigfal- tigkeit der Dimension vier, aber da die Zeit eine Sonderrolle einnimmt, be- schränkt man sich hier auf den dreidi- mensionalen »Raum«-Anteil. 4 Tatsächlich benötigt man hierzu noch zusätzlich eine so genannte Spin-Struktur, die in allen wichtigen Fällen aber auch vorhanden ist. Wir wollen außerdem nur solche Felder betrachten, die nicht über- all Null sind.

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schränkungen auch in höheren sondere Art von Vektorfeldern: die sagt, dass das A-Dach-Geschlecht Dimensionen? Dies ist tatsächlich so genannten harmonischen Spi- Null ist, wenn es keine Spinor- so. Um zu erklären, wie es funk- norfelder4. Diese erfüllen eine felder gibt. (Für dieses Theorem tioniert, brauchen wir noch weite- spezielle Differentialgleichung haben seine beiden Entdecker re Vorbereitungen. und spezielle Transformationsfor- den Abel-Preis, die höchstdotierte Zur Physik gehört nicht nur die meln. Ihre Existenz hängt von der Auszeichnung für Mathematiker, Beschreibung der Welt selbst, mo- jeweiligen Mannigfaltigkeit und der erhalten.) delliert durch den dreidimensio- Riemannschen Metrik ab. An die- Wir erkennen also zusammen- nalen Raum, oder vielleicht eine ser Stelle ergibt sich nun ein wich- fassend: Auf einer Mannigfaltig- andere, auch höherdimensionale tiger Zusammenhang mit der Ska- keit mit A-Dach-Geschlecht un- Mannigfaltigkeit. Daneben benö- larkrümmung: Die Lichnerowicz- gleich Null kann man die Rie- tigt man noch Messgrößen. Dies Formel besagt, dass es keine har- mannsche Metrik nie so deformie- sind oft so genannte Felder. Ein monischen Spinorfelder gibt, wenn ren, dass die Skalarkrümmung skalares Feld ordnet einfach je- die Skalarkrümmung überall posi- überall positiv ist. Denn könnte dem Punkt den Wert einer skala- tiv ist. Dummerweise ändert sich, man dies doch, gäbe es wegen der ren Messgröße zu. Ein einfaches auch für eine feste zugrunde lie- Lichnerowicz-Formel keine har- Beispiel ist die Temperatur. Viele gende Mannigfaltigkeit, bei De- monischen Spinorfelder. Dann physikalische Größen werden je- formation der Riemannschen Me- wäre aber auch das A-Dach-Ge- doch nicht durch eine einzelne trik die Menge und Anzahl der schlecht Null, was aber nach Vor- Zahl beschrieben, sondern als harmonischen Spinorfelder. aussetzung gerade nicht der Fall Vektoren mit einer Richtung und Analog zur Euler-Charakteristik ist. Betrachtet man den n-dimen- einer Länge. Der Wind, bestehend von Flächen gibt es für höher- sionalen Torus, eine n-dimensio- aus Windrichtung und Geschwin- dimensionale Mannigfaltigkeiten nale Variante des 2-Torus, so be- digkeit, ist eine solche Größe aus das A-Dach-Geschlecht: eine Zahl, rechnet man leider, dass das A- der Meteorologie, auch elektri- welche nur von der Mannigfaltig- Dach-Geschlecht den Wert Null sches und magnetisches Feld sind keit – und nicht etwa einer Rie- hat. Trotzdem gibt es darauf (wie von dieser Art. Hierbei spricht man mannschen Metrik abhängt – und im Fall des 2-dimensionalen allgemein von »Vektorfeldern«. zudem relativ einfach zu bestim- Torus) keine Riemannsche Metrik Auf einer Riemannschen Man- men ist. Weiter gilt das Atiyah- mit positiver Skalarkrümmung. nigfaltigkeit gibt es nun eine be- Singer-Indextheorem, welches be- Woher weiß man das?

Abb. 6: Benno Artman setzte die Zerlegung ei- ner zweidimensionalen Sphäre in zwei ausgefüll- te Tori künstlerisch um. Die Strukturen deuten an, wie die beiden »Ret- tungsringe« miteinander verklebt werden müs- sen. Dies kann innerhalb des dreidimensionalen Raums nicht durchge- führt werden, hierzu benötigt man eine vier- te Dimension.

Georgia Augusta 6 | 2008 109 ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Man kann zusätzliche Symme- eine Mannigfaltigkeit M konstru- ist. Genau das wüssten wir gerne, trien der betrachteten Mannigfal- ieren, die einerseits alpha(M)=0 denn dann kann man folgern, dass tigkeit M ausnutzen, um eine Ver- erfüllt. Andererseits, und dies war die Mannigfaltigkeit M keine Me- besserung, genannt alpha(M), von die schwierigere Aufgabe, konn- trik mit positiver Skalarkrümmung A-Dach(M) zu definieren. Alpha(M) ten wir mit anderen Methoden zulässt. Unsere Gruppe sucht des- ist allerdings keine Zahl, sondern zeigen, dass diese spezielle Man- halb einfache Kriterien dafür, dass hat eine viel kompliziertere Struk- nigfaltigkeit nicht mit einer Rie- alpha(M) ungleich Null ist. Dabei tur (diese Struktur hängt zudem mannschen Metrik mit positiver werden Methoden aus Analysis, noch von M ab). Es ist sicher vor- Skalarkrümmung versehen wer- Geometrie und Algebra kombi- stellbar, dass es sich um eine lan- den kann. Damit war die Gromov- niert. ge Folge von Zahlen handelt. Die Lawson-Rosenberg-Vermutung Lichnerowicz-Formel gilt auch für widerlegt. Zusammenfassung alpha(M): Wenn positive Skalar- Die Invariante alpha(M) ist in Wir erforschen die Frage, welche krümmung vorliegt, verschwindet Einzelfällen gut verstanden. In Mannigfaltigkeiten eine Riemann- ganz alpha(M), also jeder einzel- vielen Situationen ist sie jedoch sche Metrik mit positiver Skalar- ne Eintrag der langen Folge von ein echtes Mysterium. Oft ist noch krümmung zulassen und welche Zahlen. Weiterhin gilt, wie beim nicht einmal klar, welche Struktur nicht. Ausgehend von praktischen Atiyah-Singer-Indexsatz, dass auch alpha(M) hat. Die Frage ist unge- Aspekten der Geodäsie und moti- alpha(M) nur von der zugrunde fähr, aus wie vielen und welcher viert von der Frage der Relati- liegenden Mannigfaltigkeit ab- Art von Zahlen die oben erwähn- vitätstheoretiker und Stringtheore- hängt. Und es stellt sich heraus, te Folge besteht. Dies hängt von M tiker, welche Mannigfaltigkeiten dass alpha für den n-dimensionalen ab. Eine Antwort darauf gibt die ihren Modellen zugrunde gelegt Torus in jeder Dimension nicht Baum-Connes-Vermutung. Es ist werden können, hat sich hier ein Null ist. Wie weiter oben erläutert, ein aktives Forschungsthema un- faszinierendes Gebiet der Geome- können wir folgern, dass man auf serer Arbeitsgruppe, diese Vermu- trie entwickelt. Von Mathemati- dem n-dimensionalen Torus keine tung in Spezialfällen zu beweisen. kern wird diese Frage ganz ab- Metrik mit positiver Skalarkrüm- Aber auch alpha(M) selbst ist viel strakt untersucht und unter Benut- mung konstruieren kann. komplizierter als beispielsweise zung verschiedenster Methoden Diese Methode ist so erfolg- das A-Dach-Geschlecht. In der in vielen Fällen gelöst. Unsere reich, dass die Mathematiker für Regel kann man einer gegebenen Gruppe in Göttingen ist stolz dar- eine Weile vermutet hatten, dass Mannigfaltigkeit M nicht ansehen, auf, dazu einige wichtige Beiträge alpha(M) komplett über die Exis- ob alpha(M) verschieden von Null geleistet zu haben. tenz von Metriken mit positiver Skalarkrümmung entscheidet, dass nämlich immer dann, wenn alpha(M) = 0 tatsächlich auch ei- ne solche Metrik auf M exi- Prof. Dr. Thomas Schick, Jahrgang 1969, studierte Ma- stiert. Diese Vermutung wur- thematik und Physik an der Universität Mainz. Sein de nach ihren Proponen- Studium schloss er 1993 mit dem Diplom in Mathe- ten »Gromov-Lawson- matik ab. Im Jahr 1996 wurde er in Mainz mit einer Arbeit über »Analysis on non-compact manifolds of Rosenberg-Vermu- bounded geometry« promoviert, die mit dem Promo- tung« genannt. Un- tionspreis der Universität Mainz ausgezeichnet wurde. Von 1996 bis sere Arbeitsgrup- 2001 arbeitete Thomas Schick als wissenschaftlicher Mitarbeiter an pe konnte aller- der Universität Münster. Gefördert vom Deutschen Akademischen dings 1996 Austauschdienst (DAAD) und der National Science Foundation der USA unterbrach er diese Tätigkeit für einen Forschungsaufenthalt an der Pennsylvania State University von 1998 bis 2000. Nach seiner Rückkehr habilitierte sich Thomas Schick 2000 in Münster für das Fach Mathematik. 2001 nahm er einen Ruf an die Universität Göt- tingen als Professor für Geometrie am Mathematischen Institut an. Er war Gastprofessor in Marseille und Clermont-Ferrand (Frankreich). Prof. Schick ist Sprecher des Graduiertenkollegs »Gruppen und Geometrie« (seit 2002) sowie stellvertretender Sprecher des Gradu- iertenkollegs »Modern mathematical methods in quantum physics«. Zudem ist er Sprecher des Courant Forschungszentrums »Strukturen höherer Ordnung in der Mathematik«. Seine Forschungsschwer- punkte sind Geometrie und Topologie.

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Geographers have observed is the Euler characteristic. The lat- Geometry, on the other hand, that it is impossible to create ter does not depend on the Rie- shows that no such spinor fields maps of the earth without distor- mannian metric and is equal to can exist if the scalar curvature is tions. The reason for this is the two for the sphere. If the curva- at all points positive. curvature of the surface. Gauss tures were all zero, so would be The A-hat genus is not strong was one of the first to study this their average, which however has enough to cover all relevant cases. phenomenon and invented the to be two. Similarly, a torus cannot For example, it is zero for higher scalar curvature (also called carry a metric whose curvature is dimensional tori. Using additional Gaussian curvature) to measure it. positive at all points, as the Euler symmetries, one can construct a Mathematically, a surface is a characteristic here is zero. refined variant of the A-hat genus two-dimensional, smooth object Mathematicians now also study (called the alpha-genus). This is not without boundary. An example is higher dimensional variants of a number, but has a much more a sphere or a torus (the surface of these surfaces (called manifolds). complicated structure – like a se- a doughnut). The curvature of a They carry Riemannian metrics, quence of many numbers, depen- surface at a given point is deter- and the notion of scalar curvature ding on the manifold one starts with. mined by the radii of two ortho- generalizes, as well. These higher Mathematicians then conjec- gonal circles which are optimally dimensional manifolds can only tured that this alpha-genus is adapted to the surface. This de- be described using formulas. How- strong enough to completely de- scription uses the exterior of the ever, our world is certainly three- termine whether a manifold M surface. Gauss proved in his fa- dimensional, if one includes time carries a metric of positive scalar mous Theorema Egregium that even four-dimensional, and some curvature or not. In earlier work, one can actually determine the physical models use much higher we could show that this is not true scalar curvature internally: if the dimensions, as well. It is not yet in general (by constructing a circumference of a small of clear which manifolds best de- counterexample). However, for a given radius around the point is scribe the physical world, but many classes of manifolds it is ac- smaller than in the Euclidean plane, there are indications that it is im- tually true, and we are currently then the surface is positively curved; portant that they carry a metric involved in research to check this if it is larger, then the scalar cur- which has at all points a positive in new cases. This also requires vature is negative (for a precise scalar curvature. understanding the structure of the formula, one has to pass to a suit- As in the case of surfaces, there alpha-genus better (meaning de- able limit here). are obstructions to the existence scribing approximately how many The geometry of distances is of a metric with positive scalar numbers, and of which kind, the mathematically encoded in the curvature on a given manifold. above-mentioned sequence con- notion of Riemannian manifold. The most prominent one is the A- tains, depending on the manifold Given a surface, one can deform hat genus, which is a generaliza- M). The so-called Baum-Connes it, which means one changes the tion of the Euler characteristic to conjecture describes the structure Riemannian metric. However, one manifolds of higher dimension. It of the alpha-genus, and we are in- observes that the shape of the vanishes if a manifold admits a volved in research to prove this manifold imposes restrictions. metric with positive scalar curva- conjecture, at least in special cases. For example, one can not de- ture. This uses the Atiyah-Singer Finally, also the alpha-genus it- form the metric on a sphere such index theorem (a variant of the self is quite mysterious and hard to that its curvature is zero every- Gauss-Bonnet theorem for higher compute. Our group therefore stu- where. This follows from the dimensional manifolds) which re- dies geometric conditions which Gauss-Bonnet theorem: the aver- lates the A-hat genus to the exis- immediately imply that it is age of the curvatures at all points tence of harmonic spinor fields. not zero.

Georgia Augusta 6 | 2008 111 Kein Tempolimit für die Datenautobahn Visionen für das Internet der Zukunft

Xiaoming Fu, Dieter Hogrefe, Henning Schulzrinne

Während eine Vielzahl von Standardanwendungen der Internettechnologie fest in unser Arbeits- und Alltagsle- ben integriert ist, arbeiten Forscher intensiv an neuen Anwendungen, verbesserten Sicherheitsstandards und be- nutzerfreundlicheren Diensten. Am Göttinger Institut für Informatik kamen im Juni diesen Jahres mit Unterstüt- zung des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) etwa 20 Wissenschaftler der Columbia Univer- sity, New York, und der Georg-August-Universität zusammen, um sich über den Stand der Forschung im Be- reich Internettechnologie auszutauschen. Auf dem »1st Columbia-Göttingen Workshop on Internet Research« wurden auch für die Göttinger Forschung wichtige Themen der Internettechnologie präsentiert, die von draht- losen Technologien und Mobilkommunikation über Verkehrsanalyse und Stauvermeidungstechnologien, über Overlay und Peer-to-Peer-Netze bis hin zu Voice over IP und ortsbasierten Anwendungen reichten. Der Beitrag gibt einen Einblick in den Stand wichtiger Bereiche der Technik und stimuliert die Diskussion über Visionen des zukünftigen Internets. oto: Axel Warner, Osnabrück Axel Warner, oto: F Zunächst werden die Prinzipien auch im geschäftlichen Bereich Präsenzkontrolle erlaubt dem einer neuen Form eines Kerninter- zunehmend ersetzt. Allerdings Benutzer zu bestimmen, ob er netdienstes im Zusammenhang zielen viele der derzeitigen kom- kontinuierlich auf einer Subskrip- mit Voice over IP und den dazu- merziellen VoIP-Dienste darauf tionsbasis oder nur nach Bedarf gehörigen derzeitigen Forschungs- ab, die traditionellen, hundert Jah- verfügbar ist. Über die Präsenz- themen präsentiert. Anschließend re alten Telefondienste in einer kontrolle kann darüber hinaus be- diskutieren wir neue Transport- neuen Technologie eins zu eins stimmt werden, ob in einer be- protokolle, Stauvermeidungstech- abzubilden, statt die volle Band- stimmten Situation eine Sprach- niken und Netzarchitekturen, um breite der Möglichkeiten eines In- kommunikation oder eine textuel- zum Schluss des Beitrags auf das ternet-basierten Dienstes zu nut- le Kommunikation geeigneter ist, sehr aktuelle Thema Sicherheit im zen. Dabei kann Voice over IP so um jemanden zu erreichen. Internet, insbesondere in mobilen eingesetzt werden, dass der Be- Statt sich auf die von den Ge- Szenarien, einzugehen. nutzer zukünftig mehr Kontrolle räteherstellern oder Netzbetrei- über seine Erreichbarkeit hat und bern angebotenen Dienste zu be- Voice over IP – mehr als die flexiblere Dienste für sich nutzen schränken, erlaubt die Benutzer- Kopie des analogen Telefons kann. Vier Möglichkeiten für eine programmierbarkeit, Geräte und Voice over IP (VoIP) ist mittlerwei- attraktivere Echtzeitkommunika- Dienste den persönlichen Bedürf- le ein Kerninternetdienst, der die tion seien skizziert: Präsenzkontrol- nissen anzupassen. Das VoIP-Sys- traditionellen Formen der Telefon- le, Programmierbarkeit, Sitzungs- tem kann in einen größeren Zusam- dienste sowohl im privaten als mobilität und ortsbasierte Dienste. menhang eingebunden werden, ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

in dem Verzeichnisdienste, Web- Ortsbasierte Dienste berück- Beispiel Internetfernsehen, erfor- Dienste oder soziale Netze und sichtigen geographische Determi- dert allerdings neue Forschungs- Sensoren zur Verfügung stehen. nanten der Kommunikation. Die anstrengungen in Richtung Multi- Ein soziales Netz könnte zum Bei- Dienste können an die Gegeben- castnutzung und Staukontrolle auf spiel Auskunft darüber geben, wie heiten des Aufenthaltsortes der der Netzschicht. Folgendes sind vertrauenswürdig ein Shop ist, Kommunizierenden angepasst aktuelle Forschungsrichtungen. den man gerade anruft. Sensoren werden. Beispielsweise könnte so Durch die Einführung von Pfad- könnten den Kommunikationsvor- ein Anruf, der den Gesprächspart- diversität werden reichhaltigere gang von weiteren Einflüssen ab- ner zu nächtlicher Stunde in Japan Transportdienste sowohl für das hängig machen, zum Beispiel im erreichen würde, automatisch auf Netz selbst als auch für die End-

Winter bei niedriger Temperatur einen menügesteuerten Anrufbe- geräte ermöglicht. Mit Pfaddiver- die Zeit des Klingelns verlängern, antworter umgeleitet werden. Das sität werden die Datenpakete ei- bevor auf Anrufbeantworter um- neue location-to-service trans- nes Datenstroms auf verschiedene geschaltet wird, um so dem Be- lation protocol (LoST der IETF) ist Pfade durch das Internet aufge- nutzer die Möglichkeit zu geben, eine solche Technologie. Dieses teilt. Dadurch kann man robuste- die Handschuhe auszuziehen und Protokoll wurde beispielsweise re und belastbarere Kommunikati- in den zahlreichen Kleidungs- schon dafür eingesetzt, eingehen- onsverbindungen herstellen. Die- stücken nach dem Telefon zu su- de Notrufe an den nächstgelege- se Aspekte sind beispielsweise für chen. Die Programmierbarkeit der nen öffentlichen Notfalldienst Peer-to-Peer-Netze und Multihop- VoIP-Architektur ermöglicht es, weiterzuleiten – die Technologie Adhoc-Netze interessant, aber maßgeschneiderte Anwendungen ist dabei in der Lage, ortsspezifi- auch für Resilient Overlay Net- für Einrichtungen wie beispiels- sche Informationen auszuwerten work (RON) und GIST Overlay weise Hotels oder Arztpraxen zu und zu nutzen. Network Extension (GONE) und realisieren, ohne die VoIP-Kernin- die jüngste IETF-Initiative für frastruktur und ihre Protokolle zu Staukontrolle, Transport- und Techniques for Advanced Net- modifizieren. Routingprotokolle work Applications (TANA). Mit der Sitzungsmobilität kön- Ende-zu-Ende-Staukontrolle, Rou- Eine weitere aktuelle For- nen die laufenden Dienste und Te- ting und Transportprotokolle sind schungsrichtung sind neben dem lefongespräche unterbrechungs- in der Praxis weit verbreitet und nativen IP-Multicast die Peer-to- frei von einem Gerät zu einem tragen zum Erfolg des Internets Peer und Overlay-Multicast-Netze. anderen übertragen werden. Bei- bei. Um den neuen Anforderun- Internetfernsehen (IPTV) und an- spielsweise könnte so ein laufendes gen an Netzdienste und Anwen- dere gruppenorientierte Kom- Videotelefonat unterbrechungsfrei dungen Genüge zu tun, wurden munikationsanwendungen stellen von einem Mobiltelefon auf einen Dienstgüter- und Verkehrsfluss- neue Herausforderungen an die Desktopcomputer mit Großbild- mechanismen eingeführt, aller- effiziente Bandbreitennutzung in schirm überführt werden. Hierbei dings nur in eingeschränktem den Netzen. Während das native gibt es allerdings noch erhebliche Umfang in Form von Differentia- IP-Multicast, also die Vervielfälti- Herausforderungen zu bewälti- ted Services in den Zugangsnet- gung der Datenpakete für die ver- gen, insbesondere wenn ein platt- zen und Multi-Protocol Label schiedenen Empfänger auf Netz- formübergreifender Übergang, Switching (MPLS) zwischen Domä- ebene, zunächst als Lösung nahe wie beispielsweise zwischen zel- nen. Das Aufkommen von Pfad- liegt, zieht es allerdings eine er- lularer UMTS-Infrastruktur und diversität und neuen breitbandi- hebliche Modifikation der Netz- SIP-Infrastruktur, stattfindet. gen Formen der Netznutzung, zum infrastruktur nach sich. Dagegen

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sind zwar Peer-to-Peer- und Over- work Virtualization und PLANET- bereits einige Arbeiten zum De- lay-Lösungen weniger gut unter- Lab Projekte der Princeton und sign von Netzcodierungsprotokol- sucht, haben aber eine bessere der Washington University, das len stattgefunden haben, muss die Chance der schnellen Verbreitung Clean State Projekt der Stanford praktische Bedeutung für die da- im weltweiten Internet, weil sie University, sowie EU FP7 Trilogy durch ermögliche Leistungssteige- ohne Modifikation der Netzinfra- und 4Ward, die partiell von den rung in realen Netzszenarien er- struktur auskommen. drei Initiativen Future Internet forscht werden. Kuo und andere Bei heutigen Internetanwen- Network Design (US FIND), Glo- beschreiben, wie Netzcodierung dungen ist es immer noch mög- bal Experimentation for Network in Drahtlosnetzen den Durchsatz lich, dass Daten, die von Göttin- Instantiation (GENI) und Future für bestimmte Anwendungen er- gern nach Kassel übertragen wer- Internet Research and Experimen- heblich erhöhen kann, selbst in den sollen, ihren Weg über Da- tation (EU FIRE) unterstützt wer- verlustreichen Umgebungen. Es tennetze in den USA nehmen. Um den. Es ist allerdings zu erwarten, konnte gezeigt werden, dass das hier unnötigen Netzverkehr zu dass trotz der Notwendigkeit, Herunterladen von Dateien und vermeiden und Kosteneffizienz zu neue Internetarchitekturen zu un- die Fehlerrobustheit des Systems erreichen, beschäftigen sich neue- tersuchen, jede grundsätzliche mit Hilfe von Netzcodierung sig- re Untersuchungen auch mit der Änderung am Internet weitläufige nifikant verbessert werden kön- Integration von geographischer Experimente erfordert. Das stellt nen. Es müssen allerdings noch Ortsinformation in das Routing im Tagesbetrieb eine schwierige die Auswirkungen der NC-spezifi- zwischen verschiedenen Internet- Herausforderung dar. Daher ist es schen Parameter wie zum Beispiel anbieter. auf absehbare Zeit wahrscheinli- der Typ der Codes untersucht wer-

Netz der Zukunft cher, dass evolutionäre Weiterent- den. In neueren Arbeiten wird nun Unter den Internetforschern wird wicklungen leichter in die Praxis auch die Netzcodierung im Zu- in jüngster Zeit eine Debatte über umgesetzt werden können. sammenhang mit Sensornetzen die evolutionäre Weiterentwick- und deren Energiemanagement lung des Internets einerseits und Netzcodierung erforscht. Während das Kerninter- den so genannten Clean-Slate-Ap- Netzcodierung, oder im engli- net voraussichtlich nicht so bald proach andrerseits geführt, wobei schen Fachbegriff network coding im Hinblick auf Netzcodierung der Clean-Slate-Approach am be- (NC), ist eine neue Technologie modifiziert werden kann, wird NC sten als Tabula-rasa-Ansatz be- zur Effizienzsteigerung des Inter- im Zusammenhang mit Peer-to- schrieben werden kann, der radi- nets, die insbesondere in drahtlo- Peer und Drahtlosnetzen interes- kale Neuerungen fordert. Die Mo- sen Netzen erfolgversprechend sant, da in diesen Technologien tivation für Clean-Slate ist, dass ist. Netzcodierung erlaubt es, Da- neue Techniken leichter imple- die evolutionäre Herangehens- tenpakete an Zwischenknoten zu mentiert werden können. weise zwar einige Verbesserun- bündeln, um den Datenverkehr gen in Form von beispielsweise zu optimieren. Auf diese Weise Sicherheit in drahtlosen und Application Layer Multicast, leis- werden zwar die »Pakete« an vie- Mobilkommunikationsnetzen tungssteigernden Proxies und be- le Empfänger gleichzeitig ge- Die Sicherheit in Mobilkommuni- lastbaren Overlays bringt, aber schickt, aber nur der legitime kationsnetzen ist gut erforscht und nicht die fundamentale techni- Empfänger eines Paketes kann in die Praxis umgesetzt, sofern sche Architektur des Internets dieses auch öffnen. Netzcodie- sich der mobile Nutzer nur im berührt. Einige dieser Tabula-rasa- rung eröffnet ein interessantes Netz eines einzigen Netzbetrei- Projekte sind beispielsweise Net- neues Forschungsfeld. Während bers mit einer einzigen Zugangs-

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technologie – beispielsweise GSM Beispiel ist die Nutzung des Inter- Stand erreicht, der als sicher gel- – bewegt, oder nur ein einziger nets in den Hotels während einer ten kann, sofern ausreichend lan- Zugangspunkt im nomadischen Reise, aber nicht während der ge Schlüssel verwendet werden. Sinne genutzt wird, also zum Bei- Busfahrt selbst. Die Herausforderungen beim spiel während eines Telefonge- Im ersten Fall ist mit den stan- Thema Sicherheit im Internet lie- sprächs kein Wechsel der Geräte dardisierten Verfahren zur Benut- gen heute in anderen Bereichen, oder der Netze stattfindet. Als zerauthentifizierung und Ver- zu denen die folgenden drei zäh- nomadisch bezeichnet man ein schlüsselung auf der Luftschnitt- len, die am Institut für Informatik Benutzerverhalten, bei dem sich stelle, den so genannten A3-, A5- in Göttingen untersucht werden: der Benutzer während des Kom- und A8-Algorithmen, ein Stand Zunächst ist die oben genannte munikationsvorgangs nicht we- der Technik erreicht, zu dem es Einschränkung, Beschränkung auf sentlich bewegt, sondern eine keine bekannten Angriffe gibt. Im einen Netzbetreiber oder nomadi- Ortsverlegung nur zwischen ver- zweiten Fall, der nomadischen In- scher Netzzugang, aus heutiger schiedenen Kommunikationsvor- ternetnutzung, ist mit WPA2, EAP/ Sicht kein zukunftsfähiges Szena- gängen stattfindet. Ein einfaches 802.1x und IPSec ebenfalls ein rio mehr. Der Internetzugang wird

Zentrum für Informatik

(red.) Das Zentrum für Informatik berufsbegleitende Weiterbildungs- Informatik zusammengeführt und der Georg-August-Universität Göt- angebote durchführt. Außerdem koordinieren ihre Aktivitäten in tingen wurde im Jahr 2002 mit laufen am Zentrum für Informatik Forschung und Lehre. Es sind die dem Ziel gegründet, Forschung die Aktivitäten eines Projektes für Institute der Fakultät für Mathe- und Lehre im Bereich der Infor- Schülerstudierende zusammen: matik und Informatik, das Institut matik und ihrer Anwendungen zu Schüler verschiedener Göttinger für Informatik, die Gesellschaft für fördern. Es ist interdisziplinär und Gymnasien absolvieren erfolgreich wissenschaftliche Datenverarbei- fakultätsübergreifend organisiert. Lehrveranstaltungen der Universi- tung mbH Göttingen (GWDG) so- Das Zentrum führt Lehrveranstal- tät im Bereich Informatik. Die er- wie Einrichtungen aus den Berei- tungen zur Informatik und ihren brachten Leistungen werden im chen Bio- und Medizininformatik Anwendungsfächern durch und Studium anerkannt. Derzeit wird (Biologische Fakultät, Medizini- koordiniert insbesondere die Stu- mit Förderung des Landes Nieder- sche Fakultät), Wirtschaftsinfor- dienangebote des Bachelor- und sachsen am Zentrum für Informa- matik (Wirtschaftswissenschaftli- des Master-Studiengangs »Ange- tik ein neues englischsprachiges che Fakultät), Kartographie, GIS wandte Informatik«. Es organisiert Angebot vorbereitet: Gemeinsam und Fernerkundung (Fakultät für Forschungsprojekte und fördert mit den Universitäten Hannover, Geowissenschaften und Geogra- die Zusammenarbeit mit wissen- Braunschweig und Clausthal wird phie), Forstliche Biometrie (Fakultät schaftlichen Einrichtungen sowie der Masterstudiengang »Internet- für Forstwissenschaften und Wald- Firmen aus der Region. Die Uni- technology and Information Sys- ökologie) und Rechtswissenschaf- versität erhält insbesondere bei tems« konzipiert. ten (Juristische Fakultät). Sprecher der Einführung neuer informatik- Eine Vielzahl von Einrichtun- des Zentrums ist der Informatiker bezogener Lehrinhalte Unterstüt- gen der Universität Göttingen sind Prof. Dr. Dieter Hogrefe. zung durch das Zentrum, das auch unter dem Dach des Zentrums für

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heute von einer Vielzahl von An- so stark belastet werden, dass ihre Internet agierenden Instanzen. In bietern und Technologien ge- spärlichen Energievorräte binnen den letzten Jahren sind bereits viele währt. An jedem physischen Ort kurzer Zeit verbraucht sind. Der- »Vertrauens- und Reputationsnet- gibt es in der Regel eine oder meh- zeitige Forschungsansätze be- ze« erprobt worden, die von Ama- rere Zugangsmöglichkeiten von trachten zum Beispiel die Mög- zon, eBay und weiteren Anbietern unterschiedlichen Anbietern, zwi- lichkeit des anonymisierten Rou- betrieben werden. Gleichzeitig schen denen gewählt werden tings. Dadurch kann verhindert jedoch wird auch intensiv nach kann. Dieser Trend verstärkt sich werden, dass ein Knoten allein Manipulationsmöglichkeiten ge- in der Zukunft durch neu hinzu- Kenntnis von einer kompletten sucht. Die Auswirkungen von ma- kommende Technologien wie zum Route über mehrere »Hops« er- nipulierter Reputation und unge- Beispiel WiMAX. Bei einem Orts- langt. Somit ist das Störpotenzial rechtfertigtem Vertrauen sind öko- wechsel wird es zukünftig immer möglicher schadhafter Knoten nomisch durchaus bedeutsam, so wahrscheinlicher, dass an einem stark eingeschränkt. Diese und dass sich hier ein neues interes- neu ereichten Zugangspunkt ein weitere Szenarien stellen neue santes und wichtiges Forschungs- anderer Anbieter und sogar eine Herausforderungen an die Inter- feld auftut. andere Technologie für den Nut- nettechnologie dar und bieten in- zer günstiger ist als am alten Stand- teressante Forschungsfelder. Schlussbemerkung ort. Aus diesem so genannten In- Eine weitere Herausforderung Das Internet, das sich aus einem terdomänen-Handover ergeben an die sichere Internetnutzung, sei rein akademischen Datennetz ent- sich jedoch erhebliche Sicher- sie mobil oder stationär, stellt die wickelt hat, bietet heute eine Men- heitsfragen, insbesondere dann, sogenannte »weiche« Sicherheit – ge von Möglichkeiten wie Voice wenn das Handover in Millise- im englischen Fachbegriff Soft Se- over IP und Multimediadatenaus- kunden stattfinden muss, um eine curity genannt – dar. Unter »har- tausch. Während die gegenwärtige bestehende Kommunikationsver- ter« Sicherheit fasst man die her- Internetarchitektur durch Clean- bindung unterbrechungsfrei auf- kömmlichen Mechanismen zur Slate-Alternativen und neue Para- rechterhalten zu können. Im EU- Benutzerauthentifizierung oder digmen wie Netzcodierung in Fra- Projekt »Daidalos« werden unter Verschlüsselung zusammen. Im ge gestellt wird, werden aus ver- anderem zusammen mit rund 40 Wesentlichen werden dadurch schiedenen Gründen voraussicht- weiteren Partnern solche neuen Datenbestände vor unberechtig- lich evolutionäre Technologien, Szenarien untersucht und Lösun- tem Zugriff und Manipulation ge- die die Internetarchitektur nicht gen erarbeitet. schützt sowie abhörsichere Kom- grundsätzlich umstoßen, einen Ein zweiter Bereich sind die munikation ermöglicht. Was nützt größeren Einfluss auf die Wei- mobilen Ad-hoc-Netze, zum Bei- allerdings die sicherste Kommuni- terentwicklung haben. Daneben spiel in Form von Sensornetzen. kationsverbindung, wenn der Kom- zeigt sich, dass mit der zuneh- Darunter versteht man autonom ar- munikationspartner ein Betrüger menden Nutzung des Internets bei beitende und sich selbst organisie- ist? Die weiter gehende Fragestel- neuen Anwendungen Sicherheits- rende Netze aus kleinsten Rech- lung ist die nach der Vertrauens- aspekte wichtig werden, insbe- nerknoten mit Sensoren, für die es würdigkeit und Reputation der im sondere in mobilen Szenarien. vielfältige Anwendungsmöglich- keiten gibt. Insbesondere in der

Umweltbeobachtung wird den Literatur (Auswahl): Sensornetzen großes Potenzial H. Schulzrinne and J. Rosenberg, Internet Telephony: architecture and protocols – an IETF zugesprochen. Wenn man davon perspective, Computer Networks, 31(3): 237-255, Feb 1999 ausgeht, dass solche kleinen Sen- J. Rosenberg, SIMPLE made Simple: An Overview of the IETF Specifications for Instant Mes- sorknoten zukünftig kilometerlan- saging and Presence using the Session Initiation Protocol (SIP), IETF draft-ietf-simple-simple- 03, July 2008. ge Gas- und Ölleitungen beob- R. Shacham, H. Schulzrinne, S. Thakolsri and W. Kellerer, Session Initiation Protocol(SIP) Ses- achten und auf Schadstellen kon- sion Mobility, IETF draft-shacham-sipping-session-mobility-05, IETF, Nov 2007. trollieren, dann wird klar, dass die A. Forte and H. Schulzrinne, Classification of Location-based Services, IETF draft-forte-ecrit- Sicherheit solcher Netze ein wich- service-classification-00, May 2008. tiger Aspekt ist. Da sich die Ad-hoc- T. Hardie, A. Newton, and H. Schulzrinne, H. Tschofenig, LoST: A Location-to-Service Trans- lation Protocol, IETF RFC 5222, Aug 2008. Netze selbst organisieren, sind J. Lei, X. Fu, and D. Hogrefe, DMMP: A New Dynamic Mesh-based Overlay Multicast Pro- neue Formen des Angriffs denk- tocol Framework, IEEE 1st Workshop on Peer-to-Peer Multicasting (P2PM 2007). bar. »Hackerknoten« könnten die F.-C. Kuo, K. Tan, X.-Y. Li, J. Zhang, and X. Fu, Network coding-aware fair opportunistic sche- Netze infiltrieren, den Verkehr be- duling in wireless networks, IFI Tech. Report, University of Göttingen, August 2008 obachten und manipulieren, oder O. Alfandi, H. Brosenne, P. Chamuczynski, D. Hogrefe, C. Werner, Performance Evaluation of PANA Pre-Authentication and PANA Context Transfer, in Proceedings of the Fourth inter- auch nur dafür sorgen, dass die national Conference on Wireless and Mobile Communications (ICWMC, July 27 – August 01, »guten« Sensorknoten absichtlich 2008). IEEE Computer Society, 2008

Georgia Augusta 6 | 2008 117 ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Selected research fields on Internet technologies as well as open issues and ongoing Prof. Dr. Dieter Hogrefe, Jahrgang 1958, studierte Ma- topics are presented as a result of thematik und Informatik an der Universität Hannover the discussions in the 1st Columbia- und wurde 1985 dort promoviert. Von 1983 bis 1986 war er als Mitarbeiter im Forschungszentrum der Sie- Göttingen Workshop on Internet mens AG in München tätig. Nach Professuren an den Research. Following a top-down Universitäten Dortmund, Bern und Lübeck sowie län- approach, this article is organized geren Gastaufenthalten an der UC Berkeley und der Hamilton Uni- as follows: First we discuss a new versity (beide USA) folgte er 2002 einem Ruf an die Georg-August- type of core Internet service, VoIP, Universität Göttingen auf eine Professur für Praktische Informatik. including its principles, current Prof. Hogrefe leitet in Göttingen das Institut für Informatik und ist research, and future directions. Sprecher des Zentrums für Informatik. Seine Forschungsinteressen This section describes the core liegen im Bereich der Computernetze, mit Schwerpunkten in der principles of VoIP and how VoIP mobile Kommunikation und Kommunikationssicherheit. Er hat zahl- can be enhanced to provide more reiche Bücher und Publikationen zur Internettechnologie veröffent- user control over reachability, licht. Prof. Hogrefe ist seit 1995 Chairman des Technical Committee Methods for Testing and Specification im European Telecommuni- more flexible services and trans- cation Standards Institute (ETSI) parent mobility for tomorrow. We then present the transport proto- cols, congestion control and future network architectures. The emer- gence of path diversity and new Prof. Dr. Henning Schulzrinne, Jahrgang 1961, stu- network usage scenarios (e.g. da- dierte an den Universitäten Darmstadt (Vordiplom), ta centres, IPTV) is expected to en- Cincinatti (M.Sc) und Amherst in Massachusetts able a number of new research di- (Ph.D). Von 1992 bis 1994 war er bei AT&T Bell La- rections utilizing not only path di- boratories in Murray Hill, New Jersey (USA), und von versity but also multicast and net- 1994 bis 1996 bei GMD Fokus in Berlin beschäftigt. Seit 1996 ist er Professor und derzeit Direktor des Computer Science work-level congestion control. Department an der Columbia University, New York (USA). Sein be- After that we discuss another sonderes Interesse gilt Fragen der Dienstqualität von Echtzeitdiens- emerging topic, network coding. ten im Internet. Er hat an der Entwicklung des Echtzeittransportpro- Network coding (NC) is a new tokolls RTP und der Protokolle SIP and RTSP mitgewirkt. Prof. technology to allow and encoura- Schulzrinne ist Editor des Journal of Communications and Networks, ge mixing of data at intermediate der IEEE Transactions on Image Processing und der IEEE/ACM Tran- network nodes. This can result in sactions on Networking und war früher Editor des IEEE Internet significant performance gains, in Computing Magazine. Er leitet das IEEE Communications Society particular in wireless networks. Technical Committee on Computer Communications und ist Vorsit- This section is followed by selec- zender der Programmausschüsse der Konferenzen Global Internet, ted issues related to security in Infocom, NOSSDAV und IPtel. Im Augenblick ist er Mitglied des IAB (Internet Architecture Board). mobile wireless networks. While the security in single service pro- vider scenarios is well understood and technology is in place that well protects the users, the security Prof. Dr. Xiaoming Fu, Jahrgang 1973, studierte Com- in multi-service provider environ- puterwissenschaften an der Tsinghua University in Pe- ments is a major challenge. That is king (China) und schloss seine Studienzeit im Jahr even more the case when we 2000 mit dem Ph.D. ab. Als Forschungsassistent war move from nomadic mobility to er anschließend an der TU Berlin tätig und wechselte full mobility. Another challenging im Jahr 2002 an die Universität Göttingen. Nach meh- topic is the security of ad hoc net- reren Rufen unter anderem an Universitäten in Schweden und Dä- nemark nahm er 2007 einen Ruf an die Georgia Augusta auf eine C3- works such as sensor networks, Professur an. Seine Forschungsinteressen umfassen Netzwerkarchi- that are used, for example, in home tekturen, mobile Kommunikation und Service Overlays. Er war maß- automation. Finally we discuss geblich an der Ausrichtung internationaler Konferenzen – INFO- the issue of soft security, i.e. the COM, ICNP, ICDCS und MobiArch – beteiligt. Prof. Fu engagiert sich usage of social networks to gain als Herausgeber von Sonderpublikationen und als technischer Bera- trust in a computing and com- ter in der IEEE Communications Society und ist Mitglied des Her- munication environment. ausgebergremiums des Elsevier Computer Communications Journal.

118 Universität Göttingen Informationsspezialisten am Werk Die Göttinger Universitätsbibliothek und ihr Sondersammelgebiet »Reine Mathematik«

Katharina Habermann

An der Georgia Augusta als Gründung der Aufklärungszeit spielte die Mathematik als Grund- lagenwissenschaft von Anfang an eine entscheidende Rolle. Bedeutende Mathematiker, die in Göttingen lehrten und forschten, bemühten sich auch um eine verbesserte Ausstattung der Bib- liotheken. Besonders hervorzuheben sind die Aktivitäten Felix Kleins (1849 – 1925), dem die Gründung des Mathematischen Lesezimmers im Jahre 1886 zu verdanken ist und der sich in- tensiv um die Mehrung der mathematischen Literatur der Universitätsbibliothek und die dafür notwendigen finanziellen Mittel bemühte. Heute sind die Bestände an mathematischer Litera- tur und Medien enorm gewachsen. Fachleute, die in der Mathematik ebenso bewandert sind wie in den modernen Bibliotheks- und Informationswissenschaften, stehen den Wissenschaftlern zur Seite, um ihnen einen Pfad durch die beeindruckenden aktuellen und historischen Bestände der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (SUB) zu weisen. Denn nur wer in der Mathematik weiß, welche Fragestellung bereits wie und von wem bearbeitet wurde, kann sich gesichert neuen Forschungsfragen zuwenden.

Foto: Gisa Kirschmann-Schröder ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Bereits seit ihrer Gründung im Jah- 20. Jahrhundert beteiligten sich vante Publikation, sei es ein Fach- re 1734 wurde an der Göttinger überregionale Geldgeber an der buch oder ein Artikel in einer wis- Universitätsbibliothek die mathe- finanziellen Förderung zum Aus- senschaftlichen Fachzeitschrift, in matisch-naturwissenschaftliche bau des mathematischen Litera- mindestens einem Exemplar in Forschungsliteratur mit besonde- turbestandes in Göttingen: zum Deutschland vorhanden ist. Für rer Intensität gesammelt und so Beispiel Stiftungen amerikanischer dieses System spricht die Tatsa- frühzeitig der Grundstein ihrer und deutscher Industrieller oder che, dass die weltweite wissen- heute wertvollen historischen ma- die im Jahre 1920 gegründete schaftliche Literaturproduktion so thematischen Bestände gelegt. »Notgemeinschaft der Deutschen gewaltig ist, dass keine Bibliothek Schon im 19. Jahrhundert be- Wissenschaft« zur Minderung der mehr in der Lage ist, sämtliche für merkte Carl Friedrich Gauß in ei- finanziellen Auswirkungen des die Forschung relevante Literatur nem Brief: »Ich habe die Biblio- Ersten Weltkrieges auf den Wis- aller Fächer zu erwerben. Im Son- thek gesehen, und ich verspreche senschaftsbetrieb. dersammelgebietsprogramm der mir davon einen nicht geringen DFG haben daher 23 deutsche Beitrag zu meiner glücklichen Exi- Sondersammelgebiet Bibliotheken, die für bestimmte stenz in Göttingen«. Auch zu Be- »Reine Mathematik« Fächer bereits große Spezialbe- ginn des 20. Jahrhunderts spielte Nach dem zweiten Weltkrieg stände besitzen, einen umfassen- die Bibliothek eine wichtige Rolle wurde die Göttinger Universitäts- den Sammelauftrag. Sie erwerben im engen Wechselspiel mit der bibliothek im Jahre 1949 in das die weltweit publizierte wissen- Wissenschaft. Insbesondere am System der überregionalen Litera- schaftlich relevante Literatur mög- Beispiel der Mathematik wird turversorgung der Deutschen For- lichst vollständig und stellen sie deutlich, wie sich die Bedeutung, schungsgemeinschaft (DFG) ein- über Fernleih- und Kopierdienste welche die Göttinger Mathematik bezogen. Hier betreut die SUB im der Wissenschaft zur Verfügung. weltweit erlangte, im Bestand der Auftrag und mit beachtlicher För- Die SUB Göttingen betreut neben Bibliothek widerspiegelt. derung der DFG unter anderem der »Reinen Mathematik« 16 wei- Felix Kleins engagierte Bemü- das Sondersammelgebiet »Reine tere Sondersammelgebiete. hungen, Göttingen zu einem Zen- Mathematik«. Die Wahl fiel auf Als Sondersammelgebietsbib- trum der Mathematik zu machen, Göttingen, einerseits weil der ma- liothek für die »Reine Mathema- waren eng mit verschiedenen or- thematische Bestand ohne Verlus- tik« ist Göttingen an zahlreichen ganisatorischen Aktivitäten ver- te über den Krieg gerettet werden Aktivitäten, Neuentwicklungen knüpft, die eine Ausgestaltung des konnte und andererseits, weil die und Projekten der Informations- mathematischen Bibliothekswe- Universitätsbibliothek neben der versorgung für die Mathematik be- sens sowohl in Göttingen als auch Literaturversorgung vor Ort schon teiligt. Ziel ist dabei immer, die In- überregional zum Ziel hatten. So immer die Verantwortung für eine formationsversorgung für alle Ma- konnte er unter anderem beim zu- nationale Versorgung mit wissen- thematiker in Deutschland zu ver- ständigen Ministerium eine Auf- schaftlicher Fachliteratur wahrge- bessern. Aus diesen Projekten ha- stockung der Gelder für die Göttin- nommen hatte. Auch spielte die ben sich mittlerweile zahlreiche ger Universitätsbibliothek im Be- überaus reiche wissenschaftliche Serviceleistungen entwickelt, die reich der Mathematik erreichen. mathematische Tradition eine Rol- deutschlandweit intensiv genutzt Klein war es auch, der Anfang des le, sodass das Sondersammelgebiet werden. 20. Jahrhunderts die Gründung ei- »Reine Mathematik« in Göttingen ner mathematischen Zentralbib- eine angemessene Heimat fand. Mathematische Erkenntnisse liothek für Deutschland in Göttin- Das Sondersammelgebietspro- von dauerhafter Gültigkeit gen anregte. Diese Bemühungen gramm sorgt über einen verteilten Die Mathematik, insbesondere hatten jedoch wegen fehlender fi- Fachgebietsplan dafür, dass mög- die reine Mathematik, ist eine nanzieller Mittel keinen Erfolg. Im lichst jede wissenschaftlich rele- Wissenschaft, die weithin ohne

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technische Hilfsmittel ausgeführt werden kann. Viele Mathematiker betonen, dass sie mit Bleistift und Papier beziehungsweise Kreide und Tafel bereits alles Notwendige zum Aufschreiben und Diskutie- ren ihrer Gedanken und Ideen ha- ben und ihre Forschung betreiben können. Doch die Überprüfung, ob andere Berufskollegen die be- treffende Fragestellung schon be- arbeitet haben und welche Ergeb- nisse davon vorliegen, bildet eine weitere notwendige Vorausset- zung. Daher sind Aufsätze, Zeit- schriften, Bücher, Konferenzbe- richte und Referateorgane seit Langem ein wichtiges Hand- werkszeug. Hier kommt die Rolle der Bib- liothek als Informationsfundus und Arbeitsmittel für die Mathe- matik ins Spiel. Ein weiteres spe- zifisches Merkmal der Mathema- tik ist die Tatsache, dass einmal gewonnene richtige Erkenntnisse für immer ihre Gültigkeit behal- Rechenbuch von Adam ten, wogegen in vielen anderen Ries, zweite Auflage Wissenschaften neue Erkenntnisse »Rechnung auf den Linien und Federn« nach wenigen Jahren überholt aus dem Jahr 1531. sind. Deshalb ist es notwendig, Handschriftensammlung immer bessere Möglichkeiten zur der Niedersächsischen Staats- und Universitäts- Bewältigung des außerordentlich bibliothek Göttingen vielfältigen und immer umfangrei- cheren Informationsangebotes in der Mathematik zu schaffen und reiche neue Informationsangebote Informationsspezialisten als alle Erkenntnisse der Mathematik entstanden. Dabei ist das heutige Partner der Wissenschaft aktuell zugänglich zu halten. Das Spektrum von Fachinformations- Wie kommen Mathematiker an wachsende mathematische Wis- ressourcen seinem Wesen nach die für sie »richtigen« Informatio- sen ist dabei seit Langem nicht nur ein so genanntes »hybrides Ange- nen, also an die Informationen, in den traditionellen Printmedien bot«, das heißt konventionelle, die benötigt werden, um im Vor- wie Büchern, Zeitschriften, Ta- vor allem gedruckte, und rein feld ein Forschungsthema um- gungs- und Forschungsberichten elektronische Elemente stehen reißen oder um im fortgeschritte- verzeichnet; vielmehr sind durch gleichberechtigt nebeneinander nen Stadium zielgerichtet bear- moderne Medienformen und ins- und sind auf vielfältige Weise mit- beiten zu können? Hier sind die besondere durch das Internet zahl- einander verknüpft. Mitarbeiter im Fachreferat einer

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wissenschaftlichen Bibliothek als Informationsspezialisten gefor- Das Zentralarchiv für Mathematiker-Nachlässe an der dert. Klassisches Aktionsfeld im Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen Rahmen eines vielschichtigen Aufgabenspektrums sind der Auf- Die Göttinger Mathematiker Carl Friedrich Gauß (1777 – 1855), Bern- bau, die Pflege und Erschließung hard Riemann (1826 – 1866), Felix Klein (1849 – 1925) und David sowie die Vermittlung des Litera- Hilbert (1862 – 1943) gehören zu den zahlreichen bedeutenden Ge- turbestandes, der traditionell so- lehrten, deren Nachlässe an der Niedersächsischen Staats- und Uni- wohl Bücher als auch Zeitschrif- versitätsbibliothek Göttingen (SUB) gesammelt, erschlossen und den ten umfasst und in zunehmendem Nutzern der Bibliothek zur Verfügung gestellt werden. Dabei besteht Umfang eine Vielzahl neuer Me- der Nachlass einer Person aus überliefertem Archivgut: Schriftstücke dien einschließt. Dies sind bei- wie zum Beispiel Urkunden, Werke, Notizen, Korrespondenzen oder spielsweise wissenschaftliche In- andere Lebensdokumente, Fotos usw. die sich auf die betreffende Per- formationsquellen, die nicht text- son beziehen oder aus ihrem Besitz stammen. Da solche Unterlagen basiert sind, wie Filme oder Bilder, von Wissenschaftlern, Künstlern oder Schriftstellern sowohl das per- verschiedenste elektronische Medi- sönliche Leben als auch die berufliche Tätigkeit betreffen, stellen sie en oder Online-Informationsange- wertvolles Quellenmaterial für die Wissenschafts- und Kulturge- bote. Dieser Medienbestand bildet schichte dar. Sie bilden die Basis dessen, was auch in Zukunft über in seiner Gesamtheit die materielle unsere Gegenwart Auskunft geben wird. Traditionell werden diese Basis für sämtliche bibliothekari- einzigartigen Materialien in Archiven, Bibliotheken, Forschungsein- schen Dienste und Angebote. Die richtungen und Museen aufbewahrt. Fachreferenten sind insbesondere für die Auswahl und sachliche Er- Für die Mathematik erkannte bereits Felix Klein die Bedeutung un- schließung des umfangreichen veröffentlichter Schriftstücke namhafter Fachkollegen und begründe- Bestandes zuständig. Dabei hat te seinerzeit das so genannte Mathematiker-Archiv mit dem Ziel, Ma- die Sacherschließung mit Blick nuskripte und Briefe angesehener Berufsgefährten zu sammeln. Die- auf die Digitale Bibliothek gewal- se größte und bedeutendste Sammlung mathematischer Nachlässe in tig an Bedeutung gewonnen, wol- Deutschland bildete dann die Grundlage des Zentralarchivs für Ma- len doch Wissenschaftler in ihren thematiker-Nachlässe, das 1992 auf Basis eines Kooperationsvertra- Informationsplattformen vor allem ges zwischen der Deutschen Mathematiker-Vereinigung und der Uni- auch nach fachlichen Kriterien re- versität Göttingen an der Universitätbibliothek eingerichtet wurde. cherchieren können. Zur sachli- chen Erschließung kann man im Dieses Archiv fungiert für die Mathematik als die zentrale Stätte, an Fachreferat insbesondere auf Ins- der Nachlässe von Mathematikerinnen und Mathematikern kompe- trumente zurückgreifen, die im tent aufbewahrt, organisiert und verfügbar gemacht werden. Kontext der Bibliothekslandschaft Grundsätzlich bemüht sich das Zentralarchiv um die Bewahrung mit einer langen Tradition aufge- sämtlicher Mathematiker-Nachlässe und nimmt sie aus allen Orten baut worden sind und an deren an, wenn dem nicht sonstige Belange entgegenstehen und vor Ort Pflege und Weiterentwicklung kein Interesse an einer Übernahme besteht. Auch Nachlässe von in- auch heute gemeinschaftlich und ternational wirkenden Mathematikern, die keiner Universität oder In- kontinuierlich gearbeitet wird. All stitution zugerechnet werden können, finden in Göttingen einen an- dies dient dazu, die Informations- gemessenen Aufbewahrungsort. Das Zentralarchiv für Mathematiker- angebote zu strukturieren und den Nachlässe umfasst mittlerweile einen Bestand von gut 50 Nachlässen Wissenschaftlern eine fachlich- und einigen weiteren Sammlungen. Es trägt so in erheblichem Maße inhaltliche Orientierung im Infor- dazu bei, auch für die Zukunft wichtige mathematikhistorische Quel- mationsdschungel komplexer In- len zu sichern und der Wissenschaftsgeschichte verfügbar zu machen. halte zu ermöglichen. Seit Gründung des Zentralarchivs für Mathematiker-Nachlässe fördert Mathematik in elektronischen die Akademie der Wissenschaften zu Göttingen die Katalogisierung. Medien erfordert Informations- Unter dem Dach der Virtuellen Fachbibliothek Mathematik werden kompetenz diese Informationen über die Manuskripte, Notizen, Fotos, Briefe, Ur- Im Kontext der wissenschaftlichen kunden, Gutachten etc., die im Archiv vorhanden sind, für die Ma- Fachinformation haben darüber thematik fachspezifisch zusammengeführt und in alphabetischer hinaus in den letzten Jahren Auf- Ordnung bereitgestellt. gaben immer stärker an Bedeutung gewonnen, die in den Bereich der http://www.vifa-math.de/zamn/ wissenschaftlichen Information

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und Kommunikation fallen. Stu- ersten Digitalisierungsprojekte. In unbegrenzte Gültigkeit mathema- dierenden und Wissenschaftlern diesem Projekt wurde 1997 am tischer Forschungsresultate sowie ist man als Fachreferentin nicht Göttinger Digitalisierungszentrum die ausgeprägte Abhängigkeit ma- nur bei konkreten Einzelrecher- mit dem Aufbau eines Archivs thematischer Forschung von zu- chen behilflich, sondern vermit- forschungsrelevanter mathemati- vor erzielten Resultaten. Das macht telt ihnen auch Informationskom- scher Texte begonnen, dem »Elec- eine retrospektive Digitalisierung petenz, die zur optimalen Nutzung tronic Research Archive for Ma- von Altbeständen besonders nütz- des umfassenden Informations- thematics«. Derzeit enthält das lich. Dabei spielen für die aktuel- angebotes notwendig ist. Speziell Archiv eine über eine Million Sei- le Forschung auch weit in die Ver- für Studierende mathematischer ten umfassende Sammlung so ge- gangenheit zurückreichende ma- Studienfächer an der Göttinger nannter Retrodigitalisate, das thematische Veröffentlichungen

Foto: Gisa Kirschmann-Schröder

Universität wurde unter dem Titel heißt eine Auswahl eingescannter eine bedeutende Rolle. Daher hat »Mathematics Information Servi- vor allem historischer Texte. Die die SUB Göttingen großes Interes- ces and Electronic Publishing« ein mathematischen Monographien se daran, ihren mathematischen Modul zur Vermittlung fachspezi- und Zeitschriften stehen über das Altbestand zu digitalisieren, vor fischer Informationskompetenz Internet weltweit kostenfrei zur allem zum Thema reine Mathe- im Bereich Schlüsselqualifikatio- Verfügung. Hier findet man nicht matik. Mit ihren Digitalisierungs- nen in den Curricula der Bachelor- nur die gesammelten Werke von aktivitäten in der Mathematik ist und Master-Studiengänge veran- Carl Friedrich Gauß und David die SUB Göttingen eingebunden in kert. Bei all diesen Aktivitäten ist Hilbert, sondern beispielsweise die »Digital Mathematics Library« die Kenntnis der und die Einbin- auch die Habilitationsschrift von (DML). Damit kann sie gegenwär- dung in die jeweiligen Fächerkul- Bernhard Riemann oder die Dok- tig die umfangreichsten Sammlun- turen eine gute Chance, fachspe- torarbeit von Emmy Noether. Im gen digitalisierter mathematischer zifisch passgenaue Serviceange- Rahmen dieses Projektes wurde Texte überhaupt anbieten. Die bote entwickeln und ausbauen zu außerdem das mathematische Re- DML ist ein ambitioniertes inter- können. zensionsorgan »Jahrbuch über die nationales Vorhaben, in das sich Im Rahmen der überregionalen Fortschritte der Mathematik« zeit- alle lokalen Initiativen und Projek- Projektaktivitäten für die Mathe- gerecht aufgearbeitet und in einer te einordnen. Es ist der weltweite matik hat sich eine große Vielfalt Datenbank erfasst. Versuch, sämtliche gedruckte Fach- und Anwendungsbreite entwickelt. literatur in der Mathematik voll- Ein nennenswertes und erfolg- Retrospektiv digitalisieren: ständig retrospektiv zu digitalisie- reich etabliertes Projekt ist der Göttingen führend bei historischer ren und gemeinsam mit bereits elektronische Fachinformations- mathematischer Literatur elektronisch hergestellten Publi- führer MATHGUIDE, der seit sei- In dem Spektrum zahlreicher Akti- kationen über einen einheitlichen nem Aufbau ständig weiterent- vitäten, welche Bibliotheken seit Zugang im Internet bereitzustellen. wickelt, kontinuierlich durch neue Mitte der 1990er Jahre im Bereich In diesem Rahmen wurde von Inhalte ergänzt und gegenwärtig der elektronischen Informations- der SUB Göttingen in dem deutsch- als Modul in die Virtuelle Fachbi- versorgung entfalten, stellt diese russischen Kooperationsprojekt bliothek Mathematik integriert retrospektive Digitalisierung von »Russian Digital Mathematics Li- wird. Ein weiteres erfolgreich rea- Bibliotheksbeständen einen we- brary« (RusDML) auch ein digita- lisiertes Projekt ist das ERAM-Jahr- sentlichen Teilbereich dar. Ein les Kernarchiv russischsprachiger buch-Projekt, eines der weltweit Spezifikum der Mathematik ist die Zeitschriftenartikel geschaffen,

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2002 als kooperative Initiative in- ternationaler wissenschaftlicher Kurzübersicht über die genannten Projekte Bibliotheken, dem Springer-Ver- lag Heidelberg und der »Europäi- MATHGUIDE schen Mathematischen Gesell- http://www.mathguide.de/ schaft« (EMS) gegründet wurde. DFG-Projekt, Förderzeitraum 1996 – 1999 Erklärtes Ziel dieser Initiative ist Aufbau eines elektronischen Fachinformationssystems und Katalogi- es, die wissenschaftliche Literatur sierung internetbasierter Informationsressourcen für das Sondersam- in der Mathematik langfristig zu melgebiet »Reine Mathematik« sowie deren Aufbereitung für die An- archivieren. Im Rahmen dieser Ini- sprüche wissenschaftlicher Recherche. tiative hat Göttingen im Oktober ERAM-Jahrbuch-Projekt 2007 den Vorsitz übernommen. http://www.emis.de/MATH/JFM/ Die Aktivitäten der Göttinger DFG-Projekt, Förderzeitraum 1997 – 2005 Bibliothek auf dem Gebiet der In- Retrospektive Digitalisierung forschungsrelevanter mathematischer formationsversorgung für die Ma- Texte aus den Altbeständen der SUB Göttingen (»Electronic Research thematik mündete schließlich in Archive for Mathematics«/ERAM) und Aufbau einer Datenbank, ba- den laufenden Aufbau der »Virtu- sierend auf dem Referateorgan »Jahrbuch über die Fortschritte der ellen Fachbibliothek Mathema- Mathematik (1868 – 1943)« tik«. Seit 2005 koordiniert die SUB Göttingen mit Unterstützung RusDML der DFG den Aufbau dieser digi- http://dms.rusdml.de/ DFG-Projekt, Förderzeitraum 2004 – 2007 talen Bibliothek. Als zentrales Ein- Deutsch-russisches Kooperationsprojekt (»Russian Digital Mathema- stiegsportal für die Recherche nach tics Library«/RusDML) zur retrospektiven Digitalisierung und zum mathematisch relevanter Fachin- Aufbau eines digitalen Kernarchivs russischsprachiger Zeitschriften- formation soll sie es ermöglichen, artikel in der Mathematik. unter einer Suchoberfläche sowohl nach konventionellen Medien- Massendigitalisierung Mathematik formen (zum Beispiel gedruckten http://gdz.sub.uni-goettingen.de/ Büchern) als auch nach elektroni- DFG-Projekt, Förderzeitraum 2008 – 2009 schen Ressourcen (zum Beispiel Retrospektive Digitalisierung des gesamten historischen Bestandes Internetseiten) zu recherchieren. der SUB Göttingen an mathematischen Texten bis einschließlich 1900. Mit dieser Bündelung bislang ver- EMANI streuter Fachinformationen wer- http://www.emani.org/ den vormals zeitaufwändige Ein- gegründet 2002 zelrecherchen zu einer einzigen »Electronic Mathematics Archives Network Initiative« – kooperative Suchanfrage zusammengefasst Initiative zur Langzeitarchivierung und Langzeitverfügbarkeit mathe- und so wesentlich erleichtert. matischer Inhalte in digitaler Form. Die Konzeption und der Inter- netauftritt wurden mit Unterstüt- Virtuelle Fachbibliothek Mathematik zung der Deutschen Forschungs- http://www.vifa-math.de/ gemeinschaft in Göttingen ent- DFG-Projekt, Förderzeitraum 2005 – 2009 wickelt und realisiert. Der weitere Zentrales Einstiegsportal für die Recherche nach mathematisch rele- Ausbau erfolgt in enger Koopera- vanter Fachinformation. tion mit weiteren wichtigen Anbie- tern mathematischer Fachinfor- mation: der Technischen Informa- tionsbibliothek Hannover, welche das bedeutende mathematische 1900 retrospektiv zu digitalisieren. das Sondersammelgebiet »Ange- Forschungsliteratur, die zuvor aus- Die Göttinger Bibliothek arbeitet wandte Mathematik« betreut, und schließlich gedruckt beziehungs- dabei eng mit anderen Institutio- dem Fachinformationszentrum weise an nur wenigen Bibliothe- nen und Projekten zusammen, die Karlsruhe/Abteilung Mathematik ken außerhalb Russlands einseh- auf dem Gebiet der retrospektiven Berlin, welches gemeinsam mit bar war, frei verfügbar macht. Digitalisierung für die Mathematik der Heidelberger Akademie der Schließlich verfolgt die Bibliothek aktiv sind. Insbesondere unter Wissenschaften und der »Europe- zurzeit das Vorhaben, ihren ge- dem Dach der »Electronic Mathe- an Mathematical Society« das Re- samten historischen mathemati- matics Archives Network Initiati- ferateorgan »Zentralblatt MATH« schen Bestand bis einschließlich ve« (EMANI), welche im Jahre herausgibt.

124 Universität Göttingen MATHEMATIK SCHAFFT WISSEN

Ausblick und Perspektiven The Göttingen State and Angesichts einer immer weiter University Library has been wachsenden Fülle von Informati- an innovative information centre onsquellen und -systemen bei for the University of Göttingen weiterem technologischen Fort- since its founding in 1734. In a schritt in den Recherche-Hilfsmit- cooperative system of nationwide teln wird neben der dauerhaften supply of literature the library is in Verantwortung für einen kontinu- charge of several special subject ierlichen Bestandsaufbau die akti- collections, especially of »pure ve Vermittlung von Informations- mathematics«. As a subject spe- kompetenz für Studierende und cialist in an academic library one Wissenschaftler weiter an Bedeu- has a wide range of responsibili- tung gewinnen. Dies bezieht sich ties, from collection building and auf alle Facetten gegenwärtiger subject cataloguing to project und zukünftiger Informationsres- management, and as an informa- sourcen und Medientypen. Darü- tion professional one provides ac- ber hinaus birgt das Fachreferat curate and up-to-date information generell mit den hier tätigen Fach- services. Since the rapidly in- informationsspezialisten das Po- creasing importance of the Inter- tenzial für eine qualitativ neuarti- net for scientific information and ge Integration in die Forschung – communication and the techni- auch und insbesondere unter den cal development of new media Vorzeichen der Exzellenzinitiati- systems have changed the general ve. Dabei stellen Informationsspe- conditions of scientific publishing zialisten professionelles Know- in a significant way, there is signifi- how bereit und werden zukünftig cant opportunity to contribute to in die Forscherteams deutlich en- future scholarly communi- ger eingebunden sein. cations.

Privatdozentin Dr. Katharina Habermann, Jahrgang 1966, begann ihre wissenschaftliche Laufbahn an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sie besuchte an die- ser Einrichtung eine Spezialschule für Mathematik und Physik, studierte von 1984 bis 1989 Mathematik mit Nebenfach Physik und promovierte 1993. Nach der Promotion ging sie an die Ruhr-Universität Bochum, wo sie sich im Jahre 1999 habilitierte. Weitere berufliche Stationen waren das Max-Planck-Institut für Mathematik in den Naturwissenschaften in Leipzig und die Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Im Jahr 2000 erhielt sie den Gerhard-Hess-Preis, einen Forschungsförder- preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, mit dem sie ein eige- nes Forschungsprojekt auf dem Gebiet der symplektischen Geome- trie realisieren konnte. Seit 2004 arbeitet sie als Fachreferentin an der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen. Hier betreut sie die Fächer Mathematik und Informatik sowie das Sondersammelgebiet »Reine Mathematik«. An der Mathematischen Fakultät der Universität Göttingen hält sie Vorlesungen und bietet Kur- se zur Vermittlung Mathematik-spezifischer Informationskompetenz an. Katharina Habermann ist als mathematische Fachinformations- spezialistin zudem im Sprechergremium der Fachgruppe »Information und Kommunikation« der Deutschen Mathematiker-Vereinigung aktiv. (http://mathe2008.wordpress.com/) Foto: SUB

Georgia Augusta 6 | 2008 125 Abb 1: Gottvater beim Schöpfungswerk, Bible moralisée, erste Hälfte 13. Jahrhundert, Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Cod. 2554, Bl. IV MATHEMATIK IST KUNST

Mit einem Zirkel in der rechten, dem Weltenrund in der linken Hand findet man Gottvater auf der ›Titelseite‹ der französischen ›Bible moralisée‹ Cod. 2554 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, einer der berühmtesten Illuminationen des Mittelalters (Abb. 1). »Ici crie dex ciel et terre, soleil et lune et toz elemenz«, so erläutert die Beischrift am oberen Bildrand und macht damit unmiss- verständlich klar, dass das göttliche Schöpfungswerk, die Erschaffung von Himmel und Erde, von Sonne und Mond und allen Elementen, veranschaulicht ist. Aber noch unstrukturiert erscheinen großenteils die Einzeldinge innerhalb des abgezirkelten Universums, während der Schöpfer-Architekt und -Geometer doch augenschein- lich dabei ist, ihnen Form und Gestalt zu verleihen. Hinter einer Darstellung wie dieser steht die feste Überzeugung, dass Gott, wie es im ›Buch der Weisheit‹ heißt, »alles nach Maß, Zahl und Gewicht geordnet« habe. Und nicht ohne Grund konnte ein solcher ordent- licher Aufbau des gesamten Kosmos angenommen werden, denn der Ausgangspunkt und das Fundament der christlich-religiösen Weltsicht, die Heilige Schrift, bezeugt vom ›ersten Buch Mose‹ bis zur ›Offenbarung des Johannes‹ durchgehend eine Vorliebe für sinnbildlich-zeichenhaft verstandene Zahlenordnungen. Notwendig muss die christliche Kunst, die von den biblischen Schriften und deren Exegese ihren Ausgang nimmt, ihrerseits von entsprechenden Zahlenordnungen durchdrungen sein. Ehe wir zwei Beispiele dafür genauer betrachten, sind die biblischen Voraussetzungen in Erinnerung zu rufen. Nach Maß, Zahl und Gewicht Zahlen und ihre Bedeutung in der christlichen Kunst

Thomas Noll

Zahlensymbolik in der Bibel bezeichnen, und vier Wesen – spielt die Zahl Sieben eine Rolle. Schon die Eins als Zahl des Einen noch überdies jeweils ein Tetra- Nicht anders prägt sie die Kult- und der Einheit in der Vielheit hat morph von Gestalt – umgeben und Opfervorschriften, zu schwei- ihren theologischen Stellenwert. den Thron Gottes. gen von den (zweimal) sieben Jah- Als der Eine wird Gott verschie- Als heilige Zahl oder Zahl ren, die Jakob um Rahel dient, den dentlich charakterisiert, und als Gottes, die – als Summe aus vier durch entsprechende Kühe und Einheit die Beziehung zwischen und drei – eine höhere Totalität als Ähren im Traum angezeigten sie- Gott und Christus. Als Einheit ge- die Vier versinnbildlicht, erscheint ben mageren und sieben fetten dacht ist die Kirche, die Gemein- dann die Sieben. Sie taucht auf im Jahren oder den von der Sieben- schaft der Gläubigen, und der Zu- ›ersten Buch Mose‹ bei der Schöp- zahl gekennzeichneten Umstän- sammenhang zwischen Christus fungswoche mit dem von Gott ge- den bei der Eroberung von Je- und der Kirche als seinem ›Leib‹. heiligten siebten Tag – an dem er richo. Mit »sieben Säulen« hat die Die Drei hat ihre Bedeutung »ruhte [...], nachdem er das ganze Weisheit ihr Haus gebaut und durch die Trinität und das Trisha- Werk der Schöpfung vollendet »geläutert siebenfach« sind für gion. »Drei sind es, die Zeugnis hatte« – bis hin zur ›Offenbarung den Psalmisten die Worte des ablegen« für Christus: »der Geist, des Johannes‹ mit den sieben Ge- Herrn, »siebenmal am Tag« singt das Wasser und das Blut; und die- meinden und sieben Leuchtern, er das Lob des Herrn. »Siebenfa- se drei sind eins.« Weiter hat Chri- dem Buch mit sieben Siegeln und cher Rache« verfällt der, der Kain stus drei Versuchungen zu beste- dem Lamm mit sieben Augen und erschlägt, »siebenundsiebzigfach« hen, und drei Tage – analog zu Jo- sieben Hörnern sowie zahlrei- wird Lamech gerächt. Aber »nicht nas Frist im Bauch des Fisches – chen weiteren Septenaren. In den siebenmal, sondern siebenund- liegen zwischen seinem Tod und verschiedensten Zusammenhän- siebzigmal«, so erklärt Christus seiner Auferstehung. Den vor- gen begegnet die Sieben als eine seinem Jünger, soll Petrus dem nehmlich auf Gott bezogenen der zentralen biblischen Ord- Bruder, der sich gegen ihn versün- Zahlen Eins und Drei steht die nungsziffern. Von der Schöpfungs- digt hat, vergeben. Schließlich Vier als Vollzahl der geschaffenen woche leitet sich die Heiligung gliedert Matthäus den Stamm- Welt gegenüber. Vier Paradiesflüs- des Sabbat als des siebten Tags der baum Jesu in dreimal vierzehn (= se und vier Winde werden ge- Woche her, und ebenso das Sab- 3 x 2 x 7) Generationen. Als Voll- nannt und »vier Enden der Erde«; batjahr; das Jubeljahr soll ausge- zahl dient die Sieben allerdings entsprechend gibt es vier Evange- rufen werden nach siebenmal sie- auch im Negativen, denn »sechs listen. Vier Tiere sieht Daniel in ei- ben Jahren, und auch beim Wo- Dinge sind dem Herrn verhasst, / ner Vision, die vier (Welt-)Reiche chenfest und beim Laubhüttenfest sieben sind ihm ein Greuel«; sie-

Georgia Augusta 6 | 2008 127 ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

ben Dämonen werden aus Maria vor dem Thron Gottes, aber auch Gliederung der Weltgeschichte in Magdalena ausgetrieben, und in die »hundertvierundvierzigtausend sieben Weltzeitalter üblich. Die der ›Offenbarung des Johannes‹ aus allen Stämmen der Söhne Is- erste ›aetas‹ reichte dabei von haben der feuerrote Drache – der raels«, die durch »das Siegel des Adam bis Noach, die zweite von »Teufel oder Satan« – , das Tier aus lebendigen Gottes« gekennzeich- Noach bis Abraham, die dritte von dem Meer und das scharlachrote net sind. Abraham bis David, die vierte von Tier, auf dem die Hure Babylon David bis zur Babylonischen Ge- sitzt, samt und sonders sieben Die Ordnung von Raum und Zeit fangenschaft, die fünfte von da bis Köpfe. Schon diese kursorische Über- zur Geburt Christi, die sechste von Die Acht, als Zahl der Erneue- sicht zeigt hinlänglich die emi- Christus bis zum Weltende. Das rung oder des Neubeginns, findet nente Bedeutung von Zahlenord- siebte Weltzeitalter bezeichnete sich bei Noach und seiner Fami- nungen und Zahlensymbolik in die Ruhe der Verstorbenen. Es lie, »acht Menschen, durch das der biblischen Überlieferung. Es wird, so erklärt Augustinus in sei- Wasser gerettet«, die nach der kann nicht verwundern, wenn in ner Schrift ›Vom Gottesstaat‹, »un- Sintflut neuerdings den Ursprung der Folge, in der Geschichte der Ek- ser Sabbat sein, dessen Ende kein der Völkerschaften bilden (drei klesia, diese Ordnungssysteme ei- Abend ist, sondern der Tag des Söhne sind dabei die Stammväter ne weitere Ausdehnung buchstäb- Herrn, gleichsam der achte ewige, aller Völker); sie begegnet bei der lich in Raum und Zeit erfuhren. der durch Christi Auferstehung Erwählung Davids, des achten Die Zeit, über den natürlichen seine Weihe empfangen hat und Sohnes Isais, zum König von Isra- Jahresrhythmus der zwölf Monate die ewige Ruhe vorbildet, nicht el oder bei der Beschneidung der und vier Jahreszeiten hinaus, war nur des Geistes, sondern auch des männlichen Nachkommen in Isra- insgesamt, als Welt-Zeit, geglie- Leibes!« Zugleich wurden, eben- el am achten Tag. Acht Seligprei- dert zum einen durch die Heils- falls bereits von Augustinus, diese sungen enthält die Bergpredigt. etappen im Anschluss an Paulus, Weltzeitalter mit den menschli- Die Zehn bildet die Summe der nämlich in die Zeit von Adam bis chen Lebensaltern in Beziehung ägyptischen Plagen, aber auch der Mose, vor dem Bundesschluss gesetzt, sodass die sieben Welt- Gebote vom Sinai; sie erscheint und der Gesetzgebung am Sinai epochen mit den Lebensstufen bei der Abgabe des Zehnten, »der (ante legem), in die Zeit von Mose des Kleinkindes (infantia), der vom Ertrag des Landes oder von bis Christus ›unter dem Gesetz‹ Kindheit (pueritia), der Jünglings- den Baumfrüchten abzuziehen (sub lege) und in die Zeit vom zeit (adolescentia), des Jugend- ist« und »dem Herrn« gehört, wie Kommen Christi bis zu dessen alters (iuventus), der Reife (gravi- auch als Multiplikator mit der Sie- zweitem ›adventus‹ am Jüngsten tas) und des Greisenalters (senec- ben, um auf Siebzig als eine wei- Tag ›unter der Gnade‹ (sub gratia). tus) korrelieren. Das siebte Welt- tere Vollzahl zu kommen. Denn Aber auch auf vier Heilsepo- zeitalter spiegelt sich in der Toten- »siebzig von den Ältesten Israels« chen konnte diese Ordnung aus- ruhe (requies). Im Menschenleben vertreten beim Bundesschluss am geweitet werden. In dem Sicard fand auf diese Weise die gesamte Sinai das Volk, siebzig Jahre währt von Cremona (1150/51 – 1215) Welt-Zeit ihren Widerhall, geord- die Babylonische Gefangenschaft, zugeschriebenen ›Mitrale‹, einer net durch die symbolische Voll- und siebzig Jahrwochen werden umfangreichen Messerklärung, zahl Sieben. Aber auch das Kir- dem Propheten Daniel in einer Vi- wird unterschieden eine Zeit der chenjahr versinnbildlicht die Welt- sion als heilsgeschichtliche Zeit- Abirrung (tempus deviationis) von und Heilsgeschichte, wenn bei- spanne genannt. Adam bis Mose, eine Zeit der spielsweise Rupert von Deutz Aus der Reihe weiterer glei- Rückführung (tempus revocatio- (1075/76 – 1129) die Sonntage chermaßen sinnbildlich befrach- nis) von Mose bis Christus, eine Septuagesima bis Laetare mit den teter Zahlen mag der Hinweis zu- Zeit der Versöhnung (tempus re- sieben›aetates‹ parallelisiert. letzt noch auf die Zwölf genügen. conciliationis) von der Geburt Nicht anders als die Zeit war Es ist dies die Zahl der Söhne Ja- Christi bis zu seiner Himmelfahrt auch der Raum »nach Maß, Zahl kobs und damit der Stämme Isra- und schließlich eine Zeit der Pil- und Gewicht« geordnet. Die els ebenso wie die der Apostel, die gerschaft (tempus peregrinationis) Weltchronik des Hartmann Sche- Zahl der Sterne in der Krone des von der Himmelfahrt Christi bis del von 1493, am Ausgang des Apokalyptischen Weibes und der zum Weltende. Mittelalters, die in einer deut- Tore und Grundsteine des himmli- Parallel zu dieser heilsge- schen und einer lateinischen Aus- schen Jerusalem. Multipliziert be- schichtlichen Zeitordnung war – gabe erschien und in der die sie- ziffert sie die jeweils vierund- in Anknüpfung namentlich an den ben Weltzeitalter – als Gliede- zwanzig Dienstklassen der Pries- Stammbaum Jesu bei Matthäus – rungsschema – kaum anders als ter und Sänger des Alten Bundes von Augustinus (356 – 430) bis reichlich ein Jahrtausend zuvor und die vierundzwanzig Ältesten zum Ende des Mittelalters die bei Augustinus noch in Geltung

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stehen, illustriert in einem Holz- schnitt mit dem siebten Schöp- fungstag zugleich den mittelalter- lichen Kosmos (Abb. 2). Entspre- chend dem ptolemäischen, geo- zentrischen Weltsystem findet sich die Erde (terra) im Zentrum und bildet mit den drei folgenden Sphären des Wassers, der Luft und des Feuers (spera aque, aeris, ig- nis) die »elementische natur«. Daran schließt sich an die »him- lisch natur«, die ihrerseits in »drey fuernemlich himel« unterteilt ist: in den Fixsternhimmel (firmamen- tum), den Kristallhimmel (celum cristallinum) und das Empyreum (empyreum). Der Fixsternhimmel (mit den Tierkreiszeichen) um- schließt seinerseits die »siben vmbkreys der siben planeten« (spera saturni, iouis, martis, solis, ueneris, mercurij, lune; unbe- kannt waren noch Uranus, Nep- tun und Pluto, dafür figurieren Sonne und Mond als Planeten). Die obere Sphäre des Kristallhim- mels aber ist das »primum mobi- le«. Alle himmlischen Sphären unterhalb davon befinden sich in Bewegung, unbeweglich ruht da- gegen der dritte, jenseits davon sich erstreckende »feuerige himel«, das Empyreum oder der »himel der trifeltigkeit«. Der Holzschnitt zeigt jenseits des »primum mobi- le« Gottvater, thronend im Kreis der (seit der Spätantike definierten) neun Engelschöre, die gesondert namentlich aufgeführt sind; mit dem obersten Chor beginnend die Seraphin, Cherubin, Throni, Domi- nationes, Principatus, Potestates, Virtutes, Archangeli und Angeli (Seraphim, Cherubim, Throne, Herrschaften, Fürstentümer, Mäch- te, Kräfte, Erzengel und Engel). Nochmals in drei Bereiche kann Abb. 2: Michael das Empyreum differenziert wer- schaffung der Welt durch seinen und klarer durch die Zahlen Drei, Wolgemut, Wilhelm Pleydenwurff und Werk- den, nämlich in die Orte der Tri- Hochmut zu Fall gekommen war. Vier und Sieben geordnet sein statt, Der siebte Schöp- nität, der Engel und der Heiligen, Vier Winde (Subsolanus, Auster, könnte. fungstag, Holzschnitt. und in drei Hierarchien gliedern Aparcias und Zephyrus) an den Raum und Zeit, so zeigt sich, Hartmann Schedel, Weltchronik, Nürnberg sich überdies die neun Engelschö- vier Ecken der Erde – die auf einer waren im Mittelalter, auf der Basis 1493, Bl. Vv re – die als obersten ursprünglich anderen Ebene liegen und der und in Verlängerung der bibli- noch einen zehnten Chor umfas- »elementischen natur« zugehören schen Zahlensymbolik, in denk- sten, Luzifer mit seinem Gefolge, – umrahmen zuletzt das Bild des bar geordnete Verhältnisse ge- der allerdings bereits vor der Er- Universums, das kaum strenger bracht. Aber Reflexe der augen-

Georgia Augusta 6 | 2008 129 scheinlich von Gott selbst angelegten Zahlenordnung finden sich im sechsten Weltzeitalter in den verschiedensten Berei- chen des kirchlichen Lebens. Es genügt, exemplarisch an den Stellenwert der Sieben als heiliger Vollzahl zu erinnern, um den allenthalben durchdringenden Wunsch nach numerischer Sys- tematik als Abglanz und Ausdruck einer höheren Ordnung und Harmonie zu begreifen. Von den – jeweils durchaus nicht von Anfang an feststehenden oder vorgegebenen – sieben Weihe- stufen, den sieben Sakramenten, den sieben Werken der Barm- herzigkeit, den sieben Haupttugenden und Hauptlastern (oder Todsünden) spannt sich der Bogen bis hin zu spekulativen Ana- logiebildungen in der theologischen Literatur, so von nicht we- niger als acht Septenaren im ›Speculum virginum‹, dem ›Jungfrauenspiegel‹, einem um 1140 entstandenen Lehrdialog.

Das Deckenbild von St. Michaelis in Hildesheim Auch in der christlichen bildenden Kunst mussten unter diesen Umständen numerische Ordnungen ihren Niederschlag finden. Dies beginnt bei der unmittelbaren Wiedergabe einer bibli- schen oder kirchlichen Quantität, etwa von einem der eben ge- nannten Septenare, soweit das Bezifferte darstellbar war; dabei konnte noch eine metaphorische Rede durch buchstäbliche Umsetzung des Sprachbilds veranschaulicht werden, sodass beispielsweise die »sieben Säulen« der Weisheit durchaus als ar- chitektonisches Motiv auftauchen. Und es erstreckt sich diese Aufnahme von Zahlenordnungen bis in die Struktur und Kom- position von größeren Bildprogrammen. Zwei Beispiele sollen dies veranschaulichen. Die in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts dekorierte Ei- chenholzdecke von St. Michaelis in Hildesheim illustriert den Stammbaum Christi mit der ›Wurzel Jesse‹ (Abb. 3). Fußend auf der Prophezeiung des Jesaja – »egredietur virga de radice Iesse et flos de radice eius ascendet« (»ein Zweig wird hervorgehen aus der Wurzel Jesse und eine Blüte aus seiner Wurzel erwach- sen«) – und nach der Auslegung dieser Worte auf die Jungfrau Maria (virga = virgo Maria) und Christus (flos = Christus), zeigt die Deckenmalerei im zweituntersten Feld Isai oder Jesse, den Vater Davids, auf seinem Lager und einen mächtigen Stamm mit üppigen Ranken, der aus seiner Seite hervorgeht; in den näch- sten vier Bildfeldern trägt dieses Gewächs als königliche Vor- fahren Christi nach dem Stammbaum bei Matthäus zunächst David, dann dessen Sohn Salomo. Die oberen beiden Könige sind nicht sicher zu benennen; als die vor allem gottesfürchti- gen Herrscher in Juda nach Salomo dürfte es sich jedoch um Hiskija und Joschija handeln. Zuoberst erscheinen Maria und Christus, segnend und mit dem Buch des Lebens (die Darstel- lung Christi und die oben, rechts und links anschließenden Bild- felder sind im Original verloren und rekonstruiert). Während David von vier nicht näher gekennzeichneten Personen umringt ist, sind bei den folgenden drei Königen jeweils vier weitere ge- krönte Häupter in den Ranken untergebracht; Maria dagegen wird gerahmt von den vier Kardinaltugenden (Stärke, Gerech- tigkeit, Maß und Klugheit). In der anschließenden Figurenreihe

Abb. 3: Die Wurzel Jesse und der Sündenfall, erste Hälfte 13. Jahrhundert, Holzdecke des Mittelschiffs, St. Michaelis, Hildesheim MATHEMATIK IST KUNST

steht rechts oben neben Maria der ten Bild der mittleren Reihe. Hier ten die Evangelistensymbole ihren Prophet Jesaja mit den auf die ist mit Adam und Eva der Sünden- Platz an den vier Ecken als an den Muttergottes bezogenen Worten: fall zu sehen, der den Anfang der vier Ecken der Welt. Die Decke »Ecce virgo c[oncipiet et pariet fi- Weltgeschichte markiert und das von St. Michaelis umfasst inhalt- lium]« (»Siehe, eine Jungfrau wird Heilsgeschehen zur ›Regenerati- lich und versinnbildlicht in ihrer empfangen und einen Sohn ge- on‹ des Menschen veranlasst hat. Struktur als Totalität den Welt- bären«); unter Jesaja erscheint der Adam, durch den »die Sünde in Raum und die Welt-Zeit, vom Fall Erzengel Gabriel mit dem Gruß die Welt« gekommen ist, und Adams bis zum Kommen Christi, »Ave Maria [gratia plena dominus Christus, der ›neue Adam‹, durch aber in der Bildform des thronen- tecum]« und verweist damit auf den »die Gnade Gottes« dem den ›salvator mundi‹ zugleich die Verkündigung von Christi Ge- Menschen zuteil wird, sind polar auch den zweiten ›adventus‹ burt und die Erfüllung von Jesajas beziehungsweise typologisch ein- Christi zum Gericht am Ende des Prophetie. Aaron mit seinem blü- ander gegenübergestellt, aber sechsten Weltzeitalters. Die Vier henden Stab auf der anderen Seite auch durch die umlaufende Gene- als Vollzahl der geschaffenen Welt erscheint als Sinnbild der jungfräu- rationenfolge miteinander ver- findet sich bei den Evangelisten, lichen Mutterschaft Marias, Johan- knüpft. Die Einheit und Folgerich- den Erzengeln, den Kardinaltu- nes der Täufer mit seinem Spruch- tigkeit der Heilsgeschichte wird genden und den Paradiesflüssen, band – »parate viam domini« (»Be- damit evident. auch bei den Königen in den reitet den Weg des Herrn«) – ist in Weiter findet man an den Sei- großen Bildfeldern zwischen Isai diesem Sinne als direkter Vorläu- ten bzw. unteren Ecken der Sün- und Maria; aus den fünfundsieb- fer und Wegbereiter Christi darge- denfalldarstellung die vier Para- zig Vorfahren Christi bei Lukas stellt. In den Gestalten mit Spruch- diesflüsse (Pischon, Gihon, Tigris werden in der äußeren Bildreihe bändern beiderseits von Isai und und Eufrat) als männliche Personi- mit zweiundvierzig Personen den vier Königen sind weitere Pro- fikationen mit Wasserkrügen. Ent- dreimal vierzehn (oder 3 x 2 x 7) pheten zu erkennen; links unten sprechend umgeben Christus die Generationen ausgewählt, deren neben Isai ist wohl ein zweites vier Erzengel Rafael, Uriel (der nur Zahl Matthäus in seinem (von Lu- Mal Jesaja abgebildet, nun mit im außerbiblischen Schrifttum ge- kas abweichenden, anders aufge- den auf die ›Wurzel Jesse‹ bezo- nannt wird), Gabriel und Michael. fassten) Stammbaum Christi nennt. genen Worten »Egredietur [virga Zwischen den Erzengeln oben Hinzu kommt, dass die Decke, die de radice Iesse...]«. Ihm gegenü- und den Paradiesflüssen unten das Mittelschiff einer dreischiffi- ber steht Bileam mit der ganz ent- sind die vier Evangelisten einge- gen Basilika überspannt, in ihren sprechend gemeinten Verheißung fügt, Matthäus und Johannes, Proportionen drei ideellen Grund- »Orietur s[tella ex Iacob et con- Markus und Lukas, jeweils am rissquadraten entspricht, die ein surget virga ex Israhel]« (»Ein Schreibpult und gekennzeichnet doppelter (›sächsischer‹) Stützen- Stern wird aus Jakob aufgehen durch ihr Symbol: Mensch, Adler, wechsel markiert. Formal und in- und ein Zweig aus Israel sich em- Löwe und Stier. Und nochmals haltlich erscheint das Deckenbild porrichten«). In den von Ranken tauchen diese vier Wesen (anima- mithin nach Maß und Zahl geord- umschlungenen zweiundvierzig lia) als Symbole der Evangelisten – net, ein Abbild und Sinnbild der Medaillons der äußeren Bildleiste mit Spruchbändern, die deren Na- Heilsgeschichte zugleich. kommen, angefangen mit Set men tragen – in den äußersten (dem dritten Sohn Adams und Ecken der Decke auf. »Da die Das Königsportal der Kathedrale Evas) im mittleren der drei unteren Welt, in der wir leben, sich in vier von Chartres Medaillons bis zu Eli (dem Vater Gegenden teilt«, erklärt Irenäus In anderer Weise, doch mit glei- Josefs) im mittleren der drei obe- von Lyon (2. Jahrhundert), »und cher Strenge, ist reichlich ein Drei- ren Rundbilder, ein Großteil der weil es vier Hauptwindrichtungen vierteljahrhundert zuvor das West- von Lukas aufgelisteten fünfund- gibt, die Kirche aber auf der portal, die ›porta regia‹ (um 1150), siebzig leiblichen (das heißt väter- ganzen Erde verbreitet ist, Säule der Kathedrale Notre-Dame in lichen) Vorfahren Christi vor Au- und Stütze der Kirche das Evange- Chartres gestaltet (Abb. 4). Ge- gen. Während in der zentralen lium und der Geist des Lebens nauer drei Stufenportale, zwei To- mittleren Bildreihe die königliche sind, so hat sie folgerichtig vier re beiderseits des höheren und Abstammung Christi aus dem Säulen [...]. Da leuchtet es ein, breiteren mittleren Eingangs, sind Stamm Juda dokumentiert ist, stel- dass der Erbauer des Alls, der Lo- vollständig ausgestattet mit Skulp- len die Medaillons mit zweiund- gos, [...] uns bei seinem Erschei- turenschmuck in der Laibung – vierzig leiblichen Vorfahren des nen vor den Menschen das Evan- dem Gewände –, in Erlösers eine Verknüpfung her gelium in vierfacher Gestalt gab, der Kapitellzo- zwischen dem Bild des ›salvator aber zusammengehalten durch ei- ne, im Tür- mundi‹ zuoberst und dem unters- nen Geist«. In diesem Sinne erhal- sturz

Georgia Augusta 6 | 2008 131 und Bo- ne Szenen der Kindheitsgeschich- Himmel hingehen sehen«. In die- genfeld – dem Tym- te Jesu zeigt das rechte Seitenpor- sem Verständnis, als Erfüllung die- panon – sowie in den Bogen- tal im Türsturz die Verkündigung, ser Worte, erscheint im Tympanon läufen – den Archivolten. Auch den Besuch Marias bei Elisabet – des Mittelportals Christus in seiner hier schließen alle Teile sich zu die Heimsuchung –, die Geburt Herrlichkeit (maiestas domini), einem Gesamtprogramm zusam- Christi (unteres Register) und die was zugleich seine Wiederkehr, men, das die ganze Heilsge- Darbringung Jesu im Tempel (obe- die Parusie oder den zweiten ›ad- schichte, und damit die Welt-Zeit, res Register). Im Tympanon thront ventus‹, meint. Umgeben von den umfasst. Zunächst am Gewände, Maria mit dem Christuskind als vier Evangelistensymbolen (mit vor den in die Stufen der abge- ›Sitz der Weisheit (Gottes)‹ (sedes Büchern) bzw. den vier Wesen um treppten Laibung eingestellten sapientiae), flankiert von zwei räu- den Thron Gottes und inmitten Säulen, stehen noch neunzehn von chernden Engeln. von zwölf Engeln (in der innersten ursprünglich vierundzwanzig alt- Dem Eintritt Christi in die Welt Archivolte) und den vierund- testamentlichen Gestalten, Män- steht am linken Seitenportal seine zwanzig Ältesten (in den beiden nern und Frauen, die, ohne na- Himmelfahrt gegenüber. Über äußeren Archivolten) – zwischen mentlich benannt werden zu kön- den (nur zehn) Aposteln, im unte- denen im Scheitel der äußeren Ar- nen, als – überwiegend königliche ren Register des Türsturzes, sieht chivolte nochmals zwei Engel zu – Vorfahren Christi anzusehen man im Bogenfeld, wie Christus, seinen Häupten eine Krone halten sind. Zu Häupten dieser zugleich von zwei Engeln flankiert, »em- – thront Christus in der Mandorla hochstilisierten und lebensvollen, porgehoben« und von einer Wol- (einer mandelförmigen Aureole). gleichsam ›aristokratischen‹ Ge- ke aufgenommen wird. Vier Engel Zugleich erscheint er über den wändefiguren werden in der Kapi- wenden sich den emporschauen- zwölf Aposteln und zwei weiteren tellzone in knapp vierzig Einzel- den Aposteln zu mit den Worten: Personen rechts und links, in de- szenen die (apokryphe) Kindheits- »Dieser Jesus, der von euch ging nen die beiden Propheten der geschichte Marias sowie die Kind- und in den Himmel aufgenom- Endzeit (hier Elija und Henoch) zu

Abb. 4: Das Königs- heit und Passion Christi erzähle- men wurde, wird ebenso wieder- vermuten sind. Sie und die Apos- portal (Westportal), risch entfaltet. Als herausgehobe- kommen, wie ihr ihn habt zum tel – als Beisitzer beim Jüngsten um 1150, Kathedrale Notre-Dame, Chartres

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Gericht – machen die eschatolo- tres gelehrt wurde –, die Ausbil- Vier, mit den Evangelistensymbo- gische Bedeutung der Darstellung dung der höheren geistigen Fähig- len und den Engeln zu Häupten unmissverständlich klar: Es hat keiten des Menschen ist hier dar- der Apostel bei der Himmelfahrt »der Menschensohn sich auf den gestellt und bezeichnet ein Kom- Christi; und schließlich die Drei, Thron der Herrlichkeit« gesetzt plement zu den Monatsarbeiten mit der Portalanlage insgesamt, am Ende der Zeiten, zum Gericht am linken Portal. Hinzu kommen die in das Mittelschiff der Kathe- und damit »die Welt neu geschaf- noch sechs Engel am inneren Bo- drale als Abbild des himmlischen fen« werde. genlauf, die die thronende Maria Jerusalem führt – dies sind die In den großen Rahmen des samt den Räucherengeln umgeben. Zahlen, die Form und Inhalt des sechsten Weltzeitalters zwischen Über den Vertretern des Alten Königsportals und seines die dem ersten und zweiten ›adventus‹ Bundes am Gewände und über Welt-Zeit umspannenden Bildpro- Christi, in die Heilsepoche ›sub der Kapitellzone, die das neutes- gramms in eine klare Ordnung gratia‹, fügen sich die Bildwerke tamentliche Heilsgeschehen de- bringen. in den Archivolten der beiden Sei- tailliert vergegenwärtigt, werden Die beiden hier beispielhaft tenportale ein. Links sind in den in gleichsam dialektischer Form vorgestellten Werke aus Deutsch- zwei Bogenläufen knappe szeni- drei Heilsereignisse pointiert: der land und Frankreich stammen sche Darstellungen der zwölf Mo- Eintritt Christi in die Welt, seine nicht zufällig aus dem 12. und 13. natsarbeiten und der zwölf Tier- Rückkehr zum Vater und seine Jahrhundert, aus der Zeit der kreiszeichen zu erkennen. Zu se- Wiederkehr in Herrlichkeit am En- Scholastik, in der die großen theo- hen ist etwa auf der linken Seite, de der Zeiten. In diesen umfassen- logischen ›Summen‹ entstehen innen zuunterst, der April als eine den Heilsrahmen eingespannt, und eine Systematisierung des bekränzte Gestalt, die in die Äste davon umschlossen, sind der Jah- überlieferten Wissens erfolgt. eines blühenden Baums greift, resrhythmus und die Arbeiten des Doch Zahlenordnungen in der darüber erscheint das Sternbild Menschen in einer ›prästabilier- christlichen bildenden Kunst sind, des Widders; daneben verbild- ten‹, unveränderlichen Ordnung, wie kaum betont werden muss, licht den Juli ein Schnitter, der auf ebenso wie seine höheren geisti- keineswegs auf diese Epoche be- den Knien mit der Sichel das Korn gen Bestrebungen, die vor allem schränkt. Andere Beispiele wären schneidet, über ihm findet sich der Gotteserkenntnis und dem ebenso aus dem frühen Mittelalter der Krebs. Der immer wiederkeh- Lob des Schöpfers dienen sollen. oder der Barockzeit anzuführen. rende Rhythmus des Jahres tritt Die Zwölf, mit den ursprünglich Die Bedeutung der sinnbildlich- mit diesen Bildwerken vor Augen. vierundzwanzig Gewändefiguren numerischen Ordnung bleibt not- Demgegenüber sind in den und den vierundzwanzig Ältesten wendig in Geltung, solange bibli- Archivolten des rechten Seiten- (jeweils 2 x 12), den Aposteln und sche und kirchliche Themen zur portals (abgesehen von zwei Tier- Engeln (am inneren Bogenlauf des Darstellung gebracht werden und kreiszeichen am inneren Bogen- Mittelportals) sowie den Monats- die Überzeugung fortbesteht, dass lauf links unten) die sieben ›artes arbeiten und Tierkreiszeichen; die ein Herr und Schöpfer des Uni- liberales‹, die sieben Freien Küns- Sieben, mit den Freien Künsten versums alles »nach Maß, Zahl te – mit dem Trivium (Dreiweg) und ihren Vertretern; auch die und Gewicht geordnet« habe. von Grammatik, Rhetorik und Dialektik und dem Quadrivium von Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie – jeweils zusam- Prof. Dr. Thomas Noll, Jahrgang 1962, studierte Kunst- men mit einem Hauptvertreter aus geschichte, Klassische Archäologie sowie Mittlere der Antike wiedergegeben. Auf und Neuere Geschichte in Göttingen und Heidelberg. der rechten Seite findet man zu- Die Promotion erfolgte in Göttingen 1991 mit einer unterst Priscianus oder Donatus, Arbeit über die politische Grafik von A. Paul Weber darüber die Grammatik in Gestalt im Dritten Reich. Als Stipendiat des Landes Nieder- einer Frau mit Buch und Rute, zwei sachsen ging er anschließend für zwei Jahre an das Zentralinstitut für Schüler zu ihren Füßen; daneben Kunstgeschichte in München. Danach übernahm er eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der sitzt Pythagoras unterhalb der Mu- Universität Augsburg. Ein Postdoktorandenstipendium am Graduier- sik, einer Frau mit verschiedenen tenkolleg ›Kirche und Gesellschaft im Heiligen Römischen Reich des Instrumenten, die eben mit einem 15. und 16. Jahrhunderts‹ führte ihn zurück nach Göttingen. Hier ha- Hämmerchen ein Glockenspiel er- bilitierte er sich 2001 mit einer Studie über Albrecht Altdorfer und tönen lässt. Der höhere Bildungs- Themen der religiösen und profanen Kunst um 1500. Eine Vertre- weg mit seinem zweigeteilten tungsprofessur und Lehraufträge folgten in Kassel. In Göttingen lehrt Fächerkanon – der nicht zuletzt er seit 2007 als apl. Professor am Kunstgeschichtlichen Seminar. an der Kathedralschule von Char-

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Numerical orders in Chris- brought into a clear numerical ries from Germany and France tian art have their origin and structure. Time was organised into can demonstrate this in exemplary preconditions in the rich number three or four epochs of salvation manner. The painted ceiling of St. symbolism of the Bible. Numbers and into seven world ages, the Michael’s Church in Hildesheim laden with symbolic imagery per- universe encompassed a four-part shows the ›Root of Jesse‹ revealing vade the Holy Scriptures from the natural world of elements and three times fourteen ancestors of Book of Genesis through to the three main heavens, the lowest of Christ and the four rivers of para- Book of Revelation. The One as which, the sky of fixed stars, in turn dise encompassing the fall of the number of unity, the Three that enclosing seven planets; the upper- mankind, with the four archangels takes its significance from the Tri- most heavens were divided into and the four cardinal virtues sur- nity or the Trisagion, the Thrice three parts, and inhabiting the em- rounding Christ and Mary, and Holy, the Four as the ›full count‹ pyreum were, besides the Trinity twice with the four Evangelists. of the world as it is created – from and the Saints, also three hierar- Equally clearly structured in terms the four rivers of paradise to the chies of angels from a total of nine of biblical numbers is the three- four corners of the earth, the Se- hosts of angels. The numerical va- part Royal Portal of Chartres Ca- ven as the holy number of the lues as characterised in the Bible thedral, which originally presen- week of creation with God’s Sab- also gave rise to those from which ted twenty-four ancestors of Christ bath on the seventh day at the be- the church took its order, as ex- and the twelve Apostles, with the ginning of the Bible, and the hosts pressed, for example, in the seven twelve labours of the months and of septenaries in the Apocalypse steps to consecration and seven twelve signs of the zodiac, the se- at its end, and further the Eight, the sacraments, as well as the seven ven artes liberales, and the four Ten, the Twelve: these numbers cardinal virtues and the seven car- animalia surrounding the throne and more all carry their own sym- dinal sins. of Christ. In each case, the nume- bolic significance. This numerical symbolism in- rical arrangement serves to make Being rooted in these biblical evitably found expression to an apparent in systematic form a figure-based orders and their alle- equal extent in Christian art; two comprehensive Weltbild in the gorical interpretation, space and extensive arrangements of depic- salvation-historical context. time in the Middle Ages were tions from the 12th and 13th centu-

Literatur: Bible moralisée. Codex Vindobonensis Hartmann Schedel, Weltchronik. Kolorierte men der interdisziplinären Bestandssiche- 2554 der Österreichischen Nationalbiblio- Gesamtausgabe von 1493. Einleitung und rung und Erhaltungsplanung der Decken- thek. Kommentar von Reiner Haussherr. Kommentar von Stephan Füssel, Köln u.a. malerei (Arbeitshefte zur Denkmalpflege in Übersetzung der französischen Bibeltexte 2001. Niedersachsen 28), München, Berlin 2002. von Hans-Walter Stork (Glanzlichter der Roderich Schmidt, Aetates mundi. Die Christine Wulf, Die Inschriften der Stadt Buchkunst), Darmstadt 1998. Unveränder- Weltalter als Gliederungsprinzip der Ge- Hildesheim, 2 Bde. (Die Deutschen In- ter Nachdruck der Ausg. Graz 1992. schichte, in: Zeitschrift für Kirchengeschich- schriften 58), Wiesbaden 2003, Nr. 65 Lexikon zur Bibel, hg. v. Fritz Rienecker, te, Vierte Folge, 5, 67 (1955-56), S. 288- (Deckenbild von St. Michaelis). Wuppertal 1960. 317. Willibald Sauerländer, Das Königsportal in Heinz Meyer u. Rudolf Suntrup, Lexikon Rolf-Jürgen Grote u. Vera Kellner, Die Bil- Chartres. Heilsgeschichte und Lebenswirk- der mittelalterlichen Zahlenbedeutungen derdecke der Hildesheimer Michaeliskir- lichkeit, Frankfurt a.M. 1984. (Münstersche Mittelalter-Studien 56), Mün- che. Erforschung eines Weltkulturerbes. Ak- Bearbeitung der chen 1987. tuelle Befunde der Denkmalpflege im Rah- Abbildungen: Stephan Eckardt

134 Universität Göttingen ars musica – ars mathematica? Musik als quadriviale Kunst und Wissenschaft. Ein antikes Konzept und sein neuzeitliches Erbe

Andreas Waczkat © Paramount Pictures – mit freundlicher Genehmigung In einer Folge der Science-Fiction- Serie »Star Trek: Raumschiff Voya- ger« trifft die Besatzung des im Delta-Quadranten gestrandeten Raumschiffs auf das Volk der Qo- mar. Die Qomari, höchst begabte Mathematiker allesamt, verfügen zwar über hoch entwickelte, der menschlichen weit überlegene Technologie, doch Musik ist ihnen fremd. Umso erstaunter sind sie, als der holografische Doktor der Voyager plötzlich zu singen an- fängt – ein einfaches Volkslied zunächst, später einige Arien aus Giuseppe Verdis Oper Don Car- los. Schnell sind sich die Qomari einig: Besonders faszinierend an Musik sind die mathematischen Strukturen ihres Aufbaus. Auftritte des Doktors in der Heimatwelt der Qomari werden frenetisch beju- belt, die an den Doktor gerichtete Fanpost legt das Kommunikati- onssystem der Voyager lahm – bis das fremde Volk nach kurzer Zeit ein eigenes Hologramm ent- wickelt hat, das in der Lage ist, weitaus komplexere mathemati- sche Modelle zum Klingen zu bringen. Das Ergebnis begeistert die Qomari, klingt aus Sicht eines gegenwärtigen irdischen Musik- wissenschaftlers aber eher enttäu- schend – nachzuhören in der Seri- enfolge »Der Virtuose« oder unter http://www.memory-alpha.org/en/ wiki/Virtuoso_(episode).

Hintergrundbild: Iannis Xenakis Polytope für Licht- und Klanginszenierungen, Entwurfsskizze ZAHLEN, FORMELN, UNGELÖSTE RÄTSEL

Diese Episode, so skurril sie im Musik bildeten das Quadrivium ter vor allem als musicus. Inzwi- Einzelnen auch sein mag, weist im innerhalb der Sieben Freien Kün- schen scheint plausibel, dass die Grenzbereich von Musik und Ma- ste, der septem artes liberales, der pythagoreische Lehre in ihren thematik durchaus über sich hin- zentralen Instanz im spätantiken Grundzügen auf altiranische Weis- aus. Hörbare Musik ist in gewisser und mittelalterlichen Wissenssys- heit zurückgeht, der Antike je- Weise hörbare Mathematik: Luft- tem. Musik galt als eine Zahlwis- doch galt Pythagoras als Begrün- schwingungen lassen sich berech- senschaft, die über einen un- der des Wissens um die Harmonie nen, die Überlagerung von Tönen schätzbaren Vorteil verfügt: Sie der Welt. Pythagoras und die Py- mit mathematischen Modellen macht sinnlich erfahrbar, was thagoreer bezogen zunächst zwei beschreiben. Die zeitliche Ord- sonst nur abstrakt gedacht werden Dinge aufeinander: Planeten und nung der Aufeinanderfolge von kann. Sinnliche Erfahrung der Mu- Konsonanzen. Durch die Bewe- Tönen in einer Komposition folgt sik hat Beweiskraft. gung der Gestirne entsteht dem- Mustern, die zwar künstlerischer Dieses Gedankengebäude ist nach eine Harmonie, indem der Inspiration entstammen, sich aber uns von den Pythagoreern über- Schall der einzelnen Gestirne dennoch als Muster mit mathema- liefert, einer Gemeinschaft um konsoniert. Sonne und Saturn, tischen Methoden beschreiben den Universalgelehrten Pythago- ebenso Sonne und Mond verhal- und analysieren lassen. Dieses ras von Samos, der als Wunder- ten sich zueinander wie die Zah- Wissen ist nicht neu. Gerade in mann und Verkünder einer neuen len 2:1; musikalisch entspricht den historischen Anfängen ver- religiösen Lehre angesehen wur- dieses Verhältnis der Oktave, ei- schmelzen Mathematik und Mu- de. Pythagoras galt als Begründer ner perfekten Konsonanz. Sonne siktheorie weitgehend. Arithme- der Mathematik und der exakten und Jupiter hingegen bewegen tik, Geometrie, Astronomie und Wissenschaften – und im Mittelal- sich ebenso wie Sonne und Mer- kur zueinander im Verhältnis 3:2, dem Verhältnis der ebenfalls per- Bo¨ethius, Pythagoras, fekt konsonierenden Quinte. Son- Platon und Nicomachus als Autoritäten, auf die ne und Mars sowie Sonne und Ve- sich die Musiklehre nus nehmen jeweils das Verhältnis stützt. 4:3 zueinander ein und bilden da- Miniatur, Handschrift aus Canterbury, um 1150 mit eine Quarte. Cambridge, University Diese Verhältnisse abstrakt zu Library erkennen, ist nicht nur aufgrund der astronomischen Dimensionen eine erhebliche Herausforderung. Sie mit geeigneten Werkzeugen sinnlich erfahrbar zu machen, musste daher willkommen sein. Gebräuchliches Demonstrations- instrument war das Monochord: eine über einem Resonanzkörper gespannte einzelne Saite, die mit einem beweglichen Steg in belie- bigen Proportionen geteilt werden konnte. Denkbar war auch die Verwendung von Instrumenten mit mehreren Saiten, um unter- schiedliche Teilungen simultan hören und beurteilen zu können. Auf einem solchen Monochord bildete nun die Erde als Ausgangs- punkt das eine Saitenende, Saturn als der am weitesten entfernte Pla- net das andere. Die Sonne steht exakt im Mittelpunkt, womit sich die Saitenteilung 2:1 ergibt: die Oktave, eine hörbar perfekte Har- monie. Den ältesten Überlieferun- gen zufolge soll Pythagoras dieses

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Geheimnis in einer Schmiede ent- da sich in ihr die Proportionen al- beim Stimmen eines Konzertflü- deckt haben, wo er in den Schlä- ler konsonanten Intervalle wieder- gels: Die einzigen pythagoreisch gen des Schmiedes ebenfalls sol- finden, wobei außerdem die Sum- rein gestimmten Intervalle sind che harmonischen Verhältnisse me der Zahlen 1 bis 4 die eben- die Oktaven. Alle anderen Inter- hörte. Er verglich die Verhältnisse falls heilige Zahl 10 ergibt – letz- valle sind unrein, wobei sich im der Hämmer zueinander, be- tere bleibt musiktheoretisch übri- Verlauf der Zeit verschiedene stimmte danach mathematisch gens ohne erkennbare Bedeutung. Möglichkeiten herausgebildet ha- das Verhältnis der Töne zueinan- Beim Nachrechnen tut sich ben, das pythagoreische Komma der und übertrug die Proportionen freilich ein Problem auf. Die per- auf die zwölf Tonstufen der chro- auf das Monochord. Er führte so- fekten Proportionen widerspre- matischen Skala zu verteilen. Der mit, wie wir sagen würden, den chen einander nämlich, wenn man einfachste Weg, jede Stufe um ein empirischen Nachweis, dass das sie auf ein konkretes in Oktaven Zwölftel Komma zu vermindern, Hören von Konsonanz und Disso- gestuftes Tonsystem anwendet. ist dabei gleichzeitig der jüngste. nanz, von gut und schlecht zu- Zwei übereinander geschichtete Die hörende Begegnung mit an- sammen Klingendem, ein mathe- Quinten ergeben das Verhältnis deren Stimmungssystemen be- matisches Vergleichen ist. (3:2)2 = 9:4. lehrt freilich, dass der einfachste Dass diese Schmiedenlegende Zieht man davon die Oktave ab, Weg nicht immer der beste sein der physikalischen Stichhaltigkeit bleiben muss. entbehrt, ist nebensächlich, denn (9:4) : (2:1) = 9:8, Das Wissenssystem der Sieben sie dient lediglich dazu, den Ur- ein Verhältnis, das als Ganzton Freien Künste mit Musik als Teil sprung und die Herkunft des bewertet wird (die Differenz von des Quadriviums begründete bis pythagoreischen Wissens aufzu- Quinte und Quarte ins 18. Jahrhundert hinein auch zeigen. In religionswissenschaftli- (3:2) : (4:3) = 9:8 die Vorstellung von Musik als tö- chen Begriffen gesprochen, waren nender Mathematik. Dass es sich die Pythagoreer Anhänger einer • dabei um Berührungspunkte sehr nichtmissionierenden mystischen verschiedener Phänomene beider Offenbarungsreligion, die strenge Fächer handelt und zudem, wie Arkandisziplin übten: Das Welt- • • dem Gezeigten zu entnehmen ist, wissen der Pythagoreer war eine die Anwendung der Mathematik Geheimlehre, über die wir nur aus • • • über das kleine Einmaleins kaum späteren, häufig polemischen hinausreichte, beschädigte diese Zeugnissen unterrichtet sind. Den- • • • • Vorstellung von Musik als »scientia noch hat Pythagoras damit we- mathematica« ebensowenig wie sentliche Grundsteine der abend- das Eindringen wahrnehmungs- ländischen Musiktheorie gelegt. ergibt denselben Wert). Der von psychologischer Aspekte. Noch Die Einschätzung bestimmter Pythagoras so berechnete »Über- Gottfried Wilhelm Leibniz hielt an Schwingungsverhältnisse als kon- schuss« ist sieben Mal in der Ok- der Zahlengesetzlichkeit von Mu- sonant, anderer als dissonant ist tave enthalten, da der Weg von ei- sik unerschütterlich fest und be- die Basis der abendländischen To- nem gedachten Ton zu seiner Ok- schrieb sie als verborgene arith- nalität; bis in die Frühe Neuzeit tave insgesamt acht Stationen um- metische Übung: »Musica est hinein beschränkten sich Kompo- fasst, also sieben Mal den »Über- exercitium arithmeticae occultum sitionslehren – sofern man sie rein schuss« enthält. Entsprechend er- nesciens se numerare animi«, handwerklich versteht – darauf, gibt sich, dass die Folge von zwölf wird Leibniz häufig zitiert. Auch den geordneten Umgang mit Dis- übereinandergeschichteten Quin- Leonhard Euler versuchte noch sonanzen in einem Tonsatz zu er- ten der Folge von sieben Oktaven 1738, eine quantitative Maßein- klären. Die mathematische Ord- entsprechen müsste. Nun ist aber heit für den Dissonanzgrad von nung der Welt analog in Musik zu (3:2)12 ≠ (2:1)7. Intervallen zu finden, indem er erklären, konnte auch von christ- Die Differenz dieser beiden Zah- deren Proportionen bewertete. lichen Denkern problemlos assi- len ist als »pythagoreisches Kom- Seine Ergebnisse, ob stichhaltig miliert werden, wenn die schöne ma« in die Geschichte der Musik- oder nicht, sind letztlich auch nur Ordnung als von Gott gegeben theorie eingegangen – nicht weil eine späte Fortsetzung pythagorei- angenommen wurde. Musik ist Pythagoras dieses Komma berech- scher Zahlenspekulation. Die Sim- hörbarer Ausdruck des göttlichen net hätte, wohl aber, weil damit plizität der mathematischen Me- Plans. die praktischen Grenzen des theo- thode mündet gewissermaßen Auch die Pythagoreer erkann- retischen pythagoreischen Sy- zwangsläufig in eine Trivialität der ten die Ordnung der ersten vier stems aufgezeigt sind. Konse- musikalischen Ergebnisse, da die Zahlen, der tetraktys, als heilig an, quenzen hat das beispielshalber Tonhöhe als einziger musikali-

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ten«, wie man die griechische An- gen werden. Auch wird versucht, tike umschrieb, blieb zwar vor- eine umfassende mathematische handen, doch konzentrierte man Musiktheorie zu finden. sich auf die Wirkungen der Musik, Seit den 1950er Jahren wenden von denen bei den »Alten« be- sich auch immer mehr Komponi- richtet wird, und versuchte, diese sten mathematischen Methoden mit modernen Mitteln nachzuah- als Grundlage des künstlerischen men. Grundlage dieses neu er- Prozesses zu. So programmierten wachten Interesses wie auch des Lejaren A. Hiller und Leonard M. Wissens über die »Musik der Al- Isaacson einen Computer darauf, ten« waren die gleichzeitig entste- Intervalle zufällig nach einer Mar- henden Darstellungen der Musik- kov-Kette erster Ordnung auszu- Überlagerung zweier geschichte: Die Anfänge der Mu- wählen, außerdem rhythmische Sinusschwingungen (rot scher Parameter in den Blick ge- sikgeschichtsschreibung fallen zu- Muster und Aufführungsanwei- und grün) im Verhältnis nommen wird. Und selbst dann sammen mit der Abkehr von der sungen zu generieren. Das Ergeb- 5:4 (reine große Terz). Die blaue Kurve zeigt hält die Theorie der Belastung Anschauung der ars musica als ars nis mündete 1955/56 in die Illiac- die Addition der beiden durch die Praxis nicht stand. Eine mathematica. In der Person des Suite für Streichquartett, eine der Amplituden. gleichstufig temperiert – das heißt Universitätsorganisten und späte- Gründungsakten der Computer- nicht rein im pythagoreischen ren Universitätsmusikdirektors Jo- musik. Illiac steht dabei für den Zahlsinn – gestimmte Terz wird hann Nikolaus Forkel nahm die Namen des damaligen Computer- vom Ohr als Konsonanz akzep- Universität Göttingen im deutsch- systems der University of Illinois tiert, auch wenn zur Bestimmung sprachigen Raum eine einsame at Urbana-Champaign, das die ihrer Proportion die eher unsinnli- Spitzenposition in dieser Entwick- Berechnungen vorgenommen hat- 4 che Formel 12¬2 :1 herangezogen lung ein. Forkels in zwei Bänden te, deren Ergebnisse zunächst werden muss. 1788 und 1801 erschienene All- noch in konventionelle musikali- Das späte Fortleben der ars gemeine Geschichte der Musik sche Notation überführt werden musica als ars mathematica fand reichte zwar letztlich nur bis zum mussten, um schließlich von ei- in der zweiten Hälfte des 18. Jahr- 15. Jahrhundert, darf jedoch für nem Streichquartett mit traditio- hunderts vielleicht auch deswe- sich in Anspruch nehmen, in deut- nellen Instrumenten aufgeführt zu gen keine Fortsetzung, da die Tri- scher Sprache die erste umfassen- werden. Stochastische Verfahren vialität der Methoden und Ergeb- de Grundlage der nunmehr histo- lassen sich auf unterschiedlichste nisse in einem eklatanten Wider- risch verstandenen Disziplin Mu- Weise zur Bestimmung musikali- spruch zu den Fähigkeiten steht, sikwissenschaft zu sein. scher Parameter einer Komposition die die ästhetische Anschauung Wenn Forkel auch immer wie- heranziehen; experimentiert wur- jener Zeit der Musik zuschreibt. der als Begründer der modernen de und wird unter anderem auch Überlagerung zweier Die Fähigkeit der Musik zur Be- Musikwissenschaft als einer kul- mit fraktaler Geometrie, Mengen- Sinusschwingungen 4 im Verhältnis 12¬2 :1 wegung der Affekte war zwar turwissenschaftlichen, mit philo- lehre, Gruppentheorie und nicht- (große Terz bei gleich- schon früher in den Blick genom- logischen und hermeneutischen linearen rekursiven Gleichungen. stufiger Teilung der Ok- men worden, doch unter den Au- Methoden operierenden Disziplin Auch in der Analyse von Musik tave). Die Addition der beiden Kurven (blau) spizien von Empfindsamkeit und angeführt wird, darf dabei aber spielen mathematische Methoden zeigt ein anderes, in Sturm und Drang wurden diese nicht außer Acht bleiben, dass die eine beachtliche Rolle. So ist es diesem Ausschnitt un- Fähigkeiten gewissermaßen unter Historische Musikwissenschaft nur zum Beispiel ein Erfolg verspre- regelmäßiges Muster. Die Unregelmäßigkeit ist dem Mikroskop untersucht. Das einer von mehreren jeweils erheb- chender Versuch, Melodieverläu- als Rauheit des Klangs Interesse an der »Musik der Al- lich ausdifferenzierten Fachzwei- fe in Vektoren zu beschreiben, um zu hören. gen der Musikwissenschaft ist. In- die Übereinstimmung oder Nicht- stitutionell verankert ist im deutsch- Übereinstimmung verschiedener sprachigen Raum zumeist die Drei- Melodien automatisiert bestim- teilung von Historischer Musik- men zu können – angewandt bei- wissenschaft, Systematischer Mu- spielsweise auf das Repertoire sikwissenschaft und Ethnomusi- pietistischer Kirchenlieder, deren kologie. Unter diesen Fachzwei- Zahl auf rund 70.000 geschätzt gen haben Teile der Systematischen wird, ist die Möglichkeit der Auto- Musikwissenschaft den vitalsten matisierung kein ganz kleiner Vor- Bezug zur ars mathematica, etwa teil. Freilich kann es auch zu un- wenn mathematische Modelle zur beabsichtigten Fehleinschätzun- Analyse musikalischer Komposi- gen kommen. So wurde lange an- tionen oder Prozesse herangezo- genommen, dass im Schaffen des

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ungarischen Komponisten Béla Bartók (1881 – 1945), der im Ge- gensatz zu anderen Komponisten der musikalischen Moderne seine eigene Kompositionsweise kaum erläutert hat, Fibonacci-Reihen und der Goldene Schnitt eine ganz wesentliche Bedeutung für den Bau sowohl der Themen als auch der Harmonien haben; viele als charakteristisch in Bartóks Werken beobachtete Phänomene ließen sich auf die entsprechen- den Zahlenordnungen zurück- führen. Erst viele Jahre nach sei- nem Tod aber gaben Bartóks Er- ben das Manuskript einer Vorle- sung frei, die Bartók in seinem letzten Lebensjahr an der Harvard University gehalten hatte, und aus der hervorgeht, dass die von Bartók in bäuerlichen Regionen Ungarns und Rumäniens gesammelten Volksliedmelodien seine maßgebli- che Inspirationsquelle waren: die Ergebnisse ethnomusikologischer Feldforschung mithin. Dieses Beispiel mahnt nicht zuletzt, keine allzu hohen Mauern zwischen den Fachzweigen der Musikwissenschaft zu errichten. Es mag gelten, dass Musik ein Herausheben undinglicher Ideen ist und als solche im selben Raum gedacht werden kann wie die Ma- thematik. Wenn sie aber gespielt und damit sinnlich erfahrbar wird, ist sie Resultat menschlichen Han- delns, das ebenso vom geschicht- lichen wie vom kulturellen und gesellschaftlichen Umfeld geprägt wird. Pythagoras hielt die Quarte Anestis Logothetis aufgrund ihrer einfachen Zahlen- einfach – hörbar wird, wird die Doch die sind überraschend wäh- Zwölftonzyklen im freien Kanon und eine Zwei- proportion für eine Konsonanz, Proportion 4:3 in höchstem Maße lerisch: Ein gut gespielter Jazz- stimmigkeit (aus einem den Ohren des 18. Jahrhunderts relativ. Standard entspricht nicht ihrem 3-intervalligen Zyklus jedoch galt sie als auflösungsbe- Noch einmal zurück in den Geschmack. Man präferiert den bestehend) miteinander kontrapunktierend dürftige Dissonanz. Heutige Jazz- Delta-Quadranten. Die Macher Doktor – weil er singt. Obwohl in musiker wiederum kennen kaum der Serie haben vermutlich nicht der gewählten Gegenüberstellung ein schöner klingendes Intervall, intendiert, auf musikwissenschaft- des Films die komplexeren rhyth- in einigen außereuropäischen liches Interesse zu stoßen, doch mischen und harmonischen Mus- Musikkulturen schließlich kommt aus dieser Perspektive hält die be- ter eindeutig auf Seiten des Jazz- die Quarte im Tonsystem gar nicht wusste Folge durchaus noch eine stücks zu hören sind, ist auch ein erst vor. Im Sinn der ars mathema- weitere Pointe bereit. Die Crew fernes Volk in ferner Zukunft eher tica mag es irritierend erscheinen: der Voyager, gute Gastgeber, ver- von der emotionalen Unmittelbar- Doch in jenem Moment, da die anstaltet nämlich ein Konzert zu keit des Gesangs fasziniert. Eine ars musica die Sphäre des Un- Ehren des neu erwachten Interes- bemerkenswert zeitlose Zukunfts- dinglichen verlässt und – ganz ses der Qomari an der Musik. schau.

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In the historical beginnings, king the two matters involve high- 1955/56 Illiac Suite for string mathematics and music ly disparate phenomena, and that quartet, Illiac standing for the name theory still fuse largely into one. the mathematical application of the computer system which, Arithmetic, geometry, astronomy scarcely went beyond simple mul- being the system employed by the and music form the quadrivium tiplication, hardly dented this no- University of Illinois at Urbana- within the seven liberal arts, or tion of music as a »scientia mathe- Champaign at the time, had per- septem artes liberales, which in matica« at all; the same applied formed the calculations. Stochas- the days of late antiquity and the for the intrusion of aspects relating tic procedures can be drawn on in Middle Ages was at the centre of to the psychology of perception. highly diverse ways to determine the knowledge system. Music was As late as 1738, Leonhard Euler the musical parameters of a com- regarded as a science of numbers was attempting to find a quantita- position; experiments have been but one with an inestimable ad- tive unit of measurement for the and are being conducted using, vantage: it allowed something that degree of dissonance in intervals amongst other techniques, fractal could otherwise be considered by evaluating their proportions. geometry, set theory, group theory only in abstraction to be experi- Both the methods and the results and nonlinear recursive equations. enced by the senses. of this work ultimately constituted In the analysis of music, too, This construct of ideas has come none other than a late extension of mathematical methods have in down to us from the Pythago- Pythagorean number speculation. the meantime come to play a sig- reans, a community surrounding Modern approaches are based nificant role. The experimental the universal scholar Pythagoras of on models of far greater complexi- endeavour to describe the course Samos who was seen as a worker ty. Since the 1950s, more and more of melodies in vectors with a view of wonders and enunciator of a composers have been turning to to determining the match or vari- new religious doctrine. Pythagoras mathematical models as a basis for ance of different melodies in an and the Pythagoreans initially set the artistic process. Lejaren A. Hil- automated manner, for example, two matters in relation to one ler and Leonard M. Isaacson, for is a promising one – when ap- another: planets and consonan- example, programmed a computer plied, for instance, to the re- ces. Through movement within the to select intervals at random accor- pertoire of pietistic hymns of heavenly body, a harmony is cre- ding to a first-order Markov chain, which there are estimated to be ated when the sounds of indi- as well as to generate rhythmic some 70,000 in all, this possi- vidual stars produce consonances. patterns and instructions for per- bility represents no mean The Sun and Saturn, for example, formance. This culminated in the advantage. interrelate in the same way as the numbers 2:1; in musical terms this relationship corresponds to the octave, a perfect consonance. Re- cognition of these relationships in Prof. Dr. Andreas Waczkat, Jahrgang 1964, studierte abstraction is no easy matter, so von 1986 bis 1992 Musikwissenschaft und Theologie the rendering of them perceptible in Berlin und von 1987 bis 1991 Tonsatz und Gehör- by the senses must have been a bildung an der Hochschule der Künste Berlin. Nach Tätigkeiten in Detmold und Langenhagen sowie als welcome step. The instrument freier Mitarbeiter beim Westdeutschen Rundfunk Köln commonly used for such demon- war Andreas Waczkat von 1994 bis 2004 am Musikwissenschaftli- strations was the monochord, with chen Institut der Universität Rostock tätig. Dort wurde er 1997 mit one end of the string representing einer Arbeit über deutsche Parodiemessen des 17. Jahrhunderts pro- the Earth as the initial point and the moviert. 2005 folgte die Habilitation mit einer Studie zu den musi- other end of the string represen- kalischen Dramen Johann Heinrich Rolles. Vor seiner Berufung auf ting Saturn, the most distant planet. eine Professur für Historische Musikwissenschaft an die Universität The Sun is exactly halfway bet- Göttingen im Jahr 2008 – im Rahmen der Kooperation mit der Hoch- ween the two, the division of the schule für Musik und Theater Hannover – lehrte und forschte der string therefore being 2:1: the oc- Musikhistoriker in Hannover sowie an den Universitäten Münster, tave, an audibly perfect harmony. Lüneburg und Kiel. Auslandsaufenthalte führten ihn in die USA und nach Polen. Seit 2002 ist Prof. Waczkat Sprecher der Fachgruppe Into the 18th century, the con- »Musikwissenschaft und Musikpädagogik« in der Gesellschaft für cept of music as sounding mathe- Musikforschung, seit 2004 Schriftleiter der Cöthener Bach-Hefte. matics continued to be explained Seine Arbeitsschwerpunkte sind die Musik in der Kulturgeschichte by the knowledge system of the des 16. bis 18. Jahrhunderts, Musiktheorie und Kompositionsge- seven liberal arts, with music for- schichte, Historische Musikwissenschaft und Neue Medien sowie ming a part of the quadrivium. The die Musica Baltica. fact that the points of contact lin-

142 Universität Göttingen KONTAKTE

Autoren Prof. em. Dr. Benno Artmann Prof. Dr. Axel Munk Georg-August-Universität Göttingen Georg-August-Universität Göttingen Fakultät für Mathematik und Informatik, Mathematisches Institut Fakultät für Mathematik und Informatik Bunsenstraße 3 – 5, 37073 Göttingen Institut für Mathematische Stochastik Telefon +49 (0)551 / 39-7762 Goldschmidtstraße 7, 37077 Göttingen [email protected] Telefon +49 (0)551 / 39-172111 Prof. Dr. Xiaoming Fu [email protected] Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Thomas Noll Fakultät für Mathematik und Informatik, Institut für Informatik Georg-August-Universität Göttingen Goldschmidtstraße 7, 37077 Göttingen Philosophische Fakultät Telefon +49 (0)551 / 39-172023 Kunstgeschichtliches Seminar und Kunstsammlung [email protected] Nikolausberger Weg 15, 37073 Göttingen Prof. em. Dr. Hubert Goenner Telefon +49 (0)551 45205 (privat) Georg-August-Universität Göttingen [email protected] (Institut) Fakultät für Physik, Institut für Theoretische Physik Prof. Dr. Thomas Schick Friedrich-Hund-Platz 1, 37077 Göttingen Georg-August-Universität Göttingen Telefon +49 (0)551 / 39-7689 Fakultät für Mathematik und Informatik, Mathematisches Institut [email protected] Bunsenstraße 3 – 5, 37073 Göttingen Privatdozentin Dr. Katharina Habermann Telefon +49 (0)551 / 39-7766 Georg-August-Universität Göttingen [email protected] Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen (SUB) Prof. Dr. Anita Schöbel Platz der Göttinger Sieben 1, 37073 Göttingen Georg-August-Universität Göttingen Telefon +49 (0)551 / 39-13266 Fakultät für Mathematik und Informatik [email protected] Institut für Numerische und Angewandte Mathematik Prof. Dr. Dieter Hogrefe Lotzestraße 16 – 18, 37083 Göttingen Georg-August-Universität Göttingen Telefon +49 (0)551 / 39-12237 Fakultät für Mathematik und Informatik, Institut für Informatik [email protected] Goldschmidtstraße 7, 37077 Göttinge Prof. Dr. Henning Schulzrinne Telefon +49 (0)551 / 39-172001 Columbia University [email protected] Department of Computer Science Prof. Stephan Klasen, Ph.D. 208 Hamilton Hall, 1130 Amsterdam Avenue Georg-August-Universität Göttingen New York, NY 10027, USA Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät [email protected] Professur für Volkswirtschaftstheorie und Entwicklungsökonomik Dr. Cordula Tollmien Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen Rehhagen 7, 34346 Hann. Münden Telefon +49 (0)551 / 39-7303 Telefon +49 (0)5541 2285 [email protected] [email protected] Prof. Dr. Rainer Kreß Georg-August-Universität Göttingen Prof. Dr. Yuri Tschinkel Fakultät für Mathematik und Informatik New York University Institut für Numerische und Angewandte Mathematik Courant Institute of Mathematical Sciences Lotzestraße 16 – 18, 37083 Göttingen 251 Mercer Street, New York, NY 10012, USA Telefon +49 (0)551 / 39-4511 Telefon 001 212 998-3145 [email protected] [email protected] Juniorprofessorin Dr. Tatyana Krivobokova Prof. Dr. Andreas Waczkat Georg-August-Universität Göttingen Georg-August-Universität Göttingen Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät Philosophische Fakultät, Musikwissenschaftliches Seminar Courant Forschungszentrum »Armut, Ungleichheit und (in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Theater Hannover) Wachstum in Entwicklungsländern« Kurze Geismarstraße 1, 37073 Göttingen Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen Telefon +49 (0)551 / 39-5072 Telefon +49 (0)551 39-10601 [email protected] [email protected] Dr. Axel Wittmann Prof. Dr. Ralf Meyer Georg-August-Universität Göttingen Georg-August-Universität Göttingen Fakultät für Physik Fakultät für Mathematik und Informatik, Mathematisches Institut Institut für Astrophysik Bunsenstraße 3 – 5, 37073 Göttingen Friedrich-Hund-Platz 1, 37077 Göttingen Telefon +49 (0)551 / 39-7774 Telefon +49 (0)551 / 39-5045 [email protected] [email protected] Prof. Dr. Felix Mühlhölzer Prof. Dr. Florentin Wörgötter Georg-August-Universität Göttingen Bernstein Centre for Computational Neuroscience (BCCN) und Philosophische Fakultät, Philosophisches Seminar Fakultät für Mathematik und Informatik, Institut für Informatik Humboldtallee 19, 37073 Göttingen Bunsenstraße 10, 37073 Göttingen Telefon +49 (0)551 / 39-4732 Telefon +49 (0)551 / 5176528 [email protected] [email protected]

Georgia Augusta 6 | 2008 143 KONTAKTE

Forschungseinrichtungen Courant Forschungszentrum »Armut, Ungleichheit und Wachstum Graduiertenkolleg in Entwicklungsländern: Statistische Methoden und empirische »Identifikation in mathematischen Modellen: Analysen« (»Poverty, Equity, and Growth in Developing and Synergie stochastischer und numerischer Methoden« Transition Countries: Statistical Methods, Empirical Analyses, (»Identification in Mathematical Models: and Policy Issues«) Synergy of Stochastic and Numerical Methods«) Platz der Göttinger Sieben 3, 37073 Göttingen Institut für Numerische und Angewandte Mathematik Telefon +49 (0) 551 / 39-7303 Lotzestraße 16 – 18, 37083 Göttingen [email protected] Telefon +49 (0)551 39-4511 Koordinator: Prof. Stephan Klasen, Ph.D. [email protected] Courant Forschungszentrum »Strukturen höherer Ordnung Sprecher: Prof. Dr. Rainer Kreß in der Mathematik« (»Higher Order Structures in Mathematics«) Mathematik-Olympiade / Niedersächsische Landesrunde Bunsenstraße 3 – 5, 37073 Göttingen c/o Georg-August-Universität Göttingen Telefon +49 (0)551 / 39-7766 Fakultät für Mathematik und Informatik [email protected] Mathematisches Institut Koordinator: Prof. Dr. Thomas Schick Bunsenstraße 3 – 5, 37073 Göttingen Deutsch-Schweizer Statistik-Forschergruppe: Telefon +49 (0)551 / 2713027 Statistische Regularisierung unter qualitativen Nebenbedingungen [email protected] – Inferenz, Algorithmen, Asymptotik und Anwendungen http://www.math.uni-goettingen.de/mo/ (»Statistical Regularization and Qualitative Constraints«) Alle Schülerangebote: www.math.uni-goettingen.de/schueler/ Institut für Mathematische Stochastik Zentralarchiv für Mathematiker-Nachlässe Goldschmidtstraße 7, 37077 Göttingen an der Niedersächsischen Staats- und Telefon +49 (0)551 / 39-172111 Universitätsbibliothek Göttingen [email protected] Platz der Göttinger Sieben 1, 37073 Göttingen Sprecher: Prof. Dr. Axel Munk Telefon: +49 (0)551 / 39-13266 Graduiertenkolleg [email protected] »Mathematische Strukturen in der modernen Quantenphysik« (»Mathematical Structures in Modern Quantum Physics«) Zentrum für Informatik Fakultät für Mathematik und Informatik, Mathematisches Institut Georg-August-Universität Göttingen Bunsenstraße 3 – 5, 37073 Göttingen Goldschmidtstraße 7, 37077 Göttingen Telefon +49 (0)551 / 39-7774 Telefon +49(0)551 / 39-172010 [email protected] [email protected] Sprecher: Prof. Dr. Ralf Meyer Sprecher des Vorstands: Prof. Dr. Dieter Hogrefe

»It is Göttingen. Foto: Gisa Göttingen is here« Kirschmann-Schröder

144 Universität Göttingen E-Mail: [email protected] Fax: (0551)48 83248 T jeweils von9bis12Uhr Montag bisFreitag 37073 Göttingen W Göttingen e.V. Universitätsbund Geschäftsstelle W vierung undBestuhlungder Aula am jekt derletztenJahrewardieReno- Orchestervereinigung. EinGroßpro- schaftsmagazin unddie Akademische sidenten herausgegebeneWissen- wie fürdasgemeinsammitdemPrä- T stützungen fürdieVeranstaltung von senschaftler beispielsweiseUnter- für StudierendeundNachwuchswis- sind nebendenfinanziellenBeihilfen lichkeit. Förderungsschwerpunkte W Dialogs zwischenWissenschaft und sitätsbundes istdieFörderungdes Ein besonderes Anliegen desUniver- turelle Veranstaltungen derUniversität. Mittel fürwissenschaftlicheundkul- durch dieBereitstellungfinanzieller en. Stärken zubewahrenundauszubau- gabe an,dazubeizutragen,diese Göttingen e.V. siehtesalsseine Auf- gung gegründeteUniversitätsbund Der 1918alsgemeinnützigeVereini- aller Welt. ziehungskraft fürStudierendeaus Studienprogrammen einehoheAn- spektrum undindeninternationalen eine besondereVielfalt imFächer- Ruf inderForschung.Siehatdurch genießt weltweiteinenexzellenten Die traditionsreicheGeorgia Augusta Universität zustärken. sowie dasInnovationspotentialder Forschung undLehrezuverbessern Es giltdieRahmenbedingungenfür vates Engagementimmerwichtiger. Hochschulen zurückzieht,wirdpri- chende finanzielle Ausstattung der seiner Verantwortung fürdieausrei- in denensichderStaatverstärktaus materiell zuunterstützen.InZeiten, Georg-August-Universität ideellund Universitätsbund Göttingen„ihre“ sich zusammengeschlossen,umim sellschaftlichen Bereichenhaben sowie Persönlichkeitenausallenge- Ve Lehrende, Ehemalige,Studierende, Der Universitätsbund el.: (0551)42062 agungen undVorlesungsreihen so- ilhelmsplatz. ilhelmsplatz 1 irtschaft, UniversitätundÖffent- rtreter vonWirtschaft undHandel Dies geschiehtinersterLinie unibund.gwdg.de www. Geschäftsstelle zubeziehen. erhältlich oderdirektvonder seite (www.unibund.gwdg.de) schaft sindaufunsererInternet- Formulare fürdieMitglied- schaften, Vereine usw. 60 30 pro Jahr: Der Mindestbeitragbeträgt Universitätsreden. die GöttingerundBursfelder das Wissenschaftsmagazin sowie bundes erhaltenkostenlosu.a. Die MitgliederdesUniversitäts- tätsbund beizutreten. her eingeladen,demUniversi- des unterstützenmöchte,istda- Aktivitäten desUniversitätsbun- versität verbundenfühltunddie sich mitderGeorg-August-Uni- ger Universitätzuerhalten.Wer Konkurrenzfähigkeit derGöttin- der wesentlichdazubei,die und SpendentragendieMitglie- zu erfüllen.MitihrenBeiträgen seine umfangreichen Aufgaben Universitätsbund nichtmöglich, Ohne Mitgliederwäreesdem Mitgliedschaft Kto. 52803 BLZ 26050001 Sparkasse Göttingen Kto. 04/06496 BLZ 26070072 Deutsche BankGöttingen 215 229 Kto: 6 30 400 BLZ 260 Commerzbank Göttingen Bankverbindungen um geben Siebittean,obessich de zukommenlassenwollen, bund Göttingene.V. eineSpen- W Spenden enn SiedemUniversitäts- € € delt. ein bestimmtesProjekthan- Spende füreinInstitutoder eine zweckgebundene bundes oder die Arbeit desUniversitäts- eine allgemeineSpendefür für Firmen,Körper- für Privatpersonen

UNIVERSITÄTSBUND GÖTTINGEN E.V.