KULTUR KOREA ausgabe 1 / 2016

LÜGNER ODER ERZÄHLER? Gespräch mit dem Autor Kim Young-ha in Berlin

KAFFEEKLATSCH IN Über den Deutschen Club Seoul

GESCHICHTE DER VORGETÄUSCHTEN UNSCHULD Eine Ausstellung von Kim Hyun Jung Coverbild:

Vorgetäuschte Unschuld: du bewegst mich, 2013 von Kim Hyun Jung 86 x 61 cm

© 김현정 All rights reserved EDITORIAL

Impression von der Ausstellung Quiet Stare von Yook Keun Byung

Liebe Leserinnen und Leser,

Sommerzeit ist Reisezeit. Neben Sonnencreme und Badeanzug gehört für viele auch die richtige Reiselektüre in den Koffer. Wie wäre es beispielsweise mit einem Kriminalroman? „Sieben Jahre Nacht“ von Jeong Yu-jeong fesselt den Leser von der ersten bis zur letzten Seite mit einer ungewöhnlichen Kriminalgeschichte vor der Kulisse eines gespenstischen Stausees in einer entlege- nen Region Koreas. Oder mit einem finsteren Familiengeheimnis in dem Roman „Das verborgene Leben der Pflanzen“ von Lee Sung-U, den der Autor im März in der deutschen Hauptstadt vorstellte? Auch lernen Sie den erfolgreichsten koreanischen Schrift- steller seiner Generation, Kim Young-ha, kennen, der kürzlich im Literaturhaus Berlin über seine Arbeit gesprochen hat. Sein Roman „Schwarze Blume“ beispielsweise behandelt das wenig bekannte Thema der koreanischen Auswanderung nach Mexiko.

Aber nicht jeder möchte seinen Urlaub mit Lesen zubringen. Die Aktivurlauber unter Ihnen würden wir gern zu einer Fahrradtour durch Korea anregen. Und wer statt Asphalt das Wasser bevorzugt, erfährt in „Raus und ab ins kühle Nass!“, wie und wo in Korea Abkühlung von der Sommerhitze zu finden ist.

Wie lebt es sich als deutscher Expat in der Millionenmetropole Seoul? Wir stellen den Deutschen Club Seoul vor und berichten über ein Stück Heimat in der Fremde – von Kaffeeklatsch bis Abfahrtsskilauf. Falls Sie auf den Alltag in der südkoreanischen Met- ropole neugierig sind, können Sie sich über eine typische koreanische Wohnform oder über die Vorzüge des Seouler U-Bahn-Sys- tems informieren.

Welche Rolle spielt der Islam im heutigen Korea? In dem Artikel „Der Halbmond über Itaewon“ lesen Sie, wie sich das alltägliche Nebeneinander der Religionen gestaltet. Und wenn Sie wissen möchten, wem die Modernisierung des Leipziger Hauptbahnhofs zu verdanken ist, werden Sie Näheres in dem Gespräch mit dem Architekten Prof. Duk-Kyu Ryang erfahren. Oder hätten Sie viel- leicht Lust auf etwas Süßes? Chi-Young Bang fertigt broschenähnliche biscuits in Paris.

Darüber hinaus werfen wir noch einmal einen Blick zurück auf unterschiedlichste Kulturveranstaltungen, die im vergangenen halben Jahr vom Koreanischen Kulturzentrum durchgeführt wurden. Vor Kurzem ist die Ausstellung der jungen koreanischen Künstlerin Kim Hyun Jung zu Ende gegangen. Sie gilt als Shootingstar der Szene für traditionelle koreanische Malerei und hat mit ihren ungewöhnlichen Arbeiten - wie dem Titelbild dieser Ausgabe - für ein Revival des Genres gesorgt.

Wir wünschen Ihnen einen schönen Sommer und wie immer viel Freude beim Lesen! Ihre Reaktion Kultur Korea Foto: Koreanisches Kulturzentrum Koreanisches Foto:

KULTUR KOREA / 1 INHALTSVERZEICHNIS

1 EDITORIAL

LITERATUR UND SPRACHE

4 Wenn Menschen lieber Bäume wären Über die Lesung mit Lee Sung-U aus dem Buch „Das verborgene Leben der Pflanzen“ Von Sören Kittel

6 Er säuft. Sie zankt. Sie sterben Ein ungewöhnlicher Kriminalroman aus Südkorea: „Sieben Jahre Nacht“ von Jeong Yu-jeong Rezension von Sylvia Staude

6-9 Leseprobe aus „Sieben Jahre Nacht“ Von Jeong Yu-jeong

10 Individualistisches Bewusstsein und Geschichte Ein Gesprächsabend mit dem Schriftsteller Kim Young-ha Von Dr. Kai Köhler

12 „Übersetzen ist eine hochintegrative Disziplin“ Interview mit dem Koreawissenschaftler Dr. Albrecht Huwe Von Gesine Stoyke

GESELLSCHAFT

14 Der Islam in Korea Der Halbmond über Itaewon Von Hoo Nam Seelmann

16 Raus und ab ins kühle Nass!!! Von Anneliese Stern-Ko

18 Das EcoMobility World Festival in Suwon Interview mit Konrad Otto-Zimmermann, Ideengeber und Initiator des Festivals Von Gesine Stoyke

21 Mit dem Velo über Stadt und Land ans Meer Unterwegs mit dem Fahrrad in Südkorea Von Wolfram van Stephold

2 / KULTUR KOREA KALEIDOSKOP 43 Aus alt wird neu 23 Nach Jahrzehnten des Baubooms entdeckt Südkorea sein Kaffeeklatsch in Seoul architektonisches Erbe wieder Im Gespräch mit Annette Grund, Präsidentin des Von Fabian Kretschmer Deutschen Clubs Seoul Von Dr. Stefanie Grote MUSIK UND TANZ

25 45 Apartmentleben in der südkoreanischen Hauptstadt Ein neues Jahr, ein „neues“ Neujahrskonzert Von Sophie Bowman Das Neujahrskonzert der Botschaft der Republik Korea am 13. Januar in der Berliner Philharmonie 27 Von Matthias R. Entreß Mitfahren Über das U-Bahn-System in Seoul 47 Von Charles Usher Ein Körper voller Erinnerungen, oder kann man Intimität tanzen? 29 Hyoung-Min Kim zeigt zwei hochpoetische Soli So BANG! im Berliner DOCK11 Interview mit Chi-Young Bang, Herstellerin Von Thomas Schütt exklusiver biscuits in Paris Von Gesine Stoyke 49 Junger Meister misst sich mit Titanen der Klassik KUNST UND ARCHITEKTUR Sunwook Kim spielt Klaviermusik von Schubert, Beethoven und Mozart 31 Von Matthias R. Entreß Inspirationen des Erinnerns Über die Eröffnung der Ausstellung „Souvenirs aus Korea“ 51 im Koreanischen Kulturzentrum Gugak-Festival in 70 Minuten Von Dr. Stefanie Grote Das Ensemble Yangju Pungryu Akhoe auf Konzertreise durch Europa 33 Von Matthias R. Entreß Bildertagebuch des Zeitgeists Die „Geschichte der vorgetäuschten Unschuld” RÜCKBLICK IM BILD von Kim Hyun Jung im Koreanischen Kulturzentrum Von Dr. Miriam-Esther Owesle 53 Neulich im Koreanischen Kulturzentrum & anderswo... 36 Januar bis Juni 2016 „Sich an Altem orientieren und Neues schaffen“ Interview mit Rheem Misun, Kuratorin der Ausstellung IMPRESSUM „Korea NOW!“ in München Von Gesine Stoyke 60

38 „Architektur ohne Kunst gibt es nicht“ Im Gespräch mit dem Architekten Prof. Duk-Kyu Ryang Von Dr. Stefanie Grote

40 Die Welt auf weißem Grund Interview mit dem Maler Lee Daecheon über seine Ausstellung „Die Welt – Tracing Nature“ Von Gesine Stoyke

KULTUR KOREA / 3 LITERATUR UND SPRACHE WENN MENSCHEN LIEBER BÄUME WÄREN

Über die Lesung mit Lee Sung-U aus dem Buch „Das verborgene Leben der Pflanzen“

Von Sören Kittel

ein, Lee Sung-U spricht nicht mit Pflanzen, und ja, er musste diese Frage schon ein paar Mal be- Nantworten. Das überlasse er lieber den Figuren in seinem Roman „Das verborgene Leben der Pflan- zen“. „Ihre Beziehungen zu Bäumen und Sträuchern“, sagt der Autor, „sollen zeigen, wie tief die Verbindung zwischen verschiedenen Lebewesen sein kann, auch die zwischen Menschen.“ Die Bäume in seinem Buch sind nicht Teil einer anderen Welt, sondern der der Menschen. Sie bedingen einander gegenseitig. „Und manchmal“, sagt er, „gibt es Menschen, die selbst gern Lee Sung-U (li), bei der Lesung in Berlin am 21. März 2016. Er studierte Theolo- ein Baum sein wollen.“ gie und lehrt neben seiner Arbeit als Schriftsteller Koreanische Literatur an der Universität von Chosun. In seiner Heimat erhielt er zahlreiche Preise, in Frankreich war er für den Prix Femina nominiert. Moderator Sören Kittel (re) war freier Passend dazu wurde, bevor am 21. März im Litera- Journalist in Südkorea und ist derzeit Redakteur der Funke-Mediengruppe in Berlin. turforum im Brecht-Haus Berlin überhaupt ein Wort

gesprochen wurde, das Lied „Haunted Tree“ gespielt, des Anschließend betritt der bestens gelaunte Schriftsteller die berühmten Gayageum-Meisters Hwang Byungki. Lee Sung-U Bühne. Er hat eine weite Reise hinter sich, war gerade Gast auf ist nach Berlin gekommen, um seinen Roman über Pflanzen der Buchmesse in Paris – und hat ebenso einen bewegenden und Menschen in Deutschland vorzustellen. Rund 50 Gäste Lebenslauf vorzuweisen. Bevor er Autor wurde, studierte er sind gekommen, um mehr von dem in Südkorea bekannten Theologie und veröffentlichte nebenbei seinen ersten Roman Autoren zu erfahren. Dort ist der Roman schon vor 16 Jahren „Porträt des Erysichthon“, der ihm gleich seinen ersten Litera- erschienen. Gerade einmal zwei weitere seiner mehr als zehn turpreis garantierte. Danach begann er noch ein Aufbau-Stu- Bücher sind von dem renommierten Schriftsteller in Deutsch- dium an der renommierten Yonsei-Universität, brach dies land bisher übersetzt worden: „Die Rückseite des Lebens“ und dann aber ab. Auch die Beziehung zu seiner Mutter sei Zeit „Vermutungen über das Labyrinth“. In Frankreich gibt es einige seines Lebens schwierig gewesen, wie er einmal sagte. Das ist Werke mehr, die übersetzt wurden. eines der Themen, die ihn nie losgelassen haben. Das zweite ist die Theologie, deren Lehren sich immer wieder in seinen Das, so sagt Gesandter-Botschaftsrat Dr. Kwon Sehoon gleich Romanen spiegeln — so auch in „Das verborgene Leben der zu Beginn des Abends, liege auch daran, dass er in Frankreich Pflanzen.“ eine weitaus größere Leserschaft habe. Er würde sich freuen,

wenn auch in Deutschland die koreanische Literatur mehr Der Roman beginnt jedoch mit einem sehr irdischen Problem: Beachtung finden würde. „Vielleicht ist dieser Besuch ja dafür Eine Mutter trägt ihren beinamputierten Sohn auf ihrem Rü- ein Anfang.“ Lee Sung-U kam auf Einladung des Koreanischen cken in ein Bordell, damit dieser dort jene Befriedigung findet, Kulturzentrums nach Berlin. Dessen Leiter Dr. Kwon hat es die ihm nur Frauen verschaffen können. Tut sie das nicht, be- sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, die koreanische kommt er regelmäßig Anfälle, während der er die Einrichtung Literatur in Deutschland bekannter zu machen. In seiner der Wohnung zerstört. „Dann zerfetzt er seine Kleider, zerkratzt fließend deutschen Begrüßungsrede im Berliner Brecht-Haus seinen Körper, reißt ganze Hautfetzen heraus und schlägt den macht er deshalb noch einmal deutlich, welcher Schatz dort Kopf gegen die Wand.“ Die Mutter jedoch wird bei einer dieser noch zu bergen sei für die deutschen Leser. „Dass wir diesen Touren von ihrem jüngeren Sohn beobachtet, der sich von historisch bedeutsamen Ort für die heutige Veranstaltung nun an selbst um die Prostituierten für den Bruder kümmert. gewählt haben, ist Ausdruck unseres Willens, die koreanische

Literatur international bekannt zu machen.“ Aus diesem ersten, sehr merkwürdigen Einstiegs-Plot ent- Foto: Koreanisches Kulturzentrum Koreanisches Foto:

4 / KULTUR KOREA zen zu einem symmetrischen Baum.“ Der Privatdetektiv Ki-Hyeon bekommt endlich einen Auftrag: Er soll eine Frau be- Und spätestens da wird wieder die Verbindung schatten. Der Kunde bleibt anonym, und als zwischen Menschen und Pflanzen deutlich, die er die Frau zu Gesicht bekommt, schreckt er in dem spannend konstruierten Roman immer zurück: Es ist seine Mutter. Soll er den Auf- wieder aufblitzen. „Diese war mir am wichtigs- trag annehmen? Schicht um Schicht taucht ten in diesem Roman“, sagt er, „denn die Bäume er ein in die Geheimnisse. War es wirklich spiegeln in ihrem Verhalten manchmal das ein Unfall, dass sein Bruder, ein talentierter Verhalten der Menschen zueinander wieder.“ Das Fotograf, in der Armee beide Beine verlor? erklärt Lee Sung-U, als er von einer koreanischen Warum ist das Mädchen verschwunden, Leserin darauf angesprochen wird. Sie will auch das vor dem Unfall des Bruders große Liebe wissen, ob er biografische Details aus seinem war? Und wer ist der große Unbekannte, der Leben mitverarbeitet habe. „Nein, nicht in diesem im Leben der Mutter auftaucht, als gehöre Roman“, sagt er, „in anderen Romanen viel mehr.“ er mit zur Familie? Was weiß der Vater, der Bei diesem Roman war ihm wichtig, dass er vor fast wortlos seine Rolle in diesem beklemmenden Familienverbund dem Hintergrund eines Studentenaufstandes spielt? spielt. Der ältere Bruder hätte niemals seine Beine Dieser kunstvoll komponierte Roman legt eine dramatische Familien- verloren, wenn die Regierung nicht wegen seiner geschichte frei, in der zum Schluss die Liebe über Schuld, Beklemmung Verbindungen zu den Demonstranten gegen und Schweigen siegt. ihn ermittelt hätte – und der Ich-Erzähler ihn nicht ausgeliefert hätte. So trugen auch der Staat »Lee Sung-U entführt den Leser in ein Zauberreich. Es gelingt ihm, die und Koreas Geschichte zu dieser Familientra- Melancholie und Furcht seiner Figuren zu überwinden, die Türen des gödie mit bei und verursachten eine nie wieder Traums einen Spalt weit zu öffnen und der Liebe ihre mythische Dimen- gutzumachende Schuld – ein zentrales Motiv in sion zurückzugeben.« dem Roman. Le Figaro Interessant auch, dass sich Lee Sung-U für den Lee Sung-U wickelt Lee Sung-U sehr kunstvoll auf nur 220 kurzen Teil der Lesung in Originalsprache ausge- Das verborgene Leben der Pflanzen Seiten eine Geschichte, die sowohl von einer rechnet das letzte Kapitel ausgesucht hat. Er liest Roman lebenslangen Liebe, von einer niemals vergehen- die kurzen Sätze, die diese komplizierte Geschich- Aus dem Koreanischen den Schuld sowie von einem dunklen Familienge- te um Schuld und Liebe zusammenfassen, er liest von Ki-Hyang Lee heimnis handelt — alles wiederkehrende Themen sie rhythmisch, pointiert, auch ein Baum kommt Hardcover in koreanischen Romanen und Filmen. Doch Lee darin vor: „Am Fuße des Baumes steht eine Frau.

224 Seiten verbindet dies alles mit einem fast mystischen Sie ist nackt. Sie ist die Unschuld in Person.“ Am ISBN-13: 978-3-293-00471-9 Zugang zu Pflanzen, den fast alle seine Protago- Ende wird er sagen: „Die Strahlen der Sonne tref- ISBN-10: 3-293-00471-7 nisten haben. Selbst der Ich-Erzähler, der jüngere fen auf das Wasser und werden zu Tränen. Aber € [D] 19.95 / sFR 28.90 Bruder, kann sich diesem Sog, den plötzlich ich, ich weine ja nie.“ Unionsverlag Bäume auf seine Familie ausüben, nicht mehr erwehren. Bevor er noch viele Bücher signieren wird an die- sem Abend und bei einem Glas Wein („Das Bier in Es ist wohl der Höhepunkt des Romans, in dem Deutschland ist das beste!“) mit den Gästen über Lee Sung-U eine Landschaft beschreibt, die er die Gegenwart und Zukunft der koreanischen wirklich einmal gesehen hat. Im Buch jedoch wird Literatur diskutieren wird, fragt ein Gast Lee die Szene zu einer Traumsequenz: „Der Ozean Sung-U auf Koreanisch, ob es denn ein fröhliches schien direkt aus dem Innern des Berges zu Ende sei, in seinem Buch. „Ist es ein Happy End?“ kommen und der Himmel, in dem weiße Möwen Lee überlegt eine Weile. Er sagt, dass jeder der segelten, seine Fortsetzung zu sein.“ Er sieht an Protagonisten im Roman seinen Platz gefunden einem Steilufer in Namcheon zwei Menschen, die habe, dass sie wissen, was sie erwartet und damit bei einer Palme liegen. Oder hat er sich die Palme zufrieden sind. Richtig, einer ist gestorben, einer nur eingebildet? Er schreibt: „Ich fühlte mich wie hat eingesehen, dass die Liebe des Lebens die unter Drogen gesetzt, die diese Halluzination von Gefühle nicht erwidert und einer wird für immer dem fremden Baum und dem Haus auf dem Fel- ein Krüppel bleiben, obwohl er viel lieber ein sen in mir hervorbrachten.“ Er merkt, dass diese Baum geworden wäre. Lee Sung-U sagt nach Person dort auf dem Hügel seine Mutter ist. „Ihre kurzem Nachdenken: „Ja, für mich ist es auf jeden exakt aufeinanderliegenden Körper verschmol- Fall ein Happy End.“

KULTUR KOREA / 5 LITERATUR UND SPRACHE - REZENSION - ER SÄUFT. SIE ZANKT. SIE STERBEN Ein ungewöhnlicher Kriminalroman aus Südkorea: „Sieben Jahre Nacht“ von Jeong Yu-jeong Von Sylvia Staude

it Erstaunen entdeckt man am Ende des Bandes einen detailliert gezeichne- Textauszug Mten, sich auch als Skizze für eine Model- leisenbahn-Stecke eignenden Lageplan zum Ort des Geschehens: „1. Dammbrücke (Dammkro- ne)“ steht da und „Seryong-Berg“, „Promenade“ neben wolkenförmigen Bäumchen, „Tankstelle“, „Ambulanz“, sogar „Pförtnerloge“ und „Anzeige- tafel“. Mit Erstaunen, denn der Roman zu diesem Lageplan führt durch einen Alptraum, es ist der eines jungen Mannes, dessen Vater sieben Jahre zuvor, Choi Sowon war elf Jahre alt, zum „Stauseemonster“ wurde, indem er die Schleu- sentore öffnete und die Wassermassen ein Dorf überfluteten. „Dorf in der Tiefebene“ steht auf dem Lageplan, kleine kastenförmige Häuschen sind eingezeichnet. Für Choi Sowon aber war seit der unbegreiflichen Tat, die den See leerte und das Dorf überflutete, „Sieben Jahre Nacht“.

Die südkoreanische Autorin Jeong Yu-jeong, Jahrgang 1966, schrieb sich 2011 in ihrer Hei- mat mit ihrem dritten Roman auf die Bestsel- lerliste. „Sieben Jahre Nacht“ ist so ambitioniert konstruiert wie ausführlich und psychologisch intrikat in der Figurenzeichnung. Was passiert ist, verrät schon der Prolog - „Und mich nannten sie den ,Sohn des Stauseemonsters‘“ -, warum es passiert ist, wird zu großen Teilen in einem (fiktiven) Buch im Buch rekonstruiert: Sowons Ziehonkel Ahn Sunghwan, vor dem Unglück Untermieter der Eltern, recherchiert, um nicht länger ein Möchtegern-Schriftsteller und Aus- hilfs-Angestellter zu sein. Aber er hängt zu sehr drin in dieser dunklen Geschichte, sie bleibt ein unabgeschlossenes Manuskript.

Von kleinen, zum Scheitern verurteilten Leben erzählt Jeong Yu-jeong. Als Sowons Eltern sich kennenlernen, ist Choi Hyunsu ein hoffnungs- voller Baseballspieler, ein Riese von einem Mann, dessen Ernsthaftigkeit die ehrgeizige Kang Unju genug beeindruckt, um ihn zu heira- ten. Dann sucht ihn „Herr Lahmarm“ heim, eine geheimnisvolle, plötzlich auftretende, plötzlich verschwindende Lähmung. Es ist das Aus für

6 / KULTUR KOREA die Sportlerkarriere; Choi wird „Sicherheitsmana- ger“ des Damms. Er fängt an zu saufen. Seine Frau zankt. Er verbringt die Abende noch seltener zu Hause.

Er setzt die Tragödie in Gang

Die schlimmere Familie aber wohnt nicht weit ent- fernt: Zahnarzt Yi Youngjae schlägt seine Ehefrau, misshandelt seine Tochter. Er setzt ihrer aller Tragö- die, auch die der Chois, in Gang, indem seine Frau, um ihr Leben fürchtend, vor ihm flieht - bis nach Frankreich. Indem seine Tochter, zurückgelassen, einmal mehr blutig geprügelt, in Panik in die Nacht läuft. Und von Choi Hyunsu überfahren wird. Und vom dann panischen „Sicherheitschef“ erstickt und in den Stausee geworfen wird.

Jeong Yu-jeong ist geschickt in der am Ende actionreichen Zuspitzung, aber auch stilsicher im seitenlangen Unspektakulären: Wenn sie den Mann beschreibt, der sich vor seinen Sauf-Kumpels blamiert fühlt. Die Frau, die - wenigstens das! - eine neue, größere Wohnung will. Wenn sie das misshan- delte Mädchen sich von einer Katze trösten lässt. Und den „Sohn des Stauseemonsters“, die elfjähri- ge Waise auf eine Reihe von Verwandten treffen, denen es peinlich ist, ihn zu beherbergen - und schon wird er unter einem Vorwand ausquartiert, weitergeschickt.

Auf dem Lageplan findet man diese Menschen nicht, aber wenn man zuletzt bei ihm angekommen ist, meint man, sie aus den Strichhäuschen gucken zu sehen.

Der Artikel erschien am 08.02.2016 in der Frankfurter Rundschau (Seite 23) © Alle Rechte vorbehalten. Frankfurter Rundschau GmbH, Frankfurt.

KULTUR KOREA / 7 © KL Management Die Autorin Jeong Yu-jeong

8 / KULTUR KOREA Originalsprache: Koreanisch Erstauflage: 2.9.2015 Auflage: 2 Jeong Yu-jeong Sieben Jahre Nacht Thriller Aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel Englische Broschur 528 Seiten ISBN-13: 978-3-293-00494-8 ISBN-10: 3-293-00494-6 Textauszug endet hier € [D] 19.95 / sFR 26.90 Unionsverlag

KULTUR KOREA / 9 LITERATUR UND SPRACHE

INDIVIDUALISTISCHES BEWUSSTSEIN UND GESCHICHTE Ein Gesprächsabend mit dem Schriftsteller Kim Young-ha Von Dr. Kai Köhler

(Foto rechts) Gespräch mit Kim Young-ha (Mitte li) im Literaturhaus Berlin am 13. Mai 2016. Podium: Katharina Borchardt, Literaturredakteurin bei SWR2 (Mitte), Richard Kämmerlings, Literaturchef Die Welt / Welt am Sonntag (re), Jun Jin-Man, Dolmetscher (li)

s ist schon schlimm genug, an Alzheimer zu erkranken. Literaturchef der Welt und der Welt am Sonntag, antwortete Wenn gleichzeitig ein Serienmörder die Gegend unsicher Kim auf Fragen von Katharina Borchardt, Literaturredakteurin Emacht und man es als Pflicht sieht, die Pflegetochter zu beim SWR2 und vielfach engagiert dafür, koreanische Literatur beschützen, so kompliziert dies die Lage weiter. Wenn man in Deutschland zu verbreiten. Anschließend diskutierte er mit aber dazu noch einst selbst jahrzehntelang als unentdeckter dem im Literaturhaus Berlin zahlreich erschienenen Publikum. Serienmörder sein Unwesen trieb und nun – wegen Alzheimer! – anhand von Notizen das eigene Alibi überprüfen muss, um Dabei ging es zunächst um die Rezeption koreanischer Litera- zu wissen, ob man nicht wieder mit dem Töten angefangen tur in Deutschland überhaupt und in diesem Zusammenhang hat: dann wird die Sache wirklich schwierig. um die Frage, ob staatliche Teilung und erlebte bzw. mögliche Vereinigung eine besondere Nähe bedeuten. Kim Young-ha „Das Gedächtnis eines Mörders“, der neueste Roman von Kim entzog sich dem Anspruch älterer Schriftsteller, mittels Leben Young-ha, ist auf Koreanisch 2013 erschienen und sein bisher und Werk geschichtliche Konflikte zu repräsentieren, zunächst erfolgreichstes Buch. Vieles daran ist charakteristisch für den anekdotisch: Bei seinem ersten Berlin-Besuch im Herbst 1992 Autor. Häufig zeigt er eine leichte Ironie: Dass da jemand habe er die wetterbedingt graue und abweisende Stadt vor- sich selber als Mörder verdächtigen muss, ist eine gelunge- zeitig verlassen. Mangelnde touristische Attraktion siegte über ne Pointe. Die meisten von Kims wichtigen Figuren sind in eine mögliche Neugier, Prozesse von Teilung und Wiederver- ungewöhnlichen sozialen Situationen. Sie erleben wenig an netzung im von der Geschichte geprägten Berlin zu beobach- menschlicher Nähe. Der Mörder, der nie gefasst wurde, darf ten – so kann man sich einerseits Probleme ersparen. nicht mit seinen größten Erfolgen prahlen und wird zudem durch seine fortschreitende Krankheit isoliert. Andere Werke Andererseits wurde im weiteren Gespräch deutlich, dass Kim Kim Young-has sind mit Auswanderern, Selbstmordassistenten Young-ha durchaus aufmerksam auf historische Konflikte und nordkoreanischen Spionen bevölkert. blickt. Nur haben die Schriftsteller der älteren Generation die entsprechenden Themen mit einem solchen Engagement be- Auf einer Berliner Veranstaltung des Koreanischen Kulturzen- arbeitet, dass ihre Nachfolger zu einem Neuansatz gezwungen trums gab der Autor Auskunft über den neuen Roman, der sind. Kim vermeidet keineswegs politische Themen: Die knapp derzeit verfilmt wird und deshalb in Deutschland vielleicht dreißigjährige Mordserie seines von Alzheimer geplagten eher auf der Kinoleinwand als durch eine Übersetzung das Protagonisten passt ungefähr in die Zeit der südkoreanischen Publikum erreicht. Moderiert von Richard Kämmerlings, Militärdiktaturen. Als Kolumnist der „New York Times“ kom-

10 / KULTUR KOREA mentiert Kim, der in den USA viel gelesen wird und seinerseits Erzählungen daraus, dass Kim aus der Perspektive von Figuren aus dem Amerikanischen übersetzt hat, aktuelle Entwicklun- erzählt, die zunächst sehr wenig über sich verraten. In „Herr gen in Südkorea. Nur musste er eben einen Neuansatz finden, Cho“ in dem Band „Ein seltsamer Verein“ ist die Titelfigur Kauf- der der zunehmenden Individualisierung entsprach. hausdetektiv und plaudert scheinbar offen über seine Tätig- keit; was er in seinem Job im eigenen Interesse an Geschäften Beispielhaft steht dafür der Titel seines ersten Romans, „Ich treibt, das können die Leser erst nach und nach herausfinden. habe das Recht, mich zu zerstören“, wobei die Provokation Solche Denkaufgaben halten das Interesse auch geübter Leser nicht gegen das christliche Verbot des Suizids gerichtet ist, wach, während die recht unkomplizierte Sprache – jedenfalls sondern gegen die konfuzianische Vorstellung, dass der in den deutschen Übersetzungen – erkennbar auf ein großes Körper von den Eltern geschaffen worden sei und deshalb den Publikum zielt. Eltern gehöre. Die Figuren von Kim Young-ha treten aus tradi- tionalen Bindungen heraus. Dies entlastet sie von Problemen, Die Qualität dieser Werke liegt nicht zuletzt darin, dass Kim die in den Werken älterer Autoren eine große Rolle spielen, Young-ha verschiedenen Erwartungen gerecht wird. Es gibt führt aber zu ganz neuen Problemen. zwar einerseits die großen politischen Themen, die auch die älteren Schriftsteller behandelt haben. Andererseits stellt Kim Gewinn ist aber zunächst eine ganz pragmatische Haltung modernes Großstadtleben vor, und er schreibt zumeist über zum Umgang mit Literatur. Für Diskussionen über die Schwie- Individualisten, die von traditionellen Moralvorstellungen rigkeit, deutschen Lesern koreanische Literatur nahezubrin- kaum mehr geprägt sind; Sex ist häufig Thema und wird – gen, interessierte sich Kim wenig. Ein Schriftsteller wende sich auch in ungewöhnlichen Erscheinungsweisen – weder verklärt ohnehin vor allem an ein muttersprachliches Publikum. Wenn noch denunziert, sondern sachlich wie alles andere festgehal- Leser von Übersetzungen gemäß ihren eigenen Interessen ten.

Fotos: Koreanisches Kulturzentrum Koreanisches Fotos: auswählten, so müsse man das akzeptieren: ein gewichtiges Plädoyer dafür, auf die Überzeugungskraft des literarisch Wert- Vielleicht fasst „Im Reich der Lichter“ die verschiedenen vollen zu vertrauen, statt nationalpädagogisch entschlossen Tendenzen bei Kim Young-ha am besten zusammen. Es geht einen vorhandenen Kanon zu verbreiten. Entsprechend glück- nicht nur um den Agenten Kim Giyoung, der plötzlich in den lich wirkte Kim Young-ha, wenn aus dem Publikum Fragen Norden zurückkehren soll, sondern auch um seine Familie. nach seiner Arbeitsweise gestellt wurden und er das Ineinan- Der Familienroman ist zwar in Korea ein häufiges Genre, mit der von Konzeption und Realisierung eines literarischen Werks dem historische Verläufe gezeigt werden. Doch ging es früher erklären konnte. darum, wie trotz aller Konflikte, wie bei allen Lügen und allem Unausgesprochenen die Verwandten unentrinnbar aneinan- Was nun aber ist deutschen Lesern von diesem bedeuten- der gebunden waren. Bei Kim Young-ha spielen innerhalb von den, im Süden Koreas wie international anerkannten Autor 24 Stunden der Entscheidung zwar Vater, Mutter und Tochter zugänglich? Die Übersetzungen sind leider vergriffen, doch ihre Rollen. Doch haben sie ganz unterschiedliche Probleme antiquarisch leicht zu bestellen. Von „Ich habe das Recht, mich zu lösen, die miteinander nicht verbunden sind: Der Vater weiß zu zerstören“, gab es unter dem Titel „Das Gottesspiel“ im Hey- nicht, ob er mit dem Befehl zur Rückkehr vor dem Geheim- ne Verlag eine Version, als „Der Sterbehelfer“ im konkursbuch dienst des Südens gerettet oder der Liquidierung als Abweich- Verlag eine andere. Heyne brachte unter dem Titel „Im Reich ler zugeführt werden soll. Die Mutter erlebt in einer außerehe- der Lichter“ die Geschichte eines nordkoreanischen Agenten lichen Beziehung eine erste Katastrophe des kommenden in Seoul heraus, der sich jahrelang von seinen Genossen ver- Alters, die Tochter ihren ersten Kuss, und beides ist sozial gessen wähnte, doch dann den Befehl zur Rückkehr in seine bestimmt. Die drei wohnen zusammen und haben nichts Heimat erhält. Im konkursbuch Verlag erschien neben einer Wichtiges gemeinsam. Auf manche Älteren mag dies asozial Sammlung von zehn Erzählungen unter dem Titel „Ein seltsa- wirken, es ist aber doch eine Aussage über die Gesellschaft. In mer Verein“ der Roman „Schwarze Blume“ über koreanische den besten Werken Kim Young-has ist das individualistische Auswanderer nach Mexiko. Bewusstsein vieler jüngerer Koreaner mit den politischen Kon- flikten, über die die Älteren schrieben, verbunden. Kims innerhalb der letzten zwanzig Jahre in Korea publiziertes, mit zahlreichen Preisen ausgezeichnetes Werk ist weitaus um- fassender. Doch erlauben auch die vier deutschsprachigen Bü- cher einen Blick auf charakteristische Züge des Schriftstellers. Zunächst fällt die Vielzahl ganz unterschiedlicher Themen in den Blick: Kim Young-ha nimmt kaum je das eigene Leben zum Foto: privat Foto: Stoff, sondern bewegt sich in unterschiedlichen Zeiten, auf unterschiedlichen Kontinenten und unter unterschiedlichen Dr. Kai Köhler, Literaturwissenschaftler und sozialen Gruppen. Spannung gewinnen besonders einige der » Publizist, lebt in Berlin.

KULTUR KOREA / 11 LITERATUR UND SPRACHE „ÜBERSETZEN IST EINE HOCHINTEGRATIVE DISZIPLIN“ Interview mit Dr. Albrecht Huwe, ehemaliger Leiter des Studiengangs „Koreanische Sprache und Translation“ an der Universität Bonn

Sie haben 2014 die „Kurze systematische Grammatik der kore- Welche allgemeinen Tipps würden Sie Koreanisch-Lernerinnen anischen Sprache“ veröffentlicht. Was ist die Besonderheit an und -Lernern an die Hand geben, die am Anfang ihres Sprach- dieser Publikation? erwerbs stehen?

„Kurz und systematisch“ stand als Leitgedanke für die Kompila- Bei all dem fleißigen Koreanisch-Lernen sollte man als erwach- tion: Die wesentlichen grammatischen Erscheinungen der ko- sener Lerner unbedingt nicht seine Muttersprache vernachläs- reanischen Sprache sollten prägnant in ihrem Zusammenhang sigen. Denn nur eine Horizonterweiterung in der Mutterspra- erklärt werden. Diese inhaltliche Vorgabe findet ihre Entspre- che ermöglicht eine solche in der Fremdsprache. chung in der äußeren Gestaltung: eine möglichst übersichtli- che, mit grafischen Elementen aufgelockerte Strukturierung Sie waren Leiter des in Europa einzigartigen Studiengangs „Ko- des Stoffes. Auffällig ist in diesem Zusammenhang eine bunte reanische Sprache und Translation“ an der Universität Bonn, Raupe, die leitmotivisch immer wieder abgebildet ist – eine der Ende 2015 mit Ihrer Pensionierung auslief. Wie machte Raupe in einem Grammatikbuch? Ihr Kopf und die zahlreichen sich der Schwerpunkt „Übersetzung“ in den Studieninhalten Körpersegmente sind ein gutes Anschauungsobjekt für das bemerkbar? koreanische Verb und das, für das Koreanische typische Prinzip der Agglutination: der Verbstamm mit seinen zahlreichen, Es war in der Tat ein einzigartiger Studiengang in Europa. in der Aneinanderreihungsfolge indessen unverrückbaren Denn es sind z.B. auch Studierende aus Russland nach Bonn Suffixen. gekommen, extra wegen der Möglichkeit, Übersetzen in dieser asiatischen Sprache studieren zu können. Welche „Mängel“ an bereits existierenden Lehrwerken haben Sie dazu veranlasst, eine eigene Grammatik der koreanischen Auch wenn man in einer Fremdsprache einige Fortschritte Sprache herauszubringen? gemacht hat, weiß man aus Erfahrung, dass man noch nicht in der Lage ist, unbedingt dolmetschen und übersetzen zu Von Mängeln möchte ich nicht sprechen, denn die perfekte können. Es bedarf erst einer besonderen Ausbildung, um sich Grammatik wird es schlicht nicht geben. Jede Grammatik setzt das einzigartige Beziehungsgeflecht zwischen den beiden ihre eigenen Schwerpunkte für eine bestimmte Zielgruppe. Sprachen, die integrativer Bestandteil ihrer Kulturen sind, So haben die Grammatiken etwa von Andre Eckardt1, Bruno bewusst zu machen. Lewin2, Kuh Kih-Seong3, Sohn Ho-Min4, mir sehr geholfen, die grammatikalischen Zusammenhänge des Koreanischen zu Übersetzen ist eine hochintegrative Disziplin, die unter Ein- verstehen und die Erkenntnisse nutzbringend im Unterricht beziehung von Theorie und Praxis in Verbindung mit allen Fä- anzuwenden. Die jahrzehntelange fremdsprachendidaktische chern denkbar ist. Übersetzen stellt auch eine hochkomplexe Herausforderung hat dann zu der Idee der „Kurzgrammatik“ Tätigkeit dar, die auf möglichst umfangreichen Sachkenntnis- geführt, den Studierenden auf noch einfacherem und schnel- sen sowie auf sprach-, text-, kommunikations-, kulturwissen- lerem Weg das grammatische System des Koreanischen zu schaftlichen u.a. Kenntnissen beruht. Dies alles war Gegen- erschließen. stand der theoretischen und praktischen Ausbildung.

Hinzu kommt die Lehrbuchsituation, die aus verschiedenen An Universitäten mit dem Schwerpunkt Koreanistik finden Gründen eigentlich nie voll befriedigend sein kann. Zumindest dagegen häufig Lektüre-Kurse statt. Auch hierbei wird – die vorhandenen, aus verschiedenen Lektionen aufgebauten landläufig formuliert – übersetzt. Aber dieses Übersetzen Lehrbücher für das Koreanische behandeln grammatische begnügt sich mit der Wiedergabe des Inhalts in der Zielspra- Phänomene sehr gestückelt. So wird der Durchblick erschwert. che im Rahmen des eigenen, individuellen Verstehens. Dieses Aber der Erwerb einer Fremdsprache gerade bei erwachse- ‚Lektüre-Übersetzen‘ hat mit dem eigentlichen Übersetzen nen Lernern, zu denen eben auch die Studierenden gehören, wenig gemein. Bei Letzterem wird der Ausgangstext über geschieht weniger über Nachahmung wie bei Kindern als über einen wissenschaftlich nachvollziehbaren, also objektivierba- das geistige Erfassen des grammatischen Systems. So stellt die ren Translationsprozess in den Zieltext überführt. Ausgehend „Kurzgrammatik“ ein ausgleichendes Gegengewicht dar zu der von externen und internen Textfaktoren, die den Ausgangstext gestückelten Präsentation der Grammatik durch die Lehrbü- charakterisieren, wird dieser Prozess vom Übersetzungsauftrag cher. gesteuert. Er führt den Übersetzer entweder in eine funktio-

12 / KULTUR KOREA mustern des Ausgangstexts grundsätzlich nicht.

Seit Ende 2015 sind Sie nun im Ruhestand. Wie nutzen Sie Ihre freie Zeit?

Die freie Zeit war und ist noch wesentlich bestimmt durch Kurze systematische die Betreuung laufender Bachelor-, Master- und Promotions- Grammatik der arbeiten. Das macht den Übergang nicht so abrupt und ist koreanischen Sprache obendrein sogar etwas tröstlich, da sich die Arbeiten meist mit Erscheinungsjahr: 2014 übersetzungswissenschaftlichen Problemen auseinanderset- Verfasser: Huwe, Albrecht 90 Seiten, zen. Format: 24 x 17 cm, Softcover (broschiertes Buch) Vernachlässigt habe ich bisher die Homepage für Andre ISBN: 9783931219512 Eckardt, dessen Nachlass ich verwalten darf. Es sollen dort Preis: 9,00 € auch für die Koreawissenschaften interessante Materialen zur E. Ferger Verlag Verfügung gestellt werden, etwa seine Dissertation über das Schulwesen Koreas. nale oder dokumentarische Übersetzungsrichtung (Überset- zungsstrategie). So können als Endprodukt zwei prinzipiell Stiefmütterlich habe ich auch ein Übersetzungsprojekt verschiedene Zieltexte entstehen. behandelt. Es handelt sich um einen historischen Roman des koreanischen Autors Park Bum-shin über die tragische Gestalt Wie sollte Ihrer Ansicht nach der Übersetzer/die Übersetzerin des koreanischen Kartografen Kim Cheong-ho. Wenn die Über- vorgehen, um einerseits die Eigenheiten der Ausgangssprache setzung fertiggestellt ist, werde ich weiterschauen. Ideen habe so weit wie möglich beizubehalten und andererseits ein mög- ich schon einige… lichst natürliches Ergebnis in der Zielsprache zu erreichen? Schließlich werde ich auch weiter meinem bibliothekarischen Das ist eine häufig gestellte Frage, mit deren Beantwortung Steckenpferd frönen: In Kürze wird der 1. Band der Kleinen man die sprichwörtlichen Bände füllen könnte. Sie erinnert an hippologischen Bibliografie erscheinen, der mit seinen ca. 550 die von Friedrich Schleiermacher (1768–1834) vor zweihundert Seiten Umfang eigentlich gar nicht so klein ist. Der 2. Band ist Jahren geprägte Übersetzungsmaxime, die die moderne Über- schon in Angriff genommen… setzungswissenschaft ungemein beflügelt hat: »Entweder der Uebersezer [sic!] läßt den Schriftsteller möglichst in Ruhe, und Das Interview führte Gesine Stoyke bewegt den Leser ihm entgegen; oder er läßt den Leser mög- Redaktion „Kultur Korea“ lichst in Ruhe und bewegt den Schriftsteller ihm entgegen.« 1 Allerdings vermag auch Schleiermacher, soweit ich den auch Andre Eckardt (1884-1974): Begründer der deutschen Koreanistik 2 heute noch anerkannten Platon-Übersetzer verstehe, die idea- Bruno Lewin (1924-2012): deutscher Japanologe, Koreanist und Linguist 3 le Übersetzung nicht wirklich zu benennen. Denn die kann es Kuh Kih-Seong (1931–2003): koreanischer Germanist, Begründer des Diplom-Übersetzerstudiengangs Koreanisch am Seminar für Orientalti- eigentlich nicht geben. Ein „Sprache-Kultur-Empfindungs-Sys- sche Sprachen, Bonn tem“ kann nicht eins zu eins durch ein anderes ersetzt werden. 4 Sohn Ho-Min: koreanischer Linguist, Hawaii Man spricht deswegen von prinzipieller Unübersetzbarkeit von Texten. Aber aus der Not lässt sich eine Tugend machen: Weitere Informationen zu der „Kurzen systematischen Grammatik der Man konzentriert sich auf bestimmte Teile, die einem wichtig koreanischen Sprache“ finden Sie auf der Website des E. Ferger Verlags: http://www.e-ferger-verlag.de/buchkatalog/koreanische-kurzgrammatik sind. Das heißt, man übersetzt, wie oben schon angedeutet, entweder dokumentarisch oder funktional. Beim dokumenta- rischen Übersetzen versucht man, bestimmte Phänomene der Dr. Albrecht Huwe (Jg. 1950) studierte Ko- Ausgangssprache mit Hilfe der Zielsprache wiederzugeben. » reanistik an den Universitäten München, Seoul Also beispielsweise typische Wortkombinationen, Kollokatio- und Bochum. Er betreute als Privatdozent an

nen oder die Satzstellung usw. usf. Das funktionale Übersetzen privat Foto: der Universität Bonn viele Jahre erfolgreich konzentriert sich auf die Kommunikationsfunktion eines Tex- den in Europa einzigartigen Studiengang tes, seine Wirkungsintention. Aber hier muss man aufpassen. „Übersetzen Koreanisch“ mit dem Abschluss Diplom, später Master. Ein Text kann in der Ausgangskultur zwar eine bestimmte Wir- Seine eigenständigen Forschungen zum koreanischen Hangeul-Al- phabet wurden mit einem koreanischen Orden honoriert. Für seine kung haben, muss es aber nicht automatisch in der Zielkultur. Verdienste um die deutsch-koreanischen Beziehungen erhielt er den Ein Beispiel dafür sind Witze. Beim funktionalen Übersetzen Mirok-Li-Preis. 2011 benannte ihn das Literature Translation Institute interessieren also etwa Fragen nach Wortstellungen, Satzbau-

© Albrecht Huwe, Veröffentlichung des Covers mit freundlicher Genehmigung des E. Ferger Verlags Ferger Genehmigung des E. mit freundlicher des Covers Veröffentlichung Huwe, Albrecht © (LTI) of Korea zum Übersetzer des Jahres.

KULTUR KOREA / 13 GESELLSCHAFT DER ISLAM IN KOREA DER HALBMOND ÜBER ITAEWON

Zentrale Moschee Seoul Foto: Set Byol Oh Set Byol Foto:

1965 waren es 3500, heute leben rund 200 000 Muslime in Südkorea. Das Zusammenleben gestaltet sich unproblematisch; indes trübt sich das Image der Muslime unter dem Eindruck der Terroranschläge ein.

Von Hoo Nam Seelmann

Heute schon ein Wintermärchen gelesen? Militär, das in der Nähe sein Hauptquartier hatte. Trotz der Gut sichtbar auf einer Anhöhe inmitten des alten Stadtviertels guten Lage und der Sanierungswut ist die Umgebung der Itaewon in Seoul steht die Hauptmoschee der Muslime Süd- Moschee noch unverändert geblieben. Wirr hängen die koreas. Die Moschee mit ihrer markanten Kuppel besitzt zwei Stromleitungen über den engen Gassen. Viele Migranten hohe, schlanke Minarette, und die gekachelte Außenfassade wohnen hier neben Studenten und Künstlern wegen der tiefen ist mit blauen geometrischen Mustern verziert, die typisch für Mieten. Heimisch sind auch zahlreiche Wahrsager und soziale die islamische Ornamentik sind. Nicht nur wegen der Größe, Randgruppen. Die blau leuchtende Moschee, die am 21. Mai sondern auch wegen des ungewöhnlichen Aussehens hebt 1976 mit viel Prominenz eingeweiht wurde, symbolisiert die sich der Bau von der Umgebung deutlich ab und zieht so wechselvolle Beziehung zwischen den muslimischen Ländern neugierige Blicke auf sich. und Korea. – Anders als der christliche Glaube, dessen Kunde Zur Moschee gehören zwei getrennte Gebetshallen für Män- schon im 18. Jahrhundert Korea erreichte, kam der Islam erst ner und Frauen und eine Schule, die «Prince Sultan Islamic im 20. Jahrhundert ins Land. Es gibt vereinzelt Berichte in den School – Seoul» heißt. Kinder muslimischer Eltern erhalten hier alten Hofchroniken, die von arabischen Händlern erzählen. Koranunterricht. Angegliedert ist ebenso das islamische Kul- Aber solche Begegnungen haben kaum Spuren hinterlassen. turzentrum. In den angrenzenden Straßen und Gassen haben Der erste Koreaner, der den Islam annahm, tat dies 1932. Korea sich Halal-Supermärkte, Restaurants für Muslime, türkische war damals eine Kolonie Japans, und einige hundert Personen Kebab-Läden, islamische Buchhandlungen und Reisebüros, von islamischen Turkvölkern, die in der Mandschurei lebten, welche den Hajj, die Pilgerfahrt nach Mekka, anbieten, einge- siedelten sich mit Duldung Japans in Korea an. richtet. Der koreanische Muslim nannte sich Shamil Park und starb 2005 in der Türkei. Da die Muslime nach der Befreiung Koreas Die Türken im Koreakrieg von Japan 1945 das Land verließen, verlor sich die Spur des Islam wieder. Es waren türkische Soldaten, die als Teil der Itaewon gilt als das älteste Ausländerviertel in Seoul. Begon- Uno-Truppen am Koreakrieg teilnahmen, die 1950 den Islam nen hat es nach dem Koreakrieg mit dem amerikanischen erneut nach Korea brachten. Die Türken unterhielten Wai-

14 / KULTUR KOREA senheime und engagierten sich im zerstörten Südkorea, um So sind neben dem heimischen Buddhismus unzählige andere Menschen zu helfen. Wenn auch die Wirkung der türkischen Glaubensrichtungen vertreten. Die Muslime bilden einen Teil Missionierung begrenzt blieb, nahmen einige Koreaner, die dieser Vielfalt und leben, ohne viel Konflikte zu erzeugen. Erst später eine wichtige Rolle spielten, den Islam an. Immerhin ka- der Terroranschlag in New York ließ die Koreaner zum ersten men 1955 70 koreanische Muslime zusammen, um den Verein Mal erschrocken auf die Muslime blicken. Denn Amerika ist für koreanische Muslime zu gründen. Zehn Jahre später zählte ein enger Verbündeter, und die größte koreanische Minder- man rund 3500 Muslime in Korea. heit lebt dort. Seitdem wird in den Medien häufig über die Erst mit der wirtschaftlichen Verflechtung entstand eine rich- Konflikte im Nahen Osten berichtet. Dabei gibt man meist den tige Beziehung zu den islamischen Ländern, und zwar Ende Blickwinkel des Westens ungefiltert wieder, so dass das Image der sechziger Jahre, als koreanische Firmen Bauaufträge für die der Muslime zunehmend negativ gefärbt wird. reichen Staaten im Nahen Osten ausführten. In den folgenden Da heute überall koreanische Touristen unterwegs sind, ist die Jahrzehnten arbeiteten annähernd zwei Millionen Koreaner mögliche Terrorgefahr auch ein wichtiges Thema in der Politik vorübergehend dort, um fürs Vaterland Devisen zu verdienen. und den Medien. 2015 war viel von einem 18-jährigen Kore- Denn Korea war arm und abhängig vom Öl. Präsident Park aner die Rede, der im Januar auf der Türkeireise verschwand Jung Hee bemühte sich um gute Beziehungen zu den islami- und sich als Dschihadist dem IS in Syrien angeschlossen schen Ländern. Dieses Ziel im Auge, stellte die Regierung das haben soll. Die Umstände seines Verschwindens sind völlig Grundstück für einen Moscheebau zur Verfügung. Saudi-Ara- unklar, und er gilt heute als verschollen. Aber das Problem bien und andere islamische Länder finanzierten den Bau, der des islamischen Terrors wird in Korea insgesamt als das eines heute als Hauptmoschee für die Muslime in Korea dient. Kulturkampfes zwischen den muslimischen Ländern und dem Die Situation änderte sich jedoch Ende der neunziger Jahre, als Westen angesehen. Die derzeitige Flüchtlingskrise in Europa in das nun entwickelte Korea Arbeiter aus den muslimischen bleibt so auch ein fernes Ereignis. Ländern einzuwandern begannen. Sie kamen aus Pakistan, Bangladesch, Sri Lanka, Indonesien, Ägypten, dem Irak, Widerstand formiert sich Tadschikistan und Turkmenistan. Meist sind sie in der Land- wirtschaft und in Industriebereichen beschäftigt, in denen Gegen die Muslime stellen sich in Korea nur manche protes- Koreaner nicht mehr arbeiten wollen. Durch Eheschließung tantische Gruppen, die vor der «Islamisierung Koreas» warnen. hat die Zahl der Muslime zusätzlich zugenommen. Heute So besitzt The Council of Presbyterian Churches in Korea eine leben 143 500 eingewanderte Muslime in Korea, die ungefähr Abteilung, die Islamkritiker schult. Sie sollen auf die Gefahren 10 Prozent der Migranten ausmachen. Zählt man noch illegale des Islam hinweisen. Dabei unterhalten diese Kirchen selber Migranten und die etwa 35 000 koreanischen Muslime dazu, ein eigenes Missionszentrum für Muslime. Gegenwärtig ver- sind es insgesamt rund 200 000 Personen, die sich zum Islam suchen diese Gruppen, ein Regierungsvorhaben zu verhin- bekennen. Das neue Wort «Koslim» zeigt, dass die Muslime dern: Im Süden Koreas will die Regierung ein «Food-Cluster» inzwischen in Korea angekommen sind, wenn sie auch eine errichten, zu dem auch ein Halal-Food-Zentrum gehören soll. randständige Minderheit bilden. Da heute bereits einige koreanische Unternehmen Lebensmit- Da historisch unbelastet, ist Koreas Image in den muslimi- tel in die muslimischen Länder exportieren, will die Regierung schen Ländern positiv besetzt, auch dank «Hallyu», der Welle hier Investitionen fördern. Nun machen Christen mobil dage- koreanischer Populärkultur, die seit einiger Zeit um den Globus gen. Die Gefahr bestehe, dass sich ein Ghetto bilde und Terro- schwappt. Koreanische Pop-Gruppen, Filme und Fernsehdra- risten sich da einnisteten. Die Regierung widerspricht dem und men sind in der islamischen Welt populär. Viele Studenten sagt, es sei nicht notwendig, dass Muslime dort arbeiteten. kommen nach Korea, um zu studieren. Umgekehrt kann man 2015 hat sich die Türkei bereit erklärt, eine neue, größere an den Universitäten und Schulen in Korea Arabisch lernen, Moschee an der Stelle der jetzigen zu bauen. Diese Nachricht das seit 2004 als zweite Fremdsprache anerkannt ist. wurde in Südkorea positiv aufgenommen, aber angesichts der Korea bemüht sich zudem sehr um die muslimischen Touris- Turbulenzen in der Türkei bleibt abzuwarten, ob das Verspre- ten. So gibt es in Korea 140 Halal-Restaurants. Viele Tophotels chen eingehalten werden wird. bieten neben Halal-Menus Gebetsteppiche und Kompass (Mekka!) an. Um Medizin-Touristen anzuwerben, unterhalten Dieser Artikel ist am 09.02.2016 in der NZZ Online erschienen. große Universitäts- und Privatkliniken einen eigenen Gebets- raum. 2013 kamen 624 000 muslimische Touristen nach Korea, Dr. Hoo Nam Seelmann ist Publizis- und die Zahl steigt stetig an. Koreanische Unternehmen haben » tin, Autorin und Übersetzerin und lebt auch längst die Muslime als Konsumenten entdeckt und in Riehen bei Basel (Schweiz). Seit 1997 führen spezielle Produkte wie Smartphones mit eingebautem schreibt sie für die Neue Zürcher Zeitung

Kompass und Waschmaschinen mit Extra-Schonwaschgang für privat Foto: (NZZ) über Korea. 2011 veröffentlichte sie Hijabs im Sortiment. einen historischen Roman mit dem Titel Korea gilt in Bezug auf die Religion als ein sehr tolerantes Land. „Lautloses Weinen. Der Untergang des koreanischen Königshauses“.

KULTUR KOREA / 15 GESELLSCHAFT

Tatsächlich ist es in den Bergen von Seoul wie dem Bukhansan RAUS UND AB INS sofort luftiger und angenehmer, ganz zu schweigen von den Bergen außerhalb der Hauptstadt, wo die Luft deutlich unbelasteter ist. Dort lässt man sich gern zu einem Picknick KÜHLE NASS!!! am Bergbach nieder oder schlägt sein Zelt auf. Es ist eine der Von Anneliese Stern-Ko angenehmsten Arten, der Hauptstadthitze zu entfliehen: Die Bäume bieten Schatten, die kühlen Bergbäche laden zum Planschen ein und sind manchmal sogar breit und tief genug, um ein paar Züge zu schwimmen. Ideal für Kinder und Erwachsene, die meist in der Unterhose (nur die Kleinkinder!) oder in Shorts und T-Shirt ins Wasser steigen. In Korea gibt es für solche Berg-Abkühltouren auch wunderbare Wassersan- dalen aus Riemengeflecht mit dicken, rutschfesten Sohlen, so dass man den Berg hochkommt und im Bach mit seinem meist steinigen Bett sicheren Stand hat. Bei solchen Ausflügen wird dann die im Bergwasser gekühlte Wassermelone geges- sen, gesungen, gespielt und erzählt, denn die Koreaner sind ausgeprägte Gemeinschaftswesen, die solche Aktionen bevor- zugt im größeren Familien- oder Freundeskreis unternehmen. An hochsommerliche Ausflüge zu den Bergbächen habe ich nur die besten Erinnerungen, lediglich etwas getrübt durch die Tatsache, dass sich niemand mit Moskitoschutz einzurei- ben braucht, solange ich mit von der Partie bin. Koreanische Moskitos scheinen die in Korea für westliche Augen allgemein verbreitete Vorliebe für Importiertes zu teilen...

Wer nun weder in die Sauna, ans Meer oder in die Bergbäche Abkühlung von der Hitze an den Surak-Wasserfällen in Gurye, Jeollanam-do möchte oder kann, dem steht zum Abkühlen natürlich auch ... würde ich jetzt liebend gern machen, anstatt nur darüber zu noch das Schwimmbad offen. Heutzutage jedenfalls. Als ich schreiben. Denn der koreanische Sommer hat mich Ende Juli, 1985 nach Korea kam, war auffallend, dass es kaum öffentliche Anfang August nach der Regenzeit mit 85% Luftfeuchtigkeit Schwimmbäder gab, v.a. kaum Freibäder. Normalsterblichen voll im Griff.1 Ich dachte, es wären „gefühlte 85% Luftfeuch- zugängliche Hallenbäder - also ohne teure Jahresmitglied- tigkeit“, und ein Blick auf die Wetteramt-Webseite, die die schaften -, gab es schon, aber selbst in Seoul musste und muss Tageswerte in Drei-Stunden-Intervallen festhält, zeigt, dass man noch je nach Wohnbezirk oft längere Anfahrtzeiten in mein „körpereigenes Thermometer“ ziemlich gut funktio- Kauf nehmen. Und man muss wissen, zu welchen Zeiten die niert. Dazu ist der Himmel grau verhangen, es weht kaum Becken von Schwimmklassen besetzt bzw. für den allgemei- ein Lüftchen, sodass unwillkürlich Assoziationen mit dünner nen Publikumsverkehr offen sind.

Erbsensuppe aufkommen. Der tröstliche Gedanke, dass dieses Organization Tourism Korea Foto: Wetter super-faltenglättend ist, hebt nur bedingt die Laune. Öffentliche Freibäder waren in den 1980er, Anfang der 1990er Die Metropole Seoul mit ihren 10 Mio. Einwohnern hat mich Jahre in Seoul noch eine ziemliche Seltenheit, da solche gewissermaßen physisch und psychisch im Schwitzkasten. Freizeitangebote einen gewissen Entwicklungsstand des RAUS heißt die Devise! Landes voraussetzen. Hinzu kommt, dass die Freibäder nur von Ende Juni bis Ende August aufhaben, obwohl tempe- Für mich persönlich wäre es „raus aus der Hochhauswohnung raturmäßig Freibadbesuche auch schon im Mai bzw. noch und rein in die Sauna“, frei nach dem Motto „Hitze mit Hitze im September möglich wären. Grund sind die Schulferien, bekämpfen“, was ja ein sehr koreanisches Motto ist, denn an außerhalb derer sich das Öffnen schlichtweg nicht lohnt. den heißesten Tagen des Jahres wird traditionell Samgyetang Ende der 1990er Jahre begann die Seouler Stadtverwaltung serviert, Hühnchen in heißer Kraftbrühe, gefüllt mit Klebreis, dann, Freibäder entlang des Han-Flusses anzulegen. Derzeit Ginseng, Jujuben, Knoblauch und anderen aufpäppelnden gibt es sechs davon, die Eintrittspreise liegen bei knapp 4€ Zutaten. für Erwachsene, 3,10€ für Jugendliche (13-18 Jahre), 2,30€ für Kinder (6-12 Jahre). Daneben gibt es noch die Nanji Riverside Die meisten sagen aber: „Raus aus Seoul, rein in die Berge Swimming Area, ein Parkgelände mit sieben Schwimmbecken zu einem Tagesausflug oder ans Meer“, wo es einem dann und Wasserfontänen, in denen man sich auch in normaler hoffentlich gelingt, ein paar Quadratmeter Sandstrand und Kleidung im kühlenden Nass vergnügen kann. ein paar Quadratmeter Wasser für sich und seine Mitschwit- zenden zu okkupieren. Ich selber bevorzuge die Berge, weil sie Dass die öffentlichen Freibäder im Sommer total überfüllt meist etwas menschenleerer sind als die Strände... und näher. sind, braucht wohl nicht extra erwähnt zu werden. Nichtsdes- totrotz wäre ich in den 1990er Jahren, als unsere Tochter klein

16 / KULTUR KOREA 1 Der Text entstand im Sommer 2015. war, über ein solches Angebot ganz in meiner Nähe froh ge- Weltmeister über 400m Freistil (2007, 2011) und Olympiasie- wesen, Gewimmel hin oder her. Die einzige Alternative waren ger über 400m Freistil (2008) von sich reden macht, sicher- die frei zugänglichen Hotel-Freibäder, von denen es meines lich besser noch als in den 1990er Jahren. Tatsächlich ist mir Wissens damals nur zwei gab: die Freibadanlage am Sheraton damals bei Schwimmbadbesuchen immer wieder aufgefallen, Walker Hill Hotel und das Freibad am Tower Hotel. Für die dass viele Koreaner nicht schwimmen konnten und nur zum anderen Hotels wie das bei den deutschen Expats wegen sei- Abkühlen ins seichte Wasser gingen, oft in T-Shirt und Shorts. ner Nähe zur Deutschen Schule beliebte Hyatt brauchte man Das hat wohl damit zu tun, dass die damaligen Erwachse- Mitgliedschaften, die Zehntausende von Euro kosteten, oder nen in den Zeiten der raschen Wirtschaftsentwicklung der die Einladung eines Mitgliedschafts-Inhabers. 1960er/70er Jahre heranwuchsen, in der Schwimmbäder Seltenheitswert hatten und ein zeitlicher und finanzieller Doch zurück zu den öffentlich zugänglichen Hotel-Freibädern. Luxus waren. Meine Erinnerung ans Sheraton-Freibad besteht v.a. aus „Ge- dränge wie beim Schlussverkauf“, sowohl im Wasser als auch Heute sieht das ganz anders aus. Auch wenn das Schwimmen im betonierten Bereich an den Pools, wo fleißig gepicknickt nicht die Liste der beliebtesten Sportarten anführt und es wurde. Bei einem meiner Besuche kam es zu einem Unfall, nach meinen Recherchen nicht mal unter die beliebtesten 15 bei dem ein Student ums Leben kam. Die Bademeister vom schafft, so hat es sich mittlerweile doch einen festen Platz als Dienst hatten wohl wegen der Geräuschkulisse und der vielen gesunde Sportart zum Fithalten erobert. Es ist v.a. beliebt bei Menschen am und im Becken zu spät bemerkt, dass jemand älteren Frauen, die Zeit und Geld genug haben, um regelmä- Hilfe brauchte. ßig Schwimmkurse zu belegen. Schwimmen wird - wie viele andere Sportarten auch - in Korea v.a. in der Gruppe und An das Freibad am Tower Hotel wiederum erinnere ich mich damit unter dem festen Regime eines Trainers betrieben, was deshalb lebhaft, weil es MICH da fast erwischt hätte. Meine automatisch für regelmäßiges Trainieren sorgt. Tochter spielte mit ihrer Lieblings-Großcousine am Becken- rand, was ich ausnutzte, um im Schwimmerbecken einige Schwimmunterricht ist nicht Bestandteil des koreanischen Runden zu drehen, wobei ich keine besonders gute Schwim- Schulcurriculums, aber insbesondere Privatschulen verfü- merin bin und schon gar keine Rettungsschwimmerin. Unter- gen manchmal über eigene Hallenbäder. Ansonsten gehört gehen tue ich aber auch nicht, zumindest nicht, solange mich Schwimmen zum Angebot vieler Hakwon (학원), also der nicht jemand von hinten in Panik an der Gurgel packt. Und privaten Paukinstitute, deren Programm neben den klassi- genau das passierte. Ein junger Mann, der wohl einen Krampf schen Schulfächern auch Sport umfasst. Kulturzentren bieten hatte, sah in mir seinen Rettungsanker und zog mich in die ebenfalls oft Schwimmkurse an. Tiefe. Dass die Geschichte gut ausging, war wohl nur meiner Geistesgegenwart zu verdanken, es mit „Help!“ zu probieren, Geht es jedoch nur ums Abkühlen in der Sommerhitze, so nachdem seltsamerweise niemand auf meine koreanischen sind auch die flachen Becken entlang des Han-Ufers und Hilferufe reagiert hatte. Vielleicht ging das Koreanische im am Gwanghwamun Plaza zu nennen, die Alt und Jung zum 99,9% koreanischen Umfeld einfach unter, es sei denn, es lag Planschen einladen. Nicht zu vergessen das jährliche City Slide an meiner Aussprache... Festa, das 2015 am 18./19. Juli stattfand und für das die Stadt Beide Vorkommnisse lassen die Frage aufkommen, wie es um Seoul im Univiertel Sinchon eine 350m lange Wasserrutsche die Schwimmkünste der Koreaner bestellt ist. Heutzutage, wo installierte. Foto: Jeon Han, Fotograf Korea.net Fotograf Han, Jeon Foto: der Südkoreaner Park Tae-hwan (geb. 1989) als zweifacher Hauptsache Wasser!

Anneliese Stern-Ko »ist verheiratet mit einem Koreaner und wohnt Foto: privat Foto: seit 1985 in Seoul. Sie ist Lektorin an der Graduate School of Interpretation and Translation der Hankuk University of Foreign Studies und übt verschiedene freiberufliche Tätigkeiten aus: Lehrbuch- und Wörter- buchentwicklung für DaF, Mitarbeit bei EBS-TV und EBS-Radio, KBS World Radio und der Vierteljahreszeitschrift KOREANA. Yeouido, Seoul: Freibad im Hangang Riverside Park KULTUR KOREA / 17 GESELLSCHAFT

DAS ECOMOBILITY WORLD FESTIVAL IN SUWON Interview mit Konrad Otto-Zimmermann, Ideengeber und Initiator des Festivals

2015 erschien der Band „Neighborhood in Motion: One Neigh- vision gelten kann? Hier und da gibt es gute Teilbeispiele; es borhood, One Month, No Cars“ von Konrad Otto-Zimmermann gibt örtliche Pilotprojekte, aber auch Computersimulationen. und Yeonhee Park über die Erfahrungen mit dem EcoMobility Das Besondere an unserem Projekt ist, dass echte Menschen World Festival 2013 in Suwon, Korea, bei dem die Menschen des in einem echten Stadtquartier in Echtzeit einen Monat lang Stadtteils Haenggung-dong einen Monat lang das autofreie autofrei und ökomobil leben. Nur so können Bilder von der Leben erprobten. Konrad Otto-Zimmermann erklärte sich freund- Zukunftsvision entstehen, die authentisch und kraftvoll sind. licherweise zu einem Interview darüber bereit. Gleichzeitig lernen die Stadtbewohner mit einem neuen Le- bensstil umzugehen, und darüber berichten wir, um anderen Herr Otto-Zimmermann, seit Jahren werben Sie für eine auto- Mut zu machen. freie, ökomobile Stadt. Welchen Beitrag kann das EcoMobility World Festival auf dem Weg zu einer solchen Stadt leisten? 4300 Bewohner des Stadtteils Haenggung-dong in der südko- reanischen Stadt Suwon haben 2013 im Rahmen des ersten Zahllose Menschen in Städten weltweit, Stadtpolitiker und EcoMobility World Festivals einen Monat lang ohne Auto –planer, aber auch breite Expertenkreise, streben eine Stadt gelebt. Warum wurde gerade dieser Ort für das Experiment an, die weniger vom Autoverkehr gequält wird und in der ausgewählt? die Straßenräume nicht mehr reine Verkehrskanäle, sondern Lebensräume für vielfältige soziale Nutzungen sind. Kann man Bürgermeister Yeom Tae-young hatte verschiedene Stadtbe- irgendwo eine autofreie, ökomobile Stadt sehen, die als Ziel- zirke dazu eingeladen, sich für das Festival zu bewerben. Fotos: Suwon, ICLEI Suwon, Fotos:

18 / KULTUR KOREA Haenggung-dong wurde ausgewählt, weil dieses Alt- tiers einen Monat lang ein „autofreies Leben“ inszeniert. stadt-Quartier ohnehin zur behutsamen Stadterneuerung anstand und das Festival als guter Auftakt hierfür erschien. Welche Voraussetzungen mussten geschaffen werden, um das Experiment durchführen zu können? Vor dem Festival protestierten viele Bewohner entschieden gegen die autofreie Zeit in ihrem Quartier. Wie gelang es, die Die Stadtverwaltung plante die Schließung des gesamten Menschen für das Projekt zu begeistern? Quartiers für den Autoverkehr. Also mussten Straßenumbau- pläne sowie Verkehrslenkungspläne für den Verkehrsfluss Es war möglich, die Mehrheit der Bewohner für eine bessere rund ums Festival-Gebiet erarbeitet werden. Andere Behör- Zukunft zu begeistern. Es kostete enorme Mühe, Zweifler und den, insbesondere die staatliche Polizeibehörde, mussten Nörgler zum Mitmachen zu motivieren. Und es war fast un- gewonnen werden. Die dauerhaften Umbauarbeiten und die möglich, einen kleinen Kern harter und fast militanter Gegner einmaligen Festivalaktivitäten erforderten ein beträchtliches anzusprechen. Die Stadt Suwon führte eine Bürgerbeteiligung Budget; dies aufzustellen und im städtischen Haushalt zu ver- mit bis dahin unbekannter Intensität durch. Ein Drittel der Be- ankern, war eine andere wesentliche Voraussetzung für eine wohner organisierte sich in einem Festival-Unterstützungsver- erfolgreiche Durchführung. ein. Es gab eine Unterrichtung und Befragung aller Haushalte, Bürgerversammlungen, Stadtteilzeitungen; die Stadt stellte Wie wirkte sich die Umsetzung der autofreien Stadt auf das dem Bürgerverein einen Quartiersladen zur Verfügung und praktische Leben der Bewohner aus? zog mit ihrem Festival-Organisationsteam selbst ins Quartier. Die 4300 Bewohner parkten ihre 1500 Autos auf speziellen Wie bereits oben erwähnt, stand Suwons Bürgermeister Yeom Ersatzparkflächen außerhalb des Quartiers. Sie konnten ihr Tae-young dem Projekt positiv gegenüber. Auto in fünf bis zehn Minuten zu Fuß erreichen. Insofern war das Festival eine künstliche Inszenierung, vergleichbar mit Bürgermeister Yeom ist ein modernes, aufgeschlossenes, einem Theaterstück: Verlässt man das Theater, so steht man bürgernahes Stadtoberhaupt. Ich erzählte ihm einmal bei wieder im gewöhnlichen Leben. – Die Stadtverwaltung hatte einem Mittagessen von meiner Idee und dem Konzept des allen Bürgern, die auf ihr Auto verzichteten, ein Fahrrad als EcoMobility World Festivals. Er hörte aufmerksam zu, beriet Ersatzfahrzeug versprochen. Zur Beförderung älterer Men- sich mit den Verantwortungsträgern seiner Stadt, und als wir schen, Behinderter und von Geschäftsleuten mit ihren Waren uns wieder einmal trafen, sagte er: „Wir machen das in unserer hatte die Stadtverwaltung einen Shuttledienst mit kleinen Stadt.“ Das war eine mutige Entscheidung, denn kein Bürger- Elektrofahrzeugen eingerichtet. Die EcoMobility-Ausstellung meister in der Welt hat je mit den Bewohnern eines Stadtquar- mit Testparcours ermöglichte es Bewohnern und Besuchern,

Impressionen vom EcoMobility World Festival in Suwon, Korea

Konrad Otto-Zimmermann (2.v.r.) mit dem Bürger- meister von Suwon, Yeom Tae-young (3.v.r.), und Park Yeonhee (1.v.r.), Direktorin von ICLEIs Korea-Büro.

KULTUR KOREA / 19 innovative, per Pedal oder elektrisch angetriebene Fahrzeuge Der Verzicht aufs Auto kann sicher einen Zuwachs an Lebens- zu erproben. Wir machten aber auch die Beobachtung, dass qualität bedeuten, aber wie realistisch ist die dauerhafte die Bewohner es sehr genossen, auf den autofreien, ruhigen Umsetzung einer autofreien Stadt im Alltag? und sicheren Straßen zu Fuß zu gehen. So realistisch, wie wir unsere Realität gestalten. Leider Im Rahmen des Projekts hatten die Bewohner Haeng- orientieren sich Menschen gern rückwärts nach dem ihnen gung-dongs die Möglichkeit, einzelne Straßen ihres Viertels Bekannten, weil ihnen die Vorstellungskraft fehlt und sie die neu zu gestalten. Welche Konzepte haben sie vorgelegt, und Risiken einer innovativen Zukunft scheuen. Auch wenn viele welche Aspekte waren ihnen bei der Umgestaltung besonders über das Auto klagen, so können sie sich ein autofreies Leben wichtig? schwer vorstellen. Die Bewohner Haenggung-dongs haben nun die Alternative einen Monat lang durchleben können. Die Stadtverwaltung machte den Bewohnern Vorschläge für Aber für eine autofreie Zukunft zu kämpfen, ist schwer. Die eine verkehrsberuhigte Umgestaltung des Quartiers und sei- Menschen ohne Auto (faktisch die Mehrheit), die Älteren, Kin- ner Straßenräume. Entsprechend den Präferenzen der Bürger der, Behinderten und alle, die aus Gründen einer nachhaltigen wurden Elektroleitungen in die Erde verlegt, Fahrbahnen ver- Lebensweise auf ein Auto verzichten, werden als Schwächere engt und Gehwege verbreitert, Bäume gepflanzt, Miniparks im Straßenraum buchstäblich an den Rand gedrängt. Ihnen auf Restflächen angelegt. Die Gassen und Straßen wurden neu zu ihrem Recht, zu ihrer Entfaltung, zu ihrem Straßenraum zu gepflastert. Künstler wurden dabei unterstützt, die Gassen verhelfen, ist die Aufgabe einer mutigen Kommunalpolitik der alten Stadt durch Wandmalereien zu verschönern. Und und starken Stadtführung. während des Festivals belebten die Kunst- und Kulturschaf- fenden die Straßen und Plätze mit Konzerten, Vorführungen Das Interview führte Gesine Stoyke und Straßentheater. Redaktion „Kultur Korea“

Wie war das Resümee der Bewohner nach Beendigung des Festivals?

Die Mehrzahl der Bewohner wünschte sich eine Beibehaltung des autofreien Quartiers. Es gab Tränen, als die SUVs unerbitt- lich in die engen Gassen zurückrollten. Diese Menschen waren dankbar, dass sie eine andere Zukunft erleben durften und das vorher Unvorstellbare zur Realität werden sahen – wenn auch nur temporär. Die kleine Minderheit der Verdrießlichen und Projektgegner war froh, dass der Spuk vorbei war. In Run- de-Tisch-Sitzungen äußerten die Bewohner mehrheitlich den Wunsch, dass das Quartier verkehrsberuhigt bleiben möge. Ihrer Bitte entsprechend richtete die Stadt eine flächende- ckende Geschwindigkeitsbeschränkung auf 30 km/h sowie Parkbeschränkungen entlang der Hauptgeschäftsstraße ein.

Sie sind eben schon auf einen Punkt eingegangen. Wie sieht das Leben in Haenggung-dong heute aus, rund 3 Jahre nach Durchführung des Experiments?

Das Gebiet ist verkehrsberuhigt und damit ein Vorbild für andere Quartiere der Stadt. Die Geschwindigkeitsbegrenzung hat den Durchgangsverkehr spürbar reduziert. Das Parkverbot entlang der Hauptgeschäftsstraße hat enorm zu einer Beru- higung beigetragen, denn die Leute können nicht mehr mit dem Auto direkt vor der Ladentür parken; kurze Wege werden nicht mehr mit dem Wagen zurückgelegt. Die umgestalteten Hauptstraßen mit breiteren Gehwegen unter Bäumen machen das Flanieren attraktiv. Was geblieben ist, mag im interna- Konrad Otto-Zimmermann ist Kreativdirektor bei „The tionalen Vergleich ein kleiner Schritt sein. In der Realität korea- » Urban Idea“, Freiburg im Breisgau. Bis Ende 2012 bekleidete er nischer Stadt- und Verkehrsplanung war das Festival und sind das Amt des Generalsekretärs des Weltstädteverbandes ICLEI dessen Hinterlassenschaften sensationelle Schritte vorwärts. mit Sitz in Toronto und seit 2010 in Bonn. Heute befasst er sich als Chairman, ICLEI Urban Agendas, ehrenamtlich mit der strate- gischen Programmentwicklung. Darüber hinaus war er Initiator und Kreativdirektor der EcoMobility World Festivals 2013 in Suwon, Südkorea, und 2015 in Johannesburg, Südafrika. Foto: Barbara Breitsprecher Foto:

20 / KULTUR KOREA GESELLSCHAFT

MIT DEM VELO ÜBER STADT UND LAND ANS MEER Unterwegs mit dem Fahrrad in Südkorea 1 Radweg am Meer im Hallyeohaesang-Nationalpark

Von Wolfram van Stephold

Wer heute in eine südkoreanische Großstadt kommt, wird förmlich von dem überall pulsierenden, motorisierten Straßenverkehr überwältigt. Während mei- ner ersten Reise nach Seoul Mitte der 1990er Jahre fiel mir bereits auf, dass Au- tos, Busse, Lastwagen und unzählige Mopeds den ebenerdigen Straßenverlauf vollständig für sich beanspruchen, während die Fußgänger besonders während der Rush Hour in den Untergrund strömen. Dieser bietet allerdings vor allem bei schlechtem Wetter hervorragende Shopping- und auch Restaurant-Möglichkei- ten und darüber hinaus den Anschluss an das bestens aufgestellte öffentliche Nahverkehrsnetz. Radwege und Fahrradfahrer habe ich damals nicht gesehen.

Kaum vorstellbar, dass sich auf den viel befahrenen Straßen Radfahrer sicher 2 Schotterstrecke auf Imjado, Sinan-gun, Jeollanamdo fortbewegen, geschweige denn wohlfühlen könnten, bei all dem Verkehr, dem Lärm und Gestank und dem berüchtigten rücksichtslosen Fahrstil koreanischer Auto-, Lastwagen- und Busfahrer. Keine Fahrradklingel könnte so laut sein, um in diesem Hupkonzert auch nur annähernd mithalten zu können, und keine Sig- nalkleidung so auffallend, um sich von dem ohnehin schon bunten Straßenbild verkehrssicher abheben zu können.

Doch die Dinge haben sich gewandelt, wie ich im Laufe meiner letzten Reisen erfahren durfte. Gefördert wird diese streckenweise rasante Entwicklung von den Trägern der ehrgeizigen lokalen und überregionalen Stadtentwicklungs- und Infrastrukturprogramme.

Unterwegs in den Städten: So konnte ich während meiner letzten Reise die Stadt Mokpo an der Südküste in der Provinz Jeollanamdo mit allen Sehenswür- digkeiten fast ausschließlich mit dem Rad erkunden. Möglich ist dies, weil im neueren Teil des Stadtzentrums Sang-dong beginnend etwa hinter dem Haupt- bahnhof bis Samhakdo Fahrradwege entlang einiger Hauptverkehrsachsen und 3 Unterwegs in Gimhae auf den Spuren der Kaya auch am Meer angelegt wurden. In den abzweigenden kleineren Straßen ist man mit dem Fahrrad sowieso schneller unterwegs, sodass sich aus dieser Kom- bination gute Fortbewegungs- und auch Besichtigungsmöglichkeiten auftun. Darüber hinaus entfällt die oftmals überaus lästige Parkplatzsuche, und man kommt mit den Koreanern auf der Straße viel schneller in Kontakt.

Ähnliche Erfahrungen konnte ich in der Hauptstadt Seoul und auch in Städten wie Incheon, Anyang, Jinju, Jeonju, Gimhae oder auch in den strandnahen Stadtteilen von Busan in der Nähe von Gwangalli und Haeundae machen. Die Orientierung ging dank Smartphone und Google-Maps nie verloren, oftmals hilft der freundliche ältere Mann an der Ecke oder auch der hilfsbereite Restau- rantbesitzer mit Wegangaben und sonstigen Hinweisen zu Sehenswürdigkeiten weiter. Allerdings haben meine Mitreisenden und ich gut daran getan, nicht allein darauf zu vertrauen, da sich das oftmals als zu gut gemeinter Ratschlag erweist und manchmal nicht zum gewünschten Ziel führt. Fotos: 1/4 W. van Stephold, 2/3 A. Domschke A. 2/3 van Stephold, W. 1/4 Fotos: 4 Warten auf die Fähre auf Jido, Sinan-gun, Jeollanamdo KULTUR KOREA / 21 Unterwegs entlang der großen Flüsse: Die sehr gut ausge- sang-Nationalpark wurde eine ca. 12 km lange Fahrradstre- bauten, teilweise zweispurigen Radwege entlang der vier cke direkt am Meer entlang angelegt, ein herrliches Erlebnis, großen Flüsse Hangang, Nakdonggang, Geumgang und besonders bei Sonnenuntergang und ganz ohne Auto-, Bus- Yeongsanggang bieten über insgesamt 860 km fantastische oder Lastwagenverkehr. Hier gibt es eine Leihstation für Fahr- Möglichkeiten zum Radfahren. Es gibt eine gute Karte der räder und sogar Angelmöglichkeiten von einem weit ins Meer gesamten Strecke z.B. quer von Incheon nach Busan („Cross gebauten Steg aus, und die Chancen auf einen selbst gefange- Country Trail“), die man in einzelnen Etappen fahren kann. nen und später frisch zubereiteten Fisch sind nicht schlecht. Die einzelnen Stempelhäuschen an der Strecke sind einge- zeichnet, für die notwendigen Formalitäten ist somit bestens gesorgt. Wer mag, kann vorher den „4 Rivers Cycling Tour Weitere Informationen: Passport“ erwerben und seine gefahrenen Etappen jeweils Die Rad-Infrastruktur in Korea kann entlang der speziell dafür einge- dokumentieren. richteten Strecken als gut bis sehr gut bezeichnet werden. Die Strecken sollten eher nach der eigenen Motivation und Ein Mietwagen mit einem Fahrradträger für zwei Fahrräder hat mir gute Dienste erwiesen. Obwohl man sie unterwegs kaum sieht, sind Kondition und nicht zuletzt nach den Übernachtungsmög- sie in genügend stabiler Ausführung in gut sortierten Fahrradge- lichkeiten geplant werden - und weniger nach dem Ehrgeiz, schäften für ca. 80-100 € erhältlich. Diese werden dann vor Ort von möglichst viele Stempel zu sammeln. Unterwegs, vor allem in dem freundlichen Verkäufer auch gleich fest montiert. Die Montage den Ballungsräumen der Städte Seoul und Busan, trifft man sollte vorher mit dem Autovermieter abgeklärt werden. immer wieder auf bestens ausgerüstete Freizeitaktivisten, die auf Rennrädern oder auch Mountain-Bikes teilweise in atem- Die Frage nach dem passenden Fahrradtyp ist nicht einfach zu beraubendem Tempo dahinrasen. Während einer Pause sind beantworten. Während meiner letzten Tour habe ich auf den Inseln sie dann gern zu einem gemeinsamen Foto bereit, natürlich in vor allem auf unwegsamem Gelände mit einem Mountainbike beste voller Montur und mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht. Erfahrungen gemacht. In der Stadt und auch entlang der Flüsse Voller Stolz wird dann über die bereits gefahrene Strecke habe ich aber unsere deutschen Trekkingräder sehr vermisst, da sie wegen der aufrechten Sitzposition für längere Strecken besser berichtet. In 30 Zeitstunden von Seoul nach Busan, also eher geeignet sind. Gute Fahrräder sind für ca. 350 € aufwärts vor Ort er- etwas für Leute, die nicht sehr viel Zeit haben in diesem hältlich, auch Leihmöglichkeiten werden in den Fahrradgeschäften schnelllebigen Land. der größeren Städte angeboten.

Unterwegs am Meer: In Jeollanamdo an der Südküste bieten Ohne mein Smartphone mit GPS-Funktion wäre ich häufig nicht die vorgelagerten Inseln vor Mokpo und Muan („Sinan 1004 Is- planmäßig vorwärtsgekommen, da die koreanischen Karten oft lands“) allesamt gute Radfahrmöglichkeiten. Auch die Gegend doch sehr ungenau und an den Übergängen zu anderen Bezirken um Jindo, Ttangkkeut (Nohwa und Bogildo) und Wando ist häufig nicht ausreichend kompatibel sind. eine gute Wahl. Hat man einmal vor Ort den Fahrplan studiert, kann das Auto an einem der Fährterminals abgestellt werden, Zur Grundausstattung gehört natürlich neben zweckmäßiger, der Jahreszeit angepasster Kleidung auf jeden Fall ein Fahrradhelm und und man kann von Insel zu Insel mit dem Fahrrad fahren. Der eine signalfarbene Warnweste. Alles, was zusätzlich Signalwirkung Endpunkt ist dann wieder der gleiche Fährhafen oder auch ein hat, ist nützlich und kann am Fahrrad oder an der Kleidung befestigt Minbak (민박, einfachere Unterkunft) auf einer der umliegen- werden. Die gängigsten Schlüssel, Flickzeug und eine gute Luft- den Inseln mit Rückreise am nächsten oder übernächsten Tag. pumpe ergänzen die Ausrüstung und sollten auf keiner Tour fehlen. Alles ist vor Ort erhältlich und muss nicht von weit her mitgebracht Fahrradwege sind dort eher nicht vorhanden, aber der Verkehr werden. ist bis auf einige Hochsommer-Wochenenden, an denen halb Südkorea Richtung Meer unterwegs ist, sehr überschaubar. Die Touristen-Information in Seoul hält einige nützliche Informati- Mit dem Fahrrad sieht man mehr, man kann jederzeit anhalten onen für Radtouren bereit, und man unterstützt dort auch gern die und mit den Menschen auf der Straße ins Gespräch kommen. Planung der Strecken. In der Seoul Metro ist sonntags die Mitnahme von Fahrrädern erlaubt und kostenfrei, sodass man seinen Radius an Dadurch entsteht ein ganz neuer Zugang zu Land und Leuten. diesem Tag auch ohne Auto erheblich erweitern kann. Allerdings sollte man auf den Inseln auf einige durchaus lang gezogene Steigungen und auch Schotterpisten vorbereitet Umfangreiche Informationen auf Deutsch und Englisch sind unter sein. Umso besser schmeckt dann nach einem erlebnisreichen www.visitkorea.com oder auch unter www.koreabikeguide.wordpress. Tag am Abend die Jjamppong (짬뽕, scharfe Nudelsuppe mit com/four-rivers-trail/ verfügbar und können auch gern direkt beim Meeresfrüchten) in einem der kleinen Restaurants, die überall Autor unter [email protected] angefragt werden. zu finden sind.

Eine nach der letzten Fußballweltmeisterschaft übrig ge- bliebene deutsche Autofahne in etwa DIN-A4-Format wurde seitlich am Gepäckträger befestigt und hatte durchaus die Wolfram van Stephold ist von Beruf erwünschte Signalwirkung. Tatsächlich überholten die Autos » Diplom-Kaufmann und lebt in der Nähe von und Lastwagen mit meterbreitem Abstand und dem nötigen Köln. Seine Frau stammt aus Korea, und durch Respekt. Viele winkten aus ihren Autos, auf den Parkplätzen sie entdeckte er sein Faible für Land und Leute. und Fähren wurde man schnell zum Mittelpunkt. Seit dem Kennenlernen seiner Frau verbringt In Yeon-gun in der Nähe von Tongyeong im Hallyeohae- er jedes Jahr seinen Urlaub zusammen mit

Familie und Freunden in Korea. van Stephold-Lee W. Foto:

22 / KULTUR KOREA KALEIDOSKOP KAFFEEKLATSCH IN SEOUL Im Gespräch mit Annette Grund, Präsidentin des Deutschen Clubs Seoul

Wanderung im Bukhansan-Gebirge nördlich von Seoul, April 2016

er Deutsche Club Seoul ist eine Anlaufstelle für Deut- Ihr ist die Begeisterung anzumerken, als sie von den wöchent- sche, Deutschsprachige und Deutschland-Interessierte lichen Tagesausflügen in nahegelegene Skigebiete erzählt: Dund bietet Neuansässigen, Expats und Alteingesesse- „Morgens geht es los, nach 60 Minuten Autofahrt ist man am nen die Möglichkeit, sich in Korea zurechtzufinden und Land Ziel und nach einigen Stunden auf der Piste geht es am Nach- und Leuten näherzukommen. 1995 entstand der Club auf Initi- mittag wieder zurück. Das ist schon nett!“ Sie berichtet von ative einiger Frauen, die eine deutsche Gemeinschaft in Seoul Schiffstouren auf dem Han-Fluss, von Wanderungen in den an- gründen wollten. „Vor über 20 Jahren war es für Ausländer grenzenden Bergen oder von Ausflügen zur Namhansan-Fes- noch viel schwieriger, ein Stück Heimat in der Fremde zu fin- tung aus dem 17. Jahrhundert. Wer sich weniger für Ausflüge den“, sagt Präsidentin Annette Grund. Mittlerweile ist Südko- als für Vorträge oder Gespräche interessiert, ist eingeladen, rea globaler geworden und Standort für zahlreiche Unterneh- am Kulturcafé, Stammtisch oder Kaffeeklatsch teilzunehmen. men, die ihre – immer noch zumeist männlichen – Mitarbeiter Die „Lingua franca“ des Deutschen Clubs Seoul ist Deutsch. für drei bis fünf Jahre in die 10-Millionen-Metropole Seoul Wer also nicht aus Deutschland, Österreich oder der Schweiz entsenden. Für die Partnerinnen ist es oftmals gewöhnungs- kommt, sollte über entsprechende Grundkenntnisse verfügen, bedürftig, mit dem eigenen Berufsleben in Deutschland auch um sich verständigen oder die Vorträge verfolgen zu können. die eigene Selbstständigkeit aufgeben und sich auf die Rolle „Bei gemeinsamen Aktivitäten ist das allerdings weniger wich- der Begleiterin einstellen zu müssen. Hier liegen wohl auch tig, weil die meisten Deutschen ohnehin Englisch sprechen.“ die Gründe für die vornehmlich weibliche Initiative dieses und anderer Clubs ähnlicher Couleur in Korea und anderen Die Programmgestaltung richtet sich nach den Interessen der Ländern. Das bedeutet aber weder, dass nicht auch einige Mitglieder. Der überwiegende Teil sind Familienmitgliedschaf- Männer ihre beruflich entsandte Partnerin begleiten würden, ten - derzeit 105. Eine Familie zählt als ein Mitglied. Da Kinder noch bedeutet es, dass Männer nicht willkommen wären - im naturgemäß andere Interessen haben als Jugendliche, deren Gegenteil. „Wir organisieren Familienausflüge am Wochen- Interessen sich wiederum von denen Älterer unterscheiden ende, Tanzabende und Motto-Partys nach Feierabend oder und sich Mitglieder ohne Kinder weniger für familienorien- Veranstaltungen an Feiertagen. Das Angebot steht allen offen, tierte Veranstaltungsplanung interessieren als Mitglieder mit die sich dafür interessieren,“ erklärt Annette Grund, die ihr Amt Kindern, bedarf das Angebot einer durchdachten Planung des vor einem Jahr übernommen hat und bereits das dritte Jahr derzeit achtköpfigen Vorstands. „Mein Job ist ein Vollzeitjob.“ mit ihrer Familie in Seoul lebt. Man glaubt es gern. „Wir arbeiten alle ehrenamtlich“, antwortet Frau Grund auf die Frage nach der Finanzierung all dessen. Ein © Deutscher Club Seoul

KULTUR KOREA / 23 Teil der Kosten wird über Mitgliederbeiträge gedeckt. Das sind hat Familie Grund mit der Verlängerung ihres Aufenthaltes um jährlich umgerechnet etwa 45 Euro pro Mitgliedschaft – „nicht ein weiteres Jahr demonstriert. „Uns gefällt es hier sehr gut. die Welt“. Referenten und Raummieten werden über Eintritts- Die Koreaner sind höflich und freundlich, und Seoul ist eine gelder bezahlt wie auch Kaffee und Kuchen beim „Kaffee- unglaublich schöne und sichere Stadt; es wird nicht gestohlen klatsch“, aber ein Blick auf die Website macht deutlich, dass und nicht betrogen, das ist sehr angenehm. Das kulturelle An- renommierte Sponsoren mit an Bord sind. Sie unterstützen gebot ist überaus vielfältig.“ Ihre Kinder sind im Teenageralter vor allem die größte Veranstaltung des Jahres, die Weihnachts- und haben koreanische Freunde – auf der Deutschen Schule gala, mit Sach- oder Geldspenden, die für wohltätige Zwecke Seoul International. verwendet werden.

„Es ist alles schon recht familiär, deshalb ist es schön, dass Das Gespräch führte Dr. Stefanie Grote unsere Gemeinschaft eine überschaubare Größe hat. Auf Redaktion „Kultur Korea“ die Weise kennen und kümmern wir uns.“ Bei Ankunft der Neuankömmlinge am Ende jedes Sommers richtet der Club ein Willkommens- und Familienfest aus. „Wir geben Tipps für Weitere Informationen unter: http://deutscherclubseoul.org gute Einkaufsmöglichkeiten und Orientierungshilfen auf den Märkten in Seoul, wir kennen eine gute Näherei oder eine Bäckerei mit deutschem Brot und helfen bei der Erledigung von Formalitäten.“ Die Hilfsbereitschaft untereinander sei sehr groß, denn „als Expat führt man schon ein ganz eigenes Leben“. Das schafft Sicherheit und ein Stück Vertrautheit unter Menschen, die demselben Kulturkreis angehören.

So weit so gut? Oder schafft dieses Stück Heimat in der Frem- de eine Distanz zu dieser Fremde, weil die Heimat ja vor Ort ist? Wird die Zuflucht zu Vertrautem zum Hindernis auf dem Weg zu Unvertrautem? „Das glaube ich nicht“, zeigt sich An- nette Grund optimistisch, „wenngleich die Sprache eine große Hürde darstellt. Koreanisch ist eine sehr schwierige Sprache, die man nicht ‚einfach so‘ lernt. Die meisten Mitglieder sind zu Beginn hochmotiviert, und der Alltag lässt sich mit einem Grundwortschatz auch recht bald meistern. Um jedoch tiefge- hende Gespräche zu führen, müssen Sie sehr gut Koreanisch sprechen. Die Motivation ist eigentlich nur bei denjenigen da, die in Korea einen Partner oder eine Partnerin finden und langfristig bleiben - das sind aber die wenigsten.“ In welchem Umfang und auf welche Weise die Hinwendung zur koreanischen Gesellschaft und Kultur gelingt, hängt in erster Linie von der jeweiligen Persönlichkeit ab, von dem Maß an Offenheit oder Zurückhaltung, weiß die Präsidentin des Deutschen Clubs Seoul aus Erfahrung zu berichten. „Die Deut- schen sind in Korea sehr willkommen, das ist deutlich spürbar. Koreaner mögen deutsche Musik und deutsche Literatur, kennen Bach ebenso wie Goethe. Die Gesellschaftsordnungen sind jedoch sehr unterschiedlich.“ Während in Korea Uniformi- tät und das Kollektiv hohe Priorität haben und die Schönheits- chirurgie mit dem Werbeslogan „The chance for sameness“ [‚Die Chance auf Gleichheit´] wirbt, zählt in Deutschland mit dem Grundmotiv der Individualität das Gegenteil. Diese Unterschiede machen ein wirkliches Eintauchen in die andere Kultur zu einer Herausforderung der besonderen Art. Dass Unterschiede durchaus auch Bereicherung bedeuten können, Die Präsidentin des » Deutschen Clubs Seoul, Annette Grund, kommt aus Darmstadt und lebt seit August 2013 mit ihrem Mann und zwei Kindern

in Seoul. © Deutscher Club Seoul

24 / KULTUR KOREA KALEIDOSKOP APARTMENTLEBEN IN DER SÜDKOREANISCHEN HAUPTSTADT

Von Sophie Bowman

Blick vom Seoul N Tower

enn Sie jemals in den Flughafen Als ich zum ersten Mal von einem komplexes gezogen. Von dort bin ich Gimpo eingeflogen, mit dem niedrigen Berg am Stadtrand auf Seoul zusammen mit einer anderen Freundin WBus durch Seoul gefahren oder hinunterschaute und in der Entfernung in eine neue Unterkunft übergesiedelt, auf einen der kleinen Berge inner- und Hunderttausende von Hochhausblocks dieses Mal in eine größere Wohnung in außerhalb der Stadt gestiegen sind und sah, verspürte ich ein merkwürdiges einem kleineren Apartmentkomplex. hinuntergeblickt haben, werden Sie Unwohlsein: so, als ob man aus nächster Diese Wohnung ist seit nunmehr über wissen, dass Koreas Hauptstadt voller Nähe die Schuppen eines Fisches oder vier Jahren mein Zuhause. Apartmentblocks ist. Sie erheben sich das Gewimmel in einem Ameisenhaufen in Ansammlungen identischer Türme in betrachtet. Das Wissen, dass jedes der Seit ich nach Seoul gezogen bin, hat sich unterschiedlichen Formationen. Manch- winzigen Fensterquadrate in den endlos meine Perspektive auf Apartments in mal stehen sie in engen Reihen, zuweilen scheinenden Türmen für ein anderes Hochhauskomplexen verändert. Ich kann sind sie in merkwürdigen Konstruktionen Zimmer stand, riefen bei mir Schwindel nun verstehen, warum sie eine solch miteinander verbunden, und oft sind sie und ein flaues Gefühl im Magen hervor. große Attraktion ausüben. Wussten Sie, in unterschiedlichen Winkeln ausgerich- Ein solcher Blickwinkel lässt das eigene welche Informationen Sie in Erfahrung tet, um möglichst viel Licht einzufangen. Leben, das eigene Zuhause in einer har- bringen können, wenn Sie den Namen Dennoch bestehen sie alle aus ziemlich schen Perspektive erscheinen. eines Apartmentblocks in eine Suchma- ähnlichen Rechtecken, ohne einen schine eingeben? Sie finden eine Über- persönlichen Charakter oder hervorste- Seit meiner Ankunft in Seoul im Jahr sichtskarte, die Größen und Grundrisse chende architektonische Merkmale. Mas- 2011 lebe ich in solchen Apartment- aller unterschiedlichen Wohneinheiten senproduzierte Gebäude, die innerhalb blocks. Ich bin von einem kleinen Haus und den Preis der einzelnen Immobilien, kürzester Zeit hochgezogen wurden, um in London mit Keller und Garten, in dem in Abhängigkeit vom Stockwerk und der den Bedürfnissen dieser dicht besiedel- ich die Hälfte meines Lebens verbracht Ausrichtung der Fenster. ten Stadt gerecht zu werden. habe, in die Wohnung einer Freundin im

Foto: privat Foto: neunten Stock eines riesigen Hochhaus-

KULTUR KOREA / 25 Die Wohneinheiten, für die Interessenten in Reihen stehen und die Stadt überzie- am meisten zu zahlen scheinen, sind hen, bin ich dankbar, in einem von ihnen diejenigen in den sogenannten „könig- meinen eigenen kleinen Lebensraum lichen Etagen“ zwischen der Gebäude- gefunden zu haben. Ich frage mich, ob mitte und der obersten Etage. In einem ich jemals wieder die Möglichkeit haben Block mit 15 Etagen wären dies die werde, in einem Einfamilienhaus mit Etagen zwischen dem achten und dem Garten und Keller zu wohnen, aber mit 13. Stock. Die beliebteste Ausrichtung ist dem Verdienst einer Übersetzerin ist das die Richtung Süden, um ein Maximum an wohl eher unwahrscheinlich. Auch frage Sonnenlicht zu erhalten und beispiels- ich mich, wie leicht es mir fallen würde, weise die Wäsche schneller trocknen zu mich wieder daran zu gewöhnen. können. Und dann ist es natürlich auch ein großes Plus, eine attraktive Aussicht Übersetzung: Gesine Stoyke auf einen Park oder Fluss oder auf das Veröffentlichung mit freundlicher Zustim- Panorama der Stadt zu haben. mung von www.korea.net

Wie in vielen anderen Ländern auch kaufen die Leute Wohnungen, um sie 1 Dieser liegt gewöhnlich bei 50 Prozent des weiterzuvermieten. In der Vergangenheit Verkehrswertes einer Immobilie, kann aber war die häufigste Form der Immobili- sogar 60 bis 80 Prozent betragen, Anm. d. envermietung das sogenannte Jeonse Red. (Quelle: wikipedia). (전세): Der Mieter zahlte beim Einzug einen riesigen Pauschalbetrag1 an seinen Vermieter und musste dann für die Dauer seiner Vertragslaufzeit keine Miete begleichen, um dann beim Auszug die gesamte Summe zurückzuerhalten. Bei dieser Art von Verträgen brachte der Ver- mieter das Geld zur Bank und profitierte von den hohen Zinsen, die in Korea einst existierten. Auf diese Weise konnte er Geld verdienen. Natürlich nehmen die Vermieter auch alle möglichen anderen Arten von Investitionen vor, aber die enorme Popularität des Jeonse-Systems basierte auf den hohen Zinsen. Nun sind diese gesunken und haben sich den internationalen Standards angeglichen. Deshalb suchen Vermieter heute nach Mietern, die bereit sind, Mietverträge abzuschließen, welche die Zahlung einer Monatsmiete vorsehen. Aber das ist für die meisten koreanischen Mieter ein Terrain, das ihnen nicht vertraut ist und daher Unbehagen auslöst.

Dennoch ist die Situation immer noch wesentlich besser als in vielen anderen großen Städten, wenn ich etwa an meine Heimatstadt London denke. Dank einer saftigen Kaution habe ich eine Monats- miete, von der meine Freunde in London nur träumen können - für eine kleine Sophie Bowman absolviert Wohnung mit einer Fläche, die man dort » einen Magister-Studiengang kaum findet, ohne riesige Summen dafür in koreanischer Literatur an zu zahlen. Während mich immer noch ein der Ewha Womans University. merkwürdiges Gefühl beschleicht, wenn Gleichzeitig arbeitet sie als ich von einer Bergspitze auf die zahllosen Übersetzerin für koreanische Seouler Hochhaustürme blicke, die dort Literatur. Foto: Jeon Han, Fotograf Korea.net Fotograf Han, Jeon Foto:

26 / KULTUR KOREA KALEIDOSKOP

MITFAHREN Über das U-Bahn-System in Seoul

Von Charles Usher

eden Morgen zur Hauptverkehrszeit ist die Linie 5 der selbst, als durch die Verbindung zu anderen. U-Bahn in Seoul voll mit Bankleuten, die aus den angren- Jzenden Wohnbezirken nördlich und östlich der Flussinsel In Bezug auf das moderne städtische Leben wird „uri“ durch Yeouido, dem Finanzzentrum des Landes, anreisen. Wenn sie nichts stärker verkörpert als durch das öffentliche Transportsys- sich ihren Büros nähern, der Zug die Station Mapo passiert und tem. Deshalb mag es nicht verwundern, dass die Stadt Seoul in Richtung Yeouinaru fährt, streamen sie Video-Highlights des das wohl beste U-Bahn-System der Welt gebaut hat. Baseball-Spiels vom Vorabend, lesen die Morgennachrichten Es besteht aus 18 Linien, die eine Gesamtstrecke von fast 1000 auf ihrem Smartphone oder telefonieren mit Kollege in Los An- Kilometern ergeben, die über 500 Stationen und über die geles. Ungeachtet der Tatsache, dass sie sich in einem U-Bahn- Stadtgrenze hinaus drei separate Provinzen mit der Hauptstadt Schacht 25 Meter unter dem Meeresspiegel und unterhalb des verbinden. Und während Initiativen zur Förderung des öffent- Flusses befinden, werden ununterbrochen Videos geschaut lichen Verkehrswesens in meiner Heimat USA und anderswo und pausenlos Telefonate geführt. gewohnheitsmäßigen Widerstand seitens der Finanzverwalter und skeptischen Politiker hervorrufen, gibt es in Seoul keinen Diese Möglichkeit, ein wenig zusätzliche Arbeit zu erledigen nennenswerten Widerstand gegen die fast ununterbrochene oder vor Arbeitsbeginn zu entspannen und das morgendliche Ausweitung des U-Bahn-Streckennetzes. Pendeln auch unter der Erde und unter dem Wasser ein wenig erträglicher zu machen, ergibt sich natürlich nicht ‚einfach so‘. Die Einrichtung eines modellhaften Systems für den öffent- Sie ist das Ergebnis bedeutender Investitionen in das öffentli- lichen Transport geht weit über das schlichte Verlegen von che Transportwesen und die Infrastruktur seitens der Regie- Schienen und den Bau einzelner Stationen hinaus. Es umfasst rung. die Schaffung und die Investition in eine Infrastruktur, die der Gemeinschaft dient. U-Bahn ist sauber und effizient. Wenn Sie Zeit in Südkorea verbringen, werden Sie feststellen, Im Winter sind die U-Bahn-Sitze beheizt. Die Fahrgäste haben dass Ihnen ein Wort immer wieder ins Auge springt: „uri“. Uri ist Zugang zu freiem 4G LTE, DMB und Wi-Fi und damit zu einer der Name einer großen Bank und zahlloser Restaurants, Immo- Technik, die das Streamen von Online-Videos, das Schauen bilienbüros, Supermärkte und anderer Geschäfte. Es bedeutet von Live-TV und einen kristallklaren Telefonempfang ermögli- „wir“ oder „uns“ oder „unser“, und in vielerlei Hinsicht ist es das chen, auch wenn sie sich im Tunnel unterhalb des Han-Flusses wichtigste Wort, das man kennen muss, wenn man das Land befinden. Viele Stationen verfügen über Touchscreen-Kioske, verstehen will. die es den Fahrgästen erlauben, interaktive Seiten aufzuru- fen, die neuesten Sportneuigkeiten zu sehen und kostenlose Da die koreanische Kultur und Gesellschaft dem Kollektiv Telefonate zu führen. Und, anders als New Yorks Metropolitan große Bedeutung beimisst, sprechen Koreaner von „unserem Transport-Behörde, die 2012 den Vorschlag ablehnte, Bahn- Land“ statt von „meinem Land“ oder von „unserer Firma“ statt steigtüren zu installieren, hat Seoul sie fast an jeder Station von „meiner Firma“ und von „unserer Mutter“, nicht von „meiner eingerichtet, um versehentliche Todesfälle und Selbstmorde zu Mutter“, selbst wenn die Person, die es sagt, das einzige Kind verhindern. ist. Identität entsteht weniger durch die Sichtweise auf sich Fotos: Stefanie Grote Fotos:

KULTUR KOREA / 27 U-Bahnen mit Bahnsteigtüren erhöhen die Sicherheit. WC-Bereich in der U-Bahn - Sauberkeit hat Priorität.

Diese klare Verpflichtung gegenüber dem Kollektiv hohen Standard dieses U-Bahn-Systems ermög- wird auch im Design der Stationen deutlich. Die licht haben – der Bau ist jüngeren Datums und die Station Gyeongbokgung nahe des größten Königs- Bevölkerungsdichte ist hoch. Andere Städte haben palastes der Stadt informiert die Besucher über die ähnliche Vorteile. alte Geschichte des Areals. Dort sind Kunstwerke aus der Zeit des Joseon- (1392-1910, Anm. d. Red.) und Der Umstand, dass Seoul ein modellhaftes des Silla-Reiches (57 v.Chr. – 935 n.Chr., Anm. d. Red.) U-Bahn-System gebaut hat, eines, das die Fortset- ausgestellt. An der modern designten Station Seol- zung einer transpazifischen Telefonkonferenz oder leung befindet sich der erste virtuelle Supermarkt einer zweistündigen Wettbewerbspräsentation tief der Welt; dort hat ein Händler Bilder von Geschäftsre- unter der Erde sicherstellt, verdankt es seiner Kultur galen auf die Wände und Bahnsteigtüren appliziert. des „uri“ und der Überzeugung, dass die Verbesse- Während die Pendler auf ihren Zug warten, können rung des städtischen Lebens nicht das Anliegen der sie QR-Codes einscannen, damit die Lebensmittel- anderen ist, sondern ‚unseres‘. und Haushaltswarengeschäfte die entsprechende Ware an ihre Wohnadresse liefern. Übersetzung: Dr. Stefanie Grote Das öffentliche Transportwesen wird oft für man- Veröffentlichung mit freundlicher Zustimmung gelnden Komfort, Gerüche und andere Unannehm- von www.korea.net lichkeiten kritisiert, aber Seoul demonstriert, dass es dank vernünftiger Investitionen und entsprechenden Engagements nicht so sein muss. Da die Welt städti- scher wird und der Klimawandel zunehmend drasti- schere Maßnahmen erfordert, müssen wir Wege zur Verbesserung des Transportwesens finden, wenn wir in Städten leben wollen, die funktionell sind. Ein Teil dieses Wunsches wird aufgrund von durchdachter Planung und technologischem Fortschritt realisiert privat Foto: werden. Noch essenzieller ist es aber vielleicht, dass Charles Usher, Reise- wir ein gemeinschaftliches Bewusstsein befürwor- » kolumnist und Autor des ten, das zum öffentlichen Transportwesen gehört. Buches „Charlie and Liz‘s Seoul hat von zahlreichen Faktoren profitiert, die den Seoul subway Travelogue“.

28 / KULTUR KOREA KALEIDOSKOP

So BANG! Interview mit Chi-Young Bang, Herstellerin exklusiver biscuits in Paris

ie leben seit geraumer Zeit in Paris und stellen dort exklu- Schritt geplant? sive biscuits her. Was hat Sie dazu veranlasst, Ihre sichere SAnstellung als Moderedakteurin bei einem deutschen Eine Erfolgsgarantie gibt es natürlich nicht, aber ich habe in- Lifestyle-Magazin aufzugeben und von München in die franzö- tensiv über meine Zukunft nachgedacht und einen Kostenplan sische Hauptstadt zu ziehen? aufgestellt. Das Ersparte würde für die erste Zeit reichen, und dieser Gedanke entlastet ein bisschen. Zunächst einmal hat mich ein privater Schicksalsschlag dazu Und dann war ich mir natürlich bewusst, dass es gerade in den bewegt, für ein sechsmonatiges Sabbatical nach Paris zu ge- ersten Jahren nicht einfach sein würde. Ich denke aber, dass hen. In dieser Zeit habe ich viel über mein Leben nachgedacht. es eine Chance auf Erfolg gibt, wenn man ständig an seinem 14 Jahre lang habe ich bei einem Modemagazin gearbeitet. Projekt arbeitet und an sich und sein Vorhaben glaubt. Obwohl ich meinen Job geliebt habe, wurde er eines Tages zur Routine, und ich habe mich gefragt, ob das schon alles im Wie haben Sie Ihre Anfangszeit in Paris empfunden? Fiel Ihnen Leben gewesen sein soll. So schön das Thema Mode und der die Eingewöhnung schwer? dazugehörige Beruf auch waren: Sie haben mich nicht mehr so erfüllt wie früher. Das sechsmonatige Sabbatical habe ich sehr genossen und Zweifel kamen mir hin und wieder, aber ich habe nicht gleich denke gern daran zurück, obwohl es noch gar nicht so lange ans Aufhören gedacht. Erst während meines Sabbaticals hatte her ist. In dieser Zeit bin ich in Paris auf Entdeckungsreise ich den Abstand zur Mode gewonnen und darüber hinaus die gegangen und habe viel allein unternommen. Möglichkeit, Praktika in Patisserien zu absolvieren. Dort habe Darüber hinaus hatte ich das Glück, dass ich in Paris schon ich meine Leidenschaft für meine neue Tätigkeit entdeckt und einige Leute kannte. Durch sie habe ich neue Kontakte knüp- den Schritt gewagt, in Paris zu bleiben. fen können, und mittlerweile habe ich wirklich ein paar gute Freunde gefunden, wofür ich sehr dankbar bin. Für Sie war der Umzug von Deutschland nach Frankreich ein

© Chi-Young Bang © Chi-Young Aufbruch in eine ungewisse Zukunft. Wie haben Sie diesen Die Plätzchen, die Sie entwerfen, sehen wie Broschen aus.

KULTUR KOREA / 29 Was hat Sie bei Sie sind quasi in drei Kulturen zu Hause: Frankreich, Deutsch- der Gestaltung land und Korea. Was bedeutet der Begriff „Heimat“ für Sie? inspiriert, und Können Sie ihn an einem bestimmten Land festmachen? wie lange hat es gedauert, bis Heimat bedeutet für mich der Ort, an dem ich mich wohlfühle sich erste Erfolge und an dem die Menschen sind, die ich liebe und die mich einstellten? lieben. Der Begriff hat für mich nichts mit dem Ort an sich zu tun, an dem ich mich gerade befinde. Das Projekt „So BANG“ ist aus Welchen Stellenwert hat die Stadt Paris für Sie? meinen beiden Leidenschaften, Ich habe Paris seit jeher geliebt, und es ist die Stadt, in der ich der Mode und der schon immer einmal leben wollte. Es sind die Schönheit und Patisserie, hervor- Romantik dieser Metropole, die Kreativität und der Lebensstil gegangen. Durch der Franzosen, die mich an Paris faszinieren. Chi-Young Bang hat Mode-Design meine langjäh- in Düsseldorf studiert. Sie war 14 rige Erfahrung Wie ist das Leben in der Stadt nach den Terroranschlägen? Jahre lang beimCondé Nast Verlag als Stylistin und Inwiefern fühlen Sie sich in Ihrem Alltag davon beeinflusst? in der Moderedaktion des Magazins meine Affinität zu „Glamour“ tätig, zuletzt als stellvertre- Schmuck kam ich In den ersten Wochen nach den Anschlägen war bei den Pari- tende Fashion-Direktorin. auf die Idee mit sern eine Angst und Unsicherheit spürbar, die nun aber wieder der ovalen Form dem Alltag und der Routine gewichen sind. für den biscuit, der an eine Brosche erinnern soll. Ich wollte Ich selbst fühle mich nicht unsicher, aber dies liegt vermutlich edles Backwerk kreieren, das sehr „modisch“ ist und auf dem daran, dass ich generell keine Angst vor dem Tod habe. Durch sich immer ein Schmuckstück befindet. das viele Reisen und die furchtbaren Geschehnisse weltweit Durch meine Kontakte in der Modebranche hatte ich das sind Terror und Tod allgegenwärtig, und ich weiß, dass es Glück, dass meine Kunden gleich von Anfang an von „So jeden treffen kann, und das überall auf der Welt. BANG“ begeistert waren und ich schon nach ein paar Monaten Was immer auch im Leben passieren mag, ich sehe die Dinge den ersten großen Auftrag hatte. Das hat mich wahnsinnig als Schicksal an. gefreut! Gibt es Zeiten, in denen Sie die Entscheidung, nach Paris ge- Wer sind Ihre Kunden, und zu welchen Anlässen werden Ihre gangen zu sein, bereuen? Produkte nachgefragt? Nein, bisher noch nicht! Natürlich gibt es Momente, in denen In erster Linie kommen meine Kunden aus der Mode- und ich mich frage, warum ich diesen schwierigen Weg gewählt Schönheitsbranche, aber ich hatte auch schon einige Privat- habe. Und manchmal vermisse ich meine Familie und Freunde kunden, die meine biscuits in personalisierter Form für ihre sehr. Hochzeit, ihre Taufe oder ihre Babyshower-Party kreieren Dennoch ist Paris die Stadt, in der ich die nächsten Jahre ver- ließen. bringen möchte, und wer weiß schon, was später sein wird. Im Grunde genommen kann man meine Plätzchen für jeden Bis jetzt habe ich viel dazugelernt und mich persönlich weiter- Anlass bestellen, sei es für einen besonderen Tag mit seinen entwickelt. Liebsten oder nur für sich selbst, um sich eine Freude zu bereiten. Wo würden Sie sich gern in 10 Jahren sehen? In meinen Online-Shops kann man die Kollektionen, die je- weils im Frühjahr und Herbst ihre Motive wechseln, ordern. Ich wäre überaus glücklich, wenn es mir in 10 Jahren gelingen würde, ein erfolgreiches Unternehmen aus „So BANG“ zu ma- Ihre Eltern stammen aus Südkorea. Inwieweit hat Ihre Herkunft chen, um damit dem Traum von einem kleinen Haus ein wenig Ihre Biografie beeinflusst? näherzukommen. Denn ein Haus ist meine wunderbare Vorstellung von einem Ich denke, dass meine Zielstrebigkeit und mein Ehrgeiz sehr gemeinsamen Ort für die Menschen, die ich liebe: meine Fami- hilfreich für meine Karriere waren. lie und meine Freunde. Aufgeben käme für meine Eltern nicht in Frage. Schon wäh- rend meiner Kindheit habe ich immer versucht, eine Aufgabe so lange weiterzuverfolgen, bis sie perfekt bzw. zu ihrer Zu- Das Interview führte Gesine Stoyke friedenheit war. Meine Eltern waren, wie die meisten Koreaner, Redaktion „Kultur Korea“ sehr streng in der Erziehung. Online-Shops: sobangparis.com und fr.sobangparis.com Foto: Camilla Armbrust Foto:

30 / KULTUR KOREA KUNST UND ARCHITEKTUR

INSPIRATIONEN DES ERINNERNS Über die Eröffnung der Ausstellung „Souvenirs aus Korea“ im Koreanischen Kulturzentrum

Von Dr. Stefanie Grote Redaktion „Kultur Korea“

Notizblock mit Perlmutt-Einband

Porzellan-Spieluhr / Moony-Orgel

as Wort „Souvenir“ kommt aus dem Französischen und Wenn Hanji fein geschnitten und zu Strängen geflochten wird, bedeutet Erinnerung, Andenken. „Souvenirs aus Korea“ kann es aufgrund seiner Langlebigkeit und Wasserresistenz gar Dsollen also erinnern und Familienangehörigen, Freun- als Geschirr verwendet werden. Auch bunt bemalte Schmuck- den oder Bekannten von der womöglich bislang fremden kästchen oder Visitenkartenhalter sind Produkte dieses Kultur erzählen, sie neugierig machen. Das Koreanische Kultur- „Papierstrang-Kunstgewerbes“. „Ich bin erstaunt“, sagt eine zentrum wollte mit der Ausstellung die Suche nach dem pas- Besucherin „über die Fülle an Möglichkeiten zur Verwendung senden Geschenk erleichtern. Wer hingegen bereits neugierig von Hanji.“ war und eine Korea-Reise plante, konnte Anregungen finden, um die Koreaner selbst mit einem Mitbringsel zu überraschen. Aus kleinen Porzellan-Spieluhren, auch Moony-Orgeln ge- nannt, erklang das koreanische Volkslied „Arirang“, das 2012 als „Ich möchte Sie einladen, in die bunte Vielfalt koreanischer immaterielles UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt wurde und Souvenirs einzutauchen und sich dabei schon auf Ihre nächste als inoffizielle Nationalhymne gilt. Es sind kleine Musikboxen Koreareise einzustimmen“, sagte Herr Gesandter-Botschaftsrat der besonderen Art, die zarte Klänge hervorbringen und be- Dr. Kwon Sehoon in seiner Rede anlässlich der Vernissage am geistern. Eine Besucherin aus Ungarn zeigte sich fasziniert vom 10. Februar, die eine willkommene Gelegenheit bot, sich als Geschmack der Koreaner, „nicht nur im Bereich der Kunst, son- neuer Leiter des Koreanischen Kulturzentrums vorzustellen. dern auch bezüglich der traditionellen koreanischen Kleidung, Die Vorsitzende der Korea Tourist Souvenir Association, Frau die sehr aufwendig gestaltet und von hoher Qualität ist. Ganz Kim Myeong-hyo, und ihre Mitarbeiter waren eigens aus Korea anders als in Europa.“ Als Ungarin habe sie eine besondere angereist. Ihrem Engagement sei es zu verdanken, dass diese Affinität zu Korea, weil ihre Landsleute ursprünglich auch aus Ausstellung realisiert werden konnte, erklärte der seit Anfang der Mongolei eingewandert seien, da gäbe es Parallelen. Februar amtierende Leiter und unterstrich die persönliche Die Ausstellung verwies zudem auf die traditionelle kore- Bedeutung dieser Auftaktveranstaltung. anische Kampfsportart Taekwondo. Der elegante Kick mit Bei Brezeln und Rotwein begaben sich die Besucher auf den gestrecktem Bein erinnert an einen vertikalen Spagat und wird Vitrinen-Rundgang, plauderten, grübelten und lächelten über durch Porzellan- und Metallfiguren nachgestellt oder findet die Charakteristika der koreanischen Kunst und Kultur. sich als Motiv auf Krawatten wieder. So kämpfen Koreaner Das traditionelle koreanische Papier „Hanji“, das aus der Rinde mit künstlerischer Eleganz auf Seidenschals, Gemälden oder des Maulbeerbaums hergestellt wird, wäre ein solches Charak- Bleistiftanspitzern. teristikum. Es ist jedoch mehr noch als „nur“ Schreibgrundlage. Die Frage nach dem Motiv für seinen Ausstellungsbesuch Fotos: Koreanisches Kulturzentrum Koreanisches Fotos:

KULTUR KOREA / 31 Mitbringsel aus Perlmutt. Bei der Perlmutt-Lackier- kunst werden die Schalen von Muscheln, Seeschne- cken und Seeohren für die Verzierung von Ober- flächen verwendet. So erfahren Schreibblöcke, Fotoalben, Notizhefte oder Visitenkartenetuis durch die bunt glän- zende Ummantelung eine weithin geschätzte Aufwertung.

Und dann wäre da noch das koreanische Alphabet „Hangeul“, das Designern in aller Welt schon als Vorlage für modische Neuentwürfe diente. „Die Schriftzeichen gefallen mir“, sagte eine ältere Dame mit Blick auf die Hangeul-verzierten Ta- schen, Computermäuse, Gesandter-Botschaftsrat Dr. Kwon Sehoon eröffnet die Ausstellung „Souvenirs aus Korea“ USB-Sticks, Stifteschatul- am 10. Februar im Koreanischen Kulturzentrum . len, Taschenspiegel und purzelnden Buchstaben auf den modisch design- beantwortete ein anderer Besucher mit seinem Interes- ten Seidenschals. se an der koreanischen Ästhetik – auch, weil sie sich so elementar von der westlichen unterscheidet. Persönliche Wer sich für weniger traditionelle als für zeitgenössische Kontakte zu Koreanern im Freundeskreis hätten sein Inter- koreanische Kultur interessierte, widmete sich den „Hallyu“ esse an dem Land verstärkt und auch einen Einblick in das (‚Koreanische Welle‘)-Produkten. In Glas gegossener Ker- Alltagsleben erlaubt. Jetzt müsse er nur noch seine Partne- zenwachs suggeriert eine Unterwasserwelt mit Muscheln, rin überzeugen, mit ihm die Halbinsel zu bereisen, um die sandigem Boden und Schneckengehäuse und erinnert an Kultur einmal hautnah zu erleben. Faszinierend seien auch Schüttelkugeln aus Kindertagen. die Widersprüche der Ästhetik innerhalb der Kultur. „Die koreanischen Filme beispielsweise sind tendenziell düster, Traditionelles Kunsthandwerk, Andenken von der inner- depressiv und brutal, andererseits sind die Koreaner sehr koreanischen Grenze, moderne Gebrauchsartikel mit tra- auf Harmonie bedacht - ich kenne keinen Koreaner, der ditionellen Motiven – die Ausstellung war Inspiration und unfreundlich ist“. Berührung und ist im besten Falle auch Erinnerung.

Apropos Harmonie: Die Ästhetik der Souvenirs spiegelt eine Art von Feinheit wider, die selbst einen so alltäglichen Die Ausstellung bis Ende Juni 2016 im Foyer des Gebrauchsgegenstand wie den Regenschirm durch die Koreanischen Kulturzentrums zu sehen. zarte Bemalung der Oberfläche zum Kunstobjekt macht. Auf hauchdünne Seidentücher sind filigrane Naturmotive gezeichnet, und wer schon immer ein Faible für glatte, glänzende Oberflächen hatte, mag sich begeistern für ein Fotos: Koreanisches Kulturzentrum Koreanisches Fotos:

32 / KULTUR KOREA KUNST UND ARCHITEKTUR

BILDERTAGEBUCH DES ZEITGEISTS Die „Geschichte der vorgetäuschten Unschuld“ von Kim Hyun Jung im Koreanischen Kulturzentrum

Von Dr. Miriam-Esther Owesle

ihrer Arbeit erzählte. Darin ausfährt und deren sehnsuchtsvoll in die greift sie Sujets auf, die Ferne gerichteter Blick dem Bildtitel Aus- immer auch mit ihr selbst druck zu verleihen scheint: „du bewegst zu tun haben: Die 1988 mich“ … (siehe Cover dieser Ausgabe, geborene Malerin nennt Anm. d. Red.). ihre Arbeiten ein „Bilder- tagebuch“. Nicht selten In ganz besonderer Weise eignet sich betrachtet sie sich dabei das künstlerische Œuvre Kim Hyun mit einem subtilen Humor, Jungs dazu, fernöstliche und westliche der den Betrachter in den Kultur gleichermaßen in den Blick zu Bann zieht und für eine nehmen und eine geistige Brücke zu Künstlerin einzunehmen schlagen zwischen der Kunst Asiens und vermag, die ihre Fahrt der Kunst Europas. Die junge Künstlerin auf der mächtigen Harley zeigt in ihren Bildern eine Welt, die dem Davidson mit einem Menschen im Zeitalter der Globali- ironischen Augenzwinkern sierung überall bekannt vorkommt – auf dem Nummernschild gleich ob in Seoul oder in Berlin … die kommentiert: Ein „Shy- Embleme der Moderne, die ihren Bildern Girl“ ist die filigrane Prot- eingeschrieben sind – wir verstehen sie agonistin der „Geschichte auch ohne Worte: Das goldene M, die der vorgetäuschten Un- zwei ineinander verschlungenen C, der schuld“ sicher nicht. weiße Katzenkopf mit der rosa Schleife – auf den ersten Blick ablesbar wird der Sehr gekonnt setzt sich moderne Zeitgeist in der „Geschichte der Kim Hyun Jung selbst in vorgetäuschten Unschuld“ und gewinnt ihren Bildern in Szene und gleichsam mystische Qualität, wenn deckt damit die Konven- Luxus und Glamour von der Künstlerin tionen einer Gesellschaft als das Ziel aller Wünsche inszeniert Vorgetäuschte Unschuld: # Schneewittchen-gram, 2016 auf, die – konfuzianisch werden. 61 x 86 cm geprägt – gelernt hat, ihre Wünsche und Begierden Dabei kontrastiert der Fotorealismus, hinter einer makellosen mit dem Kim Hyun Jung den schönen chneewittchen postet seit Neues- Fassade zu verbergen. In großem Format Schein der Warenwelt farbsprühend tem auf Instagram. Davon berichtet und strahlender Buntheit präsentiert und glänzend durch Mehrfachüberma- Sdie 27-jährige Künstlerin Kim Hyun sie ihre Sehnsüchte und Gelüste und lungen in Szene zu setzen weiß, mit der Jung in ihrer „Geschichte der vorge- unterstreicht selbige dabei nicht selten filigranen Behandlung der Umrisslinien, täuschten Unschuld“, die das Korea- mit Bildtiteln, die dem Betrachter ebenso wie mit der zarten Lavierung nische Kulturzentrum in Berlin am 19. zusätzlich zu denken geben: „Kann ich der Binnenmodellierung, die stilis- Mai 2016 mit einer Vernissage eröffnet nicht …“ fleht sie mit tränenumflortem tisch an die buddhistische Malerei der hat, in der Tradition und Moderne sich Blick und zeigt auf jene Hello-Kitty-Pro- Goryeo-Periode (918-1392) erinnert. ebenso ein Stelldichein gaben wie in der dukte hinter der Schaufensterscheibe, Die Transparenz bestimmter Bildpartien Bildwelt Kim Hyun Jungs. Traditionelle die sich noch nicht in ihren unzähligen erweckt jedoch auch Assoziationen an und zeitgenössische Musik, dargeboten Einkaufstaschen befinden. Stets ist ihren europäische Kunstströmungen, wenn von Yoon Dayoung auf der zwölfsaiti- Werken ein reflexives Moment einge- etwa die Zartheit, mit der der durch- gen Zither Gayageum, umrahmte dabei schrieben, das den Betrachter anregt, scheinende Rock des Hanboks auf das einen Abend, in dem das malerische sich seine eigenen Gedanken über das Papier gehaucht ist, an die Handschrift Werk von Kim Hyun Jung im Mittelpunkt Dargestellte und dessen Protagonistin französischer Impressionisten den- stand – genauso wie die bezaubernd zu machen, die mit wehendem Hanbok ken lässt. Um spontan festgehaltene All rights reserved schöne junge Künstlerin selbst, die, und Stöckelschuhen auf einem Mo- Augenblickeindrücke handelt es sich bei gekleidet in einen leuchtend gelben torroller sitzend Ware von Mc Donalds Kim Hyun Jungs Arbeiten jedoch nicht. 김현정

© und aufwendig verzierten Hanbok, von

KULTUR KOREA / 33 Vorgetäuschte Unschuld: guter Vorsatz fürs Neue Jahr (feat. morgen fange ich an), 2016 81 x 61 cm

Allein das Übereinanderlagern mehrerer le entfalten. Ihre professionelle Ausbil- Mit der Ausstellung der „Geschichte Schichten von Hanji (dem traditionellen dung erfuhr sie durch das Studium der der vorgetäuschten Unschuld“, die handgemachten Papier aus den Fasern traditionellen asiatischen Malerei an vom 19. Mai bis zum 25. Juni 2016 des Maulbeerbaums), dessen sich Kim der Kunsthochschule der Seoul Natio- im Koreanischen Kulturzentrum am Hyun Jung bedient, um eine Stofflichkeit nal University, währenddessen sie sich Leipziger Platz 3 in Berlin zu sehen war, der Textur bestimmter Bildpartien zu bereits mit jenem Themenkomplex be- fand nun die erste Einzelausstellung Kim suggerieren, erfordert einen hohen Zeit- schäftigte, der schließlich auch Eingang Hyun Jungs in Deutschland statt. Ein aufwand. Vier bis sechs Monate benötigt in die „Geschichte der vorgetäuschten besonderes Glück ist es, dass die junge die Künstlerin, die stets parallel an meh- Unschuld“ finden sollte: die Selbstbe- Künstlerin an einem Ort ausstellte, an reren Werken arbeitet, zur Fertigstellung fragung und Auseinandersetzung mit dem sich einst das Atelier eines Malers eines Bildes. gesellschaftlichen Rollen und Konventi- und Zeichners befand, der im Berlin der onen im Medium ihrer Kunst. Bereits seit Kaiserzeit zu den wichtigsten Förderern Die Vielfalt der angewandten Techniken Abschluss ihres Bachelorstudiums in asi- von Künstlerinnen zählte und in seinen macht deutlich, wie hervorragend die atischer Malerei 2012, das sie gleichzei- Bildern jenen Spagat zwischen Tradition Künstlerin ihr Handwerk beherrscht. Von tig mit einem Bachelor in Management und Moderne unternahm, der auch die früh an künstlerisch ambitioniert, be- absolvierte, nahm Kim Hyun Jung an Arbeiten Kim Hyun Jungs auszeichnet.

gann sie bereits im Alter von acht Jahren zahlreichen Einzel- und Gruppenausstel- Seit 1880 hatte der impressionistische All rights reserved zu zeichnen und konnte ihre Fähigkeiten lungen im In- und Ausland teil – insbe- Künstler Franz Skarbina (1849-1910) am durch den Besuch einer Kunstoberschu- sondere in Korea und den USA. Leipziger Platz 3 sein Atelier und zeich- 김현정 ©

34 / KULTUR KOREA nete und malte die moderne Großstadt welt gerichteten Wünsche der jungen reits mit Preisen ausgezeichnet. 2015 mit ihren eleganten Modedamen. In Frau, die nicht mit menschlicher Nähe erhielt sie den ersten Preis für kulturelle verblüffender Weise erinnert eine 1885 zu rechnen scheint. Die rote Rose blüht Innovation der Republik Korea und entstandene Zeichnung einer jungen zwischen der Schönen und dem Biest erzielte mit ihren jüngsten Ausstellun- Berlinerin in Straßenkostüm an Kim unter einer Glasglocke. gen Besucherrekorde. Dass ihre Kunst Yung Jungs Gemälde „Oops“, das eine dabei auch über den asiatischen Raum mit Einkaufstüten, Taschen und Paketen Kim Hyun Jung verknüpft Wirkliches und hinaus eine magnetische Wirkung hat, beladene junge Frau zeigt, die im Eifer Fantastisches und deckt die Welt des machte die Einzelausstellung „This is our des Shopping-Gefechts einen Schuh schönen Scheins auf, wenn sie Schnee- future“ deutlich, die das Metropolitan verloren hat. wittchen vor einer Fototapete posieren Museum of Art in New York der Malerin lässt, die der Instagram-Gemeinde im Januar 2016 widmete. Mit digitalen Dass Kim Hyun Jung dem Menschen suggerieren soll, sie befinde sich in Reproduktionen ihrer „Geschichte der einer globalisierten Welt Möglichkeiten freier Natur. Und auch der Froschkönig vorgetäuschten Unschuld“, die im Korea- nischen Kulturzentrum zu sehen waren, stellte sich Kim Hyun Jung nun auch in Deutschland vor. Die begeisterten Reak- tionen der Vernissage-Besucher mögen vorausweisen auf eine entsprechende europaweite Rezeption der außerge- wöhnlichen Künstlerin, denn wenn Kim Hyun Jung 2014 von der koreanischen Tageszeitung Dong-a Ilbo in die Liste der „100 Personen, die Korea in zehn Jahren Ehre machen werden“ aufgenommen wurde, so kann man sagen – dies ist heute schon der Fall.

Kim Hyun Jung bei der Vernissage ihrer Ausstellung „Geschichte der vorgetäuschte Unschuld“ am 19. Mai im Koreanischen Kulturzentrum

Dr. phil. Miriam-Esther anbietet, sich selbst im Spiegel ihrer ist bereits wachgeküsst und versinkt » Owesle studierte Kunstge- Kunst zu vergewissern, bedingt den im Brunnen bei dem Versuch, sich den schichte, Neuere deutsche großen Erfolg der Malerin, deren Bilder Schuh zu angeln, den seine Angebetete Literatur und Theaterwissen- immer auch Projektionsflächen sind, ihm spielerisch anbietet. Die Märchen- schaft und promovierte über indem sich die Protagonistin der „Ge- prinzessin von heute schafft sich im Hier den Berliner Impressionisten schichte der vorgetäuschten Unschuld“ und Jetzt ihr eigenes Reich – baut es und Sezessionsmitbegründer einer Interaktion mit dem Betrachter in sich aus Chanel-Taschen und Chipstüten, Franz Skarbina. Seit 2012 der Regel entzieht. Ihr nach innen ge- aus Starbucks-Bechern und modischen ist sie Lehrbeauftragte am richteter Blick lässt den Beobachter trotz Accessoires. Dabei scheint sie die Qual Kunsthistorischen Institut der aller Großformatigkeit der Werke, die im der Wahl nicht zu verunsichern. Stets Freien Universität Berlin und Original oftmals mehrere Meter in der ruht die Protagonistin der „Geschichte arbeitet als freie Kuratorin Breite messen, und der starken Präsenz der vorgetäuschten Unschuld“ in sich sowie als Autorin für Museen, der Dargestellten eine Distanz wahren. – mit einer Selbstsicherheit, die sich Sammlungen, Galerien und Selbstversunken gibt sich die Protago- auch in der Präsentation der Künstlerin die Tagespresse. Seit Januar nistin der Welt des schönen Scheins hin widerspiegelt, die sich die Gunst ihres 2015 ist sie Geschäftsführerin und spinnt sich ihre eigenen Träume – vielköpfigen Publikums durch die Nut- und wissenschaftliche Leiterin mit Bose-Kopfhörern oder Spielkonsole. zung sozialer Netzwerke eroberte. der Guthmann Akademie – Die modernen Medien erscheinen als Forum für Berliner Kunst- und Vehikel der ins Unendliche der Waren- Vielfach wurde sie für ihr Werk be- Kulturgeschichte. Foto: Pressestelle FU Berlin Pressestelle Foto: Foto: Koreanisches Kulturzentrum Koreanisches Foto:

KULTUR KOREA / 35 KUNST UND ARCHITEKTUR

„SICH AN ALTEM ORIENTIEREN UND NEUES SCHAFFEN“

Interview mit Rheem Misun, Kuratorin der Ausstellung „Korea NOW!“ in München

Die Ausstellung „Korea NOW!” in München wurde im Kontext der Munich Creative Business Week 2016 und in Kooperation mit der Korea Crafts & Design Foundation präsentiert. Wie kam die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Partnern zustande?

Die Ausstellung „Korea NOW“ in München resultierte aus der Idee der Munich Creative Business Week (MCBW), Korea zu ihrem Partnerland 2017 zu machen. Die Korean Craft & Design Foundation (KCDF), eine repräsentative Regie- rungsorganisation, die dem koreanischen Ministerium für Kultur, Sport und Tourismus (MCST) untersteht, wurde auf koreanischer Seite von dem Ministerium mit der Planung beauftragt. Um vor Koreas Partnerlandauftritt im kommenden Jahr die Resonanz des Publikums vor Ort zu testen, beschlossen das koreanische Kulturministerium und die Korea Craft & Design Foundation, bereits in diesem Jahr in München die Aus- stellung „Korea NOW!“ zu zeigen. Die Zusammenarbeit zwi- schen der KCDF und der MCBW klappte wunderbar, sodass die Erwartungen für das kommende Jahr sehr hoch sind.

Die Ausstellung wurde zuvor bei der Triennale di Milano in Mailand und im Musée des Arts décoratifs in Paris gezeigt. Nach welchen Kriterien erfolgte die Auswahl des Standorts und der Exponate für München?

Die Wahl eines geeigneten Standorts in München war von entscheidender Bedeutung. Der historische Hintergrund des Bayerischen Nationalmuseums schien perfekt geeignet, um koreanisches Kunsthandwerk & Design zu präsentieren und anhand der koreanischen Exponate und der vorhande- nen Sammlung einen Vergleich zwischen den Traditionen der koreanischen und der deutschen Kultur zu ziehen. Das Bayerische Nationalmuseum genießt einen sehr guten Ruf, was das Ausstellungsmanagement und die Kooperation mit lokalen Partnern angeht. Ich hatte mich ganz bewusst nach einem staatlichen Museum als Veranstaltungsort für diese

Misun Rheem studierte am Royal College » of Art, London, und an der Hongik University, Seoul, Kunsthandwerk & Design. Heute ist sie Fotos: Hannes Magerstädt Fotos: als Kuratorin und Forscherin in Korea tätig. Die frühere Direktorin des Clayarch Gimhae Museum hatte die künstlerische Leitung der Ausstellung „Korea NOW“ inne, die 2015 bei der Triennale di Milano in Mailand sowie im Musée des Arts décoratifs in Paris und 2016 im Bayerischen Nationalmuse- um in München gezeigt wurde.

LEE EUN-BEOM 1000 shades of celadon 36 / KULTUR KOREA Ausstellung umgesehen. Die Organisatoren der MCBW waren Frankreichs erschienen zu den Feierlichkeiten im Vorfeld. Auch außerordentlich hilfreich und haben mich darin unterstützt, die koreanische Präsidentin und der französische Präsident diesen exzellenten Partner vor Ort zu finden. Wir waren sehr besuchten die Ausstellung. Diverse Magazine, Zeitungen und glücklich über die Zusammenarbeit. Rundfunkanstalten berichteten. Die Schau, die im Rahmen In der Ausstellung „Korea NOW“ in München wurde nur eine der „Jahre des bilateralen Austausches zwischen Korea und Auswahl der Exponate präsentiert, die zuvor im Musée des Frankreich 2015-2016“ gezeigt wurde, war eine großartige Ge- Arts décoratifs in Paris zu sehen waren. Dabei handelte es sich legenheit, das zeitgenössische koreanische Kunsthandwerk & um Leihgaben von Künstlern, Galerien, Museen und Stiftun- Design in einem größeren Kontext vorzustellen (105 Künstler, gen. 887 Werke). Viele Besucher konstatierten, dass dies ihr erster Die Ausstellungskriterien für „Korea NOW“ in München ent- Kontakt mit zeitgenössischem koreanischem Kunsthandwerk sprachen denen der vorherigen Schau in Paris. Ich habe mich & Design gewesen sei und sprachen sich sehr lobend über die darum bemüht, den Fokus auf den Status des zeitgenössi- einzelnen Exponate aus. schen koreanischen Kunsthandwerks & Designs zu lenken. In die Objekte sind ihr historischer und konzeptioneller Hinter- Hatten Sie einen persönlichen Favoriten unter den Ausstel- grund, unterschiedliche Herstellungsmethoden und vielfältige lungsobjekten? Aspekte des künstlerischen Ausdrucks eingeflossen. Für jedes einzelne Exponat gab es einen spezifischen Grund Worauf lag Ihr Hauptaugenmerk bei der Ausstellungsplanung? dafür, dass es ausgewählt wurde. Ich wollte die Besonderheit koreanischen Kunsthandwerks & Designs abbilden, insbe- Bei der Ausstellungsplanung habe ich am stärksten die metho- sondere im Vergleich zum europäischen Design. Wenn ich dologische Herangehensweise des „Beopgo-changsin“ (,법고창 mich aber für bestimmte Objekte entscheiden müsste, wären 신`: „sich an Altem orientieren und Neues schaffen“) berück- Pyeongsang (Trans 14-006, siehe Abbildung unten links) von sichtigt. BAHK Jong-sun und Afterimages von CHOI Byung-hoon meine Die Exponate sind durch die Zusammenarbeit zwischen jun- Wahl. Beide Werke interpretieren auf sehr gelungene Weise gen Designern und erfahrenen Kunsthandwerkern entstan- den Ursprung koreanischen Kunsthandwerks und bringen die den; darunter waren auch Kunsthandwerksmeister, die den Anfänge der koreanischen Kultur sowohl in ästhetischer als Titel „Bewahrer von Wichtigen Immateriellen Kulturgütern“ auch in technischer Hinsicht vollendet zum Ausdruck. tragen, den es nur in Korea und Japan gibt: Sie üben eine jahr- hundertealte Handwerkskunst bis heute aus und geben diese Seoul war 2010 Welthauptstadt des Designs. Welche nachhalti- an die Nachwelt weiter. Die Ausstellung eröffnete die Chance, gen Auswirkungen hatte diese Ernennung auf die südkoreani- nicht nur eine große Bandbreite an Werken zeitgenössischer sche Hauptstadt? Kunsthandwerker und Designer zu präsentieren, die mit neuen Materialien und Methoden die „Tradition von heute“ schaffen, Die Designszene hat sich insbesondere nach der Ernennung sondern auch einem internationalen Publikum die harmoni- Seouls zur Welthauptstadt des Designs 2010 verändert. Die sche gestalterische Ästhetik des traditionellen und zeitgenös- berühmte Architektin Zaha Hadid (1950-2016) entwarf den sischen koreanischen Kunsthandwerks & Designs vorzustellen. Dongdaemun Design Plaza, der 2014 eröffnet werden konnte. Die innovative Ausgestaltung von Materialität und Technolo- Dabei handelt es sich um ein riesiges Projekt, das eine neue gie war ein wichtiges Kriterium. Ich wollte die Tradition von Ära des Designs mit einer ganz neuen Zukunft für die Stadtpla- Korea NOW („Korea in der Gegenwart“) zeigen. nung eingeläutet hat. Die Stadt Seoul wird bis zum Jahr 2020 insgesamt 13 Museen bauen bzw. neu gestalten und umfas- An welchem Standort erzielte die Ausstellung die größte Reso- sende Investitionen tätigen, um das kulturelle Bildungsange- nanz? bot für die Bürgerinnen und Bürger des Landes zu erweitern.

Das Feedback war insbesondere in Paris exzellent, trotz der Das Interview führte Gesine Stoyke Terroranschläge im letzten Jahr. Rund 3000 Gäste nahmen Redaktion „Kultur Korea“ an der Eröffnung teil, und die Premierminister Koreas und

BAHK JONG SUN Die Ausstellungsräume von „Korea NOW!“ in München Trans 14-005, 006, 007, Cherry, Black, Blue, Red, Yellow, White Foto: Hannes Magerstädt Foto: PARK Myung-rae

KULTUR KOREA / 37 KUNST UND ARCHITEKTUR

Hauptbahnhof Leipzig Promenaden Foto: Axel Axel Schmitz Foto: „ARCHITEKTUR OHNE KUNST GIBT ES NICHT“ Im Gespräch mit dem Architekten Prof. Duk-Kyu Ryang Der Kristall, LVM Versicherung Münster

uk-Kyu Ryang ist 1936 im Norden Koreas geboren. für jede Etage, gelbe Trägersäulen, Lichtbänder in Handläufen Damals war Korea noch kein geteiltes Land. Die Erinne- - höchste Innovation. Es ist seine letzte Arbeit, bevor er sich Drungen an die Jugendzeit sind geprägt von Vertreibung, zur Ruhe setzt um die Jahrtausendwende. Eine Herzensange- Verlust und Emigration. Sein Heimatgefühl ist ambivalent. legenheit ist es nicht. Das Gebäude der Victoria Lebensversi- Taoismus, Buddhismus und Konfuzianismus, die drei Säulen cherung in Düsseldorf oder das Neven DuMont Haus in Köln der koreanischen Philosophie, haben ihn geprägt. Inwiefern gingen schon eher in diese Richtung, sagt Duk-Kyu Ryang; seine Architektur von seiner koreanischen Herkunft beeinflusst auch das Gebäude der Provinzial-Versicherung in Düsseldorf ist, vermag er nicht genau zu sagen. „Es gibt keine architekto- und erst recht der unter seiner Verantwortung umgebaute und nische DNA.“ Seit über 50 Jahren lebt er nun in Deutschland, modernisierte Leipziger Hauptbahnhof, aber vor allem sein pendelt zwischen seiner einstigen Wirkstätte Düsseldorf und Wohnhaus in Langenfeld. „Ich habe es vor 36 Jahren gebaut, seiner Wahlheimat Berlin. Er hat viel zu erzählen aus seinem aber es ist immer noch eine Sache des Herzens“, dieses Haus langen Leben, ohne jedoch in Erinnerungen zu verharren. „Wo mit den klaren Linien, den raumhohen Fenstern, dem Marmor- findet man, wonach man sucht? Was kann man neu machen?“ boden, den Lichtkuppeln, den Grundelementen aus Schwarz Sein Blick ist wach, sein Interesse am Jetzt ist groß, er mag und Weiß, wie sie der traditionellen koreanischen Farbgebung Geselligkeit, Austausch. entsprechen.

Sein Leben hat er der Architektur gewidmet. Er hat Versiche- Was bedeutet es für ihn, Architekt zu sein? „Mies van der Rohe rungs- und Bankgebäude, Rennbahn-Tribünen, Stadthäuser, war ein Handwerker, le Corbusier war ein reiner Künstler, beide Wohnblöcke, Bahnhöfe, Schlösser ge- und umgebaut, mit 70 waren Architekten. Architektur ohne Kunst gibt es nicht, aber gewonnenen Wettbewerben und 70 realisierten Bauprojek- der Architekt bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen ten Spuren hinterlassen. Renommierte Großprojekte waren Kommerz und Kultur. Er ist gebunden an wirtschaftliche, es zumeist, darunter das Allianzgebäude in Frankfurt/M. und politische und gesellschaftliche Verpflichtungen.“ Als Architekt das in München-Unterföhring. In Münster wiederum ragt der allein könne er schließlich kein Haus bauen. Es bedarf zunächst „Kristall“ mit einer Höhe von 63 Metern als Teil der moder- eines Bauherrn, und es gelte, die Vorstellung der vielen ande- nen Silhouette der Innenstadt unübersehbar hervor. Das so ren zu berücksichtigen. „Als Künstler bin ich unabhängig, aber bezeichnete LVM Versicherungsgebäude verfügt über 6000 als Architekt bin ich das nicht. Architektur ist auch Kunst, aber Quadratmeter Multifunktionsisolierverglasung als Doppelfas- keine reine Kunst“, schränkt er ein. „Im Gegensatz zur Musik sade, einen 17-stöckigen Turm, eine exklusive Farbgestaltung und zur Komposition, die jeweils reine Kunst sein können, (HPP Architekten; Foto: HG Esch) Foto: Architekten; (HPP

38 / KULTUR KOREA basiert Architektur immer auf den drei tragenden Elementen Form, Funk- tion, Technik.“

Wieviel Künstler verbirgt sich in dem Architekten Duk-Kyu Ryang? Neben dem Eingang des „Kristall“ steht eine vier Meter hohe und 3,5 Meter breite Plastik, eine aus Polyethylen gegossene Hand mit dem Titel „Körper und Seele“. Ein Kunstwerk von Duk-Kyu Ryang. „Der Körper allein ist nur Hülle, er braucht eine Seele, einen geistigen Inhalt, um sich zu vervoll- kommnen“, erklärt er. Mit Bedacht hat er eine linke Hand entworfen. „Zer- störung geschieht immer mit der rechten Hand - Kriege, Kämpfe, Schläge, all das ... Die linke Hand demonstriert Gelassenheit, Ruhe, Innerlichkeit, Besonnenheit - sie symbolisiert Frieden und Gelassenheit.“ Es ist eine Kolossalplastik, die senkrecht in die Höhe ragt. Die Hand ist weit geöffnet, Daumen und kleiner Finger sind abgespreizt. „Durch die evolutionsbio- logische Entwicklung zum modernen Menschen und die Herausbildung des aufrechten Ganges sind zwei Hände frei geworden, die eingesetzt werden konnten“, erklärt der Meister der Gestaltung. Die Hand ist aufge- richtet, tief verwurzelt, und scheint in den Himmel wachsen zu wollen, mitsamt ihrer Botschaft.

Aber Duk-Kyu Ryang ist nicht nur Architekt und Skulpteur. Er hat auch „unendlich viel“ gemalt und gezeichnet. „Karl Friedrich Schinkel beispiels- weise war auch ein perfekter Maler. Architektur ist auch Malerei“ - oder sollte man sagen: war Malerei? „In unserem modernen Computerzeitalter können viele Studenten nicht mehr zeichnen. Ich habe zu meinen Stu- denten immer gesagt, dass sie nach draußen gehen müssen. Sie müssen Die Kolossalplastik einer Hand mit dem Titel lernen zu sehen, wie sich die Natur bewegt.“ „Körper und Seele“ auf dem Platz vor dem Kristall Eigentlich hatte sich Duk-Kyu Ryang 2003 aus dem Berufsleben zu- rückgezogen, ein Haus in Spanien und eine Gitarre gekauft, um nach seinem arbeitsintensiven Leben und vielen Jahren als Partner bei HPP Hentrich-Petschnigg & Partner KG Düsseldorf endlich ein wenig kürzer zu treten, ein Buch zu schreiben. Es sollte anders kommen. Aus Korea erhielt er einen Ruf als Professor, ließ sich nach anfänglichem Zögern überreden und bekleidete von 2003 bis 2009 eine Professur an der Hanyang-Uni- versität Seoul. „Einmal Architekt, immer Architekt. Dies ist kein Beruf, den man wie irgendeinen Posten an den Nagel hängen kann. Vielleicht hat es damit zu tun, dass, wer sich einmal mit Schönheit auch in der Architektur beschäftigt hat, davon nicht mehr lassen kann,“ schreibt Ingeborg Flagge in ihrer Einführung zu dem Buch „Architektur im 21. Jahrhundert. Duk- Der Architekt Prof. Duk-Kyu Ryang Kyu Ryang. Arbeiten 1961-2005.“ Man möchte ihr Recht geben. Foto: Koreanisches Kulturzentrum Koreanisches Foto: Dennoch fühlt er Grenzen mittlerweile. Die Anfragen ehemaliger Ge- schäftspartner nach neuen Projekten weist er zurück – „leider“, wie er sagt. „Das tut auch weh.“ In dieses Bedauern mischt sich ein Unterton der Melancholie auch in Bezug auf seine Heimatverbundenheit. „Obwohl ich mittlerweile seit über einem halben Jahrhundert in Deutschland lebe, liegt ganz tief in mir scheinbar immer noch ein Heimatgefühl verborgen, das mich mit Korea verbindet. Vielleicht ist das aber auch einfach nur Sen- timentalität, die ich erst jetzt im hohen Alter entwickelt habe.“ Sein Haus in Korea hat er 2014 schließlich verkauft, der lange Flug ist zu strapaziös geworden, seine Familie lebt in Deutschland. Und die Zukunft? „Ich möchte ein Atelier kaufen und malen, das ist meine höchste Priorität. Schöpferisch tätig sein – gestern, heute, morgen. Einmal Künstler, immer Künstler.

Das Gespräch führte Dr. Stefanie Grote Redaktion „Kultur Korea“ (HPP Architekten; Foto: HG Esch) Foto: Architekten; (HPP

KULTUR KOREA / 39 KUNST UND ARCHITEKTUR

DIE WELT AUF WEIßEM GRUND Interview mit dem Maler Lee Daecheon über seine Ausstellung „Die Welt – Tracing Nature“

ie haben ursprünglich an der Young-Nam Universität in ligkeit und Dunkelheit, schnell und langsam, groß und klein, Daegu studiert. Dann zeigte Ihr Professor Ihnen Kataloge leerer Raum und ausgefüllter Raum. Daher lasse ich stets eine Svon deutschen Künstlern. Wie ist Ihr Entschluss entstan- leere Fläche. Die Form dieser Fläche ist immer intuitiv gewählt den, in Deutschland zu studieren? - sie entsteht so, wie meine Hand mich führt. Ich mag eigent- lich keine Bilder mit sehr starken Pinselstrichen. Früher habe Als ich in den 1990er Jahren in Daegu an der Kunstakademie ich schon einmal mit ganz knalliger und dicker Ölfarbe expe- studierte, war dort gerade die Theorie des Postmodernismus rimentiert, aber dieser Anblick ist für mich persönlich schwer en vogue, auch wenn diese Strömung in Korea etwas später zu ertragen. Ich bringe auf meine Bilder immer mehrere dünne als anderswo aufkam. Der Großteil der Maler war von der Vor- Farbschichten auf. Transparenz ist mir sehr wichtig. stellung besessen, dass die eigenen Bilder mit dieser Theorie übereinstimmen müssten. Durch Professoren, die in Deutsch- Wenn man sich Ihre Bilder aus der Ferne ansieht, könnte man land studiert hatten, habe ich erstmalig ein Interesse für die zunächst denken, dass es sich um reine Landschaftsdarstellun- europäische Kunst entwickelt. Schließlich hat mich der große gen handele. Erst bei näherem Hinsehen werden Personen und Wunsch, mein künstlerisches Schaffen weiterzuentwickeln, viele kleine Details sichtbar. Ist das so beabsichtigt? nach Deutschland geführt. Ich denke, dass man auf den ersten Blick ein abstraktes Bild in Sie haben dann in Dresden und Berlin studiert. Inwiefern unter- Form und Farbigkeit sieht, aber auf den zweiten Blick lassen schied sich Ihr dortiges Studium von dem in Korea? sich ganz präzise Figuren oder Landschaften erkennen. Meine Gemälde wirken ein bisschen wie Satellitenbilder. Der universitäre Unterricht in beiden Ländern ist eigentlich In alten koreanischen Gemälden gibt es stets einen Menschen, ziemlich ähnlich. Einen größeren Unterschied sehe ich bei den der spazieren geht, schläft oder angelt. Alle Bildelemente Aufnahmeprüfungen: In Korea muss man meist einen mehr- drücken einen Teil der Natur aus, und der Mensch ist nur ein jährigen Prozess durchlaufen, um sich auf die Prüfung vor- Detail darin, er hat in der Gesamtkomposition keine besondere zubereiten. In diesem Zeitraum übt die Bewerberin oder der Bedeutung. So haben damalige Künstler gemalt. Dieses Den- Bewerber monton die notwendigen Techniken, um ein Objekt ken vermittelt eine sehr demütige Sichtweise auf die Rolle des in seinem realen Zustand abzubilden. Persönliche Eigenheiten Individuums in der Welt. Das ist die Haltung, die der Mensch oder Sensibilitäten werden da eher vernachlässigt. Das ist in gegenüber der Natur einnehmen sollte, und die ich auch in Deutschland anders. meinen Bildern zum Ausdruck bringe.

Sie haben gesagt: „Um die Welt zu zeigen, wäre eine weiße Ausgehend vom Stil der traditionellen Malerei habe ich Leinwand die beste Lösung.“ Was meinen Sie damit? meine persönliche Interpretation einfließen lassen: Ich zeige Personen, die in der heutigen Zeit leben oder solche, die in der Beim Gedanken an den Ursprung der Welt kommt unweiger- jüngeren Vergangenheit gelebt haben. lich die Assoziation von einem unendlichen Raum bzw. der Leere auf. Als ich versucht habe, mir ein Image vorzustellen, Auffällig an Ihren Bildern sind auch die unterschiedlichen das dieses Konzept darstellen könnte, gelangte ich zu der Perspektiven. Schlussfolgerung, dass die beste Ausdrucksform hierfür eine Leinwand ohne jeden Ausdruck sei. So etwas lässt sich auch in der traditionellen koreanischen Landschaftsmalerei finden: die drei unterschiedlichen Perspek- Auch in Ihren Gemälden haben Sie einige Flächen weiß gelas- tiven (Vogel-, Zentral- und Froschperspektive). Für diese unter- sen… schiedlichen Blickwinkel habe ich mich ebenfalls interessiert.

In meinen Bildern gibt es immer Gegensätze: zum Beispiel Hel-

40 / KULTUR KOREA o.T., 2015, 210 x 165 cm | Öl und Marker auf Leinwand | © Lee Daecheon Der Maler Lee Daecheon lebt und arbeitet in Berlin. Er studierte Kunst & Malerei an der Young- Nam Universität in Daegu sowie Malerei & Grafik an der Hochschule für Bildende Künste Dresden und an der Universität der Künste (UdK) Berlin. Sein Werk war bereits in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen zu sehen.

Haben Sie als Vorlage für Ihre Bilder reale Landschaften Wie gehen Sie bei der Schaffung eines Kunstwerks gewöhnlich verwendet? vor?

Zuerst male ich immer ganz frei, und danach, wenn eine Kom- Entscheidungen über die Gesamtstimmung des Bildes und position gut gelungen ist, entscheide ich, an welchen Stellen die Materialien treffe ich normalerweise während des Entste- ich bestimmte Figuren oder Objekte einfüge. Dafür benötige hungsprozesses. Manche Arbeiten stelle ich an nur einem Tag ich natürlich eine Vorlage, etwa Zeitungsausschnitte oder fertig, für andere benötige ich zwei oder drei Monate. Fotoarbeiten aus den 1950er oder 1960er Jahren. Zum Beispiel Der Großteil meiner Werke ist das Produkt meiner eigenen dieser Panzer ist aus dem Internet (deutet auf sein Gemälde, Vorstellungskraft. Deren Grundlage bilden Bücher, Filme und siehe Abbildung S. 41). Ich mische immer Vergangenheit, Ge- Fotos. genwart und Zukunft. So integriere ich in mein Werk beispiels- weise etwas aus dem Zweiten Weltkrieg und etwas, das in der Was waren die prägenden Einflüsse Ihrer Kunst? Gegenwart passiert ist. Damit möchte ich auch den Gegensatz zwischen unterschiedlichen Zeiten zum Ausdruck bringen. Die Erfahrungen meiner Kindheit sowie die Gefühle von Be- Meine Malerei soll stets den Kosmos als Ganzes repräsentieren, wunderung und Angst, die ich verspürt habe, wenn ich allein und durch die Kombination von Vergangenheit, Gegenwart in der Natur war, haben bei mir einen tiefen Eindruck hinterlas- und Zukunft kann ich ein vollständiges Bild davon vermitteln. sen. Das Grau der Baumzweige, die kalte Luft und der Asphalt Mein Oberthema ist „die Welt“, und ich stelle Ausschnitte dar- auf den winterlichen Straßen sowie die Landschaft vor der aus dar. Deshalb gebe ich meinen einzelnen Bildern keine Titel. Kulisse des tiefblauen Meeres waren damals die beherrschen- den Bilder für mich. Diese Eindrücke haben sich während des Wie Sie eben sagten, suchen Sie Ihre Motive nicht direkt vor Malens auf natürliche Weise zu meiner Materie oder meinem Ort, sondern in diversen Medien wie Zeitungen oder Internet. Thema entwickelt. In meinen heutigen Arbeiten vermeide ich Warum wählen Sie diese indirekte Darstellung der Natur? solche persönlichen Eindrücke und wende eine Technik an, mit der ich die Natur in ihrem realen Zustand darstelle. Der Großteil der Menschen hat heute die Art, wie er Orte erlebt, verändert. Statt der unmittelbaren Erfahrung steht das Das Interview führte Gesine Stoyke mittelbare Erleben durch das Internet oder Bücher im Vorder- Redaktion „Kultur Korea“ grund. Deshalb ist es mir nicht so wichtig, ob die gemalten Objekte direkt vor Ort sind, oder ob es sich um indirekte Darstellungen Die Ausstellung „Die Welt – Tracing Nature“ war vom 17. März bis zum handelt. 7. Mai 2016 im Koreanischen Kulturzentrum zu sehen. Foto: Sooyeon Park Sooyeon Foto:

42 / KULTUR KOREA KUNST UND ARCHITEKTUR AUS ALT WIRD NEU Nach Jahrzehnten des Baubooms entdeckt Südkorea sein architektonisches Erbe wieder

Von Fabian Kretschmer, Seoul

enn Kim Yang-tae die Besonderheiten der koreanischen Baukunst erklären will, dann kramt er ein imaginäres WSeil hervor, spannt es straff zwischen seine Hände und lässt es behutsam in sich fallen: „Sobald die Kurve des Seils für das Auge am schönsten erscheint, weiß der Schreiner: Genau so muss das Kacheldach geschwungen sein“.

Allein durch ihr Äußeres, sagt der 71-Jährige mit dem runden Bril- lengestell, demonstrieren die traditionellen Wohnhäuser, Hanok genannt, ihren Einklang mit der Natur: Nur Holz und Erde werde zum Bauen benötigt, keine Schrauben oder Steine. Im Innenhof des U-förmigen Gebäudes könne man den Regen tropfen, die Vögel zwitschern und den Wind pfeifen hören. Sowohl die Türen als auch Fenster seien mit Papier bespannt, und im Winter sorge die klassische koreanische Fußbodenheizung für wohlige Wärme.

Als Leiter der einzigen Hanok-Schule des Landes war Herr Kim lan- ge Zeit so etwas wie der Gralshüter einer aussterbenden Kunstfer- Traditionelles koreanisches Haus (Hanok) mit Kimchi-Töpfen im Hof tigkeit. Nun jedoch steht er vor einem gut besuchten Messestand, neben sich eine hölzerne Hanok-Miniatur, und schwärmt von den Vorzügen traditionellen Wohnens. Die Seouler Hanok-Expo 2016 zeugt davon, wie ein Land dabei ist, sein architektonisches Erbe wiederzuentdecken. In drei Messehallen bieten Kunsthand- werker alte Kimchi-Töpfe, Wandmalereien und antike Möbel feil. Hanok-Baufirmen beraten interessierte Kunden, und Architektur- studenten zeigen ihre Designentwürfe. „Noch interessieren sich nur wenige Kommilitonen für das Bauen von Hanok, der Markt ist einfach noch zu klein“, sagt ein 23-jähriger Architekturstudent von der Andong-Universität. Dies könne sich aber schon bald ändern und traditionelles Wohnen zu einer echten Alternative werden, fügt er hinzu.

Hanok stehen sinnbildlich für die Vergangenheit des Landes, deren Spuren allmählich verschwinden. Sie spiegeln auch die turbulente und oftmals schmerzhafte jüngere Geschichte wider. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die japanischen Kolonialherren viele der koreanischen Wohnhäuser umgebaut oder abgerissen. Im Koreakrieg (1950-53) wurden ganze Städte zu Ruinen niedergebombt. Während der Nachkriegsjahre waren es dann die Bulldozer, die das architektonische Erbe in einem bis heute anhaltenden Bauboom bedrohten. Als sich der bitterarme Agrarstaat unter militärischem Drill bis an die Spitze der großen Volkswirtschaften hinaufschuftete, blieb weder Zeit noch Geld, um über bewusstes Wohnen nachzudenken. Höher, schneller, weiter, lautete die Maxime.

Wer die baulichen Folgen des „Wirtschaftswunders vom Han- Fluss“ in all seinem Ausmaß erblicken möchte, erklimmt am besten einen der Berge im Seouler Stadtgebiet und lässt den Blick in die Ferne schweifen: Tausende Apartmentblocks reihen sich wie Dominosteine bis zum Horizont, in ihrer grauen Erscheinung

Foto: Hong Sang-Don Foto: und kubischen Form sind sie kaum auseinanderzuhalten. Einzelne

KULTUR KOREA / 43 © Fabian Kretschmer Seoul Hanok Expo 2016

Hochhaussiedlungen beherbergen auf nur wenigen Quadrat- Ki-duk schauen. Große Teile des Films wurden im Innenhof des kilometern mehr Bewohner als deutsche Kleinstädte. Sie sind 72-Jährigen gedreht. nicht zuletzt der Grund dafür, warum die meisten koreani- schen Großstädte ihre Schönheit vor allem nachts entfalten. Heute jedoch, fast 30 Jahre später, sieht sich Kilburn als Ver- fechter eines gallischen Dorfes, umzingelt von Starbucks-Filli- Mit europäischen Augen betrachtet erinnern die Apartment- alen, Bürotürmen und Souvenir-Shops. Vor rund zehn Jahren siedlungen vor allem an triste Satellitenstädte à la Berlin-Gro- bekam der ehemalige Journalist erstmals Besuch vom Seouler piusstadt und Köln-Chorweiler. Für viele Koreaner jedoch Rathaus: Eine Beamtin gehobenen Alters versuchte ihn in repräsentieren sie vor allem Fortschritt, neu gewonnenen höflichem Ton dazu zu überreden, doch besser in ein moder- Wohlstand und Wohnkomfort. Mittlerweile leben fast zwei nes Gebäude zu ziehen. Dass ein Ausländer freiwillig in einem Drittel aller Südkoreaner in einem 아파트 (A-pa-teu/Appart- alten Hanok leben wolle, schien ihr geradezu unverständlich. ment). Es gibt wohl wenige Länder auf der Welt, deren Archi- Verdutzt lehnte Kilburn den Vorschlag ab. tektur von einer solch drastischen Diskontinuität geprägt wird: von Lehmhütten zu Betontürmen in nur einer Generation. Zu jener Zeit wurden Bulldozer zum ständigen Begleiter in der Bukchon-Nachbarschaft. Pedantisch dokumentierte der Laut Angaben der Stadt Seoul gibt es nur mehr 11.000 traditio- Brite den Wandel des Viertels: Häuser wurden abgerissen und nelle Wohnhäuser, von denen viele mit dem Ableben ihrer neu errichtet, mit mehreren Stockwerken und angebauten fast ausschließlich hochbetagten Bewohner wohl abgeris- Garagen. Sein Haus ist eines der letzten verbliebenen, deren sen werden. Nur knapp 600 Hanoks wurden aufgrund ihrer Baustruktur nicht verändert wurde. „Ich wohne im Grunde in Bausubstanz für ihre Erhaltung bestimmt und mit öffentlichen einer Geisterstadt voller leerstehender Drittwohnungen für Geldern restauriert. Wenn man einen Eindruck vom Südkorea die Superreichen“, sagt Kilburn. Die Gegend sei nun in etwa so der 1920er und 1930er Jahre bekommen will, dann bleibt nur authentisch wie ein Filmset. mehr eine letzte Bastion über: der Stadtteil Bukchon, das eins- tige Adeligen-Viertel, inmitten zweier Paläste der Joseon-Dy- nastie (1392-1910) im Seouler Stadtzentrum.

Als David Kilburn 1988 nach Seoul gereist ist, um als Repor- ter von den Olympischen Spielen zu berichten, war er sofort fasziniert von der historischen Nachbarschaft. Damals sei es überaus einfach gewesen, sich ein leistbares Haus zu kaufen. Fabian Kretschmer, 1986 in Berlin Viele Anwohner befürchteten nämlich, im Falle eines nord- » geboren, studierte Publizistik- und koreanischen Bombenangriffs in unmittelbarer Nähe des Kommunikationswissenschaften in Präsidentensitzes besonders gefährdet zu sein. Der Brite blieb Wien, Shanghai und Seoul. Er arbeitet in Bukchon – bis heute. seit 2010 als freier Journalist für Zei- tungen, Magazine, Onlinemedien und Wenn Kilburn von früher spricht, redet er von geradezu para- das Radio. Seit September 2014 ist er diesischen Zuständen: Die Haustüren standen offen, Nachbarn Korrespondent in Seoul, unter ande- hätten sich regelmäßig besucht, das Zusammenleben sei herz- rem für die taz, Wiener Zeitung und lich und kameradschaftlich gewesen. Wer die Schönheit von den Standard. Im August 2015 folgte Kilburns Hanok bewundern will, muss nur die Arthouse-Pro- die erste Buchveröffentlichung im duktion „Bin Jip“ (2004) des koreanischen Regisseurs Kim rowohlt Verlag: „So etwas wie Glück“ Foto: Heinrich Holtgreve Foto:

44 / KULTUR KOREA MUSIK UND TANZ

Back Into. Out Of. For Janggu and Ensemble von Eun-Hwa Cho

EIN NEUES JAHR, EIN „NEUES“ NEUJAHRSKONZERT Das Neujahrskonzert der Botschaft der Republik Korea am 13. Januar in der Berliner Philharmonie

Von Matthias R. Entreß

iesmal nicht mit einem großen Reigen herrlicher italie- ker immer wieder bemühen, diese ungemütliche Kombination nischer Arien oder einer Talentschau mit koreanischen einander wesensfremder Instrumente fortzuentwickeln, statt DPreisträgern, sondern mit einem nach vorn, zu neuen einfach die koreanische Tongestaltung auf westliche Instru- Möglichkeiten strebenden Konzert feierte die Botschaft der mente zu übertragen? Mag es aber noch so wahr sein, dass bei Republik Korea am 13. Januar im Kammermusiksaal der Ber- dieser Verschmelzung das Beste von beiden Seiten verloren liner Philharmonie das neue Jahr. Das festliche Konzert, das als geht – es wäre falsch, die neuen Werke nur daran zu messen, zweiten Anlass die Eröffnung des Pavillons der Einheit am Pots- was sie nicht besitzen, statt an dem Neuen, was tatsächlich damer Platz im November vergangenen Jahres hatte, war eine entsteht! Und am anderen, neuen Kulturgefühl. hervorragende Ergänzung zu der letztjährigen Konzertreihe Korea Neue Musik++, denn hier nun stand das musikalische Dieses Konzert nun präsentierte im ersten Teil mit dem Ensem- Hätschelkind der koreanischen Moderne zur Debatte: Musik ble Korea (gegründet 2015) vier Werke, die diese Gegenüber- mit traditionell koreanischen und klassischen westlichen stellung zum Thema machten. Instrumenten. Das kurze Trio Dancing Sanjo 2 für 25-saitiges chromatisch Diese beiden Klangwelten zu verheiraten, bemüht man sich in gestimmtes Gayageum (diese Wölbbrettzither hat gewöhnlich Korea schon seit vielen Jahrzehnten. Die Schwierigkeiten lie- nur 12 Saiten), Cello und Klavier von Lim June-hee bezieht sich gen auf der Hand: Koreanische Instrumente sind im Einklang auf den schnellen Schlussteil des klassischen Sanjos (Solosuite mit den traditionellen Musikformen entstanden. Die gelehr- mit Trommelbegleitung) von Choi Ock-sam, welches die Solis- te Musik Jeong-ak und die volkstümliche Musik Minsog-ak tin Sung You Jin als Meisterstück in ihrem Repertoire besitzt. nutzten die Möglichkeiten dieser Instrumente in idealer Weise, Eine interessante Spannung ergab sich zwischen der kat- und umgekehrt sind diese Stile auch die perfekte Umsetzung zengleich geschmeidigen Spielweise des Gayageums und der der charakteristischen Eigenschaften der Instrumente: Ihre starren Tongebung des Klaviers, welches die Melodie in einer Geschmeidigkeit in der Gestaltung des klingenden Tons und Weise umspielte, die überraschend an die luftige Melodik des die ausdrucksvolle Rauheit ihrer Tongebung prägten die alte französischen Impressionisten Maurice Ravel erinnerte. Das koreanische Musik. Aber diese Partnerschaft ist ausschließlich. Cello setzte mit weitläufigen Glissandi schwungvolle Linien, Peinlich berührte es vor gut 30 Jahren zumindest westliche eine Kalligrafie in Klang sozusagen, und nutzte so seine tech- Hörer, als ein Gayageum-Trio Pachelbels berühmten Kanon nischen Möglichkeiten in deutlich nachvollziehbarer Weise. in gummiartiger Verzerrung spielte. Diese Instrumente sind Da jeder Ton auf dem Gayageum nun einer ziemlich starken für die Darstellung harmonischer Wirkungen schlichtweg Tonhöhenschwankung unterworfen wurde – also nach west- ungeeignet. lichem Maßstab „falsch“ klang, nach koreanischem Maßstab Hingegen auf einem Cello die Wölbbrettzithern Geomungo aber „richtig“ und ausdrucksvoll war, wirkte die Musik wie eine oder Gayageum oder das gestrichene Ajaeng nachzuahmen, Überblendung eines Gemäldes mit einem Foto. Die Exotik des bereitet keine unüberwindlichen Probleme. So bleibt die Fra- Klangs wurde „ins Französische“ übertragen und die Mehrstim- Fotos: Koreanisches Kulturzentrum Koreanisches Fotos: ge bestehen, warum sich koreanische Komponisten und Musi- migkeit war „multikulturell“. Ein schwungvoller Auftakt!

KULTUR KOREA / 45 Innenleben – aber der treibende, mitunter selbstzerstörerische Rhythmus hat etwas von den jagenden Trommel-Exzessen der koreanischen Bauernmusik oder des Buddhismus. In Back Into. Out Of... nun fokussierte sich diese rhythmische Kraft und Sensibilität im Solo-Part der Janggu, mitreißend gespielt von Park Chunji und dem Ensemble Korea unter dem Dirigat von Heiko Mathias Förster. Komposition Hül von Sung-won Gae Was für ein tolles Programm! Im zweiten Teil wurde der Ge- danke der Adaption, der Anpassung und Kombination in völlig anderer Weise wieder aufgenommen:

Das Echo-Ensemble der Hochschule für Musik Hanns Eisler Ber- lin spielte 12 Lieder aus Hans Zenders Bearbeitung von Schu- berts Winterreise. Zender hat nicht nur einfach den Klavierpart für Orchester gesetzt, sondern daraus eine nachdenkende Reflexion, eine herzlich liebevolle und gleichermaßen intellek- tuell herausfordernde Annäherung geschaffen. Beginnend mit den schlurfenden Schritten des einsamen Wanderers durch eine vereiste Landschaft, ließ er das Orchester nach und nach die erste Melodie („Fremd bin ich eingezogen“) tastend erkun- den und sie später auch wieder in blanken Horror einbrechen. Hans Zender, der in diesem Jahr 80 wird, hat sich als Dirigent Janggu-Spieler Chunji Park stark für die zeitgenössische Musik eingesetzt, als Komponist aber oft über die Romantik nachgedacht. Er hat ein eigenes Für den Solopart von Bow von Won Il war der renommierte System rein harmonischer Stimmung geschaffen, welches die Janggu- (Sanduhrtrommel)-Spieler Kim Woongshik aus Korea 12 Töne der Klavier-Oktave vielfach übertrifft. Das kam auch in angereist. Won ist in Korea bekannt als Filmkomponist und dramatischer Weise seiner Schubert-Bearbeitung zugute – als war einige Zeit Leiter des Orchesters für Koreanische Musik am im „Lindenbaum“ (sicher der Koreaner liebstes deutsches Lied) Nationaltheater in Seoul. Moderne und Tradition konvergieren wie aus der Ferne der feierliche Naturklang von Jodelliedern in seiner Person – und in seiner Musik. Der Titel Bogen bezieht und Alphörnern erstand. Doch die Poesie dieser Umsetzung – sich auf die endlosen Wandlungen des Universums, aber das die Ohren spitzten sich, als in „Gefrorne Tränen“ einzelne Töne Stück klang wie ein Zusammenschnitt diverser Verfolgungs- und kleine Tongruppen hier und da übers Orchester getupft jagden; der Rhythmus dominierte alles, Cello und Klavier wurden, klanglich aufgebrochen, im Geiste zusammenge- umspielten ihn lediglich und feuerten die Trommel an, die im fügt – wurde durch einen Kunstgriff des Dirigenten Kwak dafür nicht recht geeigneten Kammermusiksaal im Höhepunkt Taepyeong und des Ensemble-Leiters Prof. Manuel Nawri noch alles andere unter sich begrub. übertroffen: Denn statt nur eines Tenors wechselten sich im Gesangspart 2 Tenöre, 2 Soprane und ein Bariton ab, manch- Das mit Streichquartett, Klavier, Kontrabass, sowie der Quer- mal im Wechsel innerhalb eines Liedes – lauter zauberhafte flöte Daegeum und den beiden Wölbbrettzithern Geomungo junge, unverbrauchte Stimmen, allen voran allerdings Jiayu und Gayageum größer besetzte „Hül“ (aufopfernde Liebe) Shen aus Shanghai, der mit klarster Aussprache und sicherer hatte eine abwechslungsreichere Faktur. Auf der Basis einer Tongebung den größten Anteil übernommen hatte. Wie sich ausdrucksvollen Melodie der Streicher ergab sich ein Wechsel- hier die Komposition und die Musiker rückhaltlos in die Poesie spiel mit der fernöstlich-romantischen Flötenweise und den hineinfallen ließen und mit dem mutigen, ernsten Bemühen harschen, perkussiven Einwürfen der Zithern. um neuen Ausdruck im ersten Teil wurde ein Gruß und Motto fürs Neue Jahr ausgesendet, wie er schöner und klüger kaum Bis hierhin war „Moderne“ nur ein anderes Wort für die Kom- sein konnte. bination von West und Ost, nicht für Avantgarde. Bezeich- Matthias R. Entreß, geb.1957 in Hamburg, nenderweise erhielt das einzige echte Avantgarde-Stück des » lebt und arbeitet in Berlin als freier Autor, Mu- Abends, Eun-Hwa Chos Back Into. Out Of. For Janggu and En- sikjournalist und -kurator. Er studierte Theaterwis- semble den größten Beifall. Eun-Hwa Cho, die in Berlin an der senschaft, Germanistik und Kunstgeschichte an Hochschule für Musik Hanns Eisler Berlin studiert hat und dort der FU Berlin, kuratierte 2004 in Berlin und 2007 jetzt Gastprofessorin für Komposition ist, hat erst vor wenigen privat Foto: in Italien Festivals mit koreanischer Musik sowie Jahren angefangen, das koreanische Instrumentarium in ihre Konzerttourneen mit Pansori (2009/2013/2015) Arbeit einzubeziehen. Ihre Musik ist von jeher energiereich und Volksmusik (2011). 2005 initiierte er die und impulsiv gewesen, und als sie ein großes Werk für Dae- ersten deutschen Übersetzungen von Pansori, an geum-Solo präsentierte, erschien das wie das fehlende Glied denen er auch mitarbeitete. Musikjournalistische zum Verständnis ihres Stils. Natürlich, ihre Musik ist hochkom- Schwerpunkte sind Neue Musik und Außereuro- plex, mit einem äußerst erregten, blitzartig sich wandelnden päische Musik für DLR, BR, DLF.

46 / KULTUR KOREA MUSIK UND TANZ EIN KÖRPER VOLLER ERINNERUNGEN, ODER KANN MAN INTIMITÄT TANZEN? Hyoung-Min Kim zeigt zwei hochpoetische Soli im Berliner DOCK11 Gelbe Landschaften (Foto: Crispin-Iven Mokry) Von Thomas Schütt ls Koreanerin in Deutschland Enttäuschungen und Verwundungen stellt sich Hyoung-Min Kim, wie überhaupt auf der Bühne wiederherstel- Asie einmal in einem Interview len und sichtbar machen lässt. bemerkte, die Frage nach der Identität auf ganz besondere Weise. Und das nicht 2014 entschied sich Hyoung-Min Kim nur aufgrund der zwei Nationalitäten, die dazu, neben ihrer Arbeit als Ensemble- ihr Leben prägen; auch und gerade ihre tänzerin und Choreografin der tieferge- Tätigkeit als freischaffende Choreografin, henden Erforschung einer unbedingten, Performerin und Tänzerin stellt sie immer individuellen Körpersprache nachzuge- wieder vor die Herausforderung, sich ein hen. Sich verständlich zu machen und ums andere Mal neu zu finden, zu erfin- den Dialog anzuregen, zu sensibilisieren den und zu positionieren. Diesen Impuls und im Theater einen Raum für die basa- Nach dem Ende kommt noch was (Foto: Jeonghee Han) verspürt sie deutlich und gibt ihn ganz len menschlichen Sehnsüchte zu schaffen pur und ohne große Theoretisierung in – das könnte man als die persönlichen ihre Arbeit weiter. Es gibt keine Trennung Motive von Kim formulieren, die dem zwischen ihrem künstlerischen Schaffen Zuschauer in den Stücken als Gesten der und dem, was sie persönlich anficht. Seit Einladung zur empathischen Teilnahme ihren Anfängen als selbstständige Cho- entgegenkommen. reografin transformiert Kim die kapitalen existenziellen Fragen des Menschseins Die Frage, die sich einer selbstständigen in eindrucksvolle Performances, die Künstlerin nahezu täglich aufdrängt, die Empathiefähigkeit ihrer Zuschauer nämlich „Wo ist mein Platz?“, ist zunächst gewaltig herausfordern und bisweilen an einmal sehr konkret. Aber sie bleibt nicht ihre Grenzen führen. In der Vergangen- auf die Sorgen einer freien Künstlerin heit beschäftigten sich diese Arbeiten mit beschränkt. Welchen Platz darf ich als Flucht und Vertreibung, Zukunftsängsten Individuum in meiner Lebenswelt bean- und Hoffnung auf Befreiung, besonders spruchen? Oder ist ein bestimmter Raum auch mit der Sehnsucht nach einer für mich vorgesehen; und wie finde ich (neuen) sicheren Heimat. Nicht zuletzt ihr dort hin und wie passe ich hinein? geteiltes Heimatland Korea weiß ein allzu trauriges Lied darüber anzustimmen. Ak- Es sind die letzten Fragen des Lebens, die tueller könnte die Themenwahl von Kims in Hyoung-Min Kims Stücken angestoßen früheren Arbeiten also kaum ausfallen. werden; oder die zahlreichen philosophi- schen Antworten, die in diesen Perfor- Hyoung-Min Kim arbeitet im Vertrauen mances mit einem Mal zur Disposition Gelbe Landschaften (Foto: Crispin-Iven Mokry) auf das, was man als das Gedächtnis oder stehen: Eindeutige, leichtfertige Erklärun- das ist keineswegs modische Renitenz, Archiv des Körpers bezeichnen könn- gen oder vorschnelle Statements sucht sondern geschieht aus der Reduktion te. Oder kurz gesagt: Erinnerung und man in Kims Choreografien und Konzep- ihres breiten, virtuosen künstlerischen Geschichte sind für sie nicht nur mentale ten, in der Ästhetik auf der Bühne oder Spektrums auf gerade so viel, dass der in- Repräsentationen von Vergangenem, bei der Zusammenführung von Sound, nere Film beim Zuschauer wie von selbst sondern ein ganz konkreter physischer Licht – denen sie volle künstlerische zum Laufen kommt. Diese Impulse sitzen Zustand, also auch mehr als ein Gefühl. Gleichberechtigung mit der Choreografie tief und punktgenau; die Stücke werden Jener Zustand muss in seiner Ganzheit gewährt – und Bühnengeschehen verge- zu Projektionsflächen für das, was den respektiert und künstlerisch erfasst und bens. Stattdessen nimmt Kim das Publi- Zuschauer an diesem Abend an diesen erzählt werden. kum mit auf eine Reise, wie sie individu- Ort geführt hat, und geben ihm Zeit und eller für jeden einzelnen Zuschauer nicht Raum, diese individuellen Motive inner- Letzteres knöpft sich die Choreografin ausfallen könnte. Die Bewegungssprache, lich auszumalen und das so wachsende und – in der Mehrzahl der Arbeiten – die sie und ihre Performer beherrschen – Tableau im Entstehen zu betrachten. auch Performerin ihrer eigenen Werke oder sogar im Moment der Performance Von den Bildwelten, die Kim für sich und mit Akribie vor: Herausfinden, inwieweit erst erfinden –, verweigert sich allen ihre Darsteller erarbeitet, einmal ganz zu sich diese Ganzheit einer Person mit Klischees und eindeutiger Zuordnung schweigen. ihren Wünschen, Sehnsüchten, aber auch zu bestimmten Subgenres im Tanz. Und KULTUR KOREA / 47 Mit dem Publikum teilen – das ist liner Choreografin die Möglichkeit in den die Frage nach der Identität das größ- Hyoung-Min Kim spürbar wichtig. In Blick, nach der Ergründung von Intimität te Risiko; das Risiko, sich im Finden zu ihrem Solo Gelbe Landschaften, das 2014 die eigene Identität ungeteilt darzustel- verlieren. nach einer Künstlerresidenz in Dresden len. Dazu wird die Tänzerin Anna-Luise Re- ebendort uraufgeführt wurde, untersucht cke in der Solo-Performance zum Spiegel Hyoung-Min Kim öffnet ihr Archiv des die Koreanerin Möglichkeiten, die oftmals für Kims Erfahrungswelt, schlüpft quasi in Körpers, befragt ihre Erfahrungen und hauchdünne Linie zwischen gerade noch ihre Haut, ohne den naheliegenden Char- traut sich schließlich, sich selbst ins Antlitz zu rettender Intimität der Person in der gen von überzeichnender Karikatur oder zu blicken. Anna-Luise Recke bespiegelt Öffentlichkeit und öffentlicher Person übervorsichtiger Hommage zu verfallen. die ihr fremde Erfahrungswelt von allen inmitten des kollektiven Interesses zu Gewohnt physisch und in kraftvollen Seiten, „identifiziert“ sich für die Dauer überwinden. Diese minimalistische Perfor- Bildern entwirft Kim Strategien der künst- einer Stunde mit der ihr anvertrauten mance schafft zwischen jenen beiden lerischen Selbsterkundung und definiert Persönlichkeit, ohne jedoch ihre eigene Polen Szenen von größter Verletzlichkeit. das Verhältnis von Identität, persönlicher Identität zu verbergen. Auf ihrem Körper Ist Intimität immer als ein Mangel von Festigung und Sicherheit als unumstößli- entsteht ein Kaleidoskop verschiedener Öffentlichkeit, ist Öffentlichkeit immer chen Ausdruck einer Conditio Humana. Individualitäten, das den Facettenreich- als ein Mangel von Intimität zu verste- tum jeder einzelnen Persönlichkeit erken- hen? Wichtig, so lässt es sich bei Gelbe Eine Persönlichkeit hat viele Seiten. Je nen lässt. Um die Performerin entsteht Landschaften abschauen, ist zu klären, wo nach Kontext, Umfeld und Stimmung eine wandelbare Landschaft, wird eine zwischen diesen zugegeben abstrakten tritt ein bestimmter Aspekt in den Kartografie der angenommenen und der Fronten der konkrete Mensch steht. Vor al- Vordergrund: Ehefrau, Tänzerin, Verhand- eigenen Persönlichkeit zugleich erarbei- lem, wenn er sich nicht so leicht zwischen lungspartnerin in geschäftlichen Ange- tet. Immer neue Gegebenheiten werden Schwarz und Weiß, drinnen und draußen legenheiten oder einfühlsame Freundin zur Herausforderung, die Einheit der entscheiden kann oder möchte: Eine - verschiedene Rollen werden zum Aus- Persona aufrecht zu erhalten. Performerin ohne Öffentlichkeit? Das lässt druck unterschiedlicher Facetten ein und sich kaum denken. Und gerade deswegen derselben Person. Im Alltag wandeln wir Im Februar 2016 war Gelbe Landschaften hat das auf der Bühne Unsichtbare, das, im Handumdrehen von Rolle zu Rolle und nach seiner Uraufführung 2014 und Vor- was sich in der Hülle des Performerkör- setzen ein Spiel um unser ‚Ich‘ in Gang stellungen in Seoul und Leipzig erstmals pers verbirgt, einen immensen Reiz – für mit dem Ziel, eine feste Größe für den in Berlin und im Kontext der Wiederauf- die Performerin, wenn es ums Darstellen Augenblick zu behaupten. Eine solche, nahme von Nach dem Ende kommt noch geht, und für den Zuschauer, wenn es wie gerade beschriebene Frau ließe sich was zu erleben. Das Double Feature aus ums Entdecken geht. mit Fug und Recht eine „Architektin ihrer beiden Performances bestach durch de- selbst“ nennen; so sprach ein Dresdener ren Kompatibilität, die von Anfang an Teil Intimität ist eine der wesentlichsten Kritiker bereits über Gelbe Landschaften, der Konzepte war: Der Nachfolger schloss Bedingungen für das menschliche Leben. dessen legitime Fortsetzung Nach dem nahtlos an den Vorgänger an; beide Aben- Diese Einsicht teilt Kim mit Edward Ende kommt noch was ist. de verschmolzen zu einer neuen Einheit. Snowden, dessen Forderung nach einem Der offene, von aller Heiligkeit befreite Grundrecht auf Intimität Kim inspiriert Wieder steht für die Choreografin und Umgang mit den Gegebenheiten auf der und ermutigt hat. In Gelbe Landschaften diesmal auch für die Performerin, in deren Bühne, mit Umbauten und Performer- geht es nicht darum zu demonstrieren, Hände Kims Rekonstruktion von Identität wechsel etc. trugen der Direktheit von wie Intimität funktioniert. Hier wird ein in- buchstäblich gelegt wird, das Sprechen Hyoung-Min Kims bestechender künstleri- timer Moment geschaffen! Der Schriftstel- über den Prozess im Vordergrund. Anhand scher Handschrift Rechnung. ler Jürgen Becker ermutigt: „Ganz und gar eines sprachlichen Beispiels lässt sich nicht langweile ich mich. Ich kann eben zeigen, worum es in der Performance, die „Gelbe Landschaften“ und „Nach dem Ende kommt noch was“ wurden vom 18. bis zum stundenlang dasitzen und vollkommen ohne Text auskommt, geht: Hyoung-Min 21.02.16 im DOCK11 in Berlin gezeigt. beschäftigt sein. Ich hasse es zu stehen; Kim beispielsweise ist Choreografin. Die ich hasse es, mich zielgerichtet bewegen Aussage ist wahr. Doch reicht dieses „ist“ zu müssen. Ich bin außerstande, etwas zu nicht aus, um ihre Identität voll und ganz Thomas Schütt, geb. tun, solange du etwas erwartest.“ zu begreifen. Mit jedem Versuch, Identität 1979, ist freischaffender in einfachen Aussagen zu fixieren, zerrinnt Performer, Dramaturg und Unter dem Druck von Erwartungen und sie in unzählige Einzelteile. Setzt man Philosoph in den zeitge- Anforderungen stehen unsere intims- diese wieder wie gewohnt zusammen, nössischen darstellenden ten Sehnsüchte und Begierden zurück. entsteht ein neues Bild. Hyoung-Min Kim Künsten. Zahlreiche inter- Hyoung-Min Kims Performance bewegt beschäftigt sich mit diesem irritierend nationale Zusammenarbeiten, insbesondere sich zwischen schonungsloser Offenheit flüssigen „ist“. Nach dem Ende kommt noch mit Michael Laub/Remote Control Productions, und anmutiger Schönheit. Eine Herausfor- was riskiert dabei alles: Die Erinnerung an Two Fish, EX!T Ausgangspunkt Theater, Wagner derung an alle, sich der Empfindsamkeit das, was war, genauso wie die Hoffnung Moreira und Hyoung-Min Kim. Gemeinsam hinzugeben. auf das, was kommt. Wenn der Körper mit der Regisseurin Elke Schmid ist er Gründer ein Archiv aus Erinnerungen birgt, gibt es und Performer von ÉCOLEFLÂNEURS, einer In ihrer zweiten Solo-Performance Nach dann mehr als nur diese Erinnerungen? Schule des Flanierens. Er lebt in Berlin. www. dem Ende kommt noch was nimmt die Ber- Wo liegt Identität vergraben? Vielleicht ist

thomasschuett.de. privat Foto:

48 / KULTUR KOREA MUSIK UND TANZ

JUNGER MEISTER MISST SICH MIT TITANEN DER KLASSIK Sunwook Kim spielt Klaviermusik von Schubert, Beethoven und Mozart

Von Matthias R. Entreß

ls der junge Mann nach dem stalter gewöhnlicherweise weder sich, Präzision zeichnet er das Formschema langen Verklingen des letzten Tons noch dem Publikum zumuten, nämlich nach, und man horcht auf. Das Stück gilt Adie Arme sinken ließ und in die die jeweils größten Klavierstücke von als virtuosestes Klavierwerk Mozarts, aber vollkommene Stille dieses Ausklangs der Franz Schubert, die riesige G-Dur-Sonate Kim beherrscht die technische Seite mit Applaus aufbrandete, fiel die Spannung D.8941 von 1826, und die „Diabelli-Va- einer (scheinbar) so mühelosen Leichtig- von ihm ab, die er das ganze lange riationen“ von Beethoven op.120, und keit, dass er die Aufmerksamkeit des Pu- Konzert hatte halten können, und im vorneweg, durchaus zu gewichtig, um als blikums auf die Jonglage des Ausdrucks Hinausgehen wirkte er, als wäre er um Aufwärmer zu gelten, Wolfgang Ama- lenken kann und diese gleichzeitig 30 Jahre gealtert. Tatsächlich hatte Kim deus Mozarts ziemlich ernste B-Dur-So- streng wirken lässt. Er zeigt, wie Mozart Sunwook, der 1988 in Seoul geborene, nate KV 2812. die musikalischen Figuren ineinander- heute in London lebende, koreanische Gleich zu Beginn zeigt Kim mit festem greifen lässt, und deutet wunderbar das Konzertpianist, Titanisches vollbracht. Zugriff, dass er keineswegs gewillt ist, das heitere Drama an, das ihnen zustößt. Hier Das Programm am 11. Februar 2016 im Stück des 18-jährigen Salzburger Kom- ist ein Pianist, merkt man, der es nicht auf Kammermusiksaal der Berliner Phil- ponisten als niedliche, süßlich-anmutige den Effekt, sondern auf die Vermittlung harmonie hatte er tags zuvor bereits in Spielerei darzustellen, sondern als ein seiner Erkenntnisse aus der Begegnung der Pariser Philharmonie gegeben, ein modellhaftes Exemplar der Gattung mit dem Kunstwerk abgesehen hat.

Foto: Doh Lee, mit freundlicher Genehmigung von Askonas Holt Askonas Genehmigung von mit freundlicher Doh Lee, Foto: Programm, das Pianisten und Veran- „Sonate“. Mit Verve, aber auch mit großer

KULTUR KOREA / 49 Dann Schubert. Die große G-Dur-Sonate ren, und so den direkten Kontakt zum Pu- vielen sehen wollte, andererseits vielleicht ist in den letzten hundert Jahren vermut- blikum pflegen. Kim ist gewiss kein Show- auch, um mit dieser grotesken Übererfül- lich nie vor einer Konzertpause gespielt man, der Fratzen schneidet oder Späße lung des Auftrags den mäßig talentierten worden, sondern nur als Hauptwerk eines macht, aber er macht sich das Werk zu Diabelli zu maßregeln. Beethoven, der Konzerts am Ende. Nimmt der junge Herr eigen und strukturiert es, verdeutlicht auf damals bereits völlig ertaubt war, schuf Kim sich da zu viel vor, oder will er es gar maßvolle Art die Kontraste und dramati- damit jedenfalls ein unvergleichliches zu leicht nehmen? schen Wendungen, sodass Verstehen und Feuerwerk an musikalischen Ideen, bril- Schubert wusste es nicht, aber die Sonate Miterleben in großer Balance sind und lanten Kunststückchen und tiefsinnigsten steht neben dem G-Dur-Streichquartett den Hörer nicht überfordern. Vielleicht Charakterstücken, die aber alle das Thema und der Deutschen Messe am Anfang sei- ist ein Programm, das der Musikkenner durchscheinen lassen und es natürlich an nes Spätwerks – zwei Jahre später schon als monströs ansieht, und das Interesse, musikalischem Wert haushoch überragen. lag er im Grab; er war, als er dieses Stück das seine sportliche Leistung weckt, Teil Diabelli selbst, dessen Name damit un- schrieb, etwa 28, so alt wie Sunwook Kim, der Strategie, die Aufmerksamkeit des sterblich wurde, war begeistert und gab wie er sich in seiner neuen englischen Hei- Publikums wachzuhalten. Es will sehen, Beethovens Variationen als Einzelband mat nennt, heute. was geschieht. Die beiden mittleren Sätze heraus. Wann hört man dieses Stück im Auch diese Sonate hat Modellcharakter, zeichnen die Welt in Wolken verhangen, Konzert? Es fordert vom Spieler äußerste allerdings sind die Dimensionen teils über Tönungen, zwischen Grau und Schwarz, Wandlungsfähigkeit und Hingabe ans das klassische Maß geweitet, insbeson- große Mühe und geringer Lohn, mehr Detail. dere der erste Satz. Die Exposition allein Ungemach als Freude – und dann das Sunwook Kim setzte nun noch verstärkt dauert schon, je nach Tempo, etwa 5 bis Schlussrondo, das mit den Verwandlun- fort, was er im ersten Teil begonnen hatte, 7 Minuten, und Kim verzichtet keines- gen seines Themas mädchenhafte Regun- stellte die kontrastreiche und organische wegs darauf, sie zu wiederholen. Und gen weckt, und auch über Kims Gesicht Folge von harschen Klängen, Spottliedern, er macht etwas daraus! Die Exposition fährt mancherlei Lächeln. Und so endet wunderbar zarten Stellen mit absoluter eines Sonatensatzes legt das melodische diese schwere Sonate heiter. Kim weiß um Hingabe dar. Jede Nuance verdeutlichte er, Material aus. Kim spielt diesen Katalog der all dies, und er stellt es dar, macht es klar. ohne zu übertreiben, ließ sich auf jeden Empfindsamkeit und des inneren Aufruhrs Kims Karriere hat ihren Ursprung in Korea; Spaß und jede Zartheit Beethovens ein. zunächst nüchtern, fast spröde; doch in er begann das Klavierspiel mit drei, gab Und Sunwook Kims besondere Qualität der Wiederholung erscheint die Musik mit zehn sein erstes Recital, studierte als auftretender Künstler wurde ebenfalls ganz anders: Kim lässt sich hineinfallen in an der Korea National University of Arts deutlich: Je nachdem, wo man saß, sah die Traurigkeiten, in das Sich-Ergeben und und gewann 2006 mit 18 den wichtigen man, als wären es Gemälde von Vermeer, feiert das Aufbäumen gegen dasselbe Klavierwettbewerb in Leeds, der nicht sein sein sich dem jeweiligen musikalischen – oder ist das Hören nun verfeinert und erster in Europa war. Derzeit darf er mit Wesen hingebendes Gesicht, oder, saß besser vorbereitet auf die Sensibilitäten? Stolz auf mehrere CD-Veröffentlichungen man weiter links, die wunderbaren Pup- Egal: Kim macht das Hören zu einem mit sehr anspruchsvollen Solo-Program- penspiele seiner Finger auf der Tastatur. Erlebnis. Dann folgt die Durchführung. Sie men und seit neuestem auf Veröffentli- Der taube Beethoven mag durchaus nicht ist die Spielwiese oder das Schlachtfeld chungen als Solist in Klavierkonzerten mit nur Töne, sondern eben auch die Bewe- dieses Materials, hier wird es gewendet dem Seoul Philharmonic Orchestra unter gungen der Finger komponiert haben! und zerbrochen, verschoben, immer neu Chung Myung-whun bei der Deutschen Und, wenn wir fragen sollten, was mag beleuchtet. Was geschieht, wenn die Grammophon blicken. denn nur das Koreanische an diesem jun- Kugel den Lauf verlassen hat, was, wenn Nach der Pause: Ludwig van Beethovens gen Meisterpianisten sein? So dies: dass das Raumschiff in den luftlosen Weltraum „33 Veränderungen über einen Walzer er, wie ein Pansori-Sänger, mit allen Fasern vordringt – oder wenn der junge Mensch von Anton Diabelli“ op.120, ebenfalls ein seines Geistes und Leibes seinen Gegen- sein Elternhaus verlässt, welches Unbill, Spätwerk. Beethoven schrieb es 1823, stand zu vermitteln, zu erzählen weiß und welche Glücke stoßen ihm zu? Davon etwa 4 Jahre vor seinem Tod, gleichzeitig das Publikum stets wach und aufmerksam handelt eine Schubertsche Durchführung mit der Missa Solemnis op. 123 und den – stets amüsiert hält! Riesenapplaus und im Sonatensatz. Kim spielt diese Musik drei letzten Klaviersonaten op. 109 bis eine Zugabe: Liszt, Zweites Petrarca-Son- weder in extremer Verlangsamung, wie 111, und kurz vor seiner 9. Symphonie. nett, eine Musik, die Moderne vorausah- es Svatoslav Richter tat, noch huscht er Der Anlass war folgender: 1819 plante nend. Und das möchte man auch noch darüber hin, aber auf der Basis seiner der Herausgeber und Komponist Anton alles vollständig von Sunwook Kim hören. Gelassenheit – und seiner Ökonomie, die Diabelli, eine Sammlung von Variatio- man nun zu bewundern beginnt, wendet nen über einen von ihm komponierten Kim sich allen Details mit Fürsorge zu, Walzer herauszugeben, zu dem jeder erschöpft aber weder sich, noch die Hörer, österreichisch-ungarische Komponist mit übertriebener Expressivität. einen Beitrag leisten sollte. Auch Schubert 1 D. (auch DV) = Deutsch-Verzeichnis: das chrono- Was kann ein junger Virtuose in dieser nahm daran teil, ebenso der ganz junge logisch nummerierte Verzeichnis aller Werke von Zeit, in der die Meisterwerke der klassi- Franz Liszt und zahlreiche andere, heute Franz Schubert, angelegt von Otto Erich Deutsch 2 schen Musik in den allermeisterhaftesten völlig vergessene Komponisten. Beetho- KV (auch K.) = Köchelverzeichnis: das chrono- logisch nummerierte Verzeichnis aller Werke von Interpretationen auf Tonträger oder bei ven aber schrieb gleich 33 Variationen Wolfgang Amadeus Mozart, angelegt von Ludwig YouTube uneingeschränkt verfügbar sind, über die etwas törichte, staksige Melodie, von Köchel, erstmals erschienen 1862, seitdem noch Neues bringen? Antwort: Konzertie- einerseits, weil er sich nicht als einer unter mehrfach ergänzt.

50 / KULTUR KOREA MUSIK UND TANZ

GUGAK-FESTIVAL IN 70 MINUTEN Das Ensemble Yangju Pungryu Akhoe auf Konzertreise durch Europa

Das höfische Orchesterstück Sujecheon Von Matthias R. Entreß

ie musikalische Gala ist in Korea eine weitaus geläufige- ‚kreatives’ Ensemble.“ Sind dadurch nicht auch die Chancen für re Konzertform als in Deutschland. Das Wohlbefinden, die Verbreitung der koreanischen Musik in Europa verbessert? Ddas sich beim Genuss einer ganzen Folge von schönsten „Damals, 1973 und 1985, wurden die Konzerte alle staatlich Stücken beim Publikum einstellt, hat dort eine besondere unterstützt. Das Konzert heute aber wird von der Firma Crown Stellung. Natürlich, bei einer Gala müssen die Stücke beliebt Haitai [Süßigkeiten und Lebensmittel, Anm. d. Autors] gespon- und bekannt sein. Bei dem Konzert der Yangju Pungryu Akhoe sert.“ am 26. Juni, am Sonntagnachmittag im Plenarsaal der Berliner Akademie der Künste am Pariser Platz in Berlin, war das kore- Aber auch in Deutschland hat sich einiges verändert, und anische Publikum so zahlreich und so warmherzig begeistert, das Internationale Institut für vergleichende Musikforschung, dass es die deutschen Zuhörer gleich mitriss und sie für die das 1985 den erwähnten Festival-Schwerpunkt ausgerichtet eigentlich ungewöhnlichen Klänge so einnahm, dass das Kon- hatte, musste nach dem Fall der Mauer mangels Finanzierung zept diesmal aufging, selbst bei denen, für die dies die erste geschlossen werden. Private Initiative ist gefordert. Yoon Begegnung mit Gugak, der nationalen, das heißt traditionellen Youngdal, Präsident von Crown Haitai, setzt sich mit großer Musik Koreas, war. Leidenschaft für die Pflege und Lehre traditioneller Musik ein. Könige, Helden – die meisten beteiligten Musiker dieses Allerdings – die Begegnung mit Königen, mit Helden! kann Abends haben bei jenen alten Meistern gelernt, die ihre wohl kaum anders als tief beeindrucken, und diese versam- Kenntnisse über die Zeit der japanischen Besetzung (1905-45), melten sich in dieser sehr heterogenen Gruppe von Musikern den Koreakrieg und die ersten Jahre des Wiederaufbaus retten der älteren Generation. Alle zwanzig von ihnen tragen den konnten. Chung Jae Kook hat z.B. die Militärmusik Daechwita Titel „Lebender Nationalschatz“, einige sind auch noch als vom einzigen Bewahrer dieser Tradition erlernt und ist jetzt Professoren im Amt, und manche stehen bereits im achten selbst Träger dieses wichtigen Kulturguts. Lebensjahrzehnt, wie der Piri (Bambus-Oboe)-Spieler Chung Jae Kook, 74: „Ich möchte so lang spielen, wie nur möglich!“ Und so verhält es sich mit vielen Stilen insbesondere der Im kurzen Interview vor dem Konzert erzählt er von früheren höfischen Tradition. Sie kommt zu uns durch ein Nadelöhr Auftritten in Berlin, 1973, bei denen ein koreanischer Kompo- der Geschichte. Als das Konzert mit Cheonnyeonmanse (,1000 sitionsprofessor die Einführungen gestaltete, und von 1985, Jahre Frieden‘), einem Stück für die Pungryu-Besetzung (ein wo als besonderer Schwerpunkt im Festival „Horizonte“ die siebenköpfiges Ensemble aus Zupf- und Blasinstrumenten koreanische Musik in aller Ausführlichkeit und Sorgfalt dem und Sanduhrtrommel) anhob, öffnete sich wie durch einen Berliner Publikum zugänglich gemacht wurde. „Seit damals ist Zeittunnel eine raue Klanglichkeit, eine Vieltönigkeit mit das Institut viel größer geworden. Heute gibt es neben dem zahllosen kleinen Überraschungen und – Schocks!, denn die Hofmusikorchester auch ein Volksmusikensemble und ein Hauptmelodie, auch der hübsche Volkstanz in der Mitte, wird Fotos: Koreanisches Kulturzentrum Koreanisches Fotos:

KULTUR KOREA / 51 Saal und den Außenbereich geeignet, während das sechs- bis achtköpfige Pungryu-Ensemble mit nur einer Trommel und der leisen Oboe Sepiri als Kammermusik angesehen wird.

Dieses Ensemble begleitet auch die Lieder namens Gagok, die auf Texte der Kurzgedichte Sijo gesungen werden. Es gibt da- von einen 15-teiligen Zyklus für Frauen- und einen 24-teiligen für Männerstimme. Das berühmteste „Männerlied“ ist Chosu- daeyeop. Der Text von Chosudaeyeop ist an lyrischer Sensibili- tät kaum zu übertreffen: „Dämmert es schon am Ostfenster?/ Die Lerchen verkünden den Tag/ Ist der Kuhhirte, mein kleiner Gehilfe, noch immer nicht aufgewacht? Wann will er das Feld endlich pflügen/ das über den Hügel sich erstreckt?“ (Übers. Sängerin Lee Chun Hee beim Vortrag von Volksliedern Heinz-Dieter Reese). Gagok ist durchinstrumentiert, aber die Partitur aus chinesischen Schriftzeichen vermittelt nur die eine Hälfte der Musik, die Hauptnoten, Verzierungen und Vibrato; der Rest ist mündliche Überlieferung, die Feinheiten, die mik- rotonalen Spiele, die sich aus der sehr weiträumig schwanken- den Tonhöhe im Zusammenklang mit den Instrumenten erge- ben. Dieses unschriftliche Wissen um Richtigkeit macht diese Musik zum „Immateriellen Kulturgut“. Und, gar nicht unähnlich dem Gesang im Jazz, erwächst die Schönheit nicht aus Glätte, sondern aus den vielen Abstufungen der Rauheit.

Dann wechselte das Programm mit der äußersten Steigerung stimmlicher Rauheit zur Volkstradition: Mit einer Szene aus dem Pansori Simcheongga. Der wunderbare 79-jährige Jo Sang Hyeon, sehr bekannt aus dem Film Chunhyangdyeon von Im Kwon-taek, wirft sich mit einer fantastischen Jugendlichkeit in Pansori-Sänger Jo Sang Hyeon in einer Szene aus Simcheongga die Pansori-typischen Klageschreie, deren spektakuläre Kunst- fertigkeit das Publikum mehrfach zu spontanem Beifall reizte. da stets umspielt von Tönen, die ihre Tonart absichtlich zu Nach und nach wird deutlich, wie geschickt dieses Programm verfehlen scheinen. Die leise Spießgeige Haegeum und die quer durch die Stile der Musik im alten Korea – grenzüber- Längsflöte Danso umzwitschern fröhlich und mit tausend schreitend zwischen den sozialen Schichten – gebaut ist, denn Nebenbemerkungen die gewichtig führende Hauptlinie, die es schließt sich ein superkurzes Geomungo-Sanjo an – Sanjo, aber auch schwankend ist. Das „verletzt“ das westliche Ohr!? die Solosuite für Melodieinstrument und Sanduhrtrommel, Nein! Das belebt es. Dur/Moll ade! Die koreanischen Tonarten wird mit der nachdenklichen Beweglichkeit des Tons auch als sind eher philosophischer Natur. Aber ihre Klanglichkeit vor instrumentales Pansori bezeichnet. den Einflüsterungen der allgegenwärtigen westlichen Musik zu bewahren, ist keine leichte Aufgabe! Die Erwähnung nur des Titels Lied des Unterwasserdrachens Das nächste Stück erweiterte den Begriff von Tanz. Chunaeng- (Suryeongeum), eines sehr zarten aristokratischen Duos von jeon ist eines der klassischen Standardwerke höfischer Unter- Mundorgel und kleiner Flöte Danso, evozierte bei den Zuhö- haltungskunst. Im 18. Jahrhundert vom Kronprinz Hyomyeong rern eine friedlich-fröhliche Szene von einem sich wonnig in choreografiert, soll es auf die zufällige Beobachtung eines den Meereswellen aalenden Drachen, und nach einem kleinen Pirols in einem Weidenbaum zurückgehen. Beginnend nur mit Medley von Volksliedern im Stil der Gyeonggi-Provinz folgte leichten Verbeugungen, vergrößert und beschleunigt sich das das groß besetzte höfische Orchesterstück Sujecheon, dessen Auf und Ab der mit einem Seidentuch verlängerten Arme und strenges Reglement doch so viel freies Aussingen insbeson- geht die beständig lächelnde Tänzerin (Song Young In) zuletzt dere der Flöten Daegeum erlaubte, dass es einem Tränen der in eine Drehbewegung über, die eine immer noch maßvolle Freude in die Augen trieb. Man hätte es so gern noch länger Ausgelassenheit darstellt – und Zurückhaltung ist in der höfi- gehört. Das konnte man zu jedem Stück sagen: Material war schen Musik das höchste Gebot. Die Strategie dieses Tanzes, genug da für ein mehrtägiges Festival hochklassiger Meister- wie auch die der größeren Werke der aristokratischen Musik aufführungen aus der stolzen koreanischen Klassik. Denn so ist es, von einer äußerst reduzierten Darbietung in mikrosko- sollte man die traditionelle Musik nennen, und so sollte man pischen Wandlungen zu einer mittleren Bewegtheit zu finden. sie auch aufführen. Dieses Konzert steigerte die Lust darauf ins In der weltlichen Musik der Aristokratie gibt es zwei Abtei- Schmerzhafte. Eine echte Gala! Ein genussreicher Überblick in lungen, die „laute“ und die „leise Musik“. Das sagt nichts über weiter zu erkundenden Reichtum. die Ensemblegröße aus. Obwohl Chunaengjeon nur von vier Musikern begleitet wurde, gilt das Ensemble wegen der durch- dringenden Oboe Hyangpiri als laut und somit für den großen

52 / KULTUR KOREA RÜCKBLICK IM BILD

Neulich im Koreanischen Kulturzentrum & anderswo... Januar bis Juni 2016

21. JANUAR VERNISSAGE DER AUSSTELLUNG „QUIET STARE“ – VIDEOKUNST VON YOOK KEUN BYUNG

13. JANUAR NEUJAHRSKONZERT DER BOTSCHAFT DER REPUBLIK KOREA IN DER BERLINER PHILHARMONIE

Fotos: Koreanisches Kulturzentrum KULTUR KOREA / 53 10. FEBRUAR VERNISSAGE DER AUSSTELLUNG „SOUVENIRS AUS KOREA”

23. JANUAR LHK & ISUM DANCE COMPANY’S NEW PROJECT - THE FRAGMENTS OF MEMORY

17. MÄRZ VERNISSAGE DER AUSSTELLUNG „DIE WELT - TRACING NATURE“ VON LEE DAECHEON

54 / KULTUR KOREA 13. FEBRUAR DIE „KOREAN FILM NIGHT“ IM RAHMEN DER BERLINALE 9. MÄRZ BESUCH DES BOTSCHAFTERS DER REPUBLIK KOREA, LEE KYUNG-SOO, AM KOREA-STAND DER INTERNATIONALEN BÖRSE FÜR TOURISMUS (ITB)

21. MÄRZ LESUNG MIT LEE SUNG-U AUS SEINEM ROMAN „DAS VERBORGENE LEBEN DER PFLANZEN“ IM LITERATURFORUM IM BRECHT-HAUS IN BERLIN

Fotos: Koreanisches Kulturzentrum KULTUR KOREA / 55 31. MÄRZ JUNGE KOREANISCHE TALENTE: KONZERT MIT DEM VENTUS SEXTETT

27. APRIL REMEMBERING THE FUTURE KANG EUN-IL HAEGEUMPLUS

13. MAI LÜGNER ODER ERZÄHLER? GESPRÄCH MIT DEM KOREANISCHEN AUTOR KIM YOUNG-HA IM LITERATURHAUS BERLIN

56 / KULTUR KOREA 4. MAI LESEKREIS FÜR LIEBHABER DER KOREANISCHEN LITERATUR: JEDEN ERSTEN MITTWOCH IM MONAT IN DEUTSCHER SPRACHE

27. APRIL REMEMBERING THE FUTURE KANG EUN-IL HAEGEUMPLUS 19. MAI VERNISSAGE DER AUSSTELLUNG „GESCHICHTE DER VORGETÄUSCHTEN UNSCHULD“ VON KIM HYUN JUNG

28. MAI K-POP AKADEMIE

Fotos: Koreanisches Kulturzentrum KULTUR KOREA / 57 11. JUNI KOREANISCHER SPRACHWETTBEWERB DES KÖNIG-SEJONG-INSTITUTS BERLIN IM KOREANISCHEN KULTURZENTRUM

22. + 24. JUNI MITTAGSKONZERT IM „PAVILLON DER EINHEIT“, POTSDAMER PLATZ (AM TILLA-DURIEUX-PARK) IN BERLIN: IMMER MITTWOCH UND FREITAG ZWISCHEN 12.30 UHR UND 13.00 UHR (VORAUSSICHTL. BIS ENDE SEPTEMBER) 25. JUNI AUDITION FÜR DAS K-POP WORLD FESTIVAL 2016 IM TEMPODROM, BERLIN

58 / KULTUR KOREA 23. JUNI 24.-25. JUNI EINE MUSIKALISCHE WELTREISE KOREA-FESTIVAL IN ST. OTTILIEN IN ANWESENHEIT DUO-KONZERTABEND FÜR MARIMBA UND FLÖTE DES BOTSCHAFTERS DER REPUBLIK KOREA, MIT JEONG EUNBI & KANG MIN-HYUNG LEE KYUNG-SOO (4. v. li.)

26. JUNI KONZERT MIT MEISTERN DER TRADITIONELLEN KOREANISCHEN MUSIK: ENSEMBLE YANGJU PUNGRYU AKHOE IN DER AKADEMIE DER KÜNSTE, BERLIN

* Ort sämtlicher Veranstaltungen (wenn nicht gesondert genannt): Koreanisches Kulturzentrum in Berlin

KULTUR KOREA / 59 IMPRESSUM

HERAUSGEBER Koreanisches Kulturzentrum Kulturabteilung der Botschaft der Republik Korea Leipziger Platz 3, 10117 Berlin www.kulturkorea.org

LEITER Gesandter-Botschaftsrat Dr. Kwon Sehoon

REDAKTION Dr. Stefanie Grote Gesine Stoyke

GESTALTUNG Setbyol Oh

KONTAKT Tel: (030) 269 52-0 Fax: (030) 269 52-134 E-Mail: [email protected]

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VERTRIEB Koreanisches Kulturzentrum Kulturabteilung der Botschaft der Republik Korea

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Diese Printausgabe ist eine Zusammenstellung ausgewählter Beiträge des Online-Magazins „Kultur Korea“(www.kulturkorea.org).

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60 / KULTUR KOREA

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