OÖ.OÖ. HEIMATBLÄTTER HEIMATBLÄTTER 20162016 HEFT HEFT 1/2 1/2

BeiträgeBeiträge zur Oö. zur Landeskunde Oö. Landeskunde | 70. | Jahrgang 70. Jahrgang | www.land-oberoesterreich.gv.at | www.land-oberoesterreich.gv.at OÖ. HEIMATBLÄTTER | 2016 HEFT 1/2 HEFT 2016 | HEIMATBLÄTTER OÖ. OÖ. HEIMATBLÄTTER | 2016 HEFT 1/2 HEFT 2016 | HEIMATBLÄTTER OÖ.

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70. Jahrgang 2016 Heft 1/2 Herausgegeben vom Amt der OÖ. Landesregierung, Direktion Kultur

Alexander Binsteiner: „Produktpiraterie“ in der Mondseekultur – Feuersteinsicheln aus Bayern schwunghaft kopiert 3

Hanna und Herbert Schäffer: Singender, klingender Hagen. Eine schlossmusikalische Zeitreise 7

Thomas Schwierz: Der „bewegliche Altar“ von Eidenberg. Anmerkungen zu einem historischen Sakralrequisit 19

Alexander Savel: Kepler-Freund und ‚Botschafter‘ Galileo Galileis – Der vergessene Ruhm des Matthias Bernegger aus Hallstatt 25

Josef Simbrunner: Franz Xaver Glöggl (1764–1839). Portrait einer großen Linzer Musikerpersönlichkeit 49

NACHLESE ZUR LANDES-SONDERAUSSTELLUNG 2015 „HILFE. LEBENSRISKEN – LEBENSCHANCEN“/GALLNEUKIRCHEN:

Rosmarie Fruhstorfer: Armut und Schubwesen auf dem Lande im (Ober-)Österreich des 19. Jahrhunderts 59

Angela Wegscheider: „Die der Gemeinde obliegende Armenpflege …“. Armut und das System kommunaler Fürsorge in der Zwischenkriegszeit 73

BUCHBESPRECHUNGEN 91

1 Medieninhaber: Land Oberösterreich Mitarbeiter: Herausgeber: Amt der OÖ. Landesregierung, Dipl. Geol. Univ. Alexander Binsteiner Direktion Kultur Vlcetin 43, CZ 39468 Zirovnice Zuschriften (Manuskripte, Besprechungsexemplare) und Bestellungen sind zu richten an den Schriftleiter Dr. Hanna Schäffer und der OÖ. Heimatblätter: Dipl.-Ing. Herbert Schäffer Hagenstraße 41 a, 4040 Linz Camillo Gamnitzer, Amt der OÖ. Landesregierung, Direktion Kultur, Promenade 37, 4021 Linz, Tel. Kons. Dr. med. Thomas Schwierz 0 73 2 / 77 20-1 54 77 Lichtenberger Straße 96, 4201 Eidenberg Alexander Savel Jahresabonnement (2 Doppelnummern) e 12,– 4821 Lauffen Nr. 6 (inkl. 10 % MwSt.) Dr. Josef Simbrunner Hersteller: TRAUNER DRUCK GmbH & Co KG, Doppelbauerweg 4, 4040 Linz Köglstraße 14, 4020 Linz Dr. Rosmarie Fruhstorfer Grafische Gestaltung: Mag. art. Herwig Berger, Am Herndlberg 114, 4923 Lohnsburg am Steingasse 23 a, 4020 Linz Kobernaußerwald Dr. Angela Wegscheider Für den Inhalt der einzelnen Beiträge zeichnet der Universität Linz, Institut für jeweilige Verfasser verantwortlich Gesellschafts- und Sozialpolitik Altenbergerstraße 69, 4040 Linz Alle Rechte vorbehalten

Für unverlangt eingesandte Manuskripte über- nimmt die Schriftleitung keine Haftung

ISBN 3-85393-022-0

Titelbild: Matthias Bernegger (Beitrag Savel)

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Produktpiraterie„Produktpiraterie“ vor 5500 in der Jahren Mondseekultur: FeuersteinsichelnFeuersteinsicheln „made in ausBavaria“ Bayern waren schwunghaft eine begehrte Handelsware kopiert in der Mondseekultur Von Alexander Binsteiner von Alexander Binsteiner Ein perfekt gearbeitetes Sichelblatt bislang nur eine schlechte Schwarz-Weiß- Den letztenaus der Anstoß Pfahlbaustation für eine weitergehende von Attersee Betrachtu Fotografieng von bayerischenaus den 1960er-Jahren Importsicheln exis in- der Mondseekulturam Attersee gab (Abb. ein perfekt III, 1) gearbeitetesgab der Wis Sichelbl- tierte,att waraus dererst Pfahlbaustationkürzlich [im Heimathaus von Attersee senschaft vor wenigen Monaten nicht Vöcklabruck] unverhofft wieder aufge- am Atterseenur den ( Abb.Anstoß 3,1). zur Der weitergehenden wertvolle Fund, Be -vontaucht, dem es und bislang zwar nurbei eineeiner schlechte Materialsich Schwarz-- Weiß-Fotografietrachtung bayerischer aus den 1960-er Importsicheln Jahren gab, in galt tung lange zur Zeit Ausstellung als verschollen. „Urbayerisches Bei einer in der Mondseekultur, sondern bestätigte Oberösterreich“, gezeigt Anfang 2016 im erneuteneinmal Materialaufnahme mehr, dass man im jene Zuge Geräte der Ausstellungsvhier- Linzer orbereitungStadtmuseum zu „UrbayerischesNordico. Das Re in- orts getreulich zu kopieren verstand … sultat der akribischen Untersuchung des Oberösterreich“und diese imFertigkeit Nordico anscheinend Stadtmuseum auch Linz tauchteFeuersteinartefakts das Sichelblatt mittels jetzt Spezialmikro im Heimathaus- Vöcklabruckemsig nützte. wieder Das auf wertvolle, und konnte lang unlängst für ver -unterskop einem spricht Spezialmikroskop erneut für eine schwunghaft untersucht schollen gehaltene Fundstück, von dem betriebene „Produktpiraterie“ … werden.

Baiersdorf

Donau

Altheim Donau

1 2 Mondseekultur

120 km Abb. I. Der Hornsteinabbau von Baiersdorf bei Riedenburg im Altmühltal lieferte die hochwertigen Platten- Abb. hornsteine1. Der Hornsteinabbau zur Herstellung der von Altheimer Baiersdorf Sicheln. bei Lage Riedenburg der untersuchten im Altmühltal Sichelblätter lieferte in der Mondseekultur: die hochwertigen Plattenhornsteine1 Attersee am Attersee; zur Herstellung 2 See am Mondsee der Altheimer Sicheln. Lage der untersuchten Sichelblätter in der Mondseekultur: 1 Attersee am Attersee; 2 See am Mondsee

3 Importe aus der Altheimer Kultur Ohne Zweifel stammt die Sichel aus den Pfahlbauten von Attersee aus der bayerischen Altheimer Kultur, deren größtes Abbaugebiet für Plattenhornsteine in Baiersdorf bei Riedenburg im Altmühltal lag. Von dort wurde das Stück in einem Zeitraum zwischen 3800 und 3400 v. Chr. bereits als Fertigprodukt direkt verhandelt. Importe aus der Altheimer Kultur rischen Alpenvorlandes, die Entfernung zwischen Hornsteinbergwerk und den Von der Ausführung her ist die in Absatzgebieten auf der Donauroute Vöcklabruck wieder ans Tageslicht ge- über Traun und Ager beläuft sich auf kommene Sichel klar der bayerischen etwa 250 Kilometer. Altheimer Kultur zuzuordnen, deren bedeutendstes Abbaugebiet für Platten- hornsteine in Baiersdorf bei Riedenburg Nachahmerprodukte aus heimischen 2 im Altmühltal lag. Von dort aus wurde Rohstoffen die Ware in einem Zeitraum zwischen In Baiersdorf,3.800 und Landkreis 3.400 v. Kelheim,Chr. bereits nahe als Schloss Fertig -Prunn, legtenEin zweites, steinzeitliche den BergleuteAltheimer im Origi - produkt direkt vermarktet. vierten Jahrtausend v. Chr. einen Tagebau in tertiärennalen Verwitterungslehmen ebenfalls zum Verwechseln an. Aus glei- In Baiersdorf, Landkreis Kelheim, chendes Sichelblatt heimischer Herkunft zahlreichennahe SchlossPingenanlagen Prunn, gewannen legten die sie steinzeit hochwertige- hatte Plattenhornsteine man – aus Überresten zur Herstellung der vonPfahl - großformatigenlichen Bergleute Sichelblättern im vierten und Messern. Jahrtausend Die Baiersdorfer bauten am Plattenhornsteine Mondsee (Abb. fanden III, 2) –sich schon in v. Chr. einen Tagebau in tertiären Ver- wesentlich früher geborgen. Das Stück, zahlreichenwitterungslehmen Siedlungen des an. oberösterreichischen Aus zahlreichen und ursprünglich oberbayerischen im Alpenvorlandes.Besitz des österreichi - In denPingen-Anlagen Pfahlbausiedlungen gewann der Mondsee-Kultur man hochwer sind- schen bis zu Prähistorikerseinem Drittel der und Sicheln Denkmalpfle aus den - tige Plattenhornsteine zur Erzeugung gers Matthäus Much, der zwischen 1870 bayerischenvon großformatigen Platten hergestellt Sichelblättern worden. Die Entfernungund und zwischen 1872 die Hornsteinbergwerk Mondseekultur entdeckte, und AbsatzgebietMessern. auf Baiersdorfer der Donauroute Plattenhornsteine über Traun und Agerbereichert liegt bei nunmehretwa 250 km.die Sammlung des finden sich in zahlreichen Siedlungen Institutes für Ur- und Frühgeschichte der des oberösterreichischen und oberbaye- Universität Wien. Die Provenienz der

Abb. II. Jungsteinzeitlicher Hornsteinabbau von Baiersdorf im niederbayerischen Landkreis Kelheim. Rekons- Abb.truktion 2. desJungsteinzeitlicher Tagebaus um etwa Hornsteinabbau 3.500 v. Chr. von Baiersdorf im niederbayerischen Landkreis Kelheim. Rekonstruktion des Tagebaus um etwa 3500. Chr.

Nachahmerprodukte4 aus heimischen Rohstoffen in der Mondseekultur Ein Sichelblatt, das den Altheimer Originalen „bis aufs Haar“ gleicht, ist schon früher aus den Überresten der Pfahlbauten von See am Mondsee (Abb. 3,2) geborgen worden. Das Stück stammt aus der Sammlung von Matthäus Much, der zwischen 1870-72 die Mondseekultur entdeckte. Heute liegt das Artefakt in der Sammlung des Institutes für Ur- und Frühgeschichte der Universität Wien. Die Überraschung war groß, als sich unter dem Mikroskop herausstellte, dass diese Sichel nicht aus bayerischem Material, sondern aus einem heimischen Plattenhornstein angefertigt worden war. 3

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2 Abb. III. Sichelblätter der Mondseekultur aus Plattenhornsteinen. 1 Attersee am Attersee, Sichel der bayerischen Altheimer Kultur aus Baiersdorfer Plattenhornstein, Länge 15,3 cmAbb. (Heimathaus 3. Sichelblätter Vöcklabruck); der Mondseekultur 2 See am Mondsee, aus Plattenhornstei heimischenen. Sichel aus Oberalmer Plattenhornstein, Länge 19,11 Attersee cm (Sammlung am Attersee, Much, Sichel Institut der f.bayerischen Ur- und Frühgeschichte Altheimer Kultur der Universitätaus Baiersdorfer Wien) Plattenhornstein, Länge 15,3 cm (Heimathaus Vöcklabruck); 2 See am Mondsee, heimische Sichel aus Oberalmer Plattenhornstein, Länge 19,1 cm (Sammlung Much, Inst. f. Ur- und Frühgeschichte Wien).

SichelOffensichtlich überraschte konnten die die FachweltSteinschmiede bereits der Mondseekultur ginale geringfügig. die großformatigen (Die Rohplatten ge- damals.Importsicheln perfekt nachbauen. Bislang ging manwannen in der Forschung die hiesigen davon Pfahlbaueraus, dass aus den Ganz offensichtlich konnten die Schichten der Oberalmer Kalke, die im Steinschmiedesämtliche Geräte derals Importware Mondseekultur aus Bayern die an Mond-Salzkammergut und Attersee kamen. große Diese Mengen Ansicht an Plat- Gerätemuss nun aus revidiert dem Bayerischen werden. Die Nachahmerprodukte mit höchs- tenhornsteinen aus heimischen Plattenhornsteineenthalten.) waren terin PräzisionForm und Ausführung imitieren. erstklassige Nach dem Kopien neu der- bayerischenDie „Mondseesicheln“ Importware. Nur die Qualitätwurden nicht erlichen Fund im Heimathaus Vöckla- nach Bayern getauscht, weil dort kein bruckdes heimischen verliert Rohmaterialesdie Auffassung, blieb leichtwonach gegenüber Bedarf den bayerischen an diesen Originalen Produkten zurück. bestand; dieDie Sicheln Rohplatten überwiegend fanden die Pfahlbauer als Importware in den Schicht inen den der Oberalmerdiversen Kalke, Fundkomplexen die im der anSalzkammergut den Mond- großeund denMengen Attersee an Plattenhornsteinen kamen, Altheimer enthalten. Kultur konnte bis dato keine weiter an Rückhalt. Die Kopien aus hei- einzige Sichel aus Oberalmer Platten- mischemDie Mondseesicheln Plattenhornstein wurden nicht sind nach in BayernForm getauscht,hornstein weil dortnachgewiesen kein Bedarf an werden.diesen Das undProdukten Ausführung bestand. Bislangerstklassig. konnte inLediglich den diversen Interesse Fundkomplexen der bayerischender bayerischen Händler galt dieAltheimer Qualität Kultur des keine Rohmaterials einzige Sichel ausunter Oberalmer- vorrangig Plattenhornstein den Kupfer- identifiziert und werden. Salzschätzen schreitet diejenige der bayerischen Ori- der heimischen Pfahlbauer. Vielmehr waren die bayerischen Händler am Kupfer und Salz der Pfahlbauer interessiert.

5 Weiterführende Literatur: A. Binsteiner – E. M. Ruprechtsberger, Mondsee- Kultur und Analyse der Silexartefakte von See am A. Binsteiner, Der neolithische Abbau auf Jurahorn- Mondsee. LAF Sh 35, Linz 2006. steine von Baiersdorf in der Südlichen Frankenalb. J. Driehaus, Die Altheimer Gruppe und das Jung- AKorrbl 19, 4, 1989, 331–337. neolithikum in Mitteleuropa. Röm. Germ. Zentral- A. Binsteiner, Die Lagerstätten und der Abbau bay- museum Mainz, 1960. erischer Jurahornsteine sowie deren Distribution im K. Willvonseder, Die jungsteinzeitlichen und bron- Neolithikum Mittel- und Osteuropas. JbRGZM 52, zezeitlichen Pfahlbauten des Attersees in Oberös- 2005, 43–155. terreich. MPK 11/12, Wien 1963–68.

6 Singender, klingender Hagen: Eine schlossmusikalische Zeitreise Von Hanna und Herbert Schäffer*

Ein Haken an dem Vieles hing Still und wehmütig gestimmt stehe ich am Schloßberg oben. Unverwandt sucht mein Blick den einst geliebten Ort, dort drüben über der Urfahrwand stand gestern noch Schloß Hagen, viertürmig, ehrfurchtheischend, ein Juwel, Ziel manchen Traumes, eine Bastion gegen alles Kulturunglück, das uns bedroht. So erschien es mir stets; es war stark, mystisch – magisch umflort, einst ein Kultplatz, ein Haken an dem Vieles hing,…1

Schloss Hagen und der „Nachfolgebau“, die Anton-Bruckner-Privat-Universität (nächste Seite).

* Redaktionell adaptierte Auszüge. 1 Beginn eines von HR Univ.-Prof. Dr. Ernst Fried- rich Burgstaller 1963 in freien Rhythmen gestal- teten „poetischen Nachrufs“. Burgstaller (sh. u. a. Fußnote 3) überließ den Autoren das Gedicht spä- ter zum Dank für die systematische Erforschung und umfassende Dokumentierung der Schlossge- schichte.

7 Sein Standort auf uraltem Sied- 2 Seine Schleifung zwecks Errichtung einer Wohn- lungsboden und der kulturelle Feinsinn anlage (erster Plan: Krankenhausbau) ist und bleibt umstritten. Den bestehenden Denkmal- seiner adeligen Eigner hatten sowohl schutz hatte die Behörde extra für dieses Vor- dem Landgut als auch dem nachmaligen haben aufgehoben. Das im 2. Weltkrieg durch Schloss Hagen am Fuße des Linzer Pöst- Streifbombentreffer eher geringfügig beschä- lingberghangs über Jahrhunderte hin- digte, von Eignerin Margarete Falk-Weingärtner weg die Ausstrahlung eines Horts von anschließend rasch wiederhergestellte Schloss wurde nach vorherrschender Meinung „de facto Geschichte, Kunst, Geistesleben und wirtschaftlichem Privatinteresse geopfert“. speziell auch der Musik gesichert. 3 An vorderster Stelle zu nennen sind hier HR Univ.-Prof. Dr. E. F. Burgstaller (1906–2000) und HR Dr. Franz Pfeffer (1901–1966), beide ab den Nachkriegsjahren jeweils längere Zeit Leiter des An dieses verpflichtende Erbe, nicht ehem. Instituts für Landeskunde von OÖ und erst seit dem Abriss des Herrschaftssit- Schriftleiter der OÖ. Heimatblätter. Als Regional- 2 forscher mit profunder Fachkompetenz koope- zes (Juni–Juli 1963) im Focus engagierter rierten sie im „Fall Hagen“ oft partnerschaftlich. 3 Forscher, wurde mit dem Neubau und Burgstaller kannte das Schloss sowie dessen Ar- der Eröffnung der Anton-Bruckner-Pri- chiv aus eigenem Ansehen und bekam dort auch vat-Universität auf Hagen’schem Areal Abschriften zu Gesicht, die Komm.-Rat Ludwig nunmehr 2015 adäquat und folgerich- Pruscha (Heimatforscher, ab 1932 Mitbesitzer der Villa Hagen/-Tscherne) in jeweils mehrjähriger tig angeknüpft. Mit den Hauptfächern Arbeit anfertigte. Pruscha übertrug als Nachfol- Musik, Schauspiel, Tanz mag die neue ger des kaiserlichen Rates Friedrich Tscherne Universität wieder bedeutende Persön- (1862–1928) die Originalaufzeichnungen im Auf- lichkeiten des kulturellen Lebens in den trag Weingärtners in Maschineschrift. Nach Aus- sage der Erben wurden die Sammelmappen bei Hagen bringen und ihm so einen Teil den Nachlass-Abwicklungen bedauerlicherweise seiner einst hervorragenden histori- entsorgt, wodurch ein großer Teil des wertvollen schen Stellung zurückgeben. Materials unwiederbringlich verlorenging.

8 Von Minnesang, verschollenem erhalten, was die Verbindung des Min- Liedgut, geheimnisvollen Tönen u.v.m. nesängers zu Otto V. von Lengenbach – und damit wiederum zum Hagen – zu- Wie bei vielen Herrschaften liegen sätzlich gefördert haben mochte. [Der auch die Anfänge des Hagen weitge- Name Niethart oder Neidhart von Reu- hend im Dunkel der „ungeschriebenen“ ental wird als allegorisches Pseudonym Geschichte. Bodenfunde künden von eines bayerischen oder oberösterreichi- der Erstbesiedlung bereits in vorkelti- schen Ritters angesehen. Lieder dieses scher, keltischer und sohin jener Zeit, da Stils wurden fortan als neidhart Gattungs- Druiden und Barden mit Tänzen oder begriff. Meisterliche Schöpfungen Neid- Gesängen kultische Glaubensrituale harts finden sich neben der Riedegger pflegten.4 Handschrift unter anderem im Codex Im Hochmittelalter waren es mit Manesse/Heidelberg und in der Kleinen einiger Wahrscheinlichkeit zwei der Heidelberger Liederhandschrift.] berühmtesten deutschsprachigen Min- nesänger und Dichter, die am „Landsitz über der Donau“ [erste urkundlich ver- Die lange Musiktradition der Wallseer briefte Erwähnung 1414] durch ihre ga- Auf die Ära der mächtigen Herren von lante Kunst bezauberten: Neidhart von Wallsee, Hagenbesitzer von 1298–1483 Reuental und Ulrich von Liechtenstein. und fast zweihundert Jahre hindurch den Lieder Neidharts in der Riedegger Hand- Landeshauptmann von Oesterreich ob schrift, so benannt nach der Haunsperger der Enns stellend, geht das nächste, aus- Burg bzw. dem später angebauten Star- gedehnte Kapitel Hagen’scher Musikge- hemberger Schloss Riedegg bei Gallneu- schichte zurück. „Haus- und Hofinstru- kirchen,5 lassen Aufenthalte des Sängers in der Region jedenfalls stark vermuten. Wie Neidhart genoss auch Ulrich von 4 Liechtenstein6 die Gunst des mächtigen Das an uns gelangte Sagen-und Legendengut setzt mit der Thronbesteigung des Kaisers Tibe- Regensburger Domvogts, des Hoch- rius (14 n. Chr.) ein, als ein römischer Trupp im freien Otto V. von Lengenbach, Burg Sicherheitsgürtel nördlich der Donau Landver- Neulengbach/NÖ, der um 1222 seiner- messungen vornahm. Das Areal Hagen lag im seits indirekt mit dem Hagen in Kontakt römischen Grenzbereich, worauf u. a. Prof. Dr. 7 Gerhard Winkler verwies. gekommen war, und zwar durch die 5 Mit beiden war die Herrschaft Hagen schon früh Heirat mit Hailca, der Witwe Heinrichs in Verbindung getreten. von Griesbach-Waxenberg, Tochter des 6 Ulrich von Liechtenstein (1198–1275) war einer der bayerischen Hall-Grafen Dietrich von politisch und diplomatisch bedeutendsten Minis- Wasserburg-Vichtenstein. Dem Dom- terialen seiner z. T. in das Interregnum fallenden Zeit, bekleidete die Ämter Truchsess, Marschall vogt widmete Ulrich von Liechtenstein sowie Landrichter in der Steiermark. fast 100 Strophen aus Frauendienst, sei- 7 Das Wappen der Hochfreien von Lengenbach war nem mit 18.882 Versen und 58 Liedern vermutlich im Allianz-/Doppel-Wappen (zusam- populärsten minnelyrischen Werk. men mit jenem der Wilheringer) an der Gutska- pelle Hagen angebracht. Jenes der nachfolgenden Neidhart hatte von Herzog Fried- Ministerialen-Linie befand sich in Verbindung mit rich II. von Österreich ein Haus am den Wallseern an der Wappenwand der Schloss- Lengenbach (Areal Alt-/Neu-Lengbach) kapelle Hagen.

9 Lochpfeife der Wallseer. Nachbildung. (Fam. Jäger/ Linz)

Wallseer Wappen, Landschloss Ort, Gmunden. Das Wappen befand sich auch in der Schlosskapelle Hagen. Foto: Bundes-Immobilien-GesmbH, Mag. Gierlinger ment“ des aus Schwaben stammenden [Nach Aufzeichnungen des Erzher- Geschlechts war die im alpenländischen zogs Franz von Habsburg-Lothringen, Raum seit dem 12. Jh. gebräuchliche Schloss Wallsee/NÖ, hatten einige Schwegel-Flöte oder Lochpfeife.8 Als eine Wallseer zusammen mit Rudolf I. von der urtümlichsten Querflötenformen Habsburg10 in Palermo/Sizilien studiert, wurde dieses Holzblasinstrument tra- was das freundschaftliche und vertraute ditionsbewusst bis ins 18. Jh. bei allen Verhältnis des Geschlechts zu den Habs- größeren Hagen-Festen gespielt, auch burgern begründete; das Gut im Haken/ zum eigens für die Dynastie komponier- Hagen war eines der zahlreichen Besitz- ten Wallseer Lied, das noch unter Besitzer tümer, die ihm jene zum Lohn für seine Baron Nikolaus v. Clam (1725–1748) regel- Loyalität und Treue in Österreich über- mäßig in der Schlosskapelle erklang. Die trugen.] Komposition selbst verschwand samt Melodie und Text irgendwann spurlos. Klingende Renaissance Von den Autoren9 aktuell angestellte Zum Musikleben im Hagen ab dem Nachforschungen (u. a. beim Stadtarchiv 16. Jahrhundert liefert das abschriftlich in Bad Waldsee und bei der Erzherzog- lichen Familie Habsburg-Lothringen im 8 Diese Bezeichnung dürfte von den Wallseern aus Schloss Wallsee, wo Barbara von Schaun- deren Heimat im schwäbischen Waldsee, heute Bad berg-Wallsee als Letzte der Dynastie ihren Waldsee/Württemberg, mitgebracht worden sein. 9 Träger der Goldenen Kulturmedaille sowohl des Lebensabend zugebracht hatte) verliefen Landes Oberösterreich als auch der Stadt Linz. leider negativ. Der Verbleib des Wallseer 10 In der Nachfolge Friedrichs II. 1273 zum römisch- Liedes gibt also unverändert Rätsel auf. deutschen König gewählt.

10 Schloss Hagen mit Garten und „singendem Brunnen“. Kupferstich, G. M. Vischer, 1674 gerettete Quellenmaterial – wie etliches Hagen´schen Steinkreisareal11 als Bau- andere Inventar war das reichhaltige stoff mitverarbeitet. Dasselbe wird für Archiv 1963 ein Opfer der Spitzhacke den parallel geschaffenen „singenden geworden – durchwegs nur Fingerzeige. Brunnen“ berichtet, welcher legenden- Es ist jedoch davon auszugehen, dass die haft mythischer Ausschmückung zu- tatsächliche Anzahl klangvoller Ereig- folge jeweils zur Sommersonnenwende nisse und Darbietungen in der Renais- lieblich feine, gesangsähnliche Töne versandte. sance nicht minder groß war, sowohl bei weltlichen und vornehmeren Festivitäten Sozialer Geist als auch bei religiösen bzw. kirchlichen Spezielle Erwähnung verdient die Anlässen mit Umzügen katholischen bereits zu jener Zeit beinah sprichwört- und protestantischen Gepräges. Nach einer interessanten Chronik- notiz zur Schloss-Errichtung (1571–1574) 11 Vor allem auch bei der Sichtung, Deutung und Da- tierung der frühgeschichtlichen Objekte, Felsritz- unter Christoph Häckhl von Lustenfelden bilder etc. leistete HR Univ.-Prof. Dr. Burgstaller hatte man dabei Monolithe und Fels- unschätzbare Beiträge. Ohne sie wäre vieles davon blöcke aus dem geheimnisumwitterten wissenschaftlich nicht zuordenbar gewesen.

11 liche Sozialgesinnung der meisten Ha- Illustre Besucher … gen-Besitzer. Ihr Bemühen, den Men- Von der weiterhin aufrechten Rolle schen im eigenen Herrschaftsbereich des Schlosses als ein gesellschaftlicher, nicht nur Fürsorge, sondern nach Maß- kultureller und musikalischer Mittel- gabe des Möglichen auch (musische) punkt zeugen außer illustren Besuchen Bildung angedeihen zu lassen und so (1762 hieß man im Hagen z. B. die Fa- deren Existenzbedingungen zu verbes- milie Mozart willkommen, 1825 Franz sern, ist vielfach belegt. Schubert)13 bis ins 20. Jahrhundert im- Thomas Diltmann, Schulmeister zu mer wieder Konzerte sowie klingend un- Urfahr, lehrte im Vorfeld der feierlichen termalte Veranstaltungen verschiedens- Erhebung des neuerbauten Schlosses ten Zuschnitts. zum Edelsitz (1609) die untertänigen Kinder ein musikpoetisch stuckh, so sye der Operettenluft und Lichter-Romantik herrschaft [bei der Feier] auffbringen [vor- So erfreute etwa der aus Budapest tragen] sollten.12 Ein anderes Exempel: gebürtige weitgereiste Operettenbari- Für 1721 meldet die Schlosschronik, dass ton Eduard Steinberger (1856–1929), Gräfin Maria Josepha von Salburg neben Gatte von Maria Theresia Weingärtner, der Hagen’schen Meierstube ein neues Schwester des Schlossbesitzers Josef schuellvndt lerzimer einrichten ließ und die Weingärtner, geladene Nobilitäten zu- Untertanenkinder dort auch eine kleine weilen mit Bühnenmusik, Schauspiel- Mahlzeit, im heutigen Verständnis eine und Tanzperformances im prunkvoll Art Schuljause, gereicht bekamen. Mit ausgestatteten, über zwei Stockwerke einem Preislied auf die Wohltäterin be- reichenden Steinernen Saal.14 Noch aus- dankten sich die Schützlinge … 12 Chronik-Eintrag von Wolfgang Stauffenbuel, Schreiber von Hagen-Besitzerin Barbara Bischoff. 13 Zustande kamen diese Besuche auf Einladung der damaligen Starhembergischen Besitzer. Vgl. Das Clam’sche Untertanen-Lehrbuch Schäffer, Persönlichkeiten/Hagen, OÖ. Heimat- blätter, Heft 1/2-2013, S. 22 ff. Als weiteres Beispiel für die Volks- 14 Steinberger Moritz Eduard Elias wurde 1880 erster nähe und das sozial bzw. erzieherisch Gesangskomiker in Graz. Danach trat er am Thalia fortschrittliche Engagement vieler Ha- Theater in New York auf und bereiste mit dem En- semble den gesamten Westen Amerikas. Nach 12 gen-Eigner steht das Clam’sche Unterta- Erfolgsjahren in Berlin wurde er 1895 Mitglied des nen-Lehrbuch (18. Jh.). Man erfährt daraus Wiener Carl-Theaters und schloss sich 1900 dem u. a. von einem durch den damaligen Wiener Operettenensemble an, dem er bis 1914 Weinbauern beim Schloss angelegten angehörte. Die Wiener Operettengesellschaft hölzernen Musikpavillon; in diesem hatte ihren Sitz, so kurios es klingt, in St. Peters- burg und Moskau, firmierte daher als „Russische Musicaeum gaben die von der Herrschaft Operettengesellschaft“ und führte von dort aus gezielt geförderten Sprösslinge des mit ihrer Theatergruppe und deren Stars auch in Weinbauern fallweise Konzertauftritte Kiew, Odessa, Galatz und Bukarest dem verwöhn- mit der „Klampfn, der Schalmei und ten Hochadel und den gebildeten Bürgerschichten Wiener Operette in glanzvoller Besetzung vor. der Lochpfeife“. Sporadisch fanden hier Steinberger trat ebenso in der Stadt Linz auf. Für auch Gastspiele von Musikern statt, die das Publikum auf Schloss Hagen sang er – u. a. im im Hagen getafelt hatten. Rittersaal – auch Minnelieder in Ritterrüstung.

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Künstlerprominenz zu Gast im Hagen: das sechsjährige Wunderkind W. A. Mozart, 1762, und Franz Schu- bert, 1825; Fahnenausschnitt Schloss Atzenbrugg/NÖ. Seine Oberösterreich-Reise 1825 hatte F. Schubert unter anderem auch zu einem Besuch der ihm freundschaft- lich verbundenen Familie Spaun genützt. Gedenktafel an der Spaun-Villa in Traunkirchen.

Bariton Eduard Steinberger in Linz, privat und beim Rollenspiel

13 gangs der 1930er-Jahre bot dieser den erlesenen Rahmen für Konzerte, Ban- kette und, bei Bedarf, für die Feier der Sommersonnenwende, die als Patrozini- ums-Fest Johannes des Täufers bis zum Ende der Besitzperiode Falk-Weingärt- ner (1954) ein traditioneller Fixpunkt im Hagen’schen Veranstaltungsleben blieb. Die bei Anrainern und auswärtigen Gäs- ten äußerst beliebte Lichterprozession war stets großzügig arrangiert,15 mit althergebrachtem Gesang, gereichtem Gebäck, Sprung übers Feuer und da- nach einer „Taufe“ im Schlossteich, d. h., man sprang einfach hinein. Regnete es, wurde unter den Arkaden weitergefeiert und gesungen, bei stürmischerem Wet- ter lud Schlossherr Weingärtner in den Steinernen Saal. Dort kam sogar eine Zimmerorgel, anfangs von Weingärt- ner selbst betätigt, als Begleitinstrument zum Einsatz. Zur Mitgestaltung der Sonnwend- feste oder von Messfeiern wurde in der Zwischenkriegszeit auch der bekannte Linzer Musikpädagoge Robert Treml mit seinem Motetten-Chor engagiert, der im Hagen u. a. exklusive „Singwo- Musikpädagoge Robert Treml (*1899. Als Wehr- chen“ gab. machts-Oberleutnant im 2. Weltkrieg seit April 1945 vermisst). Zu seinen Singwochen im Hagen hatten sich u. a. Prof. Hans Bachl und die Salzburger Trapp-Familie eingefunden, die dann in ihrer neuen Sang und Klang – auch im amerikanischen Heimat musikalische Veranstaltun- gen nach Tremls Vorbild inszenierte. Schlossumfeld

Musikalisches hatte auch im engsten 15 Umfeld des Herrschaftssitzes teils weit Romantische Beleuchtung spendeten sogenannte „Johannes-Amperln“, auf Stangen mitgetragene über die Nachkriegszeit hinaus Raum Laternen. und Szene. Im Cafe Öhner (Hagen’scher 16 Bauansuchen 1887 durch Karl Schweeger, den Wirtschaftstrakt, Hagenstraße 59) gab es damaligen Schloss- und Brauereibesitzer. Wirt- samstäglich Tanzmusik, ebenso in der schaftlich nicht mehr konkurrenzfähig, wurde die 16 Schlossbrauerei durch Robert Weingärtner, verh. Bierhalle am Hagen, der späteren Hagen- mit Paula Poschacher (Poschacher-Brauerei), 1906 diele, Hagenstraße 55, wo zunächst nur stillgelegt. Die Hagendiele selbst blieb bis 1990 in ein Solo-Akkordeonist, dann ein Duo Betrieb.

14 Einladung zum „Morgensingen“ am 24. 6. 1934 auf der Schlossgartenterrasse

15 Das „Gasthaus zur Schiffmühle“ in einer Postkarte aus dem Jahr 1907. Die geschichtsträchtige Wirtsstätte wurde beim Abriss der Ortschaft Urfahrwänd wegen des zunehmenden Pendlerverkehrs 1973 geschleift.

oder ein Trio mit Ziehharmonika, Gi- darunter die Hoftaverne und der Hof- tarre und Schlagzeug aufspielten.17 wirt bei Georg Baumgartner auf dem Publikum auch aus dem Linzer Pruckmayrhäusel, wo sich bei Spielleu- Stadtgebiet verzeichnete hier der u. a. temusik, Freitanz, Feiern und sonstigen von ORF-Unterhalter Haymo Pockber- Vergnügungen vor allem volkstümliche ger moderierte Silvesterabend. Zulauf Geselligkeit entfaltete. Ähnliches galt erzielten ferner Veranstaltungen des zwi- für das (bis 1670 zur Herrschaft Hagen schen 1959 und 1963 in der Hagendiele gehörige) Gasthaus zur Schiffmühle an der einquartierten Jugend-Tanzclubs „ABC“. Urfahrwänd. Einen Bogen zur schlossherrlichen (Mu- sik-) Kultur spannten schließlich die ge- „Himmlische“ Errettung schmack- und niveauvoll ausgerichteten bunten Abende im Gasthaus am/zum Ha- Der Überlieferung nach stehen gen, Hagenstraße 43, mit Tanz und Ins- Schloss Hagen und seine Musikkultur – trumentalnummern, Liedern zur Laute mittelbar – auch an der Wiege des Linzer und zum Mitsingen oder Gelegenheit Wahrzeichens, der Wallfahrtskirche am zu freier Gedichtrezitation. Pöstlingberg. Schon im 17. Jahrhundert hatten im Hagen mehrere Gaststätten existiert, 17 Auskunft des ehem. Besitzers Günter Kaar.

16 Um 1720 hatte sich die Meierin des Chorherr Thomas, Große Österreicher. Wien, 1985. Schlosses, Eva Luckeneder, schmerz- Kaar Günther/Pötzelberger R., 500 Jahre gastrono- gebeugt auf Krücken zum Gnadenbild misches Linz. Gaststätten in Oberösterreich. Linz, Mariens18 emporgeschleppt und bereits 1990. nach dem zweiten Bittgang wundersame Klier Karl Magnus, Volkstümliche Musikinstru- mente in den Alpen. Kassel, 1957. Heilung erfahren. Schäffer Hanna und Herbert, Beiträge zu eini- Graf Gundemar Joseph von Starhemberg gen mit dem vormaligen Landgut/Schloss Hagen (1679–1743), seinerseits in gesundheit- bei Linz verbundenen Adelsgeschlechtern, deren lich sehr schlechter Verfassung, ließ Gesippen und Nachfolgern wie den Herren von sich daraufhin von Luckeneder und den Amerang-Schleunz (-Anzbach-Lengenbach), Dorn- berg-Lungau, Griesbach-Wasserburg, Haunsperg guten Bet-Weibern der [damals Salbur- (Moosbach), Kölnböck, Machland-Velburg-Clam, gischen] Herrschaft hoffnungsvoll zum Schaunberg-Leonberg, Schönhering-Plankenberg Andachtsbild begleiten. Die frommen Lie- (Mürz, Kindberg, Katsch, Teufenbach; Witigonen), der und der himmlische Gesang der Frauen Sunelburg/Sindelburg, Wallsee, Wilhering-Waxen- erwirkten ihm – so die „wahrhafte Be- berg (-Stille-Heft-Url-Hagenau), Zakking-Sumerau 19 (Liechtenstein-Murau, Radelberg, Arnstein). Eigen- schreibung“ im OÖ. Landesarchiv verlag, Linz, 2014. und ein aus dem Schlossarchiv Hagen Schäffer Hanna und Herbert, Die Johannes-Kapelle erhaltener Bericht – ebenfalls fühlbare des ehemaligen Schlosses Hagen. Linz, 2012. Linderung bzw. Beschwerdefreiheit. Schäffer Hanna und Herbert, Bedeutende Per- Aus Dankbarkeit ging der Graf noch sönlichkeiten und Begebenheiten im ehemaligen 1720 an die Rodung eines Waldstücks, Landgut /Schloss Hagen bei Linz. Linz, 2013. Und: ließ vorerst eine hölzerne, um 1730 eine Auszug in OÖ. Hbl, 67. Jg., Heft 1/2, 22 ff. [hrsg. zum Kapelle mit Steinfundament und ab 1742 50jährigen „Todesgedenken“ des Schlosses Hagen]. das Gotteshaus errichten. Schäffer Hanna und Herbert, Schloß Hagen bei Linz: Die Geschichte einer Herrschaft im Spiegel von his- Fertiggestellt wurde der Sakralbau torischer Legende, Anekdote, Sage und Erzählung. durch Gundemars Sohn Heinrich Maxi- (Auszug aus „Merkwürdiges…“) In: OÖ. Hbl, 62. milian. Er hatte am 1. Mai 1748 die Herr- Jg., Heft 3/4, 140 ff. Linz, 2008. schaft Hagen erworben und wohnte der Schultes Lothar, Linz – Gesichter einer Stadt. Wei- feierlichen Einweihung der Wallfahrts- tra, 2011. kirche am 9. Dezember selbigen Jahres Wacha Georg, Kunst in Linz. Reformation und Ge- laut Chronikvermerk „persönlich bei“.20 genreformation, Bruderzwist und Bauernkrieg. In: Kunstjahrbuch der Stadt Linz 1967. Ziegler Anton, Rückblick auf die Geschichte der Stadt Urfahr a. D., Linz, 1920.

Mitverwendete Literatur: Weitere Publikationen zum Thema ‚Hagen‘ sind im Internet nachzublättern: Aspernig Walter, Geschichte des Landgutes Hagen austria-forum.org/web-books (Suchbegriff: Schäf- bei Linz. HistJbL, 1971. fer). Barczyk Michael, Stadt Bad Waldsee. In: Rudolf Hans Ulrich (Hrsg.), Stätten der Herrschaft und Macht, Burgen und Schlösser im Landkreis Ravensburg. 18 Aufgestellt 1716 von Franz Obermayr, Laienbru- Ostfildern, 2013. der des Linzer Kapuzinerklosters (1606–1991). Barczyk Michael, Jetter Karl, Kiemel Günther, Bad 19 Archiv Starhemberg. Waldsee. Zwischen Wald und See. Bad Waldsee, 20 Schäffer, Schloß Hagen bei Linz, Auszug OÖ. 1997. Heimatblätter, Heft 3/4-2008, Seiten 170–172.

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Der „bewegliche Altar“ von Eidenberg: Anmerkungen zu einem historischen Sakralrequisit Von Thomas Schwierz

Zu einer Entdeckung ganz beson- Papier. Die Übersetzung des lateinischen derer Art führte das Kirchenrenovie- Textes durch den Autor ergab zweifels- rungsprojekt 2014/15 in der Mühlviertler frei, dass es sich bei dem Schriftstück um Gemeinde Eidenberg: bei der Neuge- einen Weihezettel von Johannes Baptist staltung der Paramentenkammer kam IV. Hinterhölzl (1698–1750) handelt, ebendort eine quadratische, rundum der am 1. Juni 1734 zum Abt des Stiftes holzgerahmte Marmortafel mit rücksei- Wilhering gewählt worden war. Auf ihn tiger Holzunterlage zum Vorschein, de- geht der Neubau des Klosters nach der ren wachsversiegelte Mitte sich fenster- Feuersbrunst von 1733 zurück, ebenso ähnlich öffnen ließ. Die von einem losen die Errichtung der Eidenberger Kirche.1 Steindeckel verschlossene Ausnehmung dahinter enthielt u. a. menschliche Kno- Mit der Übersetzung des Schrift- chenfragmente, Weihrauchkörner und stücks wurde zur Gewissheit, was die ein vergilbtes, handbeschriebenes Blatt fleißigen Helfer sogleich ahnungsvoll

Weihezettel mit lateinisch abgefasstem Text. „1743: die 14: mensis Decembris. Ego Joannes Baptista Abbas Hilariae consecravi hoc altare portatile et Reliquias Sanctorum inclusi“. Übersetzung: „1743, am 14. Tag des Monats Dezember. Ich, Johannes Baptist, Abt zu Wilhering, habe diesen tragbaren Altar geweiht und die Reliquien der Heiligen eingeschlossen“. (Die Identität der Reliquien ist nicht näher bekannt)

1 Siehe dazu auch den Beitrag von Dr. Reinhold Dessl „Zwischen Großbrand, Krieg und Kloster- sturm: Drei Wilheringer Stiftsäbte aus Zwettl/ Rodl im 18. Jahrhundert“ in Ausgabe 3/4-2015 der OÖ. Heimatblätter

19 Die Altarplatte aus Solnhofner Marmor (41 cm im Quadrat) mit Holzrahmen (49,2 x 49,5 cm, Höhe 5,8 cm)

Rückseitige Holzunterlage/Ausschnitt mit dem Siegel von Abt Johann Baptist IV. Hinterhölzl über der mittigen Fensterung (12,3 cm im Quadrat). Sie bildet den Zugang zur Reliquienkammer, dem Sepulcrum (9,3 x 8,7 cm)

20 vermutet hatten: man war auf einen der Religion stand damals noch unter drako- historischen, tragbaren Altäre gestoßen, nischer Strafe, und so musste man sich wie sie ehedem u. a. zur Feier der Eu- stets „fluchtbereit“ halten. Nach der Le- charistie außerhalb der Kirche häufig in galisierung des Christentums durch den Verwendung standen, und hatte dabei römischen Kaiser Konstantin im Jahr 313 irrtümlich, unwissentlich, die Reliqui- erfolgte der Wechsel zu fest aufgestell- enkammer (das sogenannte Sepulcrum) ten Altären, was bewegliche aber keines- geöffnet. wegs überflüssig machte, denn Messen wurden immer wieder auch außerhalb von Kirchen gefeiert. Wie fixe Altäre Fixer und tragbarer Altar: Ursprüngliche mussten die mobilen (zu ihrer leichteren Benützungsvorschriften2 Transportierbarkeit verwendete man bald hauptsächlich Platten oder Tafeln) Der tragbare Altar, altare portatile, kam nun ebenso konsekriert werden. Im als Alternative zum fixen, feststehenden Mittelalter wurde es strengste Pflicht, in verschiedenen Fällen zum Einsatz: Altartafeln einzig dann gottesdienstlich • Wenn ein Altar nicht geweiht werden zu verwenden, wenn sie geweiht waren. konnte, weil er aus „unzulässigem“ Das Konzil von Paris (829) bedrohte je- Material wie Gips oder Holz bestand; den Priester, der diese Vorschrift miss- wenn die Mensa (= Altarplatte) fehlte achtete, mit schwerer Sanktion. Eine oder andere Mängel vorlagen. Verordnung Hinkmars von Reims aus • Wenn der feststehende Altar noch dem Jahr 857 gestattete die Abhaltung nicht geweiht war, aber bereits die Eu- von Messen in noch nicht konsekrierten charistie gefeiert werden sollte. Kirchen oder einfachen Kapellen nur für • Wenn Zweifel herrschten, ob der fixe den Notfall, und dies ausschließlich un- Altar je geweiht wurde. ter Benützung eines bischöflich geweih- • Wenn der fixe Altar durch irgendei- ten Altarsteins. nen Umstand wie das unbefugte Öff- Im Spätmittelalter unterlag der Ein- nen des Reliquiengrabes oder einen satz tragbarer Altäre (insbesondere auf Bruch oder das Lösen der Mensa vom Missionsreisen oder Kriegszügen) der Stipes (= Unterbau) entweiht wurde. ausdrücklichen Genehmigung eines Bi- Desgleichen geschah bei Zerstörung schofs. Ansonsten sollte die Eucharistie oder sonstiger Entweihung des Got- nur noch in Kirchen auf Fixaltären ge- teshauses. feiert werden. Im 13. Jahrhundert kam • Wenn eine Messe aus welchen Grün- es zu einer schrittweisen Lockerung; den immer außerhalb oder fernab der für „bestimmte Zwecke“ gestattete der Kirche zu feiern war. Apostolische Stuhl die Benützung be- weglicher Altäre per Privileg. Diese Son- dergenehmigung wurde in der Folge zu- Zur Geschichte des altare portatile3 nehmend großzügig gehandhabt. Sogar

In frühchristlicher Zeit wurde der 2 Braun J. Der christliche Altar in seiner geschichtli- Gottesdienst generell auf mobilen Altar- chen Entwicklung (Bd 1). München 1924. Seite 43 tischen zelebriert; die Ausübung dieser 3 Ebenda, Seiten 71–86

21 niedere Laien konnten das Privileg von • ein Sepulcrum in der Holzunterlage, den Bischöfen erwerben, um für sich zu der Stein darüber bildet das Sigillum Hause Messen lesen zu lassen, womit sie (den Verschluss) des Reliquiengrabes; der Pflicht zum sonntäglichen Kirchen- • ein Sepulcrum im Stein, ohne Holz- dienst entgingen. Aufgrund fortgesetz- einfassung; ter Missbräuche verlangte das Triden- • ein Sepulcrum im konsekrierten tinum (Konzil von Trient, 1545–1563) Stein, mit Holzeinfassung; die Rückkehr zum früheren Status Quo; • ein konsekrierter Stein ohne Sepulc- Messen sollten fortan wieder einzig in rum – ob diese Art jedoch zulässig sei, Gotteshäusern zelebriert werden. Das bezweifelte Prierio. ließ sich freilich nur zum Teil umsetzen, Verpflichtende Erlässe zur Einschlie- sodass die Benützung des Portatile wei- ßung von Reliquien fehlten, weshalb terhin gestattet blieb. Die Liturgiereform nicht jeder hierzu geeignete Tragaltar des II. Vatikanischen Konzils (1962– solche birgt. Altar- bzw. Steingrößen 1965) änderte daran nichts, nur dürfen waren stark variabel. Die Synode von Gottesdienste seitdem gegebenenfalls Trier hielt 1310 allerdings fest, dass zwi- auch ohne geweihte Altarplatten gefeiert schen Kelch und Hostie eine geziemende werden. Die „mobile“ Variante ist somit Entfernung vorhanden sein müsse. Für – prinzipiell – entbehrlich geworden. die kleineren Exemplare wurden spezi- elle Kelche und Patenen in Miniaturform verfertigt. Der heilige Karl Borromäus kennt in seiner Instructio fabricae ecclesiae Beschaffenheit eines „Portatile“4, 5 nur Portatilien mit Holzfassung. Als Richtmaß schlug er umgerechnet 36 x 29 Wie das Sakramentar von Gellone Zentimeter vor, mit einem halbfinger- aus dem 8. Jahrhundert bezeugt, hatte breiten Falz rundum. Die Fassung sollte Stein bereits während der Regentschaft aus Nussholz und mindestens 3,6 cm Kaiser Konstantins als das für ein Por- hoch sein, der Falz des Rahmens auf den tatile angemessene Material gegolten. Stein „hinübergreifen“. Bindend vorgeschrieben wurde die He- ranziehung von Stein anno 857 in den 6 capitula des vorwähnten Hinkmar von Die drei Typen des Tragaltars Reims. Seit der zweiten Hälfte des Mit- • Der älteste und gebräuchlichste Ty- telalters war es dann üblich, die Stein- pus ist der tafelförmige – mit be- tafeln in Holzplatten einzulassen und weglichem, einer Mensa ohne Stipes mit einem hölzernen Rahmen zu fassen. vergleichbarem Stein, der auf einen Das Holz unter der Steinplatte entsprach dem Stipes (Unterbau) eines fixen Al- tars. Das Sepulcrum (die Reliquienkam- mer) konnte entweder im Holz oder im 4 Ebenda, Seiten 420–430, 434 Stein angelegt sein. 5 http://www.uni-muenster.de/Kultbild/missa/ bilder/realien/albe/tragaltar1.html; 30. 12. 2015 Die Summa summarum des Silvester 6 Braun J. Der christliche Altar in seiner geschicht- de Prierio (1516) benennt vier Arten des lichen Entwicklung (Bd 1). München 1924. Seiten altare portatile: 444–446, 458, 470, 489, 490, 497–499

22 festen Altar aufgestellt bzw. in dessen vertiefte Mensa eingepasst wird. • Kastenform. Dort ist der Stein in die Oberseite oder in den Deckel eines Kästchens eingelassen. Der Kasten, durchwegs auf Füßen stehend und an den vier Seiten oft reich verziert, er- laubt die Hinterlegung mehrerer Reli- quien. • Das altarförmige Portatile – praktisch die Miniaturausgabe eines Fixaltars. (Tragaltäre jüngeren Datums sind quad- ratisch und schlichter gearbeitet als v. a. die mittelalterlichen).

Weihe7 Die Konsekration eines Portatile un- Portatile-Salbung. Miniatur eines Pontifikale. Se- 8 terscheidet sich ob dessen sakral gerin- villa, Biblioteca Colombina gerer Bedeutung sichtbar von der Weihe fixer Altäre. Der Ritus ist einfacher, die Zelebrant der Weihe eines tragbaren Litanei wird weggelassen, die Orationen Altars ist der Diözesanbischof oder der divergieren, der Stein wird nur dreimal Rektor des jeweiligen Gotteshauses; die besprengt, und auch die Beisetzung der Zeremonie geschehe im Rahmen der Ta- Reliquien gestaltet sich anders. gesmesse und kann zu jedem beliebigen Termin stattfinden, außer am Karfreitag Altare portatile – heute und Karsamstag. Mit Vorzug soll jedoch ein Weihetermin gewählt werden, der Gänzlich abgekommen ist das Por- Gläubigen zahlreiche Teilnahme er- tatile nach wie vor nicht. Regeln zu Her- möglicht, also vor allem der Sonntag. stellung, Weihe und Gebrauch listet Bis zum Beginn der Eucharistiefeier soll aktuell eine Internetsite der Katholisch- der Altar vollkommen unbedeckt sein. Theologischen Fakultät der Universität Kreuz, Altartuch und sonst für die Al- Salzburg9 auf. Wichtiges in Auszügen: tarzurüstung Benötigtes stelle man an Einem tragbaren Altar gebührt genauso einem passenden Ort im Presbyterium Ehrfurcht wie einem feststehenden, weil bereit. er ausschließlich und auf Dauer für das eucharistische Mahl bestimmt ist. Ein tragbarer Altar kann aus jedem würdi- 7 Ebenda, Seite 731 gen und haltbaren Material bestehen, 8 Aus: Braun Joseph S. J. Der christliche Altar in sei- ner geschichtlichen Entwicklung (Bd 1). München das den Erfordernissen des Gottesdiens- 1924. Tafel 114 tes nach den Bräuchen und Sitten der 9 https://www.sbg.ac.at/pth/links-tipps/past_ein/ verschiedenen Gegenden entspricht … kirchwe/kap6.htm; 30. 12. 2015

23 Warum ein Portatile für Eidenberg? Äußerung von Expositus10 P. Wolfgang Reingruber (1937–1959), wonach die Der Bau des Eidenberger Gotteshau- Marmortafel Reliquien enthalte. Dass ses hatte 1741 begonnen, aber noch vor es sich um einen Tragaltar handelte, war der Kirchweihe im Jahr 1749 wurden hier Haider ungeläufig, auch vermag er sich, Messen gelesen. Damit ist der Grund wie er dem Autor gegenüber betonte, zur Anschaffung eines Portatile gemäß an dessen Verwendung während seiner Benützungsvorschriften (s. o.) hinrei- mittlerweile mehr als siebzigjährigen chend erklärt. Die Anfertigung „extra für Dienstzeit nicht zu erinnern. Die Wie- Eidenberg“ steht übrigens schon allein derauffindung des Portatile nahm man deshalb außer Frage, weil die Solnhofner Anfang 2016 unverzüglich zum Anlass Marmortafel dasselbe Muster und For- für eine gründliche Restaurierung; die mat wie die Platten aufweist, mit denen Reliquien und der Weihezettel wurden der Boden des Gotteshauses ausgelegt im Sepulcrum neu eingeschlossen und ist. frisch versiegelt. Der Tragaltar erhielt ei- nen Ehrenplatz im Eidenberger Pfarrhof, eine beigefügte Beschreibung soll ihn Vor dem Vergessen bewahrt davor bewahren, noch einmal in Verges- senheit zu geraten. Peter Haider, Mesner in Eidenberg seit 1943(!), entsinnt sich der einstigen Die Fotos stammen vom Autor.

10 Eidenberg ist eine Expositur der Pfarre Gramastet- ten

24 Kepler-Freund und ‚Botschafter‘ Galileo Galileis: Der vergessene Ruhm des Matthias Bernegger aus Hallstatt Von Alexander Savel1

Wer würde vermuten, dass ein ter zu retten. Die Verhandlungen zogen gebürtiger Hallstätter enger Freund sich bis 1621 hin. Die Keplerin war 14 des berühmten deutschen Astronomen Monate im Gefängnis, ein Geständnis Johannes Kepler und einer der großen sollte mittels Folter erzwungen werden. Gelehrten des ausklingenden Renais- Doch sie blieb standhaft: lieber wollte sie sancezeitalters war? Und wer weiß, dass den Tod, als sich ein Schuldbekenntnis dieser Oberösterreicher persönlichen abpressen zu lassen. Sie wurde zwar frei- Anteil daran hat, dass der Name Gali- gesprochen, starb aber ein halbes Jahr leo Galilei weltweit als ein Synonym für später an den Folgen der Tortur. Nicht die wissenschaftliche Moderne gilt? Mit nur dieser Fall zeigt deutlich, dass vor der Übersetzung des wichtigsten Werks 400 Jahren das Mittelalter geistig noch von Galilei ins Lateinische hatte Mat- keineswegs überwunden war. thias Bernegger dessen „Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme“ in Rom der Wissenschaft international zugäng- lich gemacht, mit einer eigenen, großen Ebenfalls vor 400 Jahren war Galilei Schrift versuchte er den Dreißigjährigen (1564–1642) nach Rom gereist, um seine Krieg zu stoppen, nicht minder beein- neuen, bahnbrechenden Erkenntnisse druckt die Vielfalt und Vielseitigkeit sei- auf den Gebieten der Astronomie, der ner sonstigen Verdienste. Dennoch ist Mathematik und der Physik den obers- der bedeutende Mathematiker, Schrift- ten Repräsentanten der katholischen steller und spätere Geschichtsprofes- Kirche vorzutragen. So stichhaltig sie sor an der Universität Straßburg nach waren, seine Argumente reichten nicht seinem Tod vor allem hierzulande fast aus, den Heiligen Stuhl davon zu über- völlig in Vergessenheit geraten. In dieser zeugen, dass sich die Erde um die Sonne biografischen Zusammenschau werden dreht. Die Verwerfung seiner „Theorie“ auch Gründe dafür umfassend ausge- durch die päpstliche Kommission hatte leuchtet. noch ein Nachspiel: Kardinal Bellar- Es war vor exakt 400 Jahren, als Jo- mino2 zitierte Galileo zu sich und ver- hannes Kepler erfuhr, dass seine protes- tantische Mutter als Hexe verdächtigt 1 Redaktionell adaptiert. und angeklagt wurde. Der Tod auf dem 2 Als einer der Hauptverfechter des römischen Ka- Scheiterhaufen war ihr gewiss. Sie wäre tholizismus stand der Jesuit Bellarmino (heiligge- sprochen 1930) den wissenschaftlichen Forschun- einen Pakt mit dem Teufel eingegangen, gen des gläubigen Katholiken Galilei persönlich hieß es. Johannes, der damals, Ende durchaus aufgeschlossenen gegenüber. Privat 1615, in Linz lebte, tat alles, um die Mut- ermunterte er ihn sogar zu deren Fortsetzung.

25 langte unter Androhung eines sonstigen Gegenreformation Prozesses den Widerruf. Galileo, Ab- kömmling einer verarmten Florentiner Die Obrigkeit hatte diese Entwick- Patrizierfamilie, fügte sich und fuhr ent- lung lange nicht ernst genommen bzw. täuscht wieder nach Hause. 1633 zerrte übersehen. 1578 stellte man schließlich man ihn – überfallsartig – doch noch vor per Gesetz alle Protestanten vor die Gericht. (Ausführliches dazu später.) Alternative des Bekenntniswechsels oder der Emigration. Das stieß landes- weit auf erbitterten, teils bewaffneten Widerstand. Auch im Salzkammergut hörte man von den Unruhen und vom Das folgenschwere Jahr 1517 bevorstehenden Erscheinen der Refor- mationskommissäre; die evangelischen Greifen wir zeitlich zurück – bis zu Salzamtbeamten versuchten daraufhin jenem markanten Datum, da der katho- dem Landeshauptmann die Erlaubnis lische Augustinermönch Martin Luther zur regionalen Beibehaltung der Augs- seine 95 Thesen an die Schlosskirche zu burgischen Konfession abzuringen. Wittenberg anschlug. Das war am 31. Vergebens. Durch kaiserliche Resolu- Oktober 1517. Luther proklamierte, dass tion wurde am 21. Juli 1600 bekräftigt: die Sündenvergebung als Gnadenge- „Entweder Konvertierung zum Katholi- schenk Gottes nicht durch Ablassbriefe zismus oder Auswanderung!“ Die Kon- zu erkaufen sei. Hinzu kamen Vorwürfe sequenz war eine mehrjährige, blutige wegen weiterer Missstände innerhalb Auseinandersetzung. der Kirche und ein kategorisches „Nein“ zu bestimmten katholischen Lehrinhal- Keplers Flucht aus Linz ten. Als Luther einige Jahre später vor Prozess-Schranken nicht widerrief, In Linz wurde auch Johannes Kep- wurde er 1521 für vogelfrei erklärt und ler, der hier an der evangelischen Land- aus der Kirche verbannt. Durch die Er- schaftsschule seit 1612 u. a. Mathematik rungenschaft des Buchdrucks fanden und Geschichte lehrte, vom Strom der seine Schriften und seine deutsche Bi- Ereignisse voll erfasst. belübersetzung jedoch bald Verbreitung Rebellierende Bauern hatten die weit über das Land hinaus. Hauptstadt monatelang belagert, schon 1624 schloss man die Schule, die von Rasch hatte der Protestantismus Kepler benützte Druckerei wurde be- auch in Oberösterreich Einzug gehalten. schlagnahmt und ging in Flammen auf. Bereits 1525 wird in einigen Orten – da- Um Leib und Leben fürchtend, floh er runter Gmunden – die lutherische Glau- Ende November 1626 samt Familie in benslehre gepredigt, ihre Präsenz in der den süddeutschen Raum. Von Ulm aus Folge fast flächendeckend. Goisern hatte schrieb er am 8. Februar 1627: schon 1553 einen evangelischen Pfarrer, Du willst wissen, wie es mir geht. Mit Hilfe protestantische Hilfsgeistliche sind kurz Gottes und seiner Engel habe ich die Belagerung darauf in Ischl und Hallstatt zu finden. vierzehn Wochen lang sicher überstanden. Ich

26 starb nicht Hungers und brauchte auch kein Bernegger, Ratsherr und Richter in Hall- Pferdefleisch zu essen … Als die Belagerung statt, dem Sohn von Anbeginn die best- mit der Annäherung der kaiserlichen Truppen mögliche Ausbildung zugedacht und weniger streng wurde, sandte ich eine Bittschrift gemeinsam mit Gattin Elisabeth (Mäd- an den Hof und bat … nach Ulm reisen und chenname Paurnfeind) für ihn einen meine Druckerpresse mitnehmen zu dürfen. Ich eigenen Hauslehrer engagiert.3 Dieser verließ Linz im November, als ich die Erlaubnis begleitete Matthias 1594 nach Wels, wo erhalten hatte, mit Frau, Kindern, Büchern und der 12-Jährige eine evangelisch geführte allem Hausrat. Auf dem Weg nach hier blieb Gymnasialschule besuchte.4 Nach ledig- meine Frau mit drei Kindern in eisigem Wetter lich vier Studienjahren bescheinigte ihm in zurück … Unserem Lande Ös- der Direktor die Reife zur Immatrikula- terreich wurde eine schreckliche Wunde zugefügt, tion an der Akademie der kulturell und so dass es in den letzten Zügen zu liegen scheint. wirtschaftlich blühenden Reichsstadt Ich muss mich deswegen in meinen Plänen und Straßburg5 – mit 50.000 Einwohnern zu- Überlegungen auf jede Art von Notstand vor- gleich Vorposten des süddeutschen Pro- bereiten. Könntest Du und andere mir Gutge- testantismus. sinnte wohl einen Rat geben, wohin ich mich, wenn es nötig wird, mit der Schar meiner sechs Erster Studienabschnitt und Reisejahre Kinder wenden soll? [Aus: Johannes Kepler in seinen Wie damals üblich wurde auch dort Briefen, hrsg. von Max Caspar und Wal- nur in lateinischer Sprache doziert. Mat- ther von Dyck, Band II, Verlag R. Olden- thias sog alles begierig auf. Speziell fes- bourg, München Wien 1930.] selten ihn die Naturwissenschaften, die Der Mann, dessen Rat und Beistand Astronomie und die Mathematik. In Kepler hier so vertrauensvoll erbeten jedem Fach von fortschrittlichen Leh- hatte, war zu jener Zeit längst bestallter rern unterrichtet, schloss er den ers- Professor an der hochangesehenen Uni- ten Studienabschnitt 19-jährig mit der versität Straßburg und dem berühmten Astronom seit vielen Jahren auf das 3 Freundschaftlichste verbunden: Mat- Wolfgang Pichler. Er stand Bernegger in Wels auch als Erzieher zur Seite. thias Bernegger. Er stand mit Kepler in 4 Mit der Welser Schulzeit verband Matthias eher regelmäßigem schriftlichem Austausch zwiespältige Erinnerungen. Einem Freund verriet und war auch Empfänger des letzten er: So aber, da meine Lehrer nicht viel erfahrener Briefes, den dieser verfassen sollte – waren … und die Blüte meiner Jugend zu mei- nem ewigen Leidwesen wie in einem schlimmen doch der Reihe nach: Unwetter verdorben haben, so habe ich in der Wissenschaft höchstens insofern etwas geleistet, dass ich nach ernster aber leider zu später Reue Die Geistesgröße „Matthias Bernegger“ anderen sagen kann, wie sie die Klippen, an wel- chen meine Studien Schiffbruch gelitten haben, Dem am 8. Februar 1582 zur Welt umsichtiger und sorgsamer vermeiden könnten. gekommenen Hallstätter war eine Fülle (Carl Bünger, Seite 6). 5 Straßburg ist heute Sitz zahlreicher wichtiger eu- außergewöhnlicher Talente und Geistes- ropäischer Einrichtungen; u. a. Europarat, Euro- gaben bereits in die Wiege gelegt. Gu- paparlament und Europäischer Gerichtshof für ten Grundes daher hatte Vater Blasius Menschenrechte.

27 Der Markt Hallstatt um 1649. Ansicht von Matthäus Merian.

Magisterprüfung ab. Danach begab er nung nicht nachgaben, rückten die Trup- sich, der Gepflogenheit entsprechend, pen ins Kammergut ein. Am 22. Februar auf Reisen. Zum Ziel wählte Bernegger 1602 zogen etwa tausend Mann und aber nicht Paris oder Venedig, vielmehr zweihundert Reiter zuerst nach St. Gil- wollte er die Heimat, Hallstatt und die gen. Tags darauf standen sie vor Ischl, Eltern wiedersehen. wo sich eine Gruppe von Rebellen ent- Vor Ort ließ sich Matthias 1603 von gegenstellte. Gleich wurden sechs von dem Schrecklichen berichten, das hier ihnen getötet, der Lauffner Anführer der mittlerweile geschehen war. An der Aufständischen, Michael Haller, gefan- Verlautbarung der kaiserlichen Resolu- gen genommen, durch ein Hochgericht tion durch k. k.-Beamte (s. o.) und der zum Tode verurteilt und gevierteilt.6 Am Absetzung des protestantischen Markt- 1. März 1602 wurde auch der abgesetzte richters hatte sich 1601 der erste offene Richter von Hallstatt in Arrest genom- Konflikt entzündet. Mehrere hundert men. Man installierte einen katholischen Salzarbeiter strömten aus der gesamten Pfarrer, entzog dem Ort die Marktfrei- Umgebung nach Hallstatt, leerten die heiten, zur Abschreckung sollte wiede- Pfannen und sperrten die Schifffahrt. rum ein Aufständischer exekutiert wer- Am 25. Oktober kam es zum legendären den. Schwur in Ischl. Bürger, Salzarbeiter und Ob es sich bei dem verhafteten Rich- Bauern hatten sich unter freiem Himmel ter um Matthias‘ Vater gehandelt hatte, zusammengefunden und gelobt, „bis ist unbekannt. Um die Eltern vor der zum letzten Blutstropfen“ beieinander Gefahr weiterer Verfolgung und Anfein- zu verharren. Nun forderte der Landes- hauptmann beim Salzburger Erzbischof Wolf Dietrich militärische Hilfe an. Als 6 Die Körperteile stellte man im Markt zur Abschre- die Salzarbeiter trotz wiederholter War- ckung auf Stangen zur Schau.

28 dung zu schützen, konnte sie der Sohn Kepler & Galilei jedenfalls zur Emigration in das evan- gelische Regensburg überreden. Die Mit seinem Vorbild Galileo Galilei Entscheidung, den Lebensabend fern teilte Johannes Kepler (1571–1630) die der Heimat zu verbringen, fiel dem Paar Liebe zu unbestechlich objektiver Wis- gewiss nicht leicht, denn die Berneggers senschaftlichkeit. Beide wollten nicht gehörten zu den angesehensten und einfach unhinterfragt „schlucken“, was reichsten Familien rund um den Hall- seit Jahrhunderten gelehrt wurde, son- stätter See. dern gewannen ihr Wissen durch eigene Da im Anschluss für eine kurze Erkenntnisse, empirische Experimente Spanne freie Religionsausübung ge- und mathematische Analyse. Nikolaus währt worden war, beruhigte sich die Kopernikus (1473–1543) hatte behaup- Lage vorübergehend, bis der Dreißig- tet, dass sich die Erde um die Sonne jährige Krieg (1618 bis 1648) Millionen drehe. Dem wurde nicht viel Bedeutung Christen beider Konfessionen den Tod beigemessen, bis Galilei und Kepler brachte und ein kaiserliches Gesetz 1653 diese Lehre wieder aufgriffen. die Zwangsaussiedelung der Protestan- Schon während seiner Unterrichtstä- ten verfügte. tigkeit an der evangelischen Stiftsschule in Graz (1594–1600) hatte sich Kepler mit Astronomie beschäftigt, allerdings erstellte er zunächst auch astrologische Bekanntschaft mit Johannes Kepler Vorhersagekalender – eine zusätzliche Verdienstquelle, denn die Kalender ver- Nachdem er die Eltern in Sicherheit kauften sich gut. 1596 veröffentlichte er wusste, unternahm Matthias mehrere sein erstes astronomisches Werk „Das Reisen gemeinsam mit seinem gleich- Geheimnis des Weltalls“ und schickte falls aus dem Salzkammergut stammen- es Galileo Galilei zur Durchsicht nach den Schwager Johannes Steinberger, Padua. Der antwortete überaus warm- kaiserlicher Bergrat in Wien. Eine der herzig: Padua, den 4. August 1597. Ihr Buch, amtlichen Touren durch die österrei- hochgelehrter Herr, das Sie mir durch Paulus chischen Kronländer führte nach Prag, Amberger sandten, erreichte mich nicht vor Ta- wo Johannes Kepler seit 1600 als kai- gen, sondern erst vor Stunden. Ich danke Ihnen serlicher Hofmathematiker wirkte. Die im Besonderen dafür, dass Sie mich eines solchen persönliche Begegnung – nähere Einzel- Freundschaftsbeweises für wert hielten. Ich be- heiten des Zusammentreffens sind nicht glückwünsche mich selbst …, solch einen Mann überliefert – sollte prägend für das wei- als Gefährten bei der Erforschung der Wahrheit tere Leben Berneggers sein. Steinber- gefunden zu haben. Denn es ist beschämend, ger hätte den Schwager zwar gerne als dass es nur so wenige gibt, die nach Wahrheit ständigen Begleiter gehabt und bot ihm suchen und so viele, die einer falschen Philoso- deshalb auch eine Stelle an, doch dieser phie folgen … Ich würde es gewiss wagen, der wollte die Eltern nicht alleine lassen und Öffentlichkeit meine Überlegungen vorzutragen, zog wieder zurück nach Straßburg, um gäbe es mehr Menschen von Ihrer Art. Da es sein Studium (Rechtswissenschaften) nicht der Fall ist, halte ich mich zurück. In auf- fortzusetzen. richtiger Freundschaft Ihr Galileus Galilei.

29 Johannes Kepler im Alter von 39 Jahren. Das Farbportrait eines unbekannten Prager Künstlers befindet sich im Besitz des Benediktinerstifts Kremsmünster.

30 Trotz der so positiven Reaktion Epochale Erfindungen sollte es zu einer „Freundschaft“ zwi- Durch Berneggers regen Briefaus- schen diesen Größen nicht kommen. tausch mit Kepler wusste man im Nu Nur noch einmal schrieb Galilei an Kep- auch von einer besonderen Erfindung ler, dann beantwortete er dessen Briefe Galileis, dem sogenannten Proportio- nicht mehr. Als Katholik tat sich Galilei nalzirkel. Das Gerät, die Berechnung schwer, offen über die eigenen Erkennt- von Strecken und Streckenrelationen nisse zu sprechen. erleichternd, war als solches schon län- Seiner Konfession wegen musste ger bekannt, von Galilei 1597 aber „neu Kepler um die Jahrhundertwende Graz erfunden“ und beschrieben worden. verlassen und wurde am Prager Hof Ma- Bernegger war unter den Ersten, die thematiker und Astronom. 1607 hatte sich einen dieser Zirkel besorgten, und sich ihm Bernegger als mathematischer als Mathematiker davon begeistert. Um „Gehilfe“ angetragen; spätestens damit Galileis italienische Beschreibung Fach- war die Basis für einen anhaltenden, zu- kreisen nahezubringen, übertrug er sie tiefst amikalen Briefverkehr gelegt. 1600 gekonnt ins Lateinische. Galilei, der hiervon erst hinterher erfuhr, sah dann in ihm den prädestinierten Über- Wieder in Straßburg setzer seines Hauptwerks. (Die Details dazu später.) Zurück in Straßburg, zählte Matthias Eine zweite epochale Erfindung war Bernegger dank seines unglaublich viel- das Fernrohr,8 das durch Galileo Galilei seitigen Wissens an der Hochschule bald nachgebaut und von Johannes Kepler zu den geachtetsten Gelehrten. Er sprach weiterentwickelt wurde. In den Folge- Latein fließend, beherrschte Französisch, jahren wollte Bernegger von Galilei ein Italienisch, Spanisch und erwarb auch derartiges Instrument erstehen, worauf Kenntnisse in den wichtigsten Sprachen ihm dieser die Gläser zusandte. Ein wei- des Morgenlandes, Arabisch und Heb- teres, sichtbares Zeichen der Reputation räisch. Am stärksten aber fesselten ihn des gebürtigen Hallstätters in der euro- die Mathematik und die Astronomie. päischen Gelehrtenwelt.9 (Siehe auch 1607 Hilfs- und im Jahr darauf Haupt- dazu Galileis auszugsweise abgedruck- lehrer am Protestantischen Gymnasium ten Brief vom 15. 7. 1636 auf Seite 44.) Straßburg,7 unterrichtete er seine Schü- ler nicht wie damals gewohnt frontal mit „Zucht und Ordnung“, sondern mit der Professor für Geschichte herzgewinnenden Art seiner Persönlich- Mit der Berufung an die Straßburger keit, die ihn allseits beliebt machte. Von Akademie (ab 1621 vollständige Univer- Kind auf schwächlich und zart, litt Mat- thias jedoch häufig an schweren Krank- 7 Das Angebot eines Postens als Rektor an der Dur- heiten. Seinen Forscherdrang bremste lacher Fürstenschule schlug er aus. das nicht. Ab 1609 galt er in Straßburg 8 Um 1608 erfunden von dem holländischen Bril- lenmacher Hans Lipperhey. als „Stadt-Mathematiker“, ebenfalls ge- 9 Zentren des Wissens waren Universitätsstädte läufig war sein Naheverhältnis zu Johan- wie Florenz, Venedig, Paris, Straßburg, Tübingen nes Kepler. usw.

31 Matthias Bernegger. Kupferstich von J. J. Haid, 1747

32 sität) und der gleichzeitigen Ernennung chen Konfessionen zu. Mit dem zwei- zum Professor für Geschichte wurde ten „Prager Fenstersturz“ war 1618 der Matthias Bernegger 1613 eine hohe, Dreißigjährige Krieg entbrannt. Chris- doppelte Ehre zuteil. Seine Antrittsrede ten kämpften länderübergreifend gegen ist erhalten geblieben. Berneggers Bio- Christen. Mit seiner 1620 erschienenen, graph kommentierte: Die Sprache von un- in eindringlichem Latein abgefassten übertrefflicher Eleganz, mit einem überreichen Schrift „Tuba pacis“ (= Friedenstuba) Schmucke von Bildern, Zitaten, Anekdoten und versuchte der glühende Pazifist Bern- dem blendenden Feuerwerke antiker Rhetorik egger die Staatsmänner und Kirchen- verrät die jugendliche Begeisterung und frische fürsten von der Sinnlosigkeit dieses Lust des dreißigjährigen Gelehrten, der sich mit Waffengangs sozusagen im allerletzten dieser Rede als Meister lateinischer Rede offen- Moment zu überzeugen. Das umfang- bart und in der Kunst der geistreichen und form- reiche Manifest gipfelte u. a. in dem vollendeten Unterhaltung wohl kaum seinesglei- Auf- und Mahnruf: Deutsche, Brüder sind chen findet. Aber Bernegger offenbart sich nicht wir, durch vielfache Bande des Blutes unterei- nur als ein Meister des Wortes, sondern auch nander verbunden, und was stärker bindet als als ein Lehrer von besonderer Art. Eigentüm- alle Verwandtschaft, Christen sind wir. Nur das lich ist seine Abneigung gegen die spekulative Kriegsvolk und die Spanier haben ja Vorteil von Philosophie und dafür die Vorliebe für die Rea- unserem Zwist, jenes trachtet nach unserem Hab lien. Zwar stellt er die Grammatik oben an, aber und Gut, diese nach unserer Freiheit. Warum Geographie, Chronologie, Mathematik, Physik wollen wir nicht einander nachgeben, lieber et- sind ihm nicht Nebensachen, sondern ihr gleich- was retten, um nicht alles zu verlieren. Frieden wertig. Und während bisher neben der pietas und Religion bewahren, das einzige Band, wel- (Pflichterfüllung, Frömmigkeit) die eloquentia ches die Glieder des Heiligen römischen Reiches (Beredsamkeit) das Ziel der Jugendbildung war, noch zusammenhält. Aber in unserer Verblen- will er die prudentia (Erkenntnis) dafür setzen. dung und Einfalt sehen wir den Abgrund nicht, Hierdurch tritt er jetzt schon in einen gewissen werfen uns frühere Sünden vor und rüsten mit Gegensatz zu seinem Vorgänger [Sturm] und großen Mühen und Kosten zum Kriege, wäh- wird zum Neuerer im Unterrichtswesen. (Carl rend wir in behaglicher und ehrenvoller Ruhe Bünger, Seite 109.s). aus der Geschichte lernen könnten, was uns Not tut und doch so leicht zu gewinnen ist. Die Re- Der Kommentar bekundet die Mo- ligion sei nur ein Vorwand für den Krieg, dernität einer Wissenschaftsauffassung, denn die wahren Beweggründe, warum zum die jener von Galilei oder Kepler in Kriege gehetzt werde, seien Herrschsucht, nichts nachstand. Hochmut und Habgier, donnerte der sonst so Sanftmütige zwischendurch mit klarer Blickrichtung nach Rom.

Bernegger – Der Friedenstribun Obwohl die Schrift den erhofften Effekt verfehlte, pries sie der Tübinger Analoges trifft auf das leidenschaft- Professor Wilhelm Schickard, mathe- liche Engagement des Hallstätters für matisch-philologisches Universalgenie, Frieden und Versöhnung gerade auch u. a. Erfinder der Rechenmaschine und zwischen den beiden großen christli- fürderhin bester Freund Berneggers, auf

33 Wilhelm Schickard/Universität Tübingen [hier zeitgenössisch ‚Schickart‘ geschrieben], bedeutendster Astronom nach Keplers Tod, u. a. Erfinder der ersten Rechenmaschine und späterhin engster Freund Mat- thias Berneggers. Er leistete diesem bei der Übersetzung von Galileis „Dialog“ wertvolle wissenschaftliche Assistenz.

34 das Höchste: Gut so, mein Bernegger, mach’ Die Erfindung des Fernrohrs (1608) weiter unter diesen glücklichen Zeichen, oder – befeuerte Galileis Forschergeist; faszi- richtiger – unter dem Schutz Christi und schreibe niert baute er sich wie erwähnt selbst noch viele solche Sachen, damit die Nachwelt ein Teleskop und konnte so als Erster erfahren möge, dass es in dieser speichelleckeri- beobachten, dass der Planet Jupiter von schen Zeit Menschen gab, die in das Geschwür Monden umkreist wird. Diese Entde- stachen und die Wahrheit frei und mutig be- ckung verhalf Galilei zu internationa- kannten.10 ler Aufmerksamkeit; selbst der Papst Der Religionskrieg tobte indes im- war kurzfristig begeistert und rief ihn mer heftiger, ganze Landstriche wurden mehrmals zu sich. Rasch aber schlug verwüstet, und es gab Millionen Tote. In die Begeisterung in Argwohn um. Al- dieser schlimmen Zeit erkrankte Bern- len voran waren es die Jesuiten, die in egger schwer. Seine Freundschaften soll- dem Sterngucker aus Pisa eine „Gefahr ten ihm darüber hinweghelfen. für das Christentum“ witterten. Auch die Protestanten anerkannten die Lehre von Kopernikus und Galilei anfangs nicht, hatte doch Martin Luther über Koperni- Das neue Weltbild kus gewettert: „Der Narr will die ganze Kunst der Astronomie umkehren!“ Auch Galileo Galilei begnügte sich Nichts, was der katholischen Dokt- wie gesagt nie mit dem Auswendigler- rin – tatsächlich oder vermeintlich – wi- nen; stets ging er den Dingen auf den dersprach, durfte damals veröffentlicht Grund, um zu sehen, was sich dahinter werden. Streng wachte darüber die verbirgt. Seit den griechischen Philoso- Inquisition, die unerwünschte Lehren phen hatte gegolten, dass ein schwerer (siehe zum Beispiel den tragischen Fall Körper unter allen Umständen schneller „Giordano Bruno“) mit dem Tod ahn- falle als ein leichter. Niemand kam auf den konnte. 1616 verbot man das koper- den Gedanken, dies anzuzweifeln, bis nikanische Werk erstmals, samt allen in- Galilei [angeblich] auf den schiefen Turm von Pisa stieg und Objekte unterschied- licher Größe und Schwere hinabstürzen ließ. Wie auch immer – er gelangte zur 10 Ursprünglich evangelischer Pastor, gehörte Schickard als Professor für Hebräisch und Experte Erkenntnis, dass im luftleeren Raum alle für Orientalistik, besonders aber als Mathemati- Körper gleich schnell fallen. Auf die- ker, Astronom und Geograph genau wie Matthias selbe Weise entdeckte er die Gesetze des Bernegger zu den bedeutendsten Gelehrten der Wurfes bzw. die Pendelgesetze. Als Na- Zeit. Er stand mit Kepler, seinem Mentor und turwissenschaftler und Mathematikpro- Freund, im Briefwechsel, und diesem verdankt sich auch Schickards Kontakt zu Bernegger, der fessor zog ihn die Sternenkunde mehr später (obwohl sich beide nie persönlich begegne- und mehr in ihren Bann, besonders die ten) dessen wichtigster Ansprechpartner wurde. unverändert als irrig gehandelte Lehre Erst 1957 übrigens konnte nachgewiesen werden, des Nikolaus Kopernikus, wonach sich dass Schickard der Erfinder der ersten Rechenma- schine (für die vier Grundrechnungsarten) war die Erde um die Sonne drehe. Allgemein und nicht wie bis dahin angenommen der Fran- wurde noch immer das Gegenteil ge- zose Blaise Pascal. Der begnadete Schickard starb lehrt. 1635 an der Pest.

35 Galileo Galilei, Gemälde eines unbekannten toskanischen Malers. Kunstsammlungen Schloss Ambras, Inns- bruck

36 haltsgleichen Büchern. Galilei und seine Der Übersetzer Bernegger Anhänger hatten eine schwere Nieder- lage erlitten. Das Licht der Wissenschaft Dass Matthias Bernegger bereits im jedoch suchte sich seinen Weg. Jahr 1600 eine Schrift Galileis vom Italie- nischen ins Lateinische übertragen hatte (s. o.), war in Forscherkreisen bekannt. Eine Schlüsselrolle im internationalen Gelehrtenaustausch spielte der aus Ge- nua gebürtige, einer führenden Calvi- Der „Dialog“ nistenfamilie entstammende Jurist und Naturwissenschaftler Élie Diodati (1576– Im Geheimen forschte Galilei weiter, 1661). Nach Paris übersiedelt, war er fand seine Erkenntnisse zum heliozent- wissenschaftlicher Vermittler zwischen rischen Weltbild bestätigt und gebar die Italien und Frankreich bzw. Frankreich Idee, sie in die erklärende Form eines und Deutschland. Mit besonderer Sorge Dialogs dreier Männer zu bringen, die verfolgte er in dieser Funktion auch die darüber debattierten, ob sich die Sonne Vorgänge um das verbotene Hauptwerk um die Erde drehe – oder eben umge- Galileis. So nahm Diodati in aller Stille kehrt. Für den „Dialog über die beiden Verbindung zu Galilei auf, und flugs war hauptsächlichsten Weltsysteme“ erhielt man sich einig geworden, dass die Über- er zunächst tatsächlich die Druckerlaub- setzung des „Dialogs“ ins Lateinische nis der Kirche. Das Werk erschien im und damit dessen wissenschaftsgerechte März 1632 in italienischer Sprache und Aufbereitung für die Nachwelt am bes- fand auf der Stelle reißenden Absatz; ten einem Mann anzuvertrauen sei: Mat- bewusst nicht in Latein geschrieben, thias Bernegger! konnte es praktisch jeder im Land lesen und verstehen. Eine der wenigen noch verfügbaren italienischen Ausgaben ließ Galilei so- fort selbst ins Ausland schmuggeln und Im August 1632 aber erging plötz- Bernegger in Straßburg übergeben. In lich der kirchliche Befehl zum sofortigen einem erhaltenen Brief an Diodati [27. Verkaufs- und Druckstopp. Die vorhan- Juli 1633] erklärte dieser unverzüglich denen Bücher mussten als „ketzerisch“ seine Bereitschaft, auf den Vorschlag ein- eingezogen und der Inquisition ausgelie- zugehen. Zur fachlichen Unterstützung fert werden. Nicht genug damit, machte würde er aber gern seinen Freund Wil- man Galilei wie eingangs knapp geschil- helm Schickard beiziehen, den größten dert 1633, zur Empörung der Gelehrten- Astronom seit Keplers Tod. Die Einla- welt, den Prozess. Unter Androhung des dung zur Assistenz nahm der Tübinger Todes musste er „abschwören“, er wurde Professor freudig an. inhaftiert, dann isoliert und unter stän- digem Hausarrest gehalten. Neun Jahre Im September 1633 begann Berneg- später starb Galilei, erblindet und gede- ger mit der – natürlich geheimen – Über- mütigt – die Rettung und den Siegeszug setzung. Schickard bestätigte brieflich seines „Dialogs“ allerdings sollte er noch laufend das „wunderbare Fortschreiten“ persönlich erleben. des Projekts. Nach eineinhalb Jahren, im

37 Erstes Titelblatt der 1635 erschienenen lateinischen Originalausgabe des „Dialogs über die beiden haupt- sächlichsten Weltsysteme“. Der Kupferstich Jacob van Heydens zeigt Ptolemäus, Kopernikus und den greisen Aristoteles im wissenschaftlichen Gespräch.

38 April 1635, lag die Arbeit druckfertig vor. soll mich daher zu Recht tadeln, wenn ich gro- Der prächtig ausgestaltete Band hatte ßes Vergnügen genieße und schon glaube, etwas zwei Titelblätter. Das erste schmückte Besonderes zu sein, seit ich vertraulich erfahren ein Tableau des bekannten, mit Berneg- habe, dass meine philosophischen Nachtarbei- ger befreundeten Kupferstechers Jacob ten, die ich zuletzt in toskanischer Fassung an van Heyden, zeigend Ptolemäus, Koper- die Öffentlichkeit brachte, von Euch, hochgelehr- nikus und den greisen Aristoteles im ge- ter Bernegger, höchst kunstfertig in den feinen meinsamen Gespräch. Auf dem zweiten Farben guten Lateins wiedergegeben werden. Blatt ist Galilei abgebildet. Ich sage voraus, dass durch dieses Eure In der Gelehrtenwelt erregte das Werk tatsächlich bewirkt werden wird, dass die Buch großes Aufsehen, auch deshalb, ganze Nachwelt mich nicht nur betrachten kann, weil man nun erstmals erfuhr, warum wie ich der Sinnesart nach gewesen bin, sondern Galilei von seiner Lehre abschwören auch mehr, als ich verdient habe, bewundern musste. Gleichzeitig rückte mit dem „Di- kann. Euer Kunstwerk verheißt wahrhaftig, alog“ ein Meilenstein revolutionierender dass Ihr mich, ohne dass die Ähnlichkeit darun- Wissenschaftsliteratur ins Blickfeld der ter leidet, schöner zeigt, als ich bin, und, was Ihr internationalen Öffentlichkeit.11 etwa bei mir Verstümmeltes oder Hässliches fin- det, nach der Seite wendet, von der es schöner er- Galileis Dank scheint … Diese Gelegenheit, mich zu ehren, die Ihr, ohne durch eine Gefälligkeit von mir veran- Den allerschönsten Dank jedoch lasst zu sein, so liebenswürdig aus freien Stücken empfing Matthias Bernegger schriftlich ergriffen habt, wünsche ich sehr durch irgendein vom Urheber selbst. Die Noblesse und recht schönes Zeichen der Dankbarkeit zu beloh- geschliffene Eleganz der Formulierung, nen. Aber wie jetzt die Zeiten und meine Um- nicht zuletzt aber die Herzlichkeit, die stände sind, kann ich Euch lediglich ebendieses aus diesem Brief Zeile um Zeile spricht, Begehren darbringen und so nur aus der Ferne liefern Anlass genug, ihn in fast voller Eure mir sehr liebe Hand, mit der Ihr zu unserem Länge wiederzugeben. Bereits am 16. Lobe arbeitet, von ganzem Herzen küssen. Üb- Juli 1634 schrieb Galileo Galilei nach rigens kann ich ausdrücklich beschwören, dass Straßburg: nach so viel Verwirrung und Qualen für Kör- Dem erlauchten und ganz hervorragenden per und Geist, die mir zuerst die Studien selbst, Herrn Matthias Bernegger! Seid vielmals ge- diese bitteren Wurzeln der Künste, beigebracht grüßt! Wenn wir gern betrachten, wie unsere Ge- haben und darauf die Ergebnisse der Studien, sichter und die Gestalt unserer Körper von einem die um vieles bitterer waren als die Wurzeln, ausgezeichneten Maler abgebildet werden, und mir kein größerer Trost als Euer Bemühen um dies als Ehre ansehen, um wieviel angenehmer Fortsetzung auf Seite 44 und ehrenvoller muss es dann sein, wenn wir se- hen, wie nicht die Form des Gesichtes, nicht das 11 Der „Dialog“ wurde vom Vatikan erst 1835 aus Abbild des Körpers, das heißt ein Bild unseres dem Index verbotener Bücher entfernt. Und erst äußeren Bildes, sondern die Vorstellungen unse- 1992 kam es zur Rehabilitierung durch die katho- res Geistes, die Beschaffenheit unserer Denkart lische Kirche – nachdem sich eine Kommission im Auftrag von Papst Johannes Paul II. dreizehn Jahre und die Abbilder unseres Verstandes, das heißt lang mit dem Fall beschäftigt und festgestellt hatte, ganz wir selbst, von einem höchst vortrefflichen dass damals tatsächlich ein Fehlurteil über den Künstler mit Eifer dargestellt werden? Niemand frommen Katholiken Galilei gefällt worden war.

39 Nachstehend die vierseitige Introduktion zur lateinischen Originalausgabe von Galileis „Dialog über die bei- den hauptsächlichsten Weltsysteme“ mit dem Vorwort des Übersetzers Matthias Bernegger. Das vatikanische ‚IMPRIMATUR‘ (= die offizielle Druckerlaubnis) vom September 1630, bezogen auf die im März 1632 mit kirchlichem Placet erschienene, fünf Monate später überraschend als ketzerisch verbotene italienische Ur- Ausgabe, wurde von Bernegger der lateinischen Ausgabe demonstrativ vorangestellt. Verwiesen wird dabei u. a. auf den „Triumph über den Irrtum“. Erst am Schluss des an den „geneigten Leser“ adressierten Vorworts ist Bernegger, zusammen mit der Jahreszahl 1635, namentlich genannt. Quelle: Vatikanische Archive

40 41 42 43 Fortsetzung von Seite 39 kommen sollten. Ich versäumte nicht, sie so- mich zuteil geworden ist. Denn in der Tat, Ihr fort befließenst herzurichten, um Euch dienlich sollt es wissen, dieses Buch, welches Ihr so hoch- zu sein. Bald darauf setzte mich der nämliche schätzt, dass Ihr es ausschmückt, hatte kaum das Herr Elia über die Schwierigkeit und Gefahr in Licht des Ruhmes erblickt, als mir plötzlich der Kenntnis, selbst einen einfachen Brief aus Paris Himmel, von der Düsternis des Neides überzo- (wohin ich die Gläser zu schicken gedachte) nach gen, traurig entgegenstarrte, und ich spürte, wie Straßburg zu übermitteln; worauf ich unterließ, alles um mich unter Getöse erbebte. Aber nicht sie dorthin zu schicken, und eine sichere Gelegen- nur handgemachte Geschosse wurden gegen heit abwartete, sofern eine sichere zu finden wäre mich geschleudert; auch vom himmlischen Blitz in diesen allgemeinen Unruhen … Ich erhielt angeweht und verbrannt, bin ich dem Schmutz vor ungefähr 3 Monaten den ersten Bogen mei- und den Fesseln noch nicht völlig entronnen und ner übersetzten und gedruckten Schrift … [ge- trage bis heute eine Kette, da ich in die begrenzte meint der „Dialog“, Anm. d. Red.], und Enge meines Landgutes in der Nähe der Stadt ich verbleibe in Erwartung eines vollständigen verbannt bin. Exemplars, nach welchem alle meine Freunde sehnlichst ausschauen … Ich zweifle nicht, dass Mein Geist jedoch wird von dieser Enge es, nach Italien gebracht, großen Erfolg haben weder zerschlagen noch beschränkt; in ihm be- würde, ebenso wie der Gebrauch meines Propor- wege ich noch immer freie, eines Mannes wür- tionszirkels, den Ihr vor vielen Jahren lateinisch dige Gedanken, und die mich umgebende Enge abzufassen und mit zahlreichen Hinzufügun- der ländlichen Einsamkeit ertrage ich voller gen zu erläutern geruhtet, durch welchen Dienst Gleichmut als mir gleichsam nützlich; schon nä- ich mich stets sehr geehrt und Euch verpflichtet hert sich nämlich meinem fortgeschrittenen Alter fühle. der Tod, und ich werde ihm unerschrockener ent- gegentreten, wenn ich mich allmählich von den Nach selbigem besteht überaus große Nach- wenigen Morgen Ackers an die drei Ellen des frage, und tagaus, tagein werden Abschriften Grabes gewöhne, in dem mitsamt dem Körper mit der Hand gefertigt, da kein Exemplar mehr nicht auch unser Ruf begraben wird; sondern von jenen zu finden ist, welche ich einst drucken wenn Ihr nur fortfahrt, mich zu ehren, wird ließ, so wie sich auch keines meiner anderen ge- mein Ruhm die ganze Welt durchlaufen; und druckten Werke mehr findet … wenn mir nur Gott den Seelenfrieden ewig er- Ich wünschte, mein Herr Matthias, in ei- hält, bin ich zuversichtlich, dass ich auch im- nem kurzen Kompendium das viele zusammen- mer die glückliche Freiheit des Geistes genießen fassen zu können, was Euch zu sagen mir auf werde. Lebt wohl. der Seele liegt, um Euch vorzustellen, in welchem Von meinem Landgut in Arcetri, am 16. Maße ich der unendlichen Verpflichtungen Euch Juli 1634. gegenüber inne bin und welchen unsäglichen Seinen zweiten und letzten Brief an Dank ich Euch weiß und wie groß meine Be- Bernegger schrieb Galilei, damals bereits reitwilligkeit ist, Euch in allem zu dienen, wofür fast zur Gänze erblindet, am 15. Juli 1636. meine schwachen Kräfte ausreichen … Damit Wir beschränken uns hier auf Auszüge: bezeuge ich Euch in herzlichster Zuneigung Vor einigen Monaten zeigte mir unser meine Ergebenheit. Hochberühmter und Dienstwilligster Herr Elia Aus dem Landhaus in Arcetri, am 15. Juli Diodati Euren Wunsch an, Gläser für ein Te- 1636, des Hochgelehrten Herrn willigster und leskop zu erhalten, welche aus meinen Händen gefälligster Diener Galileo Galilei.

44 Straßburgs „klügster Kopf“ französischen Metropole eingeführt, wurde Caspar Bernegger mit wichtigen Matthias Bernegger stand nicht nur Staatsgeschäften zwischen Paris und mit den größten Forschern, Gelehrten Straßburg beauftragt. In die Heimatstadt und Literaten der Zeit in dauerndem zurückgekehrt, genoss er hier bereits Kontakt, er setzte sich auch für seine größte Achtung und stieg im Lauf der „neue, zweite Heimatstadt“ Straßburg Jahre bis zum höchsten Amt, dem soge- und ihre Menschen immer wieder tat- nannten „Ammeister“ auf. (Dieses Amt kräftig ein. Ging es z. B. um die Erstel- war jenem des Bürgermeisters vergleich- lung wichtiger Schreiben, wandte man bar, allerdings kam noch eine richterliche sich an ihn als anerkannt klügsten Kopf. Tätigkeit hinzu.) Bernegger verfasste den Nachruf auf den Der zweite Sohn, Tobias, ergriff die während des Dreißigjährigen Kriegs in juristische Laufbahn, wurde Rechtsan- der Schlacht bei Lützen/1632 gefallenen walt und war Mitglied des Gemeindera- Schwedenkönig Gustav Adolf sowie u. tes von Straßburg. a. eine Rede zu Ehren des französischen Bei all dem könnte man meinen, Königs Ludwig XIII. – und das in der dass die Familie sehr wohlhabend gewe- äußerst weise artikulierten Voraussicht, sen sein muss. Mitnichten! Matthias war dass sich Straßburg (damals noch freie einfach „viel zu selbstlos“. Seine Dienste deutsche Reichsstadt) dereinst „Frank- für die Stadt waren ehrenamtlich, offene reich annähern“ würde. Honorarforderungen „vergaß“ er nur zu Daneben wirkte er unermüdlich für oft, ganz zu schweigen vom Aufwand seine Universität, vor allem als Professor für die Unterbringung einer zählbaren für Geschichte und Rhetorik. Er über- Reihe von Studenten im eigenen Privat- setzte zahlreiche Werke griechischer und römischer Autoren, schrieb ein Lehr- buch zum Thema Redekunst u. v. m. Als Philanthrop und Humanist im edelsten 12 Die herzliche Beziehung des Professors zu seinem Sinn fand es Bernegger darüber hinaus Lieblingsstudenten Johann Freinsheim, der eben- auch selbstverständlich, ihm besonders falls im Familiendomizil Unterkunft erhielt, sollte zarte Bande knüpfen, denn Johann ehelichte nach ans Herz gewachsenen Studenten zeit- einigen Jahren Berneggers Tochter Elisabeth. weise Unterkunft und Logis im eigenen Auch der aus Ulm gebürtige Freinsheim machte Wohnhaus zu geben.12 beachtliche Karriere: 1642 wurde er als Professor für Politik und Rhetorik an die Universität Upp- sala in Schweden berufen; ein Jahr später ernannte Die Familie Bernegger ihn Königin Christina zum Hofbibliothekar, und als die Heidelberger Universität 1656 wiederer- öffnet wurde, ernannte man Freinsheim hier zum Ein fester Lebensmittelpunkt war Kurfürstlichen Rat und zum Honorarprofessor. dem Professor stets die Familie. Mit Viele andere bedeutende Persönlichkeiten aus Gattin Maria hatte er außer Tochter Wissenschaft, Politik, Literatur und Kunst zähl- Elisabeth vier Söhne, von denen es der ten zum Kreis der Studenten Berneggers, so der Dichter und Dramatiker Daniel Czepko von Rei- älteste, Caspar, zu exzeptionellem An- gersfeld, der Staatsmann, Satiriker und Pädagoge sehen brachte. Nach den Gymnasial- Johann Michael Moscherosch oder der Dichter jahren in die diplomatischen Kreise der und Sprachtheoretiker .

45 haus. So sah sich Bernegger in der Zeit Mitverwendete Literatur des Krieges gar gezwungen, zur De- ckung materieller Grundbedürfnisse ei- Aufstand der protestantischen Salzarbeiter und Bauern im Salzkammergute 1601 und 1602, von nen Teil seiner Bibliothek zu veräußern. Franz Scheichl; Verlag der Ebenhöch’schen Buch- handlung, Linz, 1885. Der Dreißigjährige Krieg, von C. V. Wedgwood; Früher Tod Cormoran Verlag, München, 1999. Matthias Bernegger – ein Bild aus dem geistigen Latente Finanzprobleme dürften Leben Straßburgs zur Zeit des Dreißigjährigen auch seine Gesundheit angegriffen ha- Krieges, von Dr. C. Bünger; Verlag Karl J. Trübner, ben. Am 5. Februar 1640 starb Matthias Straßburg, 1893. Bernegger im Alter von nur 58 Jahren an Den Glauben leben, Chronik der evangelischen den Folgen einer schweren Gichterkran- Pfarrgemeinde Hallstatt/Obertraun; Herausgeber kung. Er war zu weich, um ‚groß‘ zu sein, und Pfarrgemeinde Hallstatt, 1985. nicht mit Unrecht hat ihn die Geschichte in den Die evangelische Kirchengemeinde Bad Goisern – Ursprung, Gründung und Werdegang durch zwei Hintergrund gestellt, ihn, den eine unendliche Jahrhunderte, von Traugott Moshammer, herausge- … Freundlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Dienst- geben von der ev. Kirchengemeinde Bad Goisern, fertigkeit, … Bescheidenheit und Frömmigkeit 1980. auszeichnete – so u. a. das Resümee des Copernicus und seine Welt, von Hermann Kesten; Biographen. In der Grabrede hieß es: Querido Verlag, Amsterdam, 1948. Gar viel und große Not, Feindschaft und Miss- Nicolaus Copernicus – das neue Weltbild, herausge- geschick, woran kein anders Menschenleben geben von Hans Günter Zekl; Felix Meiner Verlag, reicher war, hat überwunden seine Herzensgüte, Hamburg, 2006. Nikolaus Kopernikus – zwischen Mittelalter und seine allen Glauben übersteigende Geduld und Neuzeit, von Georg Hermanowski; Styria-Verlag, seine Arbeitsamkeit, die geradezu ein Wunder Graz, 1996. war. (Carl Bünger, S. 389). Hallstatt-Chronik von den Anfängen bis zum Jahr Dass in Straßburg ein Verkehrsweg 2000, von H. J. Urstöger; erschienen im Musealver- den Namen des gebürtigen Hallstätters ein Hallstatt, 2000. trägt,13 überrascht wenig, umso erstaun- Carola Baumgardt: Kepler, Leben und Briefe, Einlei- licher ist hingegen, dass im Land ob der tung von Albert Einstein; Limes Verlag Wiesbaden, 1953. Enns und erst recht im Salzkammergut Johannes Kepler in seinen Briefen, herausgegeben nahezu nichts an ihn erinnert. von Max Caspar und Walther von Dyck; 2 Bände, Schlussanmerkung: Obwohl sich Verlag R. Oldenbourg, München Wien 1930. Bernegger in Straßburg kaum noch mit Johannes Kepler – Werk und Leistung; Ausstel- der angestammten Heimat befasst hatte, lungskatalog, Linz, 1979. barg sein Nachlass „Einschlägiges“, Johannes Kepler – sein Leben in Bildern und eigenen nämlich eine Landkarte des historischen Berichten; Rudolf Trauner Verlag, Linz, 1970. Erzherzogtums. Der Professor ließ die Kepler – die Entstehung der modernen Wissen- durch Wolfgang Lazius 1563 angefer- schaft, von Erhard Oeser; Verlag Musterschmidt – Göttingen, Frankfurt, 1971. tigte Karte von Jacob v. Heyden in Kup- fer stechen und vervielfältigte sie 1620 in der eigenen Druckerei. Ob der qualitativ gediegenen Ausführung gilt das Karten- werk noch heute als absolute Rarität. 13 Rue Bernegger.

46 Johannes Kepler, der König unter den Sternfor- herausgegeben von Friedrich Seck; Verlag J. C. B. schern, von DDr. Gerhard Kropatscheck; Calwer Mohr, Tübingen, 1978. Verlag, Stuttgart, 1947. Zum 400. Geburtstag von Wilhelm Schickard, zwei- Johannes Kepler – er veränderte das Weltbild, von tes Tübinger Schickard-Symposion, herausgegeben Günter Doebel; Styria-Verlag, Graz, 1996. von Friedrich Seck; Jan Thorbecke Verlag Sigma- Johannes Kepler und Graz, von Berthold Sutter; ringen, 1995. Leykam-Verlag, Graz, 1975. Wilhelm Schickard – Briefwechsel, 2 Bände, her- Kepler, Galilei, von Siegmund Günther; Ernst Hof- ausgegeben von Friedrich Seck; Verlag frommann- mann Verlag, Berlin, 1896. holzboog, Stuttgart, 2002. Galileo Galilei und die römische Curie, von Karl von Der Weg der Naturwissenschaften von Johannes Gebler; Gotta’sche Buchhandlung, 1876. von Gmunden zu Johannes Kepler, herausgege- Galileo Galilei: Dialog über die beiden hauptsäch- ben von Günther Hamann und Helmuth Grössing; lichsten Weltsysteme, das ptolemäische und das Verlag der österr. Akademie der Wissenschaften, kopernikanische. Aus dem Italienischen übersetzt Wien, 1988. und erläutert von Emil Strauss; Wissenschaftliche Der Briefwechsel zwischen Matthias Bernegger und Buchgesellschaft Darmstadt, 1982. Johann Freinsheim (1629–1636) – ein Beitrag zur Galileo Galilei – Schriften, Briefe, Dokumente, he- Kulturgeschichte der Zeit des großen Krieges, von rausgegeben von Anna Mudry, 2 Bände; Verlag Dr. Edmund Kelter; Verlag Lütcke & Wulff, Ham- Rütten & Loening, Berlin 1987. burg, 1905. Galileo Galilei: Prozess ohne Ende, eine Biographie Bericht über die astrologischen Studien des Re- von Albrecht Fölsing; Verlag Piper, 1983. formators der beobachtenden Astronomie Tycho Galilei und das Universum, von Leonhard Stahl; Brahe, von Prof. Dr. F. J. Studnicka; Verlag der kön. Verlag Hermann Seemann, Berlin, 1908. Böhm. Gesellschaft der Wissenschaften, Prag, 1901. Galileo Galilei im Licht des zwanzigsten Jahrhun- Luther im Lichte der neueren Forschung, von Hein- derts, von Rudolf Lämmel; Paul Franke Verlag, rich Boehmer; Verlag B. Teubner, Leipzig, 1914. Berlin, 1927. Zur Geschichte der Universität Straßburg, Fest- Wilhelm Schickard (1592–1635) – Astronom, Geo- schrift zur Eröffnung der Universität Straßburg, graph, Orientalist, Erfinder der Rechenmaschine, Schmid’s Universitäts-Buchhandlung, 1872.

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Franz Xaver Glöggl (1764–1839): Portrait einer großen Linzer Musikerpersönlichkeit Von Josef Simbrunner1

Wenn wir die Entwicklung des Fonds-Konzerte und Bälle ausrichtete. landeshauptstädtischen Theaters, der Nach dem Studienabschluss 1787 von Linzer Kirchenmusik und der Anton der Linzer Theaterdirektion5 unter Graf Bruckner Privatuniversität zurückver- Rosenberg-Borchers mit der Leitung des folgen, so steht in einem gemeinsamen 15-köpfigen Hausorchesters betraut, Zeitschnittpunkt der Name jenes Man- formte er daraus rasch ein hochwertiges nes, der als Orchesterleiter, Bühnenchef Ensemble, das bei größeren Aufführun- und Domkapellmeister da wie dort mit­ entscheidende Wegmarken setzte. Der künstlerische Allrounder gilt zu Recht auch als Pionier des öffentlichen Linzer 1 Redaktionell adaptiert. 2 Schon im Linzer Häuserverzeichnis von 1644 Konzertlebens und Begründer einer findet sich der Name Martin Glöggl als der eines bürgerlichen Linzer Musikkultur. wohlbestallten Bürgers. Die Multibegabung des als Spross 3 Dieses lokal ab 1550 dokumentierte Amt war 2 in der Familie Glöggl seit Generationen erblich. einer begüterten Bürgersfamilie am 21. Dem Stadtthurnermeister war einerseits die Be- 2. 1764 geborenen Franz Xaver Glöggl sorgung der weltlichen Musik übertragen; mit war bereits früh zutage getreten. Ab den Thurnergesellen hatte er nachts die Feuer- dem achten Lebensjahr Jung-Sopranist wache auf den Stadttürmen zu halten, samstags, des 1. Linzer Musikseminars, wurde er sonn- bzw. feiertags und an den vier Bußtagen im Jahr (= Quatember) sowie in der Adventzeit in der Folge mit Fleiß und Zielstrebigkeit täglich morgens zum Gebet, sodann mittags und zum meistgefeierten Geiger des damaligen abends, wenn die Sperrglocke geläutet wurde, mit Oberösterreich. Zur Fortsetzung der Zinken und Posaunen gegen die Stadt und gegen musikalischen Studien schickte ihn Va- die Vorstadt „zwei gute Stücke“ zu blasen. In die- ter Johann Josef Glöggl, seines Zeichens sem Amt zugleich „Stadtmusikdirektor“, besorgte 3 er mit seinen Leuten bei Bürgermeister-, Richter- „Thurnermeister der Stadt Linz“, 1784 und Ratswahlen, ferner bei Jahrmärkten, Zunft-, nach Wien.4 Zurückgekehrt, sollte der Schützen- und anderen Festen sowie kirchlichen Sohn den Senior binnen Kürze an Be- Anlässen die Musik. Zu jener Zeit war deren deutung übertreffen. Pflege vertraglich streng gesichertes Privileg ein- zelner weniger, der sogenannten „Zünftigen“. Verschiedene Musikinstrumente durfte z. B. nur der Thurnermeister führen. Der Sprung an die Bühne: 4 Violine studierte F. X. Glöggl bei Anton Hofmann, Orchesterleiter und Impresario Posaune bei Clemens Messerer. 5 Wie die Thurnermeister hatten auch die Theater- Schon 1785 wird Franz Xaver Glöggl direktoren lange Zeit eine Art Monopolstellung; sie waren allein befugt, in der Stadt „Spektakel“ Leiter der Konzerte der städtischen Mu- oder „maskierte Bälle“ zu geben. Andere Veran- sikliebhabergesellschaft und übernimmt staltungen solcher oder ähnlicher Art wurden von die Linzer Tonkünstlergesellschaft, die ihnen nicht geduldet.

49 gen des Linzer Stadttheaters bald unent- Mozartzyklus, der unter ­Glöggls befeu- behrlich wurde. Der Entschluss des 1790 ernder Leitung geradezu märchenhaften theatermüde gewordenen Grafen Rosen- Triumph erzielte. Ähnliches galt für das berg, den so hervorragend Befähigten Schauspiel.7 Aufstrebende Klassiker fan- als seinen Nachfolger zu empfehlen, den genauso aufmerksame Pflege wie trug reiche Frucht. zeitgenössische Lustspiele, womit das Noch im selben Jahr zum Chef „reguläre“ Theater die lange Tradition auch der Bühne bestellt6 und damit der der fahrenden Truppen und Wander- jüngste Theaterdirektor weitum, bewies bühnen endgültig ablöste. F. X. Glöggl eine exzellente Hand sowohl Bereits über eine prächtige Garde- in künstlerischen wie auch programm- robe und viele Dekorationen verfügend, technischen und organisatorischen Be- unterhielt Glöggl ein festes Ensemble langen. Durch den neuen Direktor ver- mit Fixengagements und regelmäßigen edelt und in seinem Bestand abgesichert, Monatsgagen. Auch verstand er es, erlebte das Alt-Linzer Theater nun einen Spitzenkräfte nach Linz zu holen und so ersten, legendären Aufschwung. der Bühne die Achtung und Zuneigung immer breiterer Publikumsschichten zu gewinnen. „Goldene“ Theaterjahre Trotz dieser unvergänglichen Verdienste waren die einflussreichen Stände8 dem Zuvorderst zu nennen ist hier die unternehmungsfreudigen,9 für alles glänzende Ausgestaltung der Oper, wo- für Glöggl den Orchesterapparat auf 30 6 Zeitgleich übernahm Glöggl vom Vater (* 1739/ Mann vergrößerte. Ab 1792 bereicher- Baden bei Wien, † 1806/Linz) das Amt des Thur- ten das Repertoire Opern und Singspiele nermeisters und damit auch dasjenige des Stadt- heute weniger bekannter Komponisten musikdirektors. Vater J. Josef war später Hofthe- wie Giovanni Paisiello, Franz Benda, atermusiker in Wien und ab 1796 Bratschist am Freihaustheater auf der Wieden. Johann Baptist Schenk und Karl Ditters 7 Oper und Schauspiel waren noch nicht strikt von Dittersdorf. 1793 erringt Mozarts streng getrennt, sodass viele Künstler übergrei- „Zauberflöte“ ungeheuren Erfolg und fend eingesetzt werden konnten. Dies ersparte in geht dreißigmal über die Bretter der willkommener Weise Kosten, denn das Budget nach dem hochwasserbedingten Ausfall des Direktors war streng limitiert. 8 Kommerziell und organisatorisch unterstand die des städtischen „Wassertheaters“ schon erste öffentliche Linzer Bühne der „Adeligen The- 1787/88 als Behelfsbühne adaptierten Re- atersocietät“. Pächter war seit 1766 J. Franz Achaz doutensäle. Eigentlich für gesellschaftli- v. Stiebar. che Anlässe gedacht, erfüllten diese ihre 9 Nach vierjähriger Direktionszeit ging Glöggl an Interimsrolle bis zur Übersiedlung ins die Gründung eines Bühnenkonzerns – des ers- ten, der Linz zum Mittelpunkt hatte, und vereinte neue Ständische Theater an der Prome- die Theaterhäuser von Salzburg und Passau mit nade/1803 trotz räumlicher Mankos bes- der hiesigen Bühne. 1795 reaktivierte er in diesem tens. In den Redoutensälen vollzog sich Rahmen am Salzburger Hoftheater einen regel- der Übergang zum großangelegten The- mäßigen Vorstellungsbetrieb. Damit Anerken- nung findend, trat er das Hoftheater dann aber ater neuen Stils, erfuhr die Theaterkultur bald an ein Mitglied der Salzburger Gesellschaft des kommenden Jahrhunderts eine frühe ab, und zwar an Edmund von Weber, Vater des Vollendung – voran mit dem erwähnten Komponisten Carl Maria v. Weber.

50 Im Redoutensaal (die Aufnahme entstand vor der Restaurierung 1938) erlebte das Alt-Linzer Theater unter Glöggl als Orchesterleiter und Bühnenchef eine frühe Glanzzeit.

Neue offenen Direktor mehrheitlich die man bei diesem Geschäft, der ausgesetzten nicht gewogen. Obwohl Glöggl in Sorge wegen, nur sein Personal zu bezahlen, an- Regierungspräsident Heinrich Franz wenden muss. Man müßte bei solcher schlimmer Reichsgraf von Rottenhan einen mäch- Bestehung am Ende allen Mut verlieren; wenn tigen Fürsprecher zur Seite hatte, wurde der Künstler nur immer um das tägliche Brot der Gegenwind zusehends stärker. arbeiten muß, verliert er alle Schwungkraft zur In einer großen Denkschrift, zugleich weiteren Vervollkommnung seiner Kunst und Spiegel seiner idealistischen, moralisch- wird ein Tagwerker, den kein Ehrgeiz mehr be- ethisch geläuterten Kunstauffassung, gleitet, welcher doch nur im Beifall seiner Fort- führt Glöggl Mitte der 1790er-Jahre bit- schritte bestehen soll. tere Klage: Die Hindernisse, die man ihm fortan permanent in den Weg legte, verfehlten Ohne Protektion kann kein Theater hier ihren Effekt nicht. Finanziell am Rand bestehen. Es ist doch traurig, und man müßte des Ruins – das Geschäftsdefizit be- allen Eifer in der Folgezeit verlieren, wenn man lief sich inzwischen auf 3.000 Gulden, nicht inskünftig einige bessere Aussichten, einige umgerechnet mehr als fünfzigtausend Belohnung für die außerordentliche Mühe hätte, Euro – trat Glöggl die Direktion 1797

51 ab,10 um sich unmittelbar darauf mit der Hegemonie. Junge, ambitionierte Kräfte Annahme des Kapellmeisterpostens am drängten nach. 1806 begründete Thea- damaligen Linzer Dom [Ignatiuskirche] terdirektor Franz Graf Füger einen neuen sowie an der Stadtpfarr- und der Kar- Klangkörper, in der Doppelfunktion als melitenkirche11 beruflich ein neues, zu- Konzert- und Bühnenorchester Vorläu- sätzliches Wirkungsfeld zu erschließen. fer des heutigen Bruckner Orchesters. Nicht nur als Dom- bzw. Kirchenkapell- meister sollte Glöggl dem städtischen Kirchenmusiker und Musikleben aber weiterhin wichtige Domkapellmeister Impulse14 geben und ihm bis zu seinem Tod am 16. Juni 1839 ein, wie die Chro- Unter günstigen Vorzeichen für die nik festhält, „getreuer Eckart“ bleiben. lokale Kirchenmusik – 1786 war Linz zum Bistum erhoben worden – baute Franz Xaver den Domchor im Nu zu ei- Musikschulgründer, Pädagoge, nem leistungsstarken Klangkörper aus. Musikwissenschaftler, Publizist und Glöggls Wohnung im „Pfarrmusiker- Sammler haus“ am Pfarrplatz12 wurde zum Treff- und Durchreisepunkt aufgeschlossener Schon 1799 hatte er im Landhaus Kollegen, die sein richtungsweisendes eine Musikschule zur Heranbildung ta- Bestreben zur Befreiung der Musik aus lentierten Nachwuchses eröffnet und sie den Fesseln der Zunftgebundenheit mit Be- in seinem Wohnhaus am Pfarrplatz wei- geisterung teilten. Um die auf Linzer tergeführt, bis die Singschule des 1821 Boden ehedem noch recht bescheidene Musikpflege auch in privaten Kreisen populär zu machen, gab er laufend Ge- 10 Genau am Aschermittwoch, dem ehemaligen sellschaftskonzerte unter Einbeziehung Stichtag für den Beginn des Theaterjahres. Nach- von „Dilettanten“,13 flankierende Initiati- folger Glöggls war von 1798 bis 1804 Johann Ge- org Dengler, unter dessen Leitung das Landstän- ven erhöhten die bis dahin dürftige An- dische Theater an der Promenade am 4. Oktober zahl geschulter, professioneller Musiker. 1803 eröffnet wurde. Zur Geschichte des Linzer Groß besetzte Chor- und Orchesterauf- Theaterwesens siehe u. a. den Beitrag des Verf. in: führungen mit über hundert Mitwirken- OÖ. Heimatblätter, Heft 3/4 2014, S. 103 ff. den waren im Linz des aufklingenden 11 Die musikalische Mitbetreuung dieser beiden Gotteshäuser war an das Domkapellmeisteramt 19. Jahrhunderts daher bald keine Sel- automatisch geknüpft. tenheit mehr. 12 Für die Stadtpfarre legte er hier eine Sammlung Die Ironie dabei: Im Sog der von von 5.000 Musikalien an. 13 ihm selbst angestoßenen Entwicklung Der mittlerweile abwertend gebrauchte Begriff stand seinerzeit für Musiker, die aus Leidenschaft entstand ein Orchester um das andere, und Interesse ehrenamtlich spielten. hinzu kam die wachsende Konkurrenz 14 1804 hatte sich Glöggl für einige Monate noch durch zweitklassige Wirtshausmusiker. einmal als Theaterdirektor im Haus an der Pro- Vergeblich kämpfte Glöggl, in dessen menade versucht. Glöggl war es auch, der die „Banda“ der 1790 gebildeten Bürgergarde neu Hand sich damals Schlüsselpositionen organisierte und bis 1814 leitete. In der Schlacht des urbanen Musikbetriebs vereinig- bei Ebelsberg am 3. Mai 1809 befehligte er die ten, um die Aufrechterhaltung dieser „Banda“ als Sanitätstruppe.

52 Die Linzer Ignatius- bzw. Jesuitenkirche: Hier wirkte F. X. Glöggl bis zu seinem Tod und damit mehr als vierzig Jahre hindurch als Domkapellmeister.

53 aus der Taufe gehobenen Linzer Musik- mit Berühmtheiten wie Joseph Haydn,16 vereins deren Agenden übernahm. Mozart und Beethoven im Briefwechsel Auch der Musikverein geht auf eine und teils in persönlich engem Kontakt Initiative F. X. Glöggls zurück; die Sing- stand. Letzterer hatte den Domkapell- schule wiederum gilt als erste Vorläufe- meister bei seinem Linz-Aufenthalt 1812 17 rin der als Nachfolge-Einrichtung des des Öfteren besucht und extra für ihn „Brucknerkonservatoriums“ 2004 ins Le- ein Werk komponiert, die „Drei Equali f. ben gerufenen Anton Bruckner Privat­ vier Posaunen, WoO30“. universität, die damit indirekt ebenfalls Den Erinnerungen von Glöggls ers- Glöggl zum „Gründungsvater“ hat. tem Sohn Franz Xaver d. J. (zu Papier ge- bracht 1872) verdanken wir unter ande- Für Studierende verfasste Glöggl rem die Überlieferung einer Episode, in Fachlehrbücher, die rege Verwendung der Beethovens „gefürchtetes“ Tempe- fanden, ebenso ein „Allgemeines Mu- rament die Hauptrolle spielt. Abschlie- siklexikon“ und eine ganze Reihe mu- ßend die zentralen Passagen daraus, z. siktheoretischer Arbeiten. Zu den von T. leicht gekürzt: Beethoven war mit meinem ihm edierten Publikationen zählen ein Vater … in intimer Freundschaft … 1812 … „Kurzgefaßtes Schulbuch der Ton- war er täglich in unserem Hause und speiste kunst“ (1797), der „Versuch zu einem mehrmals dort … Unter den Cavalieren, wel- musikalischen Kunstwörterbuch“ (1798), das „Musikalische Blättchen zur Zeit“ (1810), „Musikalische Notizen“ & die 15 1803 hatte Glöggl auch eine „Musikalische Mo- „Musikalische Zeitung für die österrei- natsschrift“ herausgegeben. Als erste Musikzei- chischen Staaten“ (jeweils 1812), „Der tung Österreichs wurde sie, „mangels genügen- der Teilnahme“, allerdings noch im selben Jahr musikalische Gottesdienst“ (1822), „Zur wieder eingestellt. Eduard Hanslick, einer der Geschichte der Musik“ (1827), ein „Er- einflussreichsten Musikkritiker seiner Zeit, wür- läuterndes Handbuch der Kirchenmu- digte des Domkapellmeisters Rührigkeit als Pi- sikordnung“ (1828) sowie „Allgemeine onier d. Linzer Musiklebens und bezeichnete in Anfangsgründe der Tonkunst für Ton- seiner „Geschichte des Concertes in Wien“ diese Monatsschrift wörtlich als „die Ahnfrau dieses schulen“ (1830). Außer einer Musikagen- Geschlechts in Oesterreich“. tur betrieb Glöggl, von 1801 bis 1807, die 16 Wohlgebohrner, Insonders Hoch zu Ehrender Herr! Die erste Linzer Musikalienleihanstalt, 1830 Ehre, So mir Euer Wohlgebohrn durch die Abnahme mei- kam es zur Gründung seiner Musik-, ner Schöpfung, und durch Dero werthen beygedruckten Kunst- und Instrumentenhandlung, die Namen … erweisen, ist für mich höchst schätzbar, und 15 beseelt meinen alten Kopf zum ferneren Fleiß … Unter- neueste Musikalien auflegte. (Die Bib- dessen bin ich mit aller Hochachtung nebst gehorsamster liothek des Domkapellmeisters gehörte Empfehlung … Euer Wohlgebohrn dienstfertigster Diener zu den umfangreichsten der Stadt, seine Joseph Haydn. (Exzerpt aus einem Brief J. Haydns an Privatsammlung von Autographen und Franz Xaver Glöggl, Stadt und Dom Capell Meis- ter in Linz in Oberösterreich, vom 24. Juli 1799.) Musikinstrumenten wurde durch die 17 Gegenbesuche Glöggls bei Beethoven in Wien Wiener Gesellschaft der Musikfreunde sind belegt. (Zum ehrenden Andenken an den angekauft.) Domkapellmeister, der sich selbst ebenfalls kom- positorisch betätigt hatte, benannte die Stadt Ein Schlaglicht auf Glöggls Reputa- Linz die Verkehrsverbindung von der Prinz-­ tion selbst in höchsten Künstlerkreisen Eugen-Straße zur Hittmairstraße im Franckviertel wirft, last not least, die Tatsache, dass er „Glöggl­weg“.)

54 Des Domkapellmeisters erster Sohn, F. X. Glöggl d. Jüngere. (Nach einem Konterfei des Vaters fahndete die Redaktion ergebnislos.) Foto: Archiv der Stadt Linz

55 Mitglieder bzw. Nachfahren der Familie Glöggl in der Theater- und Musikszene Sohn Franz Xaver d. J. (1796–1872), ausgebildet durch den Vater und keinen Geringeren als Antonio Salieri, etab- lierte sich vorerst im Schauspielfach, lei- tete anschließend verschiedene Bühnen und wurde 1824 Archivar der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde, an de- ren Konservatorium er auch Posaune und Kontrabass unterrichtete. 1839 er- öffnete er am Wiener Kohlmarkt ein „Auskunftsbureau für musikalische An- Auch mit L. v. Beethoven (1770–1827), dessen jün- gelegenheiten jeder Art“, 1840 gründete gerer Bruder Nikolaus Johann am Linzer Hauptplatz er in Wien eine Musikschule, 1843 eine eine Apotheke betrieb, verkehrte F. X. Glöggl auf Kunst- und Musikalienhandlung, die freundschaftlichem Fuß. er später Ignaz Bösendorfer verkaufte. Foto: Siegfried Lauterwasser, Überlingen/Bodensee 1849 Mitbegründer einer bis 1853 be- stehenden Akademie der Tonkunst, gab che in Linz waren, war vorzüglich Herr Graf v. Franz X. d. J. von 1851 bis 1862 die „Neue Dönhoff, ein großer Verehrer Beethovens, wel- Wiener Musikzeitung“ heraus und un- cher Beethoven zu Ehren während dessen An- terhielt die Gesangsschule „Polyhym- wesenheit einige Soireen gab. Bei einer war ich nia“. Auch war er Chordirigent an der zugegen. Beethoven … wurde gebeten, auf dem Wiener Paulanerkirche. Pianoforte zu fantasiren, welches er durchaus Dessen Sohn Anton (1826–1858/ nicht wollte. Es war schon im Nebenzimmer eine Wien) war Sängerknabe im Stift Klos- lange Tafel zum Speisen hergerichtet … Endlich terneuburg, besuchte die Akademie der ging man ohne ihn zur Tafel. Er war aber im Bildenden Künste und übernahm 1854 Nebenzimmer und fing jetzt an zu fantasiren; die väterliche Kunst- und Musikalien- alles verhielt sich still und hörte ihm zu. Ich blieb handlung, in der er bereits seit 1844 tätig bei ihm neben dem Piano stehen. Er fantasirte gewesen war. beiläufig eine Stunde, wo nach und nach alles Franz Xaver Glöggls sehr jung ver- aufstand und sich herum versammelte. Nun storbener zweiter Spross Anton (1797– fiel ihm erst ein, daß man ihn schon lange zum 1814/Prag) wirkte kurz als Organist an Speisen gerufen – er eilte vom Sessel ins Neben- der Karmelitenkirche in Linz. zimmer. An der Thür stand ein Tisch mit Por- F. X. Glöggls Bruder Joseph (1759– zellangeschirr – er stieß aber an den Tisch so an, 1821) war zunächst Musiker beim Linzer daß das Porzellan auf der Erde [sic] lag. Graf Theaterorchester und bekleidete ab 1798 Dönhoff, ein reicher Cavalier, lachte dazu, und unter Direktor Franz Graf Füger in Linz man setzte sich mit Beethoven … zum Tische. die Stelle eines Musikdirektors; densel- Von Musikmachen war keine Rede mehr, denn ben Posten besetzte er später in Brünn. nach der Fantasie von Beethoven war die Hälfte Ab 1810 war er dann Chor- und Orches- der Saiten vom Piano abgehauen … terdirektor in Ofen und Pest. Dessen

56 Sohn Joseph (1799–1858) debütierte zu- Bühnen wie Laibach und Triest, Salz- sammen mit Cousin Franz X. d. J., siehe burg und Bad Ischl, Agram, Znaim und oben, als Schauspieler auf der Linzer Brünn geleitet. Besonders Joseph, 1851 Bühne. In jungen Jahren hatten beide bis 1854 in Preßburg und Lemberg aktiv, gemeinsam österreichische (Provinz-) erlangte bedeutenden Ruf.

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Armut und Schubwesen auf dem Lande im (Ober-)Österreich des 19. Jahrhunderts* Von Rosmarie Fruhstorfer

Auf dem Gebiet der Armenfürsorge finden sich Statistiken zu Eigentumsde- hatte man in Bayern und Österreich starr likten, die deutlich aufzeigen, dass nicht am Heimatprinzip festgehalten. Der der schwere, gewaltsame Diebstahl im Mensch war in das soziale System der Vordergrund stand. Man wollte nicht ländlichen Gesellschaft integriert. Er war Eigentum rauben, um Eigentum anzu- auch durch eine geregelte Altersversor- häufen, sondern um die Familie über gung, die auf keinen Fall unseren Vor- die Runden zu bringen. Es handelte sich stellungen entspricht, mehr oder weni- um Holz- und Felddiebstähle. Auch der ger abgesichert. Ideal und Wirklichkeit Masse der Holzdiebstähle lag materielle klafften allerdings weit auseinander, wie Not zugrunde, denn Holz war im 19. die großartige Landes-Sonderausstel- Jahrhundert der zentrale Energiespen- lung 2015 in Gallneukirchen abwechs- der. Entwendet wurden auch Kartoffeln, lungsreich aufzeigte. Wie aber erging es Kohlrabi, Mohrrüben, Erbsen oder Klee. im 19. Jahrhundert erst denen, die kein Häufig schickte man Frauen und Kinder Heimatrecht in unserem Land besaßen? im Herbst auf die abgeernteten Felder. Bemüht sei ein Wort aus der Bibel: Nichts Fanden sie dort nicht viel, nahmen sie Neues unter der Sonne (Buch Kohelet 1,9). von anderen Ländereien, wo die Frucht noch auf dem Felde stand.

Umgang mit den Außenseitern der Armut und Bettelei wurden seit Be- Gesellschaft ginn der Neuzeit nicht mehr als gottge- gebene Tatsache hingenommen, son- Neben den Bettlern, die den Weg ins dern als Bedrohung der Gesellschaft bürgerliche Leben nicht mehr fanden, empfunden. Deshalb bemächtigte sich waren auch Schausteller, Seiltänzer, Ma- der absolutistische Staat der Armenver- rionettenspieler und Komödianten Au- waltung durch Zentralisierung der Ar- ßenseiter der Gesellschaft, Vagierende, menfürsorge, durch Abschiebung von die außerhalb des sozialen Gefüges ste- Menschen ohne Heimatberechtigung, hen, meist keinen festen Wohnsitz, kaum aber auch durch Einweisung von Armen Einkommen oder gar Besitz haben. Er- und Bettlern in Arbeitshäuser, was kei- träge aus Gelegenheitsarbeiten reichten wohl nur für kurze Zeit. Für den Rest der Zeit waren sie gezwungen, sich überwie- * Auszüge, redaktionell zusammengeführt. gend mit Betteln zu ernähren. Da das Die Bilder und Zitate sind entnommen R. Fruh- Betteln aber unter Strafe stand, war der storfers volkskundlicher Untersuchung „Armut erste Schritt in die Kriminalität getan. Es auf dem Land“, edition innsalz, 2016.

59 neswegs eine Verbesserung der Lebens- den Landesgrenzen wurden eigene „Zi- situation der Betroffenen und ihrer Fa- geuner-Schrecktafeln“ aufgestellt. We- milien brachte. gen ihrer zahlreichen nichtchristlichen Der vagabundierende, bindungs- Vorstellungen und Praktiken und ihrer lose Landstreicher, den es notfalls mit unsteten Lebensweise waren sie bestän- Gewalt zu disziplinieren und zur Arbeit dig Verfolgungen ausgesetzt. Es war un- anzuhalten galt, war zwar kein Novum möglich, sie nahtlos zu überwachen. So und kein Produkt kapitalistischer Ent- untersagte man ihnen das Betreten des wicklung. Die Bemühungen, das Volk betreffenden Territoriums, drohte ihnen zur Arbeit zu erziehen, zu disziplinieren mit Ausstäupung und Brandmarkung und es so dem Elend durch Müßiggang und im Wiederholungsfalle mit dem zu entziehen, waren vielgestaltig. Dazu Aufhängen ohne Prozess. Dass dies wurden Arbeitshäuser errichtet. Es soll keine leeren Drohungen waren, dafür aber nicht verschwiegen werden, dass gibt es zahlreiche Belege.2 es auch echte Verbrecher- und Räuber- In der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts banden gab, die in der Bevölkerung viel hatte die österreichische Verwaltung Angst und Schrecken verbreiteten. besonders viele Verordnungen und Er- lässe herausgegeben, die den Umgang Die Bettler wurden kontrolliert, re- mit Vagierenden betreffen. Trotz dieser gistriert, die Ortsfremden unter ihnen eindeutigen Parteinahme durch die Obrigkeiten vertrieben, über die Grenze geschafft konnten die europäischen Zigeuner bis in un- oder in ein Arbeitshaus eingewiesen. sere Zeit überleben. Dies hängt nicht nur mit der Wir wissen wenig über sie. Das, was wir zeitweiligen Ineffizienz des Überwachungsappa- zu wissen glauben, entspricht oft nicht rates zusammen, sondern auch damit, dass es den Tatsachen, denn in allen Epochen den Zigeunern gelang, in vielfältige Beziehun- sind die Armen zugleich die Unbekann- gen zur einheimischen sesshaften Bevölkerung ten.1 zu kommen, so dass sie auf dem Wege der Ge- Die Verbindung von Heimatprinzip genseitigkeit auch Hilfen erfuhren, die ihnen das und Armenversorgung brachte lang- Überleben sicherten.3 fristig keine Lösung der Verarmung. 1888 sah sich die österreichische Die Schübe ins Ausland waren Kon- Verwaltung wieder einmal genötigt, an sequenz der rigiden Bestimmungen in sämtliche Gemeindevorstehungen eine der Gesetzgebung Österreichs wie im Note zu richten, die in 14 Punkten die benachbarten Bayern. Für den Ort, der Vorgangsweise gegen die Belästigung die Ausweisungen unternahm, brachten durch Zigeuner und Zigeunerbanden sie zwar eine kurzfristige Lösung seines anordnete. Grundlage war ein Erlass des Bettlerproblems. Gesamtgesellschaftlich k. u. k. Innenministeriums: gesehen waren diese Transporte Aus- 1. Die unterstehenden Behörden in allen je- druck einer permanenten Verschiebung nen Bezirken, welche an Ungarn und das Aus- der Problematik. Die Zigeuner erfuhren die größte Ablehnung in allen europäischen Kul- 1 Fischer, Armenfürsorge (1979) 7. turen. Mit ihnen wollte man nichts zu 2 Hartinger, Religion und Brauch (1992) 13. tun haben. Ihnen traute man alles zu. An 3 Hartinger, Religion und Brauch (1992) 13–14.

60 land angrenzen, sind anzuweisen, mit aller Um- dieselben an infectiösen Krankheiten leiden, sicht, Wachsamkeit und Energie dafür zu sorgen, so sind die betreffenden Individuen in das im dass fremde Zigeuner oder Zigeuner=Familien Orte befindliche Spital abzugeben, die übrigen sowie namentlich Zigeunerbanden nicht über scheinbar gesund befundenen aber sammt ih- die Landesgrenze eindringen, vorkommenden- ren Fahrnissen der Desinfection und einer nach falls aber sind die Eindringlinge sogleich in der der Incubations=Dauer der constatirten Infec- Richtung ihrer Provenienz zurückzuweisen und tionskrankheit zu bemessenden Isolirung und zurückzudrängen.4 Beobachtung zu unterziehen. Zeigt sich bei der erwähnten Beschau, daß die Zigeuner mit Un- Diese Verordnung galt auch für an- geziefer behaftet sind, so ist an ihnen vor deren dere Bezirke, falls den Zigeunern den- Abgabe in die Arrestlocalitäten stets die erfor- noch das Eindringen ins Landesinnere derliche Reinigung und das vollständige Kurz- gelungen sein sollte. War aber eine so- schneiden der Haare vorzunehmen.5 fortige Abschiebung über die Grenze Die sogenannten Bettlerschübe be- nicht möglich, seien alle arbeitslos züglich gesunder Personen brachten herumziehenden Zigeuner, ob Inlän- eine Verschärfung der Lage mit sich, der oder Ausländer, ob mit Legitima- denn durch sie wird geradezu eine hei- tionspapieren versehen oder nicht, der matlose, unstete Armutsbevölkerung strafrechtlichen Behandlung als Land- produziert, deren Sesshaftigkeit man streicher zuzuführen. Die Unmündigen systematisch verhindert. sollten von der Gemeinde einstweilen Auch die anderen nichtsesshaften versorgt werden, wo sie aufgegriffen Menschen jener Zeit, die Schausteller, wurden. Selbst die Zigeuner, die ein Seiltänzer, Marionettenspieler, Komö- Heimatrecht in einer Gemeinde der im dianten und die Heimatlosen versuchte Reichsrat vertretenen Königreiche und man entweder gänzlich fernzuhalten Länder nachweisen konnten, sollten als oder baldigst abzuschieben, um die Un- Landstreicher strafgerichtlich behandelt terstützungsleistungen so gering wie werden. Ihnen drohte die Einweisung in möglich halten zu können. Es zeugt eine Zwangsarbeits- oder Besserungs- schon von Hilflosigkeit, dass die Ab- anstalt oder eine Schubbehandlung schiebepraxis bis weit ins 20. Jahrhundert nach dem Gesetz vom 27. Juli 1871. Falls bestehen blieb, dass weder das Gebot besonders starke Zigeunergruppen an der christlichen Nächstenliebe noch die das Gericht eingeliefert wurden, emp- in der Verfassung von Virginia erstmals fahl man, Militärassistenz in Anspruch konkret formulierte, in die hohen Ide- zu nehmen. Alle Schäden, die durch ale der Französischen Revolution mün- das Lagern oder durch das Weiden der dende Erklärung der Menschen- und Zugtiere an Feldfrüchten oder am Forst Bürgerrechte gravierende Veränderun- entstünden, wären nach dem betreffen- gen mit sich brachten. Doch mit Erstau- den Feldschutzgesetz beziehungsweise nen muss man bei der Beschäftigung nach dem Forstgesetz zu strafen. Auch die Angst vor ansteckenden Krankhei- ten war groß: 4 PFA Gemeindesachen Zahl 12589 vom 30. Octo- Wird durch die … ärztliche Beschau ber 1888. aufgegriffener Zigeuner sichergestellt, dass 5 PFA Gemeindesachen Zahl 12589 § 8.

61 u. a. mit Akten der Gemeinde Aspach tung eines eigenen Arbeitshauses in feststellen, dass einzelne Personen sehr Oberösterreich verzichtete. wohl wussten, was ihnen vom Gesetz her zusteht, und auch den Mut aufbrach- Bist du fremd oder einheimisch? ten, auf der Erfüllung ihrer Ansprüche Schub-, Heimat- und Armenrecht zu beharren und Ämter bzw. Behörden aufzusuchen, um ihr Ziel zu erreichen. Bevorzugtes Instrument, fremde Arme aus dem eigenen Gebiet loszu- Da Oberösterreich allgemein als rei- werden, war der Schub. Sehr allgemein ches Land galt, strömten auch viele aus- gesprochen war der Schub ein herrschaftliches wärtige Bettler und Landstreicher aus Instrument, das es erlaubte, Individuen unter allen Teilen der Monarchie hierher. Der Zwang von einem Ort zum anderen zu trans- Landtag klagte über die Überhandnahme portieren. Voraussetzung war, dass es sich der Landstreicherei, die sich zu einer der um Fremde handelte, die gegen verschiedenste empfindlichsten Landplagen in Oberös- Normen verstoßen hatten. Zur Abschiebung terreich entwickle. Solche Entwicklun- einer Person bedurfte es also zweier Vorausset- gen lösten und lösen lebhafte Diskussio- zungen: Der Betreffende musste am Ort fremd nen aus. Dabei ging es wohl weniger um sein und eine Übertretung begangen haben.7 die Bekämpfung der Armut als um die Im bürokratischen Diskurs wurde der Bekämpfung der Armen, denn es hielt Schub nicht als Strafe verstanden. Er galt sich schon damals die weitverbreitete vielmehr als Mittel, Personen an jenen Meinung, dass die Einträglichkeit des Ort zu befördern, den die heimatrecht- Bettelns viele von der Suche nach Arbeit lichen Bestimmungen als ihre Heimat abhalte. Man dachte auch laut über ri- definierten. Ohne das dahinterstehende gide Formen zur Abstellung der Bettelei Heimatrecht wäre der Schub allerdings und des Vagabundierens nach. Da die bloße Willkür geblieben. Zahl der Bettler ständig zunahm und die Die Bestimmungen des Heimat- Verpflegungs- und Schubkosten gewal- rechts normierten die Kriterien, die eine tig stiegen, erwog man die Errichtung legale Unterscheidung zwischen Frem- eines Zwangsarbeitshauses in Oberös- den und Einheimischen erlaubten. Diese terreich, verwarf diesen Gedanken aber Unterscheidung ist eng mit der Entwick- wieder. Immerhin betrugen die Kosten lung des Territorialstaates verbunden, für die Schubtransporte allein im Jahr denn eine Trennung der Bevölkerung 1883 achtzigtausend Gulden. Auch für in Einheimische und Fremde setzt das die Unterbringung der „Zwänglinge“ Bestehen von Grenzen voraus. Die ob- in Arbeitshäusern anderer Kronländer rigkeitliche Festlegung von Eigenem und verdreifachte sich der von Oberöster- Fremdem findet ihren Niederschlag im reich ausgelegte Betrag von 3361 auf 6 Bereich der Gesetzgebung. Das Armen- 9495 Gulden zwischen 1882 und 1884. recht regelt, welche Instanzen für die Ver- Allerdings dürften die Erfahrungswerte, sorgung von Armen zuständig sind. Das die man aus den Arbeitshäusern erhielt, nicht nur nicht überzeugend, sondern schlichtweg deprimierend gewesen sein, 6 Karny, Lesebuch (1990) 26-28. so dass man schließlich auf die Errich- 7 Heindl und Saurer, Grenze und Staat (2000) 175.

62 Lebensschicksal „Armut und Abschiebung“. Zeichnerische Impression des österreichischen Malers Günter Patoczka († 2015).

63 Konskriptionswesen trifft Aussagen dar- Im Mittelpunkt dieses Abrisses sol- über, wer wo als einheimisch bzw. fremd len die Diskreditierung von Armut und zu gelten hat. Die Schüblinge8 sollten Bettlertum und die wachsende Beach- unter staatlicher Kontrolle an jenen Ort tung der Unterscheidung von einhei- gebracht werden, der zuvor als ihr Hei- misch und fremd stehen. Das Patent von matort bestimmt worden war. Das Land 1723 stellt insofern einen Einschnitt dar, sollte von Bettlern, Erwerbsunfähigen, als nun begonnen wurde, Schubtrans- von Menschen ohne Pass und solchen porte von Ausländern an fixen Tagen im mit liederlichem Lebenswandel gesäu- Sommer und im Herbst auf Anordnung bert werden. Immer wieder werden auch der Regierung abzuwickeln.11 Bis dahin Transporte durchgeführt, die Arme aus waren von den Landgerichten offenbar Straf- oder Krankenhäusern in ihre Hei- nach Gutdünken einzelner Herrschaften mat bringen sollten. Die Härten, die sich (= Dominien) Schübe durchgeführt wor- dabei für die Schüblinge ergaben, wur- den. Der Inhalt weiterer Patente macht den der mangelhaften Umsetzung der den Anspruch des Staates deutlich, sich gesetzlichen Bestimmungen zugeschrie- des von ihm beherrschten Territoriums ben, denn von den ausführenden Orga- verwaltungstechnisch zu bemächtigen. nen war durchwegs eine humane Durch- Bis in den letzten Winkel sollte das führung der Schübe verlangt. Man kann Herrschaftsgebiet nach unerwünschten sich denken, dass die Unglücklichen von Individuen abgesucht werden. In fast den Gerichtsdienern und Schubbeglei- allen Bestimmungen, die wir aus dieser tern nicht allzu zimperlich behandelt Zeit haben, fehlt nie die Auflistung von wurden und auf vielen Schubstationen Sanktionen gegenüber den Grundherrn in kalten Arresten bei schlechter Kost auf und den herrschaftlichen Beamten, die den Weitertransport warten mussten.9 die Normen verletzten.12 Unter Maria Theresia übernahm der Staat schließlich einen Großteil der Es war aber nicht die Mobilität als sol- ständischen Verwaltung, vor allem die che, die Individuen verdächtig machte. Einhebung der Steuern. Die ständischen Man muss zwei Formen der Mobilität Behörden wurden im Wesentlichen auf unterscheiden: Die eine betraf jene Per- Justizangelegenheiten eingeschränkt, sonengruppe, die infolge des Berufes ge- die staatlichen Kreisämter eingeführt. zwungen war, sich zur Ausübung ihrer Sie übernahmen in der Folgezeit die Tätigkeit vom eigenen Wohnort weg- Aufsicht über Landgerichte und Grund- zubewegen. Diese Mobilität war nicht unerwünscht, denn sie diente ja dem 8 ökonomischen Fortschritt. Die andere, Der Begriff entstammt der Polizeisprache des frü- hen 19. Jahrhunderts. Die Verordnungen aus dem die man grundsätzlich unterscheiden 18. Jahrhundert sprechen noch von Schubperso- muss, war eine Mobilität ohne festen nen oder von auf Schub gesetzte Personen. Wohnsitz. Diese Lebensform war es, die den 9 Viele Beispiele finden sich bei Wendelin, Schub neuen Ordnungsvorstellungen zuwiderlief. Sie (2000). 10 Wendelin, Schub (2000) 233. entzog sich dem Konzept der Sozialdisziplinie- 11 Patent vom 5. Dezember 1723, zitiert bei Wende- rung und dem Wunsch nach Lokalisierung der lin, Schub (2000) 236. Individuen …10 12 Wendelin, Schub (2000) 241.

64 herrschaften, die fortan die unterste mungen sahen für die Reversion harte Ebene der Landesverwaltung bildeten.13 Strafen vor.16 Der Transport von gesunden Schüb- Das Schubsystem blieb bis zur Auf- lingen erfolgte zu Fuß, im Krankheitsfall hebung der Grundherrschaft 1848 und mit Fuhrwerken. Die Begleitung und zur Einführung der Gendarmerie 1850 Verköstigung hatten die Hofmarksher- in seinen Grundzügen unverändert. Die ren und die Herrschaften mit niederer Kompetenzen der Dominien und der Gerichtsbarkeit zu leisten, die Fuhrwerke Kreisämter in Schubfragen übernahmen mussten die Untertanen im Bedarfsfall schließlich die ebenfalls 1850 errichte- bereitstellen. Die Abwicklung des Trans- ten Bezirkshauptmannschaften. Erst mit portes ging so vor sich, dass bis 1817 die dem Reichsschubgesetz von 1871 wurde Schüblinge von Ort zu Ort, danach von das Schubwesen auf eine neue gesetz- Herrschaft zu Herrschaft in oft sehr kur- liche Grundlage gestellt.14 Festzuhalten zen Etappen transportiert wurden. Bei bleibt, dass die Normen, die die Grund- Bedarf übernachteten die Schüblinge in sätze des Schubes sowie seine Abwick- den Arresten der passierten Orte. Auf je- lung festsetzten, ausnahmslos aus dem der Schub-Station wurden die Begleiter 18. Jahrhundert stammen. Alle späteren gewechselt. Der ankommende Begleiter Bestimmungen betrafen lediglich orga- kehrte zu seiner Herrschaft zurück. Es nisatorische Fragen, Fragen der Finanzie- war also ein großer Aufwand an Mensch rung und des Transportes. und Material nötig, ohne dass es eine Während in frühen Bestimmungen Garantie für den Erfolg des Unterneh- der Schub meist als Strafmaßnahme ge- mens gab, denn die Rückkehr einzelner gen verdächtige Personen15 jeder Art er- Personen an den Ausgangspunkt des scheint, wandelt sich dieses Bild im Laufe Schubes war nicht zu verhindern. Nie- des 18. Jahrhunderts. Mit der wachsen- den Bedeutung des Heimatrechtes und der darauf basierenden Armenversor- 13 Herzog, Schubwesen (1835) zitiert auf Seite 44 gung wird der Schub immer mehr als die Allerhöchste Entschließung vom 13. Okto- Fürsorgemaßnahme verstanden. Eines ber 1753. Neben den Schüben, die Personen an der gravierendsten Probleme im Zusam- ihre Heimatorte brachten, existierte unter Maria menhang mit dem Schub war für die Be- Theresia auch der sogenannte „Temesvarer Was- serschub“, eine Sonderform des Schubes, die den hörden die sogenannte Reversion. Als Charakter einer Deportation hatte. Diese Ein- Revertenten bezeichnete man Personen, richtung bestand zwischen 1752 und 1769, eine die nach einmal erfolgter „Abschaffung“ Maßnahme, die die Hauptstadt Wien von uner- wieder zurückkehrten, wieder aufgegrif- wünschten Individuen befreien sollte; sie diente fen und abgeschoben worden waren. auch als bevölkerungspolitische Maßnahme zur Besiedlung des Banats. Reiter, Ausgewiesen Wurde eine Person wegen eines Verbre- (1996) 176–179. chens „abgeschafft“, so wurde auch die 14 Wendelin, Schub (2000) 242. Reversion als Verbrechen qualifiziert. 15 Das Patent vom 13. April 1724 zählt abgedankte Wurde über jemanden die Abschaffung Soldaten, müßig gehendes Gesinde, Bettler, Pil- ger, vazierende Geistliche, Krämer, Halter, Ab- aus polizeilichen Rücksichten verhängt, decker, Schergen und Dienersleut auf. Herzog, so war die Reversion eine schwere Poli- Schub (1853) 4. zeiübertretung. Die gesetzlichen Bestim- 16 Reiter, Ausgewiesen (1996) 330–346.

65 mand war mit der Abwicklung und der des Armenrechtes. Im 19. Jahrhundert gängigen Praxis des Schubes zufrieden, dürfte sich die Ansicht durchgesetzt ha- niemand bezweifelte allerdings die Not- ben, dass der Schub nur ein Mittel sei, wendigkeit seines Weiterbestehens. Die Personen unter staatlicher Kontrolle an Dominien stöhnten über die finanzielle jenen Ort zu schicken, der zuvor als und administrative Überbürdung durch ihr Heimatort bestimmt worden war. die Anforderungen der Staatsverwal- Hauptzweck war die „Reinigung“ des tung. Umgekehrt warf die Staatsverwal- Landes von Bettlern, Erwerbsunfähigen, tung den Dominien vor, die gesetzlichen passlosen, liederlichen und verdächti- Bestimmungen nur nachlässig umzuset- gen Personen. Dabei war es wie erwähnt zen. Der Grund für die Auseinander- nicht die Mobilität als solche, die ver- setzungen lag in der Organisation der dächtig machte, sondern die Mobilität öffentlichen Sicherheit am flachen Land. ohne festen Wohnsitz. Noch lagen die Exekutiv- und die Judi- Bereits im 16. Jahrhundert war man kativgewalt häufig in den Händen der in Österreich zur Ansicht gelangt, dass Dominien. Dieser Zustand änderte sich das Betteln nur dann in den Griff zu be- erst durch die Aufhebung der Grund- kommen wäre, wenn es gelänge, eine herrschaft und durch die Einführung der flächendeckende Armenversorgung Gendarmerie. einzurichten. 1552 wurde mit der Poli- Von den Obrigkeiten mussten Pro- zeiordnung Ferdinands II. erstmals das tokolle angelegt werden, sobald ein ver- sogenannte Heimatprinzip eingeführt, dächtiger Fremder auf dem Gemeinde- wonach die Gemeinden für die Versor- gebiet aufgegriffen wurde. Manchmal gung der einheimischen Armen verant- wurden Personen auch auf Anzeige ei- wortlich waren. Fremde gesunde Bettler nes Einheimischen festgenommen und sollten dagegen bestraft werden.17 Das einem Verhör unterzogen. Der überwie- Patent legt allerdings fest, dass, sollte gende Teil der Verhörsprotokolle weist die Zahl der zu versorgenden einheimi- die späteren Schüblinge als Durchrei- schen Armen die Leistungsfähigkeit der sende aus, die durch ihr Verhalten die Gemeinde übersteigen, die Kommunen Neugierde der Obrigkeit auf sich gezo- Erlaubnisscheine für das Betteln außer- gen hatten. Es handelte sich um tatsäch- halb ihres Herrschaftsbereiches ausstel- liche oder vermutete Zechpreller, die die len dürften. Man machte davon regen Wirte angezeigt hatten, bettelnde Hand- Gebrauch und entledigte sich damit der werker, verdächtige Wallfahrer oder Verpflichtung zur Armenversorgung Personen, die vor der hereinbrechen- weniger durch die Vergabe entsprechen- den Nacht Schutz im Stall eines Bauern der Mittel als durch die Erteilung von gesucht hatten, um Reisende, die ihren Berechtigungsscheinen zum Betteln.18 Pass nicht zeigen wollten oder konnten. Auch wenn die praktische Bedeutung Das Schubwesen könnte man als fol- dieses Gesetzes zunächst gering war, än- genreichste Umsetzung der heimatrecht- lichen Prinzipien bezeichnen. Grundlage dafür ist die Verknüpfung von Bestim- 17 Weiss, Armenversorgung (1867) 25. mungen des Heimatrechtes mit jenen 18 Sandgruber, Ökonomie (1995) 135.

66 derte sich doch die Wahrnehmung und denen Orten gelebt habe, immer mit Ar- Bewertung von Armut. Anstelle der beit und Wohnung ausgestattet gewesen christlichen privaten Wohltätigkeit sollte sei, dürfe im Land bleiben.23 Die Erwer- eine zentral gelenkte staatliche Fürsorge bung des Heimatrechts durch Erfüllung treten, die gleichermaßen soziale Be- des Dezenniums galt bis zum Inkrafttre- dürftigkeit, Arbeitswilligkeit und Ar- ten des provisorischen Gemeindegeset- beitsfähigkeit berücksichtigte.19 zes 1849. Erst jetzt wurde es unerheblich, Im Landesgesetzblatt für Oberöster- ob man mit oder ohne obrigkeitliche Er- reich vom 17. 10. 1850 wurde der Versuch laubnis anwesend war; die Zeit bis zur unternommen, vorhandene Bestimmun- Erfüllung der Frist, die den Erwerb der gen aus dem 18. und der ersten Hälfte neuen Zuständigkeit begründete, wurde des 19. Jahrhunderts behördlicherseits vom Tag des Eintrittes in die Gemeinde zusammenzufassen. Infolge zahlreicher gerechnet. Mit der Einführung des pro- Widersprüche, Unzulänglichkeiten und visorischen Gemeindegesetzes wurde Unrichtigkeiten musste die Verordnung die Aufenthaltsdauer bis zur Erlangung kurz darauf wieder zurückgenommen des Heimatrechtes auf vier Jahre re- werden. Von Angehörigen des Ver- duziert. Nach der neuen Bestimmung waltungsdienstes wurden zahlreiche wurde man Gemeindemitglied durch Handbücher verfasst, deren Adressaten Geburt oder durch ein offizielles Auf- Armenväter, Gemeinden und Kranken- nahmeverfahren. anstalten waren, was die zunehmende Dies änderte sich durch das Hei- Bedeutung des Heimatrechtes für Fra- matgesetz von 1863, womit man die gen der Armenversorgung unterstreicht. Bedingungen zum Erwerb einer neuen Zuständigkeit drastisch einschränkte. Das Leitprinzip bis zur Einführung Die bis dahin vorhandene Möglichkeit, des Gemeindegesetzes von 1849 war, durch den ununterbrochenen Aufent- dass jeder Staatsbürger20 einer, und nur 21 halt über zehn und später über vier Jahre einer Gemeinde angehören müsse. Die die Zuständigkeit zu wechseln, bestand Geburt war die erste Erwerbungsart der nun nicht mehr. Neben den üblichen Er- Zuständigkeit (= Zugehörigkeit). Bis werbungsarten (Geburt, Heirat, Antritt zum Erwerb einer neuen Zuständigkeit eines öffentlichen Amtes) bestand nur bleib daher die Geburtszuständigkeit 22 noch die Möglichkeit, über expliziten maßgeblich. Aufnahmebeschluss Gemeindeangehö- Der so wichtige Begriff des Dezen- riger zu werden. Dies war theoretisch niums bildete die Grundlage für die möglich, aber in der Praxis schwierig.24 Entscheidung der Zugehörigkeit von Personen. Allerdings wird festgehalten, 19 Sandgruber, Ökonomie (1995) 133. dass das Dezennium nur dann wirksam 20 Vor Einführung des ABGB galt Gleiches für Un- werde, wenn der zehnjährige Aufenthalt tertanen. auf ehrlichem Erwerb begründet gewe- 21 Dies galt z. B. für Tirol nur eingeschränkt. sen sei. Wer während der zehn Jahre nur 22 Findelkinder wurden üblicherweise der Ge- meinde zugerechnet, in der sie aufgefunden wur- herumgezogen sei, habe mit der Ab- den. schiebung zu rechnen. Wer allerdings 23 Herzog, Domicil (1837) 8–9. während dieser zehn Jahre an verschie- 24 Wendelin, Schub (2000) 204–213.

67 Bestimmungs-Wirrwarr

Die Gesetzes- und Verordnungsflut im Bezug auf das Heimatrecht löste in den kleineren Gemeinden eine große Rechtsunsicherheit aus. Dies beweist in vielen Fällen der rege Schriftwechsel mit den übergeordneten Stellen, denn wenn besonders hohe Kosten zu erwarten wa- ren, wehrte man sich. Wegen eines ein- zigen Falles konnten die Behörden u. U. monatelang beschäftigt sein. Auch der Zufall hatte manchmal die Möglichkeit zum Erwerb einer Zu- ständigkeit geboten. Aufgrund einer kaiserlichen Resolution von 1724 galt, dass die Kinder von herumziehenden Personen sowie invalide Soldaten und deren Frauen von jener Obrigkeit ver- sorgt werden sollen, von der sie aufge- griffen wurden.25 Diese Bestimmung, nämlich den „Aufgriffsort“ einer Person zur Grundlage für ihre Versorgung und Eines der Dienst-Bücher, wie sie zur polizeilichen Evi- damit implizit für ihr Heimatrecht zu denzhaltung „in Dienst und Arbeit stehender Indi- machen, führte zu vielen Konflikten. Erst viduen“ für Einheimische und Fremde monarchieweit 1820 wurde das Gesetz dahingehend ge- eingeführt waren. ändert, dass jene Obrigkeiten, bei wel- chen sich der Aufgegriffene am längsten 27 aufgehalten hatte, diesen übernehmen genberechtigt wurde, blieb er zu jener mussten.26 Gemeinde zuständig, zu der er bei Erlan- gung der Eigenberechtigung zuständig War die Zuständigkeit unklar, tru- war, und das war Munderfing. Die Ver- gen die Gemeinden mitunter einen re- setzung seines Vaters vom Lehrerposten gelrechten Papierkrieg aus. Dies geschah in Munderfing auf den nach Aspach im aber nicht nur, wenn es um die Armen- Jahre 1863 konnte daher nach § 44 des unterstützung ging. So legte der Lehrer Gesetzes vom 24. April 1859 keine Än- Josef Moser Beschwerde ein, als ihm die derung in seinem Heimatrecht herbei- Gemeinde Aspach die Heimatzustän- führen. Auch für seine Gattin Franziska digkeit verweigerte. Der Bezirkshaupt- und die drei Töchter gelte die gleiche mann in Braunau wurde damit befasst. Da Alois Moser, der Vater, ebenfalls 25 Herzog, Domicil (1837) 3. Lehrer war, hatten sich durch Versetzun- 26 Wendelin, Schub (2000) 206. gen verschiedene Zuständigkeiten er- 27 Eigenberechtigung entspricht unserer Vorstellung geben. Als Josef Moser im Jahr 1862 ei- von Volljährigkeit.

68 Zuständigkeit. Die von der Gemeinde tertanen eingeführt. Aus der Konskrip- Aspach dem Josef Moser und seinen tion entwickelte sich schrittweise das In- Familienmitgliedern ausgestellten Hei- strument der Volkszählung. Noch in der matscheine wurden für ungültig erklärt. zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wur- Es bestand allerdings die Möglichkeit, den die Bestimmungen des Konskrip- innerhalb von 14 Tagen Rekurs an die tionspatentes von 1804 herangezogen, k.k. Statthalterei in Linz einzulegen. Um um strittige Fragen des Heimatrechts die Gemeindevorstehung Aspach vor zu klären, da darin Aussagen gemacht Fehlern zu bewahren, fügte man auf der werden, wer als einheimisch und wer als Rückseite des Schreibens noch an, dass fremd zu klassifizieren sei. Als Verwal- vor Rechtskraft der Entscheidung Josef tungseinheit wurden die Pfarrsprengel Moser und seine Familie in Aspach als herangezogen, da ja zahlreiche Gemein- zuständig zu betrachten seien.28 den auf mehrere Herrschaften aufgeteilt waren. Die Pfarrer waren für die Voll- Das Heimatrecht stellt im Verlauf ständigkeit der Listen verantwortlich, da der frühen Neuzeit einen obrigkeitlichen sie die Matrikeln führten, welche wiede- Versuch dar, Klarheit in die Zuständig- rum die Grundlage für die Konskripti- keit für die Versorgung von Armen und onslisten bildeten. Mit diesem Patent Arbeitslosen zu bringen. Trotz der drei wurden auch die Ortstafeln, auf denen Grundsätze „keine Staatsangehörigkeit Orts-, Kreisname und Bezirksnummer ohne Heimat, kein Verlust der alten Hei- stehen sollten, sowie die Hausnummern mat durch Erwerb einer neuen, keine eingeführt. Vor allem aber wurde eine ‚Verjährung‘ des Heimatrechts durch explizite Unterscheidung von Einheimi- Verlassen des Heimatortes“29 war die Sa- schen und Fremden vorgenommen.30 che in der Praxis höchst kompliziert, da gerade die betroffene Klientel durch Un- Vorerst war dieses Konskriptionswe- sesshaftigkeit, vielfachen Ortswechsel, sen auf Erhaltung der Wehrfähigkeit des Trennung der Primärfamilie, teilweise Staates ausgerichtet. Schritt um Schritt auch durch illegale Aufenthalte gekenn- bekam es jedoch eine immer weiter rei- zeichnet war. chende Bedeutung, bis man schließlich exakte Informationen über alle Einwoh- Dieser Essay sei nicht abgeschlos- ner des Territoriums gewann. Bis zur sen, ohne das Konskriptionswesen an- Einführung der Volkszählungen im Jahr zusprechen. Mit der Konskription hatte 1857 blieben die Konskriptionslisten die der Staat ein relativ effektives Mittel zur einzig zuverlässige Quelle für die Ermitt- Hand, sich über die Zusammensetzung lung von Bevölkerungsdaten, die der der Bevölkerung ein Bild zu machen. Bürokratie zur Verfügung stand. Unter Maria Theresia wurde bereits von Resümierend kann man festhalten, Kreisdeputierten und Offizieren eine dass es in der Mitte des 18. Jahrhunderts „Seelenbeschreibung“ des männlichen Geschlechts durchgeführt. Hintergrund war die notwendige Rekrutierung zum 28 PFA Gemeindesachen Zahl 9292 vom 10. Dezem- Militär. Soldaten wurden nicht mehr wie ber 1887. bisher angeworben, sondern es wurde 29 Sachße/Tennstedt, Bettler (1983) 173. die Militärpflicht für alle männlichen Un- 30 Wendelin, Schub (2000) 191–192.

69 leichter war, an einem Ort als heimisch derartiger Ansprüche bis zur tatsächli- zu gelten als in der Mitte des 19. Jahr- chen Umsetzung ein langer Weg. Unter hunderts. Der Grund war nicht etwa der Regentschaft von Joseph II. wurde die große Liberalität jener Zeit, sondern die erste grundlegende Änderung dann das Fehlen eindeutiger Bestimmungen. auch durchgeführt. Das Bouquoysche31 Die Frage, wo jemand beheimatet war, Modell wurde eingeführt. Der Graf wurde zu einer Zentralfrage der inneren wurde Ende 1783 nach Wien geholt, die Verwaltung. Das persönliche Abhän- Neuorganisation der Armenversorgung gigkeitsverhältnis zwischen der Grund- ihm anvertraut. Jede Herrschaft sollte in herrschaft und den Untertanen wurde so viele Bezirke eingeteilt werden, wie durch die staatliche Bürokratie stufen- es Pfarren gab. Der Pfarrer und ein so­ weise abgelöst. Armut wurde zum ge- genannter Armenvater, der von der sellschaftlichen Problem, und durch die Obrigkeit ernannt wurde, sollten die Neuregelung der Konskription konnte Spenden sammeln und an Bedürftige die Bürokratie erstmals einen Überblick verteilen. Der wichtigste Grundsatz war, über alle demografischen Veränderun- nur das wirklich Lebensnotwendige an gen gewinnen. die in Listen eingeschriebenen Bedürf- tigen abzugeben. Was noch erarbeitet Das typische Problem, mit dem werden konnte, durfte nicht geschenkt sich die Gemeinden im 19. Jahrhundert werden. Die Oberaufsicht besaß die je- herumzuschlagen hatten, war neben weilige Grundherrschaft. Private Stiftun- Dienstbotenstreitigkeiten und Armen- gen wurden unter Aufsicht der Regie- versorgung die Frage des Heimatrechts. rung gestellt. Zur Finanzierung des neu Oft bildeten solche Konflikte den einzi- geschaffenen Systems wurde das Kapital gen Tagesordnungspunkt, mit dem sich der zuvor aufgelösten Bruderschaften die Gemeindevertreter auseinanderzu- herangezogen. Außerdem sollte es von setzen hatten. Diese drei Komplexe stan- nun an wöchentliche Sammlungen in den in multipler Verbindung. geschlossenen Büchsen geben.32 Bereits Obwohl sich die Frage des Armen- 1801 zeigten sich erste Schwächen des rechts durch alle Kapitel zieht, soll hier Systems. Eine neue Kommission sollte noch auf einige wesentliche Daten hin- diese beheben. Ergebnis war im We- gewiesen werden. Unter Maria Theresia sentlichen eine Erhöhung der Zahl der wurden erste Versuche unternommen, Armenväter und die Einführung eines den Anspruch auf Armenversorgung für Rechnungsprüfers. Eine staatlich ge- jeden Untertan gesetzlich zu regeln. Die lenkte, zentralisierte Wohlfahrtspflege Kaiserin hatte eine Hofkommission ein- war ganz im Sinne der Aufklärung und gesetzt, mit der Aufgabe, das gesamte des Josephinismus. Der Staat fühlte sich Armen-, Sicherheits- und Schubwesen verantwortlich für das Wohl der Bürger. zu reorganisieren. Es kam zur Ausbil- dung eines ersten Armeninstituts, das die laufende Betreuung aller Wohltätig- 31 Bouquoy war ein böhmischer Graf, der auf seinen Besitzungen ein Modell der Armenversorgung keitsanstalten, der Kranken- und Ver- eingeführt hatte, das zum Vorbild für eine umfas- sorgungshäuser übernehmen musste. sende Regelung des Armenwesens wurde. Allerdings ist es von der Formulierung 32 Weiss, Armenversorgung (1867) 194.

70 Das Wohlergehen setzte nach damaliger Gemeinde war, jeden strittigen Versorgungsfall Denkweise Ordnung, Sicherheit und genau abzuwägen und nach Möglichkeit abzu- Moral voraus. Der große Erfolg blieb je- weisen.35 doch aus. Die Bevölkerung hatte in diese Die Hilfe sollte ohne Unterschied Einrichtung nicht das rechte Vertrauen. des Standes oder der Religion erfolgen. Immer wieder wurden die Armen und Es gab dauernde und vorübergehende die Bettler nebenbei „betheilt“.33 Auch Unterstützungen. Letztere sollten zur außerhalb von Wien wurden wieder Überbrückung plötzlicher Schwierig- private Vereine gegründet, die sich um keiten dienen, die durch Krankheiten, Arme und Kranke kümmerten. So stifte- Unglücksfälle, durch unverschuldete ten etwa am 12. Februar 1826 der geist- Arbeitslosigkeit oder durch Mangel an liche Rat und Stadtpfarrer von Braunau Nahrung und Heizmaterial im Winter Anton Link, der k.k. Adjunkt Ignaz hervorgerufen wurden. Der Armen- Kürsinger, der Bürgermeister Obern- pfleger durfte diese kleinen Beträge dorfer und der Bürger Schifferer den zwischen fünf und zehn Gulden ohne sogenannten Liebesverein zur Heilung besondere Bewilligung austeilen, da ja schwerkranker armer Dienstboten und rasche Hilfe gefragt war. Handwerksgesellen in einem eigenen Dauernde Unterstützungen muss- gemauerten Hause. Der Verein war auf ten bewilligt werden. Bis 1815 war die die Beiträge der Mitglieder sowie auf die Grundlage die Wiener Währung gewe- Spenden von Wohltätern und Gönnern sen. Es gab Portionen zu 4, 6 und 8 Kreu- als auch auf die Unterstützung der Ge- zer. Mit Hofkanzleidekret vom 13. Oktober meinde angewiesen, da das Stammver- 1825 wurden die ‚Armeninstitutspfründen‘ mögen nur 3462 fl 38 xr betrug. Das Ver- auf die ursprünglichen Beträge in Conventions- mögen der aufgehobenen Bruderschaften münze umgesetzt und damit gleichzeitig erhöht. hatte etwa 30.000 Gulden betragen.34 Die nun niedrigste Armenportion von zwei Kreuzern täglich erhielten in der Regel arme, Um in den Genuss der Leistungen eheliche, nicht verwaiste Kinder unter zwölf Jah- des Armeninstituts zu kommen, muss- ren. Die nächste Stufe von drei Kreuzern täglich ten verschiedene Bedingungen erfüllt bildete einen Übergang für noch nicht ganz alte, werden. Ebenso wichtig wie die Zu- gebrechliche und erwerbsunfähige Arme bis zur ständigkeit war der Nachweis der Ar- Aufnahme in ein Versorgungshaus. Die halbe mut und der Erwerbsunfähigkeit. Man Armenportion von täglich vier Kreuzern erhiel- musste in den Armenlisten aufscheinen ten Erwachsene in Krankheitsfällen oder Kinder und einen Grad an Bedürftigkeit aufwei- bis zu 14 Jahren, die vom Vater verwaist waren sen, aufgrund dessen der Mensch – un- oder deren Eltern sich in einem Versorgungshaus verschuldet oder durch eigene Schuld befanden. Die beiden nächsten Pfründenstufen – außerstande war, sich und die Seinen von fünf bzw. sechs Kreuzern waren für Sech- zu versorgen. Der Weg zur Anerkennung der zig- bis Siebzigjährige bestimmt. Sie wurden Almosenwürdigkeit war vor allem für Männer nicht ganz einfach. Um auf die Liste der Al- mosenberechtigten zu gelangen, mussten triftige 33 Kropf, Wohlfahrtspolitik (1966) 4–6. Gründe wie schwere körperliche Gebrechen und 34 Meindl, Geschichte der Stadt Braunau (1882) 377. hohes Alter vorliegen, da es das Anliegen jeder 35 Kink, Nihil und Habnits (1998) 39.

71 jedoch nicht sehr oft vergeben, man behalf sich mit der Änderung, dass die Versor- lieber mit niedrigeren Pfründen und zusätzlichen gungspflicht – wie im Folgebeitrag Dr. Aushilfen. Auch die ganze Armenportion von Wegscheiders u. a. erläutert – 1849 auf acht Kreuzern täglich wurde möglichst selten die politischen Ortsgemeinden über- angewiesen. Sie bekamen nur gänzlich allein ging. Ein moralisches Urteil zu den Zu- stehende alte Leute über 80 Jahre, wenn sie noch ständen auch des 19. Jahrhunderts steht nicht in Versorgungshaus lebten.36 uns nicht zu. Wie sollten wir glauben, Die Armenversorgung des 19. Jahr- dass die Menschen einst andere gewe- hunderts basiert auf diesen Grundlagen, sen wären als heute?

36 Kropf, Wohlfahrtspolitik (1966) 35–36.

72 „Die der Gemeinde obliegende Armenpflege…“:1 Armut und das System kommunaler Fürsorge in der Zwischenkriegszeit Von Angela Wegscheider

Obwohl die gesetzlichen Sozial- Fürsorgepolitik, die sich von jener auf versicherungen schon in der Zwischen- dem Land teils unterschied. kriegszeit für die lohnabhängige Bevöl- Die Konzeption der „Armenpflege“ kerung große Fortschritte brachten und für das Land Oberösterreich, so ein zeit- sich in der Einstellung zur Fürsorge, vor genössischer Begriff, stammte in den allem in der Jugendfürsorge, einiges ge- Grundzügen aus der Monarchie und tan hatte, lassen sich zwei zentrale Fakto- fand bis zum Anschluss an das „Dritte ren als armutsauslösend identifizieren: Reich“ im Jahr 1938 Anwendung.3 Die Erwerbsunfähigkeit und Arbeitslosig- Armenfürsorge änderte sich im Lauf keit. Die Zwischenkriegszeit war geprägt der Zeit dahingehend, dass man sie von von schweren politischen Erschütterun- der individuellen und kirchlichen Ebene gen, Währungs- und Wirtschaftskrisen, organisatorisch auf die kommunale ver- die auch in Oberösterreich zu großer schob und die älteren Bestimmungen Not und sozialen Spannungen führten. der Gemeinde- bzw. Pfarrarmenpflege Die traditionelle „Armenpflege“ der Ge- zu „Angelegenheiten der Selbstver- meinde konnte den tatsächlichen Bedarf waltung“ erklärte. Durch das Reichsge- an Hilfe letztlich nicht mehr decken. meindegesetz von 18624 und das Hei- matrechtsgesetz von 18635 wurde die Neben der Erwerbsunfähigkeit war Arbeitslosigkeit der zweite, relativ neue 1 § 6 Oö. Landesarmengesetz, RGBl. Nr. 12, 11. Ok- Faktor, der ohne ausreichende Absiche- tober 1880. rung in Armut stürzen konnte. Für die 2 Sie basiert auf einem Vortrag beim Oö. Heimat- Betroffenen und ihre Familien wurden forschertag 2015 und ist die – hier redaktionell aufgrund der erhöhten Arbeitslosigkeit gekürzt wiedergegebene – Zusammenfassung des Artikels zur kommunalen Armenfürsorge in den 1920er-Jahren mit der gesetz- in Oberösterreich in der Zwischenkriegszeit von lichen Arbeitslosenversicherung, der Angela Wegscheider und Elisabeth Riegler (er- Notstandsbeihilfe und der Altersfürsor- scheinend in der Reihe „Oberösterreich 1918– gerente eigene soziale Hilfsnetze geschaf- 1938“ des Oö. Landesarchivs). 3 fen. Die steigende Arbeitslosigkeit und Ich bedanke mich besonders bei Dieter Eder, Sieglinde Frohmann, Stephan Hubinger, Markus vor allem die Massenarbeitslosigkeit in Rachbauer, Elisabeth Riegler, Florian Schwannin- einigen Regionen Oberösterreichs, her- ger, Thomas Schwierz, Ernst Witibschlager und vorgerufen durch die Wirtschaftskrise, Erwin Zeinhofer für ihre Hilfe und Unterstützung. führten dennoch zur Verarmung breiter 4 Gesetz vom 5. März 1862, RGBl. Nr. 18 (Reichsge- meindegesetz). Bevölkerungsschichten. Diese Abhand- 5 Gesetz vom 3. Dezember 1863, betreffend die 2 lung zur OÖ. Armenfürsorge in der Regelung der Heimatverhältnisse, RGBl. Nr. 105 1. Republik umreißt auch die städtische (Heimatrechtsgesetz).

73 Armenfürsorge den 1848 neu gegründe- angehörigen, Versicherungen, anderen ten politischen Gemeinden konkret als Gebietskörperschaften oder bei der Per- eigener Aufgabenbereich übertragen. son selbst Regress geltend machen. Die Ausgestaltung des Armenrechts Erworben wurde das Heimatrecht dagegen war Landessache; dem wurde mit der Geburt, der Verehelichung, 1880 mit dem oberösterreichischen Lan- durch Ausübung bestimmter Berufe desarmengesetz nachgekommen. Ohne oder, seit 1896, einen mindestens zehn- in den Grundzügen novelliert zu wer- jährigen Aufenthalt unter gewissen Be- den, war dieses mehr als 58 Jahre lang dingungen.8 Die Zugehörigkeit war in in Kraft. der Heimatrolle der Gemeinde verzeich- net, der Heimatschein bezeugte das Hei- matrecht urkundlich. Strukturierungsprinzipien der Das Festhalten am Heimatprinzip, Armenfürsorge in der 1. Republik anstelle der Einführung des Aufent- haltsprinzips wie (1871) im deutschen Die kommunale Armenfürsorge Kaiserreich, war bereits in der Monar- basierte auf dem Heimatrechts-, Ein- chie umstritten. So entschärfte auch die zelfalls- und Subsidiaritäts-Prinzip. Heimatrechtsnovelle von 1925 ein aus Organisation, Mittelfinanzierung und dem Zerfall des Vielvölkerstaates ent- Abwicklung blieben der einzelnen Ge- standenes, gewichtiges Problem9 nur meinde überlassen. Das Heimatrechts- notdürftig: viele Menschen in der jun- gesetz von 1863, restriktiver als die Zu- gehörigkeitsregelungen zuvor, regelte zwei bedeutende Grundrechte: das 6 Siehe die Sozialenzyklika RERUM NOVARUM Recht auf bedingungslosen Aufenthalt von Papst Leo XIII. vom 15. Mai 1891. in einer bestimmten Gemeinde und, da- 7 Mischler, Ernst: Uebersicht über die öffentliche ran geknüpft, das Recht auf Versorgung Armenpflege und die private Wohlthätigkeit in durch die Gemeinde im Fall der Verar- Österreich. In: Commission der Österreichischen Wohlfahrts-Ausstellung Wien (Hg.): Österreichs mung. Wohlfahrts-Einrichtungen 1848–1898. Festschrift Das Versorgungsrecht war durch den zu Ehren des 50jährigen Regierungs-Jubiläums Grundsatz der Subsidiarität beschränkt; seiner k. u. k. Apostolischen Majestät des Kaisers Franz Joseph I. (Wien 1899) VII-XL, hier XIII. nach diesem aus der katholischen So- 8 6 Siehe Abschnitt II Begründung, Veränderung und ziallehre entlehnten Prinzip sollte die Verlust des Heimatrechtes, §§ 5–17 Heimatrechts- Sicherung der eigenen Existenz dem gesetz und § 2 aus dem Gesetz, wodurch einige Individuum und dessen Familie selbst Bestimmungen des Heimatrechtsgesetzes 1863 überlassen bleiben. Erst wenn sich keine abgeändert werden; RGBl. Nr. 222, 5. Dezember andere übergeordnete Instanz zuständig 1896. Das Heimatrechtsgesetz wurde in Bezug auf Erhalt und Verlust des Heimatrechtes mehrmals sah, beispielsweise eine Institution der novelliert. Sozialversicherungen,7 musste die Ge- 9 Heimatrechtsnovelle, RGBl. Nr. 105, 30. Juli 1925; meinde zur Existenzsicherung einsprin- Melinz, Gerhard: Vom „Almosen“ zum „Richt- gen. Sie hatte einzelfallspezifisch für die satz“: Etappen österreichischer Armenfürsorge-/ Sozialhilfe(politik): 1863 bis zur Gegenwart. In: akut notwendig gewordene Fürsorge Dimmel, Nikolaus – Schenk, Martin – Stelzer- aufzukommen, konnte aber wegen des Orthofer, Christine (Hg.): Handbuch Armut in Subsidiaritätsanspruchs bei Familien- Österreich (Innsbruck 2 2014) 848.

74 Abb. 1: Heimatschein der Gemeinde Esternberg, 1936. Quelle: Privatarchiv Alois Ohrhallinger

75 gen Republik hatten ihr Heimatrecht in Gründe waren vielfältig: sei es, weil sich einer der Gemeinden der nunmehr ab- die Heimatgemeinde weigerte, die ver- getrennten Kronländer. Sie waren aufge- langte Unterstützung zu gewähren, die rufen, die Aufnahme in einen (deutsch-) Gemeinden nur ungenaue Aufzeich- österreichischen Heimatverband zu nungen führten, die Heimatzugehörig- beantragen und damit ihre Staats- und keit des Antragstellers unklar war oder Landesbürgerschaft zu regeln. Weiterhin weil jeder Fall bzw. jedes Ansuchen indi- unberücksichtigt blieb u. a. die heimat- viduell bearbeitet werden musste. rechtliche Selbstständigkeit der Frau, die Völlig mittellos von der Polizei mit der Heirat automatisch die heimat- aufgegriffene Nichtheimatberechtigte rechtliche Zuständigkeit (= Zugehörig- konnten auf Basis des Schubgesetzes keit) des Mannes übernahm. von 187113 und des Vagabundengeset- Die Heimatrechtsnovelle von 1935 zes von 188514 wegen „Landstreicherei“ trug bereits deutliche ordnungs- bzw. und „Bettels“ arretiert oder abgeschoben sicherheitspolitische Züge10 und ermög- werden. Diese bis 1938 geltenden Ge- lichte tendenziell die Kriminalisierung setze wurden im Ständestaat wieder be- armer Menschen; sie unterschied zwi- sonders aktuell und häufig angewandt.15 schen dauernder und vorübergehender Bettelnde und wandernde, nicht-hei- Aufenthaltsgemeinde und führte den matberechtigte mittellose Arbeitsfähige Unterstützungsausweis als Instrument konnten für die Dauer von bis zu acht zur Kontrolle oder Observation insbe- Tagen eingesperrt werden, aber auch sondere „armutsbedingt Herumziehen- der“ ein. Damit erfolgte die Unterteilung in wandernde Arbeitssuchende und ille- 10 Bundesgesetz, mit dem ergänzende grundsätz- gal Reisende (Bettler, Landstreicher oder liche Bestimmungen vom IV. Abschnitt des Gesetzes, betreffend die Regelung der Heimat- Vagabunden). rechtsverhältnisse, RGBl. Nr. 105/1863, erlassen Seit Mitte des 19. Jahrhunderts klaff- werden; BGBl. Nr. 199/1935. ten „aktueller Wohnsitz und Heimat- 11 Ganglmair, Siegwald: „Die hohe Schule von Schlögen“. Zur Geschichte und Rezeption eines rechtszuständigkeit“ zunehmend ausein- Bettlerlagers im Ständestaat. In: Medien & Zeit 5 ander. Die Angehörigen mobiler Berufe, (1990) H. 2, 19–29, 19. vor allem Handwerker und Dienstboten, 12 Siehe beispielsweise: Gemeindearchiv Gaflenz, aber auch Arbeiter, hatten bei der „Er- Armenakten 1918–1929, Fasz. 5, Sch. 75. Mehrere sitzung“ des Heimatrechts Nachteile, da Schreiben wegen der Heimatberechtigung der Witwe Rosina H., 1926. schon ein kurzfristiger Wohnortwechsel 13 Gesetz vom 27. Juli 1871 in Betreff der Regelung die Zehnjahresfrist unterbrach. 1935 hat- der polizeilichen Abschaffung und des Schubwe- ten österreichweit 40 % der Bevölkerung sens. RGBl. Nr. 88 (Schubgesetz). ihren ordentlichen Wohnsitz nicht in der 14 Gesetz vom 24. Mai 1885, womit strafrechtliche 11 Bestimmungen in Betreff der Zulässigkeit der An- offiziellen Heimatgemeinde. haltung in Zwangsarbeits- und Besserungsanstal- Nicht zuletzt führte das Heimat- ten getroffen werden, RGBl. Nr. 89 (Vagabunden- rechtsprinzip in der Armenversorgung gesetz). 15 Melinz, Gerhard: Fürsorgepolitik(en). In: Tálos, zu vielen Ersatzstreitigkeiten zwischen Emmerich – Neugebauer, Wolfgang: Austrofa- den Gebietskörperschaften und zu ho- schismus. Politik – Ökonomie – Kultur 1933–1938 hem bürokratischen Aufwand.12 Die (Wien 2014) 238–253, hier 224.

76 mehrere Wochen waren denkbar. So menfürsorge aufgestockt werden. Trotz- wurde beispielsweise 1928 in Ried/I. ein dem rissen die Kosten immer größere Josef St. („zweimal vorbestraft, noch nie Löcher in die Gemeinde-Etats. In Gaf- abgeschoben“) wegen Bettels und Land- lenz z. B. kletterten zwischen 1926 und streicherei mit drei Wochen Arrest be- 1937 die Aufwendungen für Arme von straft.16 8.095 auf 15.674,93 Schilling, das waren 30 % der Gesamtausgaben.19 Angesichts „Schub“ oder Abschiebung ver- der immer drückenderen Problemlage schärften in vielen Fällen die soziale wäre eine strukturelle Reform des Ar- Situation ganzer Familien. Michael R., menfürsorgewesens überfällig gewesen wohnhaft in Ried/I., wurde 1935 wegen – seine Neuorganisation wurde im Land- „fortgesetzter Bettelei“ nach seiner Kärnt- tag zwar immer wieder diskutiert, aber ner Geburts- bzw. Heimatgemeinde nie wirklich vollzogen. abgeschoben; die heiratsbedingt nach dem Heimatort des Mannes zuständige Gattin, gebürtige Waldzellerin, Bezirk Organisation der kommunalen Ried/I., konnte daher von ihrer Wohn- Armenfürsorge gemeinde samt den zwei Kindern gleich dorthin mitabgeschoben werden.17 Gemäß Landesarmengesetz von 1880 mussten die Gemeinden für jeden Das oberösterreichische Ausfüh- sorgen, der „nicht im Stande ist, durch rungsgesetz zur kommunalen Armen- eigene Kraft oder Mittel sich und seiner versorgung von 1880 war insgesamt Familie den ‚unentbehrlichsten Lebens- längst veraltet, den immensen Gemein- unterhalt‘ zu verschaffen“.20 Dieser Be- deausgaben, u. a. auch für die Armen- griff bezeichnete ein existenzsicherndes polizei oder die Organisation der Ab- Mindestmaß an Nahrung, Kleidung, schiebungen, standen viel zu geringe Wohnung und medizinischer Versor- Einnahmen aus Steuern und Gebühren gung.21 Das Landesarmengesetz gab gegenüber.18 Erschwerend kam hinzu, dass das finanziell wichtige Stiftungs- wesen durch die Hyperinflationen eine 16 Stadtgemeinde Ried i. Innkreis, 06. April 1928, enorme Schwächung erfuhr. Während Zahl 20782: Schubakt Josef St., geboren 27. Fe- Immobilien oder Sachanlagen, soweit bruar 1905 in St. Marienkirchen a. P., zuständig nach Grieskirchen. Das Archiv der Stadt Ried ist die Sache vorhanden blieb, Bestand derzeit in Bearbeitung, daher gibt es noch keine hatten, verloren Anlagen in Finanzka- Archivsignatur. pital ihren Wert. Diese finanzielle Lücke 17 Stadtgemeinde Ried i. Innkreis, 19. Dezember konnte während der gesamten Zwi- 1935, Zahl 5052: Schubakt Michael R., geboren schenkriegszeit nicht mehr geschlossen 14. September 1899 in Schönweg (Kärnten). 18 Land Oberösterreich, Bericht des Landesrates werden. In den 1920er-Jahren wurden über den Stand der Armenpflege in Oberöster- Gebühren wie die Lustbarkeitsabgabe, reich, Beilage Nr. 527/1920, Berichterstatter: Euller, die Biersteuer, Hundesteuer, Abgaben 5. Jänner 1921. auf alkoholfreie Getränke und eine Fahr- 19 Gemeindearchiv Gaflenz, Voranschläge und Jah- resrechnungen 1926–1937, Sch. 90, Fasz. 36. radsteuer eingeführt bzw. erhöht; mit 20 § 2 Oö. Landesarmengesetz, RGBl. Nr. 12, 11. Ok- derlei zusätzlichen Einnahmen sollten tober 1880. die Ressourcen für die kommunale Ar- 21 § 6 Oö. Landesarmengesetz.

77 allgemein den Rahmen vor, Gemeinden rat, der sich aus dem Bürgermeister als mit eigenem Statut, das waren zu dieser Vorsitzendem, den Pfarrvorständen, Zeit Linz und Steyr, konnten eigene Ver- dem Vorstand der israelitischen Kultus- ordnungen erlassen. Gemeinde und den Armenvätern zu- sammensetzte. Der Rat verwaltete das Hilfesuchende stellten üblicherweise „Armenvermögen“, d. h., er hatte die ein mündliches oder schriftliches An- Aufsicht über Einnahmen und Ausga- suchen an den für sie zuständigen Ar- ben. Als Entscheidungs-, Kontroll- und menvater. Die Gemeindevertretung be- Ausführungsorgan24 beaufsichtigte er stimmte die Anzahl der – ausnahmslos auch alle mit Fürsorgeaufgaben betrau- ehrenamtlich tätigen – Armenväter und ten Einrichtungen, hatte Exekutivgewalt berief diese durch Wahl.22 Der Armen- und stellte die „Bettlerpolizei“, denn ein- vater führte das amtliche Erhebungs- mal jährlich sollte die Klientel kontrol- verfahren durch und lieferte damit dem liert und im Umfeld recherchiert werden, sogenannten „Armenrat“ die Grundlage ob Leistungen jeweils zurecht fließen.25 für die Entscheidung über zu vergebende In der Landeshauptstadt war die Ar- Leistungen. Nur, wenn Gefahr in Verzug menversorgung nach dem liberalen El- oder das Leben einer Person gefährdet berfelder System26 organisiert. Das Lin- war, konnte der Armenvater eigenstän- zer Armenstatut unterteilte die Stadt in dig und unmittelbar Hilfe, beispielsweise 131 Armenbezirke, pro Bezirk (= meist akute medizinische Versorgung, veran- mehrere Straßenabschnitte) war ein Ar- lassen. Er war für die Betreuung aller hei- menvater eingesetzt, der im Normal- matberechtigten Armen innerhalb seines fall maximal 15 Personen zu betreuen Gebiets zuständig, füllte aber auch für hatte.27 Je drei bis sechs Armenbezirke nicht Heimatberechtigte den Erhebungs- gruppierten sich zu insgesamt 31 Armen- bogen aus, der dann vom Rat an die je- inspektoraten. Jedem Inspektorat war weilige Heimatgemeinde weitergeleitet wurde. Im Erhebungsverfahren wurden die Vermögens-, Einkommens- und Fa- milienverhältnisse ermittelt. Zu erheben 22 §§ 63–65 Oö. Landesarmengesetz. Die Armen- väter waren meist Mitglieder des Gemeinderates war u. a. auch, ob bereits Leistungen aus bzw. angesehene Persönlichkeiten von bekannt der Armenfürsorge bezogen werden sozialer Gesinnung. und ob andere wohltätige Akteure wie 23 Siehe Stadtgemeinde Ried i. Innkreis, 02. Juli Kirche, private Vereine, Stiftungen oder 1936, Zahl 14956: Erhebungsbogen des Armenra- Nachbarn bereits unterstützend tätig tes betreffend Mathilde F. 24 Siehe § 15 Armenstatut der Stadt Steyr (Steyr sind. Der ärztliche Befund zum Gesund- 1902) 6 bzw. auch § 67 Oö. Landesarmengesetz. heitszustand, die Atteste zur Erwerbs- 25 §§ 63–72 Oö. Landesarmengesetz. fähigkeit des Hilfesuchenden und die 26 Das nach einer deutschen Stadt benannte Elber- Ursache der Hilfsbedürftigkeit wurden felder System basierte auf den drei Prinzipien De- zentralisierung, Ehrenamtlichkeit der Armenpfle- festgehalten. Angaben zum Leumund ger und Hilfe zur Selbsthilfe. oder die Einschätzung der „Unterstüt- 27 Kraft, Leopold: Die Fürsorgetätigkeit der Ge- zungswürdigkeit“ konnten folgen.23 meinde. A. Die offene Armenfürsorge. In: Erwin Stein (Hg): Das Buch der Stadt Linz. Die Städte Administriert wurde die Armenfür- Deutschösterreichs. Bd. 1 (Linz 1927) 255–258, sorge in allen Gemeinden vom Armen- hier 256.

78 ein Armeninspektor vorangestellt, zu- jedoch beim Landesausschuss vorstellig gleich Armenvater in einem der Bezirke. werden oder Eingaben an diesen rich- Als Exekutivorgan war das Inspektorat ten.31 auch für die Ausstellung der Mittellosig- Ende 1919 bezogen rund zwei Pro- keits- und Armutszeugnisse zuständig. zent der oberösterreichischen Gesamt- Am Monatsende fand in jedem Inspek- bevölkerung kommunale Armenfür- torat eine Sitzung mit den jeweiligen Ar- sorge. Die relativ niedrige Quote lässt menvätern statt. Diese deponierten „die vermuten, dass viele Bedürftige ver- Wünsche ihrer Befürsorgten“ und legten suchten, sich auch bei eingeschränkten sie anschließend dem Linzer Armenrat Erwerbsmöglichkeiten durch eigene in Form von Anträgen zur Entscheidung Arbeit über Wasser zu halten oder fami- vor.28 liäre und nachbarschaftliche Netzwerke Von den Ansuchen wurde im Schnitt nützten. Sofern sich eine Alternative bot, nur die Hälfte bewilligt oder teilbewil- vermied man es – unter anderem der ge- ligt, der Rest abgelehnt. Insbesondere sellschaftlichen Stigmatisierung wegen – in Zeiten verstärkter Beanspruchung der öffentliche Stellen aufzusuchen. Armenfürsorge, z. B. bei erhöhter Ar- Am kontinuierlichen Anstieg der beitslosigkeit, wurden Ansuchen auch Ausgaben für die kommunale Armen- „wegen finanzieller Notlage der Ge- fürsorge änderte das nichts. meinde“29 abgewiesen. Verantwortlich dafür war neben dem Druck der wirtschaftlichen Gegeben- heiten die Schwäche der tradierten Ver- Leistungen der Armenfürsorge sorgungsformen, außerdem wandelte sich – so der sozialdemokratische Linzer Die kommunale Armenfürsorge Stadtrat für Fürsorgeangelegenheiten – konnte nur beansprucht werden, wenn besonders in den ersten Jahren der jun- andere Optionen nicht ausschöpfbar gen Republik die politische Einstellung waren. Das oberösterreichische Armen- zur Fürsorge vielfach überhaupt.32 Das gesetz von 1880 schrieb an Leistungsar- sozialdemokratische Linz bekundete, ten fest: gegebenenfalls auch „ohne gesetzliche 1. Unterbringung im Armenhause, Vorschriften allen Hilfsbedürftigen um- 2. Beteilung mit Geld oder Lebensmit- fassende Hilfe [zu] gewähren“.33 Auch tel, 3. Privatpflege, 4. Armeneinlage (= der Steyrer Magistratsdirektor erläu- jeweils kurzfristige Unterbringung meist männlicher Alleinstehender in Privat- 28 häusern bzw. -Haushalten mit Natural- Kraft: Die Fürsorgetätigkeit der Gemeinde. A. Die offene Armenfürsorge 256. versorgung; diese vorwiegend auf den 29 Gemeindearchiv Sandl, Rats- Ausschuss- und ländlichen Raum beschränkte Variante Vorstandsprotokolle, Armenrat 1927–1938, war jedoch schon 1919 im Auslaufen), Handschrift 3: Sitzung vom 7. 3. 1933. 30 § 19 Oö. Landesarmengesetz. 5. Krankenpflege, 6. Armenfuhren, 7. 31 30 §§ 18, 83 und 84 Oö. Landesarmengesetz. Beerdigung von verstorbenen Armen. 32 Kraft: Die Fürsorgetätigkeit der Gemeinde. A. Die Ein Rechtsanspruch auf die Leistungen offene Armenfürsorge 255. bestand nicht, Abgewiesene konnten 33 Ebenda 225.

79 terte: Das Erwachen des sozialen Gewissens zu einem möglichst billigen Preis auszu- immer größerer Kreise drängt entwicklungsge- geben“.35 Diese Leistungen – in vielen setzlich zur öffentlichen Fürsorge. „So hat sich Gemeinden gab es Ausspeisungen und allmählich die Ansicht durchgerungen, Mittagstische vor allem für Kinder – dass der unverschuldet in Armut gera- wirkten präventiv gegen Bettel, Hunger tene Mensch, der Erwerbsunfähige, ein und Unterernährung. Recht auf die Fürsorge der Gesellschaft Obwohl grundsätzlich verboten, hat […]“.34 war heimatberechtigten Armen das Betteln zu festgelegten Zeiten als er- gänzende Versorgungsmöglichkeit be- Existenzsicherung durch Geld- und hördlich erlaubt.36 Die Stadt Steyr führte Naturalleistungen Anfang der 1930er-Jahre einen „Wo- chenbetteltag“ ein: Freitags gingen 200 Zu dieser offenen Fürsorge zählten bis 300 Menschen um Almosen bittend einmalige oder permanente Geld- und von Haus zu Haus.37 In Geschäften stand Naturalleistungen. Sie waren vielfältig, ein Holznapf mit Zweigroschenstücken, aus dem sollten präventiv wirken und die Not- sich jeder eine Münze herausnehmen konnte, wendigkeit der Aufnahme in ungleich entsinnt sich ein Steyrer Arbeiter.38 Der teurere, geschlossene Heime und Ver- „kontrollierte Bettel“ sollte den Gemein- sorgungshäuser absenken. Oft mini- den helfen, die Kosten aus dem Titel Ar- mal bemessen, ermöglichten sie das menversorgung einzudämmen und teils Überleben auf einem sehr niedrigen an die Bevölkerung auszulagern. Niveau und verstanden sich keinesfalls Unterkunft und Versorgung mit als Ersatz für Arbeitslohn. Bei einma- dem Nötigsten bot amtlich registrierten ligen Leistungen handelte es sich vor- Arbeitssuchenden auch in Oberöster- wiegend um finanzielle Zuschüsse zur reich ein dichtes Netz an „Verpflegsta- Überbrückung von Notlagen, zum Kauf tionen“. Wer in einer dieser Herbergen von Kleidung oder Schuhwerk, für Ver- unterkommen wollte, der musste in der pflegungs-, Personentransport-, Arzt-, Heimatgemeinde einen Unterstützungs- Hebammen-, Beerdigungskosten usw. Ausweis oder ein Wanderbuch beantra- Als längerfristige Finanzleistung wurden gen. Die Verpflegungskosten wurden z. B. für Minderjährige Erziehungsgeld, für Ältere Unterstützungsbeiträge oder 34 Häuslmayr, Ferdinand: Das städtische Fürsorge- Mietkostenbeihilfen gewährt. wesen. In: Erwin Stein (Hg): Steyr und Bad Hall. Naturalleistungen bestanden etwa in Die Städte Deutschösterreichs. Bd. II (Linz 1928) der Versorgung mit Kleidung, Lebens- 140. 35 mitteln oder Brennmaterial, in der Be- Kraft, Leopold: Die Fürsorgetätigkeit der Ge- meinde. Die städtische Volksküche. In: Erwin reitstellung günstigen Wohnraums oder Stein (Hg): Das Buch der Stadt Linz. Die Städte auch von Arbeits- und Schulbehelfen. Deutschösterreichs. Bd. 1 (Linz 1927) 303–306, Niederschwellige Fürsorgeleistungen er- hier 303. brachten Suppen- und Volksküchen. Die 36 § 45 Oö. Landesarmengesetz. 37 Habe, Hans: Die Hölle von Steyr, Wiener Sonn- Linzer Volksküche hatte beispielsweise und Montagszeitung, 4. Jänner 1932, 2. das Ziel, „ausreichend gute, gekochte 38 Interview Frank Anton. In: Stockinger, Josef: Zeit Speisen an Arme und Minderbemittelte die prägt (Steyr 2011) 46.

80 dann der Heimatgemeinde rückverrech- munen gab es zusätzliche, errichtet und net.39 Der Amtskalender für das Jahr geführt durch private Träger (Vereine, 1922 listet etwas mehr als 100 über alle Pfarrgemeinden, Stiftungen etc.).42 Diese Bezirke Oberösterreichs verteilte „Natu- Häuser dienten der Unterbringung aller ral-Verpflegstationen“ auf.40 Kategorien von armen Menschen, „die Bei Krankheit oder Unfall hatte für einer häuslichen Pflege entbehren und die medizinische Behandlung nicht ver- die wegen Alters, Krankheit und des sicherter Armer ebenfalls die Heimatge- Schwachsinns oder aus anderen Grün- meinde aufzukommen. Für völlig Mittel- den einer besonderen Pflege bedürfen, lose war der jeweils nächste Armenarzt sich mit monatlichen Unterstützungen zuständig. Dieser verrechnete die Kos- nicht fortbringen können und sich für ten nach dem amtlich festgesetzten Tarif die ‚Einlage‘ [= private Einzeleinquartie- mit der jeweiligen Gemeinde, die auch rung, s. o.] nicht eignen“.43 die Ausgabe von Medikamenten vorher Ausstattung und Leistungsumfang zu genehmigen hatte. divergierten. Nur in 103 Armenhäu- Die Heimatgemeinde hatte auch die sern, so berichtet die Landesregierung Leistung der „Armenfuhre“ zu finanzie- 1919, erhielt man Vollverpflegung, in ren, d. h. den Transport ins Spital (bzw. 48 wurde man teilweise verköstigt, in von dort nach Hause), zum Arzt oder 76 gab es „nur Wohnung, allenfalls auch in eine Versorgungsanstalt. Mittellose Licht und Beheizung.“ Die Häuser, die Krankenhauspatienten wurden in der lediglich billiges Obdach zur Verfügung Versorgungsklasse 3 untergebracht. Be- stellten, wurden auch Unterstandshäuser saß der Patient ein Mittellosigkeits- oder genannt. Laut Gesetz war das Leben im ein Armutszeugnis, rechnete die Kran- Armenhaus streng zu regeln, den noch kenanstalt die Kosten oder einen Teil Arbeitsfähigen sollte eine angemessene mit dem dafür eingerichteten Landes- Beschäftigung zugeteilt werden (für ge- fonds ab. Die Heimatgemeinde oder die Betroffenen selbst mussten oftmals noch Zuzahlungen leisten. Für Arme, die in- 39 tensiver Pflege und privater Betreuung Historisches Archiv Gemeinde Schönau i. M., Bereich IX, Sch. 3: Unterstützungs-Ausweis aus- bedurften, erbrachte die Gemeinde ei- gestellt von dem Gemeindeamte Schönau i. M. gene Zuschüsse. Bei Mitversorgung in für Johann K., 1934. Siehe u.a. Archiv soziale Be- einem privaten Haushalt trat der Betref- wegungen in Oberösterreich (ASBOOE), Inter- fende in die „Hausgenossenschaft des views für die Studie Grinninger, Edwin – Mayr, Verpflegers“ ein und war demselben Johann: Geschichte, Geschichten und Bilder. Ein 41 politisches Lesebuch über die Entwicklung der Achtung und Gehorsam schuldig. Sozialdemokratie im Bezirk Eferding (Studien zur Geschichte und Politik in Oberösterreich 2, Linz 1989). Unterbringung in Armenhäusern und 40 Oberösterreichischer Amtskalender: Der Ober- Versorgungsanstalten österreicher (Linz 1921) 90. 41 § 24 Oö. Landesarmengesetz. 42 26 Kommunen unterhielten auch ein eigenes Ge- 1919 betrieben die damals 504 ei- meinde-Armenhaus. genständigen oberösterreichischen Ge- 43 Land Oberösterreich, Bericht des Landesrates meinden 227 Armenhäuser; in 61 Kom- über den Stand der Armenpflege.

81 Abb. 2: Insassen des Fürsorgeheims Gramastetten mit Kreuzschwestern, Bürgermeister und Armenhausver- walter im Jahr 1934. Quelle: Pfarre Gramastetten wöhnlich herrschte Arbeitspflicht). Zur meinsam einquartiert werden. Das Gros Aufsicht und Betreuung verdingten die aber war nach Geschlechtern getrennt kleineren Kommunen durchwegs eine in großen Schlafsälen untergebracht. Wirtschafterin.44 Einige größere gemein- Die Linzer Versorgungsanstalt betrieb deeigene Armen- und Versorgungshäu- eine angeschlossene Landwirtschaft mit ser wurden von christlichen Kongrega- Schweinezucht und verfügte über eine tionen geführt, die sich gemeinsam mit ausgedehnte Grünanlage. Die Pfleglinge weltlichem Hilfspersonal um das Wohl erhielten volle Versorgung und medi- der mehrheitlich gebrechlichen, pflege- zinische Betreuung. Mit der Änderung bedürftigen Bewohnerschaft kümmer- des Statuts im Jahr 1926 wurde der Ar- ten. beitszwang (s. o.) zwar nicht abgeschafft, Das oberösterreichweit größte, nach aber gelockert.46 damaligen Maßstäben modernste Ar- menhaus war das 1895 mit Spendengel- dern v. a. der Allgemeinen Sparkasse 44 Witibschlager: Geschichte der Armenhäuser der errichtete Versorgungshaus der Stadt Gemeinde Lichtenegg 355–360. Linz.45 Der erste Bau, konzipiert für 270 45 Heute das städtische Seniorenheim Glimpfinger- Personen, war bereits 1911 überfüllt. Der straße 12. 1912 eröffnete Erweiterungsbau bot den 46 Kraft, Leopold: Die Fürsorgetätigkeit der Ge- meinde. B. Die geschlossene Armenfürsorge. In: Pfleglingen als qualitative Verbesserung Erwin Stein (Hg): Das Buch der Stadt Linz. Die einige kleinere Schlaf- und Waschräume Städte Deutschösterreichs. Bd. 1 (Linz 1927) 258– extra. Nun konnten auch Ehepaare ge- 262, hier 259.

82 Die Stadt Steyr verfügte 1928 über Viele Armenhäuser und Notunter- vier Altenheime und ein Versorgungs- künfte v. a. in den kleineren Gemeinden haus. Die Altenheime stellten kostenlos befanden sich baulich und ausstattungs- Wohnung, Armengeld und teilweise mäßig in schlechtem Zustand.53 Unge- Verpflegung bereit.47 Vollversorgung achtet aller Bemühungen waren die be- gewährte nur das 1882 eröffnete „Ar- engten Wohnverhältnisse und das Elend menverpflegshaus“. Die Menschen dort der Insassen eine Brutstätte für Aggres- hatten einen erhöhten Unterstützungs- sion, Neid, Diskriminierung, Verleum- bedarf und waren auf Pflege angewiesen. dung und Diebstahl. Versorgt wurden sie durch Barmherzige Schwestern aus dem Konvent vom Hei- Der Umgang mit Armut im Ständestaat ligen Vinzenz von Paul.48 Mit dem Hochschnellen der Arbeits- Doppelt problematisch war die Un- losigkeit ab 1930 wurde das „Bettler- und terstützung und Pflege von Armen mit Landstreicherunwesen“ in ganz Öster- körperlicher, intellektueller oder psychi- reich zunehmend als sicherheitspoliti- scher Beeinträchtigung. Für sie gab es sches Problem wahrgenommen,54 die öf- teils überregional wirkende Fürsorgeein- richtungen wie die „Schwachsinnigen- anstalt“ in Schloss Hartheim/Alkoven 47 Häuslmayr: Das städtische Fürsorgewesen 141. 48 oder die Diakonissenanstalt, das „Haus Hlawati, Franz: Die Barmherzigen Schwestern von Wien-Gumpendorf 1832–1932 (Wien 1932) der Barmherzigkeit für arme unheilbar 440–442. Kranke“, heute Pflegeheim Sonnen- 49 Zu den Pflegeeinrichtungen für die Versorgung hof, und die „Irrenanstalt“ Niedernhart von Menschen mit Behinderungen siehe: Weg- in Linz.49 Aber auch das Fürsorgeheim scheider, Angela: Zwischen Heilanstalt und Armenhaus? Menschen mit Behinderungen in Gramastetten oder das Alters- und Pfle- Oberösterreich 1918–1938. In: Oö. Landesarchiv geheim St. Josef in Sierning, eröffnet (Hg.): Oberösterreich 1918–1938 IV (Linz 2016) 1930, nahmen Pflegebedürftige aus den 261–326; Zur Versorgung in der Landesirren- umliegenden Kommunen auf. Die Platz- anstalt Niedernhart siehe: Rachbauer, Markus: kapazität war jeweils sehr begrenzt, der Vom Verwahrungsort zur Heilanstalt? Die psych- iatrische Anstalt Niedernhart 1918–1938. In: Oö. Aufenthalt mit hohen Kosten verbun- Landesarchiv (Hg.): Oberösterreich 1918–1938 IV den, die man der jeweiligen Heimatge- (Linz 2016) 63–130. meinde in Rechnung stellte.50 50 Siehe beispielshaft Archiv Sonnenhof, Rechnung an die Gemeinde Altenberg, Verpflegskosten- Der oberösterreichische Landes- Betrag Franz R., 9. November 1932. wohltätigkeitsverein als Träger der 51 Archiv der GSI, OÖ.LWV, Sch. 2, Fasz. 1: Haupt- „Schwachsinnigenanstalt“ in Schloss versammlung des oö. Landeswohltätigkeitsverei- Hartheim gewährte Pfleglingen (1933 nes pro 1933, 17. Mai 1934, 1–3. 52 OÖLA, ALV IV Zl. 143-200 52 429: Schreiben der waren es 16) eine Kostenermäßigung Direktion der Idiotenanstalt Hartheim an die oö. von 20 bis 50 % und versuchte dies Landesregierung, 23. Mai 1926. durch Spendeneinnahmen auszuglei- 53 Beispielhaft: Gemeindearchiv Gaflenz, Armen- chen.51 Auch der von der Landesregie- pflege 1870–1933, Schachtel 78, Fasz.18, Schreiben zur Inspektion des Armenhauses am 22. August rung verwaltete Landesfonds finanzierte 1924. mehrere Freiplätze für völlig mittellose 54 Ganglmair: „Die hohe Schule von Schlögen“ Pfleglinge.52 (1990) 19.

83 fentliche Armenfürsorge sodann in der Häftlingen im Lauf der Zeit selbst herge- Zeit des Austrofaschismus (1933–1938) stellte Hütten.59 Zur Bewachung diente restriktiver denn je gehandhabt. Spen- ein 20 Meter hoher Turm mit Scheinwer- denaufrufe sollten unterschwellig ihre ferbeleuchtung, ein Stacheldrahtzaun Auslagerung ins Private oder an katho- umschloss das Areal. Das Lagerpersonal lische Vereinigungen vorantreiben. Die stellten zunächst 35 mit Pistolen und organisierte Almosengabe im Rahmen Gewehren ausgerüstete Wachleute,60 ab der „Winterhilfe“ (davon später mehr) April 1936 zehn Mann einer speziell ge- und polizeilich-repressive Maßnahmen schaffenen Gendarmerie-Expositur.61 kennzeichneten drastisch das Verhältnis Bei einem Teil der Häftlinge han- des Ständestaates zur Armenversor- delte es sich um Personen, die wäh- gung sowie dessen Umgang mit Armen, rend sogenannter „Bettlerrazzien“ bzw. Erwerbslosen und sozial Schwachen.55 1935/36 auch grenzübergreifend durch- geführter „Streifungen“ aufgegriffen worden waren. Bei der ersten Streifung Das Bettlerhaftlager Schlögen am 30. August 1935 wurden 915 Leute aufgegriffen, von denen 488 ihr Heimat- Mit der Heimatrechtsnovelle von recht in Oberösterreich hatten. Ins Lager 1935 schuf sich der Bund den gesetzlichen steckte man 134. Bei der zweiten Strei- Rückhalt zur Errichtung von Zwangs- fung am 31. Oktober 1935 kamen 85 von arbeitslagern für „umherziehende Per- sonen“, die ohne Genehmigung und gültigen Unterstützungsausweis ihrer 55 Dostal, Thomas: Intermezzo – Austrofaschismus Heimatgemeinde bettelten. Für ebenfalls in Linz. In: Mayrhofer, Fritz – Schuster, Walter (Hg.): Linz im 20. Jahrhundert. Beiträge 2 (Linz bis zu sechs Wochen arretiert werden 2010) 619–782, hier 709–719. konnten dort „Arbeitsscheue“, denen 56 Artikel 28c Bundesgesetz, mit dem ergänzende man vorwarf, mit gewährter Unterstüt- grundsätzliche Bestimmungen zum IV. Abschnitt zung Missbrauch getrieben zu haben.56 des Gesetzes, betreffend die Regelung der Hei- matrechtsverhältnisse, RGBl. Nr. 105/1863, er- Auf Grundlage des OÖ. Landesge- lassen werden. Heimatgesetznovelle von 1935, setzes vom 9. Juli 1935 wurde noch im BGBl. 199/1935. August desselben Jahres das „Bettler- 57 Gahleitner, Anton et al. (Red.): Waldkirchen am Haftlager Schlögen“ in Vornwald/Ge- Wesen: Häuserchronik. Von Aichberg bis Wimm meinde Waldkirchen fertiggestellt.57 (Ried im Innkreis 2013) 314–315. 58 Ganglmair: „Die hohe Schule von Schlögen“ 20. Es unterstand direkt der Landeshaupt- 59 Bericht des oberösterreichischen Sicherheitsdi- mannschaft und wurde vom Direktor rektors Revertera bei der Länderkonferenz am 22. der Landes-Schubstation in Linz gelei- Mai 1936, zit nach: Haupt, Gernot: Armut zwi- tet, die Eingewiesene unter der Bezeich- schen Ideologie und Ökonomie. Über die (Un)- 58 Wirksamkeit wirtschaftlicher Argumentation ge- nung „Sträflinge“ registrierte. genüber Verelendung am Beispiel der Diskussion Das in Österreich einmalige Bettler- über Bettlerlager 1935/1936 (Klagenfurt 2007) 3, haftlager umfasste Wohnbaracken für URL: http://www.ifsoz.org/content/lesenswert/ je rund 300 Personen, eine Tagbaracke, bettler/gh_armut.pdf (aufgerufen am 02.02.2015). 60 Ganglmair: „Die hohe Schule von Schlögen“ Kanzleibaracke, Küchenbaracke, ein ei- (1990) 20–21. genes Schlachthaus, verschiedene an- 61 Haupt: Armut zwischen Ideologie und Ökono- dere Baracken sowie mehrere von den mie 3.

84 Abb. 3: Bettlerhaftlager Schlögen; Aufnahme zwischen 1935 und 1938. Quelle: Archiv der Stadt Linz, Fotosammlung

478 aufgegriffenen Personen in Haft, – fanden sich vom Akademiker bis zum bei der dritten (am 13. Februar 1936) Hilfsarbeiter die verschiedensten Berufs- 111 von 651.62 Die nicht nach Oberös- gruppen.64 Von den im Jahr 1936 Zusam- terreich Zuständigen wurden verwarnt mengefassten hatte man 247 nicht wegen und mussten einen Revers des Inhalts Bettels interniert, sondern wegen „ihrer unterschreiben, dass sie beim „nächsten Arbeitsscheu“ oder wegen ihres „sons- unerlaubten Bettel“ eingeliefert werden tigen ärgerniserregenden Verhaltens in würden. Zuvor wurden noch Fingerab- drücke genommen und eine Fotografie 62 angefertigt.63 Haupt: Armut zwischen Ideologie und Ökono- mie 4. Im Lager – Verheiratete und Män- 63 Ganglmair: „Die hohe Schule von Schlögen“ 22. ner über 45 Jahren entgingen der Haft 64 Ebenda 21.

85 der Gemeinde“ [sic!]65 Die zu dieser Zeit Nur ein Tropfen auf den heißen Stein: illegale linke Presse schrieb von „Dorf- Die „Winterhilfe“ im Ständestaat paschas“,66 die sich damit „unbequemer Personen entledigen wollten“. Arme Die „Winterhilfe“ der Bundesregie- konnten sich noch bis 1938 strafbar ma- rung hatte es vereinzelt schon in den frü- chen, wenn sie sich „gegen Organe der hen 1920er-Jahren gegeben. Ab 1931/32 öffentlichen Armenpflege exzessiv und wurde diese Sammel- und Almosen- beleidigend“ benahmen.67 Das Landes- kampagne aufgrund der hohen Arbeits- armengesetz kannte in §16 die Bestim- losigkeit reaktiviert und 1934 zu einem mung, dass sie wegen Beleidigung oder wichtigen propagandistischen Element beharrlicher Verstöße gegen die Haus- der „autoritären Sozialpolitik“ des Stän- 70 ordnung eines Armenhauses mit bis zu destaates. Offiziell auf die Entlastung drei Tagen Arrest bestraft werden konn- der Gemeinden abgestellt, sollte die ten oder dann Zwangsarbeit im „Bettler- Sonderaktion gleichzeitig ganz wesent- lager“ leisten mussten. lich zur symbolischen Festigung der „va- terländischen Gemeinschaft“ beitragen. Ausreichend war die – Arbeitslosen Für die Errichtungs- und Erhaltungs- und deren Familien unabhängig von der kosten des Bettlerhaftlagers hatten die Heimatrechtszugehörigkeit gewährte Gemeinden aufzukommen, da es dem – Hilfe de facto meist nicht. Trotz Stüt- Kompetenzbereich „Armenversorgung“ zung durch die öffentliche Hand erwies zufiel. Mit der sogenannten Haftumlage sich die Kampagne vor allem organisato- wurden von den Gemeinden monatlich 71 68 risch als viel zu schwach aufgestellt, die vier Groschen zusätzlich eingehoben. anfangs durch bombastische Aufrufe er- folgreich mobilisierte Spendenfreudig- Mit Kriminalisierung und in der keit verflog zusehends und wich rasch Bevölkerung geschürten Ängsten oder allgemeiner Gleichgültigkeit. 1936/1937 Vorurteilen rechtfertigte die Politik die schließlich wurden die Richtlinien für die hohen Kosten für die „Streifungen“ und Anspruchsberechtigten verschärft und die Erhaltung des „Besserungs- bzw. der Leistungsumfang minimiert.72 Disziplinierungs-Lagers“ Schlögen. Die Pauschalverfolgung von Bettlern als 65 Bericht des Sicherheitsdirektors Revertera bei der „Asoziale“ und „Arbeitsscheue“ durch Länderkonferenz am 22. Mai 1936, zit nach: Haupt: den Nationalsozialismus wurde so im Armut zwischen Ideologie und Ökonomie 4. 66 Arbeiter-Zeitung, 9. Juni 1936, zit nach: Gangl- Ständestaat ideologisch indirekt vorbe- mair: „Die hohe Schule von Schlögen“ 22. reitet. 67 § 16 Oö. Landesarmengesetz. 68 Ebenda 20. 69 Ebenda 29 und 23. Das Los ehemaliger Insassen des 70 Melinz, Gerhard: Armutspolitik und Sozialversi- Haftlagers nach dem Anschluss ans cherungsstaat: Entwicklungsmuster in Österreich „Dritte Reich“ bleibt weiterhin eine For- (1860 bis zur Gegenwart) ÖGL, 47. Jg. 2003, H. schungslücke. Dass sogenannte Asozi- 2b–3, 147. 71 Suppanz, Werner: Arbeitslosigkeit als Thema der ale bereits ab Juli 1938 in Konzentrati- Sozialpolitik im „Ständestaat“ (Diss. Univ. Graz onslager eingeliefert wurden, geht aus 1993) 108–115. Zeitungsmeldungen hervor.69 72 Suppanz: Arbeitslosigkeit 109.

86 Daten & Details für ein Normalpaket 1 Schilling, für ein Großpaket 1,5 S. Die Bundesregierung widmete der (Alleinstehende bekamen alle zwei österreichischen Winterhilfe 1934/35 Wochen ein Nahrungsmittelpaket mit genau 3,5 Millionen Schilling – vor- 1 kg Mehl, 1/2 kg Zucker, 1/2 kg Reis sichtig umgerechnet 20 Millionen Euro und 1/4 kg Fett. Ein Großpaket enthielt –, von den Ländern wurden u. a. Bei- 1/4 Kilo Speisefett und 1/2 kg Teigwaren träge in Form von Naturalspenden (Be- extra.)75 Neben den Lebensmittelpaketen kleidungs-, Brennstoffsammlungen etc.) als Kernstück der Winterhilfe rundeten erwartet, von den Kommunen mit gerin- Ausspeisungs-, Fleisch- und Milchaktio- gerer Arbeitslosigkeit Lebensmittelliefe- nen, die Sammlung von Bekleidung und rungen für Notstandsgebiete.73 Anfal- Brennstoffen, Kartoffel-, Obst-,76 Käse-, lende Kosten zweigten die Gemeinden, Brot- und Selchfleischaktionen das Ge- denen die gesamte Organisation der samtprogramm ab. Winterhilfe aufgebürdet war, mit großer Für die Gemeinden war die Abwick- Wahrscheinlichkeit vom Armenfonds lung der Winterhilfe eine materiell und ab … administrativ kaum zu bewältigende Jede Kommune musste die Fürsorge- Zusatzbelastung. Nicht nur wurde es Empfänger zahlenmäßig erfassen und von Jahr zu Jahr schwieriger, die Bevöl- den Grad der individuellen Hilfsbedürf- kerung zum Spenden zu animieren – tigkeit ermitteln. Hierzu bildete man durch einen schwunghaften Handel mit überall Winterhilfekomitees, bestehend Lebensmittelmarken gelangte die Hilfe aus Vertretern des Gemeindetages, der auch nicht immer zu jenen, die sie be- Ortsleitung der Vaterländischen Front, nötigten, und die Naturalien waren zum der Seelsorge, der Schulen, der örtlichen Teil von minderer Qualität.77 Wohltätigkeitsvereinigungen, der Frau- enorganisationen und aus Vertretern der Presse. Resümee und Ausblick Als im Sinne der Winterhilfe bedürf- Große Gruppen unter den unselbst- tig galten Alleinstehende mit einem Mo- ständig Beschäftigten kamen mit Beginn natseinkommen von unter 50 Schilling, des 20. Jahrhunderts in den Genuss be- Paare mit einem solchen von jeweils un- ter 60. Für jede weitere Person wurden 10 Schilling hinzugerechnet. So lag bei 73 Archiv der Stadtgemeinde Pregarten, A3.301: einer sechsköpfigen Familie die Grenze Allgemeiner Durchführungserlass der BH Frei- bei weniger als 100 Schilling.74 Lag das stadt betreffend Winterhilfe 1934/1935, 31. Okto- Einkommen um 20 Schilling unter der ber 1934. 74 Das entspricht etwa einem Wert zwischen 350 und Grenze, wurde man als „sehr bedürf- 450 Euro. (Auch die Mietkosten wurden bei der tig“ eingestuft und hatte Anspruch auf Berechnung berücksichtigt.) Gratisbezug der Unterstützung. Dazu 75 Archiv der Stadtgemeinde Pregarten, A3.301– durfte ein Alleinstehender nicht mehr A3.310: Richtlinien zur Feststellung der Bedürftig- keit, Winterhilfe Stadt Linz 1934/1935. als 30 Schilling monatlich zur Verfügung 76 Höfler: Die soziale Lage der Arbeiterschaft in haben, ansonsten war pro Hilfspaket ein Kleinmünchen 217–220. Zuschuss zu entrichten. Dieser betrug 77 Suppanz: Arbeitslosigkeit 108–121.

87 Abb. 4: Winterhilfe-Plakat. Quelle: OÖLA, Plakatsammlung

deutender sozialpolitischer Errungen- hältnissen nicht mehr entspreche. Den schaften, die auch armutsvermeidend hohen Ausgaben für die Armenfürsorge wirkten. Neben politischer Stabilität standen viel zu geringe Einnahmen aus verfolgten die neuen Maßnahmen v. a. Steuern und Gebühren gegenüber, die das Ziel, in den Arbeitsmarkt Integrierte Lasten waren zudem regional einseitig gegen Risken abzusichern.78 verteilt, was besonders auf die kleineren Der Bund regelte die Grundsätze Gemeinden negativ durchschlug. der kommunalen Armenversorgung im Unter den veränderten sozioökono- Wesentlichen durch das aus der Mon- mischen Bedingungen funktionierten archie stammende Heimatrechtsgesetz, die traditionellen Instrumente zur Si- die Ausführungsgesetzgebung war Län- dersache, die Vollziehung den damit 78 Tálos, Emmerich: Sozialpolitik in der Ersten Re- völlig überforderten Gemeinden auf- publik In: Tálos, Emmerich u.a. (Hg.): Handbuch gehalst. Bald häuften sich Klagen, dass des politischen Systems Österreich. Erste Repub- das System in der Praxis den Realver- lik 1918–1933 (Wien 1995) 570–586, hier 570.

88 cherung bei Krankheit, Unfall und Be- sammlungen usw. kamen über propa- hinderung nicht mehr. Die Mobilität der gandistische Effekte und einen gewissen Menschen, Hyperinflation, Wirtschafts- „Symbolwert“ indes kaum hinaus. Die krise, das unversorgte Alter, Arbeitslo- auf Almosen und Repression fußende sigkeit, Obdachlosigkeit und fehlende Ausrichtung einer autoritär gesteuer- Möglichkeiten der Subsistenzwirtschaft ten Sozialpolitik verschärfte im Gegen- hätten neue Ideen und Wege in der Ar- teil oft die Situation der Armen; die menfürsorge erfordert. Das war den Zwangsmaßnahmen des Ständestaates politisch Verantwortlichen sehr wohl mit verstärkter Kriminalisierung oder bewusst.79 Aber um die Modernisierung Ausgrenzung Arbeits- und Mittelloser der Fürsorgepolitik kümmerten sich die führten zunehmend zur Resignation Bundes- und die Landesregierungen in breiter Gesellschaftsschichten. der Zwischenkriegszeit nur halbherzig. Wirtschafts-, Demokratiekrise und Eine stärkere Zentralisierung in der Leis- die damit einhergehende sozialpolitische tungs- und Mittelbereitstellung konnte Fehlentwicklung stellten einen idealen nicht durchgesetzt werden, politische Nährboden für nationalsozialistisches Konflikte und die unselige Polarisierung Gedankengut dar. Enttäuscht und ohne der Kräfte durchkreuzten jede struktu- Perspektive, erhofften sich die Menschen relle Reformbestrebung. eine Verbesserung ihrer sozialen und wirt- Besonders ab den 1930er-Jahren, als schaftlichen Lage durch Hitlerdeutsch- die Armut rapid anwuchs und die allge- land, das diese Erwartungen – zunächst meine Versorgungslage immer prekärer – auch einlöste. Im weiteren Verlauf der wurde, appellierte man in den finanzi- Geschichte jedoch begrub die „braune ell ausgehungerten Gemeinden an die Herrschaft“ das allermeiste davon unter Spendenbereitschaft der Bevölkerung. einer Lawine aus Gewalt, Terror, namen- Winterhilfsaktionen, Lebensmittel- losem Leid und millionenfachem Tod.

79 Ganglmair: „Die hohe Schule von Schlögen“ 19.

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Buchbesprechungen

Elisabeth Schiffkorn: Das Oberösterreichische Sa- DVD-Edition Oberösterreich. Zehnteilige DVD-Box genbuch, Band 3. Sagenstraßen in Urfahr-Umge- des ORF-Landesstudios OÖ. Hoanzl-Verlag Wien, 2016. bung. Verlag Regional Edition, Herausgeber: Kultur Plus, EUR 149,90. Einzelpreis pro DVD: EUR 19,90. Interessengemeinschaft für Regional-, Kultur- und Touris- 180 filmische Dokumentationen, Sendungen musentwicklung, Linz. 384 Seiten, illustriert, Druck: Trau- und Einzelbeiträge aus den Archiven des ORF- ner/Linz. EUR 24,90. ISBN 978-3-902226-56-3 Landesstudios OÖ von 1950 bis 2015 – verpackt in Bestelladresse und Information im Internet: einer bisher einzigartigen DVD-Serie! Als audiovi- sueller Guide erschließt diese Box leicht und rasch www.eurojournal.at/buchshop nachvollziehbar die historische Entwicklung Ober- Im Verbund des Publikationsprojekts „Das österreichs, schlägt vielfältige Bögen zur aktuellen Oberösterreichische Sagenbuch“ folgt den „Linzer Gegenwart und zeichnet so ein lebendiges Gesamt- Sagen und Geschichten“ und den „Donausagen aus bild aus Geschichte, Wirtschaft, Kultur und Poli- dem Strudengau“ nunmehr als Band 3 eine reprä- tik. Inhaltlich und topographisch z. T. aufeinander sentative Zusammenstellung uralten Erzählgutes abgestimmt, akzentuieren zehn Video-Blöcke die aus dem Bezirk Urfahr-Umgebung. Als primäres Identität unseres Landes in mosaikartigem Schnell- Element lokaler Gedächtniskultur entstanden ge- durchlauf: Das Mühlviertel – Von der Donau bis zum rade auch die Sagen der hier erfassten 27 Gemein- Böhmerwald. Zwischen Inn und Hausruckwald – Vom den nicht willkürlich, sondern reichen oft weit in die Sauwald bis zum Ibmer Moor. Das Salzkammergut – von den antiken und frühmittelalterlichen Quellen Seenland – Sehnsuchtsland. Das Traunviertel – Von ausgesparte, schriftlose Vergangenheit des Mühl- der Eisenwurzen bis zum Dachstein. Linz – Haupt- viertler Raumes hinein. stadt, Stahlstadt, Klangstadt. Vom Handwerk zur Indus- Speziell die „mündliche Überlieferung kann trie – Die Leitbetriebe Oberösterreichs und ihre Ge- daher“, schreibt Elisabeth Schiffkorn im Nachwort, schichte. Essen, Trinken, Gastfreundschaft – Salz, Most, zusammen mit „gesicherten Fakten Licht ins Dunkel Bier und andere Genüsse. Blasmusik & Sängerknaben unserer Geschichte bringen“. Beziehungsvoll zitiert – So klingt Oberösterreich. Landleben & Brauchtum – Schiffkorn den Regionalforscher Ernst Burgstal- Von Traditionen und Mode. Geschichten & Geschichte ler, der in seinem 1969 erschienenen Beitrag „Der – Oberösterreich einst und jetzt. ‚Heidenstein‘ bei Eibenstein und seine volks- und Mediale Didaktik, kompetent, informativ, un- siedlungskundlichen Probleme“ festhielt: „Wer die terhaltsam und damit allgemein empfehlenswert! Geschichte kennt, der weiß, dass sie auch in Europa nicht immer reibungslos verlaufen ist. Verschiedene Sagentypen … vermitteln die Kenntnis manchen Geschehens, das in der amtlichen Geschichtsschrei- Bruckner Symposion 2014 / Bericht; HG Anton bung unberücksichtigt geblieben ist. Hierher gehö- Bruckner Institut Linz, Linz 2015; in Kommission bei ren insbesondere die Sagen vom verschleppten Kirchen- „Musikwissenschaftlicher Verlag Wien“, MV 328. baumaterial, in denen sich das zähe Ringen um die ISBN 978-3-902681-38-1. Beibehaltung, Zerstörung oder Umwandlung alter Dieser mehr als respektable Bericht über das vorchristlicher Verehrungsstätten spiegelt, sowie die im Oktober 2014 im Stift St. Florian durchgeführte wenigen Erzählungen über heftige kriegerische Aus- Bruckner-Symposion liegt, herausgegeben und re- einandersetzungen zwischen den Bekennern des al- digiert von Andreas Lindner und Klaus Petermayr ten und des neuen Glaubens.“ im Anton Bruckner Institut Linz (ABIL), seit 2015 Nicht nur vor diesem Hintergrund garantiert vor. Die 206 Seiten zählende, sehr ansprechend ge- der Pool ausgewählter Sagen – rund zweihundert staltete Broschüre bietet 11 Beiträge namhafter Au- Einzelerzählungen unter anderem aus Steyregg, toren zu einem Lebensabschnitt Anton Bruckners, Ottensheim, Gramastetten, Eidenberg, Kirchschlag, der von grundlegender Umstellung beruflicher, to- Hellmonsödt, Zwettl/Rodl, Herzogsdorf, Enger- pografischer und persönlicher Natur geprägt war: witzdorf, Gallneukirchen, Schenkenfelden, Vorder- Seiner Übersiedlung nach Wien, dem Beginn seiner weißenbach oder Bad Leonfelden – ein vielschich- Unterrichtstätigkeit am Konservatorium und seinen tiges Leseabenteuer voller Spannung und zugleich legendären Orgelkonzerten in London. Die Jahre interessanter Einsichten! C. G. vor und nach 1870 waren überdies von gravierenden

91 politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen in- und sehr erhellend Bruckner persönlich: „Bruckner nerhalb und außerhalb der Habsburger-Monarchie privat“ von Franz Schieder, Nürnberg; „Bruckners gekennzeichnet: Der „Ausgleich“ mit Ungarn 1867 Messe in e-Moll“ von Ernst Schlader, Trossingen; hatte einen sechs Jahre dauernden wirtschaftlichen und „Bruckners Verankerung in musiktheoretischen Boom zur Folge, bevor der Börsensturz 1873 der ers- Konzepten in Österreich um 1870“ von Matthias ten, überhitzten Gründerzeit, die bereits den Bau ei- Giesen, St. Florian/Wien. Allerdings befinden sich niger Ringstraßen-Monumente umriss, ein krachen- auch zwei Betrachtungen in der Sammlung, die – des Ende bereitete. Die Ausrufung des Deutschen musikhistorisch gesehen – Grundsätzliches über Kaiserreichs 1871 beendete überdies alle habsburgi- die unmittelbare Bruckner-Sphäre hinaus in Bewe- schen Träume von einer Vormachtstellung innerhalb gung bringen: „Katholische Kirchenmusik zwischen des einstigen Römischen Reiches Deutscher Nation. Ekstase und Askese“ von Johannes Leopold Mayer, Über alle diese hier nur kursorisch skizzierten Baden; und „Zeitenwende im Spiegel des Orches- Rahmenbedingungen erzählt der Symposions-Be- terrepertoires am Beispiel der philharmonischen richt freilich sehr wenig bis nichts. Er richtet – wie Novitäten“ von Andreas Lindner, Linz/Wien. auch anders – den Focus auf die in den Vorträgen Der sorgfältig gearbeitete Symposionsband referierten Spezialthemen, die sich allerdings in ist vor allem jenen zu empfehlen, die entweder an der Minderheit mit heute „europäischen“ Themen Vertiefung bereits vorhandener Bruckner-Kennt- befassen: Der tschechischen Musik um 1870, Der nisse interessiert sind oder Spezielles über typische Musik im Banat und in Südosteuropa um 1870, Arbeitsfelder Bruckners wie die Kirchenmusik und und der Situation von Hofkapellen in Mitteleuropa symphonische „Moden“ seiner ersten Wiener Zeit etwa zu dieser Zeit. Drei Beiträge betreffen direkt erfahren wollen.

92 OÖ.OÖ. HEIMATBLÄTTER HEIMATBLÄTTER 20162016 HEFT HEFT 1/2 1/2

BeiträgeBeiträge zur Oö. zur Landeskunde Oö. Landeskunde | 70. | Jahrgang 70. Jahrgang | www.land-oberoesterreich.gv.at | www.land-oberoesterreich.gv.at OÖ. HEIMATBLÄTTER | 2016 HEFT 1/2 HEFT 2016 | HEIMATBLÄTTER OÖ. OÖ. HEIMATBLÄTTER | 2016 HEFT 1/2 HEFT 2016 | HEIMATBLÄTTER OÖ.

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