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Jahrbücher für Geschichte Osteuropas

jgo.e-reviews 7 (2017), 4

Online-Rezensionssupplement An online book review supplement

Im Auftrag des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg herausgegeben von

On behalf of the Institut für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg edited by

Martin Schulze Wessel (München ) und Dietmar Neutatz (Freiburg im Breisgau)

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Interkulturelle Ritualpraxis in der Vormoderne. ler“ an nicht symbolisch aufgeladenen Orten zur Diplomatische Interaktion an den östlichen Schaffung politischer Realität. Grenzen der Fürstengesellschaft. Hrsg. von JAN HENNINGS vergleicht Verfahren der Doku- Claudia Garnier / Christine Vogel. Berlin: Dun- mentation von Gesandtschaftsritualen: Für die briti- cker & Humblot, 2016. 180 S., 1 Kte. = Zeit- sche Seite spricht er von „Erfahrungswissen“, das schrift für Historische Forschung, Beiheft 52. der eine Diplomat dem anderen weitergab, für die ISBN: 978-3-428-14784-7. russische von „Behördenwissen“, Wissen, dessen Speicherung und Monopolisierung Sache des Ge- Inhaltsverzeichnis: sandtschaftsamtes war. Ähnlich wie dem Rezensen- https://d-nb.info/1081381965/04 ten aus der monastischen Kultur vertraut, wird aus dem Beitrag zugleich deutlich, wie viel soziales Ler- Wie schon aus dem Titel des auf einer Tagung an nen notwendig ist, um fähig zu sein, im Rahmen der Universität Vechta beruhenden Bandes ersicht- pragmatischer Schriftlichkeit Abläufe so angemessen lich, fügen sich die Einleitung und die sechs Fallstu- zu beschreiben, dass sie wiedererkennbar und nach- dien in mehrere aktuelle Forschungslinien ein: Sie vollziehbar sind. Redaktionell ungeschickt wird hier sind der auf Akteure und symbolische Kommunika- in einem deutschsprachigen Beitrag nicht die DIN- tion konzentrierten neuen Diplomatiegeschichte zu- Transliteration für kyrillische Titel, sondern die ame- zuordnen. Sie sind als Beiträge zur Verflechtungsge- rikanische Transliteration verwendet. schichte oder auch zur Stereotypenforschung zu le- Die Beiträge von FLORIAN KÜHNEL und CHRIS- sen. Gemeinsam ist ihnen allen, dass es um Begeg- TINE VOGEL beziehen sich auf britische und franzö- nungen zwischen verschiedenen Lebenswelten geht, sische Diplomaten in Konstantinopel. Es war gera- dass verschiedene Regelwerke und Wertsysteme auf- dezu ein Spiel, jedem Gesandten den Eindruck zu einander treffen. Wie die Herausgeberinnen in der vermitteln, gerade ihm würde etwas mehr an Ehre Einleitung selbst betonen, sanktionieren die Gesand- als Anderen erwiesen. GÁBOR KÁRMÁN befasst sich ten durch ihre Berichte die kulturelle Alterität. mit Gesandtschaften der siebenbürgischen Fürsten Der Beitrag von GERD ALTHOFF bezieht sich auf zum Pascha in Ofen. Der Handkuss des Gesandten Kontakte zwischen Polen und dem Reich im Hoch- stand nicht für eine Unterordnung des Fürsten unter mittelalter; eine der wichtigsten Hürden in der unge- den Pascha, sondern nur des Gesandten selbst. störten symbolischen Kommunikation war mit der Denn hier kam etwas zum Tragen, was in dem Band Christianisierung Polens beseitigt. CLAUDIA GAR- mehrfach angesprochen ist: Während im europäi- NIER geht auf die Erfahrungen und Wahrnehmun- schen Gesandtschaftsritual der Gesandte seinen gen westlicher Gesandter am Moskauer Hof ein. An- Herrn vertritt und dessen Würde entsprechend emp- scheinend bestehen geradezu anthropologische Kon- fangen wird, ist im osmanischen Gesandtenwesen stanten an Zeichen, die auch bei ganz unterschiedli- der Gesandte Beamter im Dienst seines Herrn, und chen gegenseitigen Erwartungshaltungen symboli- die ihm zu erweisende Ehre entspricht seinem Status sche Kommunikation initiieren können. Bezogen auf in der Beamtenhierarchie – ein kulturelle Missver- den für den Westeuropäer befremdlichen Kreuzkuss ständnisse herausfordernder Unterschied. wäre ergänzend zu verweisen auf den Aufsatz von Unter Nicht-Berücksichtigung des Beitrages zum PETR STEFANOVIČ: Der Eid des Adels gegenüber Hochmittelalter heißt es, mich befremdend, in der dem Herrscher im mittelalterlichen Rußland, in: Einleitung (S. 11): „Es geht also um jene Reiche, de- JGO 53 (2005), S. 497–505. Ich kann der Autorin ren Zugehörigkeit zu Europa bis heute – derzeit wie- nicht zustimmen, dass rituelle Ausdrucksformen da- der besonders aktuell und kontrovers – diskutiert mals die politische Realität konstituiert hätten, heute wird: das Großfürstentum Moskau sowie das Osma- hingegen „bedeutungsloses Beiwerk inhaltsleerer Re- nische Reich.“ Hier wird die Option der Ausgren- präsentation“ seien (S. 63). Gewiss ist das Ritual ver- zung geradezu geschichtlich festgeschrieben. Dem- einfacht und vor allem, von Ausnahmen abgesehen, gegenüber erweist sich der Band als Plädoyer dafür, säkularisiert, aber es sind noch immer Regeln der dass interkulturelle Kommunikation unabhängig von symbolischen Kommunikation zu beachten, und deutlichen Strukturunterschieden anstrebbar und man kann diese Regeln instrumentalisieren. Und möglich ist und dass es, statt scharfer Grenzen zwi- auch in der Vormoderne gehörten Momente des ‚un- schen dem Wir und allen Anderen, vielfache Abstu- gezwungenen‘ Verhandelns eben durch „Unterhänd- fungen von Vertrautheit und Fremdheit gibt. Ludwig Steindorff, Kiel

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 2 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4

Jews and Muslims in the and cal developments rather than Muslim societal reform the Soviet Union. Ed. by Franziska Davies / and unity, Khalid demonstrates on the example of Martin Schulze Wessel / Michael Brenner. Göt- the Central Asian Jadid movement that within Cen- tingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2015. 168 S., tral Asia, too, Muslims were not united on the issue 12 Abb., 4 Tab. = Religiöse Kulturen im Europa of social and political reform. Historical develop- der Neuzeit, 6. ISBN: 978-3-525-31028-1. ments in Russia and then Soviet geopolitical interests and ideology decided the fate of Central Asian Mus- Table of Contents: lim population, not its internal political evolution. https://d-nb.info/1071491431/04 Similarly, the Jewish population was diverse and did not form one political front in the revolutionary pe- Jews and Muslims were the largest non-Orthodox riod, but due to its geographical location in the Eu- minorities in the Russian empire since the end of the ropean part of imperial Russia (Central Asian and 18th century and also in the early Soviet Union and, Caucasian Jews are largely left out from the volume), as the authors of the volume Jews and Muslims in the it underwent massive social change during the 19th Russian Empire and the Soviet Union agree, in the Rus- and early 20th century due to increasing mass urban- sian and Soviet contexts this was their most signifi- ization and industrialization. Despite the variety of cant resemblance. Otherwise, the history of the Jew- political, religious and social trends that this change ish and Muslim populations differ starkly, expressed has streamlined, the Yiddish-language press and the- in one of the chapter’s title Jewish Apples and Muslim atre, DAVID FISHMAN argues in this volume, became Oranges in the Russian Basket: Options and Limits of a forgers of “imagined communities” among “Zionists Comparative Approach by JOHANAN PETROVSKY- and socialists, middle-class and poor, religious and SHTERN. The author, but also the editors of the vol- secular” Jews, which substituted “absence of political ume, proposes to focus on the “Russian basket” as a sovereignty and political institutions” (p. 110). framework to compare Jewish and Muslim Russian Second, Muslims and Jews were treated differ- experiences. The volume, then, is not about Jewish ently by the Russian imperial government. Although or Muslim religious or cultural practices but rather religion as such was an important pillar through their standing with the Russian government and so- which the Russian state governed its populations, ciety, e. g. Russian government’s policies towards this does not mean that all non-Orthodox groups Muslims and Jews and the groups’ strategies of deal- were treated similarly. Muslim groups were incorpo- ing with the questions of political and social integra- rated into the Russian empire much earlier and in tion and transformation. It provides an overview of different contexts than the Jewish populations. The Russian state’s strategies to incorporate Jews and Orenburg Muslim Spiritual Assembly (integrated Muslims and provides some explanations about the within the imperial Ministry of Internal Affairs) was different treatment and lack of political unity be- founded in 1788 to manage religious appointments tween these groups. and jurisdiction in the Volga-Ural region and the There are several common arguments that appear Crimea, incorporating local Muslim spiritual leaders, throughout the volume’s chapters. First is the obser- who pledged loyalty to the sovereign. In contrast, as vation that Jews and Muslims were not homoge- FRANZISKA DAVIES shows, Rabbinical Commis- neous groups. In the case of Muslims, some Tatar sions, which were formed to regulate Jewish reli- elites, for example, were integrated into the Russian gious affairs, consisted of Russian bureaucrats, were imperial state bureaucracy much earlier than repre- not institutionalized and gathered only six times be- sentatives of other Muslim populations of the Cau- tween 1848 and 1910. The commissions’ major goal casus and Central Asia. It would therefore be wrong, was, as Davies shows, to train “state rabbis” who as ADEEB KHALID argues, to treat Muslims as one would enlighten and teach Jews loyalty to the Rus- community due to stark differences between Volga- sian state (p. 51). Thus, while Muslim structures al- Ural, Caucasian and Central Asian Muslims. Even lowed for observed self-regulation, Rabbinical Com- though they attempted to form one unified political missions aimed to directly intervene into Jewish reli- front during the Russian revolutions and even gious education, reflecting the state’s ambition to formed a Muslim Party in 1906, they ultimately failed transform the Jewish population. Yet, despite the to harmonize differences, partly due to ambitions of differences in strategies of “disciplining through European Muslims to speak on behalf of all Mus- confessions”, in both cases the institutions did not lims. Naming the all-Russian Muslim union an “his- become moral authorities among Muslims and Jews. torical accident” that was the result of Russian politi- The level of education in state rabbinical schools was

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 3 low and considered by the Jewish population as an future for Jews and Muslims in the imperial “bas- attack on religion and no authoritative Muslim schol- ket”. Both argued for reform in pedagogy and fe- ars were called to the Muslim Assembly. However, male education, both were equally against narrow when it came to practical consideration of providing territorial nationalism and even preached loyalty to religious guidance and support to serving Muslims the Russian state. The difference developed due to and Jews in the Russian army, these larger institu- the Russian state’s anti-Semitic spirit and pogroms in tional policies played a crucial role. While the mili- the 1880s: it disappointed Gordon, pressing him to tary generally allowed rabbis and mullahs to support revise his vision of the future of the Jews in the Rus- dying soldiers (and even reimbursed for their ex- sian empire, who increasingly believed that Jews penses) and hold some rituals, the Russian state should emigrate to America. made official concessions to the Muslim soldiers Comparing Jewish and Muslim experiences within only. It institutionalized official military mullahs be- the Russian empire reveals not only strategies of the cause the Muslim Spiritual Assembly, which was part groups’ leaders, but also the tensions of the Russian of the Russian administration, could press interests state between imperial and stately ambitions and re- at the beginning of the 20th century. Since no insti- alities. MICHAEL KHODARKOVSKY proposes to un- tutionalized Assembly was created for the Jewish derstand the relationship towards non-Russians as population, it had fewer opportunities to claim asymmetrical, hierarchical, and one-dimensional. By rights. analyzing the treatment of peoples of Asiatic Russia, Third, Muslim and Jewish leaders also chose vary- Khodarkosvky shows that the Russian central ad- ing strategies for claiming rights within the imperial ministration officially denied its colonial nature, yet polity, despite very similar problems that they faced. acted in a colonial way. This ambivalence between VLADIMIR LEVIN’s chapter on political activities of colonial practices and universal civilizational claims Muslim and Jewish political elites during the revolu- (to incorporate all subjects as Russian citizens) pro- tion of 1905–1907 and its aftermath argues that de- duced dissonance between Russian officials who spite common problems that faced both groups and clearly saw themselves as colonizers and Russian Pe- some identical political strategies, they did not build tersburg self-image of a civilizational (not colonial) an alliance and chose separate strategies. Although power. It also disappointed representatives of non- both Muslim and Jewish parties appealed for ex-ter- Russian peoples integrated into the Russian adminis- ritorial autonomy, cooperated (at first) with Kadets tration who attempted (similar to Gordon and and (later) partially with Octobrists, they did not co- Gaspirali) to incorporate the Russian system into the operate because, as Levin argues, both “concen- worlds of the non-Russians and vice versa. Yet, as trated on their relations with the imperial centers” there were no clear ideas, policies and commitments (p. 71). Yet, both largely failed to achieve autonomy to non-Russians, the ambivalence constituted the due to increasing official islamophobia and anti- core of Russian imperial relation with non-Russians. semitism. Since, however, zionism was perceived as The ambivalence between universal and colonial pol- dangerous to the Russian statehood, there was an itics was not resolved in the early Soviet period, as important difference in how these two groups were DAVID SHNEERS’ chapter on Jewish photographers, treated by the Russian elites, allowing minor conces- i. e. Zelmanovitch and Fridlyand, shows. For one, sions to the Muslims. The Russian imperial adminis- they mixed images of Soviet Orientalism and Social- tration, then, became key in forming the framework ist Realism to highlight successful Soviet moderniza- for behavior of both groups. tion of Asiatic “others”. Yet, as liminal figures of a But were there any similarities in how Muslims liminal project, which aimed both to construct and and Jews understood their place in the Russian em- deconstruct “others”, they found themselves in a pire? Similarities could be found on the individual complicated web of visual power plays. As Shneer level, which had more to do with the spirit of En- interprets, they produced the images of the “other” lightenment and individual concerns for moderniza- to “make themselves feel whiter and more Russian” tion than with religious groups themselves. Taking (p. 162), i. e. to portray not only others, but also an example of two enlightenment figures – Judah themselves. Leib Gordon and Ismail Bey Gaspirali – MICHAEL The volume is a useful and (correctly) cautious in- STANISLAWSKII shows how ideas of reform and troduction into the topic of Russian imperial and the modernization could be articulated almost identi- early Soviet state’s perception and treatment of the cally, despite religious affiliation. Both Gordon and Jewish and Muslim populations. Yet, taking into ac- Gaspirali believed in an integrationalist, enlightened count that both groups underwent different histories

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 4 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 of integration into the Russian empire, it is useful to atic Russia would provide a historically more useful ask if comparison between the integration of, e. g. and context-sensitive analysis. Catholic, Jewish and Christian populations in Euro- Botakoz Kassymbekova, Berlin pean Russia or Muslim and Buddhist groups in Asi-

Polin. 1000 lat historii Żydów polskich. Redakcja die Textüberlieferung ausgleichen. Keinesfalls sollte naukowa Barbara Kirshenblatt-Gimblett i Anto- die Ausstellung den Eindruck vermitteln, dass die ny Polonsky. Warszawa: Polin, 2014. 429 S., za- Geschichte der Juden in Polen bloß eine Vorge- hlr. Abb., Ktn., Graph. ISBN: 978-83-938434-4-2. schichte dessen gewesen sei, was im Abschnitt Holo- caust, 1939–1945 (S. 289–361), verfasst von BARBA- Polin. 1000 Year History of Polish Jews. Ed. by Bar- RA ENGELKING und JACEK LEOCIAK, abgehandelt bara Kirshenblatt-Gimblett and Antony Polonsky. wird. Dieser bildet zwar einen umfangreichen, aber Warszawa: Polin, 2014. 429 S., zahlr. Abb., Ktn., doch keinen dominierenden Bestandteil des Kata- Graph. ISBN: 978-83-938434-5-9. logs. Ihm folgt noch der von STANISŁAW KRAJEW- Im Jahr 2014 hat in Warschau POLIN, das Museum SKI verantwortete Abschnitt über das jüdische Leben der Geschichte der polnischen Juden, nach langen in den Nachkriegsjahren seit 1944/45. Jahren der Vorbereitung seinen Betrieb aufgenom- Das Kapitel über das Mittelalter – mit dem wenig men. Die Dauerausstellung zu tausend Jahren jüdi- glücklichen Titel First Encounters, 960–1500, waren scher Geschichte präsentiert der vorliegende Kata- diese ersten Begegnungen, vor allem im Westen der log. Er ist einem Team aus Wissenschaftlern und polnischen Gebiete, doch kaum dermaßen andau- Museumsfachleuten aus verschiedenen Ländern zu ernd – wurde verfasst von HANNA ZAREMSKA. Der verdanken. In Theater of History erläutert die kanadi- Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ist ausgespart, sche Kulturanthropologin BARBARA KIRSHEN- so dass der Beitrag von ADAM TELLER und IGOR BLATT-GIMBLETT zunächst die Grundsätze der Aus- KĄKOLEWSKI über das Paradisus Iudaeorum mit dem stellungskonzeption. Sie soll 1) die Gesamtperiode in Jahr 1569 einsetzt. Die folgende Periode über die jü- den Blick nehmen, also ohne Zäsuren und Wende- disch geprägte Stadt von 1648 bis 1772 schildert wie- punkte auskommen, 2) die Geschichte der Juden als der ADAM TELLER, ehe ANTONY POLONSKY in En- einen integralen Bestandteil der Geschichte Polens counters with Modernity die Zeit von den Teilungen Po- auffassen, 3) Juden nicht nur als deren Opfer, son- lens bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs zusam- dern vielmehr als Akteure und Mitbeteiligte erschei- menfasst. Die Zwischenkriegsjahre – Oyf der yidisher nen lassen, 4) die Herausbildung einer eigenständi- gas – beschreibt SAMUEL KASSOW. gen jüdischen Kultur in Ostmitteleuropa gebührend Die Beteiligten bekennen sich eingangs auch würdigen, die sich von der nichtjüdischen Umge- dazu, terminologisch präzise zu verfahren und zeitty- bung teilweise abschloss, aber in anderen Bereichen pische Begriffe in ihrem historischen Kontext zu be- in stetem Austausch blieb und Wechselwirkungen lassen, also etwa den mittelalterlichen und frühneu- unterlag, 5) den Betrachter einladen, sich auf die da- zeitlichen Antijudaismus vom Antisemitismus des maligen, zeitbedingten Wahrnehmungen einzulassen 19. und 20. Jahrhunderts zu scheiden. Ambitioniert und sein Wissen um das, was danach kam, vorüber- erscheint das Unterfangen, den Besucher der Aus- gehend auszuschalten, 6) dem Ansatz einer „kon- stellung mit den Originalquellen zu konfrontieren. In struktiven Engagiertheit“ (S. 33) folgen, also sich dem Fall wird aus der durchgängig zweisprachigen nicht mit der Auseinandersetzung mit falschen Vor- Beschriftung (auf Polnisch und Englisch) eine mehr- stellungen (über „die Juden“) aufhalten, 7) die jüdi- sprachige, die beispielsweise auch Latein, Hebräisch, sche Bevölkerung insgesamt betrachten und nicht Arabisch und Deutsch einschließt. Freilich zählen nur deren Held(inn)en, große Männer und Frauen, die ausgewählten kurzen Quellentexte zu den ohne- 8) offen lassen, was nicht ein für allemal feststeht, hin eher schon bekannten. Und so fehlt hier auch und dabei fragen, wie sich etwas zutrug (statt „war- nicht die Legende, mit der die Ausstellungsbesucher um“), 9) exemplarische Beispiele verwenden, um das anfangs eingestimmt werden: Auf ihrer Flucht aus Gesamtgeschehen zu verdeutlichen, 10) den Um- Mittel- und Westeuropa sei den Juden, als sie im stand kreativ nutzen, dass museal präsentierbare Ori- Wald lagerten, das hebräische Wort „po lin“ (verwei- ginalobjekte aus der ferneren Vergangenheit weitge- le hier) erschienen, und so hätten sie sich in „Polin“ hend fehlen. Dieser Mangel ließ sich durch den Rü- niedergelassen, das zum bedeutendsten Zufluchtsort ckgriff auf andernorts erhaltene Exponate und auf der europäischen Juden wurde.

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Problematisch ist es, wenn die Konzeption sich in stellung der jüdischen Geschichte in Polen dem Un- der Frühen Neuzeit auf das Territorium des vereinig- ternehmen auf großartige Weise zugutegekommen ten, weit nach Osten ausgreifenden Doppelstaats ist. Entstanden ist somit eine polnische und jüdische Polen-Litauen bezieht. Damit werden wiederholt Geschichte, die unauflöslich verflochten ist in einer Entwicklungen und Personen in Gebieten verein- Erzählung, die zahlreiche Teilaspekte einzufangen nahmt, die (auch) dem heutigen Litauen, Weißruss- vermag, dabei gleichzeitig durch eine Unmenge von land und der zugehörten. Einer der Höhe- Bildern und eine uns Heutige weiterhin ansprechen- punkte der Ausstellung ist sicherlich die in das Mu- de Farbigkeit überzeugt. Wie die Ausstellung, hat seum integrierte teilrekonstruierte, detailreich und auch der Katalog einen hohen Standard gesetzt, der farbenprächtig ausgemalte hölzerne Synagoge von dem reflektierten Vorgehen der verantwortlich Be- Hvisdez’ (Гвіздець, poln. Gwoździec) im Südwes- teiligten und ihrer von (geschichts)politischer Ein- ten der Ukraine. flussnahme weitgehend freien Arbeit zu verdanken Am Ende erweist sich, dass die anfangs erarbeite- ist. te Klärung der Prinzipien für die zeitgemäße Dar- Klaus-Peter Friedrich, Marburg/Lahn

Stadtgeschichte des Baltikums oder baltische namensverzeichnis und entsprechende Karten feh- Stadtgeschichte? Annäherungen an ein neues len, kann dies beim Leser leicht zu mangelnder Ori- Forschungsfeld zur baltischen Geschichte. entierung oder Missverständnissen führen. Hrsg. von Heidi Hein-Kircher / Ilgvars Misāns. Wie meist bei einem Sammelband ist die Qualität 2., überarb. u. erw. Aufl. Marburg/Lahn: Her- der Beiträge nicht einheitlich. Fünf Aufsätze werden der-Institut, 2016. VI, 219 S. = Tagungen zur im ersten Teil Zur Historiographie der Stadtgeschichts- Ostmitteleuropaforschung, 33. ISBN: 978-3- schreibung angeführt, sechs im zweiten, Ansätze und 87969-406-8. Perspektiven der baltischen Stadtgeschichtsschreibung, wobei auffällt, dass auch im zweiten Teil der Historiogra- Inhaltsverzeichnis: phie erheblicher Raum gewidmet wird. Hierbei han- https://d-nb.info/1083281453/04 delt es sich um ein Schwerpunktthema des Bandes, eine Bestandsaufnahme der Forschung. Dies stellt Dieser aus einer Tagung in Riga 2012 hervorgegan- wahrscheinlich auch den wichtigsten Wert für den gene Sammelband leistet eine insgesamt gelungene Leser dar. Wer sich in das Thema einarbeiten möch- Einführung in das Thema der urbanen Geschichte te, dem bietet der Band einen hervorragenden Aus- des Baltikums. Es ist allerdings schade, dass die gangspunkt. zwölf Beiträge alle ohne Illustrationen daherkom- Die Einleitung der Herausgeber ist gut gelungen. men. Stadtgeschichte floriert heutzutage, doch dass Es wird auf das Florieren der Stadtgeschichte beson- es sich um ein neues Forschungsgebiet in der balti- ders in Westeuropa verwiesen, auf die Diskrepanz schen Geschichte handelt, wie der Titel suggeriert, zur östlichen Hälfte des Kontinents und auf das wagt der Rezensent zu bezweifeln. Ein Blick in die Fehlen von Studien zur typischen ostmitteleuropäi- Aufsätze zeigt, dass bereits im 19. Jahrhundert viel schen oder baltischen Stadt. Die Autoren geben ei- dazu gearbeitet wurde. Auch die Frage nach einer nen, knappen, jedoch fundierten Überblick über den spezifischen baltischen Stadtgeschichte nehmen die Forschungsstand. Warum aber die deutschsprachi- Herausgeber in ihrer Einleitung wegen der besonde- gen Zuwanderer, die sich in ostmitteleuropäischen ren Entwicklung des litauischen Gebiets im Ver- Stadtgründungen ansiedelten, „aus dem westlichen gleich zum estnischen und lettischen gleich wieder Europa“ stammten (S. 9), bleibt ein kleines Rätsel. zurück (S. 12). Denn meiner Meinung nach liegt und lag Deutsch- Ein wenig zu kritisieren gibt es bei der Form. Die land eher in Mitteleuropa. HEIDI HEIN-KIRCHER sechs deutschsprachigen Beiträge sind sprachlich setzt sich im folgenden Beitrag sehr gründlich mit korrekt, aber die sechs englischsprachigen klingen et- der Stadtgeschichte im Rahmen der heutigen Ost- was holprig und nicht idiomatisch, was die Lektüre mitteleuropaforschung auseinander. manchmal erschwert. Offenbar wurde hier an einer ROMAN CZAJA referiert über Stadtgeschichtsfor- Korrektur durch einen Muttersprachler gespart. Die schung in Polen. Wer mit der polnischen Historio- Frage der Ortsnamen ist uneinheitlich gelöst, mal graphie nicht gut vertraut ist, wundert sich, wie um- werden die deutschsprachigen gewählt, mal die lan- fangreich schon im 19. Jahrhundert geforscht wurde. dessprachlichen. Da auch ein mehrsprachiges Orts- Allerdings stellt sich die Frage, warum Polen in ei-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 6 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 nem Band zur Stadtgeschichte im Baltikum vertreten Beziehungen zwischen Stereotypen der Historiogra- ist, aber ein Beitrag zur Historiographie für Litauen phie und der historischen Realität. JURGITA ŠIAU- fehlt. JUHAN KREEM bietet einen kenntnisreichen ČIŪNAITĖ-VERBICKIENĖ liefert mit ihrer Untersu- Aufsatz zur Stadtgeschichte in Estland, doch bei chung der nichtchristlichen Minderheiten in den ihm, wie auch beim folgenden, ebenso fundierten Städten des Großherzogtums Litauen einen span- Artikel von ILGVARS MISĀNS über Lettland, hätte nenden Beitrag. Entsprechende Forschungen began- vielleicht noch etwas mehr Raum für die Arbeiten nen erst wirklich unter den Sowjets. von deutschbaltischen Historikern vor dem Ersten KARIN HALLAS-MURULA widmet sich dem städ- Weltkrieg zur Verfügung gestellt werden können. teplanerischen Entwurf für Groß-Tallinn des be- Kreem weist korrekt daraufhin, dass in Estland eine kannten finnischen Architekt Eliel Saarinen. In die- institutionalisierte Stadtgeschichte mit einem eigenen sem Zusammenhang wird auch Saarinens Entwurf Lehrstuhl fehlt, allerdings gibt es mehrere Museen für Canberra vergleichend herangezogen. Doch lei- zur Stadtgeschichte und das Tallinner Stadtarchiv, der ist der Aufsatz zu kurz, um wirklich in die Tiefe wo auch geforscht wird. Laut Misāns mangelt es gehen zu können. Der anschließende Beitrag von auch in Lettland an einer Etablierung des Fachs. Als MĀRTIŅŠ MINTAURS hätte eigentlich in den ersten, bemerkenswert erscheint, dass in der Sowjetzeit das historiographischen Teil gehört und es kommt zu Interesse an Stadtgeschichte anstieg und der natio- Überlappungen mit dem Artikel von Misāns. Er be- nalhistorische Ansatz der Zwischenkriegszeit weiter- handelt die Altstadt Rigas in der architektonischen geführt wurde. Historiographie Lettlands von den sechziger Jahren ANDREAS FÜLBERTH gibt einen Überblick über des 19. Jahrhunderts bis zu den achtziger Jahren des den Anteil auswärtiger Historiker an der stadthistori- 20. Jahrhunderts. Etwas enttäuschend ist der letzte schen Forschung zu Riga und Tallinn seit der Mitte Beitrag von VASILIJUS SAFRONOVAS, obwohl der Ti- des 20. Jahrhunderts. Einerseits spielte das baltische tel interessant klingt, nämlich die symbolische Aneig- Exil eine Rolle, andererseits auch deutschbaltische nung der baltischen Stadt – Klaipėda im Vergleich Historiker, und spätestens seit dem Ende der So- mit Kaliningrad und Olzstyn. Jedoch sind 13 Seiten wjetzeit sind Forscher ohne baltische Wurzeln in der zu knapp für das Thema und die herangezogene Li- Mehrheit. Mitunter überschneidet sich dieser Beitrag teratur zu wenig umfangreich, um etwas Fundiertes zwar mit den beiden vorhergehenden, dies ist jedoch schreiben zu können. leicht zu verschmerzen. Ein Grund, warum in Alles in allem bietet der Band einen guten Ein- Deutschland relativ viel über Tallinn publiziert wur- stieg in das Thema, besonders für einen Leser, der de, war, dass sich große Teile des Stadtarchivs von auf der Suche nach weiterführender Literatur ist und 1944–1990 in Deutschland befanden. sich besonders für die Historiographie interessiert. INNA PÕLTSAM-JÜRJO schreibt sehr fundiert und Selbst wer die jeweiligen Sprachen nicht liest, ge- informativ über die Grundzüge des livländischen winnt einen Überblick über estnische, lettische, li- Städtewesens im Mittelalter und geht auch auf die tauische und polnische Arbeiten zur Stadtgeschichte. Frage von deutsch und „undeutsch“ ein. ALEK- Weiterhin wird auch dem deutsch- und englischspra- SANDRS IVANOVS behandelt livländische Städte in al- chigen Schrifttum viel Platz eingeräumt. ten russischen Chroniken und hierbei vor allem die Olaf Mertelsmann, Tartu

Fernhändler, Dynasten, Kleriker. Die piastische ebenso spannend wie schwierig zu schreiben, sind Herrschaft in kontinentalen Beziehungsgeflech- doch nur vergleichsweise wenig Zeugnisse überlie- ten vom 10. bis zum frühen 13. Jahrhundert. fert, die – wie bereits ein flüchtiger Blick in die His- Hrsg. von Dariusz Adamczyk / Norbert Kers- toriographie zum Thema zeigt – sehr unterschiedli- ken. Wiesbaden: Harrassowitz, 2015. 293 S., che Interpretationen erlauben. Angesichts der spärli- 6 Abb., 2 Ktn., 9 Tab. = Deutsches Historisches chen Überlieferung können sie allenfalls als mehr Institut Warschau. Quellen und Studien, 30. oder minder wahrscheinlich präsentiert werden; ISBN: 978-3-447-10421-0. manche Details sind schwerlich zu klären. Umso wichtiger ist die systematische Auswertung des vor- Inhaltsverzeichnis: handenen Materials durch eine Vielzahl an Herange- https://d-nb.info/1075265312/04 hensweisen und Fragestellungen, um möglichst alle Indizien zu sammeln und jeweils neu zu prüfen. Die Die Geschichte des frühen polnischen Mittelalters ist Autorinnen und Autoren der Beiträge des von Dari-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 7 usz Adamczyk und Norbert Kersken initiierten Sam- net PETER ILISCH in seinem Beitrag nach: Er hat die melbandes haben sich der Geschichte der piasti- Zusammensetzungen von Münzhorten vom ausge- schen Herrschaft nun durch die Rekonstruktion und henden 10. bis zur Mitte des 11. Jahrhunderts unter Verortung von Austauschprozessen und Netzwer- die Lupe genommen, in denen der Rückgang arabi- ken genähert, in die diese Herrschaft eingebunden schen Silbers und die Zunahme von Prägungen war. Dabei haben sie sich zum Ziel gesetzt, die kon- westlicher Provenienz sichtbar wird. DARIUSZ kreten Verbindungen, Abhängigkeiten und Rück- ADAMCZYK untersucht in seinem Artikel den Zu- kopplungseffekte sichtbar werden zu lassen, die zwi- sammenhang zwischen der Herrschaftsbildung schen den Akteuren auf so unterschiedlichen Hand- durch die Piasten und dem Zugriff auf Silber, das im lungsfeldern wie dem überregionalen Handel, poli- Fernhandel gegen Güter eingetauscht wurde, die aus tisch motivierten dynastischen Heiraten sowie in den regionalen Abgaben und Tributen, aber auch aus Netzwerken von Klerikern bestanden. Diese Hand- Beute von Raubzügen und aus Gefangenen stamm- lungsfelder bilden gleichzeitig die thematischen Ab- ten; letztere wurden als Sklaven verkauft. Silber be- schnitte des Werkes. saß zu Beginn eine zentrale Bedeutung für die Ent- Im ersten Teil werden Handelsbeziehungen und lohnung von Gefolgschaften als Instrument fürstli- insbesondere die Zirkulation von Silber im östlichen cher Herrschaft. Waren die polnischen Herrscher Europa und im Ostseeraum behandelt. Silber war in zunächst abhängig vom Silberzustrom von außen, so der frühen Zeit vor allem in Form von arabischen lag es in ihrem Interesse, die Redistribution von Sil- Dirhems oder von Hacksilber ein Zahlungsmittel, ber zu kontrollieren. Mittelfristig waren auch eigene welches im Rahmen von Transaktionen von den je- Münzen zu prägen, die auf Akzeptanz in den frühen weiligen Handelspartnern in einer von beiden Seiten städtischen Zentren und Märkten stießen. Letzteres akzeptierten Herangehensweise ausgewogen werden gelang im frühen 12. Jahrhundert. musste. Mit diesem wichtigen praktischen Aspekt Den zweiten Teil des Sammelbandes bilden fünf befasst sich CHRISTOPH KILGER in seinem Aufsatz, Beiträge über dynastische Heiratsverbindungen der der Konventionen des Wiegens und der überregio- Piasten, die in der Regel zur Absicherung politischer nalen Geltung von Gewichtssystemen und Rech- Bündnisse geschlossen wurden. Den Anfang macht nungseinheiten gewidmet ist, welche sich an arabi- NORBERT KERSKEN mit einer Analyse von 20 Hei- schen Normen orientierten. Kilger zeigt dies an- raten zwischen dem Piastenhaus und Angehörigen schaulich an archäologischen Funden sowie an einer von Adelsfamilien aus dem römisch-deutschen Reich Waage nebst einem vollständigen Satz an Gewich- bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts. Dabei vermag ten, die der norwegische Ingenieur Per Sandvik in er eine dynastische Heiratspolitik aufzuzeigen, von den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts in Äthiopi- der deutsche Adelsfamilien in der Nachbarschaft en erstanden hatte und später an ein wissenschaftli- ebenso wie die jeweils im Reich herrschende Dynas- ches Museum in Trondheim übergab. Ihren Ge- tie berührt wurden. Es gab allerdings keine Verbin- brauch, der wahrscheinlich auf älteren, im frühen dungen zwischen einem römisch-deutsch König, Mittelalter auch in der Region um die Ostsee prakti- Kaiser oder seinem Thronfolger und einer piasti- zierten arabischen Traditionen des Auswiegens von schen Prinzessin, was Kersken zu Recht als Hinweis Edelmetall fußt, hatte Sandvik in einem Reisebericht auf den Rang der Piasten verstehen möchte. Aller- beschrieben. Kilger gelingt es auf diese Weise zu zei- dings spielten sie wie alle Verwandten der jeweils gen, dass sich der Geltungsbereich des Mitqal als herrschenden Dynastien als „heiratspolitische Reser- Gewichtseinheit zusammen mit dem arabischen Sil- ve“ eine Rolle, wenn Ehen zur Förderung der Inter- ber auch weit über die Grenzen des Kalifats hinaus essen Dritter geschlossen wurden. Eine der bekann- erstreckte. MAREK JANKOWIAK beleuchtet den Um- testen Verbindungen zwischen den Fürsten Polens lauf von Dirhems auf dem Gebiet der frühen piasti- und Böhmens dürfte die Heirat Mieszkos I. und der schen Herrschaftsbildung und macht als Akteure, die im Kontext der Christianisierung Polens schon früh Silber in erheblichen Umfang ins Land brachten als mulier suadens gewürdigten Dubrawka sein, die bzw. holten, neben den Piasten auch Skandinavier auch im Beitrag von JOANNA SOBIESAK ausführlich aus. Dabei wurden insbesondere in der frühen Zeit behandelt wird. In diesem Zusammenhang verweist Sklaven auf den Märkten der muslimischen Welt ge- die Autorin auf die kulturellen Wirkungen, die von gen Silber verkauft. Als der Zustrom von Silber aus den direkten Verbindungen, aber auch den zahlrei- den arabisch-muslimischen Gebieten versiegte, ge- chen Verschwägerungen zwischen Piasten und Pře- wann Silber in Form von Pfennigen aus dem angren- mysliden bei aller politischen Rivalität ausgingen. zenden Reich an Bedeutung. Diesen Vorgang zeich- Weitaus seltener als im Falle des Reichs oder Böh-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 8 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 mens finden sich Verbindungen zwischen den Pias- widmet sich mit der Frage nach der frühpiastischen ten und den skandinavischen Herrscherhäusern, mit Kanzlei und den dort praktizierten Formen der denen sich JAKUB MORAWIEC mit Blick auf das 10. Schriftlichkeit, also einer Institution, über deren und 11. Jahrhundert auseinandergesetzt hat. Er führ- Existenz bereits in der Forschung ausführlich und te die problematische Quellenlage für seine Untersu- ausdauernd gestritten worden ist. Der Mangel an chung näher aus, in deren Rahmen bereits die Identi- verfügbaren Quellen zur Erhellung des Problems er- fizierung von nach Skandinavien verheirateten Töch- möglichte darüber hinaus eine Vielzahl von Interpre- tern schwer fällt. So legendär mache Verbindung in tationen und Deutungen. War der Einzug von den Quellen auch scheinen mag, so klar ist der politi- Schriftlichkeit auch in der Herrschaftsausübung eine sche Kontext, in dem sie Ende des 10. und Anfang wichtige Folge der Christianisierung, so wird man des 11. Jahrhundert geschlossen wurden: Der Kampf laut der Verfasserin nicht unbedingt die Verhältnisse, gegen die Wilzen und die Behauptung der polni- die der Genese von Kanzleien im Reich zugrunde la- schen Position im Ostseeraum. Unsicherheiten in gen, auf Polen übertragen dürfen: Zwar gab es dort der Überlieferung in den Quellen konstatiert auch ebenfalls einen Bedarf an der Ausstellung von Herr- DÁNIEL BAGI in seinem Beitrag über die Heiratsbe- scherurkunden, und die Hofkapelle als Keimzelle ei- ziehungen zwischen den Piasten und Árpaden im 11. ner solchen Einrichtung hatte auch in Polen viele und frühen 12. Jahrhundert. Nach einer Verortung Aufgaben. Die politische Zersplitterung verhinderte der Erforschung genealogischer Beziehungen zwi- aber eine Institutionalisierung; zudem gab es einen schen polnischen und ungarischen Herrscherhäusern Mangel an entsprechend gebildetem Personal, so innerhalb der den polnisch-ungarischen Beziehungen dass man insbesondere in der Frühzeit auf ausländi- gewidmeten Historiographie konstatiert Bagi eine re- sche Ordensgeistliche zurückgriff. Diese Personen lativ geringe Zahl an nachweisbaren polnisch-ungari- stellen über die Ordensstrukturen, in die sie einge- schen Fürstenhochzeiten für den Untersuchungszeit- bunden waren, Bindeglieder zu den Bildungszentren raum. In diesem wurden dynastische Verbindungen Europas dar. Später werden in dieser Funktion auch vorrangig mit Adelsfamilien aus dem Reich geschlos- Landeskinder greifbar, die eine entsprechende Aus- sen, gefolgt von Heiraten mit Mitgliedern aus den bildung genossen und sich Kenntnisse in der ars Herrscherfamilien der Rus’ und aus Byzanz. In den dictandi angeeignet hatten. Mit anderen Aspekten der Quellen seien aber neben den dokumentierten Ehe- Schriftkultur befasst sich MARZENA MATLA, die in schlüssen zwischen polnischen und ungarischen ihrem Beitrag ebenfalls die fundamentale Bedeutung Partnern fürstlicher Herkunft auch Verschwägerun- der Christianisierung für den Aufbau staatlicher und gen überliefert. Auch finden sich dort Nachrichten kirchlicher Strukturen sowie für die Entwicklung der von fiktiven Ehen, so dass man trotz eher seltener (Schrift-)Kultur betont. Kirchliche Außenkontakte tatsächlicher genealogischer Verbindungen von gu- fanden auch Niederschlag in der Annalistik, indem ten Beziehungen zwischen den Dynastien ausgehen über die kirchlichen Organisationsstrukturen und kann. Ein anderes Bild hinsichtlich der Dichte des daraus hervorgehende Kontakte, sowie über poli- genealogischen Netzwerkes bietet der Überblick von tisch-dynastische Verbindungen annalistische Auf- DARIUSZ DĄBROWSKI, der vom 11. bis zur Mitte des zeichnungen von außen nach Polen gelangten und 13. Jahrhunderts eine relativ große Zahl an Ehen dort den Grund für die Schaffung von eigenem his- zwischen Piasten und Rjurikiden nachweisen kann torischen Schrifttum bereiteten. Den Blick auf Ak- und die unterschiedlichen Dynamiken von derlei teure richtet DARIUSZ ANDRZEJ SIKORSKI, der die Verbindungen bei der Änderungen der politischen Rolle von Geistlichen ausländischer Herkunft in der Rahmenbedingungen aufzeigt, unter denen sie ein- polnischen Kirche in den Fokus rückt. Für seinen mal als aktuelle Reaktion mit positiven, aber für poli- Untersuchungszeitraum (10. bis 12. Jahrhundert) tische Gegner auch negativen Zielsetzungen verhan- steht er allerdings vor dem grundsätzlichen Problem, delt und geschlossen wurden. Neben politisch wirk- dass nur wenige Informationen in den Quellen erhal- samen Auswirkungen arbeitet er auch kulturelle Fol- ten geblieben sind, bisweilen nur Namen, die nicht gen von längerer Dauer heraus, die sich in der Über- immer eine eindeutige Zuordnung der Herkunft ih- nahme von Namen, aber auch in der Überlieferungs- rer Träger erlauben. Infolgedessen hat sich Sikorski geschichte von Artefakten greifen lassen. mit gebotener Vorsicht vor allem mit Personen aus Der mobilen Gruppe der Kleriker und der von der obersten Hierarchie, den Bischöfen beschäftigt. ihnen geknüpften personalen Netzwerke und intel- Dabei kann er zeigen, dass Ausländer vor allem in lektuellen Beziehungsgeflechte sind vier Beiträge ge- den ersten Jahrzehnten nach der Christianisierung widmet, die den Band beschließen: ANNA ADAMSKA Schlüsselpositionen in der im Aufbau befindlichen

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 9 polnischen Kirche innehatten, zu Beginn des unterhielten, den Import von liturgischen Texten, 13. Jahrhunderts jedoch waren die Bistümer bereits fürstliche und adlige geistliche Stiftungen sowie die fast ausschließlich mit Polen besetzt. Wegen der Reisen von Legaten und die über kirchliche Vermitt- grundlegenden historischen Bedeutung der Christia- lung verlaufende Rezeption römischen Rechts. nisierung weist der Aufsatz von KRZYSZTOF Obgleich alle Autoren wiederholt auf die Konse- SKWIERCZYŃSKI, der intellektuellen Kontakten Po- quenzen der mitunter recht spärlichen Quellen- lens mit dem Ausland gewidmet ist, zwangsläufig grundlage für ihre Ausführungen verweisen, so ent- große Berührungspunkte zu den Beiträgen von Ma- steht doch in der Zusammenschau aller Beiträge tla und Sikorski auf. Skwierczyński grenzt seine Aus- über drei sehr grundlegende Aktionsfelder, die die führungen inhaltlich von diesen Texten ab, vermit- Entwicklung der frühen piastischen Herrschaft maß- telt allerdings noch einmal einen Blick auf Kontakte geblich bestimmten, ein eindrucksvolles Bild von und Verbindungslinien, die auf verschiedenen Ebe- den überregionalen Bezügen und Verflechtungen, in nen zwischen dem schon länger christlichen westli- denen diese Herrschaft als integraler Bestandteil eu- chen Europa und Polen verliefen: die missionari- ropäischer Geschichte eingebunden war. Der Band schen Bemühungen von Mönchen und Eremiten, verfügt über einige Abbildungen sowie über ein Per- aber auch die einsetzende Gründung von Domschu- sonen- und Ortsnamensregister. len, die Kontakte zu Bildungszentrum im Ausland Maike Sach, Emden und Kiel

Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in Selbstverortung von Menschen“, gelten, die „in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsbur- Selbstzeugnissen Bilder des eigenen ‚Ich‘ entwarfen ger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahr- und dokumentierten“ (S. 9). Es geht konkret um hundert. Hrsg. von Martin Aust / Frithjof Ben- Ich-Entwürfe von Repräsentanten imperialer Eliten jamin Schenk. Köln, Weimar, Wien: Böhlau, und die Frage, ob und wie sie sich im Zuge von Glo- 2015. 505 S. = Imperial Subjects, Autobiographik balisierung, Reformen, Umbrüchen und anderen und Biographik im imperialen Kontext, 1. ISBN: Herausforderungen neu orientierten, ihre Rolle neu 978-3-412-50161-7. definierten, neue Identitäten entwickelten und mög- licherweise vom reinen Untertanen zum bewussten Inhaltsverzeichnis: Akteur, zum handelnden Subjekt wurden. https://www.degruyter.com/view/books/97834125 Ausgehend vom New Imperial History-Paradig- 02539/9783412502539-toc/9783412502539-toc.xml ma, dem nach auch Imperien imagined communities ohne wirklich stabile Ordnungssysteme darstellen, Der vorliegende Band versammelt die Beiträge zwei- und weil sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts eine er internationaler Tagungen, mit denen ein neues, „Konjunktur autobiographischen und biographi- von der DFG und dem Schweizerischen National- schen Schreibens und Publizierens“ (S. 14) beobach- fonds gefördertes Forschungsprojekt 2013 und 2014 ten lasse, liegt für die Herausgeber die Frage nahe, seinen Anfang nahm. Im Rahmen des Projektes, an inwieweit sich in den publizierten „individuellen Le- dessen Ausarbeitung auch Robert Luft (Collegium bensgeschichten“ auch das Bedürfnis nach Ausein- Carolinum) und Maurus Reinkowski (Basel) beteiligt andersetzung mit den vielfältigen strukturellen waren, soll eine neue Dimension der Imperienfor- Wandlungsprozessen spiegele. Daher bilden autobio- schung erschlossen werden. Erkenntnisleitendes In- graphische Schriften und andere Ego-Dokumente teresse bildet die Frage, welche Bedeutung Imperien den Quellenkorpus der Untersuchungen. In deren für das Selbstverständnis ihrer Untertanen hatten Zentrum steht die Autobiographik bzw. die „auto- und welche Rolle imperiale Biographien für das biographische Praxis“, ein Konzept das von Jochen Funktionieren von Herrschaft und Kommunikation Hellbeck entwickelt worden ist. Es zeichnet sich, so in Vielvölkerreichen spielten. die Herausgeber, durch eine autobiographische Tex- Die Herausgeber und Initiatoren wollen mit te um andere Medien der „Ich“-Konstruktion ergän- ihrem Projekt ein neues, dynamisches Forschungs- zende Heuristik aus, die zudem soziale und kulturelle feld schaffen. Zum einen soll der Blick auf die Be- Prozesse als einen komplexen Kommunikationszu- wohner, die Untertanen (subjects) der Imperien und sammenhang zu erfassen und zu analysieren ver- deren „Lebenswege und Biographien“ gerichtet wer- sucht. Der Sammelband will dazu die ersten Fallstu- den und zum zweiten soll das Untersuchungsinteres- dien liefern. se den „Diskursen der Selbstbeschreibung und Untergliedert ist das Buch in sechs Abschnitte.

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Im ersten, grundlegenden Artikel arbeitet VOLKER nen sind. Sie sind Ausdruck der zahlreichen Katak- DEPKAT unter der Überschrift: Doing Identity: lysmen, in deren Folge das Osmanische Reich unter- Auto/Biographien als Akte sozialer Kommunikation die gegangen ist. Da auch nichttürkische Autobiogra- Auto/ Biographieforschung im Zeichen des Cultural Turn phien, Memoiren und Berichte Berücksichtigung fin- überzeugend heraus, dass Biographie und Autobio- den, entsteht ein facettenreiches Bild, das von der graphie als Formen des „Life writing“ miteinander jungtürkischer Rechtfertigungsliteratur bis hin zu verschränkt sind, d. h. zwei verschiedene und doch kurdischen Memoiren oder neu verfassten Narrati- auf einander bezogene Versuche kultureller Sinnstif- ven einstiger griechischer Untertanen des Osmani- tung und sozialer Selbstbeschreibung darstellen. Sie schen Imperiums reicht. Kiesers Beitrag belegt zu- müssen demnach als hochgradig kontroverse und dem, dass sich die spätosmanisch-nachosmanische raum-zeit-induzierte Akte sich wandelnder sozialer autobiographische Praxis durch ihre nach wie vor Kommunikation und Identitätskonstruktion verstan- „ungebrochene Aktualität“ von den Praktiken in den den werden. Im Weiteren geht Depkat auf die Pro- anderen untergegangenen Reichen unterscheidet. blematik von Autobiographien als eine Quellengat- Der osmanische Kataklysmos ist demnach bis heute tung ein, von der man keine wertfreie, objektive nicht bewältigt, die Zukunft des Nahen Ostens eine Darstellung der Vergangenheit erwarten dürfe. Diese offene Frage. Erkenntnis ist natürlich nicht neu, führt aber Depkat Unter der Überschrift ImperiJa / ‚Ich‘ und Imperium zu der (auch nicht ganz neuen) Forderung, dass His- geht DENIS SDVIŽKOV der Frage der autobiographi- toriker Autobiographien als Quellen für kulturwis- schen Praktiken im Zarenreich zwischen 1830 und senschaftliche Fragestellungen lesen sollten, um his- 1860 nach. Er versucht, eine Typologie des imperia- torisch-biographische Kontexte zu rekonstruieren len Selbsts der Eliten zu erstellen. Wie die von ihm und die Referentialität auf eine äußere historische herangezogenen Tagebücher und andere Selbstzeug- Wirklichkeit zu erhellen. Schließlich setzt sich Dep- nisse belegen, veränderte sich im genannten Zeit- kat auch kritisch mit der historischen Sozialwissen- raum das Verhältnis zwischen Ich und Imperium. schaft und deren Verdikt gegen jede Form von Bio- Der mit der Person des Kaisers verbundene Begriff graphieforschung auseinander. Er weist dabei zu des Imperiums wurde entpersonalisiert, weil sich das Recht auf die seit der Jahrtausendwende sich neu, autobiographische Ich zunehmend nicht mehr der d. h. vor allem interdisziplinär ausrichtende Biogra- imperialen, sondern der nationalen Gemeinschaft phik hin, die, auf der Grenze von Geschichtsschrei- zugehörig zu fühlen begann. Selbst die unteren bung und Literatur angesiedelt, auf der „komplexen Schichten, zeigen Sdvižkovs Beispiele, gingen unter Beziehung zwischen dem biographischen Subjekt, dem Signum der narodnost’ auf Distanz zum nichtrus- dem Biographen, seiner Erzählung und den Lesern“ sischen Vielvölkergemisch. Die Autobiographien (S. 55) beruhe. Der Historiker habe daher die „binä- spiegeln also die dynamischen Entwicklungen des re Opposition von Fakt und Fiktion“ (S. 57) zu imperialen Models im 19. Jahrhundert und dessen überwinden. Wie dies im Einzelnen zu geschehen beginnende Krise im nationalen Zeitalter wider. habe, wird in den nachfolgenden Kapiteln des Bu- In ihren Streiflichtern zu den Autobiographien ches exemplifiziert. der k. (u.) k. Hochbürokratie zeigt WALTRAUD Im zweiten Abschnitt untersucht NORA MENGEL HEINDL, dass die Selbstzeugnisse österreichischer die zwei biographischen Projekte: Biographisches Lexi- bzw. österreichisch-ungarischer Beamten trotz der kon des Kaiserthums Oesterreich, 1856–1891, und Russkij Unterschiede ihrer Verfasser gemeinsame Merkmale Biografičeskij Slovar’, 1886–1891, als „Werkstätten im- besitzen. Sie folgen traditionellen Mustern und schei- perialer Narrative“. An der Darstellung Kossuths nen einem bestimmten Wertekanon verpflichtet ge- und Széchenyis sowie Chmel’nyc’kyjs und Schamils wesen zu sein. Der Vergleich mit Selbstzeugnissen gelingt es der Verfasserin zu zeigen, wie durch Le- z. B. naher Familienmitglieder und Kollegen de- gendenbildung bzw. Herauslösung etwa des Kosa- monstriert anschaulich, so die Autorin, wie unzuver- kenhetmans aus dem national-ukrainischen Kontext lässig und unsicher die Aussagen von Autobiogra- affirmative imperiale Narrationen produziert wur- phien tatsächlich sind: Als dem Kaiser per Eid per- den. Spätosmanische und postosmanische autobio- sönlich verpflichtete Beamte zeigten sie eine natürli- graphische Praxis sind dann Gegenstand einer fak- che Scheu, Probleme der vielfachen Wandlungspro- tendichten Abhandlung aus der Feder HANS-LUKAS zesse und die begleitenden Konflikte offen zu the- KIESERs. Er charakterisiert spätimperiale Ego-Do- matisieren. Sie überspielten ihr Dilemma durch eine kumente, die mit der Jungtürkischen Revolution spezifische Erinnerungskultur und die Konstruktion bzw. seit Ausbruch des Ersten Weltkrieges erschie- eines Selbstbildes, das die Staatsdiener als „klug han-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 11 delnde, sinnvolle, staatserhaltende Kraft, ja tragende Raimund F. Kaindl sowie der Paläontologe und Al- Säule der Monarchie“ (S. 156) präsentierte. banologe Franz Baron Nopcsa. So unterschiedlich Der dritte Abschnitt Das imperiale Ich zwischen Profession, Herkunft und Aktionsfelder diese impe- Dienst und Profession umfasst vier sehr aufschlussrei- rial subjects auch waren, die Analysen ihrer Selbst- che Studien. ULRICH SCHMID liefert in seinem Bei- zeugnisse und Biographien machen den Einfluss pe- trag über Repräsentanten der weltlichen und der ripherer Befindlichkeiten und Herausforderungen geistlichen Eliten anschauliche Beispiele dafür, wie deutlich – als Erfolg wie als Misserfolg. das russländische Imperium als subjektbildende Das Kapitel: Autobiographik imperial – transimperial Kraft sowohl positiv als auch negativ wirken konnte. – national umfasst zwei Beiträge. ALEXIS HOFMEIS- Hier wird dem Leser die Produktivität eines interdis- TER untersucht die autobiographische Praxis vor ziplinären Analyseansatzes mustergültig vor Augen dem Hintergrund jüdischer Identität in den drei Kai- geführt, weil etwa, wie Schmid zeigt, ein autonomes serreichen. Er kommt dabei nicht ganz unerwartet Subjekt „nur im geschützten Reservat der Romanli- zu der Erkenntnis, dass der die Imperien erfassende teratur“ seinen Platz hatte. Außerhalb des rein litera- soziale Wandel nicht ohne Einfluss auf die Selbst- rischen Bereiches bleiben in der Regel Imperium zeugnisse jüdischer Menschen blieb. Einschnitte und und Imperator die maßgeblichen Referenzen. CARO- Zäsuren auf ihrem Lebensweg führten zu Reflexio- LA CORDIN zeigt anhand der autobiographischen nen und Versuchen der Selbstversicherung – mit Praxis von Juristen der späten Zarenzeit, wie in Me- Blick auf das eigene jüdische Sein wie auf das nicht- moiren autobiographische Reflexionen festgehalten jüdische Publikum. In den Texten findet daher eine werden – als eine Art „Interessenvertretung zum Auseinandersetzung mit den erlebten Veränderungs- Schreibzeitpunkt“ (S. 186). Sie wertet diese wohl zu prozessen statt, die zugleich eine Transformation der Recht als Ausdruck einer Professionalisierung der traditionellen jüdischen Erfahrungswelten bedeute- noch jungen Zunft moderner russischer Juristen und ten. Deren Sinnhaftigkeit wurde religiös, sozial und ihrer Rolle im Kontext sich formierender zivilgesell- kulturell sowie durch den zunehmenden Antisemitis- schaftlicher Strukturen. Unter der Überschrift Bu- mus in Frage gestellt. JENS HERLTH demonstriert in reaucratic Diaries and Imperial Experts demonstriert seinem Beitrag über die Erinnerungen des polni- PETER HOLQUIST am Beispiel der Erinnerungen schen Gutsbesitzers Tadeusz Bobrowski, wie sich in und anderer Selbstzeugnisse von Fedor Martens, den ukrainischen Gouvernements des russischen Dmitrij Miljutin und Petr Valuev, wie sehr deren Ta- Teilungsgebietes der Rzeczpospolita die Entwick- gebücher eher inoffiziellen Darstellungen ihrer lungsmöglichkeiten der Polen verengten. Bobrowski dienstlichen Obliegenheiten gleichen als Aufzeich- zufolge trugen dafür sowohl die polnische Minder- nungen individuellen Befindens. Daher bezeichnet er heit als auch die russische Staatsmacht Verantwor- diese Texte als „Bureaucratic Diary“. Holquist tung. Bobrowski, so Herlths Befund, schrieb seine kommt in seiner Analyse schließlich zu dem Befund, Memoiren, um die verpassten Chancen zu kritisie- dass die betrachteten Personen ihre Untertanenrolle ren, die das Imperium Russen, Polen und den von im Wirkungskreis des Imperiums nicht in Frage stell- letzteren lange unterdrückten Ukrainern hätte bieten ten. Ein Beitrag BARBARA HENNINGs beleuchtet am können. Der Text lässt aber keine aktive Program- Fall eines mittleren osmanischen Beamten kurdi- matik erkennen, sondern war wohl eher Bobrowskis scher Provenienz, wie eine Karriere trotz Mobilität, Abgesang auf eine vor dem Januaraufstand noch für Ehrgeiz und Loyalität zum Imperium am Kollektiv- möglich gehaltene Lösung der polnischen Frage im verdacht gegenüber Herkunft und Familie scheitern Rahmen des Russländischen Imperiums. konnte. Der Autobiographik nach dem Zerfall der Reiche Im Abschnitt: Ich-Suche an der imperialen Peripherie ist der letzte Abschnitt gewidmet. MURAT KAYA be- sind Selbstverortung und Bedeutung persönlicher schreibt, wie bis 1914 die westlichen Interventionen Erfahrungen imperialer Ich-Entwürfe in verschiede- im Osmanischen Reich maßgeblich zur Genese der nen Peripherien Gegenstand der Untersuchung. Be- jungtürkischen „Geisteshaltung“ beigetragen und trachtet werden von MARIJA ĐOKIĆ die schillernde den in der Türkei weit verbreiteten Skeptizismus ge- Figur des serbischen Patrioten und kaisertreuen Be- genüber Europa bewirkt hätten. Er wird von Kaya amten Đorđe Stratimirović, von MATTHIAS GOL- etwas simplifizierend als „Wesenskern der kollekti- BECK der die Interessen Russlands in Ostturkestan ven Erinnerung der türkischen Elite“ und in Form erfolgreich vertretende Konsul Nikolaj Petrovskij, des „Sèvres-Syndroms“ als „Merkmal des türkischen von CHRISTIAN MARCHETTI die Habsburger Ethno- Nationalismus bis heute“ (S. 451) apostrophiert. Die graphen bzw. Volkskundler Carl v. Czoernig und osmanisch-armenische Autobiographik zwischen

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Heimatland und Diaspora ist anschließend Gegen- Die Vielfalt der Fallbeispiele und methodischen stand einer facettenreichen, profunden Studie von Ansätze der in dem Band versammelten Studien ist Elke Hartmann. Ihr gelingt es, die komplexe Wech- beeindruckend. Die meisten sind konzise und selwirkung von Verlust und Erinnerung in der litera- schlüssig und reflektieren den Stand der Forschung. rischen Ausprägung unterschiedlicher autobiographi- Der eine oder andere Beitrag hätte aber einen auf- scher Praktiken zu erfassen und zu verdeutlichen, merksamen Lektor verdient. Nicht alle der produ- wie die „diasporale Perspektive“ versucht, plurale, zierten Befunde sind neu oder überraschend, aber d. h. transimperiale und transnationale Identitäten zu alle erhellend. Sie regen zu weiteren Studien an. integrieren. Um Identität und Epochenbruch geht es Wenn die Herausgeber die Erforschung biographi- im Beitrag von FRANZISKA THUN-HOHENSTEIN. Sie scher und autobiographischer Praktiken und deren zeigt am Beispiel von Selbstzeugnissen adliger Opfer heuristischen Wert unter Beweis stellen wollten, so des Stalinismus, wie in den Texten Herkunft und ist ihnen das gelungen. Es ist vor allem der beobach- Zugehörigkeit zu einer zerstörten Daseinsform und tete interdisziplinäre Ansatz, der, wie andere Studien vergangenen Gesellschaftskultur beschwören wer- zuvor schon gezeigt haben, erfolgversprechend ist. den. Das erinnerte russländische Imperium wird Man kann den Band nur uneingeschränkt empfeh- auch durch die Sprache zurückgeholt, als Akt der len. „Verortung in der einst in der Kindheit vertrauten Rudolf A. Mark, Hamburg Welt“ (S. 505).

Deutsche im Schwarzmeergebiet, auf der Krim 1993. = Schriften des Bundesinstituts für ostdeut- und im Kaukasus vom 19. Jahrhundert bis 1941. sche Kultur und Geschichte, 2) und Dietmar Hrsg. von Alfred Eisfeld. Hamburg: Kovač, Neutatz (DIETMAR NEUTATZ: Die „deutsche Frage“ 2016. 678 S., 13 Abb., Tab. = Studien zur Ge- im Schwarzmeergebiet und in Wolhynien. Politik, schichtsforschung der Neuzeit, 88. ISBN: 978-3- Wirtschaft, Mentalität und Alltag im Spannungsfeld 8300-8470-9. von Nationalismus und Modernisierung 1856–1914. Stuttgart 1993), welche sich erwartungsgemäß mit je- Inhaltsverzeichnis: weils einem Beitrag an dem vorliegenden Band betei- https://d-nb.info/1079679715/04 ligt haben. Das in der alten Bundesrepublik zuweilen auch politisch gebrauchte Thema „Deutsche in In den Jahren 1998 bis 2000 wurden vom Institut für Russland/in der Sowjetunion“ wurde erfreulicher- Deutschland- und Osteuropaforschung des Göttin- weise seit den neunziger Jahren allmählich aus die- ger Arbeitskreises mehrere Tagungen veranstaltet, in sem Kontext herausgelöst und der Blick um eine deren Rahmen die Rolle und die Lebenswelten deut- eher forschungsorientierte Perspektive erweitert, die scher Kolonisten und sonstiger deutschsprachiger Wechselseitigkeit, Transfers, politische Brüche und Akteure im wirtschaftlichen, politischen und sozialen Kontinuitäten stärker berücksichtigt; dazu haben Leben der südlichen Regionen des Zarenreiches nicht zuletzt Institutionen wie der Göttinger Arbeits- bzw. der Sowjetunion untersucht wurden. In Folge kreis beigetragen. der seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert äußerst Die insgesamt 28 Beiträge sowie eine Einleitung dynamischen Expansion des Russländischen Reiches des Herausgebers, ergänzt durch erfreulich ausführli- in die Gebiete der heutigen Ukraine, der Krim und che Personen- und Ortsregister sowie ein Abkür- der Kaukasusregion hatten die russischen Machtha- zungsverzeichnis, lassen sich in drei Abschnitte ein- ber ein besonderes Interesse an der Peuplierung die- teilen, welche die Zeitenbrüche berücksichtigen und ser Regionen und am Import von spezifischem somit das Zarenreich, den Ersten Weltkrieg sowie Know-how, welches man sich nicht zuletzt von den die frühe Sowjetunion bis zum deutschen Überfall angeworbenen Kolonisten aus den deutschsprachi- 1941 abdecken. Die Autorinnen und Autoren stam- gen Ländern versprach. Die Entwicklung dieser men zu einem nicht unerheblichen Teil aus dem deutschen Kolonien und die russische Politik ihnen postsowjetischen Raum, was im Hinblick auf die Zu- gegenüber wurden bereits wiederholt untersucht, sammenführung unterschiedlicher Wissenschaftstra- nicht zuletzt besonders gründlich von Detlef Bran- ditionen zu begrüßen ist. Der Zugang ist multiper- des (DETLEF BRANDES: Von den Zaren adoptiert. spektivisch, berücksichtigt sowohl Fragen der Ma- Die deutschen Kolonisten und die Balkansiedler in krogeschichte (wie z.B. der Beitrag MARTIN HOFF- Neurußland und Bessarabien 1751–1914. München MANNs über die außenpolitischen Ziele des Zaren-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 13 reichs in den behandelten Regionen oder DETLEF stammen und damit über hervorragende Kenntnisse BRANDES’ Vergleich zwischen Russifizierung, Ger- der örtlichen Archivbestände verfügen, ausdrücklich manisierung und Magyarisierung) als auch kleinteilige positiv zu bewerten ist, werden die Einordnung in Zugänge (genannt seien stellvertretend ĖL’VIRA G. einen größeren Forschungskontext sowie die Aus- PLESSKAJAs Untersuchungen zur deutschen Hand- wertung neuerer Literatur in westlichen Sprachen werkerkolonie in Odessa in der ersten Hälfte des doch schmerzlich vermisst. Selbst dort, wo westliche 19. Jahrhunderts bzw. zur dortigen deutschen Schule Literatur rezipiert wird, wurden doch offenbar kaum in den Jahren 1920–1921). Im weitesten Sinne kul- einmal die in den letzten eineinhalb Jahrzehnten er- turwissenschaftliche Komponenten der Aspekte des schienenen Arbeiten berücksichtigt bzw. eingearbei- Wirkens deutschsprachiger Akteure (vgl. die beiden tet. Die dem Band zugrunde liegenden Konferenzen Artikel GUDRUN CALOVs über deutsche Künstler im fanden, wie eingangs erwähnt, schon vor längerer Schwarzmeergebiet, der Krim und im Kaukasus vor Zeit statt, und der Herausgeber gibt leider keine Er- 1914 oder die HEINRICH HEIDEBRECHTs über Deut- klärung für den selbst für die Geschichtswissen- sche Architekten in der russischen Provinz bzw. im Süden schaft ungewöhnlich langen Abstand zwischen den Russlands) stehen beispielsweise neben Betrachtun- Tagungen und der Publikation. In jedem Fall wurde gen der Politik der sog. Entkulakisierung in den be- die Gelegenheit nicht genutzt, die Beiträge zu aktua- handelten Regionen (vgl. die Artikel PETER LETKE- lisieren. Dies ist besonders bedauerlich im Hinblick MANNs oder ELENA A. SOLONČUKs). Erwartungsge- auf den Aufsatz von NEUTATZ Wo steht die Forschung mäß widmen sich einige Autoren auch den Menno- über die Russlanddeutschen? In dem auf einem 1999 ge- niten (SERGEJ G. NELIPOVIČ, ALFRED EISFELD), haltenen Vortrag basierenden Forschungsüberblick welche bekanntlich eine gewichtige Rolle im russlän- werden einige zum damaligen Zeitpunkt ohne Zwei- dischen Kolonisationsprojekt spielten. fel wichtige Desiderate benannt, etwa die Notwen- Das Spektrum der behandelten Themen ist somit digkeit der Einbeziehung von Alltags-, Mentalitäten- erfreulich breit, werden doch einige bislang vernach- und Mikrogeschichte auch bei der Erforschung der lässigte Aspekte der Geschichte deutschsprachiger deutschen Kolonien in Russland. Während Neutatz’ Kolonisten und ihrer Nachfahren im vorliegenden Auslassungen vor mehr als fünfzehn Jahren zweifel- Band erstmalig genauer betrachtet; dies gilt u. a. für los à jour waren, wirken Appelle zur Offenheit ge- den fast ausschließlich auf unveröffentlichten Quel- genüber einer (mittlerweile ja nun nicht so neuen) len basierenden Beitrag von Nelipovič (Dienen oder Neuen Kulturgeschichte heute etwas aus der Zeit ge- zahlen? Zum Problem der Einführung der Wehrpflicht für fallen. Gleichwohl ist der vorliegende Band für dieje- die deutschen Kolonisten im Süden Russlands 1861–1881), nigen, die sich mit der Geschichte deutscher Siedlun- der die Debatten in den verantwortlichen Regie- gen im Zarenreich und der Sowjetunion und den In- rungskreisen mit ihren vielen Brüchen sorgsam teraktionen in einem konfessionell und ethnisch nachzeichnet. Gleichwohl entsteht bei der Lektüre höchst heterogenen Terrain befassen, ein willkom- des Bandes ein insgesamt eher ambivalenter Ein- menes Kompendium. druck: Während der Umstand, dass viele Autorinnen Kerstin S. Jobst, Wien und Autoren selbst aus den behandelten Regionen

„Reguljarnaja akademija učreždena budet …“ breiter Berücksichtigung des militärischen Bildungs- Obrazovatel’nye proekty v Rossii v pervoj polo- wesens. Als weitere Besonderheit ist anzumerken, vine XVIII veka. Naučnye redaktory i sostaviteli dass die Aussagen aller Beiträge durch einen recht Igor’ Fedjukin / Majja Lavrinovič. Moskva: No- umfangreichen Dokumentenanhang zusätzlich be- voe izdatel’stvo, 2015. 406 S. = Novye materialy i legt werden. issledovanija po istorii russkoj kul’tury, 11. Der einleitende Beitrag von IGOR’ IGOREVIČ FE- ISBN: 978-5-98379-289-3. DJUKIN Prožektery kak administrativnye predprinimateli behandelt die „Projektmacherei“ als „Verwaltungs- Dieser als „Sbornik statej“ deklarierte Band ist eher akt“ in der petrinischen Zeit. Fedjukin hebt hervor, als „kollektive Monographie“ einzuschätzen. Die dass die frühe Entwicklung einer weltlichen Schule zehn Beiträge von neun Autoren sind klar aufeinan- in Russland von solcherart Projekten wesentlich an- der zugeordnet und bieten zumindest für Teilaspekte geregt worden ist. Der folgende Beitrag vom selben ein in sich geschlossenes Bild der Entwicklung des Autor behandelt das Entstehen der Marine-Akade- russischen Bildungswesens im 18. Jahrhundert unter mie in Sankt Petersburg – wesentliche Anregungen

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 14 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 sind vom Baron de Saint-Hilaire ausgegangen, der Der Beitrag von ANDREJ ALEKSANDROVIČ das erste in russischer und französischer Sprache KOSTIN und TAT’JANA VLADIMIROVNA KOSTINA verfasste Statut (Pravila) dieser Lehranstalt entworfen behandelt das 1739 bestätigte, von Akademiemit- hatte und selbst erster Leiter gewesen war. Saint Hil- glied Georg Wolfgang Krafft ausgearbeitete Regle- aire war ein Abenteurer, dessen Lebensdaten nicht ment des Petersburger akademischen Gymnasiums. bekannt sind; 1717 erhielt er seine Entlassung aus Bei der Publikation dieses Dokuments wurden ver- russischen Diensten, sein weiterer Lebensweg ist un- schiedene im Archiv vorliegende Fassungen berück- bekannt. Hervorgehoben wird, dass in Russland die sichtigt. Marine-Akademie die erste Lehranstalt mit einer sta- Für den deutschen Leser von besonderem Inter- bilen Klassenstruktur gewesen sei. esse dürfte der Beitrag von IGOR’ IGOR’EVIČ FEDJU- JANA IGOR’EVNA LARINA analysiert das 1721 von KIN und MAJJA BORISOVNA LAVRINOVIČ über die Heinrich Fick (1678–1750) vorgelegte Projekt über Berliner Kadettenanstalt als Vorbild für das Adlige die Ausbildung von russischen Adligen in Schweden Petersburger Landkadettenkorps sein. Recht breit und kommt zu der Schlussfolgerung, dass bisher wird über die Entwicklung des Kadettenwesens in pädagogische Aspekte im bekannten Wirken dieses Preußen und die Gründung der Kadettenanstalt in Mitarbeiters des Reformzaren Peter nur ungenügend Berlin 1717 berichtet. In Kreisen des russischen beachtet worden sind. Als Anhang ist die Relation auf Adels gab es seit der Mitte der zwanziger Jahre des waß Art junge Grafen, Barons und Edelleute in Schweden 18. Jahrhunderts Bestrebungen, für die Ausbildung zu des Reiches Diensten erzogen und hernach employret wer- der Jugend spezielle Lehranstalten zu schaffen – das den im deutschen Original und in zeitgenössischer wurde von der Regierung der Kaiserin Anna aufge- russischer Übersetzung abgedruckt. nommen, als sie 1730 in Petersburg das Adlige Über das Entstehen der Charkower Akademie Landkadettenkorps weitgehend nach dem Vorbild 1726 auf Grund von Projekt und Ukas des Bischofs der Berliner Kadettenanstalt gründete. Dieses Peters- von Belgorod Epifanij Tichorskij († 1731) berichtet burger Landkadettenkorps, das wie das preußische LJUDMILA JUR’EVNA POSOCHOVA. Als Problem be- Vorbild sowohl für das Militär als auch für die Ver- sonderer Art erwies sich, dass die Archivmaterialien waltung ausbildete, wurde im 18. Jahrhundert zu ei- dieser Akademie im Ersten und im Zweiten Welt- ner der bedeutendsten Bildungsinstitute in Russland. krieg stark gelitten haben und dass zudem in den Die Förderung dieser Bildungsanstalt durch den zur Jahren 1949 bis 1963 insgesamt 48.339 Akteneinhei- Zeit Annas einflussreichen Feldmarschall Burchard ten sowie 178 kg unerschlossener Materialien ausge- Christoph von Münnich wird besonders hervorge- sondert und vernichtet wurden. Vorläufer dieser hoben. Als Beilagen sind u. a. aus den Materialien Akademie war die 1716 gegründete „cifirnaja škola“ des Obersten Geheimen Rates das Projekt für ein beim Nikolaj-Kloster in Belgorod, die Tichorskij Kadettenkorps aus der Mitte der zwanziger Jahre des kurz nach seiner Amtsübernahme 1722 in eine geist- 18. Jahrhunderts sowie die inhaltlich mit dem Beitrag liche Schule umwandelte. nur indirekt zu verbindende, für die Entwicklung des In ihrem gemeinsamen Beitrag analysieren Berliner Kadettenkorps jedoch wichtige Instruktion GALINA IVANOVNA SMAGINA und MAJJA Friedrichs II. an den Kommandanten des Berliner BORISOVNA LAVRINOVIČ die Ausbildung Peters II. Kadettenkorps Kasimir Reinhold v. Oelsnitz aus (1715–1730, Kaiser seit 1727). Sie entsprach einem dem Jahr 1740 in neuer russischer Übersetzung ver- gemeinsam von Vizekanzler Heinrich (Andrej Ivano- öffentlicht. vič) Ostermann und Georg Bernhard Bilfinger (Mit- Der Beitrag von MICHAIL ALEKSANDROVIČ KI- glied der Petersburger Akademie) ausgearbeiteten SELEV befasst sich mit der Behandlung von Fragen Plan. Dieser Unterrichtsplan wird als Anhang in der der Bildung in der Gesetzeskommission von 1754 vom bei der Akademie der Wissenschaften tätigen bis 1766. Vom selben Autor ist auch der folgende Übersetzer Vasilij Adodurov angefertigten russi- Beitrag, der Aufzeichnungen von Peter Ivanovič Šu- schen Übersetzung des 18. Jahrhunderts veröffent- valov (1710–1762) aus dem Jahr 1761 zu Fragen der licht. Ausbildung von Artillerie- und Ingenieuroffizieren Es folgt ein Beitrag von IGOR’ IGOR’EVIČ FEDJU- analysiert. (Zu diesem Beitrag fehlt die für die ande- KIN über ein Projekt des Grafen Heinrich Oster- ren Beiträge veröffentlichte englischsprachige Zu- mann zur Reformierung der seit dem Tode Peters I. sammenfassung). in Verfall geratenen Marineakademie aus den dreißi- Den Abschluss bildet der Aufsatz von DMITRIJ ger Jahren des 18. Jahrhunderts (dieses Projekt ist als VLADIMIROVIČ RUDNEV über das pädagogische Anlage abgedruckt). Wirken des ukrainischen Adelsvertreters Grigorij

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 15

Andreevič Poletika (1723/25–1784). Sein Wirken in 18. Jahrhundert wesentlich bereichert und punktuell der Gesetzeskommission von 1767/1768 wird nicht vertieft wird. Das wird deutlich, wenn man diese berührt; das Thema des Beitrages ist die Tätigkeit als Ausführungen mit der besten zur Zeit vorliegenden Chef-Inspektor des Adligen Marine-Kadettenkorps Gesamtdarstellung – dem Beitrag zur Bildungsge- in Sankt Petersburg. Diese Funktion hatte er von schichte von Michail Timofeevič Beljavskij in Band 2 1764 bis 1773 inne. Hier hat er sich um eine Verbes- der Očerki russkoj kul’tury XVIII veka (Moskva 1987) serung der Disziplin sowie die Einführung neuer – vergleicht. pädagogischer Methoden bemüht. Der Band wurde mit Unterstützung des Deut- Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass schen Historischen Institutes in Moskau veröffent- mit dem vorliegenden Studienband die Darstellung licht. der Entwicklung des russischen Bildungswesens im Peter Hoffmann, Nassenheide

Hygiene als Leitwissenschaft. Die Neuausrich- und des Detailreichtums der darin enthaltenen Bei- tung eines Faches im Austausch zwischen träge in erster Linie hervorragend als ein Nach- Deutschland und Russland im 19. Jahrhundert. schlagewerk . Der Fokus liegt auf der Zeit des 18., Internationale Tagung, Leipzig, 7.–8.10.2013. 19. und des Beginns des 20. Jahrhunderts. Viele Hrsg. von Ortrun Riha / Marta Fischer. Aachen: Beiträge – von DARIA SAMBUK, ORTRUN RIHA, Shaker, 2014. 394 S., Abb., Tab. = Relationes, 16. LEONID P. TERENTEV, VALERIJ SCHÜTZ – sind als ISBN: 978-3-8440-3059-4. Einführungen in das Thema zu verstehen. In dieser Funktion zielen sie darauf ab, einen Überblick über Inhaltsverzeichnis: die Anfänge des medizinisch-hygienischen Trans- https://d-nb.info/1059131544/04 fers, der Medizinalpolitik und -verwaltung im Rus- sischen Reich, über die Gründung der ersten hygie- Der in der Relationes-Schriftenreihe Wissenschaftsbe- nischen Lehrstühle oder aber die wichtigsten Trä- ziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und ger der Hygienewissenschaft zu verschaffen. Russland auf den Gebieten Chemie, Pharmazie und Medi- Diese sich über Zahlen, detailgetreue „Moderni- zin erschienene Sammelband Hygiene als Leitwissen- sierungsschritte“, Karrierebeschreibungen, kurze schaft geht aus einer gleichnamigen internationalen Aufenthalts- oder Freundschaftsberichte, die Auf- Konferenz hervor und knüpft mit seiner Ausrich- zählung von Veröffentlichungen etc. erstreckenden tung an eine vielseitige, vorwiegend medizin- und Darstellungen scheinen ‚große‘ bekannte Namen wissenshistorische Forschung an, die sich in den oder aber den Einzug neuer Techniken als Zeichen letzten Jahren verstärkt der Thematik der Sozialhy- und Garanten des Wissenstransfers und enger rus- giene und Sozialmedizin auch im osteuropäischen, sisch-deutscher Beziehungen anzusehen, ohne dass hier russischen, Kontext widmete. Der Sammel- ein Blick hinter diese Kulissen gewährt oder die da- band präsentiert in 18 Beiträgen die Entwicklung hinter stehenden Materialitäten und handlungsrele- der Hygiene als Wissenschafts- und Universitäts- vanten Praktiken überprüft werden. Eine Beschrei- fach, ihre Relevanz für die Gesundheitspolitik im bung der Veränderung und „Modernisierung“ der Russischen Reich und in der Sowjetunion sowie Wasserleitung, der Badezimmer und des Kanalisati- ihre definitorischen Momente und Einflussberei- onssystems des Winterpalastes in St. Petersburg im che. Dabei fokussiert er zweierlei: Im ersten Teil 18. und 19. Jahrhundert wie in dem Beitrag von findet man Beiträge zu den Anfängen der Hygiene IGOR’ V. ZIMIN, sagt zwar viel über die Einstellung und ihrer konzeptionellen und personenbasierten der einzelnen Zaren zu hygienischen ‚Neuerungen‘, Aufstellung. Dem zweiten Teil liegen die sozial- aber ohne eine weitere Kontextualisierung oder bzw. gesundheitspolitischen Dimensionen der Hy- eine reflektierende Ebene zunächst noch relativ we- giene sowie ihre Öffentlichkeitswirksamkeit zu- nig über die Hygiene als Leitwissenschaft, das hygi- grunde. Eine sichtbare Kennzeichnung und eine enische Verständnis der Zeit und hygienische Ver- leichte Übertragung der Beiträge von ihrer ur- haltenspraktiken. sprünglichen Vortragsform in eine leserfreundliche- Eine Reihe der Beiträge – vor allem die perso- re Beitragsform, die zwar in den meisten, aber eben nenbezogenen – folgt dabei einem nahezu ‚hagio- nicht allen Fällen vorgenommen wurde, wären graphischen‘ Narrativ. Dank biographischen Zu- wünschenswert gewesen. gängen lassen sich oftmals komplexe Mensch-Ma- Der Sammelband eignet sich aufgrund der Breite terie-Wissens-Zirkel leichter aufgreifen, größere

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 16 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 wissenshistorische Zusammenhänge besser erläu- zu kurz. Die in den Einleitungen der jeweiligen Bei- tern und der transregionale Wissensfluss und seine träge anvisierten Prozesse des Wissensaustausches Auswirkung auf die Lokalität greifbar machen. Die- bleiben somit lediglich auf der Oberfläche ihrer Be- ses Potenzial der biographischen Erzählung wurde nennung. aber in den wenigsten Beiträgen ausgeschöpft. Dieser biographisch-deskriptive Zugang findet Meist steht der Vermittler und ‚Modernisator‘ im nur an wenigen Stellen eine ergänzende Dimension. Fokus. Beispiele hierfür bieten der Beitrag MARTA Eine solche lässt sich den dem deutschen Hygieni- FISCHERs über den Hygieniker Victor Aleksandro- ker und Geomediziner Heinrich Zeiss gewidmeten vič Levašëv, der Beitrag von SERGEJ M. KUZNE- Ausführungen von WOLFGANG U. ECKART ent- COV über den Hygieniker Aleksej Petrovič Dobros- nehmen. Eckarts Beschreibung der ausgeprägten lavin, GISELA BLOECKs Studie über den um Hygie- Reiseaktivitäten von Zeiss (1888–1949) – vor allem nepopularisierung verdienten Pharmazeuten Georg seiner Reiseexpeditionen in die deutschen Wolga- Dragendorff, OXANA KOSENKOs Beitrag über den siedlungsgebiete nach Saratov (1926) und seiner Hygieniker und Förderer Lev Tarasevič oder aber Reisen zur Bekämpfung der Kamel-Tryponosomia- der Beitrag von VOLODYMYR O. ABAŠNIK über die sis unter anderem nach Ural’sk in die Gebiete der Lebenswege der Char’kover Pioniere der Hygiene, Kirgisen und der Uralkosaken (1926–27) – zielt bei denen sich die deutsche Einwirkung vor allem darauf ab, die Ansätze der rassenpathologischen in Aufenthalten der Hygieniker an deutschen Uni- Geomedizin, wie sie in Anlehnung an die geopoliti- versitäten und Forschungseinrichtungen oder aber schen Theorien im Entstehen war, zu verdeutlichen in deren Beteiligung an deutschsprachigen hygieni- und sie im Kontext der deutschen Kultur- und schen Zeitschriften zeigt. Wirtschaftspropaganda zu analysieren. Die Berichte Eine andere Form dieser zum Hagiographischen von Zeiss zeugen von einer teils bewussten und tendierenden Narrative bieten die Beiträge, die in dem rassenanthropologischen Gedankengut ent- einem aufzählenden Modus die Lebenswege, Arbei- stammenden, teils unbewusst projizierten, dennoch ten und Schüler-Lehrer-Beziehungen beschreiben programmatisch werdenden Verschmelzung kultu- und so die deutsch-russischen Austauschkontakte reller, ethnographischer, politischer und medizini- dokumentieren: Wer war wer in den russischen hy- scher Kategorien. Diese wurden zur Beschreibung gienischen Kreisen der ersten Hygieneschulen Ende der „weltgeschichtlichen Bedeutung“ (Zeiss 1927; des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in S. 254) der von ihm propagierten und im Sinne der welcher Beziehung standen die einzelnen Hygieni- deutschen Interessen einzurichtenden Geomedizin ker zueinander – dies erfahren wir aus dem Beitrag verwendet, die vor einer aus den Osten drohenden von KONSTANTIN K. VASYLEV, JURIJ K. VASYLEV Degenerationsgefahr warnte; einer Degenerations- und ANDREJ V. MEL’NIČENKO. Von REGINE und gefahr, die, sollte die Sowjetunion ihre Entwick- GERD PFREPPER bekommen wir dagegen einen lungschancen nutzen und diese Gefahr für sich sehr detaillierten Überblick unter anderem über die produktiv machen können, eine große Herausfor- Aufenthalte einzelner russischer Wissenschaftler am derung für Deutschland darstellen und daher recht- Koch’schen Berliner Hygiene-Institut und über die zeitig erkannt werden müsse (S. 255–256). Teilnahme russischer Wissenschaftler an den Veröf- So wie der Beitrag von Eckart mit seinem perso- fentlichungen der deutschsprachigen Zeitschrift für nenbezogenen Zugang bessere Einblicke in die hy- Hygiene. gienisch basierte Geomedizin und die russische Ge- Die meisten der Beiträge haben einen stark de- sundheitspolitik gibt, so lassen sich in dem Sam- skriptiven Charakter. Eine analytische Ebene wie melband noch einige weitere Studien finden, die auch eine gezielte Fragestellung oder eine über ihre uns neben dem deskriptiven auch einen tiefen ana- Deskriptivität hinausgehende These fehlen oftmals. lytischen Blick auf die russische Hygiene und auf Für die Beschreibung der Neuausrichtung der Hy- russisch-deutsche Transferprozesse erlauben. Ein giene als ein neues Fach mögen diese definitori- solcher Beitrag stammt von BJÖRN M. FELDER. schen Moment- und Konstituierungsaufnahmen Felder führt uns mit seiner Studie in die Diskurse ausreichend sein, für ein vertieftes Verständnis der zur Ausrichtung der russischen Hygiene ein, indem Potenziale der Hygiene im Russischen Reich mit ih- er die forschungsgestützte These hinterfragt, der rer Differenzierungs- und Transformationsmacht russische Gesundheits- und Hygienediskurs seien sowie für eine Annäherung an die Prozesse der vorwiegend von sozialmedizinischen Paradigmen Wissenschaftsfestlegung, -entwicklung, -etablierung geprägt gewesen und durch diese Prägung für ras- und des zirkulierenden Austauschs greifen sie viel sistische Kategorisierungen und die Biologisierung

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 17 des Sozialen resistent gewesen. Anhand biomedizi- Eine spannende Exkursion in die Beschreibung nischer Diskurse (Tarnovskij’s eugenischer Moder- der Eckpunkte und Felder der hygienischen Ord- nismus, deutschbaltische Ärzte, Gamalejas Gesell- nung in Russland stellt ferner der Beitrag von LUTZ schaftshygiene) zeigt er, dass es in Russland bereits HÄFNER dar, in dem die Anfänge des staatlichen seit den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine Kampfes gegen die Lebensmittelverfälschung und Parallelität medizinischer Diskurse zu verzeichnen der behördlichen sowie wissenschaftlichen Bemü- gibt und dass die sozialhygienisch ausgerichtete hungen um Lebensmittelnormierung in Russland Zemstvo-Medizin eine anfangs noch vereinzelte, vor allem in der Zeit von den neunziger Jahren des spätestens nach 1905 immer stärker werdende 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg be- Konkurrenz von jungen, modernistisch denkenden schrieben werden. Das Zarenreich stellt dabei im und der Degenerationslehre verpflichteten Ärzte internationalen Vergleich weder ein Negativ- noch erhielt, zumal sie in den baltischen Provinzen ver- ein Paradebeispiel dar. Es war vielmehr einer von stärkt auf biomedizinische und proto-eugenische vielen internationalen Spielern, die sich kurz vor Forderungen stieß. Eugenik wurde langsam als „ein dem Ersten Weltkrieg verstärkt der Bekämpfung neues, revolutionäres Instrument im Sinne einer der Lebensmittelfalsifikation und des damals schon ‚Gesellschaftshygiene‘“ (S. 195) entdeckt und, wenn als aussichtslos, dennoch alternativlos bezeichneten auch nicht direkt zur Ethnisierung, so doch zur Kampfes um Produktqualität im Namen der Volks- Biologisierung des Nationalen eingesetzt, und zwar gesundheit verpflichteten. bis in die zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts und Der Sammelband schießt mit zwei zusammenge- sogar über die Zeit ihrer offiziellen Verdammung in hörigen Beiträgen über russische hygienische den dreißiger und vierziger Jahren des vergangenen Selbstpräsentationen auf den Ende des 19. Jahr- Jahrhunderts hinweg. hunderts als mächtigstes Popularisierungsinstru- Dass bei hygienischen Diskursen ohne die ment aufkommenden Internationalen Ausstellun- Beachtung ihrer handlungsleitenden Verhaltenswei- gen. Was und wie sich Russland auf den Hygie- sen und praxislogischen Übersetzungen ihre Wir- neausstellungen in Brüssel (1876) und Dresden kungsmächtigkeit sich nur partiell erschließen und (1911) präsentierte, kann man den Beiträgen von kaum in ihrer inneren Dynamik nachvollziehen ELENA ROUSSANOVA und GERHARD HEXEL- lässt, zeigt HANS-CHRISTIAN PETERSEN. Er thema- SCHNEIDER entnehmen. Roussanova beschreibt da- tisiert die Neuordnung der St. Petersburger Märkte bei den Umfang der Themen und Exponate, von in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert und ana- denen sie einige sogar genauer avisiert. Welches lysiert, wie sich die hygienischen zu kommerziellen, Hygieneverständnis hinter solchen Präsentations- sozialpolitischen und polizeilichen Argumenten techniken stand, inwiefern die Beteiligung an den verhielten sowie ob ihre Umsetzung eher ihrer Ausstellungen als Teil eines wissenschaftlichen überzeugenden Kraft oder eher ihrer politischen Wettlaufs verstanden und genutzt wurde oder aber Zweckbedingtheit geschuldet waren. Petersen schil- welche Selbstinszenierung dadurch angestrebt wur- dert zum einen die Debatten um die Neuordnung de, bleibt dabei offen. Vor allem die Analyse des des Heumarktes, eines der größten Lebensmittel- Letzteren wäre wünschenswert gewesen, zumal die märkte St. Petersburg, der zugleich mit seiner Autorin immer wieder die Selbstdarstellung mittels „Fressmeile“ und dubioser Kundschaft als der der Hygiene betont, kaum aber darauf eingeht. Die- größte Epidemieherd der Stadt betrachtet wurde. sen Teil übernimmt teilweise der Beitrag von Zum anderen stellt er diese Debatten und die an- GERHARD HEXELSCHNEIDER, der zwar nicht auf schließende Umgestaltung des Heumarktes im Jahr die hygienische, aber vorwiegend auf die künstleri- 1886 im Kontext des allgemeinen Umgangs mit sche Selbstpräsentation Russlands auf der Internati- städtischen Märkten und deren Neueinordnung dar. onalen Hygieneausstellung in Dresden (1911) ein- Dabei zeigt er, dass die Intensität auch der hygieni- geht und zeigt, wie die künstlerische Umrahmung schen Bemühungen weniger mit hygienischen An- (Pavillon, Dekorationen usw.) dazu gedacht war, sätzen der Zeit oder mit hygienischem Anspruch die wissenschaftlichen Leistungen zu untermauern auf Verbesserung der Volksgesundheit zu tun hatte, und Russland als ein modernes Land zu präsentie- auch wenn letzteres von der städtischen Sanitär- ren. kommission gefordert war. Sie folgte eher kurzfris- Insgesamt hinterlässt der Sammelband einen am- tigen ökonomischen Kriterien (S. 292) und ließ so- bivalenten Eindruck. Das ist zum einen seiner Gat- mit den hygienische Diskurs als begleitend, aber tung als solcher, zum anderen dem fehlenden kon- nicht ausschlaggebend erschienen. zeptionellen Rahmen geschuldet. Einige wenige

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 18 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 spannende Beiträge stehen im Kontext deskriptiver momenthafte Einblicke oder durch chronologische, Studien, die zwar hier und da neue Materialien er- enzyklopädieartige Übersichten selbst erarbeiten. kennen lassen, aber sich durch alte Herangehens- Eine erste Annäherung an die russisch-deutschen weisen selbst im Wege stehen. Das Bild der Hygie- Wissenschaftsbeziehungen wird damit getan, mehr ne als Leitwissenschaft muss sich der Leser somit aber auch nicht. durch lose miteinander in Verbindung stehende Justyna A. Turkowska, Gießen

Russkie knigi iz biblioteki Imperatorskogo GOVA wird die Geschichte der Bibliothek rekonstru- Carskosel’skogo (Aleksandrovskogo) liceja v iert. Zar Alexander I. stellte dem neugegründeten Ekaterinburge. T. 1: Otečestvennye izdanija, Lyzeum die Büchersammlung seiner Großmutter opublikovannye do 1830 g., iz sobranija Otdela Katharina II. zur Verfügung, die die Bibliotheken redkich knig Zonal’noj naučnoj biblioteki Voltaires, Büschings und Diderots (dazu jetzt: S. V. Ural’skogo federal’nogo universiteta. Sost. O. S. KOROLEV: Biblioteka Diderota. Opyt rekonstrukcii. Arkatova / O. S. Kravčenko / L. Ė. Petrova / dr. Sankt-Peterburg 2016) enthielt, sowie einen Teil der Otv. red. O. M. Kadočigova. Ekaterinburg: Iz- Bücher aus dem Departement des Ministeriums für dat. Ural’skogo universiteta, 2015, 606 S., 11 Abb. Volksaufklärung (insgesamt 4195 Titel, vgl. S. 7). ISBN: 978-5-7996-1545-1. Karten, Pläne und Atlanten wurden aus dem Militär- topographischen Dienst herbeigeholt. Die letzte für Im Jahr 1811 wurde auf Initiative des Staatsrefor- die Bibliothek angeschaffte Publikation war das 1916 mers Michail Speranskij in der südlich von St. Pe- erschienene Lehrbuch des Staatsrechts von A. A. Ži- tersburg gelegenen zarischen Sommerresidenz Cars- lin. 1917 umfasste die Sammlung 11.415 Titel in koe Selo (bis 1937 Detskoe Selo, danach Puškin) ein möglicherweise mehr als 20.000 Bänden (vgl. S. 9). Lyzeum eröffnet, um loyale Staatsdiener heranzubil- Nach der Auflösung des Lyzeums von Carskoe Selo den, die anschließend Schlüsselposten in der Verwal- gelangte die Bibliothek nach mehreren Irrfahrten tung übernehmen sollten. Zu den bekanntesten Zög- quer durch das vom Bürgerkrieg verwüstete Land lingen dieser Lehreinrichtung im ersten Jahrzehnt 1921 in die entsprechend einem Dekret V. I. Lenins ihres Bestehens zählten die Dichter Aleksandr vom Vorjahr neu gegründete Staatliche Universität Puškin, Anton Del’vig und der Dekabrist Wilhelm des Ural in Ekaterinburg, wobei es unterwegs zu Küchelbecker, der spätere Außenminister Aleksandr Verlusten kam. Nach 1970 führte man etwa 1300 Ti- Gorčakov sowie der Direktor der Kaiserlichen Bi- tel wieder in das A. S. Puškin-Museum im Gebäude bliothek in St. Petersburg von 1849 bis 1861, Modest des Lyzeums in Puškin zurück. Doch der größte Teil Korf. In dem Lyzeum herrschte zunächst ein beson- der Bestände wurde in die regionale Sammlung der derer, „freier Geist“, der durch Lehrkräfte mit um- Buchdenkmäler des Mittleren Ural eingegliedert. fassender europäischer Bildung (V. F. Malinovskij, Im vorliegenden ersten Band, der auch als elek- A. P. Kunicyn, I. K. Kajdanov, N. F. Košanskij; sie- tronische Publikation zugänglich ist, werden 900 Ti- he hierzu die nicht herangezogene Monographie: tel alphabetisch, von „Avramov“ bis „Jacenkov“, M. A. LJUBAVIN: Licejskie učitelja Puškina i ich kni- verzeichnet, die bis 1830 in Russland erschienen gi. Sankt-Peterburg 1997) sowie durch die Lektüre sind. Das ist der bei weitem umfangreichste Teil des der Lyzeisten selbst angeregt wurde, jedoch ab 1823 Bandes (S. 35-539). Die Zugehörigkeit von Titeln zu einer militärischen Disziplinierung weichen musste den Beständen der Bibliothek wurde vor allem an- (vgl. die Rez. des Verfassers zu L. B. MICHAJLOVA: hand von Exlibris und Stempeln ermittelt, die hier Carskosel’skij licej i tradicii russkogo prosveščenija. abgebildet sind (S. 9–12; 24–27). Den Beschreibun- Sankt-Peterburg 2006, in: Jahrbücher für Geschichte gen der Titel und der Einbände im Katalogteil wer- Osteuropas 56 (2008) 2, S. 432–433). den als Illustrationen in etlichen Fällen die Titelblät- Im Rahmen eines neuen Projekts, das an der Bo- ter und bemerkenswerte Abbildungen in Schwarz- ris-El’cin-Universität in Ekaterinburg in Angriff ge- weiß (S. 164) sowie in Farbe (S. 11) beigegeben. Die nommen wurde, soll die Bibliothek des Lyzeums ka- bibliographischen Angaben wurden mit Hilfe der talogisiert und den Lesern zugänglich gemacht wer- Sammelkataloge (Svodnye katalogi) der russischspra- den; dabei ist an Historiker, Bibliographen, Biblio- chigen Bücher in bürgerlicher Schrift 1725–1800 phile und Sammler seltener Bücher gedacht. In der (6 Bände, 1962–1975), der von 1801–1825 erschie- zuerst in russischer und anschließend in englischer nenen Buchtitel (3 Bde., 2000–2013) und Serienwer- Sprache verfassten Einleitung von OLGA KADOČI- ke (3 Bde., 1997–2006) sowie der bewährten Nach-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 19 schlagewerke von A. F. Smirdin (1828, 1829, 1856) Staël-Holstein, Chateaubriand und der Brite Lord und V. S. Sopikov (1904, 1906), die 2006 wieder in Byron ausgesprochene Modeautoren. Die deutsche Nachdrucken zugänglich gemacht worden sind, Literatur wird zwar durch Gellerts Morallehre und überprüft und vervollständigt. Wertvoll sind die Hin- Klopstocks Messias, nicht aber durch Goethe reprä- weise auf die offiziellen Zensoren, welche die Bü- sentiert; von Friedrich Schiller wurde die Übertra- cher zu begutachten hatten. gung seiner Geschichte des Dreißigjährigen Krieges (4 Bde., Der Katalog bietet einen Einblick in die russisch- 1815) erworben. Zwar konnten die namhaften russi- sprachige Literatur der ersten drei Jahrzehnte des schen Schriftsteller des „Goldenen Zeitalters“ Ka- 19. Jahrhunderts; nur vereinzelt finden sich Titel aus tharinas II. gelesen werden (M. V. Lomonosov, A. P. der Zeit vor 1800. Entsprechend den Aufgaben und Sumarokov, M. M. Cheraskov, I. F. Bogdanovič und Erziehungszielen des Lyzeums ist Literatur auf den G. R. Deržavin), doch erstaunt das Fehlen der Wer- Gebieten der Pädagogik (so der Kinderfreund J. H. ke Nikolaj Karamzins, des bedeutendsten Schriftstel- Campes), des Militärwesens, der Geschichte und lers und Historikers jener Zeit, während die Abwe- Geographie, des Rechtswesens, der Wirtschaft und senheit der Dichtungen des zeitweise in Ungnade ge- der Medizin, die geistliche Literatur mit Predigten ratenen Aleksandr S. Puškin durch seine jahrelange und Andachtsbüchern vertreten. Zu den vergleichs- Verbannung erklärt werden kann. Die russische zeit- weise wenigen naturkundlichen Werken zählt das genössische Belletristik ist mit Erzählungen, Dramen vielbändige, von I. Dvigubskij 1820–1830 herausge- und Gedichtsammlungen vertreten (K. N. Batjuš- gebene Novyj magazin estestvennoj istorii. Die Lyzeisten kov; A. A. Bestužev-Marlinskij, F. Bulgarin, F. N. erwarben mit Sprachhilfen und Wörterbüchern der und S. N. Glinka, P. I. Šalikov, S. A. Širinskij-Šišma- Bibliothek zum Teil beachtliche Fremdsprachen- tov, A. S. Šiškov), die vor allem das patriotische Ge- kenntnisse. Ausgaben altgriechischer Klassiker durch fühl in den Adelszöglingen wecken sollten. Russi- I. I. Martynov, Übersetzungen der Werke Homers sche Schriftstellerinnen jener Jahre waren Marija Bo- (Nachdichtung von N. I. Gnedič), Hesiods, Hero- lotnikova, Anna Bunina und Sofija Meščerskaja. In dots, Pindars, des Plinius, Cicero, Plutarch und Ver- der Bibliothek wurden nicht nur Einzelausgaben, gil zeugen vom Stand der Übersetzungskunst aus sondern auch mehrbändige Anthologien und Alma- dem Griechischen und Lateinischen in Russland. nache, Dichtungs- und Predigtsammlungen sowie ei- Zahlreiche kriegsgeschichtliche Abhandlungen, Be- nige Zeitschriften wie das Artillerijskij Žurnal aufbe- richte und Erzählungen erinnerten an die nur wenige wahrt. Jahre zurückliegenden Waffentaten in den Kriegen In dem auf den Katalogteil folgenden Personen- gegen Napoleon 1812–1814. Reisebeschreibungen namenverzeichnis wird auch die lateinische Schreib- durch Russland, in die asiatischen Länder und bis in weise wiedergegeben (was in anderen russischen Pu- die Südsee (Otto von Kotzebue) sowie Werke zur blikationen nicht selbstverständlich ist). Nach Mög- Landeskunde ermöglichten eine Vorstellung von den lichkeit werden die Lebensdaten der Autoren erfasst. geographischen Räumen und der ethnischen Vielfalt Ein Register der russischsprachigen Buchtitel und der Kontinente. In der Zeit einer nervösen, konfessi- ein Verzeichnis jener Lyzeisten des 19. und begin- onsüberschreitenden, teils pietistischen und quietisti- nenden 20. Jahrhunderts, von denen handschriftliche schen Religiosität sowie der Tätigkeit der Bibelgesell- Marginalien in den Büchern erhalten sind, folgen. schaft ab 1814 wurden Schriften von J. M. de Guy- Den Abschluss bildet ein Verzeichnis der bei der on, K. von Eckartshausen, J. H. Jung-Stilling und Zusammenstellung des Kataloges benutzten Litera- J. E. Gossner übersetzt, bis die orthodoxe Kirchen- tur, das 46 Drucke und Internetseiten umfasst. Dar- führung 1824 diesen Modeströmungen ein jähes unter ist allerdings kein einziges deutschsprachiges Ende bereitete. Hilfsmittel zu finden, was insofern bedauerlich ist, Da im Lyzeum die ausländischen Schriftsteller in als in der Bibliothek eine größere Anzahl von Über- den wichtigsten Nationalsprachen gelesen wurden, setzungen aus dem Deutschen aufbewahrt wird. Ein bedeutete die russischen Übersetzungen eher eine Verzeichnis der Illustrationen und ihrer Quellen be- Auswahl: aus der französischen Literatur etwa Ra- schließt die sorgfältig angefertigte und gediegen aus- cine, Fenélon, Fontenelle, Voltaire und Marmontel. gestattete Publikation, der eine große Verbreitung In den Salons des russischen Adels waren die auch außerhalb Russlands zu wünschen ist. Schriftstellerinnen Madame Genlis und Madame du Michael Schippan, Wolfenbüttel

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 20 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4

SERGEJ V. KODAN / SERGEJ A. FEVRALËV: änderungen des Rechtssystems im Königreich Polen Mestnoe pravo nacional’nych regionov v Rossi- (S. 195–230). jskoj imperii (vtoraja polovina XVII – načalo Jeder der Unterpunkte der Kapitel 1–3 endet mit XX v.). Monografija. Moskva: Jurlitinform, 2014. einer knappen Zusammenfassung, bevor sich an das 282 S. ISBN: 978-5-4396-0556-9. 3. Kapitel eine Gesamtzusammenfassung der Ergeb- nisse aller drei Kapitel anschließt (S. 231–243). Es Ihre ausführliche Untersuchung zum Partikularrecht folgt eine ausführliche Liste der verwendeten Quel- nationaler Gebiete innerhalb des Russischen Reichs len und Literatur (S. 244–280), die zunächst die von der zweiten Hälfte des 17. bis zum Beginn des Quellen (S. 244–265) vorstellt, erst alphabetisch ge- 20. Jahrhunderts gliedern die russischen Wissen- ordnet, dann nach Gebieten, was nicht nur die Inter- schaftler S. V. Kodan und S. A. Fevralëv in 3 Kapi- essenten an zukünftigen Forschungen, sondern alle tel. Vorangestellt ist eine fundierte und als Einstieg Benutzer schätzen werden, denn diese Anordnung in die Thematik sehr zu empfehlende Einleitung ermöglicht eine schnelle Orientierung, auch regional. (S. 3–15), die anhand umfangreicher Literaturverwei- Es folgt die Literatur (S. 266–280). Mit dem Inhalts- se den Stand der Forschung zu Untersuchungsge- verzeichnis (S. 281–282) schließt der Band ab. genstand und -gebieten zusammenfassend darstellt, Entstanden ist eine komplexe Analyse des Parti- um daraus Anliegen und Ziel der eigenen Arbeit ab- kularrechts als politisch-rechtlicher Erscheinung und zuleiten und zu begründen. Mit dem Thema wird ein als Bestandteil des Rechtssystems des Russischen Desiderat der Forschung aufgegriffen. Reichs. Die gut gegliederte und logisch aufgebaute Kapitel 1 (S. 16–68) wendet sich den Quellen des Monographie von S. V. Kodan und S. A. Fevralëv Rechtspartikularismus und dem politischen und ju- wendet sich an Lehrkräfte, Wissenschaftler und Stu- ristischen Wesen des Partikularrechts nationaler Ge- denten juristischer und historischer Hochschulen biete innerhalb des Russischen Reichs zu. Schwer- wie auch an breite Kreise von an der Geschichte der punkte der Darstellung bilden die Quellen des russi- staatsrechtlichen Entwicklung des Russischen Reichs schen Rechtspartikularismus und die Entstehung des interessierten Lesern. Partikularrechts in Russland (S. 16-29), das Partiku- Die Autoren beleuchten die Grundlagen wie auch larrecht nationaler Gebiete in Politik und Ideologie die grundlegenden Entwicklungstendenzen der parti- wie auch bei der Herausbildung und Festigung des kularrechtlichen Regulierung unter den Bedingungen Russischen Reichs (S. 29–48), abschließend das juris- von Aufbau, Entwicklung und Festigung des Russi- tische Wesen des Partikularrechts sowie der Rechts- schen Reichs. Außerdem werden die politischen und systeme nationaler Gebiete (S. 48–68). ideologischen Voraussetzungen der Herausbildung In Kapitel 2 (S. 69–117) werden Integration, Ent- und Festigung des Partikularrechts als Teil des russi- wicklung und Vereinheitlichung des Partikularrechts schen Rechtssystems gezeigt. Und nicht zuletzt er- in den nationalen Gebieten von der zweiten Hälfte folgt eine Analyse sowohl der Stellung des Partiku- des 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts unter- larrechts in der Politik des russischen Staates wie sucht, mit folgenden Schwerpunkten: Integration, auch der juristischen Besonderheiten des Partikular- Quellen und Vereinheitlichung des Partikularrechts rechts. Besondere Aufmerksamkeit schenken die Au- Kleinrusslands, Weißrusslands und Litauens (S. 69– toren der Charakterisierung der partikularrechtlichen 88), Integration der Rechtsquellen und Systematisie- Systeme einzelner nationaler Gebiete des Russischen rung lokaler Gesetzessammlungen in den Ostsee- Reichs. So betrachten sie die Ukraine, Weißrussland Gouvernements (S. 89–103), Integration und Nut- und Litauen (2. Hälfte des 17. Jahrhunderts bis vier- zung der Quellen des Partikularrechts Georgiens bei ziger Jahre des 19. Jahrhunderts), die Ostsee-Gou- der Rechtsregulierung im Kaukasus (S. 103–117). vernements, d. h. das Baltikum (1710–1917), den Kapitel 3 (S. 118–230) beleuchtet Integration und Kaukasus, d. h. Georgien und Transkaukasien (1801 Transformation lokaler Rechtssysteme in autonomen bis fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts), das Groß- Gebieten des Russischen Reichs im Laufe des 19. fürstentum Finnland (1808–1917), das Gebiet Bessa- und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Behandelt wer- rabien (1812–1917) und das Königreich Polen den folgende Themen und Gebiete: das System des (1815–1917). Partikularrechts des Großfürstentums Finnland im Bei der geographischen Dimension der Untersu- Rechtssystem des Russischen Reichs (S. 118–157), chungsgebiete in den betrachteten Zeiträumen war die Quellen und die Veränderungen im lokalen eine beachtliche Menge an Quellen und Literatur Rechtssystem im Gebiet Bessarabien (S. 157–195) einzubeziehen und auszuwerten. Diese Aufgabe ha- sowie die Quellen des Partikularrechts und die Ver- ben S. V. Kodan und S. A. Fevralëv erfolgreich ge-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 21 meistert. Neben allen zu beachtenden allgemeinen gionalen Entwicklungen im Rechtswesen. Dabei Aspekten hatten sie immer auch die spezifischen his- wird die spezielle Bedeutung einzelner Rechtsdoku- torischen wie rechtlichen Verhältnisse des jeweiligen mente für das jeweilige Gebiete gezielt herausgestellt. Gebietes im Blick. Aus dem Vergleich umfangrei- Im Rahmen ihrer Ausführungen zu den behandelten cher, auch regionaler Quellen war es den Autoren nationalen Gebieten arbeiten S. V. Kodan und S. A. möglich, eine gewisse Dynamik in der Rechtsent- Fevralëv gleichzeitig große Teile der Rechtsgeschich- wicklung der betrachteten nationalen Gebiete abzu- te dieser Gebiete auf. leiten. Auch konnten sie zeigen, dass es sich bei den Leider wurde nicht daran gedacht, mit einem, untersuchten Partikularrechten nicht, wie bisher wenn auch noch so knappen, englischen oder auch fälschlich angenommen, einfach um Subsysteme des deutschen Resümee die Sprachbarriere zu überwin- russischen Rechts handelt. Die behandelten nationa- den. Auch das Inhaltsverzeichnis gibt es lediglich in len Gebiete wie auch die jeweiligen Zeiträume be- russischer Sprache. Das ist bedauerlich, denn so wer- trachten die Autoren im Zusammenhang mit der den die Ausführungen, vor allem aber die Ergebnisse entsprechenden lokalen Geschichte und Rechtsge- dieser nicht nur umfangreichen, sondern auch fun- schichte, und sie stellen ebenfalls immer den Bezug dierten und innovativen Untersuchung nicht so zu den Verhältnissen im Russischen Reich insgesamt leicht die Verbreitung finden können, die man den her. Grundlage von Bewertungen sind entsprechen- Autoren für ihre gute Arbeit gewünscht hätte. de Rechtsdokumente zu regionalen wie auch überre- Inge Bily, Leipzig

JENNIFER SIEGEL: For Peace and Money. müdet. Ein weiterer Schwachpunkt der Arbeit liegt French and British Finance in the Service of darin, dass die Verfasserin den Verlauf der russi- Tsars and Commissars. New York: Oxford Uni- schen Staatsverschuldung nicht tabellarisch aufarbei- versity Press, 2014. XV, 306 S. = Oxford Studies tet und ökonomisch analysiert. Wir erfahren zwar in International History. ISBN: 978-0-19-938781- mehrfach im Text, Russland sei der größte Schuld- 6. ner Europas gewesen, aber die wenigen Daten muss sich der Leser an mehreren Stellen zusammensu- Diese Studie wirft Licht auf die russische Staatsver- chen. Wie stieg die Auslandsverschuldung im Unter- schuldung im Ausland im Zeitraum von 1894 bis suchungszeitraum an? In welchem Verhältnis stand 1922 und ist die Frucht von umfangreichen Archi- sie zur inländischen Verschuldung? Was war der vrecherchen in Frankreich, Großbritannien und durchschnittliche Zinssatz? Wie hoch war die Ver- Russland. Die Autorin verortet ihre Untersuchung schuldung pro Kopf, also war sie noch tragbar? Wie nicht in erster Linie als eine Finanz- oder Wirt- hoch lag die Pro-Kopf-Verschuldung in anderen eu- schaftsgeschichte, sondern als einen Beitrag zu den ropäischen Staaten? Der Rezensent hat nämlich den finanziellen und diplomatischen Beziehungen des Verdacht, dass Russland eben als bevölkerungs- Zarenreichs zu seinen beiden wichtigsten Verbünde- reichstes Land des Kontinents zum größten Schuld- ten im Ersten Weltkrieg – Frankreich und Großbri- ner wurde. Aus heutiger Perspektive wäre es auch in- tannien. Hierbei betont sie besonders auch die Be- teressant, die Verschuldung in Relation zu einem ge- deutung von persönlichen Beziehungen der beteilig- schätzten Bruttosozialprodukt zu setzen. Im Text ten Bankiers und Politiker. Das Werk liefert mit Si- werden wiederholt für die Auslandskredite Beträge cherheit einen wichtigen Beitrag zum Verständnis in Rubeln genannt, doch es ist nicht immer eindeutig des Themas, dass jedoch, wie auf dem Buchum- klar, ob es sich um Gold-, Silber- oder Papierrubel schlag vermerkt, diese tatsächlich zu „Gefangenen handelt. Einige Seiten wirtschaftliche Daten und der russischen Schulden“ wurden, erscheint als über- Diskussion hätten den Gebrauchswert dieser Unter- interpretiert. Im Fließtext argumentiert die Autorin suchung deutlich erhöht. dann weniger provokativ. Ursprünglich waren deutsche Banken die wich- Jennifer Siegel schreibt einen gut lesbaren Stil und tigsten Kreditgeber des Zarenreichs gewesen, doch zeigt eine große Meisterschaft darin, im Archiv und nachdem Otto von Bismarcks Russlandpolitik zu ei- in veröffentlichten Quellen einschlägige Zitate der ner Abkühlung der Beziehungen geführt und den Fi- handelnden Personen zu finden. Auf die Dauer wird nanzierungshahn zugedreht hatte, trat Frankreich an der Leser aber ein wenig durch die aufeinanderfol- die Stelle des Deutschen Reichs. An dieser Stelle genden, detaillierten Beschreibungen über die Ver- setzt Siegels Narrativ im Jahr 1894 ein, als die sprich- handlungen zu Krediten und Anleihen Russlands er- wörtlichen französischen Rentiers begannen, in grö-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 22 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4

ßerem Umfang russische Staatsanleihen zu zeichnen. 80 % der russischen Staatsschulden im Ausland; in Russland galt als ein guter Schuldner, und die ver- britischer Hand waren 16 % (S. 2), zusammen belief mittelnden französischen Banken vermochten es, sich dies auf 425 Millionen Rubel (S. 125), während entsprechende Kommissionsgebühren einzustrei- der Staatshaushalt 1913 2,5 Milliarden Rubel betrug chen. In den folgenden Jahren wurden immer neue (S. 128). Kein EU-Land verfügt heute über so eine Anleihen platziert, und auch die Rothschilds kamen geringe Verschuldung. Selbst wenn die Inlandsver- an Bord und unterstützten die Politik des russischen schuldung in einer ähnlichen Größenordnung lag Finanzministers Sergej Vitte. Das Russische Reich wie die Auslandsschulden, war diese Verschuldung benötigte das Geld zur Modernisierung wie zum in Friedenszeiten keine wirkliche Belastung, es sei Ausbau des Eisenbahnnetzes, zur Stabilisierung der denn, Siegels Zahlen sind falsch. Währung, zur Einführung des Goldstandards und Im vierten Kapitel geht es um die Finanzierung zur Industrialisierung. Frankreich hingegen war da- der enormen Kosten eines modernen Krieges, des mals ein Kapitalexporteur, auch weil es für die Anle- Ersten Weltkriegs; dies war für alle europäischen ger oftmals lukrativer war, ihre Ersparnisse im Aus- Kriegsparteien nur durch eine starke Verschuldung land zu investieren als innerhalb des Landes. Laut zu leisten. Das Zarenreich bildete hier keine Ausnah- Siegel ließen sich offensichtlich auch französische me, sondern verfügte wegen seiner relativen Rück- Zeitungen dahingehend beeinflussen, ein geschöntes ständigkeit über einen noch höheren Finanzierungs- Bild von der Situation in Russland zu zeichnen. bedarf. Großbritannien trat an die Stelle Frankreichs Im folgenden Kapitel geht die Autorin auf die als wichtigster Finanzier Russlands, doch wegen der Herausforderungen des russisch-japanischen Krieges Bedeutung einer zweiten Front ist dies auch gut und der ersten Russischen Revolution ein. Kurzzei- nachvollziehbar. Leider erwähnt Siegel nicht, wie tig erfolgte die Kriegsfinanzierung auch aus sich die Inlandsschulden im Krieg entwickelten, und Deutschland, die Pogrome in Russland wurden von sie behandelt die Februarrevolution zu kurz. den Rothschilds negativ aufgenommen und mit John Das letzte Kapitel thematisiert die Zeit nach der Baring von den Baring Brothers wurde ein wichtiger Oktoberrevolution bis 1922. Ausländisches Vermö- Partner im Vereinigten Königreich gefunden. Als gen wurde ebenso wie inländisches verstaatlicht, Folge der britisch-russischen Annäherung kam es Schulden der zarischen Regierung wurden nicht dann zu einer britischen Teilnahme am Darlehen mehr anerkannt. Trotzdem blieb der Wert der russi- 1906. Im dritten Kapitel wird der Wandel der Finan- schen Staatsanleihen anfangs noch relativ hoch. Es ziers des Zarenreichs bis 1913 behandelt. Da die gab noch Hoffnungen, dass diese Anleihen trotz der Möglichkeiten des Staats zur Schuldenaufnahme be- Revolution von Frankreich und Großbritannien be- grenzt waren, nahm nun die Bedeutung der Kredi- dient würden. Doch diese Praxis endete im April taufnahme durch die Kommunen und für den Bau 1918. Französische Gläubiger konnten ihre Anleihen von Eisenbahnen zu. London gewann als Finanz- zur Hälfte des Nennwerts in französische Staatsan- platz für das Russische Reich beständig an Bedeu- leihen umtauschen. Die Interventionen der Entente tung. im Russischen Bürgerkrieg standen sicherlich auch in Sicherlich hat die Verfasserin recht, wenn sie die einem Zusammenhang mit der Schuldenfrage. Entwicklung der finanziellen Beziehungen in ein Ein Epilog rundet die Untersuchung ab und geht Verhältnis zu den diplomatischen zwischen Russland auch auf die Frage der russischen Altschulden nach und Frankreich und später auch Großbritannien dem Ende der Sowjetunion ein; andererseits liefert setzt, doch mitunter wird die Bedeutung der russi- er eine Zusammenfassung der Argumentation der schen Schulden etwas übertrieben. Das Russische Autorin. Reich konnte eben nicht seinen Gläubigern die Insgesamt handelt es sich um eine gelungene Dar- Bedingungen diktieren. Es waren in erster Linie poli- stellung, deren Stärke vor allem in der Betonung von tische und nicht finanzielle Gründe, die zur Triple- Persönlichkeiten bei der finanziellen Diplomatie Entente führten. An anderen Stellen überzeichnet liegt. Leider sind die wirtschaftsgeschichtlichen Zu- Siegel ebenfalls die Wichtigkeit der Auslandsschul- sammenhänge unterbelichtet, und mitunter wird der den. Wiederholt schlägt sie einen alarmierenden Ton Text etwas deskriptiv. Auch überzieht die Autorin an und der Leser hat den Eindruck, der russische einige Thesen. Trotzdem wird der interessierte Leser Staat befinde sich in starker Abhängigkeit vom aus- viel Neues über dieses Thema entdecken. ländischen Geld. Französische Gläubiger hielten laut Olaf Mertelsmann, Tartu der Autorin bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs

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VLADIMIR A. ARAKČEEV: Vlast’ i „zemlja“. Pra- tieren, zumindest nicht gegenüber der lokalen Selbst- vitel’stvennaja politika v otnošenii tjaglych sos- verwaltung. lovij v Rossii vtoroj poloviny XVI – načala XVII Im vierten Kapitel beschreibt Arakčeev den Be- veka. Moskva: Drevlechranilišče, 2014. 508 S. ginn der Schollenpflichtigkeit der Bauern durch die ISBN: 978-5-93646-234-4. Begrenzung des Abzugsrechts auf „verbotene Jah- re“. Als erste Nennung des Phänomens bestimmt er Arakčeev schreibt Geschichte von sozialen und poli- einen Zuteilungsbrief (otdel’naja gramota) für ein po- tischen Institutionen wie Schollenpflichtigkeit, zemlja mest’e 1585 im Kontext von „Suche nach und Rück- und prikazy in ihren Wechselwirkungen mit staatli- führung von Bauern, deren Anwesenheit auf abgabe- cher Politik und alltäglichen Phänomenen auf der pflichtigem Land dokumentarisch belegt war“ Basis von anderthalb Jahrzehnten Archivarbeit. Sein (S. 310). Die Kompetenz für solche Suche (sysk) Programm führt er, nach einer historiographischen nach entlaufenen Bauern blieb lange bei den regions- Diskussion, in vier Kapiteln aus, in welchen der bezogenen Prikasen und wurde bis 1649 nur schritt- Zeitraum zwischen etwa 1550 bis 1649 nach Sach- weise beim Prikas für die Lehnsgüter (pomestnyj pri- themen gegliedert wird: 1) lastenpflichtige Bevölke- kaz) systematisiert. Nach der Phase der „Desintegra- rung allgemein um 1550; 2) Reform des Landes und tion staatlicher Institutionen“ (S. 352) zum Schluss posad-Bevölkerung; 3) Durchsetzung der Schollen- der Smuta während der polnischen Besetzung Mos- pflichtigkeit; 4) Regierungspolitik und lastenpflichti- kaus beginnt diese Politik erst nach 1613 neu. Im ge Stände vom Ende der Rurikiden bis zu den Ro- fünften Kapitel folgt chronologisch die Darstellung manovs. Die Arbeit wird ergänzt durch ein 16-seiti- der Politik am Beginn des 17. Jahrhunderts. ges Register, ein 8 Seiten umfassendes Verzeichnis Westliche Literatur ist nur berücksichtigt, sofern der benutzten Archive, sowie drei Kartenskizzen der Übersetzungen ins Russische vorliegen; vor allem im Text zitierten Orte und Regionen zwischen den Fernand Braudel, Pierre Bourdieu und Marcel Mauss Grenzen im Westen, dem Weißem Meer im Norden, sind für das Konzept Arakčeevs wichtig. Es gibt also dem Vorural im Osten und der Linie Orel, Elec und keine Auseinandersetzung mit westlichen Histori- Šack im Süden. Außerdem werden 16 Dokumente kern dieser Periode (abgesehen von Torkes Aufsatz aus dem RGADA publiziert. in Voprosy Istorii 1991), auch nicht z. B. mit Richard Die Übersicht über die Verhältnisse der lasten- Hellies großer Arbeit über Wirtschaft und materielle pflichtigen (tjaglye) Bevölkerung in der ersten Hälfte Kultur Russlands ab 1600 oder Hartmut Rüß’ Mo- des 16. Jahrhunderts beruht auf Daten aus allen Ge- nographie Herren und Diener; auch jene westlichen bieten mit einem Schwerpunkt bei den neuen Terri- Forscher, die Beiträge zu der Konferenz zu Ehren torien im Westen (Novgorod Velikij, Pskov), wäh- L. V. Čerepnins (Soslovija i gosudarstvennaja vlast’. rend für Smolensk nach dem Verlust 1612 viele Ak- T. 1–2. Moskva 1994) beigesteuert haben, sind nicht ten verloren gegangen sind. Arakčeev kommt zu berücksichtigt. Das gleiche gilt für westliche Arbei- dem Ergebnis, dass die Lage sowohl der Bauern ins- ten zur Frühen Neuzeit in Europa (wie sie in der gesamt als auch der posadLeute mehr durch die fiska- Enzyklopädie der Neuzeit in einer deutschen Biblio- lischen Bedürfnisse der Regierung als die Anforde- thek leicht zugänglich wären). Wenn Arakčeev rungen der Oberschicht bestimmt war und die Insti- schließt, dass die Struktur Russlands ständisch gewe- tutionen der Lokalverwaltung der damaligen Gesell- sen sei und das Land „als europäischer Staat“ be- schaft entsprachen. Die Reformen von 1549–1550 stimmt werden könne, beruht sein Verständnis von stärkten die Privilegien der dienenden (služilye) Land- letzterem also nicht auf einer Rezeption westeuropä- besitzer. ischer Forschung zu Staat und Gesellschaft – abge- Im dritten Kapitel untersucht der Autor die Vor- sehen von der russischen Fassung von Braudel. schriften des Stoglav-Sobors von 1551 sowie den aus In der Einordnung liegt also nicht die Stärke des Anordnung des Zaren und Beratung (S. 206) beste- Buches. Die liegt vielmehr in der Quellendichte der henden prigovor über kormlenie von 1555. In einer Beiträge zur Geschichte der Unterschichten in Russ- manchmal rechthaberischen Diskussion mit A. No- land in dieser Periode, zur Reichweite der lokalen In- sov begründet der Autor seine Analyse, dass die Re- stitutionen sowie konkret zur Durchsetzung der formen der 50er Jahre die gewählten Richter, auch Schollenpflichtigkeit. Wurde in der sowjetischen und über das Guba-System hinaus, in der Regel stärkten. auch der westlichen sozialhistorischen Historiogra- Ivan IV. vertrat zwar die Meinung, dass alle „Macht“ phie manchmal schnell zusammengefasst und auf beim Herrscher liegen solle (S. 206), konnte dieses tradierte (oder auch innovative) Interpretationen Be- Verständnis von Autokratie jedoch nicht implemen- zug genommen, so plädiert Arakčeev methodisch für

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 24 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 mehr Quellenarbeit und auch quellengeleitete Inter- dieser Periode – eines, in dem die Regierungsmacht pretationen. Auch wenn er kein endgültiges Ergebnis (vlast’) vom Volke abhängt, und eines, in dem die Re- vorlegt, wie das oben kritisierte Konzept von euro- gierungsmacht auf das Volk keine Rücksicht nimmt päischem Staat andeutet, ist das doch zuerst einmal – mit einem von den gesellschaftlichen Institutionen ein gewichtiger Einwand. ausgehenden Ansatz überwunden zu haben. Ein Inhaltlich beansprucht der Autor, die historiogra- wichtiger Beitrag zur Debatte. phische Gegenüberstellung zweier Russlandbilder zu Hans-Heinrich Nolte, Hannover

KEELY STAUTER-HALSTED: The Devil’s Chain. sen betont sie die bewussten Entscheidungen der Prostitution and Social Control in Partitioned Frauen und die Selbständigkeit, die wenigstens . Ithaca, NY, London: Cornell University manchmal mit Sexarbeit einherging (und dann doch Press, 2015. X, 379 S., Abb. ISBN: 978-0-8014- oft genug in der Abhängigkeit von einem Zuhälter 5419-6. endete). Dazu gehörte unter anderem, dass Frauen keineswegs genötigt waren, Prostitution als Vollzeit- Ganz in der Tradition der Kulturgeschichte nutzt job auszuüben. Stattdessen griffen Frauen immer Keely Stauter-Halsted das Alltagsphänomen Prostitu- mal wieder zur Prostitution, um sich in prekären Le- tion als ein „Prisma“, um „Polens schwierigen Weg benssituationen etwas hinzuzuverdienen oder sich in die Moderne“ (S. 2) nachzuzeichnen, den sie vor schlicht auch einfach mal etwas zu leisten. Mit ande- allem vom Kampf um die politische Souveränität ge- ren Worten: Frauen konnten auf Sexarbeit zurück- prägt sieht. Obwohl der Titel des Buches einen län- greifen, ohne gleich ein für allemal in der als soziale geren Zeitraum der Betrachtung verspricht, be- Sackgasse wahrgenommenen Prostitution zu enden. schränkt sich Stauter-Halsted auf die Jahre von etwa Gleichwohl verschwimmen Keeley Stauter-Hals- 1880 bis 1920 und präsentiert gleichwohl dem Leser ted bei manchen der von ihr beschriebenen histori- ein Feuerwerk an Themen: die Regulierung von Pro- schen Szenen die Grenzen von Missbrauch, Verge- stitution, den Umgang mit Geschlechtskrankheiten, waltigung und Prostitution, weil sie sich zu sehr auf die angeblich mit Prostitution einhergehen würden, das Moment der weiblichen agency versteift. Wenn Degenerationstheorien und Volksgesundheit, die Fabrikarbeiterinnen etwa aus Angst, ihre Stelle zu Entwicklung der Medizin, die Pogrome gegen Bor- verlieren, auf die erpresserischen „Angebote“ des delle 1905, Antisemitismus und nicht zuletzt interna- Vorarbeiters eingingen, so hatte das doch sehr wenig tionalen Mädchenhandel. Hinsichtlich der Auswahl mit agency zu tun – und auch nur wenig mit Prostitu- der Quellen und des inhaltlichen Fokus konzentriert tion. Die Frauen wurden nicht bezahlt, sondern be- sich Stauter-Halsted auf polnischsprachige Texte und hielten lediglich ihren Job – und das vielleicht auch untersucht, wie sich ein „polnischer“ Diskurs über nur, wenn sie beim nächsten Mal wieder nicht nein Geschlecht und Sexualität ausbildete, um den herum, sagten. Diesen „sexual exchange“ als „strategic so ihre Behauptung, sich die polnische nationale Be- weapon in their arsenal of survival techniques“ wegung gruppierte. Während in den achtziger Jahren (S. 72) zu bezeichnen, beschönigt ausbeuterische des 19. Jahrhunderts Prostitution noch als Gefahr für und sexistische Gewaltverhältnisse. Solche Euphe- eine potentielle polnische Nation interpretiert wor- mismen ziehen sich vor allem durch die erste Hälfte den sei, habe sich Prostitution bis zum Ende des Un- des Buches, in dem Stauter-Halsted die Migrations- tersuchungszeitraumes zu „der zentralen Metapher bewegung von Frauen aus der Provinz in die Städte für den polnischen Volkskörper“ entwickelt, der „in bespricht. Sie beschreibt die städtischen Lebensver- den Zeiten imperialer [Fremd-]Herrschaft [imperial hältnisse für Frauen, die in den Fabriken oder Ge- rule] vernachlässigt“ worden sei (S. 313). schäften arbeiteten oder sich als Dienstboten in bür- Keeley Stauter-Halsted gelingt es dank der An- gerlichen Häusern verdingten. Gegen die in den pol- wendung neuerer Theorien zu Sexarbeit, einen erfri- nischsprachigen Quellen des späten 19. Jahrhunderts schend anderen Blick auf die Frauen zu werfen, die noch weit verbreitete Empathie mit Frauen, die als sich mit bezahlten sexuellen Dienstleistungen ihren hilflose Opfer in die Prostitution getrieben wurden, Lebensunterhalt aufbesserten oder verdienten. Stau- setzt Stauter-Halsted ihren empathischen Blick auf ter-Halsted schwimmt an diesen Stellen gegen den diese Frauen als starke Personen, die selbstbewusste noch immer weit verbreiteten Diskurs in der For- Entscheidungen getroffen hätten. schungsliteratur, Sexarbeiterinnen ausschließlich als Diese Position hält Stauter-Halsted auch beim in- Opfer männlicher Sexualität zu begreifen. Stattdes- ternationalen Mädchenhandel aufrecht. Sie möchte

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 25 das Narrativ des internationalen Frauenhandels und schreibt die Geschichte der polnischen Nationalbe- damit auch der Zwangsprostitution zu großen Teilen wegung als eine Erfolgsgeschichte, indem sie den in- als „Mythos“ (S. 118) verstanden wissen und be- klusiven Charakter der polnischen Nation hervor- gründet dies unter anderem damit, dass viele der hebt. Diesen macht sie am Umgang mit Prostituier- Frauen sich bereits vor ihrer Reise nach Südamerika ten fest, der sich von einem sittlich-moralischen zu als Prostituierte verdingten. „White-slave trafficking“ einem wissenschaftlich-rationalen gewandelt habe. wird zur Metapher und weniger zu einem realen Ge- Für den sittlich-moralischen Umgang des 19. Jahr- schehen (S. 121). Die Rhetorik rund um den interna- hunderts steht die Verurteilung der Prostituierten als tionalen Mädchenhandel sieht Stauter-Halsted als „gefallen“ und ihre regulatorische Kontrolle durch Teil des polnisch-nationalen Diskurses, zu dem die die Polizei; den wissenschaftlich-rationalen Umgang polnische Nation und ‚ihre‘ Frauen als Opfer we- erblickt sie in dem Umstand, dass sich die Mediziner sentlich besser passten: Die bevorzugten Opfer in- seit der Gründung der zweiten polnischen Republik ternationaler Mädchenhändler sollen respektable nach 1918 gegen die Polizei durchgesetzt haben und polnische Mädchen aus den Mittelschichten gewesen die Aufsicht über die Prostituierten nun in ihrer sein, die oft in nicht-christliche oder vermeintlich Hand lag. Nicht mehr moralische Verurteilung stand „unzivilisierte“ Länder entführt würden. Der klassi- im Vordergrund, sondern das Lösen volksgesund- sche Entführer wiederum wurde gerne als Jude heitlicher Probleme – allen voran sexuell übertragba- imaginiert; der polnisch-nationale Diskurs um den rer Krankheiten. Prostituierte, so Keely Stauter-Hals- internationalen Mädchenhandel war mithin durch- ted, wurden nicht als soziale Außenseiter gebrand- setzt von antisemitischen Stereotypen. Was Keeley markt, sondern in die neue polnische Nation inkor- Stauter-Halsted an dieser Stelle besonders interes- poriert. Die Eugenik, die sich seit der zweiten Deka- siert, ist die Frage, warum das Bild des Juden als de des vergangenen Jahrhunderts auch im zukünfti- Mädchenhändler so virulent war. Sie beantwortet gen Polen etablierte, erscheint bei Stauter-Halsted als diese mit dem Verweis auf jüdische Lebensweisen, unbedenkliche Wissenschaft, die Kriminologie als die beispielsweise das Heiraten einfacher machten, eine positiv konnotierte Möglichkeit zur Verbesse- was es jüdischen Männern leichter ermöglichte, rung der Welt – von Exklusion, Rassismus oder An- Frauen als ihre Ehefrauen ins Ausland zu transpor- tisemitismus schien Stauter-Halsteds Polen in den tieren. Stauter-Halsted leugnet den polnischen Anti- zwanziger Jahren meilenweit entfernt zu sein. Auch semitismus mitnichten; gelegentlich jedoch wäre es dieser Befund überrascht sowohl im Lichte der Tra- wünschenswert gewesen, sie hätte ihn ernster ge- ditionslinien des 19. Jahrhunderts als auch angesichts nommen. Dann etwa, wenn die dezidiert antisemiti- des weiteren Verlaufs polnischer Geschichte. schen Pogrome gegen Bordelle in Warschau 1905 le- Stauter-Halsteds Geschichte der polnischen Pro- diglich als Auftakt eines Kapitels herhalten müssen, stitution möchte insofern eine dezidiert „polnische“ das sich dann gänzlich anderen Themen widmet, sein, als sie immer wieder vermeintlich polnische nämlich der Entwicklung von Wohltätigkeitsorgani- Spezifika betont. Der inklusive Charakter des polni- sationen, die Prostituierte qua Erziehung und Arbeit schen Nationalstaatsprojekts lasse sich an der unge- in ein geregeltes Leben weisen wollten. Zu den Po- wöhnlich progressiven Aneignung kriminologischer gromen im Warschauer Rotlichtviertel selbst erfährt und anderer biomedizinischer Theorien festmachen, man hingegen nur wenig, was bei einem Buch, das etwa der Degenerationstheorie. Stauter-Halsted be- doch eigentlich Prostitution behandelt, überrascht. müht oft die französische oder italienische Tradition Andererseits ist aber Prostitution in Keely Stau- dieser Wissenschaften oder zieht den Vergleich mit ter-Halsteds Buch tatsächlich oft nur ein Vehikel, Londoner oder Pariser Diskursen. Was allerdings als um die polnische Nationswerdung zu verstehen. Der Vergleichsfolie viel eher auf der Hand liegen würde, Großteil ihrer Analyse richtet sich auf die Frage, wie nämlich die Aneignung und Fortentwicklung dieser die Existenz von Prostituierten zum Projekt der pol- Theorien durch deutsche, k. und k. und russische nischen Nation passte. Und ihre Antwort ist überra- Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen sowie de- schend, denn sie lautet: sehr gut. Auch hier bewegt ren Rückwirkung auf den polnischen Diskurs sich Stauter-Halsted ganz im Fahrwasser der Kultur- kommt leider nur kursorisch vor. Dies führt dazu, geschichte und ihrer Obsession mit dem Begriff der dass Stauter-Halsted die Fusion unterschiedlicher Moderne. Doch während die meisten Kulturhistori- kriminologischer Theorieschulen als dezidiert polni- ker die Ambivalenzen und Schattenseiten der Mo- sches Phänomen beschreibt, während doch die glei- derne betonen, schlägt sich Stauter-Halsted ganz auf che eigentümliche Fusion auch unter russischen Wis- die Seite der Zukunft und des Fortschritts. Sie senschaftlern weit verbreitet war.

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 26 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4

Keeley Stauter-Halsteds Geschichte der Prostitu- Das Buch regt – in bester akademischer Tradition – tion ist reich an Quellen und Thesen, es liefert eine zum Widerspruch an. Plethora an Themen. Historiker wie Studenten neh- Alexandra Oberländer, Bremen men eine Menge mit und werden zugleich gefordert.

SARAH DIETZ: British Entrepreneurship in evangelisch-augsburgischen Konfession, deren Poland. A Case Study of Bradford Mills at Marki kirchliches Gremium Funktionen einer Handelskam- near Warsaw, 1883–1939. Farnham, Surrey, mer erfüllte, die in Russland verboten war. Nahezu Burlington, VT: Ashgate, 2015. XIII, 296 S., alle Firmen, die am Aufbau der Fabrik in Marki be- 17 Abb. = Modern Economic and Social His- teiligt waren, hatten personelle Verbindungen zu die- tory. ISBN: 978-1-4724-4138-6. ser Kongregation, und die Vermittlung gegenüber russischen Behörden wie auch eine freundliche Be- In aller Regel stützt sich Firmengeschichte vornehm- richterstattung in der lokalen Presse lässt sich Mit- lich auf Firmenarchive oder sonst erhaltene Unterla- gliedern dieser Gemeinde zuschreiben. gen aus Buchhaltung, Korrespondenz, Jahresberich- Was die im engeren Sinne ökonomischen Ge- ten etc. In der vorliegenden Fallstudie war dies nicht sichtspunkte der Arbeit betrifft, ist zunächst die Fra- möglich, da Bradford Mills in Marki im zweiten ge nach den finanziellen Beweggründen der Aus- Weltkrieg vollständig zerstört wurde und als selb- landsdirektinvestition interessant: Die herrschende ständige private Firma auch keinerlei Berichtspflich- Meinung in England, belegt durch Kammerberichte ten unterlag. Die an der University of Bradford pro- und Pressemeldungen, hielt den in der zweiten Hälf- movierte Textilspezialistin Sarah Dietz, die damit te des 19. Jahrhunderts international um sich greifen- weitgehend auf Auswertung sekundärer Quellen an- den Protektionismus für die flaue Konjunktur, be- gewiesen war, macht aus dieser Not eine Tugend: sonders in der heimischen Textilindustrie, und damit Gestützt auf britische Konsular-Korrespondenz, für die Verlagerung der Produktion ins Ausland ver- russische Fabrikinspektions- und Polizeiberichte, antwortlich. Dietz dagegen interpretiert die Investiti- Mitteilungen von Handelskammern und ähnlichen on in Marki, die keineswegs einen Zweigbetrieb der Gremien, polnische und englische Zeitungsmeldun- Firma in Bradford darstellte, als Ergebnis der Verlo- gen, zeitgenössische Literatur (bis hin zur Belletris- ckung eines großen, abgeschotteten Marktes bei ge- tik) sowie persönliche Korrespondenz der Akteure, ringer inländischer Konkurrenz, niedrigen Löhnen, kann ihre Fallstudie zugleich als sozialgeschichtlicher billigem Grunderwerb und dergleichen. wie als wirtschaftsgeschichtlicher Beitrag überzeu- Entsprechend sieht die Autorin auch den Schwer- gen. punkt unternehmerischer Leistung in der Erschlie- Dass die zu ihrer Zeit beachtliche Auslandsdirekt- ßung neuer Märkte, sowohl bei den Zulieferungen investition in Kongresspolen auch von eher soziolo- als auch beim Absatz, weniger dagegen in Produkt- gischen Aspekten beeinflusst wurde, zeigt sich so- oder Verfahrensinnovation. Zwar wurde in der Ge- wohl bei ihrer Finanzierung als auch in vielen Details samtkonzeption von vornherein auf eine flexible der vor Ort verfolgten Unternehmensstrategie: Die Produktpalette abgestellt, die zentrale Stufe, das Partnerschaft der Unternehmer Briggs und Posselt Kammgarn (worsted), war aber länger bekannt und verdankte sich zum guten Teil gemeinsamen außer- anderswo bereits mehrfach kopiert und modifiziert ökonomischen Interessen, wobei sich der Deutsche worden. Auch die eingesetzte Ringspindel-Technik E. Posselt – trotz geschäftlich vorwiegend internati- war übernommen, allerdings nicht aus Bradford, onaler Orientierung – in Bradford weitgehend dem sondern aus den USA, da sie sich besser für einen Lebensstil der dortigen nordenglischen Fabrikanten niedrigen Ausbildungsstand der Arbeiterschaft eig- assimiliert hatte. Einer alternativen Finanzierung nete. Besondere Erwähnung findet daneben die ganz durch englischen Bankkredit war – so die Autorin – überwiegende Beschäftigung weiblicher Arbeiter, die das standesbezogene Vorurteil der Finanzelite ge- sich nicht zuletzt in den Arbeiterunruhen von 1892 genüber den Fabrikanten hinderlich, denen als Em- und 1905 als vorteilhaft erwies. Das patriarchalische porkömmlingen misstraut wurde. Familienpolitische Fabriksystem mit Arbeiterwohnungen, Schule und Beweggründe könnten bei E. Briggs Antrieb zu dem Geschäften, wie es sich in England vor 1850 entwi- Projekt gegeben haben, der dort seine jüngeren Brü- ckelt hatte (und dort mit dem Aufkommen der Ge- der John und Alfred etablierte. Diese heirateten auch werkschaften bereits wieder überholt schien), war für – unter Vermittlung von Posselt – alsbald in die ört- das russische Teilungsgebiet durchaus geeignet, da liche kommerzielle Elite ein und konvertierten zur hier die Bauernemanzipation erst 1861 erfolgte. Alle

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 27 zuletzt genannten Aspekte wurden jedoch immer renzen zu Klassikern wie F. List und J. A. Schumpe- wieder im Rahmen einer systematisch betriebenen ter. Da aber der analytische Ansatz der Arbeit in vie- PR-Politik herausgestellt, die, wenn sie nicht dem len Details vorwiegend betriebswirtschaftlich geprägt Marketing im engeren Sinne diente, dem allgegen- scheint, muss das nicht überraschen. wärtigen Misstrauen der polnischen Bevölkerung ge- Zu empfehlen ist diese Fallstudie all jenen, die genüber ausländischen Unternehmen entgegenwir- sich mit polnischer, englischer und auch russischer ken oder die russischen Behörden geneigt machen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte zwischen 1850 sollte. und 1914 beschäftigen. Darüber hinaus enthält sie Leider wird der Zeitraum von 1914–1939 – aber zugleich manches Element, das in der aktuellen knapp die Hälfte der im Titel angegebenen Spanne – Debatte um die ökonomische Globalisierung und im nur in einem einzigen Kapitel behandelt. Vermutlich Streit über Freihandelsabkommen von Interesse sein ist dies der Quellenlage geschuldet. Bei der ausführli- könnte! chen Diskussion des Protektionismus oder der inno- Karl von Delhaes, Marburg/Lahn vativen Elemente des Projektes vermisst man Refe-

KONSTANTIN V. NIKIFOROV: „Načertanie“ Ilii nössische russische diplomatische Quellen. Das Garašanina i vnešnjaja politika Serbii v 1842– Buch ist chronologisch gegliedert und behandelt die 1853 gg. Moskva: Indrik, 2015. 255 S., 38 Abb. Zeit zwischen 1842 und 1853. Neben der Einleitung ISBN: 978-5-91674-340-1. und Schlussfolgerung ist das Buch in vier weitere Kapitel unterteilt. In der Einleitung (S. 7–29) erhal- Der unter dem Fachbegriff Načertanije bekannte ge- ten wir einen sehr guten und detaillierten For- heime außenpolitische Plan von Ilija Garašanin aus schungsstand über das Thema. Besonders gelungen dem Jahr 1844 ist eines der umstrittensten Doku- ist der Überblick über die bisherigen Entwicklungen mente in der Geschichte Serbiens. Seit mehr als in der serbischen und kroatischen Historiographie 100 Jahren versuchen Historiker, die Bedeutung und und die Darstellung verschiedener Positionen zum Ziele dieses Planes zu erklären, und sie interpretieren Thema. Leider konzentriert sich der Autor fast aus- dieses Dokument bis heute sehr unterschiedlich: als schließlich auf die russisch- und serbisch(kroa- Plan der Befreiung aller Serben innerhalb des Osma- tisch)sprachige Literatur. Von westlichen Historikern nischen Reiches; als Plan der Befreiung aller Südsla- und ihren Positionen zum Thema erwähnt er nur wen und Schaffung eines unabhängigen südslawi- zwei: Sundhaussens Geschichte Serbiens (S. 24) und schen Staates und letztendlich als großserbischen die Monographie von MacKenzie über Garašanin Plan. Die letzte Interpretation ist vor allem seit 1945 (S. 14). Der Autor positioniert sich sehr kritisch ge- in der jugoslawischen und spätestens seit den achtzi- genüber dem kroatischen Historiker Agičić, der im ger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der Načertanije ausschließlich ein großserbisches Projekt westlichen Historiographie verbreitet. Nach den sieht. Während Agičićs Interpretation seit den neun- Kriegen der neunziger Jahren sahen viele Historiker ziger Jahren nicht nur in der westlichen, sondern eine solche Interpretation als bestätigt an: Das Načer- auch in der osteuropäischen Historiographie über- tanije wurde als Grundlage für die „großserbische Po- nommen wurde, finden wir im Buch von Nikiforov litik“ Miloševićs gesehen. Deswegen stellt sich die eine dezidiert andere Sichtweise. Frage, aus welchen Gründen ein Historiker eine Mo- Das erste Kapitel (S. 29–73) thematisiert die „ser- nographie über ein Thema schreibt, das nicht neu ist bische Krise“ von 1842–1843 als Teil der Orientfra- und über das in der Forschung eigentlich ein Kon- ge und die Reaktion der Großmächte auf die Macht- sens besteht. Was könnte eine solche Monographie ergreifung der „Ustavobranitelji“ im Fürstentum Ser- Neues bringen? bien. Im zweiten Kapitel (S. 73–129) behandelt der Obwohl der Titel des Buches Načertanije lautet, Autor die Zeit zwischen 1844 und 1847, wobei er widmet der Autor diesem Dokument direkt nur ei- das Načertanije und die ersten Versuche Garašanins, nes der vier Hauptkapitel. Im Vordergrund stehen diesen Geheimplan zu realisieren, thematisiert. Das die sogenannte „Ustavobranitelji“ (Verfassungs- dritte Kapitel (S. 129–173) ist der Außenpolitik des schützer) und ihre offizielle und geheime Außenpoli- serbischen Fürstentums während der Revolution tik einerseits, und die Politik der Großmächte gegen- von 1848/49 gewidmet. Das letzte Kapitel (S. 173– über Serbien in dieser Zeit andererseits. Dabei ver- 225) zur Zeit von der Revolution bis 1853 ist über- wendet der Autor viele neu veröffentlichte zeitge- schrieben Beendigung der ersten Etappe der Realisierung

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 28 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 des ‚Načertanije‘, und in diesem Kapitel erfahren wir Schuldige ist für den Autor eindeutig: Polen bzw. die mehr über die ersten Schritte zur konkreten Umset- polnische Emigration. Der rote Faden in Bezug auf zung des Geheimplanes. Das Buch endet mit dem die Schuld Polens an der antirussischen Position der Fazit (S. 225–235), in dem der Autor einen Ausblick serbischen Regierung ist im ganzen Buch erkennbar. bis zu Gegenwart gibt. Außer Polen beeinflussten, laut dem Autor auch die Technisch ist das Buch gut gestaltet. Neben ei- Serben aus Südungarn die serbische Regierung nega- nem sehr praktischen Personenregister findet man tiv und trugen zur antirussischen Stimmung in Bel- auch viele Fotos in sehr guter Qualität von allen für grad bei (S. 204–205). das Thema wichtigen Personen. Besonders wertvoll Besonders kritisch ist das Fazit dieser Monogra- in dieser Monographie ist die Publikation der voll- phie zu sehen. Anstatt eines Fazits zum Thema und ständigen Version der Primärquelle (Načertanije) auf für die Zeit zwischen 1842 und 1853 erhält der Leser Russisch (S. 235–250), weil eine russische Überset- einen Ausblick auf die russisch-serbischen Beziehun- zung bisher fehlte. gen bis zur Gegenwart. Dabei soll dem Leser die Er- Die vorliegende Monographie wird sicherlich po- kenntnis nahegebracht werden, dass eine prowestli- larisieren und in der westlichen Historiographie ver- che Politik der serbischen Regierungen grundsätzlich mutlich scharf kritisiert werden. Es ist ungewiss, ob ein Fehler war und dass Russland in den entschei- eine solche Darstellung der Ereignisse und die Inter- denden Momenten der Geschichte Serbiens immer pretation des Načertanije auch in der russischen His- als „großer Bruder“ hilfreich zur Stelle war (z.B. toriographie ohne Kritik übernommen wird, weil die 1878 und 1914). Inwiefern diese Behauptungen der Thesen des Autors von der offiziellen Sichtweise ab- Wahrheit entsprechen, lässt sich nicht feststellen, weichen und einige bisher allgemein akzeptierte Er- weil die Zeit nach 1853 nicht das Thema des Buches kenntnisse in Frage stellen. Meiner Meinung nach ist ist. Das Fazit ist jedenfalls als verfehlt anzusehen, da das Buch vor allem für die russischen Kollegen ge- es eine ansonsten gute wissenschaftliche Arbeit un- schrieben mit dem Ziel, die in der russischen Histo- nötig politisiert. riographie herrschende Auffassung vom Načertanije Besonders wertvoll an diesem Buch ist, dass der als großserbischem Projekt zu revidieren. Mit der Autor den herrschenden Diskurs über das Načertanije Einbringung der Thesen von führenden serbischen als „großserbisches Projekt“ in Frage stellt und zeigt, Historikern (z.B. Ljušić) gelang es dem Autor, die dass eine solche Interpretation einseitig und mehr Perspektive der serbischen Historiographie plausibel politisch als wissenschaftlich ist. Das gilt insbesonde- darzustellen. Gleichzeitig verfolgte der Autor ein an- re für die Bewertung der Kriege in den neunziger deres Ziel: In der Zeit zwischen 1842 und 1853 wa- Jahren des 20. Jh. und die Versuche vieler Historiker, ren die Beziehungen zwischen Serbien und Russland eine Verbindung zwischen dem Načertanije und Mi- auf einem Tiefpunkt, und in der serbischen Historio- loševićs Politik herzustellen (S. 17). Leider ist diese graphie wird Russland in dieser Zeit zusammen mit Monographie ähnlich politisch und einseitig wie die Österreich als größte Gefahr für die weitere Ent- von dem Autor kritisierten Bücher; nur die Perspek- wicklung Serbiens dargestellt. Der Autor versucht tive ist eine andere. Es bleibt zu hoffen, dass in der die antiserbische Politik Russlands zu relativieren Zukunft eine wissenschaftliche Studie erscheinen und die Geschichte aus der Perspektive Russlands wird, die auf solche politischen Einseitigkeiten ver- darzustellen. Die prowestliche Haltung Garašanins zichtet. und seine frankophile Außenpolitik kritisiert er. Der Danijel Kežić, Kiel

JOHN J. MARESCA: Helsinki Revisited. A Key kann sich zu Recht als der Amerikaner mit der ge- U.S. Negotiator’s Memoirs on the Development nauesten Kenntnis der Verhandlungen betrachten. of the CSCE into the OSCE. With a foreword by In den vorliegenden Erinnerungen geht es freilich Hafiz Pashayev. Stuttgart: Ibidem, 2016. X, nicht darum, wie einzelne Probleme erörtert und ge- 272 S., 2 Ktn., Abb. = Soviet and Post-Soviet Pol- regelt wurden, sondern um die großen Zusammen- itics and Society, 150. ISBN: 978-3-8382-0852-7. hänge, die den Verlauf und die Ergebnisse bestimm- ten. Ebenso werden die Arbeitsweise der Unter- Der KSZE-Prozess war ein zentrales Moment der händler, die zwischen ihnen sich entwickelnde At- Entspannung der Ost-West-Beziehungen, die in der mosphäre, die Einwirkungen von außen und nicht Gorbačev-Zeit kulminierte. Maresca war als maßgeb- zuletzt auch die für Marescas Tätigkeit wichtigen licher US-Diplomat von Anfang an beteiligt und Entwicklungen in Washington deutlich. In allen die-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 29 sen Hinsichten ergeben sich für die Forschung be- schen Vorschlag aufgriff, hatte er zwar die Beteili- deutsame Eindrücke und Einsichten. gung der USA erstmals akzeptiert, damit aber weiter Der Ausgangspunkt im Westen war der Harmel- die Erwartung verbunden, ihre Rolle diesseits des Bericht 1967 mit dem folgenden Beschluss der Atlantiks zu reduzieren. Obwohl die Verhandlungen NATO, die Verteidigung durch Entspannung zu er- eine ganz andere Richtung nahmen, betrachtete gänzen. Für die im Blick darauf ins Auge gefassten Brežnev die KSZE weiter als Instrument seiner Poli- Verhandlungen mit den östlichen Staaten arbeiteten tik, dem er zum erfolgreichen Abschluss verhelfen Gremien der Allianz Vereinbarungsvorschläge aus. und durch die Vereinbarung weiterer Etappen der Als die UdSSR zu erkennen gab, dass sie die Gesprä- gesamteuropäischen Zusammenarbeit eine Perspek- che nicht von Bündnis zu Bündnis führen wollte, tive geben wollte. Die Zurückhaltung in Washington, sondern der Einladung der finnischen Regierung zu von der in dem Buch immer wieder die Rede ist, war einer Europa-Konferenz unter Einschluss der neu- kein Zufall; sie beruhte auf dem alten Misstrauen, die tralen und nichtgebundenen Länder den Vorzug gab, Sowjetunion wolle die USA aus Europa verdrängen. verfügte man daher auf westlicher Seite schon über Daher musste Maresca während der KSZE die gemeinsam formulierte Entwürfe. Daher war es US-Administration bei der Stange zu halten suchen, nicht problematisch, dass die US-Regierung ihrer aber zugleich verhindern, dass in Unkenntnis der Delegation mangels Interesse an den Verhandlungen Sachlage entstandene Initiativen das empfindliche keine Instruktionen gab, sondern eher vorteilhaft. Gewebe der Verhandlungen störten. Zuerst galt die- Auf der zuvor geschaffenen Grundlage konnte Ma- se Sorge Henry Kissinger, der später, als der Rück- resca, obwohl er als noch junger Diplomat keinen tritt Richard Nixons die Verhältnisse in Washington hohen Rang hatte, eigenverantwortlich entscheiden, erschütterte, zum Anker der Kontinuität wurde und ohne dass ihm möglicherweise anders ausgerichtete wesentlichen Anteil daran hatte, dass es gelang, den Washingtoner Bestrebungen in die Quere kamen. Da neuen Präsidenten Gerald Ford zur Teilnahme an er die erörterten Fragen als Sache vor allem der Eu- der abschließenden Sitzung der Regierungschefs zu ropäer betrachtete, ließ er den dortigen Verbündeten bewegen, auf der die Schlussakte angenommen wur- den Vortritt, hielt seine Stellungnahmen zurück und de. Dass diese zustande kam, war – was man in den gab seine Unterstützung nur dann zu erkennen, USA erst in der Ära Carter erkannte und dann einer wenn dies einmal erforderlich schien. Das stellte gegen die UdSSR gerichteten Menschenrechtskam- nicht nur die Westeuropäer zufrieden, sondern er- pagne zugrunde legte – auf die beharrlichen An- laubte es auch der Sowjetunion, den Vorschlägen mit strengungen vor allem der Westeuropäer zurückzu- weniger Vorurteilen zu begegnen, als wenn sie von führen und darauf, dass sich Brežnev zum Deman- der Führungsmacht der anderen Seite gekommen deur gemacht hatte. In einer kritischen Phase war es wären. Für Kenner der Verhandlungen auf der der persönlichen Initiative des sowjetischen Chefun- KSZE wird aufgrund der Ausführungen Marescas terhändlers Anatolij Kovalëv in Moskau zu verdan- klar, wieso die neun Staaten der Europäischen Ge- ken, dass eine Übereinkunft erzielt wurde. meinschaft so hervorragend koordiniert agierten, Besonders ausführlich werden die weniger be- weithin nicht nur mit den westlich orientierten Neu- kannten Entwicklungen in der Gorbačëv-Zeit ge- tralen, sondern auch mit Nichtgebundenen und zu- schildert: die Verhandlungen über wechselseitige weilen sogar mit Osteuropäern zusammenarbeiten Truppenreduzierungen in Europa, die gemeinsame konnten und insgesamt eine maßgebende Rolle Pariser Erklärung der Staaten beider Bündnisse über spielten. das Ende des Kalten Krieges vom 19. November Brežnev hatte sich, als er auf die Einberufung der 1990 und die Gründung der OSZE, die künftig die Konferenz drang und bis zum Beschluss der friedliche Beilegung von Streitigkeiten gewährleisten Schlussakte an ihrem erfolgreichen Abschluss inter- sollte. Als die UdSSR ein Jahr später auseinander- essiert war, die Sache ganz anders gedacht. Wie aus brach, entstanden zahlreiche Konflikte in den unab- Marescas auf westlicher Hintergrundkenntnis beru- hängig gewordenen nicht-russischen ehemaligen So- hender Darstellung nicht hervorgeht, richtete sich wjetrepubliken. Sie wurden heftiger, als sich Russ- das sowjetische Bestreben seit Jahrzehnten auf die land einmischte, das in dieser speziell als „Nahes Ersetzung der beiden Bündnisse durch ein gesamt- Ausland“ bezeichneten Region besondere Rechte für europäisches Sicherheitssystem, das die amerikani- sich beanspruchte. Maresca war der erste Botschaf- sche Präsenz auf dem Kontinent beseitigen und da- ter, der die USA in diesen Ländern vertrat. Als sol- mit der UdSSR dort eine dominierenden Position cher suchte er mit großem Engagement und unter verschaffen sollte. Als der Kreml 1969 den finni- Inkaufnahme persönlicher Lebensgefahr (wie insbe-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 30 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 sondere die detaillierte Darstellung seines Bemühens gen russischen Aggressionsakte gegen Georgien und um das zwischen Armenien und Aserbaidschan um- die Ukraine zu verhindern. strittene Nagornyj Karabach zeigt) die Feindschaften Das Buch bietet eine lebendige Darstellung der zu entschärfen und zu wechselseitig annehmbaren Entwicklungen im Kontext von KSZE und OSZE, Regelungen zu gelangen. Zu seiner Enttäuschung zu denen auch Maresca einen wichtigen Beitrag ge- fehlte, wie sich bald zeigte, die nötige Unterstützung leistet hat. Die zeitgeschichtliche Forschung kann in aus Washington. Nach seinem Urteil hätte es damals seinen Ausführungen außer den schon erwähnten von dort nur deutlicher politischer Willenserklärun- Vorgängen noch manches Weitere finden, was neues gen bedurft, um die Brandherde zu löschen, aber die Licht auf das aus den Akten eruierte Bild des Ge- amerikanische Führung war an den Entwicklungen schehens wirft. Diese sehr persönlich gehaltenen, in der früheren UdSSR generell nicht interessiert. aber zugleich zuverlässigen Erinnerungen sind so in- Damit wurde nach Marescas Überzeugung die Chan- teressant, dass man sie nach Beginn der Lektüre ce vertan, die Konflikte im Kaukasusgebiet, in Mol- nicht mehr aus der Hand legt. dova und anderswo ruhigzustellen und die seitheri- Gerhard Wettig, Kommen

Wiederaufbau europäischer Städte – Rebuilding aus dem Willen, Neues zu erschaffen und gleichzei- European Cities. Rekonstruktionen, die Moder- tig Altes zu erhalten bzw. zu rekonstruieren, erwuchs ne und die lokale Identitätspolitik seit 1945 – – ein nicht nur britisches, sondern vielmehr europäi- Reconstructions, Modernity and the Local Poli- sches Phänomen: „Europe since 1945 has seen two tics of Identity Construction since 1945. Hrsg. periods of reconstruction. The first had a great faith von Georg Wagner-Kyora. Stuttgart: Steiner, in the modern, in science, in experts, in the future. 2014. 485 S., 103 Abb. = Beiträge zur Stadtge- The second responded to fundamental changes in schichte und Urbanisierungsforschung, 15. experience and sought an identity with the past. This ISBN: 978-3-515-10623-8. was not just a matter of taste but reflected a deep need for identity, certainty and continuity in a frac- Inhaltsverzeichnis: tured and rapidly changing world. As identities and https://d-nb.info/1043058060/04 structures were challenged in the so-called post modern, the remaking of ‘old’ buildings offered a Der vorliegende Sammelband ist das Ergebnis einer story. The decades of forgetting, of the confidence internationalen, Ende September 2009 von der Leib- of the modern were followed by decades of remem- niz-Universität Hannover und der Forschungsstelle bering, often fractured and always selective.“ (S. 79) für Zeitgeschichte an der Universität Hamburg ver- Die folgenden zwei Aufsätze sind strikt kompara- anstalteten Historikertagung, die wiederum auf dem tistischer Natur. Während CORINNE BOUILLOT mit Konzept eines 2004 initiierten DFG-Forschungspro- der Normandie und Niedersachsen zwei europäische jektes zum Wiederaufbau bundesdeutscher Städte Großräume als „Wiederaufbau-Regionen“ gegen- basierte. Im Fokus der insgesamt 19 Beiträge stehen überstellt, skizziert GEORG WAGNER-KYORA in ei- dem Herausgeber zufolge „weniger die Baugeschich- nem diachronen Vergleich die Unterschiede und te als die Identifikationsgeschichte der Städte zur Parallelen im Wiederaufbau bundesdeutscher Städte Diskussion“ (S. 21). So wird vor allem großer Wert zwischen 1950 und 1990. Dass der Wiederaufbau auf die Identitätspolitik, die Erinnerungs- und Ge- historischer Gebäude mit großem kulturellen Sym- schichtspolitik des Wiederaufbaus in den Medien wie bolwert bzw. die Errichtung neuer Gebäude anstelle auch die Moderne-Debatte im Rahmen der Nach- älterer Bauten willkommene Instrumente der Politik kriegsstadtplanungen für die kriegszerstörten Städte waren und bis heute sind, zeigen die Beiträge von gelegt. MALTE THIESSEN und PHILIPP SPRINGER. Ersterer Der erste thematische Block vereinigt sieben Auf- zeichnet die Restaurierung der Lübecker Marienkir- sätze zur Identitätspolitik im Wiederaufbau. ROBERT J. che als eines der Symbole des „deutschen Ostens“ MORRIS geht in seinem Essay Notes on the Rebuilding nach, letzterer den ideologisch begründeten Abriss of Europe since 1945. Remembering and Forgetting the des Schwedter Barockschlosses im Jahre 1962 und British Experience auf die erinnerungsgeschichtliche die damit einhergehende Zukunftseuphorie der sozi- Aufarbeitung des Wiederaufbaus Europas nach dem alistischen Industriestadt. In Warschau mussten die Zweiten Weltkrieg aus einer britischen Perspektive Städteplaner nach dem Zweiten Weltkrieg beiden ein. Dabei unterstreicht Morris die Diskrepanz, die Forderungen nachkommen, wie MARTIN KOHL-

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RAUSCH zu berichten weiß. Während der historische Self“ kann auch ANDREW STUART BERGERSON für Stadtkern samt Königlichem Schloss schon alleine den Wiederaufbau Alt-Hildesheims bezeugen. aus erinnerungskulturellen Gründen rekonstruiert Im ausgedehnten dritten Themenblock finden wurde, eiferten die Architekten in den Warschauer sich insgesamt neun Aufsätze, die sich explizit der Vorstädten der sozialistischen Arbeiterstadt mit Rekonstruktion der Städte in der Moderne widmen. ihren Plattenbauten und funktional ausgerichteten Im Großteil der hier versammelten Beiträge wird der Gebäuden nach – ein Spagat, der nur bedingt gelang: Wiederaufbau deutscher Städte und ihrer Wahrzei- „Angesichts des Zielkonflikts bei extrem begrenzten chen wie etwa der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächt- Ressourcen, zwischen der Entwicklung Warschaus niskirche (CELINA KRESS), Pforzheims (CHRISTIAN zu einer modernen Metropole und den Anforderun- GROH), des Hamburger Stadtteils Neu-Altona gen an den Wohnungsbau abwägen zu müssen sowie (SYLVIA NECKER) oder des Ost-Berliner Nikolai- zwischen den divergierenden politischen Vorgaben viertels (FLORIAN URBAN) thematisiert. Aufsätze zu und den funktionellen Anforderungen einer sozialis- Rotterdam (CHRISTOPH STRUPP), Tallinn (MART tischen Metropole zu entscheiden, hat sich weder KALM), Brescia (GIAN PAOLO TRECCANI) und Mai- Lewis Mumfords Vision einer ‚new form for a new land (SERENA PESENTI) runden die Darstellung in age‘ erfüllt, noch der Plan, Warschau als eine am diesem Block ab. Geographisch aus der Reihe fal- Reißbrett entworfene sozialistische Musterstadt auf- lend ist SEBASTIAN HAUMANNs Essay zum US-ame- zubauen.“ (S. 198–199) Anders als in der polnischen rikanischen Philadelphia. Es gewährt jedoch sehr in- Hauptstadt waren im nachkriegszeitlichen Rotter- teressante Einblicke zu Rekonstruktions- und Mo- dam die Städteplaner darauf aus, die während des dernisierungsprojekten von historischen Stadtkernen deutschen Bombardements von 1940 fast vollständig in den Vereinigten Staaten, was – überraschender- niedergebrannte Altstadt nicht wiederaufzubauen. weise, handelte es sich bei Philadelphia doch nicht Stattdessen, so PAUL VAN DE LAAR in seinem Arti- um eine kriegszerstörte Stadt – wiederum zahlreiche kel, sollte das Zentrum Rotterdams eine Musterstadt Parallelen zu den anderen im Sammelband vorge- des architektonischen Modernismus werden. stellten europäischen Städten aufzeigt. Der zweite Themenblock widmet sich den Ge- Das vorliegende Werk liefert spannende Einbli- schichtspolitiken, den Medien und der unterschiedli- cke in die Zeit des Wiederaufbaus europäischer Städ- chen erinnerungskulturellen Aufarbeitung der Wie- te nach dem Zweiten Weltkrieg und ihrer Aufarbei- deraufbauzeit. DAVID CREW zeichnet die visuelle tung durch Politik, Geschichtswissenschaft und Me- Aufarbeitung des westdeutschen Wiederaufbaus dien. Gelungen ist der interdisziplinäre Ansatz, stam- nach 1945 im Spannungsverhältnis zwischen Trauer, men doch die Beiträge nicht nur von Wirtschafts- Verleugnung und einem zukunftsorientierten Opti- und Zeithistorikern, sondern auch von Historikern mismus nach. SANDRA SCHÜRMANN zeigt am Bei- anderer Fachbereiche, von Wirtschafts- und Sozial- spiel Hamburgs und der von der Stadt in Auftrag ge- wissenschaftlern oder Stadtgeographen. Ein ge- gebenen photographischen Dokumentierung des schlossenes Ganzes darf somit nicht erwartet wer- Wiederaufbaus nach 1945, „dass die Aktualisierung den, die interdisziplinären Querverweise verdeutli- der visuellen Repräsentation ein wichtiger Aspekt chen jedoch auf eine eindrucksvolle Weise die Paral- der Wiederaufbauleistung nach den Zerstörungen lelen und zum Teil gar (auf den ersten Blick zumin- europäischer Städte im Zweiten Weltkrieg war“. So dest) nicht immer offensichtlichen Interdependen- gehörte zum Wiederaufbau „neben der physischen zen, aber auch Unterschiede im Wiederaufbau euro- Wiederherstellung ebenso die Kommunikation in päischer Städte der Nachkriegszeit. Form von Gedenkfeiern, Reden, Texten und Bil- Paul Srodecki, Kiel dern“ (S. 250). Ein ähnliches „Reconstructing the

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Transcending the Cold War. Summits, State- die – von Egon Bahr konzipierte – Ostpolitik craft, and the Dissolution of Bipolarity in Eu- Brandts geschaffen. Eine Analyse der historischen rope, 1970–1990. Ed. by Kristina Spohr / David Vorgänge ergibt ein anderes Bild. Dem Beschluss Reynolds. Oxford, New York: Oxford University des sowjetischen Politbüros, Gorbačëv an die Spitze Press, 2016. XIV, 274 S., 16 Abb. ISBN: 978-0-19- zu stellen, lag keineswegs die Absicht zugrunde, auf 872750-7. westliche bzw. westdeutsche Entspannungsbereit- schaft einzugehen. Nach den acht Jahren, in denen Inhaltsverzeichnis: alte und kranke Partei- und Staatschefs nicht mehr http://gateway-bayern.de/BV043813612 kraftvoll zu führen vermocht hatten, sollte endlich ein jüngerer Mann das Ruder übernehmen, der im Nach einer einleitenden Zusammenfassung der Her- Innern wie nach außen, wo man sich im „zweiten ausgeber stellt der Sammelband zunächst das erste Kalten Krieg“ des Nachrüstungsstreits befand, ener- Tauwetter des Kalten Krieges in den frühen siebzi- gisch zu handeln vermochte. Der neue Generalse- ger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dar: die kretär stimmte voll mit dieser konfrontativen Aus- Monologe auf den beiden Treffen von Bundeskanz- richtung überein, wie sich etwa im August 1984 beim ler Willy Brandt mit DDR-Ministerpräsident Willi Veto gegen den Besuch von DDR-Chef Erich Ho- Stoph in Erfurt und Kassel 1970 (BENEDIKT necker in der Bundesrepublik gezeigt hatte. Nicht SCHOENBORN und GOTTFRIED NIEDHART) sowie zufällig setzte sich Gromyko, der die alte Linie wie die Umwandlung der Ost-West-Konfrontation in ein kaum ein anderer verkörperte, nachdrücklich für ihn Dreiecksverhältnis durch die Gespräche, die Präsi- ein. dent Richard Nixon 1972 zuerst in Beijing (YAFENG Die Entscheidung für ein „neues Denken“ kam XIA und CHRIS TUDDA) und dann in Moskau erst hinterher – und zwar nicht, weil Gorbačëv (JAMES CAMERON) führte. Die Verhandlungen auf durch irgendeine Entspannungspolitik im Westen der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit dazu bewogen worden wäre, sondern weil im Ge- in Europa 1972–1975 waren von sehr unterschiedli- genteil die Konfrontation ein unerträglich scheinen- chen Absichten bestimmt und führten zwar zu um- des Ausmaß erreicht hatte. Er wurde in die militäri- fassenden Vereinbarungen, weil Kremlchef Leonid schen Geheimnisse eingeweiht und erfuhr, dass die Brežnev eine Übereinkunft unbedingt wollte, zog Leitungszentrale des Landes, Moskau, im Kriegsfalle aber Dissens und Streit nach sich, weil er die daraus ohne Schutz wäre. Denn die Pershing 2, die von der für die kommunistischen Regime erwachsenden Pro- NATO in der Bundesrepublik als Gegengewicht zur bleme unterschätzt hatte (MICHAEL COTEY sowjetischen SS-20 stationiert wurde, lasse sich we- MORGAN und DANIEL SARGENT). Während die gen ihrer kurzen Flugzeit nicht abwehren. Daraus Westeuropäer die Chance der Durchsetzung ihrer zog er den Schluss, wenn Sicherheit nicht gegen den Wertvorstellungen mit Unterstützung der Neutralen Westen zu gewährleisten sei, müsse sie zusammen entschlossen nutzten, ließen sich die USA nur mit mit diesem mittels Übereinkunft hergestellt werden. Mühe von ihren Verbündeten zum Mitziehen bewe- Das zog eine generelle Haltungsänderung nach sich. gen. Ihre skeptische bis ablehnende Haltung schlägt Nicht nur verhandelte Gorbačëv mit den USA über stellenweise auf die Darstellung des Bandes durch – eine Beseitigung der Pershing 2 und der anderen anders als in der (überaus instruktiven) Darstellung westlichen Nachrüstungsraketen, wofür er Ende der Vorgänge durch den hohen US-Diplomaten, der 1987 vertraglich auf die weit zahlreicheren eigenen maßgeblich dazu beitrug, Washington bei der Stange INF-Systeme verzichtete (JONATHAN HUNT und zu halten (JOHN J. MARESCA: Helsinki Revisited. A DAVID REYNOLDS). Er ging auch von der sowjeti- Key U.S. Negotiator’s Memoirs on the Development schen Offensivplanung auf dem europäischen of the CSCE into the OSCE. Stuttgart 2014, hier Schauplatz ab, indem er eine Verteidigungsstrategie S. 11–135). Der neu aufflammende Konflikt veran- durchsetzte; er ließ die „Brežnev-Doktrin“ fallen, die lasste Ende der siebziger Jahre die USA, Großbritan- keine Abweichungen vom alten Herrschaftsmodell nien, Frankreich und die Bundesrepublik zu einer der UdSSR erlaubte, und befürwortete Reformen, Serie von Gipfelkonferenzen (KRISTINA SPOHR und die das innere und äußere Imperium dem demokrati- DAVID REYNOLDS). schen System des Westens annäherten. Erst als Michail Gorbačëv der UdSSR eine grund- Demgemäß engagierte sich Gorbačëv für den po- sätzlich neue Richtung gab, konnte der Kalte Krieg litischen Wandel in Ostmitteleuropa, wie er 1989 in beendet werden. Wie SCHOENBORN und NIEDHART Beijing gegenüber Deng Xiaoping und beim Treffen meinen, wurden die Voraussetzungen dafür durch vor Malta gegenüber Präsdent George W. H. Bush

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 33 deutlich machte (JEFFREY A. ENGEL und SERGEY Die Aufsätze des Sammelbandes beruhen auf gu- RADCHENKO). Die dadurch veränderte Lage bewog ten Quellen der jeweils einschlägigen Provenienz, ihn schließlich dazu, nicht nur der deutschen Verei- stellen eingehend die Vorgeschichte dar und bieten nigung, sondern sogar dem Verbleib der vergrößer- zuverlässige Analysen der geschehensbeeinflussen- ten Bundesrepublik in der NATO zuzustimmen den Umstände und der die Akteure bestimmenden (KRISTINA SPOHR). Diese Entwicklung war gegen- Motivationen und Zielvorstellungen. Die Ausfüh- läufig zu der Haltung, welche die Initiatoren der rungen sind klar und konzentrieren sich auf die we- Bonner Ostpolitik in den achtziger Jahren einnah- sentlichen Tatbestände, so dass ermüdende Aufzäh- men: Sie gaben ihre Absicht auf, auf die Überwin- lungen vermieden werden. Den Autoren kann eine dung des Status quo hinzuarbeiten, um damit die genaue Kenntnis ihrer Thematik bescheinigt werden. Wiedervereinigung zu erreichen. Während Brandt Insgesamt sind dies Ausführungen, die wichtige As- nach dem Fall der Berliner Mauer zum früheren pekte der Überwindung des Kalten Krieges beleuch- Standpunkt zurückkehrte, beschwor Bahr den KPd- ten und sowohl von Fachkennern als auch von erst- SU-Sekretär Valentin Falin am 21. November 1989, mals damit befassten Studenten oder interessierten die DDR vor der Vereinigung mit der Bundesrepu- Laien mit Gewinn zu lesen sind. blik zu retten (Abdruck des Gesprächs in: Der Gerhard Wettig, Kommen Kreml und die Wende 1989. Hrsg. von Stefan Kar- ner [u.a.]. Innsbruck 2014, S. 515–520).

WLADISLAW HEDELER: Nikolai Bucharin – Sta- (1973/1980). In den ersten beiden seiner insgesamt lins tragischer Opponent. Eine politische Bio- acht Kapitel umfassenden Arbeit räumt der Autor – graphie. Berlin: Matthes & Seitz, 2015. 638 S., die Blindflecken seiner Vorgänger vor Augen – dem 42 Abb. ISBN: 978-3-95757-018-5. jungen Bucharin (bis 1909) und seinem Leben im Exil (von 1910 bis 1917) einen „gebührenden Platz“ GEORGIJ ČERNJAVSKIJ / MICHAIL STANČEV / (S. 542) ein. MARIA TORTIKA (LOBANOVA): Žiznennyj put’ Geboren 1888 in Moskau in einer Lehrerfamilie, Christiana Rakovskogo 1873–1941. Evropeizm i wo er einen Teil seiner Kindheit in Bessarabien zu- bol’ševizm. Neokončennaja duėl’. Moskva: Cen- brachte, stieß Bucharin im Gefolge der ersten russi- trpoligraf, 2014. 880 S., 1 Abb. ISBN: 978-5-227- schen Revolution von 1905 zur Russländischen Sozi- 05277-3. aldemokratischen Partei (bolschewistischer Flügel), kurz RSDRP(b). Nach seiner Rückkehr aus dem Exil Als Kader mit internationaler Erfahrung waren so- im Mai 1917 gehörte er dem Zentralkomitee (CK) wohl Bucharin als auch Rakovski nach der Mach- der RSDRP(b) und nach deren Umbenennung im teroberung der Bol’ševiki an der Behauptung ihrer März 1918 der Kommunistischen Partei der Bol’še- Herrschaft auch jenseits der Grenzen Sowjetruss- viki, kurz RKP(b), dem formal höchsten Gremium lands beteiligt. Über den Tod Lenins hinaus (aber des Parteiapparats, an. Ende 1917 trat er in die Re- konträr in der Parteinahme für Trockij) waren beide daktion des Parteiorgans Pravda ein, ab März 1919 in die inneren Parteikämpfe involviert, bis sie zu war er Kandidat, ab Juni 1924 Vollmitglied im Polit- „Opponenten“ (Stalins) wurden. Mittel im Kampf büro des CK der RKP(b), dem neuen Macht- und gegen interne Gegner waren Denunziationen und öf- Führungsgremium der Partei. Ebenfalls im März fentliche Kampagnen, Forderungen nach Distanzie- 1919 war er an der Gründung einer eigenen (=kom- rung und nach Schuld- und Reuebekenntnissen so- munistischen) Internationale (Komintern) beteiligt. wie schließlich der dritte Moskauer Schauprozess, in Der von Lenin zum „Liebling der ganzen Partei“ er- dem beide als Angeklagte und zugleich als Zeugen klärte Parteiideologe kämpfte 1925 an der Seite Sta- der großen (Partei-)Geschichtsrevision präsentiert lins gegen die „Neue Opposition“ um Grigorij Zi- wurden. nov’ev und Lev Kamenev sowie 1926 gegen die von Bei dem Versuch, Leben und theoretisches Werk diesen und Trockij geführte „Vereinigte Oppositi- eines der prominentesten Konkurrenten Stalins in ei- on“. Als (faktischer) Nachfolger von Zinov’ev über- nem Band zusammenzufassen, folgt Wladislaw He- nahm Bucharin – wenig erfolgreich – die Führung in deler, ein ausgewiesener Bucharin-Experte, der Pio- der Komintern. Spätestens 1928, vor allem seit 1929, nierarbeit von Adolf G. Löwy (1969/1990) sowie wurden seine Prognosen und Programmziele (von Stalin) dis- der wichtigen Biographie von Stephen F. Cohen kreditiert, bis er schließlich auf dem Vereinigten Plenum von

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CK und Zentraler Kontrollkommission (CKK) vom 6. bis oder Sergej Bessonov (S. 359), einer der ersten Ab- 11. April 1929 von seiner Arbeit in der Pravda und in solventen der ökonomischen Abteilung des Instituts der Komintern entbunden und am 17. November der Roten Professur, der dort ab 1927 als ihr Leiter 1929 auf Beschluss des Plenums des CK Über die heftig gegen Rubin polemisierte und sich 1929 auch Gruppe des Genossen Bucharin (zusammen mit Aleksej an der großangelegten Kampagne gegen Bucharin Rykov und Michail Tomskij) als „Initiator und Füh- beteiligte, aber später im dritten Schauprozess gegen rer der rechten Abweichler“ aus dem Politbüro ent- Bucharin und Rykov (Tomskij hatte vorher Selbst- fernt wurde. Am 26. November druckte die Pravda mord verübt) mitangeklagt wurde. eine reuevolle „Erklärung der Genossen Tomskij, Die kurzen Unterkapitel Sozialismus als Vision und Bucharin und Rykov“. Die Lehre von Marx und ihre historische Bedeutung taugen Bis zum November-Plenum von 1929, das den weder als Fazit, noch bilden sie einen befriedigenden Wirtschaftskurs in Richtung auf forcierte Industriali- Übergang zu den nächsten drei Kapiteln (Das Ende sierung und Zwangskollektivierung der Landwirt- der Bucharinschule, Von der Akademie auf die Anklage- schaft mit der Liquidierung des „Kulakentums“ be- bank und Zwischen Plenartagung und 3. Schauprozess). stätigt, also auf den ersten zirka 300 Seiten des Bu- Auch die Miniunterkapitel Wissenschaftsorganisation und ches, werden recht solide Einblicke in Bucharins Le- Kulturtheorie und Faschismuskritik zwischen Kapitel ben und Wirken gegeben. Aber schon im vierten Ka- sechs und sieben sind wenig ergiebig. Ein wichtiges, pitel zur Problematik der (ideologischen) Nachfolge wohl auf Bucharins Haftzeit im Jahr 1937 bezogenes nach Lenins Tod werden die verschiedenen (Wirt- Fazit (S. 406) wäre am Ende des Kapitels oder sogar schafts-)Theorien Bucharins kaum noch chronolo- des gesamten Bandes, wo jegliche Form von Zusam- gisch und linear dargestellt. Problematisch ist auch, menfassung und Fazit fehlt, sinnvoller gewesen. dass Hedeler das in diversen kleinen, jeweils mit ei- Auch mit der Biografie von Christian Rakovski nem Namen [Rosa Luxemburg, August Thalheimer verbindet sich großer Forschungsbedarf, selbst wenn etc.] überschriebenen Zwischenkapiteln tut. Das der französische Historiker Francis Conte schon Fehlen eines allgemeinen Konzepts, einer Fragestel- früh eine umfangreiche politische Biographie (Lille lung, unter der das (politische) Wirken Bucharins [u.a.] und Paris 1975) und einen Band über Rakovs- analysiert würde, macht sich nun bemerkbar. Auf kis diplomatische Tätigkeiten (Paris [u.a.] 1978) vor- den „Absturz als Politiker“ folgte der „Aufstieg als gelegt hat. Ausdruck der intensiven Beschäftigung Wissenschaftler“ (S. 301); gemessen an seinem von Georgij Černjavskij und Michail Stančev mit Ra- Schrifttum seien die Jahre 1931 und 1934 ausgespro- kovski waren drei bisherige Publikationen (Char’kov chen produktiv gewesen (S. 306). 1993, 1994 und 1997). Für die hier vorzustellende Ab 1930 wurde Bucharin (wie auch Rykov) im- Arbeit wurde mit Maria Tortika eine Expertin für die mer wieder beschuldigt, „Ideengeber“ (S. 356) an- Rolle Rakovskis in der sozialistischen Bewegung geblicher Verschwörergruppen zu sein. Problema- Bulgariens Anfang des 20. Jahrhunderts einbezogen. tisch ist, dass bei Hedeler sehr vieles unerwähnt Das Buch besteht neben einer kurzen Einleitung bleibt, beispielsweise dass Tomskij, Rykov und Bu- und ebenso kurzen Schlussbemerkungen aus fünf charin auf dem 16. Parteitag im Juli 1930 erneut hef- Kapiteln, die einzelne, durch wichtige Zäsuren von- tig kritisiert wurden, dass aber Krankheit letzterem einander getrennte Lebensabschnitte abdecken; den erneuten Auftritt als Sünder ersparte, und dass nützliche Anhänge wie ein Sach- oder Personenre- die Pravda vom 20. November 1930 eine erneute gister fehlen. Das erste, chronologisch längste Kapi- reuevolle „Erklärung N. Bucharins“ veröffentlichte, tel umfasst die Lebensspanne bis zu den revolutionä- in der dieser bedauerte, nicht schon früher Stellung ren Umbrüchen von 1917. Mehrfach berufen sich genommen zu haben, um sich dann der Reihe nach die Autoren in den Quellenangaben hier auf Pierre von einigen Personen und zum Teil namentlich ge- Broué (Rakovsky ou la Révolution dans tous les pays. nannten Gruppen zu distanzieren. Dem unerfahre- Paris 1996). nen Leser werden die solcherart öffentlich als Oppo- Geboren wurde Rakovski 1873 in einer kleinen sitionelle oder Teil einer Oppositionsgruppierung Stadt im osmanischen Bulgarien als Krăstju Bezichtigten nicht vorgestellt. Gleichwohl dienen die Georgiev Stančev (keine Verwandtschaft zum Au- Namen als Zwischenüberschriften des mit Die Säube- tor). Seine Mutter war die Nichte des 1867 verstor- rungen überschriebenen Unterkapitels. Auch werden benen Georgi Sava Rakovski, dessen Artikel und Personen im fortlaufenden Text nicht oder nur un- Gedichte gegen die osmanische Fremdherrschaft zureichend eingeführt, beispielsweise der (parteilose) ihm eine Inspirationsquelle (auch für den Namens- Ökonom und Marx-Forscher Issak Rubin (S. 350 ff.) wechsel) waren. Sein Vater besaß ein Gut nahe der

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Stadt Mangalia am Schwarzen Meer. Nach dem Rus- 1922 die Union Sozialistischer Sowjetrepubliken sisch-Osmanischen Krieg (1877–1878) fiel das Ge- gründete. Damit endete diese „wichtige und dynami- biet an Rumänien; die spätere Übersiedelung dorthin sche Etappe der Tätigkeit Rakovskis, im Rahmen de- war der Auftakt zu einem Leben als geographischer rer seine Funktion als Diplomat nicht die hauptsäch- und kultureller Grenzgänger zwischen zahlreichen liche war“ (S. 165). Abschließend wird in einem wei- europäischen Städten und Staaten, zunächst 1891 als teren Unterkapitel ausführlich über die Vorgeschich- politisch aktiver Medizinstudent der Universität te (Herbst 1922) und die Nachwirkungen (Juni 1923) Genf, dann in Berlin, Zürich, Nancy und Montpelli- seiner ersten öffentlichen Auseinandersetzung mit er, wo Rakovski sein Medizinstudium 1897 mit einer Stalin auf dem 12. Parteitag im April 1923 berichtet. Doktorarbeit abschloss. Zahlreiche Kontakte zu Mit seiner Abberufung aus der Ukraine begann Größen der sozialdemokratischen Bewegung ent- Rakovskis eigentliche Diplomatenkarriere, die ihn als standen. Aufenthalte in St. Petersburg folgten. Als Bevollmächtigten Vertreter der Sowjetunion in die im Sommer 1903 sein Vater starb, übernahm er des- Hauptstädte zweier europäischer Großmächte führ- sen Gut; fortan war er der „einzige Großgrundbesit- te, im Herbst 1923 nach London, im Oktober 1925 zer“, der „erhebliche Teile seiner Einkünfte den Be- nach Paris. Diese Zeit wird in einem eigenen Kapitel dürfnissen der Sozialdemokratie zur Verfügung stell- unter dem Blickwinkel der jeweiligen Instruktionen te und selbst aktiv in der sozialdemokratischen Be- und Aufgaben dargestellt. Zu Beginn des folgenden wegungen Rumäniens, Bulgariens und Europas teil- vierten Kapitels, das sich der Zeit der Opposition nahm“ (S. 37). Eine enge Verbindung entstand zum und der politischen Verbannung widmet, wird er- „unabhängigen Sozialdemokraten“ Trockij (S. 38), klärt, dass Rakovski schon 1923, über Trockij, in den der ihm bis 1934 in Freundschaft verbunden blieb. (links-)„oppositionellen Kampf“ einbezogen war, Das Propagieren einer Balkanföderation (als Modell was aber noch „keine Opposition, sondern ein Ab- zur Vermeidung von Nationalitätenkonflikten) wur- gehen von der Generallinie“ (S. 317) bedeutete. Spä- de zum Steckenpferd des „vielseitigen Sozialisten“ ter folgte eine (nur) kurzzeitige Beteiligung an der (S. 59). „Neuen Opposition“ um Zinov’ev und Kamenev. In Rakovskis „politische Evolution von 1917“ Frankreich wurde Rakovski zur persona non grata er- (S. 80) – Ausgangspunkt für Kapitel 2 – begann mit klärt, weil er sich, wie auch Kamenev, der seit Febru- Rumäniens Kriegseintritt im August 1916 und seiner ar 1927 als Bevollmächtigter Vertreter in Rom war, Inhaftierung. Die revolutionären Ereignisse im Fe- im Juli 1927 Trockijs und Zinov’evs „Plattform der bruar 1917 in Russland hatten großen Einfluss auf Vereinigten Opposition“ angeschlossen hatte. Der die Situation im Land; schließlich wurde Rakovski im 15. Parteitag im Dezember 1927 erlebte den (vorläu- Mai 1917 von russischen Truppen freigelassen. Ver- figen) Höhepunkt seiner Rolle als „Oppositioneller“; suche der Provisorischen Regierung zur Kontaktauf- dort wurde sein und Kamenevs Parteiausschluss be- nahme über Pavel Miljukov und Irakli Zereteli blei- schlossen. Am 3. Januar 1928 wurde Rakovski auf ben ohne Quellenangabe Spekulation; nach dem Ok- Beschluss des Politbüros nach Astrachan’ verbannt. toberumsturz folgte, wohl unter dem Einfluss von Ausführlich wird ein dort Anfang August 1928 Trockij, die Annäherung an Lenin (S. 85). verfasster Brief behandelt, der in einer Kurzfassung Als einer von „Petrograds [d. i. Lenins und erstmals in Trockijs 1929 in Paris gegründeter Zeit- Trockijs] Emissären“ wurde er im Februar 1918 in schrift Bjulleten’ Oppozicii erschien (eine deutsche die kurzlebige Sowjetrepublik Odessa geschickt (wo Übersetzung der Langfassung findet sich in: LEO er einen Friedensvertrag mit Rumänien, der den Ab- TROTZKI: Schriften. Bd. 1,2: Sowjetgesellschaft und zug rumänischer Truppen aus Bessarabien vorsah, stalinistische Diktatur [1936–1940]. Hrsg. von Hel- aushandelte). Ab Januar 1919 begann seine Zeit als mut Dahmer [u.a.]. Hamburg 1988, S. 1344–1363). Politiker und Diplomat, zunächst als Vorsitzender Kurze Erwähnung findet auch eine in Saratov, seit der Provisorischen Arbeiter- und Bauernregierung November 1928 Rakovskis neuer Verbannungsort, der Ukraine und später als Vorsitzender des Rats der verfasste Erklärung an das CK und die CKK vom Volkskommissare der – analog zur Russländischen 22. August 1929 (LEO TROTZKI: Schriften. Bd. 3,3: SFSR gegründeten – Ukrainischen SSR. Im März Linke Opposition und IV. Internationale [1928– 1919 nahm er als Vertreter der Föderation der Kom- 1934]. Hrsg. von Helmut Dahmer [u.a.]. Hamburg munistischen Parteien der Balkanländer auf dem 2001, S. 657–668), die eine erneute Annäherung der Gründungskongress der Komintern teil, später an Parteiführung an die ausgeschlossene LinksOppositi- den großen internationalen Konferenzen von Ge- on anmahnte (das Vorgehen gegen Bucharin, Rykov nua/Rapallo und Lausanne, gerade als sich Ende und Tomskij als „rechte Abweichung“ wurde dem-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 36 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 gegenüber gelobt) und die Wiederaufnahme der aus- nerallinie“ mitteilte; am 18. April druckte die Pravda geschlossenen Oppositionellen in die Partei unter eine reuige Erklärung von Ch. Rakovski, in deren Folge voller Wahrung ihrer statutenmäßigen Rechte for- er nach Moskau zurückkehren und dort arbeiten derte. Noch im August folgte Rakovskis Überfüh- durfte. Während des ersten Moskauer Schauprozes- rung in das entlegenere Barnaul (Altai). Die folgende ses gegen das angebliche „trotzkistisch-zinov’evisti- Zeit bis zu seiner Unterwerfung unter die „General- sche terroristische Zentrum“ vom 19. bis 24. August linie“ eignet sich (unter Einbezug aller verfügbaren 1936 gegen Zinov’ev und Kamenev forderte Ra- Quellen) als weiterer Höhepunkt der Darstellung. kovski in der Pravda vom 21. August, keine Gnade Zumindest ist zu vermuten, dass, bedingt durch die gegenüber den „Trotzkisten-Agenten der deutschen widrigen Umstände der Verbannung und die weitrei- Gestapo“ walten zu lassen. Auch Bucharin, der in chende Isolation, letztlich der Überlebens- und Gel- diesem Prozess von verschiedener Seite belastet wor- tungswille Rakovskis bis dahin ungebrochenen den war, unterstützte Ende August in einem Brief an Kampfgeist gegen das Regime übermannte. das Politbüromitglied Kliment Vorošilov die dort ge- Zu den gewandelten Umständen in den Jahren fällten Todesurteile. zwischen dem Abflauen des politischen Terrors Während die Rakovski-Biographen im fünften 1932/1933 und dessen erneuter Verschärfung nach und letzten Kapitel nicht übermäßig viel Licht in die dem tödlichen Attentat auf den Leningrader Partei- Vorbereitung und Durchführung des dritten Schau- chef Sergej Kirov Ende 1934 gehörte, dass Zinov’ev prozesses und Rakovskis Rolle darin bringen, ist es und Kamenev im Herbst 1933 aus der zweiten Ver- ein Verdienst Hedelers, Bucharins (und auch Ra- bannung nach Moskau zurückkehren durften und im kovskis) Verhalten in der Untersuchungshaft genau- Dezember wieder in die Partei aufgenommen wur- er zu beleuchten und Hinweise auf ihre „Geständnis- den. An dieser Stelle wäre mehr als nur ein kurzer se“ zu geben (S. 444 ff., 454 ff., zu Rakovski S. 462, Blick auf Bucharins Stellungnahmen in dem Über- 464–465). Anscheinend war es Rakovski, der Nikolaj prüfungsverfahren gegen ihn Ende 1933 angebracht Krestinskij zu Prozessbeginn dazu überredete, am gewesen. Auf dem 17. Parteitag vom 26. Januar bis Szenario festzuhalten (S. 508); nachdem die Reihen- 10. Februar 1934, dem so genannten „Parteitag der folge der Befragung der Angeklagten kurzfristig ge- Sieger“, durften dann eine ganze Reihe prominenter ändert worden war, übernahm Bessonov die ihm zu- Oppositioneller, darunter Zinov’ev, Kamenev, Bu- gewiesene Rolle als „Amalgam“ zwischen den charin, Rykov, Tomskij und Karl Radek wieder mit „Trotzkisten“ (Rakovski) und „Rechten“ (Bucharin, Redebeiträgen auftreten. Rykov). Auf Initiative Stalins und durch Beschluss des Po- Bucharin hörte auch nach seiner Verhaftung im litbüros vom 20. Februar 1934 wurde Bucharin als Februar 1937 nicht auf, sich an Stalin persönlich zu Chefredakteur in die Regierungszeitung Izvestija be- wenden. Im Dezember, ein Vierteljahr vor dem rufen; ebenso gelangten Zinov’ev, Kamenev und an- Schauprozess, gab er in einem letzten Brief eine be- dere wieder auf relativ einflussreiche Posten. Hedeler zeichnende Erklärung für den „Großen Terror“: macht deutlich, dass Bucharin ebenso wie der in der „Als ich über das, was vor sich geht, nachdachte“, Izvestija-Redaktion für die Auslandsberichterstattung schrieb Bucharin, habe er sich „etwa folgende Kon- zuständige Radek, der später, im Januar 1937, im zeption zurechtgelegt: Es existiert irgendeine große Mittelpunkt des zweiten Moskauer Schauprozesses und kühne politische Idee einer generellen Säube- gegen ein angebliches „sowjetfeindliches trotzkisti- rung a) im Zusammenhang mit einer Vorkriegszeit, sches Zentrum“ stehen sollte, seitdem „am Gängel- b) im Zusammenhang mit dem Übergang zur De- band von Stalin“ (S. 383) geführt wurde. Als Bucha- mokratie [sic! M.B.]. Diese Säuberung erfasst rin von Februar bis April 1936 an der Spitze einer a) Schuldige, b) Verdächtige und c) potentielle Ver- Delegation stand, die in Paris über den Ankauf von dächtige. Dabei konnte man ohne mich nicht aus- Manuskripten aus dem SPD-Archiv, unter anderem kommen.“ (zit. nach Hedeler S. 529) Hervorhebun- des Marx-Nachlasses, verhandeln sollte, nutzte er die gen von „entlarvenden“ Details in den Biographien Chance zu emigrieren nicht. Stattdessen beteiligte er der Angeklagten, wie bei Bessonov, hatten deren po- sich, wie Radek, an der Ausarbeitung des Entwurfs litische Verleumdung zum Ziel und deuten auf die einer neuen Verfassung. symbolische Bedeutung des Prozesses, worauf auch Bisher kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, die aufschlussreichen Bemerkungen Hedelers zum aus welchen Motiven Rakovski unmittelbar nach Prozess-Stenogramm verweisen (S. 502–509). dem Parteitag in einem Telegramm an das CK vom Am 13. März 1938 wurden Bucharin und Rykov 17. Februar 1934 seine Unterwerfung unter die „Ge- zu Anführern des angeblichen „Blocks der Rechten

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 37 und Trotzkisten“ erklärt und zusammen mit Kres- len Zusammenhang. Auf der Makroebene werden tinskij und 15 weiteren Angeklagten zum Tod durch mit Blick auf die neueste Stalinismusforschung ver- Erschießen verurteilt; Rakovski erhielt eine Haftstra- nachlässigte Fragen nach den Ursachen und Bedin- fe von 20 Jahren, Bessonov erhielt mit 15 Jahren die gungen der Gewalt sowie nach deren Warum und geringste in diesem Prozess verhängte Strafe. Die Wie und ihren genauen Formen diskutiert. Auf der Todesurteile wurden am 15. März vollstreckt. Ra- Mikroebene interessieren wieder vermehrt einzelne kovski saß ab Juli 1938 im Gefängnis von Sol’-Ileck Personen, Gruppen und Situationen. Auf dieser südlich von Orenburg ein, ab August 1939 im Ge- zweiten Ebene werden der Umgang des Individuums fängnis von Orel. Als sich die Truppen der deut- bzw. der Gruppe mit den Machtverhältnissen und schen Wehrmacht näherten, wurden er und andere der vorgegebenen Ordnung veranschaulicht und die politische Häftlinge (wie Bessonov) am 11. Septem- Rückwirkungen der letzteren auf die Sprache des ber 1941 erschossen. Einzelnen und der Gruppe verdeutlicht, d. h. es wird An mehreren Stellen tritt die Bucharin-Forschung das „Innere des/der Menschen“ sozusagen nach Au- noch immer auf der Stelle (Hedeler, S. 540). Gleiches ßen gekehrt. Dadurch offenbart sich das ganze Aus- gilt, wie Černjavskij im Vorwort anmerkt, für Ra- maß der terroristischen Diktatur Stalinscher Prä- kovskis letzte Lebensjahre (S. 14). Dennoch zeigen gung. die Biographien das große Erkenntnispotential bio- Matthias Bürgel, Oldenburg graphischer Forschung, gerade auch im internationa-

Communism and Consumerism. The Soviet Al- band zu diesem Thema vorlegen. Allerdings passt ternative to the Affluent Society. Ed. by Timo das Vorwort nicht auf die zwei interessantesten Bei- Vihavainen / Elena Bogdanova. Leiden, Bos- träge, die eben Konsumstrategien untersuchen und ton, MA: Brill, 2015. XXIV, 172 S. = Eurasian nicht die Ideologie. Studies Library, 7. ISBN: 978-90-04-30396-6. Der recht teure Band ist eher lieblos gemacht. Die Zitationsform der Fußnoten, Autor, Jahr und Seiten, Inhaltsverzeichnis: ist nicht sehr leserfreundlich. Bei einem Beitrag wur- http://www.gbv.de/dms/zbw/834152266.pdf de das notwendige Literaturverzeichnis vergessen, in zwei Beiträgen treten Text- und Fußnoten gemischt Der Titel Kommunismus und Konsumismus verheißt ei- auf, also hätten die Herausgeber vergessen, diese zu nen spannenden Band, doch leider stellt sich schnell Ende zu formatieren. Hinzu kommen noch zahlrei- Enttäuschung ein. Wie das Vorwort des Mitheraus- che Tippfehler. Es scheint, niemand hat sich die gebers TIMO VIHAVAINEN, von dem drei der sechs Mühe gegeben, die Druckfahnen durchzusehen. Es Aufsätze stammen, klarstellt, geht es nicht um Kon- kommt zu zahlreichen Wiederholungen und nur drei sum an sich, sondern vor allem um ideologische Be- Beiträge stellen originäre Forschung dar, die anderen mühungen, den Konsumismus einzudämmen referieren die Literatur. (S. XI). Wirtschaftliche Aspekte werden fast voll- In seinem Vorwort erläutert VIHAVAINEN die ständig ignoriert. Erstens braucht es ein gewisses Ni- Konzeption dieses Werks, eben die Ideologie in den veau des Bruttosozialprodukts, um einen Konsumis- Mittelpunkt zu stellen. Das Ziel der Kommunisten mus breiterer Gesellschaftsschichten überhaupt zu sei eine wohlhabende Gesellschaft ohne Konsumis- ermöglichen. Zweitens stand die sowjetische Wirt- mus. Der Autor versteigt sich zur Behauptung: „Der schaftspolitik spätestens seit Stalins Revolution von sowjetische Lebensstandard sah nicht unbedingt oben unter dem Zeichen von Austerität; dieser Aus- niedrig für einen westlichen Touristen in den dreißi- druck kommt im ganzen Buch jedoch nur einmal ger oder den siebziger Jahren aus.“ Es habe wenige vor. Austerität im sowjetischen Zusammenhang be- Anzeichen echter Armut gegeben (S. XIII). Beschäf- deutet in erster Linie ein Niedrighalten des Lebens- tigt man sich etwas näher mit der sowjetischen Wirt- standards der Bevölkerung, um hohe Industrieinves- schafts- und Sozialgeschichte, dann war in Europa in titionen, ein großes Verteidigungsbudget und einen den dreißiger Jahren nur Albanien noch ärmer und umfangreichen Staatskonsum zu finanzieren. Drit- unterentwickelter als die UdSSR, es gab Hungersnö- tens produzierten die Mechanismen der sowjetischen te, weitverbreitete Unterernährung und eine Lebens- Kommandowirtschaft selbst viele Probleme – Stich- erwartung wie in Kolonien in Nordafrika. In den wort Mangelwirtschaft. Wer die wirtschaftliche Seite siebziger Jahren hatte die Sowjetunion möglicherwei- ignoriert, kann kaum einen überzeugenden Sammel- se Rumänien und Bulgarien bezüglich der Realein-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 38 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 kommen überholt, aber beim Betreten eines norma- LARISSA ZAKHAROVA geht den Strukturen des len Haushalts dürfte einem Gast aus Westeuropa Textilienkonsums in der Sowjetunion in den fünfzi- doch der erhebliche Abstand zu westeuropäischen ger und sechziger Jahren nach. Der Leser hat zu die- Standards ins Auge gefallen sein. sem Zeitpunkt bereits mehr als die Hälfte des Ban- Der erste Beitrag über den Geist des Konsumis- des durch, bis die erste richtige Forschungsarbeit mus in Russland und im Westen von TIMO kommt, die auf der Erschließung von Archivquellen, VIHAVAINEN erscheint als etwas sprunghaft und darunter auch Beschwerden und Budgetstudien so- oberflächlich. Nur beim Gegenstand Ideologie ge- wie Interviews beruht. Die Autorin breitet faszinie- winnt er etwas an Schärfe. Der folgende Aufsatz rendes empirisches Material aus, ob es um legale, stammt ebenso aus der Feder Vihavainens und leidet halblegale und illegale Tätigkeiten zur Herstellung ebenso an Sprunghaftigkeit. Er behandelt den Kon- und Vertrieb von Kleidung und Schuhen oder um sumismus im Rahmen des sowjetischen Projekts, in sogenannte Spekulation geht. Sie kann belegen, dass dessen Mittelpunkt anfangs Gleichheit und die Pro- 1953 beispielsweise in Krasnodar zahlreiche privat duktion standen. Stalin beendete in den dreißiger gefertigte und auf dem Markt verkaufte Kleidungs- Jahren die Gleichmacherei, so der Autor, und ge- stücke und Schuhe deutlich billiger waren als im währte der Elite ein gutes Leben. Hier irrt Vihavai- staatlichen Handel. Der Staat tat allerdings alles, um nen, bereits während des Russischen Bürgerkriegs den Privatsektor zu unterdrücken. Letztlich bietet war die sowjetische Elite gleicher als andere Men- dieser Beitrag einen guten Einblick in Problemlö- schen. Schon Lenin hatte erhebliche Privilegien und sungsstrategien in einer Ökonomie der Engpässe. besondere Versorgungsgüter an einen kleinen Kreis ELENA BOGDANOVA, die zweite Herausgeberin, verteilen lassen. Stalin weitete die „Hierarchie des thematisiert den sowjetischen Konsumenten auf der Konsums“ (Elena Osokina) nur noch aus. Als inter- Grundlage von Beschwerden in Archivbeständen essanter Ansatz erscheint es, für den Stalinismus und Interviews. Auch sie zeichnet die verwendeten auch von „virtuellem Konsum“ zu sprechen (S. 39). Strategien überzeugend nach, die genutzt wurden, Bekanntlich erfolgte eine spürbare Verbesserung des wenn sich der Konsument an die Behörden oder die Lebensstandards erst seit den fünfziger Jahren, und Presse wandte. Allerdings wiederholt sie einiges, was 1961 wurde auf dem XXII. Parteitag der KPdSU gar in den vorherigen Aufsätzen schon angeführt wurde. verkündet, dass bis 1980 der Kommunismus aufge- Trotzdem kann ihr Beitrag noch überzeugen. baut und die USA überholt sein würden. Insgesamt Zum Abschluss schreibt erneut VIHAVAINEN bietet dieser Beitrag aber wenig Neues und einiges über Kleinbürgerlichkeit (meščanstvo), die Haltung des Zweifelhafte. So sei der durchschnittliche Russe heu- Konsumismus und den russischen Geist. Er nutzt te abgeneigt Geld zu sparen, sondern würde es mög- Interviews mit Personen, die sich selbst entweder lichst schnell wieder ausgeben (S. 60). Vihavainen der intelligencija zuordnen oder eben nicht, um etwas sieht dies als einen Beleg für verbreiteten Konsumis- über ihre Einstellung zu kleinbürgerlichem Verhal- mus. Nach 30 Jahren Erfahrung mit wiederholten, ten, Konsumismus und intelligencija in der Sowjetzeit drastischen Geldentwertungen und einem insgesamt und danach zu erfahren. Das Ergebnis erscheint instabilen ökonomischen Umfeld kann dies vom Au- nicht als sehr überzeugend, liefert aber gewisse Ein- tor ohnehin etwas übertriebene Verhalten durchaus blicke in die Geisteshaltung der untersuchten Perso- als rational angesehen werden. Lieber Geld ausge- nengruppe. Daran schließen sich ein nichtssagendes ben, als es auf der Bank durch die nächste Inflation Nachwort, die Fragen der von Vihavainen genutzten konfiszieren zu lassen. Interviews und ein Register an. Auf der Basis von Literatur und dem Journal Ra- Angesichts von nur zwei wirklich überzeugenden botnica untersucht OLGA GUROVA die Ideologie des Aufsätzen, der lieblosen Machart und des bewussten Konsums in der UdSSR, wohlgemerkt Konsum, Aussparens vieler wirtschaftlicher Aspekte hinter- nicht Konsumismus. Denn Vihavainen ist der einzi- lässt der Band einen schalen Nachgeschmack. Nur ge, der sich mit dem titelgebenden Phänomen aus- Vihavainen untersucht Konsumismus, die drei ande- einandersetzt. Die drei übrigen Autorinnen beschäf- ren Autorinnen Konsum. Irgendwie geht die Kon- tigen sich alle mit Konsum. Gurova bezieht sich auf zeption dieses Sammelwerks nicht auf. den Diskurs der Massen und kommt zu der wenig überraschenden Einsicht, die Idee des Konsums sei in der Sowjetzeit weder konsistent noch einheitlich gewesen (S. 70). Insgesamt bietet sie wenig Neues. Olaf Mertelsmann, Tartu

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Narodničestvo i narodničeskie partii v istorii doch bleibt ein Wermutstropfen, der letztlich der Rossii v XX veke. Biobibliografičeskij spravoč- Publikationsform geschuldet ist. In einer sich schnell nik. Sost. Michail I. Leonov / Konstantin N. verändernden Forschungslandschaft ist eine Publi- Morozov / Aleksej Ju. Suslov. Moskva: Novyj kation, die zugleich auch eine Bibliographie ist, bes- chronograf, 2016. 544 S. ISBN: 978-5-94881-313- tenfalls eine Momentaufnahme, die mit ihrem Er- 4. scheinen schon wieder zwar nicht veraltet, aber zu- mindest doch in Details überholt ist. Obwohl dieser „Im Westen nichts Neues“? Mit Blick auf Neuer- spravočnik nach Vollkommenheit strebt, ist er doch scheinungen zum Thema der Parteien des neonarod- von Menschen gemacht und damit nicht frei von ničestvo entbehrt dieses geflügelte Wort nicht einer Fehlern insofern, als nicht alle Titel erfasst sind – gewissen Berechtigung. Die vaterländische Ge- und dies gilt keineswegs nur für die im vergangenen schichte hat in Russland in den zurückliegenden Jah- Jahr in St. Petersburg veröffentliche vorzügliche ren eine Vielzahl bemerkenswerter Publikationen Biographie Viktor Černovs aus der Feder des finni- vorgelegt, von Monographien über Quelleneditio- schen Historikers Hannu Immonen (HANNU IMMO- nen und Sammelbände bis hin zu zahllosen Artikeln. NEN: Mečty o novoj Rossii. Viktor Černov (1873– Die vorliegende Publikation beschreitet schon in 1952. S.-Peterburg 2015. = Ėpocha voin i revolju- konzeptioneller Hinsicht Neuland, weil sie verschie- cij, 8), sondern auch für andere geschichtswissen- dene unerlässliche Bereiche amalgamiert. schaftliche Untersuchungen (JÖRG BABEROWSKI: Was leistet dieses Nachschlagewerk? Es ist ers- Das Handwerk des Tötens. Boris Sawinkow und der tens eine Bibliographie der Zeitungen und Zeit- russische Terrorismus, in: Comparativ: Leipziger schriften aller neopopulistischen Parteien, die von Beiträge zur Universalgeschichte und Vergleichen- ihrer Gründung bis in die späten fünfziger Jahre des den Gesellschaftsforschung 23 [2013], 2, S. 75–90; 20. Jahrhunderts erschienen sind. Es listet zweitens TOBIAS GRILL: Isaak Nachman Steinberg: „Als ich die einschlägigen Bestände zu den Parteien und füh- Volkskommissar war“ oder „Eine soziale Revoluti- renden Exponenten des neonarodničestvo in Archiven on, die die Rechte ihrer Klassengegner verteidigt – der Russländischen Föderation auf. Drittens enthält das wäre eine große moralische Lehre der Mensch- es eine Auflistung von Werken neopopulistischer lichkeit gewesen!“, in: Nordost-Archiv 23 [2014], Autoren, die der Geschichte ihrer Organisationen S. 141–167; LUTZ HÄFNER: „Genossen“? Sozialis- gewidmet sind. Viertens präsentiert es eine Auflis- muskonzeption und politische Praxis der Partei der tung des umfangreichen in Russland und im Aus- Sozialrevolutionäre Russlands und ihr Verhältnis zur land publizierten Schrifttums. Und schließlich, fünf- SPD 1902–1914, in: Archiv für Sozialgeschichte 53 tes, enthält es wichtige Angaben über die Historiker, [2013], S. 67–91; HANNU IMMONEN: Auf der Suche die mit ihren Werken unser Bild von den neonarod- nach der ideologischen und organisatorischen Iden- niki nachhaltig geprägt haben. Die Bibliographie lis- tität: Die Trudoviki von der ersten Duma bis zu tet eine Vielzahl von Aufsatzartikeln auf, die in Städ- ihrem ersten Parteitag im Jahre 1906, in: Acta ten der russischen Provinz publiziert worden sind Societatis Historiae Finlandiae Septentrionalis / Fa- und deren Existenz sich selbst der Kenntnis der ravid: Pohjois-Suomen Historiallisen Yhdistyksen Spezialisten entzogen haben dürften. Vuosikirja 10 [1986], S. 259–276; HENDRIK WAL- Gerade für nichtrussische Historiker dürften die LAT: Oktoberrevolution oder Bolschewismus: Studi- Kurzbiographien der Historiker und Historikerin- en zu Leben und Werk von Isaak N. Steinberg. nen, die sich mit dem neonarodničestvo beschäftigt ha- Münster 2013) ebenso wie für bereits zeitgenössisch ben, neue Horizonte erschließen. Neben den rein publizierte Beiträge von Exponenten der neopopu- biographischen Daten, der Laufbahn und den wich- listischen Parteien beispielsweise in deutscher Über- tigsten Publikationen präsentieren die Herausgeber setzung. (WLADIMIR SENSINOW [ZENZINOV]: Der auch Angaben über die wissenschaftlichen Betreuer geschichtliche Sinn der russischen Märzrevolution, und erlauben damit Rückschlüsse auf Loyalitäten, in: Sozialistische Monatshefte 64 [1927], 3, S. 173– Netzwerke und Forschungstraditionen. Diese Infor- 177; VIKTOR TSCHERNOW [ČERNOV]: Die Sozialre- mationen erlauben es, ihre Werke besser zu kontex- volutionäre Partei Russlands und ihre Stellung in der tualisieren. Agrarrevolution, in: Sozialistische Monatshefte 64 Der Fleiß und die Leidenschaft der Herausgeber, [1927], 3, S. 176–183; VIKTOR TSCHERNOW [ČER- auch der letzten noch zu einer der Parteien des neo- NOV]: Das Bauerntum im Programm der sozialrevo- narodničestvo erschienenen Rezension nachzuspüren, lutionären Partei Russlands, in: Sozialistische Mo- sind stupend. Hier ist größtes Lob zu zollen. Und natshefte 64 [1927], 1, S. 32–38).

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 40 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4

Möglicherweise wäre – und dabei orientiere ich Oktoberheft 2016 in der Zeitschrift The Journal of mich an der bereits bestehenden Internetressource Russian History and Historiography erschienen ist. http://socialist-revolutionist.ru/ – eine internationa- In der Bibel heißt es: „Wer suchet, der findet.“ le Internetplattform, ein Blog, zu den Parteien des Ein Haar in der Suppe zu finden, ist also nicht neonarodničestvo eine zukunftsträchtige und richtung- schwierig. Ich hingegen möchte nochmals den unbe- weisende Plattform, die größere Aktualität zu leisten streitbaren Wert dieses hochwillkommenen Nach- vermag. So hat beispielsweise die englische Histori- schlagewerks unterstreichen. Mit Erich Kästner ge- kern Sarah Badcock soeben einen Aufsatz über Vla- sprochen, lautet das Fazit: „Es gibt nichts Gutes, au- dimir Michajlovič Zenzinov abgeschlossen, der im ßer man tut es.“ Lutz Häfner, Bielefeld/Göttingen

MAGDALENA NIESLONY: Bedingtheit der Male- performativen Praktiken changierendes und gleicher- rei. Ivan Puni und die moderne Bildkritik. Ber- maßen von Brüchen, aber eben auch von Kontinui- lin: Mann, 2016. 303 S., 80 Abb. = Neue Frank- täten gekennzeichnetes Oeuvre erweist sich dabei als furter Forschungen zur Kunst, 17. ISBN: 978-3- aufschlussreiches Material. Magdalena Nieslony 7861-2764-2. bringt es in brillanten Bildanalysen wiederholt zum Sprechen, wobei sich das Gemälde Fensterputz von Magdalena Nieslonys Buch ist in mehrfacher Hin- 1915, das auf den ersten Blick wie eine verspätete sicht ein Gewinn. Die kenntnisreiche und in einer so Version eines kubo-futuristischen Bildes anmutet, als kultivierten wie klar argumentierenden Sprache ver- Schlüsselwerk erweist (S. 27–48). Aber auch Punis fasste Untersuchung leistet zum einen einen wichti- Schriftbilder, ein Monochrom, die Materialassembla- gen Beitrag zu einer länderübergreifenden Erfor- gen und farbig gefassten Bildskulpturen und Reliefs schung der Kunsttheorie der Moderne im frühen lassen sich, wie die Verfasserin deutlich macht, als 20. Jahrhundert. Zum anderen bietet sie mit der Fo- gleichberechtigte Statements zur Malerei und der sie kussierung auf Ivan Puni und dessen bildkünstlerisch kennzeichnenden „ikonischen Differenz“, von der und sprachlich verfasste Bildkritik zwischen 1914 Gottfried Boehm spricht, lesen. In diesen so unter- und 1923 eine differenziertere Betrachtung der russi- schiedlichen Werken und Werkgruppen werden As- schen Avantgarde jenseits der gängigen Polarisierung pekte wie Flächigkeit, Dinghaftigkeit und Gemacht- zwischen Kazimir Malevičs Suprematismus und Vla- heit verhandelt, denen sich auch Kolleginnen und dimir Tatlins Konstruktivismus an. In diesem Sinne Kollegen wie Pablo Picasso, Vladimir Tatlin, Ljubov’ ist das Buch auch ein Plädoyer für die zuweilen un- Popova und andere widmeten. Hier hätte man einen terschätzte anhaltende Aktualität der Malerei unge- Hinweis auf Pavel Filonov erwartet. achtet diverser medialer Innovationen im vorigen Ein besonderes Verdienst des Buches besteht Jahrhundert. Diese Haltung wird durch farbige Ab- darin, dass es Nieslony gelungen ist, den Zusammen- bildungen in guter Qualität untermauert. Die Verfas- hang zwischen den intellektuell anspruchsvollen und serin zeigt in ihrer Untersuchung, dass sich gerade handwerklich elaborierten Bildkonzepten Punis, den der bislang noch ungenügend erforschte und daher von ihm organisierten Ausstellungen, darunter die unterschätzte Ivan Puni diesen Veränderungen im- epochale Letzte futuristische Gemäldeausstellung 0,10 von mer wieder gestellt hat. Und er tat dies, und das 1915/16, und seinem Essay Zeitgenössische Malerei von macht seine Sonderstellung unter seinen Zeitgenos- 1923 herauszuarbeiten. In diesem schon in der Emi- sen aus, ausdrücklich mit und über das wiederholt gration verfassten Text distanziert sich der Künstler, infrage gestellte Medium der Malerei selbst, und der auch in die Diskussionen um die faktura und den zwar in ihrer Diversität. veščizm involviert war, deutlich von teleologischen Der methodische Zugang von Nieslony ergibt Positionen, wie sie etwa in den Schriften von Male- sich aus der Verknüpfung der aktuellen Transpa- vič und Matjušin zu finden sind. Vielmehr bekennt renz- und Opazitätstheorien mit dem russischen sich Puni, so Nieslony, zu „einer unumgänglichen Diskurs der uslovnost’ (Bedingtheit) der Malerei zu Bedingtheit und Relativität der Malerei“ (S. 59). Eine Beginn des 20. Jahrhunderts, womit jeweils die solche Position weist ihn nicht nur als diskursfähig „selbstreflexiven Qualitäten der Malerei“ (S. 8) ge- im modernen Sinne aus. Sie ermöglichte es ihm meint sind, die dem tradierten mimetischen Bildbe- auch, sich in Frankreich ohne inneren Widerspruch griff in der Moderne entgegengesetzt werden. Ivan wieder mit figurativer Malerei zu beschäftigen, wo- Punis zwischen Malerei, Plastik, Sprache und mit er am Ende doch ein Ästhetizist blieb (S. 65).

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 41

In den beiden letzten Kapiteln des Buches stellt Šklovskij schließlich die Brücke hin zur westlichen Magdalena Nieslony ihre Fähigkeit zu kunsttheoreti- Bildtheorie, hier zu Adolf von Hildebrand, ohne die scher Analyse eindrucksvoll unter Beweis. Zum ei- die russische nicht denkbar ist. Die Geschichte die- nen gelingt es ihr, die innerrussischen Bedeutungs- ser Beziehungen muss noch geschrieben werden, wie stränge des Begriffes Bedingtheit (uslovnost’) gattungs- Magdalena Nieslony zu Recht anmerkt. Mit ihrem übergreifend von der Literatur und der Sphäre des klugen und lesenswerten Buch hat sie dafür wegwei- Theaters hin zur Bildenden Kunst und in ihrem sende Grundsatzarbeit geleistet und dem Emigran- Wandel von den Zehnerjahren im Kontext des Ku- ten Ivan Puni neue Aktualität als Künstler und The- bismus und in den Zwanzigerjahren im Umfeld von oretiker verliehen. Konstruktivismus und Formalismus zu erhellen. Ada Raev, Bamberg Zum anderen schlägt sie am Beispiel von Viktor

KIRIL TOMOFF: Virtuosi Abroad. Soviet Music brauch sowjetischer Musik in einem antisowjetischen and Imperial Competition During the Early Film, dem Streifen The Iron Curtain aus dem Jahre Cold War, 1945–1958. Ithaca, NY, London: Cor- 1948, gerichtlich zu stoppen. Als Angriffspunkt be- nell University Press, 2015. XI, 262 S. ISBN: 978- nutzten sie dabei die Tatsache, dass die Musik von 0-8014-5312-0. Komponisten wie Prokof’ev und Šostakovič und an- deren offensichtlich ohne deren Zustimmung be- Dass der Kalte Krieg nicht nur eine politische Aus- nutzt worden war. Dabei ging die Initiative nicht un- einandersetzung zwischen zwei Lagern war, sondern bedingt von Kulturpolitikern aus Moskau aus, son- in alle gesellschaftlichen Lebensbereiche eingriff, ist dern von der Sowjetunion freundlich gesinnten Jour- mittlerweile keine neue Erkenntnis mehr. In letzter nalisten im Westen, die die sowjetischen Institutio- Zeit sind vermehrt Studien vorgelegt worden, die das nen der Auslandskulturarbeit erst auf das Problem Gebiet der Kultur als Schauplatz des Kalten Kriegs aufmerksam machten. Der Fall schlug nicht nur in ausloten und zeigen, wie auch Literatur, die Künste den USA, sondern auch in anderen Ländern wie Bel- oder die Musik in den Dienst dieser Auseinanderset- gien oder Frankreich hohe Wellen und endete mit zung gestellt wurden. Kiril Tomoff reiht sich in diese eine Verurteilung der Filmgesellschaft „20th Century Untersuchungen ein und betrachtet die Funktion der Fox“. Die Sowjetunion hatte das amerikanische Co- Musik in diesem Zusammenhang. Wie er in der Ein- pyright-Gesetzeswesen erfolgreich für ihre Zwecke leitung erklärt, benutzt Tomoff die Linse der klassi- eingesetzt, sich dabei zugleich als gleichberechtigter schen Musik, „to reveal how – in competition after Verhandlungspartner gezeigt – und die amerikani- competition – Soviet short-term success hid from schen Spielregeln akzeptiert. Tomoff interpretiert view a more decisive integration into a global order diese Einlassung der Sowjetunion auf das System des dominated by the United States.“ Es geht also um internationalen Copyright-Gesetzeswesens sehr weit- nichts weniger, als den Ausgang des Kalten Kriegs reichend als eine tendenzielle Aufgabe oder zumin- mithilfe der klassischen Musik zu erklären. dest Einschränkung der Selbständigkeit der sowjeti- Um das zu tun, betrachtet Tomoff einzelne Fall- schen Kulturpolitik. beispiele aus den Jahren nach dem Zweiten Welt- Im zweiten Kapitel zeigt Tomoff, wie sehr das krieg bis zum Jahr 1958 genauer. Die Enge dieses System der Musikwettbewerbe in Europa, das sich Zeitraums angesichts der weitreichenden Fragestel- aus ersten Anfängen in den zwanziger Jahren des lung überrascht. Für Tomoff waren es aber diese vergangenen Jahrhunderts seit dem Zweiten Welt- Jahre, in denen sich die Auseinandersetzung haupt- krieg wesentlich erweitert hatte, schon sehr bald von sächlich abspielte. Dieser Zeitraum gilt ihm als die sowjetischen Preisträgern dominiert wurde. Dabei Hochzeit des Wettstreits der Kontrahenten im Kal- waren die Musikwettbewerbe eine zentraleuropäi- ten Krieg auf dem Gebiet der Kultur – 1948 läutete sche Erscheinung, die sowohl in den Ländern des die Ždanovščina eine Periode der verstärkten Propa- Westens (Frankreich, Deutschland, Österreich als gierung sowjetischer Kultur auch im Ausland ein, auch des Ostblocks (Polen, Tschechoslowakei) abge- und mit dem amerikanisch-sowjetischen Vertrag von halten wurden. Nationale, auf den Musikdiskurs be- 1958 wurde Tomoff zufolge der Kulturaustausch zogene und von der Konkurrenzsituation des Kalten beider Supermächte in geregelte Bahnen gelenkt. Kriegs bezogene Dynamiken spielten bei der Ein- Im ersten Kapitel betrachtet Tomoff, wie sowjeti- richtung und der Durchführung dieser Festivals glei- sche Politiker versuchten, den amerikanischen Ge- chermaßen eine Rolle. Besonders interessant ist der

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 42 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 polnische Fall mit dem Chopin-Wettbewerb, in dem bei geht es zunächst um die sowjetische Aneignung sich eine Spannung zwischen nationalen Ideen und des Konzepts und dann um die Umsetzung in Ansprüchen der staatssozialistischen Regierungen Form des Musikwettbewerbs in Moskau mit dem sowie der sowjetischen Kulturpolitiker auf der ande- spektakulären Sieg van Cliburns. Das folgende Ka- ren Seite auftat. Tomoff zeichnet an einem einzelnen pitel schließlich betrachtet die Entsendungen David Beispiel detailliert nach, wie sowjetische Kulturpoliti- Ojstrachs und Svjatoslav Richters vor dem Hinter- ker die Einladung ‚ihrer‘ Künstler“ organisierten und grund der Kulturpolitik und der herrschaftspoliti- versuchten, auf den Erfolg Einfluss zu nehmen – am schen Überlegungen der Sowjetunion, und das deutlichsten in Form unverhohlener Manipulation fünfte Kapitel macht deutlich, wie die westliche Fi- durch den polnischen Kulturminister Sokorski beim gur des Impresarios von den sowjetischen Kultur- Chopin-Wettbewerb. Leider bleibt unklar, nach wel- managern auf eine produktive Weise übernommen chen Kriterien jeweils bewertet wurde. In vielen Fäl- wurde. len konkurrierten nicht einfach Künstler aus dem Tomoff präsentiert die Sowjetunion also als Westen oder dem Osten, sondern Vertreter unter- durchaus erfolgreich im Wettbewerb der Super- schiedlicher musikalischer Schulen miteinander, so mächte auf dem Gebiet der klassischen Musik. dass es zu kurz gegriffen ist, die Ergebnisse lediglich Dass gerade diese Erfolge Gründe für das spätere als Folge des Ost-West-Wettkampfes zu erklären. Scheitern der Sowjetunion im Kalten Krieg gewe- Eine Jury beispielsweise, die auf Grundlage des Neo- sen sein sollen, wird aus Tomoffs kenntnisreichen klassizismus (der in der polnischen Komponistentra- Detailbeschreibungen selbst nicht deutlich. Seiner dition eine große Rolle spielte) urteilen würde, würde Ansicht nach tragen die Erfolge der Sowjetunion Pianisten der russischen Schule mit großer Wahr- deswegen den Kern des späteren Scheiterns dieser scheinlichkeit keine herausragenden Preise verleihen zweiten Großmacht in sich, da die Sowjetunion – also aus kunstimmanenten Gründen, die zunächst sich zum Erreichen dieser Erfolge auf die vom einmal mit dem Ost-West-Gegensatz nichts zu tun Westen geschaffenen und dominierten Strukturen haben. eingelassen habe. Um sein Argument zu verstehen, Die eigentliche Herausforderung für die sowjeti- muss der Interpretationsrahmen berücksichtigt schen Kulturpolitiker bestand darin, abzuschätzen, werden, den er in der Einleitung umreißt und in inwieweit die Zusammensetzung der Jury erste seiner Schlussbetrachtung wieder aufnimmt. To- Preise für sowjetische Künstler wahrscheinlich moffs These ist nämlich, dass der Erfolg der So- machte. Gerade in diesem Zusammenspiel von auf wjetunion auf kulturellem Gebiet zu einer Siegesge- die Musik bezogenen Kriterien und Vorgaben der wissheit auch auf ökonomischem Gebiet geführt Konkurrenzsituation des Kalten Kriegs liegt die habe, die sich in den folgenden Jahrzehnten bis Besonderheit des Funktionierens der Musik als zum Ende des Kalten Kriegs jedoch nicht bewahr- Feld propagandistischen Wettstreites. Leider deutet heitet habe. Tomoff diese musikalische Seite nur an. Diese These ist durchaus eine genauere Betrach- Außerdem zeigt dieses Kapitel, dass es sich hier tung wert – allerdings liefert Tomoff nicht das nöti- keineswegs nur um den Wettstreit zweier Imperien, ge Material, um diese These auch genauer zu testen. nämlich der USA und der Sowjetunion, handelte. So kenntnisreich sie sind, so konsequent beschrän- Darauf weist zum einen der Austragungsort der ken sich seine Detailuntersuchungen auf die er- Wettbewerbe in Ost- und Westeuropa und zum an- wähnten Fallbeispiele, und sowohl der Interpretati- deren die Herkunft der meisten Wettbewerbsteil- onsrahmen in der Einleitung als auch die Ausfüh- nehmer aus europäischen Staaten hin. Speziell im rungen der These am Schluss beruhen lediglich auf Fall der Chopin-Wettbewerbe kam neben den mu- Interpretationen der Sekundärliteratur. Tomoff sikalischen Kriterien nicht nur ein Ost-West-Sys- selbst stellt fest, dass die Frage, warum das sowjeti- temgegensatz, sondern auch der traditionelle pol- sche System zusammengebrochen sei, die Wissen- nisch-russische nationale Gegensatz zum Tragen, schaftler noch längere Zeit beschäftigen werde, so dass das Paradigma des Kalten Kriegs zwar ein spricht jedoch zugleich seitenweise von der Ge- wichtiges, aber sicher nicht das einzige Kriterium wissheit, dass es die ökonomische und konsumeri- ist, das zur Bewertung gerade dieses Festivals her- sche Unterlegenheit des Systems gewesen sei, die angezogen werden sollte. dafür verantwortlich gewesen sei. Die Verbindung In den Folgekapiteln berichtet Tomoff über das zwischen seinen empirischen Untersuchungen und sich entwickelnde System der Musikwettbewerbe, den allgemeinen Überlegungen zur Unterlegenheit das seinen Höhepunkt im Jahr 1958 erreichte: Da- des sowjetischen Systems verbindet er lediglich

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 43 durch einige Zitate Chruščevs, in der dieser die er- Erkenntnismöglichkeiten über die Funktion von wähnte Siegesgewissheit aufgrund der Erfolge in Musik im Kalten Krieg unnötigerweise ein: Musik der sowjetischen Kulturdiplomatie zum Ausdruck war im Kalten Krieg weit mehr als nur ein Mittel, bringt. den Kalten Krieg zu ‚gewinnen‘ (eine ohnehin pro- An diesem Punkt bleibt der Leser daher etwas blematische Metapher). Musik stellte gerade im Kal- ratlos zurück. Die zweifelsohne interessante These ten Krieg mit seiner Wettbewerbsstruktur eine Platt- wird zwar wortreich formuliert, aber nicht mit der form des wechselseitigen Austauschs dar. Gerade in gleichen Aufmerksamkeit ausgeführt, wie es nach seinen Detailuntersuchungen demonstrierte Tomoff der Archivarbeit des Autors zu seinen Fallbeispie- diesen Aspekt, freilich ohne dieses Phänomen als len eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Wesentli- solches zu kennzeichnen: Seine Fallbeispiele de- che Fragen bleiben offen: Welchen Stellenwert hat- monstrieren eindrücklich, dass der Wettstreit der Su- te Kulturdiplomatie nach 1958 für die Sowjetunion permächte zu einer Art gemeinsamem Vorgehen tatsächlich? Tomoff führt Jazz, Rock und Pop an, führte: Sowjetische Musikwettbewerbe wurden für und wiederholt gängige Thesen zur Wirkung dieser ihre Organisatoren als Mittel der Auslandskulturar- Musikstile auf das sowjetische System in Analogie beit erst durch eine US-amerikanische Beteiligung zur klassischen Musik, ohne jedoch darüber nach- wichtig, ebenso wie US-amerikanische Kulturpoliti- zudenken, ob diese Musikbereiche nicht möglicher- ker während des Kalten Kriegs nach Kräften dafür weise ganz anders funktionierten als der Bereich sorgten, ihre Kulturarbeit in die Sowjetunion hinein- der klassischen Musik. Wie sahen die ökonomi- zutragen. Diese gegenseitige Anwesenheit bewirkte schen Erfolge der Sowjetunion vor und nach 1958 im Endeffekt eine beidseitige Förderung des Musik- denn tatsächlich aus? Welche Wechselbeziehungen lebens, aber auch eine wesentliche Steigerung der zwischen ökonomischen Bedingungen und musika- Politisierung des Musiklebens. lischen Entwicklungen gab es in der Sowjetunion So positiv es ist, dass Tomoff die sowjetischen und wie wirkten sie sich auf die Systemstabilität Verhältnisse kenntnisreich und differenziert von in- aus? Ab wann und in welcher Form lässt sich ein nen heraus betrachtet, so sehr fehlt hier doch die Rückstand der Sowjetunion gegenüber den USA in Einbeziehung der anderen Seite. Wenn er etwa – zu ökonomischer, konsumerischer und technologi- Recht – darauf hinweist, dass die Klaviertechnik der scher Hinsicht erkennen, und wie ging diese Ent- „Russischen Schule“ den Kalten Krieg überdauert wicklung mit dem Verlauf der sowjetischen Kultur- habe, so ist darauf hinzuweisen, dass die Technik ja diplomatie einher? Die Antworten auf diese Fragen auch im Westen Einzug hielt und Anerkennung bleiben oberflächlich und gehen über das Referat fand. Der Kalte Krieg erwies sich hier als Katalysa- einzelner Thesen aus der Forschungsliteratur nicht tor für gemeinsame Entwicklungen, die ohne den hinaus. Systemgegensatz und ohne die daraus resultierende Tomoff liefert wichtige Detailuntersuchungen zur massive Förderung der Künste und der Musik so sowjetischen Musikdiplomatie in einer bestimmten nicht eingetreten wären. Es engt den Blick ein, hier Phase des Kalten Kriegs, übernimmt sich aber in der nur den Fehlschlag des sowjetischen Projekts zu be- Einordnung und der übergeordneten Interpretation tonen, sondern es wäre vielmehr sinnvoll gewesen, der Ereignisse. Die Betrachtung seiner These hätte die Entstehung einer Kultur des Kalten Kriegs aus- weitergehendes Archivstudium auch zu anderen findig zu machen. Liest man Tomoffs Studie mit Zeiträumen nötig gemacht, und zwar in Bereichen, Augenmerk auf Aspekte dieser Art, dann erlaubt die die weder mit Musik noch mit Kulturdiplomatie et- Detailfülle eine ganze Reihe interessanter Einsichten. was zu tun haben. Darüber hinaus engt die These die Rüdiger Ritter, Bremerhaven

TARIK CYRIL AMAR: The Paradox of Ukrainian dert hat. Durch die gewaltsamen Eingriffe in die Lviv. A Borderland City between Stalinists, Bevölkerungsstruktur und das Modernisierungspro- Nazis, and Nationalists. Ithaca, NY, London: jekt der Sowjetisierung wandelte sich L’viv im Zeit- Cornell University Press, 2015. XI, 356 S., 9 Abb. raum zwischen dem Ausbruch des Zweiten Welt- ISBN: 978-0-8014-5391-5. kriegs und den Nachkriegsjahrzehnten erstmals zu einer recht eigentlich ukrainischen Stadt – und dies Die Monographie von Tarik Amar behandelt einen nicht nur im demographischen Sinne. Demzufolge Abschnitt aus der Geschichte der Stadt L’viv/Lem- lautet die Hauptthese von Amar, dass erst das Zu- berg, in der sich deren Gesicht tiefgreifend verän- sammenspiel von demographischer Ukrainisierung

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 44 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 und Homogenisierung im Verbund mit der Sowjeti- nisch-polnischen und polnisch-deutschen Bezie- sierung und Industrialisierung unter Berücksichti- hungen in Lemberg während der Kriegsjahre. gung der lokalen Gegebenheiten aus L’viv jene Die Monographie entwickelt ihre Stärken in jenen Stadt gemacht habe, die sich bis in die post-sowjeti- Teilen, die die Sowjetisierung von L’viv seit dem sche Zeit von anderen Regionen der Ukraine ab- Sommer 1944 schildern. Hier stützt sich Amar be- hebt: „The intentional making of the local – in the sonders intensiv auf Archivquellen ab. Und es ge- form of a distinct but transitory type of not-yet-So- lingt ihm, die Atmosphäre der völligen Umwälzung vietized western borderland Ukrainian – had the nachzuzeichnen, die Lemberg in den Jahren nach unintended effect of shaping and solidifying a spe- dem Krieg geprägt haben muss. Da war erstens die cial and persistent Western Ukrainian identity […].“ mit der polnischen Volksrepublik vereinbarte (S. 19) Zwangsaussiedlung der polnischen Bevölkerung. Sie Amar lässt seine Untersuchung einem chronolo- beraubte Lemberg nach den Juden eines weiteren, gischen Faden folgen. Im ersten Kapitel zeichnet er für die Geschichte und Kultur der Stadt konstituti- die multikulturelle Geschichte Lembergs nach, die ven Elements. Für die zurückgekehrte Sowjetmacht bis ins Mittelalter zurückreicht. Es ist ihm ein An- jedoch mindestens so suspekt wie die Polen waren liegen zu unterstreichen, dass die Stadt bis zum die lokalen Ukrainer, die man des Nationalismus und Zweiten Weltkrieg trotz aller nationalen Spannun- der Kollaboration mit den Deutschen verdächtigte – gen einen multiethnischen Charakter bewahrte. ein Stereotyp, das sich bis heute hält. So waren es Die sowjetische Besetzung Lembergs in den Jah- Ukrainer und Russen aus dem Osten, die in großer ren 1939–1941 brachte den Zusammenstoß ver- Zahl und motiviert von den sowjetischen Behörden schiedener Kulturen. Die sowjetischen Eroberer in die Stadt zuzogen und wichtige Positionen in Par- der Stadt zerstörten das gesellschaftliche Gefüge tei, Politik, Wirtschaft und im Bildungswesen Lem- der Stadt: durch die Deportation verschiedener bergs – sowie den begehrten Wohnraum in der Stadt ‚feindlicher‘ Bevölkerungssegmente, die Liquidie- – mehrheitlich besetzten. Aus dem polnisch-jüdisch- rung privatwirtschaftlicher Strukturen, den Import ukrainischen Lemberg der Vorkriegszeit wurde neuer Eliten aus dem Osten der Ukraine und die durch den Krieg und die Nachkriegszeit das ukrai- Sowjetisierung von Kultur und Bildung. Während nisch-sowjetische L’vov. sie zumindest auf propagandistischer Ebene davon Eindrücklich zeichnet Amar die Sowjetisierung überzeugt waren, damit die zivilisatorische Rolle Lembergs nach, wie sie unter dem Primat der Indus- des Befreiers zu spielen, begegneten ihnen Lember- trialisierung vorangetrieben wurde. Begleitet wurde ger Polen, Juden, aber auch Ukrainer skeptisch und sie von der Kollektivierung der Landwirtschaft im in der Überzeugung, den sowjetischen Besatzern Umland. Beide Maßnahmen sollten auch der definiti- ganz im Gegenteil zivilisatorisch überlegen zu sein. ven Ausschaltung des ukrainischen Nationalismus Die erste sowjetische Besetzung Lembergs taste- dienen. Lemberg wandelte sich im Nachkriegsjahr- te allerdings den multiethnischen Charakter der zehnt von Grund auf. Es entwickelte sich zu einem Stadt nicht grundsätzlich an. Das deutsche Regime, Zentrum der sowjetischen Maschinen- und Kon- das sich im Sommer 1941 in Lemberg installierte, sumgüterindustrie. Die Migration aus dem Umland hob sich vom vorangehenden weder durch weniger in die Stadt, aber auch der massive Zuzug von Fach- Korruption der Kader noch durch bessere Organi- kräften aus dem sowjetischen Osten bildeten das sation ab. Auch die Deutschen – wie vor ihnen die Herzstück dieses Sowjetisierungsprojekts, das von ei- Sowjets – betrachteten die Stadt als einen Vorpos- nem brutalen Krieg gegen nationalistische „Bandi- ten für ihr Zivilisationsprojekt. Der fundamentale ten“ (S. 195) auf dem westukrainischen Dorf beglei- Unterschied gegenüber der sowjetischen Praxis be- tet wurde. Die Zugezogenen aus dem sowjetischen stand jedoch im Vernichtungsfeldzug, den die deut- Osten scheinen dabei in den Augen der Partei als schen Okkupanten gegenüber der jüdischen Bevöl- Avantgarde des Fortschritts noch lange Zeit gegen- kerung umsetzten. Die demographische Zusam- über den Lokalen, die man der bäuerlichen Rück- mensetzung verschob sich unwiederbringlich – und ständigkeit oder der Neigung zum Nationalismus zwar zugunsten der Ukrainer. Amar schildert in zieh, als das vertrauenswürdigere Bauelement des diesem Kapitel ausführlich die exterminatorische Sowjetstaates in der Westukraine eingestuft worden Judenverfolgung. Insbesondere geht er auch auf die zu sein. Kollaboration und Involvierung der Ukrainer mit Ein eigenes Kapitel widmet der Autor dem so- den deutschen Besatzern ein. Kaum weiter themati- wjetischen Kampf gegen die lokale „Intelligenz“ siert bleiben in diesem Kapitel allerdings die ukrai- und gegen den „Nationalismus“. Dabei war es ins-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 45 besondere Nikita Chruščev, der als Vertreter des Schwerpunkte, die Amar in seiner stadtgeschichtli- Kiewer Parteiapparates Maßnahmen gegen den chen Mikro-Studie setzt, sind zudem nicht immer westukrainischen Nationalismus empfahl, die mit einsichtig. Er scheint zuweilen bei den Akzenten den Deportationen und dem brutalen Vorgehen im mehr von den konsultierten parteioffiziellen Archi- Bandenkrieg auf dem Land manche Ähnlichkeiten vquellen getrieben als von einer durch eine Frage- mit dem Terrorregime der deutschen Besatzungs- stellung geleiteten Gesamtsicht. truppen während des Weltkriegs hatte. Letztendlich Letztlich kommt Amar in den Schlussfolgerungen blieb das Misstrauen gegenüber der ideologischen auch nicht wirklich weiter als bisherige Erklärungs- Verlässlichkeit der Westukrainer jedoch auch später ansätze, so wenn er schreibt, die spezielle Rolle, die noch bestehen. die Westukraine in den Jahrzehnten seit 1989 ge- Leider werden die ausgewerteten Archivbestände spielt habe, hänge mit der spezifischen Form der So- im Hinblick auf ihre Provenienz nirgends detailliert wjetisierung zusammen: „In the end, Lviv and Soviet aufgeschlüsselt. Dies ist eine Schwäche der Studie, western Ukraine did turn out to be special.“ (S. 322) da diese Tatsache es verunmöglicht, die inhaltliche Worin allerdings das Spezielle, zum Beispiel im Ver- Aussage einer Quelle kritisch zu bewerten. So gleich mit dem Westen von Belarus, bestand, wird scheint sich Amar vorwiegend auf Archivbestände nicht deutlich. Dies alles mindert jedoch nicht den von Staat und Partei abzustützen, was sicherlich ei- großen Wert dieser Lokalstudie zu Prozessen der So- ner gewissen Distanz bedürfte – und eben auch nur wjetisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. eine der möglichen Perspektivierungen darstellt. Die Christophe von Werdt, Bern

The Emergence of Ukraine. Self-Determination, of the German-language Die Ukraine zwischen Selbstbe- Occupation, and War in Ukraine, 1917–1922. Ed. stimmung und Fremdherrschaft 1917–1922 (Graz, 2011), by Wolfram Dornik / Georgiy Kasianov / “marks an important new stage of our work in this Hannes Leidinger / Peter Lieb / Alexei Miller / area”. Bogdan Musial / Vasyl Rasevych. Transl. from The Canadian Institute of Ukrainian Studies at the German by Gus Fagan. Edmonton, AB, the University of Alberta in Edmonton acted as the Toronto, ON: Canadian Institute of Ukrainian initiator of the English edition, and WOLFRAM Studies Press, 2015. XXX, 441 S., 7 Ktn., 5 Abb. DORNIK, Ph.D, from the Ludwig Boltzmann Insti- ISBN: 978-1-894865-40-1. tute for Research on War Consequences in Graz acted as the coordinator of the editorial project. He Contents: writes that the book had been the product of a two- http://media.obvsg.at/AC12693458-1001 year research project The 1918 Occupation of Ukraine by the Central Powers, implemented under the leader- World War I radically changed the geopolitical face ship of Stefan Karner at the Ludwig Boltzmann In- of Europe, destroyed political, economic and social stitute. structures that had existed for centuries. A number Subject of the collective research, as noted in the of new national states appeared on the ruins of the introductory article by WOLFRAM DORNIK, is the former powerful empires on the continent. The unexplored period of the occupation of Ukraine dur- Ukrainians were one of the oppressed people who ing the last year of the World War I, and along with fought for their independence and were divided in it the process of strengthening of the national iden- the early 20th century between two empires, the tity in societies of Central and Eastern Europe and Russian and Austro-Hungarian. its impact on political discourse, the system of inter- This scientific collection aims to show the layer- state relations in this part of the continent and the ing of the Ukrainian state building process and the resulting shift of frontiers (p. XV–XVI). The creation of the nation in 1917–1922 (p. 399). An in- chronological framework of the book covers the ternational team of seven historians from Austria years 1917–1922, although, in fact, these boundaries (Wolfram Dornik, Hannes Leidinger), Germany (Pe- are somewhat floating and extend in some para- ter Lieb), Poland (Bogdan Musial), Ukraine (Georgii graphs from 1914 to 1924 that is from the beginning Kasianov, Vasyl Rasevych) and Russia (Alexei Miller) or the First World War to the final approval of the wrote the book. In fact, this peer-reviewed collec- Bolshevik regime in Ukraine. tion, according to MARKO ROBERT STECH, the au- However, in the paragraph by ALEXEI MILLER, thor of the preface, a “slightly condensed version” the main presentation of the material on the Ukrain-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 46 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 ian national movement in general refers to the 19th following paragraph, WOLFRAM DORNIK thoroughly and early 20th century and to some degree is discor- reviews the major military operations on the Eastern dant with the outlined time frame of the study. front, the problems and challenges for the signato- The publication has a clear structure. The main ries of the peace treaty of Brest-Litovsk (March material of the book is grouped into four sections 1918). The author concludes that the Central Powers (with 13 articles): Eastern Europe between War and Revo- making a treaty with Bolshevik Russia opened a Pan- lution, 1914–1922 (2 articles), Ukrainian Efforts at dora’s box because in this case the Allies had to State-Building between Independence and Foreign Domina- wage war on their destruction (p. 83). And Ukraine, tion (2 articles), The German Empire and Austria-Hun- of course, occurred in the midst of those events gary as Occupiers of Ukraine in 1918 (4 articles), Ukraine fighting for its independence and balancing among in International Relation 1918 (5 articles). Looking the stronger players. Then WOLFRAM DORNIK and Ahead: A Comparison of the Occupation Regimes of 1918 PETER LIEB, considering the attitude of the Central and 1941–1944 and Concluding Observations is placed in Powers to Ukraine, noticed that at the initial stage of the final part. The supplement provides a list of over the war, Ukraine was outside of their interest. More- 20 funds used in archives of Austria, Great Britain, over, they considered that the Ukrainian issue was an Germany, Russia, Ukraine, Hungary, Czech Repub- internal affair of the Russian Empire. lic, France, Switzerland and the United States. This In the second section Ukrainian Efforts at State- fact clearly indicates the high scientific level of the Building between Independence and Foreign Domination book; nevertheless, two important funds of the Cen- GEORGIY KASIANOV analyzes the historical forma- tral State Archive of the Supreme Bodies of Power tion of “Ukrainian Revolution” as a complex of all and Government of Ukraine () remained out of events during 1917–1920 in the Ukrainian lands sight of the historians. This is the Fund of the Ger- (p. 76) and made his own retrospective review. In his man military mission in Ukraine and the Fund of the turn VASYL RASEVYCH considers the issues of state Imperial and Royal mission of Austria-Hungary in for Western Ukraine, the Ukrainian-Polish conflict Ukraine, which contains about 50 files with original in 1918 in Galicia, which each side considered as its mostly German-language documents. A solid selec- own territory. He drew attention to the strange fact tion of research literature, a list of abbreviations and that even after the proclamation of the West Ukrain- an index of geographic names is also given. And fi- ian People’s Republic Ukrainian officials were in no nally, there are informations about the authors. hurry to return from Vienna to Lviv (p. 148). In his introduction WOLFRAM DORNIK considers The third section, The German Empire and Austria- a key issue in determining the time frame of World Hungary as Occupiers of Ukraine in 1918, which is the War I, as it is impossible to define peace, which most crucial in the book, presents various compo- came as of “absence of war” because a number of nents of the occupation of Ukraine by Germany and local armed conflicts still took place (p. XVI). The Austria-Hungary. The attack of Austria-Hungary and historian reviews the available literature on the com- Germany after the signing of the Brest-Litovsk treaty plexity of the conceptual framework. Wolfram with Ukraine on February 9, 1918, the first peace Dornik emphasized that the collection highlights treaty in the Great War, the growing rivalry between mainly political and economic aspects of the occupa- the allies, which is especially evident in the attack on tion of Ukraine, whereas cultural and historical sub- Ukraine, military operations against the Bolsheviks, jects remained out of their attention. especially the activities of the occupational authori- The first section Eastern Europe between War and ties, the distribution of the spheres of influence, the Revolution, 1914–1922 is devoted to the main events interaction with the governments of the Ukrainian of the war in Eastern Europe, still after its ending, People’s Republic (January–April 1918) and the and to the attitude of the Central Powers to Ukraine. Ukrainian State of Hetman Pavlo Skoropadsky In the first paragraph, HANNES LEIDINGER rather (April–December 1918), the economic use of superficially outlines the main events in the Russian Ukrainian resources as a way of postponing the rev- Empire during 1917–1922: the revolutionary change, olutionary explosions in the empire are analyzed in the rise to power of the Bolsheviks and the further three sections by WOLFRAM DORNIK and PETER deployment of the civil war. He interprets the Febru- LIEB. The historians emphasized that officially ary Revolution of 1917 as a common revolt against Ukraine had the status of a friendly country and thus the monarchy (p. 3), while the Bolshevik coup in was not under the control of the German and Aus- October 1917 he calls “a coup” and nevertheless tro-Hungarian military authorities (p. 213). In fact, it uses the term “October Revolution” (p. 7). In the was, and Germany played the major role in the allied

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 47 occupation tandem (p. 225). Assessing the economic extent were ready to take the side of independent component of the occupation of Ukraine, the histo- Ukraine. This is evidenced by the policy of maneu- rians say: “Thus the economic policy of the Central vering of the Entente, which also kept contact with Power in Ukraine cannot be described as ‘exploita- the Bolshevik government (HANNES LEIDINGER). tion’, although such plans did exist, above all on the At the same time Ukraine and Poland were consid- Austro-Hungarian side, at the start of the occupa- ered by them as a cordon sanitaire between Europe tion. In sum, the term ‘utilization’ would be more and Bolshevik Russia. Poland managed to win and apporopriate here or, more exactly, ‘failed utiliza- defend its independence with the support of the tion’” (p. 278–279). VASYL RASEVYCH somewhat main political forces of the continent. Ukraine, simplistically presents the evolution of the attitude of which was seen as a source of raw materials, became the Ukrainian population to the German and Aus- part of a new political entity – the Soviet Union. tro-Hungarian troops, which initially were recog- In the final part, WOLFRAM DORNIK, GEORGIY nized as liberators from the Bolshevik band. KASIANOV, PETER LIEB try to compare thoroughly The fourth and largest, in terms of volume, sec- the German occupation administrations in 1918 and tion, Ukraine in International Relation 1918, like in a 1941–1944. kaleidoscope runs through the policy of imperial The book contains seven maps that show territo- Russia (ALEXEI MILLER), Bolshevik Russia (BOG- rial changes as a result of geopolitical games. One DAN MUSIAL), France (HANNES LEIDINGER), Great should also note the excellent printing quality of the Britain (WOLFRAM DORNIK), the United States of book making its reading, among other things, an aes- America (WOLFRAM DORNIK), Poland (BOGDAN thetic pleasure. MUSIAL) and Switzerland (WOLFRAM DORNIK, Thus, this international collection is a good exam- PETER LIEB) referring to Ukraine and its aspirations ple of how can be overcome national borders of re- to gain independence, to protect against the Bolshe- search. It presents different views on one problem, vik army, shows the change in priorities of the major goes beyond an historical norm. The reader in this diplomatic players in Ukraine, Bolshevik Russia and case only wins because he gets truthful and unbiased Poland. With his fundamental approach BOGDAN information, generated by the so-called “collective MUSIAL presents a triple occupation of Ukraine by intelligence” of historians from different parts of the the Bolsheviks, its “pacification” (p. 339) and the es- European continent. The history of Ukraine of that tablishment of communism in this part of Europe. period appears as the interplay between different In summarizing the historian notes: “The conse- causal factors, becoming part of transnational pro- quences of communist rule were catastrophic for cesses that unfolded in East Central Europe in the Ukraine and Ukrainians, in every respect” (p. 346). last year of the World War I. The researchers on a large source basis come to the Ljubov’ N. Žvanko, Char’kiv, Ukraine conclusion that Great Britain and France to some

White Spots – Black Spots. Difficult Matters in ate in 2004 a new national holiday (the Day of Na- Polish-Russian Relations, 1918–2008. Ed. by tional Unity) for 4 November in memory of the “lib- Adam Daniel Rotfeld / Anatoly V. Torkunov. eration of Moscow from Polish-Lithuanian in- Pittsburgh, PA: University of Pittsburgh Press, vaders” in 1612. Both Moscow and Warsaw take his- 2015. XI, 666 S. = Pitt Series in Russian and East tory seriously and disagree passionately with each European Studies. ISBN: 978-0-8229-4440-9. other in its interpretation. In this context, it appears admirable that Poles and Russians seek to under- Table of contents: stand each other better through dialogues. http://bvbr.bib-bvb.de:8991/exlibris/aleph/a22_1/ The present volume represents the result of a se- apache_media/SXG4NSNR813NS122N3RARSXH ries of “dialogues” between Polish and Russian his- UF3BQY.pdf torians from 2008 to 2010. The English edition is an abridged version of the Polish and Russian editions, Few historical subjects are as complicated and with two historiographical essays and all bibliograph- fraught emotionally and politically as Polish-Russian ical references removed. Unfortunately this reduces relations. In the modern era, Poland has been a vic- the scholarly value of the present volume. Specialists tim of Russian and Soviet aggression. One of Mos- are encouraged to consult the original Polish and cow’s unfortunate responses to this has been to cre- Russian editions. The Polish and Russian editions

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 48 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 are supposed to be identical (except for the order of muddy the water. NIKOLAI I. BUKHARIN argues in the essays). Yet disturbingly, as will be discussed this book, following Putin, that today’s Russia “can- later, this is not the case. The present English edition not accept all the sins of the Soviet past” (p. 610). seems to be based on the Polish version. There are Yet the Russian side appropriates “Soviet” as “Rus- fifteen sections (in addition to the editors’ introduc- sian” when it suits it. For example, Moscow has long tion) with the two sides contributing different essays pointed to the Polish treatment of the Soviet POWs for each: The Beginnings, The Interwar Period, The Cause from the Polish-Soviet War of 1919–1920 as the of World War II, Poland between the Soviet Union and Ger- Polish equivalent of the Katyn’ massacres. many, 1939–1941, The Katyn Massacre, World War II, GENNADY F. MATVEYEV mysteriously inflates the 1941–1945, The Postwar Decade, 1945–1955, The Thaw, number of deaths in the Polish camps so that it ex- The Dissident Movement, The Soviets and the Polish Crisis, ceeds the number of Soviet executions of Poles in Regained Freedom and Sovereignty, Assistance or Exploita- 1940 (p. 57). This is not merely unfair, because the tion?, Russia versus Sovereign Poland, Continuity and deaths of Soviet POWs in Polish camps (like the Change and Heritage in Archives. deaths of Polish POWs in Soviet camps during the Although many essays make for a good read, the same period) were due mainly to epidemics, malnu- book does not constitute dialogues. Rather it is a trition, and other factors. They are simply not com- parallel history. The reader gets no idea of what kind parable to the Katyn’ massacres, which were execu- of discussion might have taken place in the “dia- tions by the order of the highest organs of the gov- logues”. There are several reasons for this. The “dia- ernment. This sort of deliberate manipulation of his- logues” were initiated and organized by an inter-gov- torical facts does not lead to a meaningful dialogue ernmental organization, “The Group on Difficult and only deepens distrust. Matters in the Light of Polish-Russian history”, Far more disturbingly, as the Polish historian whose true purpose may lie elsewhere. Although the ANDRZEJ NOWAK has pointed out (see group worked in search of the truth, the truth http:/www.miesiecznik.znak.com.pl/6732011andrzej- proved evasive. The editors quote the then Russian de-lazari-andrzej-nowakpolska-ros ja - trudny-dialog/ ), prime minister Vladimir Putin’s famous saying, the Russian side deliberately altered the text of one “Truth purifies [Pravda ochishchaet]” (p. 1), which, un- contributor, ANDRZEJ PRZEWOŹNIK. He wrote fortunately, sounds hollow in this book. As the two about Moscow’s limited efforts to seek the truth essays on archives make clear, Moscow still severely about Katyn’: “Yet, it was the arbitrary legal qualifi- restricts access to its archives and hence truth. More- cation of the crime adopted by the Russian military over, Moscow refuses to return “trophy archives” prosecutors – divorced from morality and justice – from World War II (including archives from Poland) that has caused the greatest pain to Poles. That deci- to their original owners, a position in contravention sion has evoked impatience and irritation in Poland, of the international agreements to which Moscow is as it is fully congruent with efforts to conceal and a signatory. Ignoring international law, VLADIMIR P. falsify the truth about the Katyn murders, and it has KOZLOV states that the issue will be resolved “in ac- been undertaken since 1990 by historians and writers cordance with Russian law” (p. 640). In fact, Mos- connected with the ruling circles of the Russian Fed- cow allows its favorite historians exclusive access to eration” (p. 245 of the present book and p. 332 of its closed archives (the archive of foreign intelli- the Polish edition). The Russian edition replaces the gence, for instance) and publishes their “research” to last two words (“Russian Federation”) with “Repub- suit its foreign policy. Ironically, such a publication lic of Poland” (p. 335 of the Russian edition), alter- appeared in Russia during Putin’s visit to Poland on ing the meaning completely! Who changed Przewoź- 1 September 2009 (that is during the work of the nik’s text? The Russian editor Torkunov? This ques- “Group on Difficult Matters in the Light of Polish- tion should be pressed to the Russian side. Przewoź- Russian history”) which purported to show that nik was killed in the plane crash in Smolensk in April Poland was responsible for World War II for al- 2010 along with the President of Poland and many legedly conspiring with Germany against the Soviet other Polish high officials. Someone on the Russian Union! side appears to have taken advantage of his death Conceptually, the volume leaves much to be de- and deliberately altered his text with impunity, cal- sired. Most importantly, the period under question lously dishonoring the dead author. Here one can concerns mostly not Russia but the Soviet Union. hardly see any room for a sincere dialogue. Unfortunately, obscuring the difference between the By contrast, NATALIA S. LEBEDEVA, a Russian Soviet Union and Russia helps the Russian side historian who has contributed a great deal to the

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 49 search for truth on Katyn’, has written a very read- command” (p. 304). The overwhelming bias of her able essay on it, forcefully condemning her compa- essay and many other Russian essays is that of the triots who still insist on the Kremlin’s innocence by Great Power to which smaller nations are inevitably claiming that the Katyn-related documents un- and rightly subject. They lament the perceived weak- earthed by her and other historians are forgeries. ness of today’s Russia in the wake of the collapse of The book as a whole clearly demonstrates that the the Soviet Union, as Bukharin has written: “although Russian side is on the defensive. It need not have the Soviet Union disappeared, russophobia outside been so, if it had indeed wished to engage in a dia- of Russia grew larger in scale, amplified by the rela- logue. The Russian participants as a whole appear so tive weakness of present-day Russia” (p. 613). concerned about their reputations and righteousness By contrast, the tone of the Polish contributions that they are more interested in finding other culprits is generally fair and sober and even restrained here than seeking the truth. Writing on the World War II and there. This makes the present volume extremely period, VALENTINA S. PARSADANOVA, for example, uneven, and the result is far from fruitful. It would rightly notes that Britain and the United States ulti- appear difficult to change this state of affairs without mately accepted Moscow’s subjugation of Poland. some kind of breakthrough. One of the most impor- She does not realize that this does not lessen Mos- tant steps would be for Moscow to de-classify all cow’s responsibility. Moreover, discussing the War- classified documents after, say, fifty years, and make saw uprising, she insists incredulously that “the main them available to everyone. Until then, suspicions responsibility for the deaths of two hundred thou- linger that Moscow continues to hide vital informa- sand people in Warsaw rests on those Polish politi- tion unfavorable to itself, making a true dialogue dif- cians who masterminded the uprising and urged ficult. Poles to fight without coordination with the Soviet Hiroaki Kuromiya, Dover, MA

ZWI HELMUT STEINITZ: Meine deutsch-jüdi- Steinitz’ aus Oberschlesien stammender Vater war sche Kindheit im polnischen Posen. Erinnerun- ein Lehrer am deutschen Gymnasium in Posen. Sei- gen eines Überlebenden und ein Wiedersehen ne beiden Söhne, Helmut und Rudolf, gehörten dort nach 70 Jahren. 1927 – 1939 – 2009. Ed. by Er- zu den wenigen jüdischen Schülern, denn die meis- hard Roy Wiehn. Konstanz: Hartung-Gorre, ten jüdischen Kinder besuchten entweder die einzige 2015. 168 S., Abb. = Edition Shoáh & Judaica – jüdische Schule am Ort oder aber polnische Schulen. Jewish Studies. ISBN: 978-3-86628-548-4. Der Vater, Freiwilliger im Ersten Weltkrieg, wurde nach dem Aufstieg der Nazis in Deutschland im Jahr Das hier besprochene Buch ist aus einer deutsch-is- 1936 zwar entlassen, bekam allerdings sogar über raelischen privaten Versöhnungsinitiative entstan- den Kriegsanfang hinaus regelmäßig seine Kriegsteil- den. Den Erinnerungen ist ein kurzer Lebenslauf nehmerpension. Er wurde von seinem Vorgesetzten von Zwi Helmut Steinitz aus der Feder von Erhard kurz nach dem Kriegsausbruch solange vor der Sol- Roy Wiehn vorgestellt. datenwillkür geschützt, wie dies möglich war. Die Zwi Helmut Steinitz (geb. 1927) hatte über sein Kinder wurden erst nach der Machtübernahme von Überleben in der Shoah schon in mehreren Publika- ihren deutschen Mitschülern ausgeschlossen und an- tionen berichtet. Im neusten Buch erinnert er sich gefeindet. Allerdings konnten jüdische Schüler wei- nostalgisch und wehmütig an sein kurzes Kinderpa- terhin ihre Ausbildung an der deutschen Schule fort- radies im Vorkriegs-Posen. Das Buch wird aus Mo- setzen; es gab sogar jüdischen Religionsunterricht saiksteinchen des Erinnerten gebaut, die sich manch- (S. 63). mal wiederholen und zu keinem einheitlichen Pan- Anders als der deutsch-nationale Vater entstamm- orama zusammenfügen – die stark eingeschränkte te Steinitz’ Mutter einer jiddisch sprechenden ortho- Perspektive des Kindes ließ keine breite Kontextua- doxen Familie, die erst nach dem Ersten Weltkrieg lisierung zu. Steinitzs Bericht ist eines der wenigen aus dem östlichen Teil Polens nach Posen zugewan- Zeugnisse eines deutschen Juden, der in der nun- dert war. Die Mutter hatte sich, mit den Worten des mehr polnischen Stadt geboren und eingeschult wur- Autors, „vom traditionellen jüdischen Lebensweg de. Während inzwischen mehrere Berichte von pol- entfernt, absolvierte das Gymnasium und machte nisch-jüdischen Posenern bekannt sind, bleibt das Abitur“ (S. 22). Sie musste Deutsch erst lernen und deutsch-jüdische Milieu in der Zwischenkriegszeit konnte sich durch harte Akkulturationsarbeit zu ei- weiterhin fast unbekannt. ner beliebten Persönlichkeit der deutschen community

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 50 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 in Posen empor arbeiten. Die Familie genoss einen men in diesem Buch eigentlich nur in Person des bescheidenen sozialen Aufstieg, der sich in entspre- gutmütigen Kindermädchens Viktoria und des Kin- chendem Wohnungswechsel und bürgerlichem Ha- derarztes vor. Steinitz berichtet vom Antisemitis- bitus widerspiegelte. Der Autor beschreibt Lektüren, mus, vor allem unter polnischen Studenten und Hausmusik, Freizeitvergnügen und Sommerfrische. von der verhängnisvollen Rolle der katholischen Mehrmals erinnert er den Vater, der seiner Familie Kirche (S. 71–72, 74). aus eigenen Frontbriefen vorlas oder aber von Im zweiten Teil geht der Verfasser auf seine Kriegserlebnissen erzählte. Da die Familie fast voll- Kriegs- und Gefangenschaftserlebnisse ein. Knapp kommen säkularisiert war, erfahren wir wenig über erwähnt er sein Leben in Israel und in den Nieder- ihr religiöses Leben; nur über Pessachbrot und weni- landen. Das Buch endet mit der Reise des Autors ge Besuche in der Synagoge verliert der Verfasser nach Posen im Jahr 2009, die von einem polnischen knappe Worte (S. 90). Außer der Schule erwähnt er Team begleitet wurde. Während dieser bewegenden nur einen Ort der Begegnung des jüdisch-deutschen Reise in die Vergangenheit, die allerdings vollkom- Stadtmilieus: die Konditorei Hirschlick (S. 94–95). men von der Gegenwart überschattet schien, ergab Sehr interessant erinnert sich Steinitz an die Hilfsak- sich auch ein Besuch in der alten Wohnung. Das tion für die aus Deutschland ausgesiedelten „polni- Buch runden Photos ab, die u. a. eine Begegnung schen Juden“ im Jahr 1938 (S. 107–110). Er skizziert mit Joachim Gauck in Jerusalem 2012 und mit die Flucht aus Posen nach dem Kriegsausbruch, die Frank-Walter Steinmeier im ehemaligen KZ Sach- den Kindern die erste Begegnung mit den „Ostju- senhausen im Jahr 2015, sowie auch die Verleihung den“ bescherte. des Bundesverdienstkreuzes an Zwi Helmut Steinitz Über die Nachbarschaft der Polen wird im Buch dokumentieren. wenig berichtet, obwohl sowohl die Mutter als auch Hanna Kozińska-Witt, Rostock die beiden Jungs Polnisch sprachen. Polen kom-

Gedächtnis und Gewalt. Nationale und transna- zwungenen Diktatur“ wird ebenso intensiv nach tionale Erinnerungsräume im östlichen Europa. außen transliert, um das gewünschte symbolische Hrsg. von Kerstin Schoor / Stefanie Schüler- Kapital im politischen Raum der EU zu gewinnen. Springorum. Göttingen: Wallstein, 2016. 287 S., Andererseits hat der rasche Eintritt der osteuropäi- 9 Abb. ISBN: 978-3-8353-1790-1. schen Länder in die Europäische Gemeinschaft die memorialen Diskrepanzen, die die Bildung der er- Inhaltsverzeichnis: sehnten europäischen Identität verhindern, eher https://d-nb.info/1079612912/04 verstärkt als gelöst. Den Redaktoren des Sammelbandes ist es leider Der Sammelband geht auf eine Tagung zurück, die nicht gelungen, die thematisch, methodologisch, 2013 in Frankfurt an der Oder stattfand. Er bein- konzeptionell heterogenen Beiträge in ein Gleich- haltet wissenschaftliche Reflektionen einer (sowohl gewicht zu bringen: Das Fehlen einer thematischen thematisch als auch methodologisch) ziemlich hete- Gliederung, eine unklare Logik der Textfolge lassen rogenen Gruppe von Wissenschaftlern: Histori- beim Leser den Eindruck eines Haufens isolierter kern, Literaturwissenschaftlern, Kulturologen und Texte entstehen, die teilweise nur einen literari- Museumspädagogen. Die Autoren thematisieren die schen Digest sekundärer Werke darstellen, um of- Spezifik der Erinnerungsräume zu Gewalt in Ost- fensichtlich das deutschsprachige Publikum mit den europa und die Kompatibilität dort entstandener aktuellen literarischen und wissenschaftlichen Ver- Deutungsmuster mit der imaginierten europäischen öffentlichungen in den osteuropäischen Ländern Identität. Alle sind sich einig, dass in den osteuro- bekanntzumachen. Auch die Dualität der Begriffe päischen Ländern die Erinnerung an die kommu- „Gedächtnis“ und „Gewalt“ im Titel des Sammel- nistischen Diktaturen neben dem Gedächtnis an bandes (wobei auch die Reihenfolge der Begriffe ei- den Zweiten Weltkrieg eine integrative Grundlage nige Fragen offenlässt) wurde nicht zum Kern des der postsowjetischen Metaerzählung darstellt. Mit Bandes. derer Hilfe wird versucht, die internen politischen Die Autoren verstehen die Erinnerung an den Konflikte zu lösen, Opfer- und Täterdiskurse aus- Zweiten Weltkrieg und den Holocaust als Grund- zugleichen, nationale bzw. soziale Gruppen zu ver- steine des modernen europäischen Erinnerungs- söhnen. Das „Opferbild einer von außen aufge- konsens und betrachten ihre Spezifik in diversen

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 51 geographisch-politischen Räumen sowie in ver- er dabei durch den Vintage-Chic der Gegenstände schiedenen medialen Milieus: in der Literatur, in zu bezaubern. den Museen (Gedenkstätten) und in der öffentli- W. KAISER betont in seinem Beitrag eine scho- chen Kommunikation einzelner Länder. ckierende Kluft zwischen den tatsächlichen Die Viktimisierung unterschiedlicher Bevölke- menschlichen Verlusten und der Zahl von einge- rungsgruppen (Juden, Zivilbevölkerung, Frauen, richteten Gedenkstätten im postsowjetischen Raum Kriegsveteranen) in der modernen Literatur wird sowie Unterschiede in der Memorialisierung des von einer ganzen Reihe von Autoren thematisiert: Holocaust in den ehemaligen Sowjetrepubliken bis CHR. DIETRICH, I. VON DER LUEHE, A. MICHA- hin zu seinem Verschweigen in der heutigen Ukrai- ELIS, S. BURMISTR, J. KALAZNY. Die Autoren be- ne. Andererseits erregen auch das emotionale Auf- schreiben detailliert das reiche Spektrum möglicher heizen und eine überflüssige Interaktivität der Aus- Umgangsweisen mit der Erinnerung an die Gewalt: stellungen in manchen (west-)europäischen Museen von der Auswahl des Themas, wenn es in einem die heftige Kritik des Autors. Eine Lösung, könnte, Land verschwiegen wird, bis hin zu Anspielungen so Kaiser, die Umsetzung der internationalen Stan- an der Pop-Kultur und zur Provokation des Publi- dards der Vergangenheitsverarbeitung in den Ge- kums. Dabei wird versucht, die Möglichkeiten und denkstätten sein. Grenzen der verbalen Sprache bei der Beschrei- Die Strategien des von oben vorgeschriebenen bung einer solchen komplizierten und emotional Vergessens der Erinnerung an die Gewalt in der beladenen Thematik aufzuzeigen. heutigen Ukraine sind das Thema von G. ROSSO- Forschungsgegenstand von W. BENECKE, M. LINSKI-LIEBE und F. BECHTEL. Rossolinski-Liebe KUCIA, W. SCHMITZ, F. WETZEL und W. KAISER meint, dass das unerklärliche Verschweigen von sind die Musealisierungspraktiken der Gewalterfah- wissenschaftlich belegten Fakten der Vernichtung rungen des „extremen Jahrhunderts“. So betrachtet der jüdischen Bevölkerung durch ukrainische Kol- M. KUCIA die symbolische Bedeutung von Au- laborateure der Bildung „demokratischer und schwitz in der polnischen Erinnerungskultur zu un- selbstreflektierender Gemeinschaften“ im Wege terschiedlichen Zeitpunkten und stellt die Abhän- stehe. Bechtel seinerseits analysiert komplexe Me- gigkeit der Erinnerungskonstrukte von einem do- chanismen der Ausformung und Unterstützung des minierenden Deutungsmodus (national-polnisch, „alltäglichen Faschismus“ in den westlichen Gebie- jüdisch usw.) fest. Die Aufnahme eines Erinne- ten der heutigen Ukraine: die Verneinung der mul- rungsortes der Massenvernichtung ins UNESCO- tikulturellen Vergangenheit zugunsten des Mythos Erbe in einer Reihe mit den größten Werken der von der homogenen ukrainische Nation, die Heroi- menschlichen Schöpfung, was an sich schon ein be- sierung von ukrainischen Nationalisten, die Versu- merkenswertes Phänomen ist, hat jedoch weder zur che, durch das Umbenennen von Militärabteilun- Verwandlung von Auschwitz in ein Holocaustsym- gen ex post-facto deren Teilnahme an antijüdischen bol in Polen noch zur gleichen Ehrung aller Kriegs- Pogromen zu vertuschen. Der Autor meint, dass opfer geführt (im bestehenden Pantheon werden diese Politik der postsowjetischen Regierungen der Sinti und Roma, sowjetische Kriegsgefangene und Ukraine in entscheidendem Maße zur Spaltung des Homosexuelle marginalisiert). Wegweisend in die- Landes geführt hat, da im östlichen Teil des Landes sem thematischen Feld ist der Beitrag von W. ein anderer Erinnerungsmodus herrsche. Bechtel SCHMITZ, der die auffallend unterschiedlichen Mar- ruft daher die europäische Öffentlichkeit auf zu ketingstrategien für zwei Teile der Vergangenheit verstehen, dass die Entwicklung solcher komme- von Terezín/Theresienstadt analysiert. Als Aus- morativer Praktiken durch die ukrainische Regie- gangspunkt nimmt der Autor eine kurze historische rung nicht nur die „imperialistische Politik von Pu- Übersicht der Entstehung und Transformation der tin“ im Osten des Landes begünstigt, sondern auch klassischen Barockräume und des beispielhaften die Durchsetzung europäischer kommemorativer Vernichtungslagers. Dies dient ihm als Grundlage Werte verhindert. Dass die heutige ukrainische Re- einer konzeptionellen Analyse der Musealisierungs- gierung diese akzeptiert, bezeichnet Bechtel als eine probleme von materiellen Artefakten des Holo- verbindliche „Eintrittskarte für Europa“. caust selbst: die Gefahr eines kompletten Verlustes Die Autoren und Redakteure haben zwar die (im Fall der Nichtrestaurierung) oder des Verlustes Zerstreutheit der nationalen Erinnerungsräume der der Authentizität (im Fall von Restaurierungsarbei- Gewalt in den Ländern Osteuropas anschaulich be- ten); die Notwendigkeit, durch Artefakte eine schrieben, sie haben jedoch die im Titel angedeute- menschliche Tragödie zu zeigen, ohne die Zuschau- te transnationale Dimension dieser Räume prak-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg 52 Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 tisch außer Acht gelassen. An dieser Stelle sollte die umfassenden Übersichten schon reichlich diskutiert Notwendigkeit der Präzisierung des terminologi- worden ist, so sollte die Anwendung des transnatio- schen Apparats und des methodologischen Instru- nalen Ansatzes im Bezug auf die Gewalt zusätzlich mentariums noch einmal betont werden: Wenn die erklärt werden. transnationale Dimension der Erinnerung als For- Oksana Nagornaja, Čeljabinsk schungsgegenstand in mehreren Fallstudien und

Eastern European Youth Cultures in a Global tions of post-socialist youth life trajectories in East- Context. Ed. by Matthias Schwartz / Heike ern Europe (both on macro and micro levels), and Winkel. Houndmills, Basingstoke: Palgrave analysis of the influence of cultural trauma caused Macmillan, 2016. XII, 374 S., 3 Abb. ISBN: 978- by the wars and other dramatic events based on 1-137-38512-3. post-Yugoslavian and modern Ukrainian cases. In the second part of the volume, the authors explore Youth studies seem to be one of the most popular different forms and functions of popular youth cul- and highly developed areas of generation history, tures in the post-socialist realm and their connec- especially when contrasted with other areas, such as tions with both global trends and former under- children studies, which, in spite of the efforts of ground dissident subcultures, such as Czech hip- numerous researchers, have only recently managed hop and rap subcultures, Polish football fanatics ar- to occupy a mainstream position in historiography. chipelago, and some others. The third part is devoted Nevertheless, the reviewed book is of great impor- to the ways and manners of youth engagement in tance for understanding the experience of young political activism in extraordinary times with special people in a global context and for further investiga- attention paid to youth mobilization in contempo- tions in this significant field of research. It exam- rary Russia and Ukrainian Euromaidan. The fourth ines a wide range of problems concerning the ac- part concerns everyday youth practices, such as tak- tual role of youth in modern society not only in ing part in volunteer youth militias, using Internet Eastern Europe, as mentioned in the title of the or other new media technologies, and walking (gu- book, but all over the world. lianiia) as unique ways of youth self-representation The volume consists of an introduction and and self-mobilization beyond direct involvement in eighteen chapters divided into four parts. The edi- political movements. tors’ introduction is of great theoretical value. Be- While analyzing social activities and everyday sides the attempt to redefine the term “Eastern Eu- youth practices in post-Soviet Russia and former rope” from a contemporary point of view as a Soviet Ukraine, Lithuania and Kyrgyzstan, post-Yu- unique political, economic and socio-cultural region goslavian Serbia and the Czech Republic, modern influenced by internal (post-socialist) and external Poland and even East Germany, it becomes clear (global) factors, MATTHIAS SCHWARTZ and HEIKE that the diversity of youth statuses and experiences WINKEL try to rethink and explore the notion of in different post-socialist states is substantial. It is youth itself. They question the widespread, but true that the collapse of socialism, the development rather simplified, understanding of youth based on of the market economy and globalization totally social status (a limited transitional chapter of life transformed Eastern European youth cultures. The between the end of school education and the be- transitional age period of “youth” coincides here ginning of steady employment) and assert that in with a transitional period in economics, politics, so- times of radical global change “life trajectories be- cial stratification and culture. Such “overlaying” is come increasingly complex” (p. 4). This is espe- not new historically: it is possible to compare it cially important for post-socialist Eastern Europe with the aftermath of the 1917 Russian Revolution, because of its heterogeneity and the multiplicity of for example. It used to be believed that “revolu- developmental paths chosen by Eastern European tionary” Russian youth and even children were the societies. main forces and power in confronting the “old All articles in the volume confirm this statement. world” and in the creation of a new society, as well The first part of the book explores youth as a po- as the main bearers of Soviet socialist ideas, ideals, tential and as a real agent of change. It includes a and hopes (indeed, Soviet power tried to convince historical survey on the representations of child- itself of this). However, it was not so in reality, es- hood and youth in Soviet propaganda, examina- pecially concerning the transitional 1920s – the so-

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. jgo.e-reviews 7 (2017), 4 53 called Soviet “quicksand society”. The same differ- Crimea to Russia authored by 14-year old teenagers entiation of youth we can trace in modern Eastern with texts written by a 25-year old men (they are all Europe as well. identified as “young users”) (p. 294). Excessive The book’s major conclusion is the following: generalization of the Soviet and post-Soviet genera- generational change in Eastern Europe “has lost its tion’s memory takes place in the chapter concern- conflictive, confrontational potential”, and “has be- ing youth cultures in contemporary Russia (p. 261). come a fluid, partly ‘accelerated’, partly ‘melan- Russian youth appear to be the main subject of cholic’ transitory stage without a specific goal or the book – it is examined in nine chapters out of point of reference”. Instead, Eastern European 18. Among the best studies included in the volume youth long only for conformity and solidarity, is a close examination of the modern Russian youth adopting “quite mainstream conservative views or via the literary reflections of rebellious behaviors conventional globalised life style” (p. 16). Some of and marginalized movements undertaken by the authors are even sure that a new transformative MATTHIAS MEINDL. Comparing Zakhar Prilepin’s political generation is likely to appear not in the novel San’kia (2006), well known among the so- European East, but in the West (p. 61). Even if it is called “advanced” Russian youth (2006), with the so, such a thesis requires more explanation of the famous revolutionary manifesto of Maxim Gor’kii’s methodological framework of study. The difficulty novel The Mother (1906), he argues that Prilepin’s of hermeneutic reading and interpretation of the fiction does not simply propagate rebellion, but verbal and non-verbal youth texts with their hid- also calls into question whether revolution is at all den, latent information is evident, especially when feasible or desirable. “interpreters” belong to other, elder generations, The minor criticism notwithstanding, this book being “outsiders” towards the youth culture in this is highly recommended for reading. It provides way. Taking into account the interdisciplinary char- scholars with unique material. It gives food for acter of the whole project, it is a pity that the ma- thought. The target audiences consists not only of jority of authors say nothing about their research scholars in the field, but all interested in youth cul- methodologies. Moreover, it is necessary to take ture and those who interact with the youth on a into account some questionable approaches to frequent basis, such as teachers in both secondary youth texts. For example, it is hardly right to com- and higher education. pare the Runet texts concerning the accession of Alla A. Sal’nikova, Kazan’

Hrsg: Martin Schulze Wessel u. Dietmar Neutatz i. A. des Instituts für Ost- und Südosteuropaforschung Regensburg