FREIBURGER RUNDBRIEF Beiträge zur christlich-jüdischen Begegnung

Aus dem Inhalt Papst Johannes Paul II.: Zwei Ansprachen: An die Delegierten der Bischofskonferenzen für die Beziehungen zum Judentum, 6. 3. 1982 Bei der ökumenischen Begegnung mit Vertretern der christlichen, islamischen und jüdischen Bekenntnisse, 14. 5. 1982 Kardinal-Bea-Symposion im Vatikan anlässlich seines 100. Geburtstags: Ansprache von Papst Johannes Paul II. Gerhart Riegner (Jüdischer Weltkongress): Kardinal Bea und die Religionsfreiheit Leitlinien zum christlich-jüdischen Dialog. Ökumenischer Rat der Kirchen, -Colney, 26. 6. 1981 Institut für Jüdisch-Christliche Forschung in Luzern (22. 10. 1981) Msgr. Jean-Marie Lustiger, : Ansprache im Martin-Buber-Haus, Heppenheim, 30. 6. 1981 Zum Tode von Gershom Scholem Michael Wyschogrod: Ein neues Stadium im jüdisch-christlichen Dialog Vor 40 Jahren: »Endlösung der Judenfrage«. Staatssekretärs-Konferenz am Berliner Wannsee, 20. 1. 1942 Israel: Zwei dokumentarische Berichte (Frühjahr 1982) Juden und Christen auf dem 19. Deutschen Evang. Kirchentag in Hamburg, 17.-21. 6. 1981 Altenwohnheim für NS-verfolgte Christen in Israel (Nahariyya)

nanu Dokumente des heutigen religiösen Denkens und Forschens in Israel. Hebräische Veröffentlichungen aus Israel in deutscher Übersetzung X/ 1982. Hrsg. : Ökumenisch-Theologische Forschungsgemeinschaft in Israel und Freiburger Rundbrief

Nach Redaktionsschluss: Johannes Paul II.: Nach dem Angelusgebet, 10. Oktober 1982

Jahrgang XXXIV 1982 Nummer 129/132

Postverlagsort Freiburg i. Br. Nach Redaktionsschluss Zu unserem grossen Bedauern können kirchliche Reaktionen auf den Libanon-Krieg in dieser Jahresfolge keinen Raum mehr finden. Diese und andere Reaktionen, auch auf unser unten angeführtes Schreiben***, folgen in der Jahresfolge XXXV/1983*. Auch wir haben protestiert***. Dem >L'Osservatore Romano<, Wochenausgabe in deutscher Sprache (12/42), Vatikanstadt, 15. 10. 1982, entnehmen wir folgende Reaktion:

Johannes Paul II. nach dem Angelusgebet nach der Heiligsprechungsfeier von Maximilian Kolbe am 10. Oktober 1982 In italienischer Sprache fuhr der Papst fort: Die heutige Heiligsprechungsfeier legt uns nahe, auch an die vielen anderen Menschenleben zu denken, die sich im Zweiten Weltkrieg dem selbstlosen Dienst am Nächsten, vor allem am er- niedrigten, leidenden und bedürftigen Bruder opferten. Zu ihnen gehört auch Janusz Korczak""-, der polnische Pädagoge jüdischer Abkunft, der im August 1942 in einem Vernich- tungslager bewusst den Tod auf sich nahm zusammen mit einer Gruppe jüdischer Waisen- kinder, die er im Ghetto von Warschau betreut hatte. Das tragische Schicksal so vieler Juden, die erbarmungslos in den Konzentrationslagern umge- bracht wurden, hat schon die klare und unwiderrufliche Verurteilung durch das Gewissen der Menschheit erfahren. Aber leider wiederholen sich auch in unserer Zeit verbrecherische Ausbrü- che von antisemitischem Hass. Mit tief betrübtem Herzen denke ich an das jüdische Kind, das gestern hier in Rom sein Leben verloren hat, und an die anderen bei dem ruchlosen Attentat an der Synagoge verletzten Personen. In Erneuerung meines lebhaften Bedauerns über diesen schauerlichen terroristischen Akt emp- fehle ich dieses unschuldige Opfer dem barmherzigen Gott und bitte ihn um Trost für die Eltern und Verwandten sowie um Genesung für die Verletzten. Ich drücke der ganzen jüdi- schen Gemeinde von Rom meine tiefempfundene Solidarität aus.

Vgl. dazu auch u. S. 2. Der polnische Jude, Arzt, Pädagoge und Schriftsteller Dr. Henryk Goldszmit, mit dem Pseudonym janusz Korczak, wurde 1972 posthum mit dem Friedenspreis des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Korczak wurde am 22. 7. 1878 oder 1879 in der assimilierten Familie eines jüdischen Rechtsanwalts in Warschau geboren. Seit 1911 wohnte er ständig im Waisenhaus für jüdische Kinder, das im Herbst 1940 von den Nazis in das neugegründete Warschauer Ghetto verlegt wurde. Korczak teilte das Schicksal seiner Zöglinge. Am 22. 7. 1942 begann die Massenausrottung des Ghettos. Er hätte sich wiederholt retten können. Die Mörder hatten ihm, dem berühmten Erzieher, die Freiheit angeboten. Er schlug sie aus, beglei- tete seine Kinder in den Tod. Zum letztenmal gingen die 200 Kinder in geschlossener Ordnung aus dem Waisenhaus durch die Warschauer Strassen, die beiden Erzieher — Dr. Henryk Goldszmit sowie Frau Stefania Wilczynska — voran zum »Um- schlagplatz«, in die Waggons nach Treblinka in die Gaskammern. Hanna Mortkowicz-Olczakowa schreibt: »Der Name janusz Korczak wurde zum Sinnbild jener Namenlosen, zum Symbol eines heldischen Opfergangs.« Vgl. dazu u. a.: Janusz Korczak: Wie man ein Kind lieben soll. Gottingen 1971, Vandenhoeck & Ruprecht. — Hanna Mortkowicz- Olczakowa: Janusz Korczak, Arzt und Pädagoge. Munchen-Salzburg, Pustet Verlag (s. in: FrRu XX/1968, S. 137). — Erwin Sylvanus: Korczak und die Kinder. Ein Stück. St. Gallen 1959, Tschudy Verlag u. Hamburg, Rowohlt (vgl. in: FrRu XIII/1961, S. 114).

*** Freiburger Rundbrief. 7800 Freiburg, ner Dr. Leo Baeck, den Präsidenten der Reichsvereinigung Arbeitskreis für christlich-jüdische 18. September 1982 der Juden in Berlin, bei meinem Besuch inmitten weinen- Begegnung e. V. der Mütter fand. An jenem Morgen waren die 14jährigen Juden auf ihren langen Wegen zur Fabrikarbeit — sie durf- S. Exzellenz Herrn Erzbischof Guido del Mestri ten keine Fahrzeuge benutzen — deportiert worden und Apostolischer Nuntius nie zurückgekommen. Dr. Baeck sagte nur: »Sie wissen, Turmstr. 29, 5300 Bonn' dass wir nur beschränkt Lebensmittel erhalten, aber sie Betr.: Empfang des Papstes für PLO-Chef Arafat haben noch gefastet.« Es scheint uns, dass die vatikanische Diplomatie diese Ge- Exzellenz, sichtspunkte übersehen hat und nicht weiss, dass die Ju- Für Ihr gütiges, mich und auch den Freiburger Rundbrief den und das Judentum diese Demütigungen, Beleidigun- im Dienste christlich-jüdischer Begegnung ermutigendes gen und Leid immer wieder erfahren haben. Schreiben vom 20. Juli 1982 möchte ich sehr herzlich dan- Infolge des Empfangs mit dem PLO-Chef Arafat sind wir ken. Sehr dankbar sind wir für die u. a. ebenfalls zur Ver- als glaubwürdiger Gesprächspartner mit dem Judentum öffentlichung im >Rundbrief< vorgesehenen Ansprachen noch für lange Zeit in einer äusserst schwierigen Lage. des Hl. Vaters vom 6. März anlässlich der Audienz für die Wir bitten den Heiligen Vater auch zu bedenken, dass Delegierten der Bischofskonferenzen für die Beziehungen vielleicht jüdische Reaktionen gegenüber Arafats Besuch zum Judentum und die Ansprache bei der ökumenischen durchaus verständlich sind und christlicher Tadel nicht Begegnung in Lissabon vom 14. Mai mit Repräsentanten angebracht ist. der jüdischen, christlichen und islamischen Bekenntnisse.' Wäre es vielleicht möglich gewesen, im Hinblick auf ein Wir sind äusserst bestürzt über die Audienz von Herrn dem Frieden dienendes, ausgewogenes Gespräch zwi- Arafat beim Papst, hat sich doch Herr Arafat in keiner schen dem Papst mit Herrn Arafat zuvor den israelischen Weise bisher von den mörderischen Terrorakten der PLO Botschafter in Rom, Herrn Ron, zu sich zu bitten? distanziert, weder von dem jahrelangen Greuel der PLO im Libanon, noch von den kürzlichen Anschlägen auf Mit verehrungsvollen Dr. Gertrud Luckner Synagogen und jüdische Einrichtungen, die immer wieder Grüssen Professor Dr. Clemens Thoma besonders vor hohen jüdischen Feiertagen geschehen. Wir beschränken uns hier auf die religiösen Gesichtspunkte. Mir ist unvergesslich, als ich auf meinen damaligen Hilfs- 1 s. u. S. 3-5 fahrten durch Deutschland am Jom Kippur 1942 Rabbi- (Alle Anmerkungen d. Red. des FrRu)

Für Studienzwecke kostenloses Exemplar, bitte beachten Sie auch Umschlagseite 3 FREIBURGER RUNDBRIEF Beiträge zur christlich-jüdischen Begegnung

XXXIV. Folge 1982 / Nr. 129-132 Freiburg, Juli 1982

1 I Papst Johannes Paul II.: Aufforderung zu einer dem Judentum und Christentum entsprechenden Verkündigung und Forschung. Ansprache an die Delegierten der Bischofskonferenzen für die Beziehungen zum Judentum, 6.3.1982 . . 3 II Dem Weg des Erbarmens folgen. Ansprache von Papst Johannes Paul II. bei der ökumenischen Begegnung mit Ver- tretern der christlichen, islamischen und jüdischen Bekenntnisse in Lissabon, 14.5.1982 4 2 Kardinal Bea, 1881-1968: Symposion anlässlich seines 100. Geburtstags im Vatikan, 19.12.1981 I Ansprache von Papst Johannes Paul II. an die Teilnehmer des Symposions 5 II Kardinal Bea und die Religionsfreiheit. Vortrag von Dr. Gerhart Riegner, Generalsekretär des Jüdischen Weltkon- gresses, Genf 7 3 Leitlinien zum christlich-jüdischen Dialog. Verabschiedet von der Konsultation »Kirche und jüdisches Volk«, Ökumeni- scher Rat der Kirchen, London-Colney, 26.6.1981 9 4 Institut für Jüdisch-Christliche Forschung in Luzern I Wissenschaft vom Judentum und christliche Theologie. Prinzipien und Probleme einer Zusammenarbeit. Vortrag von Shemaryahu Talmon, Prof. für Bibelwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem. Luzern, 22.10.1981 . . . 12 II Zur Eröffnung des Institutes an der Katholischen Fakultät Luzern, 22.10.1981 16 5 Herausforderungen, die wir prüfen müssen. Ansprache von Msgr. Jean-Marie Lustiger, Erzbischof von Paris, anlässlich des Internat. Kolloquiums des »Council of Christians and Jews (ICCJ)« im Martin Buber-Haus, Heppenheim, 30.6.1981 17 6 Bei Chagall in Mainz. Von Dr. Ludwig Kaufmann 18 Marc Chagall am 7. Juli 1982 95 Jahre: >Arbeit statt Feier< 19 7 Zum Tode von Gershom Scholem: »Wenn ein Weiser stirbt, kann niemand ihn ersetzen«. G. Scholem: Kabbala — Von der lebendigen Kraft im Judentum 19 8 Ein neues Stadium im jüdisch-christlichen Dialog. Von Dr. Michael Wyschogrod, Prof. für Philosophie am Baruch Col- lege der City University, New York 22 9 Vor 40 Jahren: »Endlösung der Judenfrage«. Programm zur Ausrottung. Staatssekretärskonferenz am Berliner Wannsee, 20.1.1942. Von Prof. Dr. Wolfgang Scheffler 26 10 Gedichte als Zeugnisse der Menschenwürde. Lyrik aus den NS-Konzentrationslagern 28 11 Benedicta M. Kempner — Zum Gedenken (1904-1982) 32 12 Israel: Zwei dokumentarische Berichte (Frühjahr 1982) I Was bedeutet Israels Rückzug aus dem Sinai? 33 II Die Rolle Israels in einem sich wandelnden Mittleren Osten. Von Yitzak Shamir, Aussenminister des Staates Israel . 36 III Die PLO in Beirut — IV Beschluss des Jüdischen Weltkongresses vom 8.7.1982 39 V Erklärung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft zur Lage im Nahen Osten, Juli 1982 39 13 Papst Johannes Paul II.: Aufruf an die Katholiken in der Welt zum Gebet um Frieden und Versöhnung der »beiden Völ- ker« im Heiligen Land, Palmsonntag, 4.4.1982 40 14 Echo zur Rundbrief-Folge XXXIII/1981: Gesamtregisterband I-XXX/1948-1978 40 15 Rundschau (u. a.: Juden und Christen auf dem 19. Deutschen Evang. Kirchentag in Hamburg, 17.-21.6.1981 — Tagung bischöflicher Delegierter und anderer Experten für die Beziehungen der katholischen Kirche und dem Judentum im Se- kretariat zur Förderung christlicher Einheit, 2.-5.3.1982 — Tagung: Juden im Religionsunterricht, Frühjahr 1982 — Karl der Grosse und die Juden. Zu einer Tagung der Bischöflichen Akademie Aachen — Exodus und Exil. Tagung des Deut- schen Koordinierungsrats der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, Aachen, 7.3.1982 — Papst ehrt Op- fer des Nationalsozialismus — Genossen in Utopia: Martin Buber und Gustav Landauer) 40 16 Literaturhinweise (u. a.: A. Biesinger/G. Biemer/P. Fiedler: Was Juden und Judentum für Christen bedeuten. Lernprozess Christen Juden, Bd. 3 — A. J. Heschel: Gott sucht den Menschen — G. Lanczkowski: Einführung in die Religionswissen- schaft — Clemens Thoma: Die theologischen Beziehungen zwischen Judentum und Christentum — Eduard Schweizer: Das Evangelium nach Lk — Marc Chagall/Kl. Mayer: Der Gott der Väter — W. Güde: Die rechtliche Stellung der Juden in den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhunderts — A. Haverkamp: Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der früheren Neuzeit — G. Kisch: Forschungen zur Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Juden — Peter Schäfer: Synopse zur Hekhalot-Literatur. Texte und Studien zum antiken Judentum — F. E. Wilms: Freude vor Gott — Bernhard Rübenach (Hg.): Begegnungen mit dem Judentum — Willy Israel Cohn: Als Jude in Breslau 1941 — Martin Höllen: Heinrich Wienken, der »unpolitische« Kirchenpolitiker — Helmut Krausnick/Hans H. Wilhelm: Die Truppe des Weltanschauungskrieges, 1938-1942 — Eberhard Röhm/Jörg Thierfelder: Ev. Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz — R. Halabi: Die Westbank-Story) 60 17 Aus unserer Arbeit (u. a. Altenwohnheim für NS-verfolgte Christen in Israel [Nahariyya]) 102 18 Systematische Übersicht über die Literaturhinweise — 19 Systematisches Register über den Inhalt Jg. XXXIV 108 20 Personenregister Jg. XXXIV 111 • »IMMANUEL«, Dokumente des heutigen religiösen Denkens und Forschens in Israel. X/1982, Hrsg. Ökumenisch- Theologische Forschungsgemeinschaft in Israel und Freiburger Rundbrief: Sinaibund, Prophetie und Israels Erwähltheit in der rabbinischen Polemik. Von Benjamin Uffenheimer, Professor für Bibelwissenschaft an der Universität Tel Aviv — Je- hoshua Amir zum 70. Geburtstag. Von Professor Dr. Benjamin Uffenheimer — Der Text der Mischna. Neue Faksimile- Ausgaben von Mischna-Handschriften und Editionsversuche. Teil I — Einleitung: Die drei vollständigen Mischna-Hand- schriften. Bearbeitet von Dr. Michael Krupp, Jerusalem — Personenregister IMMANUEL, Jg. X 114 Nach Redaktionsschluss: Papst Johannes Paul II. nach dem Angelusgebet, 10.10.1982 US 2

Als Manuskript gedruckt — Nachdruck nur mit Genehmigung der Redaktion gestattet.

Herausgegeben (mit Unterstützung der Deutschen Bischofskonferenz und des Deutschen Caritasverbandes e. V.) von Dr. Willehad P. Eckert OP, Prof. Dr. Peter Fiedler, Msgr. Dr. Georg Hüssler, Dr. Ludwig Kaufmann SJ, Dr. Gertrud Luckner, Prof. Dr. Clemens Thoma SVD, Prof. Dr. Anton Vögtle, Prof. Dr. Erich Zenger. Schriftleitung: Dr. Gertrud Luckner, Prof. Dr. Clemens Thoma SVD. Geschäftsstelle: Dr. Gertrud Luckner — Freiburger Rundbrief. Arbeitskreis für christlich-jüdische Begegnung e. V. Postanschrift: Lorenz-Werthmann-Haus, Postfach 420, D-7800 Freiburg i. Br. — (s. auch Seite 2 unten)

Postverlagsort Freiburg i. Br. An unsere Leser

Für alle Hilfe und das Echo, die der Aufruf an unsere Leser und auf den Gesamtregisterband (FrRu XXXIII/1981) gefunden hat, danken wir herzlich. Die wiederum gestiegenen Kosten für die Herstellung unseres »Rundbriefs« und u. a. beträchtliche er- neute Porti-Erhöhung bedeuten eine erhebliche Erschwerung unserer Aufgabe und Arbeit. Dies veranlasst uns, alle, die sich diesem Anliegen verpflichtet wissen, und alle, die diese nun auch auf- grund des Registerbandes sich fortgesetzt ausweitende Arbeit unterstützen und weiterhin zu fördern wünschen, auf eine dringend erforderliche finanzielle Hilfe anzusprechen. Das wachsende Interesse an unserer Arbeit und an den Erscheinungen des Zeitgeschehens, auch von

1933 - 45, ist erfreulich. Das kam u. a. auch anlässlich der Koje »Freiburger Rundbrief« gemeinsam mit der Bischöflichen Akademie Aachen auf dem Düsseldorfer Katholikentag zum Ausdruck. Dieses Inter- esse, zugleich Chance und Dringlichkeit, erfordert eine Intensivierung der Aufgaben. Der Freiburger Rundbrief erscheint jährlich in unregelmässiger Folge. Er bringt wegen seines doku- mentarischen Charakters die Ereignisse aus einer grösseren Distanz. Seit der Jahresfolge XIX/1967, die Ende des 1. Quartals 1968 erschien, um auch noch im Zusammenhang von Ereignissen des vorher- gehenden Jahres zu berichten, hat sich der Rhythmus des Erscheinens etwas verschoben. Es werden auch noch die aktuellen Ereignisse in Israel mit einbezogen. Um nun wieder im laufenden Jahr zu erscheinen, war die dafür vorgesehene Folge XXXIV/1982 noch 1982 geplant. Der im Juli 1982 erschienene Gesamtregisterband I—XXX/1948-1978 (XXXIII/1981) verursachte eine erhebliche zusätzliche Mehrbelastung. Hinzu kamen andere Umstände (u. a. monate- lange Erkrankung des Mitarbeiters), wodurch sich die für August oder September vorgesehene und im Juli im wesentlichen abgeschlossene Jahresfolge verzögert hat. Wir bitten um Verständnis, dass die Er- eignisse des Libanon-Krieges und Reaktionen darauf erst in Folge XXXV/1983 erfolgen. Auch er- scheint uns erforderlich, wegen der Komplexität der Thematik eine ausgewogene, abgerundete Doku- mentation auf Ereignisse zu geben. Allen, die im Laufe der vergangenen 34 Jahre an dieser Arbeit Anteil nahmen, diese unterstützten und uns dabei ermutigten, sind wir zu Dank verpflichtet. Wir danken im voraus allen, die uns damit helfen, das in hoher Auflage und in aller Welt verteilte Heft und die damit verbundene Arbeit in der bisherigen Weise fortzusetzen. Das starke Echo, das der »Rundbrief« in all den Jahren seines Bestehens allseits gefunden hat, ermutigt uns, das heute nicht minder als zuvor notwendige Werk weiterzuführen. Den an alle Mitarbeiter, För- derer und Interessierte unten (s. US 3) ausgesprochenen herzlichen Dank geben wir auch an dieser Stel- le weiter. Die Herausgeber

Siehe u. S. 3: Die Begegnung von Elisabeth und Maria: Symbol fiir den Freiburger Rundbrief HEIMSUCHUNG*, zu Psalm 84 (85), 11**: »Lieb und Treue begegnen sich« Will hören, was der Ewige, Gott, redet: / Ja, Frieden redet er ob seinem Volk / und seinen Frommen / und niemehr kehren sie zur Torheit wieder. / Ja, nah für die ihn fürchten ist sein Heil / dass Herrlichkeit in unsrem Lande wohne / dass Lieb und Treue sich begeg- nen / dass sich Gerechtigkeit und Friede küssen. Dass Treue aus der Erde sprosst / Gerechtigkeit vom Himmel schaut. / Gleich wird der Ewige das Gute geben / und unser Land gibt seine Frucht; / Gerechtigkeit wird vor ihm wandeln / und seine Schritte richten auf den Weg. Frieda Weber-Krebs hat die Abb. von Elisabeth und Maria für die Koje des FrRu auf dem 85. Deutschen Katholikentag in Freiburg (13.-17. September 1978) entworfen. Dort wurde die Abbildung erstmals öffentlich vorgestellt (vgl. FrRu XXX/1978, US 2 u. S. 189).

* Vgl. Lk 1,39-56. ** Vgl. dazu: Die Heilige Schrift, ins Deutsche übertragen von N. H. Tur-Sinai (K. Torczyner). Jerusalem 1954. Bd. 4: Tehillim-Preislieder, Erstes Buch, S. 111. Vgl.: Paulus Gordan OSB »Gerechtigkeit und Frieden haben sich geküsst«, mit Abb., in: FrRu XXVII/1975, S. 16 f.

Voraussichtlich in Folge XXXV: Neues jüdisch-christliches Dokument aus Österreich — Juden und Christen auf dem 87. Deutschen Katholikentag, Düsseldorf, 1.-5. 9. 1982 — Schweizerische Gesellschaft für judaistische Forschung — Libanonkrieg — Papstbesuch Arafats — 3. Symposion der drei Weltreligionen Islam, Judentum, Christentum in der staatlichen Akademie für Lehrerfortbildung Donaueschingen, Januar 1982 — In IMMANUEL: Yehoshua Amir: Eine Untersuchung über jüdisch-hellenistische Selbstbezeichnung — Aaron Oppenheimer: Der Bar Kokhba-Aufstand — Rivka Schatz-Uffenheimer: Existenz und Eschatologie in der Lehre des Maharal (Teil I) — Eliezer Schweid: Die jüdische Weltsicht Gershom Scholems — Ithamar Grünwald: Die Methodenfrage bei der Erforschung des rabbinischen Denkens.

Der Freiburger Rundbrief erscheint in unregelmässiger Folge. Unkostenbeitrag für dieses Heft DM 20,— und Zustellgebühr (Folge XXXIV Nr. 129-132). — Dr. Gertrud Luckner/Rundbrief, Postscheckkonto Karlsruhe Nr. 680 35-750. Bezug durch Freiburger Rundbrief. Postanschrift: Lorenz-Werthmann-Haus, Postfach 420, D-7800 Freiburg i. Br.

Gesamtherstellung: Druckhaus Rombach +Co, Freiburg i. Br. FREIBURGER RUNDBRIEF Beiträge zur christlich-jüdischen Begegnung

1 Papst Johannes Paul II.: Aufforderung zu einer dem Judentum und Christentum entsprechenden Verkündigung und Forschung Ansprache an die Delegierten der Bischofskonferenzen für die Beziehungen zum Judentum anlässlich einer Audienz am 6. März 1982*

Die Ansprache wurde von Papst Johannes Paul II. bei einer Audienz für die Teilnehmer an der ersten Zusammenkunft der Vertreter der Bischofskon- ferenzen und anderer Experten über die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Judentum gehalten. Diese von der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum angeregte Zusammenkunft fand vom 2. bis 5. März im Sekretariat zur Förderung christli- cher Einheit statt. An ihr haben auch einige Vertreter der orthodoxen Kirchen, der anglikanischen Kirche, des Lutherischen Weltbundes und des Öku- menischen Rates der Kirchen teilgenommen. Unter diesen Vertretern nahmen weiterhin einige Behörden der Römischen Kurie teil: der Rat für die öf- fentlichen Angelegenheiten der Kirche, die HI. Kongregationen für den Klerus und für das katholische Bildungswesen, das Sekretariat für die Nicht- christen und die Päpstliche Kommission »Justitia et Pax«. Die Sitzungen wurden vom Vizepräsidenten des Einheitssekretariats, Bischof Ramon Torrel- la Cascante*", und vom Sekretariat der Vatikanischen Kommission für die religiösen Beziehungen zum Judentum, Msgr. Jorge Mejia, geleitet.

Liebe Brüder im Bischofsamt und Priesteramt, ihrer Erwählung sich schon bei den Patriarchen, bei meine Schwestern, meine Damen und Herren! Moses und den Propheten finden . . . Deshalb kann die Aus verschiedenen Gegenden der Welt sind Sie in Rom Kirche auch nicht vergessen, dass sie durch jenes Volk .. . zusammengekommen, um über die wichtige Frage der die Offenbarung des Alten Testamentes empfing . . . Die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und dem Kirche hat auch stets die Worte des Apostels Paulus vor Judentum Bilanz zu ziehen. Und die Bedeutung dieses Augen, der von seinen Stammverwandten sagt: >Sie haben Problems wird gleichzeitig hervorgehoben durch die An- die Sohnschaft, die Herrlichkeit, die Bundesordnungen, wesenheit von Vertretern der orthodoxen Kirchen, der ihnen ist das Gesetz gegeben, der Gottesdienst und die anglikanischen Kirchengemeinschaft, des Lutherischen Verheissungen, sie haben die Väter, und dem Fleisch nach

Weltbundes und des Weltrates der Kirchen unter Ihnen, entstammt ihnen der Christus< (Röm 9, 4 - 5), der Sohn die ich voll Freude begrüsse und denen ich für ihre Mitar- der Jungfrau Maria.« beit danke. Das heisst, dass die Bande zwischen der Kirche und dem Euch Bischöfen, Priestern, Ordensleuten, Laienchristen jüdischen Volk sich auf den Plan des Bundesgottes grün- drücke ich ebenfalls meine volle Anerkennung aus. Eure den und — als solche — notwendigerweise in gewissen Ein- Anwesenheit hier sowie euer Einsatz in der Seelsorge oder richtungen der Kirche, insbesondere in ihrer Liturgie, auf dem Gebiet der biblischen und theologischen For- Spuren hinterlassen haben. schung zeigen, in welchem Grade die Beziehungen zwi- Als vor zweitausend Jahren an dem gemeinsamen Stamm schen der katholischen Kirche und dem Judentum an ver- ein neuer Zweig auftauchte, waren die Beziehungen zwi- schiedene Aspekte des Lebens und der Tätigkeiten der schen unseren beiden Gemeinschaften natürlich von dem Kirche rühren. Unverständnis und den Ressentiments gekennzeichnet, Das begreift man sehr wohl. Das Zweite Vatikanische die uns bekannt sind. Und wenn es seit dem Tag der Konzil sagt in der Tat in seiner Erklärung über das Ver- Trennung Missverständnisse, Irrtümer und sogar Beleidi- hältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen gungen gegeben hat, geht es jetzt darum, sie in Verständ- (Nostra aetate, Nr. 4) 1 : »Bei ihrer Besinnung auf das nis, Frieden und gegenseitiger Achtung zu überwinden. Geheimnis der Kirche gedenkt die Heilige Synode des Die schrecklichen Verfolgungen, die die Juden in den ver- Bandes, wodurch das Volk des Neuen Bundes mit dem schiedenen Geschichtsepochen erlitten haben, haben end- Stamme Abrahams geistlich verbunden ist.« Und ich selbst lich die Augen geöffnet und die Herzen aufgerüttelt. Die hatte Gelegenheit, das mehr als einmal auszusprechen: Christen befinden sich auf dem guten Weg, dem Weg der Unsere beiden Religionsgemeinschaften »sind auf der Gerechtigkeit und der Brüderlichkeit, wenn sie mit Ach- Ebene ihrer eigenen Identität verbunden« (vgl. Ansprache tung und Ausdauer versuchen, sich mit ihren semitischen an die Vertreter der jüdischen Organisationen und Gemein- Brüdern um das für alle so reiche gemeinsame Erbe zu schaften vom 12. März 1979) 2. In der Tat — und hier ist sammeln. Bedarf es, vor allem für diejenigen, die noch im- wieder der Text der Erklärung Nostra aetate (Nr. 4) anzu- mer skeptisch, ja sogar feindselig bleiben, der Klarstel- führen: »Die Kirche Christi anerkennt, dass nach dem lung, dass diese Annäherung sich nicht mit einem gewis- Heilsgeheimnis Gottes die Anfänge ihres Glaubens und sen religiösen Relativismus und noch weniger mit einem Identitätsverlust verbinden dürfe? Die Christen bekennen * Abgedruckt in »L'Osservatore Romano«. Wochenausgabe in deutscher für ihren Teil unmissverständlich ihren Glauben an den Sprache (12/23), Vatikanstadt, 4. 6. 1982, unter der Überschrift: »Ge- universalen Heilscharakter des Todes und .der Auferste- meinsames Erbe: Dienst am Menschen« hung Jesu Christi. ** Vgl. FrRu XXXII/1980, S. 71 f.: Ramon Torrella: Rundschreiben vom 16. 3. 1980 zum 100jährigen Geburtstag von Augustin Kardinal Bea. Ja, die Klarheit und die Wahrung unserer christlichen Identität sind eine wesentliche Grundlage, wenn wir au- s. Karl Rahner / Herbert Vorgrimler: Kleines Konzils-Kompendium. Herder S. 357. thentische, fruchtbare und dauerhafte Beziehungen zum 2 In: FrRu XXX/1978, S. 13 ff. jüdischen Volk anknüpfen wollen. In diesem Sinne freue

3 ich mich zu erfahren, dass Sie in gemeinsamem Studium macht über den katholischen Unterricht und die Kateche- und Gebet zahlreiche Anstrengungen unternehmen, um se im Hinblick auf die Juden und das Judentum. Was die- die manchmal schwierigen biblischen und theologischen sen Punkt wie auch noch andere betrifft, lassen Sie sich Probleme, die durch den Fortschritt des jüdischen Dialogs von den »Richtlinien und Hinweisen für die Anwendung aufgeworfen werden, besser zu empfinden und besser zu der Konzilserklärung Nostra aetate (Nr. 4)« leiten und er- formulieren. Auf diesem Gebiet würden Ungenauigkeit mutigen, die von der Kommission für die religiösen Bezie- und Mittelmässigkeit einem solchen Dialog ausserordent- hungen zum Judentum (vgl. Kapitel III) veröffentlicht lich schaden. Möge Gott Christen und Juden geben, sich in- wurden4. Man muss dahin gelangen, dass dieser Unter- tensiver zu begegnen, tiefer auszutauschen und von ihrer richt auf den verschiedenen Ebenen der religiösen Bil- eigenen Identität auszugehen, ohne sie jemals von der einen dung, in der Katechese für Kinder und Erwachsene die wie von der anderen Seite zu verdunkeln, so dass wirk- Juden und das Judentum nicht nur aufrichtig und objek- lich der Wille Gottes gesucht wird, der sich offenbart hat! tiv, ohne jedes Vorurteil und ohne jemanden zu beleidi- Das sind Beziehungen, die zur Bereicherung der Kenntnis gen vorstellt, sondern darüber hinaus mit einem lebendi- unserer Wurzeln beitragen können und sollen und dazu, gen Bewusstsein für das Erbe, das wir in grossen Zügen bestimmte Aspekte dieser Identität, von denen wir spre- beschrieben haben. chen, ins Licht zu stellen. Unser gemeinsames geistliches Auf einer solchen Grundlage wird schliesslich — wie sich Erbe ist beachtlich. Eine Bestandsaufnahme dieses Erbes das bereits in sehr erfreulicher Weise erkennen lässt — eine bei uns selbst, aber auch die Berücksichtigung des Glau- enge Zusammenarbeit entstehen können, zu der uns unser bens und religiösen Lebens des jüdischen Volkes, wie sie gemeinsames Erbe drängt, nämlich der Dienst am Men- noch jetzt bekannt und gelebt werden, können dazu bei- schen und seinen unermesslichen geistlichen und materiel- tragen, bestimmte Aspekte des Lebens der Kirche besser len Bedürfnissen. Auf verschiedenen, aber letzten Endes zu verstehen. Das ist der Fall in der Liturgie, deren dem gleichen Ziel zustrebenden Wegen werden wir — mit hebräische Wurzeln noch ergründet und vor allem von Hilfe des Herrn, der niemals aufgehört hat, sein Volk zu seiten der Gläubigen besser erkannt und gewürdigt wer- lieben (vgl. Röm 11, 1) — zu dieser wahren Brüderlichkeit den müssen. Dies gilt ebenso auf der Ebene der Geschich- in der Versöhnung, der Achtung und vollen Verwirkli- te unserer Institutionen, die seit den Anfängen der Kirche chung des Planes Gottes in der Geschichte gelangen. von bestimmten Aspekten der Organisation der Synago- Ich freue mich, in Christus geliebte Brüder und Schwe- gengemeinde inspiriert wurden. Schliesslich ist unser ge- stern, Sie zu ermutigen, auf dem eingeschlagenen Weg meinsames geistliches Erbe vor allem von Bedeutung auf weiterzugehen, indem Sie Unterscheidungsfähigkeit, Zu- der Ebene unseres Glaubens an einen einzigen, gütigen versicht und zugleich eine sehr grosse Treue zum Lehramt und barmherzigen Gott, der die Menschen liebt und sich an den Tag legen. Auf diese Weise werden Sie der Kirche von ihnen lieben lässt, an den Herrn der Geschichte und einen echten Dienst erweisen, der sich aus dem Geheimnis des Schicksals der Menschen, der unser Vater ist und der ihrer Berufung ergibt und zum Wohl der Kirche selbst, Israel erwählt hat, »den guten Ölbaum, in den die Heiden des jüdischen Volkes und der ganzen Menschheit beitra- als wilde Schösslinge eingepfropft sind« (Nostra aetate, gen soll. Nr. 4; vgl. auch Röm 11, 17-24). 3 s. o., Anm. 1. Deshalb haben Sie sich bei Ihrer Tagung Gedanken ge- ° Vgl. FrRu XXVI/1974, S. 3 ff.

II Dem Weg des Erbarmens folgen Ansprache von Papst Johannes Paul II. bei der ökumenischen Begegnung mit Vertretern der christlichen, islamischen und jüdischen Bekenntnisse am 14. Mai 1982 in Lissabon' Verehrte Herren und meine Brüder! geistigen Wertes der menschlichen Person und manchmal 1. Voll Dankbarkeit für die ehrenden Worte und die auch bei der Klarstellung der Grundlage und bleibenden Wünsche, die an mich gerichtet wurden, will ich die hier Quelle ihrer Rechte. Das ist — wie wir wissen — die Vorbe- anwesenden Vertreter der christlichen Gemeinschaften, dingung zur Bildung von Kriterien für die Wertschätzung des Judentums und des Islams begrüssen, indem ich allen der menschlichen Person, die sich nicht auf die »prakti- meine brüderliche Achtung und Wertschätzung zum Aus- sche Nützlichkeit« beschränken, sondern die unantastbare druck bringe. Die Tatsache, dass wir heute gemeinsam Würde des Menschen zu schützen vermögen. Was die den Glauben an den einen, lebendigen, allmächtigen und Christen betrifft, stellt der gemeinsame Glaube an Chri- barmherzigen Gott, den Schöpfer aller Dinge, bekennen stus, den Erlöser, ein besonderes Motiv der Einheit und können, würde schon hinreichen, mir diese Begegnung des Zeugnisses dar. angenehm zu machen; ich freue mich, dass uns diese Ge- 2. Die moderne Gesellschaft erscheint uns gespalten oder legenheit zum Zeugnis geboten wurde, die zugleich ein sogar in grossem Umfang geneigt, von Gott und von der Akt der Huldigung und der Demut vor unserem Gott ist. Religion »abzusehen«, und ganz den materiellen und Uns verbindet in gewisser Weise der Glaube und ein in irdischen Dimensionen des Menschen und des Lebens vielen Punkten ähnliches Engagement, nämlich durch gu- zugewandt; bewundernswürdige Fortschritte auf allen te Werke die Kohärenz unserer jeweiligen religiösen Ein- Gebieten sorgen für grossen Wohlstand, scheinen aber bei stellung zu beweisen, und auch der Wunsch, dass unsere einigen eine Umkehrung und den Ersatz von Werten zu Verehrung des Schöpfers aller Dinge anderen Beispiel fördern. Durch die Anerkennung und Verkündigung der und Hilfe sein könne bei ihrer Suche nach Gott, bei der geistigen und religiösen Werte werden wir gewiss eine Öffnung für das Überirdische, bei der Anerkennung des allgemeine lebendige Vorahnung und unter Menschen in normalen Verhältnissen eine gewisse begriffliche Vor- stellung von der Wirklichkeit eines existenten Schöpfers * Entnommen aus: »L'Osservatore Romano«, Wochenausgabe in deut- scher Sprache (12/23), Vatikanstadt, 4. 6. 1982. wecken und leiten können.

4 Anderseits gibt es in Treue zu der Religion, zu welcher — durch Pflege des echten Sinnes und der praktischen man sich bekennt, immer einen Freiraum menschlicher Handhabung der menschlichen Arbeit sowie durch muti- Solidarität, weil wir, überzeugt von dem Gut, das der ge und kluge Beteiligung am gesellschaftlichen und politi- Glaube an Gott für uns darstellt, den spontanen Wunsch schen Leben, wobei wir das Wohl aller und den Aufbau spüren, dieses Gut mit anderen zu teilen. Mit aller Ehr- der Gesellschaft und der Welt überall auf der Erde immer furcht gesagt, können wir uns zum Zeichen des Allmäch- konformer mit den Plänen und Weisungen Gottes suchen, tigen machen, der für viele der »unbekannte Gott« ist, für denn nur so kann es für uns eine gerechtere, friedlichere andere sich trügerisch in irdischen Kräften zeigt, die uner- und von brüderlicher Liebe erfüllte Welt geben. bittlich von Tod und Vergänglichkeit gekennzeichnet 4. Wie Sie wissen, komme ich als Pilger nach Portugal, sind. um vor allem Gottes Erbarmen zu preisen. Ich bin zutiefst 3. Unsere Kontakte, der Dialog und die Anerkennung der davon überzeugt, dass der barmherzige Gott diese seine unleugbaren geistlichen Reichtümer jeder Religion, die Eigenschaft immer mehr in der ganzen Menschheitsfami- christliche Zusammengehörigkeit und, wenn möglich, das lie widergespiegelt sehen möchte; das echte Erbarmen gemeinsame Gebet können die Konvergenz der Bemü- scheint mir unentbehrlich dafür zu sein, den Beziehungen hungen begünstigen, der Selbsttäuschung, eine neue Welt unter den Menschen eine Form und Festigkeit zu geben, ohne Gott aufbauen zu können und der Leere eines rein die von tiefer Achtung für alles Menschliche und für die anthropozentrischen Humanismus zuvorzukommen. Oh- Brüderlichkeit inspiriert sind. ne die religiöse Dimension und, was noch schlimmer ist, Die Christen sind in der Tat dazu aufgefordert, dem ohne religiöse Freiheit verarmt der Mensch oder wird um Herrn Jesus, dem Vorbild des Erbarmens, nachzufolgen. eines seiner Grundrechte betrogen. Und diese Verarmung Auch das Judentum betrachtet das Erbarmen als ein des Menschen wünschen wir alle zu vermeiden. grundlegendes Gebot. Und der Islam erkennt in seinem So werden wir, wenn wir auch von menschlicher Solida- Glaubensbekenntnis Gott diesen Beinamen zu. Abraham, rität motiviert über das Gebet, die Befolgung der Gebote unser gemeinsamer Vorfahre, lehrt alle — Christen, Juden und die Beobachtung der Gerechtigkeit zu einem konse- und Muslime —, diesem Weg des Erbarmens und der Lie- quenten religiösen Leben gelangen, durch unsere Hilfe bei be zu folgen'. der Suche nach Gott zum Wohl unseres Nächsten und Es sei mir gestattet, meine Worte mit einem Gebet an den zum Gemeinwohl der Menschheit beitragen. Und das barmherzigen Gott zu beschliessen: lässt sich verwirklichen: O Unaussprechlicher, von dem die ganze Schöpfung —durch persönliche Redlichkeit und durch Beobachtung spricht, o Allmächtiger, der die Menschheit niemals nö- der Sitten im privaten und öffentlichen Leben, indem wir tigt, sondern sie nur zum Guten einlädt und anleitet, der zunehmenden Lockerung der Prinzipien von Moral o von Mitleid Erfüllter, der das Erbarmen unter allen und Gerechtigkeit sowie der sittlichen Laxheit Einhalt ge- Menschen verbreitet sehen möchte: möge er uns stets auf bieten; seinen Wegen führen, möge er unsere Herzen mit seiner —durch Respektierung des Lebens und der Familie und Liebe, seinem Frieden und seiner Freude erfüllen und uns ihrer Werte, indem wir die Förderung unserer Mitmen- segnen! schen, was ihr Menschsein und ihre Würde betrifft, und

die Festigung der unersetzlichen Fundamente eines geord- 1 Vgl. dazu auch u. a.: »Nostra aetate« Nr. 3 u. 4, in: FrRu XVIII/1966, neten Zusammenlebens in der Gesellschaft begünstigen; S. 28 f. 2 Kardinal-Bea-Symposion im ,Sekretariat zur Förderung christlicher Einheit (zum 100. Geburtstag), Dezember 1981" Der das Symposion eröffnende Vortrag von Kardinal Jan G. M. Willebrands mit dem Thema: Kardinal Augustin Bea: Sein Beitrag für die ökumenische Bewegung, die Religionsfreiheit und die Schaffung eines neuen Verhältnisses mit dem jüdischen Volk gibt eine ausserordentlich beeindruckende Wiedergabe im Rückblick dieser Wegbereitung. Wegen der nun bereits weit vorgeschrittenen Drucklegung dieser Rundbrief-Folge ist ein zu überset- zender Nachdruck bedauerlicherweise jetzt nicht mehr möglich. Im folgenden bringen wir die Ansprache von Papst Johannes Paul II. an die Teilnehmer des Symposions sowie die Rede von Dr. Gerhart Riegner, dem Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, Genf: »Kardinal Bea: Sein Beitrag für die Religionsfreiheit«. (Gertrud Luckner) I Ansprache Papst Johannes Pauls II. an die Teilnehmer des Symposions, 19. Dezember 1981"" Eminenzen, Exzellenzen, meine Herren! hat, zu beleuchten. Es handelt sich dabei um einen Akt Ich bin Ihnen dankbar für Ihren Besuch und die mir damit der Treue gegenüber der historischen Wahrheit, um einen gebotene Gelegenheit, die bedeutenden Arbeiten kennen- Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber Gott für das, was er zulernen, die Sie hier zusammengeführt haben' mit dem uns durch den Mann gegeben hat, der sein grosser Diener Ziel, den Beitrag, den Kardinal Augustin Bea für die Ver- war, um einen Ansporn, der uns helfen soll, immer mehr wirklichung des Zweiten Vatikanischen Konzils erbracht die fruchtbaren Ansätze zu entwickeln, die im Konzil ihren Ursprung haben, aber unserer Mitarbeit bedürfen, S. Cardinal John Willebrands, »Cardinal Augustin Bea: His Contribu- tion To The Ecumenical Movement, To Religious Liberty And To Estab- damit sie die Früchte bringen können, die in ihnen poten- lishing New Relations With The Jewish People«, in: >Information Servi- tiell angelegt sind. ce<, hg.: The Secretariat for Promoting Christian Unity. Vatican City, Ich denke unter anderem an drei Dokumente, die Kardi- No. 47,1981/III—W. S. 142-152. nal Bea besonders am Herzen lagen und von denen dank ** In: »L'Osservatore Romano. Wochenzeitung in deutscher Sprache« (Vatikanstadt), Supplement zum Jg. 1981 als Beilage Nr. 14/1982, S. der Vermittlung des Sekretariats für die Einheit der Chri- unter der Überschrift: »Für den Dienst an der Kirche«. sten und anderer Organe des Hl. Stuhls noch immer zahl- Vgl. dazu u. S. 7 ff. reiche Initiativen der Kirche inspiriert werden; ich will

5 vom Ökumenismusdekret sprechen, von der Erklärung Schrift das gemeinsame Erbe und den gemeinsamen Nostra aetate, über die Beziehungen der Kirche zu den Schatz aller Christen und dadurch eine wesentliche Basis nichtchristlichen Religionen — angefangen beim Judentum darstelle, um sich jenseits der Spaltungen wiederzufinden. —, von der Erklärung über die Religionsfreiheit. Ich habe Diese Überzeugung inspirierte ihn auch, als er die Zusam- oft Gelegenheit, das Engagement der Kirche in diesen menarbeit mit den Bibelgesellschaften verwirklichte, um drei Richtungen zu erläutern; heute will ich lieber dabei »ökumenische Bibelübersetzungen« vorzubereiten. Im sel- innehalten, um zu überlegen, wie der Beitrag Kardinal ben Geist übernahm er die heikle Aufgabe, dem Konzil Beas zur Konzilsarbeit unser Engagement erhellt und an- die Erklärung Nostra aetate vorzulegen, in der auf die Be- regt, damit der vom Konzil auf dem Boden der Kirche ge- ziehungen zwischen dem auserwählten Volk des Alten pflanzte Baum wachse und sich immer stärker entfalte. und dem des Neuen Testaments hingewiesen wird. Das Leben des Kardinals bietet uns zu diesem Thema in 3. Ein drittes wertvolles Zeugnis Kardinal Beas betrifft sei- der Tat eine Vielzahl wichtiger Hinweise. ne Verbundenheit mit der Kirche. Dieser Sinn für die von 1. Der erste Hinweis betrifft den Geist, der seine ökume- Christus beseelte Kirche begleitet wirklich sämtliche Akti- nische Arbeit nährte. Das ausdrückliche Zeugnis dafür vitäten, die ich soeben in Erinnerung gerufen habe, wie finden wir in seinen geistlichen Aufzeichnungen. In einer das in zwei Sätzen aus seinen geistlichen Aufzeichnungen Betrachtung über die Sendung der von Christus unter- zum Ausdruck kommt: »Die Kirche ist daher nicht bloss stützten Apostel schreibt er: »Ich betrachte die mir anver- eine fromme Vereinigung, sie ist Christus, der mit allen traute Aufgabe als die wesentliche >Mission<, mit der mich seinen Gaben und Gnaden weiterlebt (vgl. 1 Kor 12, der Erlöser jetzt beauftragt. Ich will sie mit möglichst voll- 12, 27)« (ebd., S. 211). kommener Hingabe erfüllen . . . Vor allem gilt es, meinen Daraus ergibt sich folgende Konsequenz: »Meine Arbeit Brüdern meine Liebe zu bekunden, in den Beziehungen, muss sich immer in der Sorge um Teilnahme am Leben Gesprächen, in der Korrespondenz und in den Verhand- der Kirche und ihrem Schicksal vollziehen. Sie muss die- lungen. Die getrennten Brüder sollen erkennen, dass ich ser Arbeit ihre Gestalt geben« (ebd., S. 288 ff.). In der Tat einzig und allein aus Liebe zu Christus handle . . . Das zielte sein gesamtes Wirken am Bibelinstitut auf den Werk soll im inneren Geist und im Geist der Macht, also Dienst an der Kirche, die ihm diese Arbeit übertragen hat- mit einer übernatürlichen Kraft vollbracht werden te, und auf den Dienst an zahlreichen Ortskirchen, wo (1 Thess 1, 5; vgl. 1 Kor 4, 20). Jeder soll erkennen, dass seine Schüler das, was sie am Institut gelernt hatten, wei- es da kein Machtstreben gibt, kein irdisches Interesse, kei- ter aussäen sollten. Doch er wurde dazu berufen, der Kir- nen reinen Aktivismus, keine Routine, sondern den wah- che an der Kurie und in der Person des Nachfolgers Petri ren Geist Christi« (Augustin Bea, Ma vie pour mes zu dienen. Jeder weiss um das tiefe Vertrauen, das ihm frires, Paris 1971, S. 109). nacheinander — und jeder auf seine Weise — die Päpste Doch machte sich Kardinal Bea keine Illusion bezüglich Pius XII., Johannes XXIII. und Paul VI. vorbehalten ha- der Schwierigkeiten des Unternehmens. In seinen geistli- ben, die seine wertvollen Dienste sehr schätzten. Es ge- chen Anmerkungen zu den Exerzitien von 1962 lesen wir nügt der Hinweis, dass sie ihn zum Kardinal und zum er- dazu: »Je näher eine Seele dem Herrn ist, um so mehr gilt sten Präsidenten des neuen Sekretariates für die Einheit für sie auch die Anspielung auf das Kreuz. Sie gilt also der Christen ernannten. auch für mich, vor allem in meiner Sonderaufgabe, die Für die Kirche leistete er auch seine Arbeit als Konsultor sich nicht ohne grosse Mühen, Misserfolge und Missver- mehrerer Dikasterien der Römischen Kurie und insbeson- ständnisse durchführen lässt. Ich muss meinen Mut und dere seine Zusammenarbeit mit dem damaligen Heiligen meine Kraft aus der >Transfiguration< schöpfen, aus jener Offizium sowie mit der Ritenkongregation für die Litur- Transfiguration, die sich in mir durch das Gebet voll- giereform. Dienst an der Kirche war auch seine Tätigkeit zieht« (ebd., S. 179 ff.). als erster Präsident des Einheitssekretariats, wo er die An- 2. Ein zweiter Hinweis, den wir Kardinal Bea verdanken, fänge der Kommission für die Neo-Vulgata unterstützte, ist seine tiefgehende Kenntnis des alt- und neutestamentli- das heisst für die Revision der lateinischen Vulgata, die chen Gotteswortes und seine Hingabe und Bereitschaft, anhand der Originaltexte der Heiligen Schrift erfolgen dieses nicht nur zu vertiefen, sondern mitzuteilen und tief sollte. Diese Aufgabe ist nun abgeschlossen. in die Kirche eindringen zu lassen. Dieser Aufgabe hat er 4. Die tiefen Bande zur Kirche — das »sentire cum Eccle- ein ganzes Gelehrtenleben gewidmet — durch Publikatio- sia« im wahrsten Sinne des Wortes — machten den Kardi- nen und vor allem durch seine Lehrtätigkeit. Jahrzehnte nal zugleich auch aufgeschlossen für die Bedürfnisse der hindurch hat er Tausenden künftiger Lehrer der Heiligen Welt, liessen ihn die Zeichen der Zeit beobachten und Schrift, die dann über die ganze Kirche verstreut waren, deuten, um zu erfassen, was der Geist der Kirchen heute die vom Päpstlichen Bibelinstitut dargebotenen Schätze sagt (vgl. Off 2, 7). So hatten die tiefe Verbundenheit mit mitgeteilt. Diese Aufgabe wurde um so mehr verwirklicht, Christus, als dessen Bote er sich fühlte, das Studium und als er selbst dieses Institut neunzehn Jahre lang leitete und die Betrachtung des Wortes Gottes, die innige Verbin- ihm daher eine besondere Verantwortung für den Unter- dung zur Kirche und sein Gespür für die spirituellen Be- richt, die Veröffentlichungen, die Forschungen und na- dürfnisse der Welt alles in allem ein erhabenes Ziel vor mentlich die archäologischen Ausgrabungen zukam, die Augen: dass die Kirche immer mehr »gleichsam das Sa- das Institut in Palästina durchführte. Hinzugefügt werden krament« werde, »das heisst Zeichen und Werkzeug für muss die hingebungsvolle und wirksame Mitarbeit bei den die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der Arbeiten der Bibelkommission. Wie sollte man dann nicht ganzen Menschheit« (Lumen gentium, Nr. 1). Mit ande- seine Tätigkeit als Konzilsvater vermerken? In seinen ren Worten, alles steht in der Sicht, die der Herr uns in zahlreichen Interventionen bestand er auf der Notwendig- der Prophezeiung des Zefanja enthüllt hat: »Dann werde keit, in den Konzilstexten die biblischen Grundlagen der ich die Lippen der Völker in reine Lippen verwandeln, da- vorgelegten Lehre mit aller Klarheit sichtbar werden zu mit alle den Namen des Herrn anrufen und ihm einmütig lassen. Und als er die Theologie der Taufe und ihre Fol- dienen« (Zef 3, 9). Es ist mein herzlicher Wunsch, dass gen für die Beziehungen zwischen den getrennten Chri- Ihre Arbeit einen wertvollen Beitrag zur Verwirklichung sten entwickelte, stellte er das entscheidende biblische dieses göttlichen Planes darstellen könne, und dafür rufe Fundament dieser Lehre klar heraus. In allgemeinerem ich auf diese und auf Sie den Segen des allmächtigen Got- Rahmen wiederholte er immer wieder, dass die Heilige tes, unseres Vaters, herab.

6 II Kardinal Bea: Sein Beitrag für die Religionsfreiheit*/*" - Rede von Dr. Gerhart Riegner", Generalsekretär des Jüdischen Weltkongresses, 18. Dezember 1981

Kardinal Willebrands schreibt in dem oben zitierten Aufsatz'' u. a. s. o. S. schen Kirche, der darauf beruhte, dass ein jüdisches Kind 5, Anm.* ... Man hat wohl mit Recht gesagt, dass der Entwurf der Erklä- im Papststaat seinen Eltern entführt und heimlich getauft rung über die Religionsfreiheit vielleicht der meist umstrittenste der Kon- zilsbeschlüsse war ... Wir sollten nicht vergessen, dass Papst Pius XII. wurde und trotz allgemeiner Proteste und Vorstellungen 1953 noch von Toleranz sprach, ebenso wie auch der Entwurf für die Er- nie zurückgebracht wurde. Heute arbeiten Vertreter des klärung der Religionsfreiheit der ihn vorbereitenden Kommission von Vatikans und des Jüdischen Weltkongresses gemeinsam Toleranz sprach und nicht von Religionsfreiheit'. (Gertrud Luckner) und einträchtig bei den Vereinten Nationen an der For- mulierung und Verbesserung eines Dokuments über die I. Religionsfreiheit. Sie bemühen sich gemeinsam um die Dasjenige Dokument, das bei den Debatten des Zweiten Annahme einer juristisch bindenden Konvention zur Vatikanums auf den grössten Widerstand stiess, war wohl Durchführung der Erklärung, die nach 20jähriger Arbeit die am 7. Dezember 1965 verkündete Erklärung über die endlich vor kurzem von der Generalversammlung der Religionsfreiheitla. Es heisst, dass im Verlauf von zwei Vereinten Nationen angenommen worden ist. Jahren seit Vorlegung des Dokuments durch das Sekreta- Schliesslich ist wohl auch Ihre liebenswürdige Einladung riat zur Förderung christlicher Einheit im Jahr 1963 fünf an mich, an dieser Diskussion teilzunehmen und dem verschiedene Versionen im Druck erschienen sind. Drei grossen Mann, den wir hier heute ehren, Tribut zu zollen, öffentliche Debatten fanden in der Aula statt, 120 Anspra- schon an sich ein symbolisch bedeutsamer Akt. chen wurden darüber gehalten, über 600 schriftliche In- II. terventionen beim Sekretariat eingereicht, ünd bevor die Kardinal Bea ist der grosse Architekt dieser historischen endgültige Abstimmung stattfand, wurden 2000 modi dis- Entwicklung, und wir empfinden Dank für das Vertrau- kutiert. Es kann also kein Zweifel darüber bestehen, dass en, die Zuversicht und Unterstützung, die ihm der ver- der Text die Gemüter stark bewegte und heftige Spaltun- storbene Papst Johannes XXIII. und später sein Nachfol- gen bei den Konzilsvätern hervorrief. Die Debatte wurde ger Papst Paul VI. haben zukommen lassen und die es zu einem Angelpunkt der katholischen Lehre. ihm ermöglichten, diese ungeheure Aufgabe zu überneh- Nach nur 16 Jahren sehen wir heute mit Erstaunen und men. Bedeutende Menschen haben ihm dabei geholfen, Bewunderung, dass die katholische Kirche und Papst Jo- von denen wir hier nur zwei anführen wollen, nämlich Bi- hannes Paul II. als ihr Haupt in den Augen der ganzen schof Emile Joseph de Smedt, Brügge, dessen ausgezeich- Welt zu Verfechtern der Idee der Religionsfreiheit gewor- neter Textvortrag in der Aula des zu jener Zeit 5. Kapitels den sind. Der Papst ist ein unbestrittener Vorkämpfer für des Schemas über den Ökumenismus bis auf den heutigen die universale Achtung und Einhaltung der Menschen- Tag eines der hervorragendsten Dokumente des Zweiten rechte und Grundfreiheiten und vor allem für das Recht Vatikanums darstellt, und John Courtney Murray SJ, der auf Religionsfreiheit, das er als Grundlage aller Men- unermüdliche amerikanische Vorkämpfer für religiöse schenrechte ansieht. Er hat diesen Glauben zunächst in Freiheit, der besonders viel zum Text selbst und zum seiner Botschaft an die Vereinten Nationen, am 2. Dezem- Kampf um seinen Erfolg beigetragen hat. ber 1978 anlässlich des 30. Jahrestages der Allgemeinen Kardinal Bea war aber der Dirigent und Hauptstratege in Erklärung über die Menschenrechte zum Ausdruck ge- diesem Kampf; ohne ihn hätte man nichts erreichen kön- bracht; des weiteren in seiner ersten Enzyklika Redemptor nen. Mit tiefreligiösem Glauben verband er die Gabe ruhi- Hominis vom 4. März 1979; dann in einer Ansprache vor ger Entschlossenheit. Äussere Bescheidenheit stand stiller der 34. Generalversammlung der Vereinten Nationen vom Selbstbehauptung und dem Vertrauen in die Aufgabe, die 2. Oktober 1979 und in dem bedeutsamen Dokument, das er übernommen hatte, nicht im Wege. Er besass ungeheu- an alle Staatsoberhäupter und Unterzeichner der Endakte re Willenskraft und unermessliche Geduld und Energiere- von Helsinki am 1. September 1980 gesandt wurde, wie serven, für die ihn viele Jahrzehnte im Dienste der Kirche auch in vielen weiteren Äusserungen.' vorbereitet hattenlb, die aber trotzdem in seinem Alter er- Ein Aussenstehender kann nur mit Erstaunen die Vitalität staunlich waren. Mit seinen Mitarbeitern war er freimütig und innere Kraft einer Institution feststellen, die sich im und offen; er besass die grossartige Eigenschaft, anderen Verlauf von 100 Jahren und basierend auf den Gesetzen zuzuhören und auf Vertrauen gründende Beziehungen zu der Kontinuität und des Fortschritts, wie sie Papst Johan- entwickeln. Er war lernbegierig und zeigte grössten nes XXIII. in der Enzyklika Pacem in Terris2 darlegt, von Respekt für die Meinung und Ansichten anderer. Seine der Lehre des Syllabus der Irrtümer von 1864 zu der 1965 grösste Gabe war sein Lächeln, das die tiefe Güte dieses in Dignitatis Humanae Personae dargelegten hat entwik- Menschen erkennen liess und ihm jedes Herz öffnete. keln können. Es gab stürmische Perioden im Konzil, in denen er zur Ein jüdischer Beobachter mit Sinn für Geschichte konsta- Zielscheibe gehässiger Intrigen, persönlicher Angriffe, tiert mit Bewegung, dass eine etwa gleiche Zeitspanne die Verleumdungen und Beleidigungen wurde. Je bewegter Verkündung der Konzilserklärung von der sog. Mortata- die Zeit, desto ruhiger, heiterer und selbstsicherer zeigte affäre trennt. Das war einer der schärfsten Konflikte er sich denen gegenüber, die ihn in seinem Büro in der zwischen der jüdischen Gemeinschaft und der katholi- Via Aurelia aufsuchten. Er war sich des Vertrauens der höheren Stellen sicher, und nach der ersten Sitzungsperio- * Das Manuskript der Rede verdanken wir Dr. Gerhart Riegner sowie de des Konzils wusste er auch, dass er bei den Konzilsvä- die Abdruckerlaubnis und diese auch dem Sekretariat zur Förderung christlicher Einheit. tern viel Rückendeckung hatte. Manchmal erschien es ** Aus dem Englischen übersetzt von Helga Croner. uns, als sei er zu optimistisch und vertrauensvoll, dass er ' Vgl. dazu in FrRu XVIII/1966. S. 12-19 (s. auch u. S. 8, Anm. 5). die Kräfte, die gegen ihn arbeiteten, unterschätzte; und 'Vgl. dazu s. o. Vorspann u. Anm.*. lb 2 Vgl. u. a. »Pacem in terris in Israel. Eine hebräische Ausgabe«, in Vgl. dazu u. a.: Paulus Gordan OSB: Das Ökumenische Gewissen der FrRu XV (Januar 1964, S. 109). Kirche. Kardinal Augustin Bea zum Gedenken, in: FrRu XX/1968, (Anmerkungen d. Red. d. FrRu) S. 3 ff.

7 das erklärt einige der Niederlagen, die er erlitt. Aber jede ernennen und mit religiösen Gemeinschaften und Behör- Niederlage spornte vielmehr seinen eisernen Willen an, den im Ausland Kontakt zu pflegen und die Möglichkei- die neuen Schwierigkeiten zu überwinden, und schliess- ten zur Errichtung von Gebäuden und zur Sammlung von lich siegten seine Entschlossenheit und seine Flexibilität. Mitteln für diese Zwecke zu billigen. Die Erklärung legt III. Gewicht auf die Bedeutung der Familie für das religiöse Leben und auf das elterliche Recht, die religiöse Erzie- Eine der ersten Aufgaben, die dem Einheitssekretariat von hung ihrer Kinder zu bestimmen. Johannes XXIII. gestellt wurden, war die Schaffung eines Die Erklärung enthält noch zwei weitere Prinzipien, die Dokuments über Religionsfreiheit. Kardinal Bea erkannte ich für besonders wichtig halte. Sie sagt, dass die Regie- von Anfang an die grosse Bedeutung, die diesem Thema rung verpflichtet ist, die unveräusserlichen Rechte des in unserer heutigen pluralistischen Gesellschaft zukommt. Menschen zu schützen und zu fördern und die Sicherstel- In einem Interview im August 1962 sagte er, »ich möchte lung der Religionsfreiheit für alle Bürger in wirksamer (auch) sagen, dass wir religiöse Freiheit als absoluten Weise durch faire Gesetze und andere entsprechende Wert betrachten, der universale Anerkennung finden muss Massnahmen sicherzustellen. Das bedeutet ganz eindeu- und nicht auf einzelne Länder beschränkt bleiben darf«. tig, dass der Staat Mittel vorsehen muss im Fall einer Ver- In drei Kapiteln seines Buches Einheit in Freiheit2a be- letzung der Religionsfreiheit. Schliesslich sagt die Erklä- handelt er ausführlich den Begriff der Religionsfreiheit. rung, dass die Regierung dafür sorgen muss, dass die Darin wird deutlich, dass es seiner Ansicht nach keine Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz sowohl öffentlich Einheit ohne Freiheit geben kann und dass die ökumeni- als im geheimen nicht aus religiösen Gründen verletzt sche Bewegung nur auf dem Prinzip der Freiheit aufge- werden darf. Auch darf unter den Bürgern keine Diskri- baut werden kann .. . minierung aus religiösen Gründen praktiziert werden. Und nach meiner Meinung hat Kardinal Bea die sechs wichtigsten Punkte akzeptiert, die laut Robert McAfee IV. Brown, einem der protestantischen Beobachter beim Kon- Die jüdische Gemeinschaft hat die Entwicklung dieses zil2b, die wichtigsten Aspekte des Dokumentes über die Textes zwar nicht ganz so leidenschaftlich verfolgt wie Religionsfreiheit darstellen: den von Nostra aetate, aber sie hat seine Annahme be- 1. Eine klare Formulierung, was Religionsfreiheit ih- grüsst als eine Entwicklung von grosser historischer Be- rem Wesen nach ist, basierend auf dem, was der deutung, und sie ist sich über die entscheidende Rolle von Glaubensakt wesentlich bedeutet. Kardinal Bea in beiden Fällen völlig im klaren. 2. Eine eindeutige Verneinung jeden Zwangs als un- Einem Vertreter der jüdischen Gemeinschaft fällt beim veräusserlich. Studium des Textes von Dignitatis Humanae Personae be- 3. Eine Unterscheidung zwischen dem abstrakten sonders auf, dass in allen praktisch-juristischen Belangen, Lehrsatz, dass >Irrtum keine Rechte hat<, und der mit denen der Text sich beschäftigt, erstaunliche Ähnlich- Wahrheit, dass >im Irrtum befindliche Menschen keit der Standpunkte zwischen der katholischen Kirche Rechte haben, die man ihnen nicht abstreiten darf< 2a. und dem jüdischen Volk besteht. Der Katalog der Prinzi- 4. Betonung des Rechts, seinem Glauben öffentlich pien und praktischen Forderungen ist identisch mit dem, Ausdruck geben zu dürfen. was jüdische Organisationen vor den Gremien der Ver- 5. Betonung des Rechts, seinem Glauben korporativ einten Nationen und bei anderen Welt- und Regionalkör- Ausdruck zu geben. perschaften gefordert haben. Diese Gleichheit der Ansich- 6. Betonung der Tatsache, dass Ausübung religiöser ten ist offensichtlich Ausdruck identischer Interessen in Überzeugungen keiner Zivilstrafe unterliegen darf. weiten Teilen der Welt. Diese Prinzipien sind in der endgültigen Version der Er- Zwar hat die jüdische Gemeinschaft keine theoretische klärung über Religionsfreiheit alle zum Ausdruck gekom- Doktrin über das Problem der Religionsfreiheit entwik- men. Vom katholisch-dogmatischen Standpunkt aus kelt, so wie es bei der katholischen Kirche der Fall ist. Die macht es die Erklärung völlig eindeutig, dass Religions- Gründe dafür sind einleuchtend. Während der vergange- freiheit nicht mit religiösem Indifferentismus oder Relati- nen 2000 Jahre sind wir überall eine Minorität gewesen, vismus gleichzusetzen ist. Es wird ausdrücklich gesagt, und erst jetzt, seit Gründung eines jüdischen Staates, ste- dass die Erklärung >traditionelle katholische Lehre über hen wir selbst dem Problem der Religionsfreiheit für Min- die moralische Pflicht des Menschen und der Gesellschaft derheiten gegenüber. Eingedenk der jahrhundertelangen gegenüber der wahren Religion unberührt lässt<. Aber die Leiden bin ich sicher, dass wir diese Prüfung bestehen >Wahrheit kann sich nicht selbst aufdrängen, es sei denn werden. Ich bin der Meinung, dass Israel sich in den er- sten 30 durch ihre eigene Wahrheit<. Jahren seines Bestehens dieser Pflichten gegen- Die Erklärung verleiht einigen dieser Prinzipien beson- über nichtjüdischen Minoritäten sehr ehrenhaft entledigt ders dadurch Ausdruck, dass sie darauf hinweist, dass hat, und ich habe keinen Zweifel daran, dass die überwie- wirkliche Religionsfreiheit nicht nur dem einzelnen frei- gende Mehrheit des jüdischen Volkes auch in Zukunft das steht, sondern auch im Zusammenschluss mit anderen Prinzip der Religionsfreiheit aufrechterhalten wird. Menschen. Das setzt das Bestehen von religiösen Vereini- Obwohl wir in der Vergangenheit keine eigene Lehre in gungen und Körperschaften voraus, die ihren Mitgliedern diesen Dingen hatten, bedeutet das nicht, dass wir nicht die private und öffentliche Praxis ihres religiösen Lebens für unsere religiöse Freiheit wo immer notwendig, vor al- ermöglichen, die Einrichtung und Entfaltung von Reli- lem in der Neuzeit, gekämpft haben. Gleichzeitig mit dem gionsunterricht und Instituten zur Förderung des religi- Prinzip der Religionsfreiheit haben wir nie den Anspruch ösen Lebens, das Recht, Menschen auszubilden und zu der jüdischen Religion bezweifelt, dass sie im Besitz der endgültigen Wahrheit ist. Auch hierin besteht Identität 2a Englisch: Vgl. Augustin Cardinal Bea, »Unity in Freedom, Reflections der Ansichten. an the Human Family«, London 1964. — Vgl. a. 0.: Augustin Kardinal Darüber hinaus gibt es noch eine jüdische Tradition, die Bea: >Einheit in Freiheit. Betrachtungen über die menschliche Familie<, in dieser Beziehung von Bedeutung ist, nämlich die Lehre Stuttgart-Berlin-Köln-Mainz, Kohlhammer 1964-65, insbes,. S. 124-131, von den noachidischen Gesetzen oder den Gesetzen der sowie: Karl Rahner/Herbert Vorgrimler: Kleines Konzils-Kompendium, Herder 1966, S. 162-165. (Anm. d. Red. d. FrRu) Söhne Noahs. »Entsprechend dieser rabbinischen Ansicht 2b Robert McAfee Brown, Observer in Rome, New York, S. 176. ist allen Menschen aufgrund ihrer Menschlichkeit gebo-

8 ten, mindestens 7 grundlegende religiöse und moralische Im Judentum besteht also eine sehr alte Tradition der Re- Prinzipien aufrechtzuhalten. Es sind die Gebote, die Göt- ligionsfreiheit, die bestimmt auf viele nachfolgende. Gene- zendienst, sexuelle Unmoral, Mord und Diebstahl verbie- rationen Einfluss gehabt hat und die für die Zukunft von ten, die Vermeidung von Blasphemie und Grausamkeit Bedeutung bleibt. gegen Tiere durch das Essen eines Gliedes von einem le- V. benden Geschöpf gebieten, und die Begründung einer auf Wir sind hier zusammengekommen, um das Andenken ei- Recht und Gesetz basierenden Regierung vorschreiben. nes grossen Mannes zu ehren. Es gibt eine jüdische Tradi- Wenn diese Grundsätze, auf denen jede zivilisierte Gesell- tion von den 36 Gerechten, lamed vav zaddikim, die es in schaft basiert, eingehalten werden, dann betrachtet das jeder Generation gibt und deren Namen geheim und ver- Judentum die Nichtjuden als der Erlösung würdig. Es be- borgen bleiben. Ihre Grossmut und ihre guten Taten hal- steht also für Nichtjuden kein zwingender Grund, den jü- ten die ganze Welt aufrecht, und ohne sie würde die Welt dischen Glauben anzunehmen, um >erlöst< zu werden.« 3 zusammenfallen. Wir lernen, dass diese Lehre >unter den Anhängern einer Es gibt auch eine Tradition von den hassidei ummot hao- traditionellen Religion erwuchs, die nicht nur ihren eige- [am, den Frommen der Völker der Welt, denen ein Platz nen Glauben liebten, sondern die meinten, dass allein ihr in der künftigen Welt zukommt. Glaube das Produkt authentischer Offenbarung ist. Es ist nicht ganz klar, wie diese beiden Traditionen zu- Trotzdem gaben sie anderen Glaubensbekenntnissen einander stehen und ob sie sich überschneiden. Aber wie Raum, und zwar nicht nur als geduldet, sondern als ein dem auch sei, ich bin überzeugt, dass Kardinal Bea, den Recht.< wir heute ehren, einer von denen war, die die Welt auf- rechthielten. Wir werden ihn nicht vergessen. Sein Anden- 3 S. Robert Cordis: Religious Liberty — a jewish perspective (manuscript). ken sei gesegnet.

3 Leitlinien zum christlich-jüdischen Dialog"/""/""" Verabschiedet London-Colney, 26. Juni 1981 Die »Consultation an the Church and the Jewish People« der Unterabtei- ständnis des Dialogs selbst bestimmen; es ist ihre Sache, lung »Dialog mit Menschen verschiedener Religionen und Ideologien« ihre Erwartungen zu beschreiben, wie ein Dialog mit der Programmeinheit 1 »Glauben und Zeugnis« des Ökumenischen Rates der Kirchen (= ÖRK) hat bei ihrer Tagung in London-Colney vom 22. Christen die eigenen Traditionen und Überzeugungen be- bis 26. 6. 1981 »Guidelines for Jewish-Christian Dialogue« erarbeitet und einflussen und zu einem besseren Verständnis des Chri- verabschiedet.*"* stentums führen kann. 1.3 Im jüdisch-christlichen Dialog ist es von besonderer 1. Einleitung Bedeutung, eine gewisse Asymmetrie zwischen diesen bei- 1.1. Der Dialog hat unter anderem die Funktion, den den Glaubensgemeinschaften zuzugestehen. Es ist ein un- Partnern die Möglichkeit zu geben, ihren Glauben mit ih- abdingbarer Bestandteil einer jeden christlichen Theolo- ren eigenen Worten und Begriffen zu beschreiben und zu gie, sich um das Verständnis des Judentums der neute- bezeugen. Dies ist von elementarer Wichtigkeit, denn Be- stamentlichen Zeit zu bemühen. Für Juden dagegen ist ein schreibungen des Glaubens anderer im Selbstbedienungs- »theologisches« Verständnis des Christentums von weni- verfahren sind eine der Wurzeln für Vorurteile, Klischees ger grundsätzlicher oder integraler Bedeutung, auch und Herablassung. Grösste Aufmerksamkeit für das wenn keine der beiden Glaubensgemeinschaften sich ohne Selbstverständnis ihrer Nachbarn macht die Christen fä- Bezug auf die andere entwickelt hat. hig, das Gebot besser zu erfüllen: >Du sollst kein falsch 1.4 Die Beziehungen zwischen Juden und Christen sind Zeugnis reden wider deinen Nächsten.< Dabei ist es insofern einzigartig, als das Christentum sich aus dem Ju- gleichgültig, ob dieser Nächste einer seit langem beste- dentum entwickelt hat. Die christliche Sicht dieser Ent- henden religiösen, kulturellen oder ideologischen Tradi- wicklung gehört zu den Themen des Dialogs, ja, sie tion oder einer neu gebildeten religiösen Gruppe ange- macht ihn dringlich. Als das Christentum seine Identität hört. Partner im Dialog müssen anerkennen, dass das im Gegenüber zum Judentum ausbildete, entwickelte die Selbstverständnis jeder Religion oder Ideologie, die einen Kirche auch ihre Sicht, ihre eigenen Definitionen und Be- universalen Anspruch erhebt, auch spezifische Vorstellun- griffe für das, was sie aus der jüdischen Überlieferung gen von anderen Religionen und Ideologien mit ein- übernahm, und auch für das, was sie in der Juden und schliesst. Der Dialog bietet Gelegenheit, das Selbstver- Christen gemeinsamen Schrift las. Im Verlauf dieses Pro- ständnis der Dialogpartner und ihre Ansichten voneinan- zesses der Selbstfindung bildete sich in der Kirche ein be- der kritisch zu durchleuchten. Ein sinnvoller Dialog ent- stimmtes Bild vom Judentum heraus; den Juden wurden steht aus der gegenseitigen Bereitschaft, einander zuzuhö- feste Rollen im Verständnis der Kirche vom Heilshandeln ren und voneinander zu lernen (ÖRK, Leitlinien zum Gottes zugeschrieben. Es ist nicht verwunderlich, dass Ju- Dialog von 1979; 111.4). den solche christlichen theologischen Lehren ablehnen, in 1.2. Mit diesen Leitlinien spricht der ÖRK vor allem für denen ihrem Volk eine negative Rolle zugesprochen wird. seine Mitgliedskirchen und zu ihnen, wenn er die Not- Die Geschichte hat wieder und wieder gezeigt, wie kurz wendigkeit des Dialogs und die Früchte des Dialogs be- in der Christenheit der Weg von solchen Vorstellungen schreibt. Menschen anderer Religionen müssen ihr Ver- hin zu offenen Ausbrüchen von Verachtung, zu Verfol- gungen und Schlimmerem gewesen ist. * Sie wurden angenommen von der Dialog-Kommission des ÖRK am 1.5 Bibeltreue gläubige Christen meinen oft, dass sie 2. Januar 1982. »das Judentum« kennen, weil sie das Alte Testament, die ** Erschienen in Englisch in »current dialogue«, dem Nachrichtendienst Berichte über die Streitgespräche zwischen Jesus und jüdi- der Unterabteilung für »Dialog mit Menschen verschiedener Religionen und Ideologien des ÖRK«, Herbst 1981. schen Lehrern sowie die früh-christliche Darstellung des *** Aus dem Englischen von Ulrike Berger, Berlin. Judentums der damaligen Zeit kennen. Keine andere Reli-

9 gion ist jemals so gründlich von den Predigern und Leh- standenen rabbinischen Judentums haben. Diese Kontro- rern der Kirche »definiert« worden wie das Judentum. versen fanden in einem jüdischen Kontext statt; als jedoch Diese Einstellung wird oft noch dadurch bestärkt, dass die Worte Jesu von Christen benutzt wurden, die sich man über die Geschichte jüdischen Lebens und Denkens nicht mehr wie Jesus mit dem jüdischen Volk identifizier- in den 1900 Jahren seit der Trennung der Wege von Ju- ten, wurden seine Worte oft zu Waffen im antijüdischen dentum und Christentum nichts weiss. Kampf, und so wurde ihre ursprüngliche Absicht auf tra- 1.6 Aus diesen Gründen ist es besonders wichtig, dass gische Weise verzerrt. Infolgedessen begann eine inner- die Christen aufmerksam darauf hören — durch eigenes christliche Auseinandersetzung über die Frage, wie die Bemühen und im Verlauf des Dialogs —, wie Juden ihre Abschnitte des Neuen Testaments zu verstehen seien, die Geschichte und ihre Überlieferungen, ihren Glauben und antijüdische Aussagen zu enthalten scheinen. ihren Gottesdienst »mit eigenen Worten« beschreiben. Ein 2.5. Das Judentum entwickelte in seiner reichen geisti- gegenseitiges Hören, wie der je andere vom Partner gen und geistlichen Überlieferung im Talmud den mass- wahrgenommen wird, mag zudem ein Schritt in Richtung gebenden Leitfaden für jüdisches Leben als dankbare Ant- auf den Abbau von Ängsten sein, es kann Missverständ- wort auf die Gnade des Bundes Gottes mit Israel. Im Lau- nisse korrigieren, die durch eine gegenseitige Abkapse- fe der Jahrhunderte traten bedeutende Kommentare, lung vom anderen entstanden sind. gründliche philosophische Arbeiten und tief religiöse Dichtungen hinzu. Für Juden steht der Talmud im Mittel- 2. Wege zu einem christlichen Verständnis des Judentums punkt, er ist für sie so verbindlich wie das Neue Testa- 2.1. Durch den Dialog mit Juden haben viele Christen ment für Christen. Das Judentum ist wie das Christentum den Reichtum und die Lebendigkeit jüdischen Glaubens mehr als nur die Religion der Heiligen Schriften Israels. und Lebens im Gottesbund schätzen gelernt und sind in Was Christen das Alte Testament nennen, hat im Talmud ihrer eigenen Gotteserfahrung sowie in ihrer Erkenntnis und späteren Werken Auslegungen gefunden, die für das des Willen Gottes für seine Schöpfung bereichert worden. Judentum an der Autorität des Mose teilhaben. Im Dialog mit Juden haben Christen gelernt, dass die 2.6. Christen wie Juden lesen in der Hebräischen Bibel wirkliche Geschichte des jüdischen Glaubens und des jü- die Geschichte, die Israels heilige Erinnerung an Gottes dischen Lebens nicht mit den Vorstellungen überein- Erwählung und Bund mit seinem Volk überliefert. Für Ju- stimmt, die eine lange Tradition christlichen Lehrens und den ist dies ihre eigene Geschichte, die kontinuierlich bis Lernens geprägt haben, Vorstellungen, die durch die in die Gegenwart reicht. Christen, seit den frühesten Zei- abendländische Kultur und Literatur auch in andere Teile ten der Kirche meist heidnischer Herkunft, glauben, dass der Welt gebracht wurden. sie aus Gnade Erben eben dieser Geschichte geworden 2.2. Für viele Christen ist das Judentum als lebendige sind. Die einzigartige Beziehung zwischen den beiden Glau- Religion mit der Ankunft des Christus und der Zerstö- bensgemeinschaften, die beide den Gott Abrahams, Isaaks rung des Zweiten Tempels in Jerusalem zu seinem Ende und Jakobs anbeten, ist eine historische Tatsache. Wie die- gekommen: Die Kirche als Gottesvolk ist an die Stelle der se jedoch theologisch zu verstehen ist, ist ein Gegenstand Juden getreten, das heute noch lebende Judentum er- der Auseinandersetzung unter Christen, die aber wesent- scheint als eine erstarrte Gesetzesreligion. liche Anregungen aus dem Dialog mit Juden gewinnt. Aus dieser Sicht war der Bund Gottes mit dem Volk Israel 2.7. Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den nur eine Vorbereitung auf das Kommen Christi, danach beiden Glaubensweisen müssen sorgfältig bedacht wer- war er abgetan. Deshalb hat man das Judentum der ersten den. Indem die Kirche im Alten und Neuen Testament die Jahrhunderte vor und nach der Geburt Jesu als »Spätju- eine und gültige Offenbarung der Erlösung sieht, teilt sie dentum« bezeichnet. Die Pharisäer wurden als Ausbund Israels Glauben an den einen Gott, den die Kirche im jüdischer Gesetzlichkeit verstanden; Juden und jüdische Geist als Gott und Vater ihres Herrn Jesus Christus kennt. Gruppen wurden als dunkle Folie gezeichnet; die Wahr- Für Christen ist Jesus Christus der eingeborene Sohn des heit und Schönheit des christlichen Glaubens wollte man Vaters, durch den Millionen Menschen berufen sind, den dadurch hervorheben, dass man das Judentum als falsch Gott zu lieben und anzubeten, der zuerst den Bund mit und hässlich darstellte. dem Volk Israel schloss. Wenn Christen den einen Gott in 2.3. Im Verlauf einer erneuten Beschäftigung mit dem Jesus Christus durch den Geist kennen, dann beten sie zu Judentum und im Dialog mit Juden lernen Christen, dass diesem Gott mit dem trinitarischen Bekenntnis zur fleisch- das Judentum der Zeit Jesu am Anfang einer langen Ent- gewordenen Gegenwart Gottes, und damit in einer Spra- wicklung stand. Unter der Führung der Pharisäer begann che, die dem jüdischen Gottesdienst fremd ist. im jüdischen Volk eine geistige und geistliche Erneuerung Christen und Juden glauben gemeinsam, dass Gott Mann von gewaltiger Kraft, die es dem jüdischen Volk ermög- und Frau als Krone der Schöpfung geschaffen und dass er lichte, die Katastrophe zu überleben, die die Zerstörung sie berufen hat, in Verantwortung vor ihm Haushalter der des Tempels bedeutete. Diese Erneuerung führte zum rab- Schöpfung zu sein. Juden und Christen lernen in ihrer binischen Judentum, das Mischna und Talmud schuf und Heiligen Schrift, dass sie für ihre Nächsten verantwortlich das die Grundlagen für ein kraftvolles, schöpferisches Le- sind, vor allem für die Schwachen, die Armen, die Unter- ben durch die Jahrhunderte hindurch legte. drückten. Auf unterschiedliche Weise erwarten Juden und 2.4. Jesus als Jude geboren, er wuchs auf in der jüdi- Christen den Tag, an dem Gott die Schöpfung erlösen schen Überlieferung. Er lebte mit der Hebräischen Bibel, wird. Im Dialog mit Juden können Christen zu einem tie- die für ihn höchste Autorität hatte und der er in seinem feren Verständnis der Exodus-Hoffnung auf Befreiung Leben und Lehren eine neue Auslegung gab. Vor diesem gelangen, zum Beten und Arbeiten für das Kommen von Hintergrund verkündigte Jesus, dass das Reich Gottes na- Gerechtigkeit und Frieden auf Erden. he herbeigekommen sei; in seiner Auferstehung sahen sei- 2.8. Wenn mehr und mehr Christen verschiedener Kon- ne Anhänger die Bestätigung dafür, dass er der Herr und fessionen in den Dialog mit Juden auf örtlicher, nationa- Messias war. ler und internationaler Ebene eintreten, dann werden sie Christen sollten nicht vergessen, dass viele der Kontrover- ihr wachsendes Verständnis vom Judentum noch anders, sen zwischen Jesus und den »Schriftgelehrten und Phari- mit anderen Worten und Begriffen ausdrücken, als diese säern«, die im Neuen Testament überliefert sind, ihre Par- Leitlinien es tun. Diese Erkenntnisse sollten zwischen den allelen innerhalb des Pharisäismus und des daraus ent- Kirchen ausgetauscht werden — zur Bereicherung aller.

10 3. Authentisches christliches Zeugnis sten; so gelten für sie auch dieselben Regeln für den Dia- 3.1. Christen sind zum Zeugnis in Wort und Tat beru- log und gegen jeden Zwang wie sonst unter Christen. fen. Die Kirche hat eine Mission, anders kann sie nicht 4. Antisemitismus — nach wie vor eine Sorge im christlich- sein. jüdischen Dialog 3.2. Christen haben ihr Zeugnis oft durch Zwangsprose- 4.1. Christen können nicht in einen Dialog mit Juden lytismus entstellt — bewusst oder unbewusst, offen oder eintreten, ohne sich des Antisemitismus und seiner offen- versteckt. Im Blick auf den Proselytismus zwischen christ- bar unausrottbaren langen Geschichte und Gegenwart be- lichen Kirchen erklärte die Gemeinsame Arbeitsgruppe wusst zu sein, zumal in den Ländern, wo Juden eine Min- der Römisch-Katholischen Kirche und des Ökumenischen derheit unter Christen sind. Die erste Vollversammlung Rates der Kirchen: »Proselytismus ist alles, was das Recht des Ökumenischen Rates der Kirchen verdammte in Am- eines Menschen — er sei Christ oder Nichtchrist — berührt, sterdam 1948 den Antisemitismus: »Wir rufen alle von uns in religiösen Angelegenheiten frei von äusserem Zwang zu vertretenen Kirchen auf, den Antisemitismus, gleichviel sein« (Ecumenical Review 1/1971, S. 11). welchen Ursprungs, als schlechterdings mit christlichem 3.3. Diese Absage an den Proselytismus und die Mah- Bekenntnis und Leben unvereinbar zu verwerfen. Der An- nung zur Achtung der Identität und Integrität aller Men- tisemitismus ist eine Sünde gegen Gott und Menschen«'. schen und aller Religionen ist auch in der Beziehung zu Dieser Appell ist immer wieder neu bekräftigt worden. Juden unabdingbar, ganz besonders dort, wo Juden als 4.2. Christen müssen sich der tragischen Geschichte des Minderheit unter Christen leben. Die Bemühungen, jede Antisemitismus offen stellen, die die Massaker an Juden in Art von Zwang zu vermeiden, sind von höchster Bedeu- Europa und im Nahen Osten während der Kreuzzüge, tung. Im Dialog sollten Wege gefunden werden, wie Sor- der Inquisition, der Pogrome und des Holocaust ein- gen, Erkenntnisse ausgetauscht werden können. schliesst. Nur wenn sie diese Geschichte zur Kenntnis 3.4. Während Christen sich darin einig sind, dass es kei- nehmen, können Christen das tief verwurzelte Misstrauen nerlei irgendwie gearteten Zwang geben darf, sind sie sich verstehen, das viele Juden gegenüber Christen und Chri- — aufgrund ihres jeweiligen Schriftverständnisses — unei- stentum bis heute haben. Christen sind aufgerufen, den nig darin, wie ihre Mission glaubwürdig gestaltet werden Antisemitismus mit allen zur Verfügung stehenden Mit- kann. teln zu bekämpfen, um so mehr, als es erschreckende An- Es gibt in dieser Frage ein weites Spektrum, angefangen zeichen eines wachsenden neuen Antisemitismus in vielen bei den Überzeugungen derer, die in der faktischen Prä- Teilen der Welt gibt. Diejenigen, die in Ländern leben, in senz der Kirche in der Welt bereits das Zeugnis sehen, zu denen es zu antisemitischen Ausschreitungen kommt, dem sie berufen sind, bis zu jenen, die unter Mission die haben die Verpflichtung, den anderen Christen die stets ausdrückliche, organisierte Verkündigung des Evange- gegenwärtige Gefahr aufzudecken, die sie selbst im Anti- liums an alle verstehen, die Jesus nicht als Heiland ange- judaismus und Antisemitismus erkannt haben. nommen haben. 4.3. Die christliche Antwort auf den Holocaust muss die Im Blick auf die Beziehungen zu den Juden gibt es weitere feste Entschlossenheit sein, dass Derartiges nie wieder ge- Meinungsverschiedenheiten. Es gibt Christen, die der Ju- schehen darf. Die Verachtung für Juden und Judentum, denmission eine besondere heilsgeschichtliche Bedeutung wie sie in manchen Teilen der Christenheit gelehrt wurde, beimessen, und es gibt Christen, die glauben, dass die Be- war eine der Wurzeln für den nationalsozialistischen Ho- kehrung der Juden das eschatologische Ereignis sein wird, locaust. Die Kirche muss lernen, das Evangelium so zu das die Geschichte der Welt zu ihrem Ende bringt. Es gibt predigen und zu lehren, dass es nicht gegen das jüdische solche, die der Judenmission keine besondere Bedeutung Volk benutzt werden kann. Die Kirchen müssen in vor- zuerkennen, sie jedoch in die eine Mission an alle ein- derster Reihe stehen bei dem Bemühen, alle Vorausset- schliessen, die Christus nicht als ihren Heiland angenom- zungen zu beseitigen, die zu weiteren Verfolgungen und men haben. Und es gibt solche, die glauben, dass Juden- zu neuem Mord am jüdischen Volk führen könnten. mission kein Teil eines glaubwürdigen christlichen Zeug- 4.4. Diskriminierungen und Verfolgungen des jüdischen nisses ist, weil das jüdische Volk seine Erfüllung in der Volkes haben tiefe Wurzeln in den gesellschaftlichen, Treue zum alten Gottesbund findet. wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen. Oft wer- Der Dialog wird zu Recht als wechselseitiges Zeugnis be- den religiöse Unterschiede übermässig herausgestrichen, schrieben, wenn er in der Absicht geschieht, auf den ande- um rassistischen Hass zu rechtfertigen, der den eigenen ren zu hören, um seinen Glauben, seine Hoffnungen, Er- Interessen dient. Ähnliche Phänomene spielen in beinahe kenntnisse und Sorgen besser zu verstehen und den eige- allen ethnischen oder rassischen Konflikten eine Rolle. nen Glauben nach bestem Vermögen zu erläutern. Der Christen sollten alle religiösen Vorurteile bekämpfen, Geist des Dialogs besteht darin, in aller menschlichen durch die Menschen zu Sündenböcken, also für die Fehler Verletzlichkeit für den anderen ganz offen, ganz präsent und Probleme der eigenen gesellschaftlichen oder politi- zu sein. schen Verhältnisse, verantwortlich gemacht werden. 3.5. Im Dialog mit Juden sollte bewusst sein, dass ein Ju- 4.5. Christen in den Teilen der Welt, wo keine oder nur de, der Jesus als Messias anerkennt, nach rabbinischer wenige Juden leben, wollen die Erfahrungen und Verfeh- Überlieferung als Abtrünniger angesehen wird. Für viele lungen derer nicht übernehmen, die ihnen das Evangelium Christen jüdischer Herkunft ist jedoch ihre Zugehörigkeit einst gebracht haben. Vielmehr wollen sie auf eigene Wei- zum jüdischen Volk ein wesentlicher Teil ihres geistigen se die Bedeutung der christlich-jüdischen Beziehungen und geistlichen Lebens. Sie geben dieser Realität auf ver- von den Anfängen bis heute für ihr Leben und ihr Zeugnis schiedene Weise Ausdruck, einige, indem sie Teile der jü- entdecken. dischen Tradition im Gottesdienst und in der Lebensfüh- 5. Das Land rung übernehmen, viele, indem sie sich dem Wohlergehen des jüdischen Volkes und des Staates Israel besonders ver- 5.1. Die Aussage der »Leitlinien zum Dialog« des Öku- pflichtet fühlen. menischen Rates der Kirchen, dass es eine der Aufgaben Unter den Christen jüdischer Herkunft findet sich ein des Dialogs sein muss, den Teilnehmern zu ermöglichen, ebenso grosser Spielraum hinsichtlich der 'Einstellungen 1 Vgl. dazu: Der Ökumenische Rat der Kirchen in Amsterdam, in: gegenüber der Frage der Mission wie unter anderen Chri- FrRu I 1, S. 8 ff.

11 ihren Glauben »mit eigenen Worten« zu beschreiben und Für Juden ist die Beziehung zum Land grundlegend. Es ist zu bezeugen, ist besonders wichtig im Blick auf das Band das Land der Väter und das Land der Verheissungen. zwischen Land und Volk Israel. Diese Verbindung hat 5.4. Vielen Christen fällt es schwer, diese grundlegende nach Jahrhunderten der Zerstreuung ihren Ausdruck im Bedeutung der jüdischen Bindung an das Land zu begrei- Staat Israel gefunden. Das Recht des Staates Israel auf ei- fen. Sie halten sie für »partikularistisch« und damit für im ne Existenz in Sicherheit und Frieden ist für das jüdische Widerspruch zum »universalistischen« Zug der christli- Bewusstsein grundlegend, daher ist es ein Thema von chen Botschaft stehend. Eine solche Sicht wird aber den höchster Bedeutung in jedem Dialog mit Juden. partikularen und den universalen Elementen des jüdischen 5.2. Wenn Christen in den Dialog mit Juden eintreten, Glaubens sowenig gerecht wie den partikularen und uni- erkennen sie auch das Recht der Palästinenser auf Selbst- versalen Elementen des christlichen Verständnisses vom bestimmung und auf die Verwirklichung ihrer nationalen Land. Christen müssen deshalb ihre Theologie und die Identität an. Es ist notwendig, auch Palästinenser — Chri- Geschichte ihres eigenen Glaubens in dieser Hinsicht neu sten wie Muslime — ihre besondere Verbindung mit dem bedenken, wo immer es im Dialog mit Juden um die Be- Land »mit eigenen Worten« aussagen zu lassen. Es muss deutung des Landes geht. in Gottes Plan eine Möglichkeit geben für alle, in Sicher- 5.5. Unterschiedliche christliche Verhältnisbestimmun- heit und Frieden zu leben! gen über die Beziehung zwischen Glaube und Volk, Kir- 5.3. Das Land ist allen drei monotheistischen Religionen che und Staat, Religion und Politik verhindern oft ein heilig, allerdings in unterschiedlicher Weise. Alle sind von wirkliches Verständnis für die Bedeutung des Landes für ihren Anfängen an im Lande vorhanden und präsent ge- Juden in Israel wie in der Diaspora. Sie verhindern auch wesen. ein Verständnis für die Bedeutung des Landes für palästi- Für Muslime hat das Land eine besondere Bedeutung und nensische Christen und Muslime. ist mit seinen heiligen Stätten ein integraler Bestandteil 5.6. Diese Bindungen an das Land machen einmal mehr der muslimischen Welt, Symbol für Gottes universale Ver- die Notwendigkeit des ständigen Dialogs mit Juden deut- heissung an alle Nachkommen Abrahams. lich. In diesem Dialog sollte nach Wegen gesucht werden, Für unzählige Christen hat das Land eine besondere Be- wie die gegenseitige Achtung und die Versöhnung zwi- deutung, es ist das Land der Bibel. In diesem Lande wurde schen Juden, Christen und Muslimen im Nahen Osten Jesus geboren, hier wirkte und lebte er, hier litt und starb und anderswo gefördert werden kann — ein Beitrag zum er und wurde von den Toten auferweckt. Wohl der ganzen Menschenfamilie Gottes.

4 Institut für Jüdisch-Christliche Forschung in Luzern Wissenschaft vom Judentum und christliche Theologie: Prinzipien und Probleme einer Zusammenarbeit Vortrag von Shemaryahu Talmon, Professor für Bibelwissenschaft an der Hebräischen Universität Jerusalem*, zur feierlichen Eröffnung des Instituts für Jüdisch-Christliche Forschung an der Katholischen Fakultät Luzern am 22. Oktober 1981

Die feierliche Eröffnung des Instituts für Jüdisch-Christli- dass von jüdischer Seite her auch kritische Fragen oder che Forschung (IJCF) in Luzern, an der die hier Versam- Anfragen an die christlichen Partner gestellt werden. Dass melten teilnehmen dürfen, kann mit Recht als ein Meilen- dergleichen Anfragen oft in Anklagen auslaufen können, stein auf dem langen Weg bezeichnet werden, den Juden braucht wohl nicht eruiert zu werden. Es wäre aber völlig und Christen miteinander, nebeneinander und oft ge- verfehlt, bei der heutigen Gelegenheit den Leidensweg des trennt in Opposition und Feindschaft durch eine fast Judentums im Lebensraum und Machtbereich des Chri- zweitausendjährige Geschichte gewandelt sind. Die weg- stentums zu rekapitulieren. Er kann, schlagwortartig, in weisende Natur und Aufgabe dieses neuen Instituts ver- einem pointierten Satz des umstrittenen Schweizer Theo- pflichtet uns, Christen und Juden, an diesem denkwürdi- logen Hans Küng zusammengefasst werden: »Die Kirche gen Tage all die zu loben, die die Realisierung dieses epo- hat wohl mehr Märtyrer umgebracht als hervorge- chemachenden Unterfangens durch Rat und Beihilfe er- bracht.« 1 Ebensowenig wäre es angebracht, gerade hier ei- möglichten. Doch vor und über allen gebührt unser Dank ne Anklage gegen die christliche Theologie oder gegen dem Initiator des Unternehmens, unserem Freund Profes- christliche Theologen zu erheben wegen der Verheimli- sor Clemens Thoma. Es gelang ihm, und nur ihm konnte chung oder der Unterschätzung des jüdischen Substrats es gelingen, unter vollstem persönlichen Einsatz und der im christlichen Glauben und der Missdarstellungen des Mobilisierung der durch ihn vertretenen ungewöhnlichen Judentums und seiner Lehren, an denen es leider auch in Kombination von Bibelwissenschaft und Judaistik, sich unserer Zeit nicht fehlt. Kritik muss geübt werden und über alle Hindernisse, an denen es wohl nicht gefehlt hat, wird auch geübt. Sie kann, vor allem wenn es eine Selbst- hinwegzuschwingen, um einen lang gehegten Plan zu ver- kritik ist, zu einer Katharsis führen, die neue Verständi- wirklichen. gungsmöglichkeiten eröffnet. In seiner bahnbrechenden Auf dem Hintergrund unserer geschichtlichen Erfahrun- Christlichen Theologie des Judentums 2, die jetzt auch in gen ist es unvermeidlich, dass bei der Eröffnung eines In- stituts für Jüdisch-Christliche Forschung auf Prinzipien 1 Küng, Christ-Sein (München-Zürich 1974), S. 160. hingewiesen werden muss, die der geplanten >Forschung< 2 C. Thoma, Christliche Theologie des Judentums (Aschaffenburg 1978); als Richtlinien dienen sollten. Ebenso ist es notwendig, vgl. FrRu XXX/1978, S. 56 ff.

12 einer englischen Fassung vorliegt', hat Clemens Thoma likanischen, lutheranischen und evangelikalen Kirchen einen Wegweiser für eine solche Verständigungsmöglich- legen beredtes Zeugnis ab von einer neuen Aufgeschlos- keit von Juden und Christen gesetzt. Wir haben Grund zu senheit der christlichen Welt dem Judentum gegenüber. 6 hoffen, dass die von ihm begonnene Arbeit in dem von Diese Neuorientierung wird unterbaut durch ein sich im- ihm geleiteten Institut fortgeführt und weiterentwickelt mer stärker entfaltendes Bewusstsein der Gleichberechti- werden wird. gung aller Menschen unbeeinträchtigt von Rassen- und Die Problematik einer christlich-jüdischen Forschung Glaubenszugehörigkeit. — Der von Christen ausgehende kann im Rahmen dieses Festaktes nur angeschnitten und Impuls stiess auf die unverzügliche Bereitschaft von Ju- nicht in der ihr gebührenden Tiefe und dem erforderli- den, die ausgestreckte Hand zu ergreifen, in dem Ver- chen Umfang untersucht werden, selbst wenn drei Redner such, die verheerenden Ereignisse unserer eigenen Zeit sie aus verschiedenen Positionen, betrachten. Ich will mich wie der Vergangenheit zu verarbeiten — nicht zu vergessen auf einige wenige Punkte beschränken, wobei ich mich —, um ein erneutes Zusammengehen von Christen mit Ju- mit einem an Jes 28, 20 angelehnten Spruch der Weisen den zu ermöglichen. entschuldige: qazar ham-mazza' mehishtareac welö card- Diese positiven Entwicklungen dürfen aber nicht zu einer ka ham-mela'ka ligmör (vgl. Av. 2, 21). In freier deutscher Vogel-Strauss-Politik führen. Das christlich-jüdische Ge- -Übersetzung lautet dieser Spruch: Wir können uns hier spräch hat in vielen Kreisen eine Atmosphäre von gegen- nicht in die Breite legen, und es kann nicht die Aufgabe seitigem Verständnis und von Freundschaft erzeugt. Es sein, das Thema zu erschöpfen. In meinen Bemerkungen wäre aber verhängnisvoll, zu glauben, dass wir auf diesem beabsichtige ich nicht, einem jüdischen Konsensus Aus- Gebiet schon sechs Werktage hinter uns haben und uns druck zu geben. Ich bezweifle, dass ein solcher besteht. nun am siebten gelassen auf unseren Lorbeeren ausruhen Ich möchte nur einige Gedanken vorlegen, die mich, ei- können. Alte Vorurteile sind nur zum Teil behoben. Die nen auf seiner Tradition bestehenden und in ihr wurzeln- Arbeit wird von einer verhältnismässig kleinen Schar von den Juden, beschäftigen. Juden und Christen getragen. Sie hat zur Zeit nur einen Wir eröffnen heute, meinem Wissen nach, das erste Insti- marginalen Einfluss auf ererbte Denkweisen der Vielen — tut für Jüdisch-Christliche Forschung in Europa. In Par- Christen und Juden. Es ist eine Sisyphus-Arbeit. Neue enthese möchte ich bemerken, dass das Luzerner Institut Vorurteile gesellen sich zu den überlieferten oder ersetzen wie sein amerikanischer Vorläufer — The Institute for Ju- die, mit denen aufgeräumt wurde. Eine anti-historische daeo-Christian Studies an der Seton Hall University' — im Ideologie und Lebenseinstellung, eine teuflische Revision Rahmen einer Katholisch-Theologischen Fakultät ge- der kontemporären Geschichte — die Verleugnung des gründet wird. Das Luzerner IJCF hat sich ein doppeltes Holocaust — gefährden die in der Nachkriegsepoche gesä- Ziel gesetzt, entsprechend dem zweisträngigen erneuten te Saat der Aussöhnung und bereiten wiederum den Bo- christlichen Interesse am Judentum und seinen Lehren ei- den vor für die Einpflanzung von Judenhass, Antisemitis- nerseits und andererseits an Juden in der Gegenwart, an mus und die Entlegitimisierung Israels. dem jüdischen Volk und seiner Geschichte: Diese Umstände allein wären ein ausreichender Grund für 1. Das eine Vorhaben, in dem Bericht der »Arbeitsgruppe die Eröffnung eines Instituts für Jüdisch-Christliche For- Theologische Fakultät« an den Regierungsrat des Kan- schung, das es als seine Aufgabe ansieht, »ein praktisches tons Luzern so formuliert: »damit aus den beidseitigen Zusammengehen von Juden und Christen in wichtigen Traditionen Grundlagen für ein praktisches Zusammen- Menschheitsanliegen« zu erarbeiten. Es geht darum, be- gehen von Juden und Christen in wichtigen Menschheits- stehende Missverständnisse zu bereinigen, bösartigen Ver- anliegen erarbeitet werden können« — hat eine existentiel- leumdungen die Spitze zu brechen und durch eine intensi- le Ausrichtung. Auf diesem Gebiet kann sich das Institut ve Aufklärungsarbeit die Basis für eine möglichst rei- in eine geistige Strömung einordnen, die seit einigen Jahr- bungslose Koexistenz von Juden und Christen zu schaf- zehnten im Fluss ist. Sie resultiert von einem Sich-Besin- fen. Dieses Ziel muss unter dem Drang der Umstände nen der Kirchen in bezug auf ihre Einstellung zum Juden- kurz gesteckt werden, damit es, zumindest halbwegs, tum, das in entscheidender Weise von der diabolischen >schon in unseren Tagen< erreicht werden kann. Die prak- Erfahrung des Holocaust ausgelöst wurde. Die Konzilser- tische Ausrichtung bedarf eines tragfähigen religionsphilo- klärung »Nostra aetate«, das Vatikanpapier aus dem Jah- sophischen Unterbaus, damit sie sich nicht in schwärme- re 1975, Erklärungen und Hirtenbriefe der französischen, risch-pauschalisierende, wenn auch gutgemeinte Aussagen deutschen und amerikanischen Bischofskonferenzen, der verläuft, mit denen man an die Wurzeln der Problematik deutschen evangelischen Kirche, der rheinischen Synode, nicht herankommt. Nichts liegt mir ferner, als den Men- ein Papier des Weltkirchenrates, das noch ratifiziert wer- schen, die in das christlich-jüdische Gespräch eingespannt den muss, und viele andere Dokumente und Publikatio- sind, nur eine praktisch-pragmatische Motivation zu un- nen, die hier nicht aufgezählt werden können', Konsulta- tionen von jüdischen Gremien mit repräsentativen Komi- 6 Siehe u.a. die folgenden Berichte: Jewish-Christian Dialogue — Six teen der katholischen, protestantischen, orthodoxen, ang- Years of Christian-Jewish Consultations, published by the International Jewish Committee on Interreligious Consultations and the World Coun- cil of ChurcheS, Sub-unit on Dialogue with the People of Living Faiths • C. Thoma, A Christian Theology of Judaism, New York 1980. and Ideologies (Geneva 1975) [vgl. dazu: Das Internationale kath.-jüdi- • Das Lebenswerk des Gründers dieses Instituts wurde vor kurzem von sche Verbindungskommittee (IJCIC) u. a. Die 6. Tagung, die 9. Tagung, Erika Weinzierl dargestellt und gewürdigt. Siehe: Standing Before God — in: »Information Service«, Vatican City, No. 45, S. 29 f., No. 43, S. 61, Studies on Prayer in Scripture and in Tradition with Essays in Honor of in: FrRu XXXII/1980, S. 73-76]; Von Vorurteilen zum Verständnis — John M. Oesterreicher, ed. by A. Finkel and L. Frizzell (New York Dokumente zum jüdisch-christlichen Dialog, hg. von F. v. Hammerstein 1981), pp. 13-19. (Frankfurt a. M. 1976) [vgl. dazu in: FrRu XXVIII/1976, S. 115]; A • Es liegen mehrere Sammlungen dieser Dokumente vor, von denen nur Christian Orthodox/Jewish Encounter, Lucerne, Switzerland, The Greek einige hier vermerkt werden sollen. H. Croner, Stepping Stones to Fur- Orthodox Theological Review vol. XXIV, 4 (Brookline, Mass. 1979) ther Jewish-Christian Relations, An Unabridged Collection of Christian [vgl. FrRu XXDC/1977, S. 37 f.]; Anglicans and Jews, First Jezeish-Angli- Documents (New York 1977) [vgl. FrRu XXIX/1977, S 153 f.1; F. Muss- can Consultation: Law and Religion in Contemporary Society, Christian- ner, Traktat über die Juden (München 1979) [vgl. FrRu XXX/1979, Jewish Relations vol. XIV, 1 (London 1981). Laufende Berichte über S. 37 ff.]; M.-Th. Hoch / B. Dupuy, Les Eglises devant le Judaisme — Do- christlich-jüdische Begegnungen werden in verschiedenen Publikationen cuments Officiels 1918-1978 (Paris 1980). — Das Israel Interfaith Com- geliefert. Besonders hervorzuheben sind: Freiburger Rundbrief, hg. von mittee bereitet eine Ausgabe dieser Dokumente in hebräischer Sprache G. Luckner und C. Thoma; Christian Jewish Relations, A Documentary vor. Survey, published by the Institute of Jewish Affairs (London).

13 terschieben. Aber die Erfahrung lehrt, dass in den not- gie zu entwickeln, auf die die von Clemens Thoma gelie- wendigerweise zeitlich beschränkten Begegnungen, in de- ferte Definition einer christlichen Theologie anwendbar nen dieses Gespräch ausgetragen wird, der erforderliche ist: »Theologie ist eine sich nach der Offenbarung rich- religionsphilosophische Unterbau sich nicht erarbeiten tende, normierende Wissenschaft, deren Bezugspunkte lässt. Dies kann nur in einer langfristigen Zusammenarbeit zwar geschichtlicher Natur sind, deren Richtlinien aber von christlichen und jüdischen Theologen und Wissen- nicht nur von den variablen Ergebnissen der Geschichts- schaftlern im Rahmen von dafür zuständigen Institutio- wissenschaften bestimmt werden können.«' So würden nen erreicht oder teilweise erreicht werden. etwa auch die Begründer der Wissenschaft vom Judentum 2. Diese Betrachtungen lenken unseren Blick auf das argumentiert haben, die das Judentum rein in seinen gei- zweite Ziel, das sich das Institut für Jüdisch-Christliche stigen idealen Erscheinungen konzentriert sahen. Damals Forschung gesteckt hat, nämlich »den religiösen christli- ging es darum, dem Judentum und seinen Lehren eine chen und jüdischen Verständigungsbemühungen eine soli- Eintrittskarte in die Welt der Universitäten zu verschaf- de theologische Fundierung« zu geben. Notabene, der fen. Anstelle von Talmud-Akademien (Jeschivot) setzte »Forschung« soll dieses Institut dienen, ausgetragen in der man Jüdische Hochschulen. Wie einst Josephus Flavius Zusammenarbeit von christlichen und jüdischen akade- das Judentum für seine damalige Umwelt hellenisierte, so misch geschulten Kräften. >westernisierte< man es im 19. Jahrhundert durch die An- Die geplante Zusammenarbeit kann, in gewissem Aus- passung seiner Darstellung an die in der christlichen mass, auf ein sich im Gang befindendes Zusammendenken Theologie vorherrschende Wertskala und die Interpreta- und auf Veröffentlichungen aufbauen, wie das schon er- tionsmethoden. Man hoffte, auf diesem Wege eine Sym- wähnte Buch von Clemens Thoma, neben dem man noch biose zwischen Judentum und Menschentum (lies: eine ganze Reihe von Publikationen, von christlichen so- Deutschtum) zu schaffen. Ob dieser Versuch glückte, ist wohl als jüdischen Autoren, erwähnen könnte. Ich muss eine umstrittene Frage. Einer der hervorragendsten Judai- sten unserer Zeit, Gerhard Scholem, beurteilt den Sach- mich hier damit begnügen, auf die bei Thoma angeführ- Diese Phase der Wissenschaft vom Ju- ten Namen und Werke hinzuweisen, zu denen noch etli- verhalt negativ.8 dentum fand im 20. Jahrhundert ein vorzeitiges und tragi- che, die z. B. Franz Mussner in seinem Traktat über die sches Ende. Die grausame Vernichtung der europäischen Juden (1979) anführt, hinzugefügt werden können. Die Juden beraubte sie ihrer Träger und ihrer Infrastruktur. Arbeit des Luzerner Instituts beginnt also wahrlich nicht Neben diesem von aussen auf sie wirkenden Faktor muss ab nihilo. Trotzdem erheben sich die Fragen, die man bei auch ein innerer in Betracht genommen werden. Dürfen der Planung der Forschung im Auge behalten muss. Er- wir annehmen, dass jene theologisch-apologetische Auf- lauben Sie mir nur einige kurz anzumelden: fassung einer Wissenschaft vom Judentum sich in der glei- a) Wer arbeitet mit? chen Richtung weiterentwickelt hätte, wenn es ihr gege- Das Institut wird von der Theologischen Fakultät Luzern ben wäre, sich weiterzuentwickeln? Hätte die Idealisie- gefördert und ist in sie eingebaut. Damit sind das erfor- rung und Verklärung des Judentums, die der Wissen- derliche Minimum von christlichen Mitarbeitern an dem schaft vom Judentum eigentümlich war, nicht letzten En- Unternehmen und die Grundbedingungen für die Heran- des zu einer Liquidation geführt? Gotthold Weil berichtet ziehung eines wissenschaftlichen Nachwuchses sicherge- von einem Gespräch, das er zu Beginn unseres Jahrhun- stellt. Man darf auch erwarten, dass das Institut eine An- derts mit seinem Lehrer Moritz Steinschneider führte, in ziehungskraft für christliche Theologen und Studenten im dem der damals schon sehr alte Herr seine eigene Über- deutschen Sprachraum, und vielleicht auch darüber hin- zeugung kurz und prägnant zusammenfasste: »Wir haben aus, entwickeln wird. Aber wie soll die Zusammenarbeit nur noch die Aufgabe, den Überresten des Judentums ein mit jüdischen Forschungskräften gesichert werden? Ist die ehrenvolles Begräbnis zu bereiten 9.« Dass es zu diesem hierzu notwendige Infrastruktur in der Schweiz, ja in Eu- Begräbnis nicht kam und dass, ganz im Gegenteil, die ropa insgesamt, vorhanden? Es scheint mir, dass auch ein Wissenschaft vom Judentum unter dem Zeichen einer le- verschworener Optimist diese Frage nicht mit einem kla- benskräftigen Renaissance steht, resultiert aus der Wie- ren »ja« zu beantworten wagen würde. Die Situation kann derherstellung des jüdischen Volkes als ein lebender Or- sich natürlich in einer nahen oder fernen Zukunft ändern. ganismus. Die Neubelebung hat also vorzüglich sozialpo- Aber unter den zur Zeit herrschenden Bedingungen ist es litische Gründe. Wir müssen den Umschwung in Betracht eine conditio sine qua non, dass das Institut eine interna- ziehen, der diese Wissenschaft von innen her ergriffen hat tionale Ausrichtung bekommt. Das reichhaltige Reservoir und dem in der Arbeit des IJCF Ausdruck gegeben wer- von jüdischen Gelehrten in Israel und in den Vereinigten den sollte. Jüdische Theologie ist mit Geschichte und So- Staaten Amerikas soll für seine Arbeit aktiviert werden. ziologie unzertrennlich verflochten. Der jüdische Glaube Ich hege keinen Zweifel, dass bei einer solchen Auswei- lebt in und mit der Geschichte des jüdischen Volkes.'° Sei- tung des Mitarbeiterkreises das Luzerner Institut sich als ne Erforschung liegt im Bereich der Geschichtswissen- ein wahrlich ökumenischer Brennpunkt der jüdisch-christ- schaften und wird in der Tat von deren »variablen Ergeb- lichen Forschung etablieren wird. nissen«" aufs tiefste beeinflusst. Franz Rosenzweig hat dieses Charakteristikum anhand eines Vergleiches des b) Die Ausrichtung der Forschungsarbeit Neuen Testaments mit der hebräischen Bibel illustriert: Meine Bemerkungen, beziehen sich auf die Frage der Zu- »Christliche Kirche, christlicher Staat, christliche Wirt- sammenarbeit von »christlicher Theologie« und der »Wis- schaft, christliche Gesellschaft — all das war und ist vom senschaft vom Judentum«. Mit diesen absichtlich gewähl- Neuen Testament aus nicht zu begründen, weil dieses die ten, unterschiedlichen Begriffen will ich weder der christ-

lichen Theologie die Wissenschaftlichkeit absprechen ' Op. cit. (Anm. 2), S. 44. noch postulieren, dass es keine jüdische Theologie gäbe, »Juden und Deutsche«, Neue Rundschau 77 (1966), S. 547-562 = Ju- die ein Partner in dem Unternehmen sein kann. Es ist daica II (Frankfurt a. M. 1970); id., »Juden und Deutsche: Rückblick und wohl schon so, dass die traditionelle jüdische Gelehrsam- Ausblick«, in: Deutsche und Juden (Frankfurt a. M. 1967), S. 21-48. keit eine Theologie, im Sinne einer systematischen Theo- 9 Bei G. Scholem, »Wissenschaft vom Judentum einst und jetzt«, Judaica I (Frankfurt a.M. 1963), S. 152-153.

logie, nicht vorgelegt hat. Aber es fehlt in der Neuzeit 10 Siehe dazu den in Anm. 8 erwähnten Aufsatz von G. Scholem. nicht an offensichtlichen Ansätzen, eine jüdische Theolo- 11 C. Thoma, op. cit., S. 44.

14 Welt schlechthin in der Krise, vor das Gericht gestellt, Beitrag zur Erarbeitung von »Grundlagen für ein prakti- sieht; im Gegensatz (da)zu ... bot die aus der ganzen sches Zusammengehen von Juden und Christen« leisten. Breite einer Nationalliteratur erwachsene jüdische Bibel Theorie und Praxis konvergieren, der Blick richtet sich mit ihrer selbst noch in der scheidenden und ausscheiden- auf die »Einheit von Lehre und Leben«." den prophetischen Polemik lebendigen tiefen Schöpfungs- 3. Eine letzte Bemerkung. Das Ziel der Arbeit ist die gläubigkeit tragfähigen Grund für ein Bauen in und an »theologische Fundierung« eines »Zusammengehens von der Welt.« 12 Mit dieser Kontrahierung allein, die durch Juden und Christen«, nicht eine Unitarisierung der unter- viele andere Unterschiedlichkeiten unterbaut werden schiedlichen Glaubensweisen. Darum soll der Schwer- kann, lehnt Rosenzweig, als Jude, implicite die christlich- punkt des Forschungsunternehmens in der Epoche liegen, dogmatische Feststellung ab: Novum testamentum in vete- in der der Bruch zwischen Judentum und Christentum zu re Tatet, vetus testamentum in novo patet. einer historischen Tatsache wurde. Juden und Christen Das »Bauen in und an der Welt« ist ein geschichtlicher anerkennen die Heiligkeit der hebräischen Bibel — das Vorgang, der seinen Ausgangspunkt im biblischen Zeital- Alte Testament. Wir sind »Brüder in Abraham«. Aber zwi- ter hat, aber weit über es hinausreicht. Diesen Weg durch schen Abraham und Jesus klafft der Abgrund einer Ge- die Geschichte sind Christentum und Judentum auf ihnen schichte, die nach R. Bultmann für das Judentum eine exi- eigenen partikularen Pfaden gegangen. Für das Judentum stentiell erfahrene und >verstandene< ist, für das Christen- führt der Weg in direkter Linie von Abraham zu Mose tum eine objektiv >erklärbare< Historie. Die Mitte der jü- und Sinai, David und Zion, zum Bau und der Zerstörung dischen Existenz sind Sinai und Zionsberg, des Christen- Jerusalems und des Tempels, über Jamnia-Javneh ins Mit- tums — Golgotha. In jüdischer Sicht führt keine direkte telalter nach Spanien und Frankreich, Worms, Wilna, in Brücke von Abraham zu Jesus. Für den Christen beginnt der Neuzeit nach Los Angeles, New York und Auschwitz, die Heilsgeschichte in Golgotha." Die Klärung der Hin- zurück zu dem Lande Israel und zu einer neuen Wissen- tergründe der Wegscheidung — in der nachexilischen bibli- schaft vom Judentum. Der christliche Theologe, der sta- schen und der sogenannten >inter-testamentarischen< Epo- tuiert (ich zitiere Clemens Thoma): »Die ganze jüdische che — ist der Ansatzpunkt für das Erarbeiten eines neuen ... Geschichte muss im theologischen Blickwinkel blei- Zusammengehens von Juden und Christen. Der Schwer- ben«", bezeugt in der Tat ein Verständnis des Judentums, punkt des Unterfangens liegt in der Zeit der Rabbinen das eine fruchtbare Zusammenarbeit in Aussicht stellt. Für und des frühen Christentums. den jüdischen Theologen, der in der heutigen Wissen- Ein grosser Fortschritt wird ohne Zweifel durch die Ar- schaft vom Judentum steht, ist aber der »Blickwinkel« eine beit des Instituts erreicht werden, wenn sie die Strömung nicht genügende Ausgangsposition. Für ihn steht Ge- im Christentum stärkt, die »die jüdische Verwurzelung schichte im Mittelpunkt, auch des theologischen Den- des Christentums als eine heilvolle Tatsache ansieht«, und kens: »Die Wissenschaft vom Judentum«, sagt Gerhard »dem Durchschnitts-Christen ... bewusst (macht), dass Je- Scholem, »bedeutet für uns Erkenntnis unserer eigenen sus, Petrus und Paulus Juden waren«. 20 Aber der Nach- Wesensart und Geschichte; das ist es schliesslich, worauf druck muss dabei genauso auf »Juden« als, aus jüdischer es, in einem Satz gesagt, ankommt.« 14 Sicht, auf »waren« gelegt werden. Titel wie »Der gute Ju- Die Bibel weiss, dass das bereits existierende Volk Israel de Paulus«21, »Jesus der Pharisäer« 22 oder »Der Rabbi von das Fundament seines Glaubens, die Torah, am Sinai Nazaret« 23 sind zwar Erstaunen erregend und deswegen empfing. Geschichte ging der Religion voran." Eine jüdi- anziehungskräftig, sprechen aber weniger als die halbe sche Theologie muss von dem Wissen um die Geschichte Wahrheit. Paulus ist nicht »Apostat oder Apostel« — wie ganz und gar durchdrungen sein. Anders formuliert es das Thema eines vor wenigen Jahren in München veran- Scholem: »Das jüdische Volk, das in seiner Gesamtheit et- stalteten christlich-jüdischen Treffens formuliert wurde 24, was sehr Lebendiges war (und ist, S. T.), mehr als irgend- sondern für das Judentum ist er >Apostat< und >Apostel< ein für alle Zeit festliegendes Phänomen oder gar eine für das Christentum. Die Identität des Christentums einer- theologisch in einer Formel definierte oder doch definier- seits und des Judentums andererseits sollen nicht durch ei- bare Sache, dieses jüdische Volk stellte (und stellt, S. T.) ne Überbelichtung des von beiden geheiligten Erbes in ein Problem dar, das weit über die Aufgaben hinausging den Schatten gestellt werden. Die grossen Linien der bei- (und geht, S. T.), die die Theologen des Judentums sich den gemeinsamen >universalistischen< Glaubenswerte dür- stellten.« 16 fen die unterschiedlichen >partikularen< Karrees nicht ver- So betrachtet, kann das Studium der Theologie des Ju- decken, denn (so definiert habe ich es, wie mich dünkt, dentums eine fruchtbringende Verschmelzung der zwei mal bei Theodor Mommsen gelesen): »Der liebe Herrgott Aufgaben erzeugen, die sich das Luzerner Institut gestellt steckt im Detail.« 25 hat. Wenn die Interdependenz von Theologie und Ge- schichtswissenschaft, wenn die Verflechtung von Glaube und Gesellschaft und ihre gestaltende Einwirkung aufein- " Moses Hess, Rom und Jerusalem (1861), Neuausgabe (Tel Aviv 1935), ander" der Arbeitsplanung als Richtschnur dienen, dann S. 81. wird die Forschung, die sich um »eine solide theologische 19 Dazu: S. Talmon, »Kritische Anfrage der jüdischen Theologie an das Fundierung« bemüht, in der Tat einen höchst wertvollen europäische Christentum«, Israel hat dennoch Gott zum Trost — Fest- schrift für Schalom Ben-Chorin, hg. von G. Müller (Trier 1978), S. 139-157, bes. S. 148. 12 F. Rosenzweig, »Weltgeschichtliche Bedeutung der Bibel«, Kleinere " D. Flusser, »Einführung« zu C. Thoma, op. cit., S. 8-9. Schriften (Berlin 1937), S. 125. 21 M. Barth, »Der gute Jude Paulus«, in: Richte unsere Füsse auf den 13 Op. cit. (Anm. 2), S. 44. Weg des Friedens, Helmuth Gollwitzer zum 70. Geburtstag (München 14 G. Scholem, Judaica I, S. 148. 1978), S. 107-137. 15 Dazu: Y. Kaufmann, The Religion of Israel, transl. (from the Hebrew) " Ein Verständnis der Lehren Jesus auf dem Hintergrund der pharisäi- and abridged by M. Greenberg (Chicago 1960), bes. S. 212 ff. schen Tradition darf nicht pauschalisierend zu seiner Identifizierung als 16 G. Scholem, op. cit., 149-150. Pharisäer führen. "7 Grundlegend für die Erkenntnis dieser Interdependenz ist die For- 23 P. Lapide, Der Rabbi von Nazaret, Wandlungen des jüdischen Chri- schungsarbeit von Max Weber, vor allem sein Das antike Judentum, Ge- stusbildes (Trier 1974). sammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. I (Tübingen 1920-21); 24 Paulus — Apostat oder Apostel? Jüdische und Christliche Antworten, dazu die Aufsatzsammlung: Max Webers Studie über das antike Juden- hg. von F. Henrich (Regensburg 1977). tum, Interpretation und Kritik, hg. von W. Schluchter (Frankfurt a. M. 25 G. Scholem, Judaica I, S. 164 berichtet, dass im Namen von Aby 1981). Warburg überliefert wird: »Gott wohnt im Detail.«

15 II Zur Eröffnung des Instituts am 22. Oktober 1981 Mit freundlicher Genehmigung seiner Redaktion bringen wir nachfolgen- Joachim Silbermann beobachtete mit Interesse die Tätig- den Beitrag aus: »Das Neue Israel«, Zürich, November 1981, S. 223 f. keit der von ihm initiierten Gastprofessuren, die jüdische Grossrätin aus Luzern, Susy Wyler, setzte sich bei mass- In feierlichem Rahmen wurde am 22. Oktober 1981 an gebenden Politikern für die Gründung des neuen Instituts der Theologischen Fakultät Luzern das Institut für Jü- ein, die Gattin eines kürzlich verstorbenen Freundes in disch-Christliche Forschung eröffnet. Der Rektor der Wien stiftete eine Forschungskarteianlage, eine New Yor- Fakultät, Prof. Dr. D. Schmidig, konnte eine grosse Fest- ker Verlegerin will sich für wissenschaftliche Editionen versammlung begrüssen, darunter viele Persönlichkeiten, des Institutes einsetzen, und nicht zuletzt ging vom Erzie- die sich für die Errichtung des Institutes eingesetzt haben hungsdepartement eine aufmunternde Förderung der Plä- oder welche mit dessen Forschungszielen in vielfältiger ne des zu gründenden Forschungsinstitutes aus. Weise verbunden sind, so den Erziehungsdirektor des Als erstes gemeinsames jüdisch-christliches Forschungs- Kantons Luzern, Dr. Walter Gut, den Präsidenten des projekt sollen alle rabbinischen Gleichnisse mit wissen- Luzerner Grossen Rates, Peer Jäggi, die Rabbiner Morde- schaftlichem Kommentar herausgegeben werden. Von chai Piron und Jacob Posen, die Grossrätin Susy Wyler- den etwa 500 zerstreuten Gleichnissen soll zuerst dasjeni- Guggenheim, den Vertreter der Jüdischen Gemeinde Lu- ge von der verstossenen Frau, das sich am Anfang eines zern, Herbert Wyler, den Präsidenten des Schweizeri- aggadischen Werkes aus dem 4. Jahrhundert findet, und schen Israelitischen Gemeindebundes, Robert Braun- dann dasjenige von der heranreifenden Königstochter, er- schweig, Dr. Gerhart Riegner, Dr. E. L. Ehrlich, Basel, wähnt im folgenden Abschnitt, bearbeitet werden. Das In- und vor allem auch den hochherzigen Donator, Joachim stitut rechnet mit einer Zeit von etwa 7 Jahren, bis die Silbermann, Genf, der durch seine finanzielle Unterstüt- ganze Arbeit zu Ende geführt werden kann. zung die Entstehung des Instituts ermöglichte. Prof. Thoma erhofft sich auch einen Erfahrungsaustausch Das Referat von Prof. Dr. S. Talmon von der Hebräischen mit den vielen Wissenschaftern, die auf ihren Reisen von Universität Jerusalem: »Wissenschaft vom Judentum und Amerika und England nach den nordischen Staaten und christliche Theologie, Prinzipien und Probleme der Zu- nach dem Nahen Osten, speziell Israel, in der Schweiz sammenarbeit«, spannte einen Bogen über das jahrtausen- Station machen. dealte Zusammenleben von Juden und Christen bis zur Der jüdische Forschungsbeauftragte am Institut, Dr. S. heutigen Zeit. Als einen Meilenstein auf diesem langen Lauer aus St. Gallen, begründete in seiner Rede, wie ein Wege bezeichnete er die Gründung des Instituts, welches mit der Tradition verbundener Jude dazu kommt, an ei- das erste seiner Art in Europa ist. Er dankte dabei beson- ner Theologischen Fakultät mitzuarbeiten. ders Prof. Dr. Thoma, dem zukünftigen Leiter des Institu- Das ihm gestellte Thema weist auf zwei Gegensatzpaare tes, der sich für dessen Zustandekommen in ausserordent- hin: Jüdische Tradition und Theologie, Jüdische Tradi- licher Weise eingesetzt hat. Starke Betonung legte er auf tion und Fakultät. Und beiden liegt ein anderes zugrunde: die Feststellung, dass Kritik notwendigerweise geübt wer- Jüdische Tradition und klassische Philosophie. Ergreift den muss: sie kann zur Katharsis für neue Verständnis- man die Gegenwart ohne Rücksicht auf ihre Vergangen- möglichkeiten führen. Die Problematik kann nur ange- heit, so wirft man die eigene Kultur von sich, ohne die der deutet, sie kann nicht vollständig untersucht werden. Ein anderen zu erwerben. Die Philologie aber verhilft unse- praktisches Zusammenleben von Juden und Christen soll- rem Blick zur unerlässlichen Tiefenschärfe. te aber erreicht werden können. Von Christen ausgehen- Es scheint möglich zu sein, die jüdische Tradition dem de Impulse, neue Wege zu beschreiten, stiessen schon bis- Menschen der Neuzeit in der Sprache plausibel zu ma- her auf die Zustimmung der Juden. Ein neues gegenseiti- chen, die in ungebrochener lateinischer Tradition vom Al- ges Verständnis wurde durch christlich-jüdische Gesprä- tertum her geprägt ist. So mag antike Logik der talmudi- che ermöglicht. Alte Vorurteile konnten damit zum Teil schen Erörterung behilflich sein. Und da es sich erwiesen aus der Welt geschafft werden. Man muss sich aber gera- hat, dass man in der Sprache Hegels oder Schleiermachers de daher davor hüten, neue Vorurteile aufkommen zu las- nicht »jüdisch denken« lernt, soll der langjährige Rektor sen. Das neue Institut wird hier eine wesentliche Aufgabe des Hildersheimerischen Rabbinerseminars in Berlin, Da- finden, welche gemeinsam auf einer theologischen Grund- vid Hoffmann szl., eine talmudische Erörterung jeweils lage von christlichen und jüdischen Wissenschaftern ange- zweimal vorgelegt haben, nämlich in der Sprache der kri- packt werden sollte. Für diese Zusammenarbeit von christ- tischen Philologie und in derjenigen der traditionellen licher Theologie und der Wissenschaft vom Judentum Talmudschule, der Jeschiwa. Einen scharfen Gegensatz kann eine grosse Zahl von jüdischen Wissenschaftern aus zur philologisch-kritischen Methode stellt sodann der so- den USA und Israel aktiviert werden. Dabei darf die In- genannte »Schriftbeweis« dar, der die Rabbinen verpflich- terdependenz von Religion und Geschichtswissenschaft tet, ihre Entscheide auf unsere Verfassung, die Bibel, ab- nie aus den Augen verloren werden. Auf diese Weise kann zustützen. Über den Wert eines Schriftbeweises entschei- das neue Institut fruchtbare Arbeit auf dem Gebiete des det nicht der philologisch-kritische Befund, sondern die gegenseitigen jüdisch-christlichen Verständnisses leisten. Übereinstimmung mit der rabbinischen Tradition. Sehr Prof. Dr. C. Thoma gab sodann eine ausführliche Über- viele jüdische Texte enthalten eindeutig theologische Ge- sicht über Auftrag und Ziele des neuen, unter seiner Lei- danken, was es Dr. Lauer ermöglicht, mit Theologen zu- tung stehenden Institutes. Er begann mit einem Zitat von sammenzuarbeiten; und was den Promotoren reiner Fach- Hermann Hesse: »Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne, wissenschaft und den Vertretern der sogenannten Rabbi- der uns beschützt und der uns hilft zu leben.« Schon vor nerwissenschaft immer gemeinsam war, die Entschlossen- 10 Jahren, als der Lehrstuhl für Bibelwissenschaft und heit, dem akademischen Eid treu zu bleiben, veranlasste Judaistik an der Theologischen Fakultät Luzern errichtet ihn, an einer Fakultät mitzuwirken. wurde, war er als ein Fenster in die Probleme und Religio- Regierungsrat Dr. Walter Gut beschloss die festliche Ver- nen der Welt hinaus gedacht. Verschiedene glückliche anstaltung mit Worten der Hoffnung für ein vertieftes Umstände verhalfen dazu, dass das gesteckte Ziel mit Er- Verständnis zwischen Juden und Christen durch die folg angegangen werden konnte. Kollegen an der Fakul- Schaffung des neuen Begegnungsortes. tät förderten und halfen mit Wohlwollen, der Donator Beim anschliessenden Mittagessen überreichte Prof. Dr.

16 M. Barth von der Universität Basel im Namen derselben ner, zuteil, die sich seit langen Jahren für die Verständi- für die Bibliothek des neuen Institutes zwanzig Bände des gung zwischen Juden und Christen einsetzt. Joachim Hebrew Union College und in seinem eigenen zwei weite- Silbermann gab abschliessend seiner Dankbarkeit dafür re wertvolle Bücher. Eine Ehrung wurde der anwesenden Ausdruck, durch das neue Institut sich für diese Verstän- Herausgeberin der Freiburger Rundbriefe, Gertrud Luck- digung einsetzen zu können. G.

5 Herausforderungen, die wir prüfen müssen Ansprache von Msgr. Jean-Marie Lustiger, Erzbischof von Paris, gehalten anlässlich des Internationalen Kolloquiums des Internationalen Rates von Christen und Juden im Martin-Buber-Haus, Heppenheim, 30. 6. 1981*/""

Tief bewegt bin ich heute abend unter Ihnen. Da mir nur Subjekte, die in ein zweifach neurotisches Verhältnis ver- eine begrenzte Zeit zur Verfügung steht, übergehe ich wickelt sind. jedoch persönliche Empfindungen, denen ich gern Aus- Man kann diesen psychologischen Vergleich auch auf ei- druck gegeben hätte, und wende mich dem zu, was ich für ne andere Weise anwenden, indem man die jüdische Welt den Kern der Sache halte. und die christliche Welt als ein einziges geschichtlich be- stehendes Subjekt betrachtet. Dann muss man sich das Verborgene Widerstände Abendland mit der Gesamtheit seiner Geschichte verge- Die christlich-jüdische Begegnung, um die Sie sich bemü- genwärtigen, wo alle Strömungen der mittelländischen hen, ist in historischer Hinsicht von entscheidender Be- mediterranen Kulturen, jeweils von der Gegenwart der deutung. Noch vor einigen Jahren vielleicht, jedenfalls Juden geprägt und vom Christentum durchdrungen, sich vor einem halben Jahrhundert, hätte man annehmen kön- verflechten, ohne sich jedoch zu verschmelzen. Wird das nen, solche Bestrebungen bestünden nur noch überhaupt Abendland so in seiner Gesamtheit als ein einziges ge- darin, der Vernunft zum Sieg über die Vorurteile, über schichtlich bestehendes Subjekt aufgefasst, dann wäre das Irrationale zu verhelfen. Und so hat sich tatsächlich festzustellen, dass es von einem höchst krankhaften Zwie- den Juden und den Christen — über die jeweiligen Reli- spalt befallen ist, den man Schizophrenie nennen könnte. gionsbekenntnisse hinaus — das Problem des Kampfes ge- Denn das Abendland scheint von einer historischen Zer- gen den Antisemitismus gestellt. Eben diese aufkläreri- spaltung seiner Grundbestandteile, einer wechselseitigen schen Vorstellungen haben eigentlich allein noch die Ent- Negierung heimgesucht zu werden, die auf seine eigene stehung des Zionismus ermöglicht, und schon nach der Zerstörung hinausläuft. Französischen Revolution hatten sie den Kaiser zu seinen Wir sehen es wohl, dass wir dem Erbe, dem wir verpflich- Massnahmen zur Assimilation der Juden veranlasst. Aus tet sind, nur dann treu sein können, wenn wir von dieser einer zweihundertjährigen Erfahrung wissen wir heute tödlichen Krankheit genesen. Die Christen dürfen den Ju- darüber Bescheid, wie blutig diese Illusion des Abendlan- den die Existenz nicht länger bestreiten, da sie sich sonst des gescheitert ist. selbst negieren. Ebenso sollen die Juden durch die Verge- Um das Problem zwischen Juden und Christen angesichts bung und die gegenseitige Anerkennung dessen ansichtig des historischen Scheiterns des Rationalismus, der Aufklä- werden, dass die Christen an dem Segen teilhaben, der rung im Abendland zu verdeutlichen, will ich der Psycho- den Juden anvertraut wurde; diese sollen also die innere logie einen Vergleich entnehmen. In der jüdischen Litera- Zusammengehörigkeit anerkennen. Nur die gegenseitige tur (nicht etwa in der religiösen oder wissenschaftlichen Anerkennung der jüdischen Treue und der christlichen Literatur, sondern bei den modernen Romanschriftstel- Treue kann jedem erlauben, so zu existieren, wie er wirk- lern) spricht man gemeinhin von der sogenannten »jüdi- lich ist, indem er sich im Dämmerlicht der Geschichte schen Angst«, die andere die »jüdische Neurose« nennen. dem messianischen Verhältnis zwischen Israel und den Es erübrigt sich zu beschreiben, worin diese besteht; Kaf- Völkern nähert. ka hat dies für das christliche Abendland — das seinen Wundern Sie sich also nicht: Wenn Sie die christlich-jüdi- jüdischen Ursprung noch nicht klar identifiziert hat — schen Beziehungen entwickeln, dann decken Sie histori- höchst faszinierend zum Ausdruck gebracht. Meiner Mei- sche Widerstandskräfte auf, die die Sünde der Menschen nung nach ist der Antisemitismus die blutige Neurose des ermessen lassen, dann legen Sie eine historisch tödliche christlichen Milieus. Sie ist das Gegenstück zur sogenann- Erkrankung bloss, dann rühren Sie an die Wurzeln eines ten jüdischen Neurose. Die neurotische Erscheinung des mörderischen Wahnsinns, wodurch sich die Völker, die Antisemitismus Hitlers ist seit dreissig Jahren schon mehr- die Erben der biblischen Tradition sind, jahrhundertelang fach erforscht worden. Ich ziele hier auf ein viel umfas- gegenseitig zerfleischt haben. Damit meine ich nicht nur senderes Begreifen der Geschichte des Abendlandes mit die Verfolgung der Juden durch die christlichen Völker, seinen Versuchungen, seinen Heimsuchungen, seinen sondern auch die Kriege, die die christlichen Völker und Sünden, uni seine geistige Krankheit zu veranschaulichen die christlichen Nationen auseinandergerissen haben. Und und so die Wege der Heilung zu eröffnen. an diesem Ort müssen wir an die historische Bedeutung Die jüdische Welt und die christliche Welt habe ich dabei der brudermörderischen Beziehungen zwischen Frank- als zwei Partner betrachtet, zwei geschichtlich bestehende reich und Deutschland denken. Und hat der Staat Israel, der ein Staat wie die anderen geworden ist, nicht wieder- um an derselben historischen Zerrissenheit der Nationen * Den Wortlaut und auch die Übersetzung aus dem Französischen ver- teil? danken wir Erzbischof Lustiger sowie der Hilfe der »Amitie Judeo- Chretienne de France«, Paris. ** Thema des Symposions war >Images of the Othen. Die Herausforderungen der Zukunft (Anmerkungen d. Red. d. FrRu) Unter der Bedingung, dass wir unsere wechselseitige

17 Identität wiederfinden, müssen wir gemeinsam mehreren Denn es gibt keine Schranken, die der Mensch willkürlich Herausforderungen unserer Zeit begegnen. Für das zur Abgrenzung seiner Rechte setzen könnte, indem er Abendland besteht die nächstliegende Herausforderung in das Diesseits und Jenseits der Achtung des Menschen fest- der Krise der Säkularisation. Man hat gesagt, die Säkula- setzen würde, als ob es in der Macht des Menschen stün- risation sei gerade wegen des Kampfes gegen die Götzen- de, die Grenzen zwischen dem Guten und dem Bösen zu anbetung vom christlich-jüdischen Abendland erzeugt ziehen. Die wahre Würde des Menschen wird nicht in die worden. Sollten aber die Säkularisation und der Atheis- von Menschen vereinbarte Rechtsordnung eingetragen, mus zum höchsten Fortschritt im Kampf gegen die Göt- sondern sie liegt in der Natur des Menschen, die durch zen gemacht werden, so hiesse das, dass man einer Selbst- seine Beziehung zu Gott geschaffen ist. Und wir werden vergötzung der menschlichen Vernunft nachgäbe. Es gibt gemeinsam dazu berufen, die Zeugen, die Märtyrer dafür nämlich eine grundlegende Kategorie, die in der jüdi- zu sein. Das ist die dritte und vielleicht die dringendste schen Tradition hervorgehoben wurde und die zu dem Herausforderung. Erbe gehört, ohne welches das Christentum sein Wesen einbüsste: das ist das Heilige, und zwar nicht mit soziolo- Alle Völker gischen Begriffen, sondern mit solchen der Offenbarung Wir haben unsere gemeinsame Vergangenheit beschwo- definiert. Der Illusion der Säkularisation setzt sich die ren. Wir haben die Herausforderungen der Zukunft be- Heiligkeit, das Heilige entgegen, mit dem uns Gott durch trachtet. Die Gegenwart führt uns gemeinsam zur funda- seine Berufung ausstattet. mentalsten Prüfung des Glaubens. Am Ende des zweiten Das Geheimnis Gottes und die Treue zum Geheimnis christlichen Jahrtausends stehen wir als Abendländer Völ- Gottes, so wie es sich offenbart, ist wirklich das Schlüssel- kern gegenüber, deren Geschichte wir erst seit einigen problem für die abendländischen Gesellschaften, die da- Jahrhunderten entdeckt haben. Jetzt stellen uns die Völ- hin tendieren, strukturell atheistisch zu werden. Dies ist ker von Afrika, von Asien, von Amerika auf eine Echt- also die erste Herausforderung, die Herausforderung der heits-Probe. Sind die jüdische Tradition und die christli- Säkularisation. che Tradition nur die Erscheinungsform des Heiligen im Das uns gemeinsame Bewusstsein des eschatologischen Abendland oder haben sie eine universale Sendung? Ein Charakters des Reiches Gottes antwortet einer zweiten Afrikaner muss eine europäische Sprache lernen, um der Herausforderung, die in unserer Kultur die Erscheinungs- Gemeinschaft der Nationen beitreten zu dürfen; muss er form einer doppelten Versuchung annimmt: 1. die Versu- auch Hebräisch, Griechisch oder Latein lesen lernen, um chung des Totalitarismus. Das ist die Verneinung der an dem Segen teilhaben zu dürfen? Kann er in Wirklich- Eschatologie. Diese totalitäre Versuchung mag Pol Pot, keit sagen: Vergässe ich dein, Jerusalem . . . Muss er das Stalin, Hitler und sonstwie heissen — der Glaube allein er- sagen lernen? laubt uns zu erkennen, dass diese Welt nicht das Reich Welches ist schliesslich unsere wahre Berufung dem Wort Gottes ist; 2. die entgegengesetzte Versuchung ist die der gegenüber, mit dem Gott uns im konkreten Werden der Skepsis. Der Glaube allein erlaubt uns, nicht der ethischen Geschichte angesprochen hat? Ist unsere Berufung eine Verpflichtung des Gesetzes, nicht der Treue zu dem von partikuläre, ethnische und vergängliche Geschichte? Oder Gott gegebenen Wort, nicht unserem Auftrag in dieser ist sie vielmehr universal? Sollte sie eine partikuläre Ge- Welt zu entsagen. schichte sein, dann wären wir nichts als Imperialisten. Ich will schliesslich eine dritte Herausforderung erwäh- Wenn sie aber die universale Berufung ist, dann haben wir nen. Die Würde des Menschen, jedes Menschen, ist eine dafür Zeugnis abzulegen, was die Gabe des Heiligen Gei- der fundamentalsten Forderungen unserer Gesellschaft, stes ist: unserer Zeit. Aber davon kann nicht gesprochen werden, >Im tichkah Y&ouchalaim!< 1 solange Menschen nicht fähig sind, die Urquelle der wah- ren Würde des Menschen in sich aufzunehmen, die darin

besteht, dass der Mensch zum Bild Gottes geschaffen ' >Vergäss ich dein, Jerusalem . . .<, Ps. 137, 5. Wiedergegeben aus: Die wurde. Nur da steht der Fels, worauf die Würde des Men- Heilige Schrift, ins Deutsche übertragen von N. H. Tur-Sinai (H. schen sich gründen kann. Torczyner), Jerusalem 1954, 4. Bd. Tehillim-Preislieder, S. 177.

6 Bei Chagall in Mainz Der »Orientierung«" entnehmen wir folgenden Beitrag mit freundlicher traditionelle Ikonographie aufgebrochen und schöpferisch Genehmigung des Autors Dr. Ludwig Kaufmann: neu komponiert war. Zum Beispiel stand da neben dem überhöhten Gekreuzigten Maria als junge Mutter mit Durch eine Postkarte veranlasst, besuchte ich in Mainz dem Kind an der Brust: Die Schmerzen der Zukunft als die Pfarrkirche St. Stephan. Ich wollte die jüngsten Fen- Bangigkeit im Gesicht, erhielt sie — wie auf einem andern ster des demnächst 95jährigen Marc Chagall sehen. Ich betrat den gotischen Raum, und da gerade eine Trauung Feld Elija — den Zuspruch einer über sie kommenden En- stattfand, nahm ich still in den hinteren Bänken Platz. gelsbotschaft. Während einer Stunde konnte ich von da aus die mittle- Bei Chagall in Mainz ren Chorfenster betrachten. Ich sah sie — im Unterschied Ein Bild, rechts unten, fesselte mich besonders: drei ange- zu den Scheiben im Zürcher Fraumünster — alle drei in schnittene Kreisbogen von ungeheurer Leuchtkraft; zu- tiefdunklem Blau gehalten. Von diesem Grundton hoben vorderst, am flachsten gebeugt, ein wie lebloser (schlafen- sich, nach Art der »Biblia pauperum«, die bunten Szenen der?) Mensch; ihn von links kommend herbeitragend, der Heilsgeschichte ab. Unter den vertrauten Motiven schwerelos, die gewaltigen Flügel nach rückwärts in die vom Paradies links unten bis zum Kreuz rechts oben fand Diagonale gestellt und gerade zu ebener Erde auftretend, ich auch das Sujet meiner Postkarte: »Die Fürbitte Abra- ein Engel; dahinter rechts, als am stärksten gekrümmtes hams«. Mehr und mehr wurde ich aber gewahr, wie die Kreissegment, der Regenbogen. Seitwärts Bäume mit hel- len Farbtupfen (Früchte und Vögel?) und oben auf dem * (46/4), Zürich, 28. 2. 1982, S. 37. (Anm. d. Red. d. FrRu.) Regenbogen ein feuerroter Hahn. Das Bild faszinierte

18 mich ob seiner diagonalen Komposition. Aber inhaltlich, der anderen Seite (den Chor zu betreten wird nicht zuge- ikonographisch konnte ich mir keinen Reim darauf ma- lassen) an die Betrachtung der »poetischen« Fenster. Hier chen; kein Bibelvers und kein heilsgeschichtliches Motiv gab es keine einzelnen Szenen zu deuten. In ihrer ganzen kamen mir zu Hilfe. Höhe waren die Fenster einzufangen, und auch das in al- Nach Ende des Gottesdienstes, unter der Türe zur Sakri- len Variationen schimmernde Hellblau der »Luft« wurde stei, wandte ich mich mit meiner Frage an den Pfarrer. allmählich zum Gegenstand der Betrachtung. In der Kir- »Das ist der Schöpfungsakt, der Anfang von allem«, sagte che wurde es dunkler, aber die Fenster (draussen lag er, »der von der Erde genommene, noch unbeseelte Schnee) schimmerten immer noch. Ich konnte mich kaum Mensch wird in den für ihn bereiten Garten gebracht.« — trennen. Was mir zuerst Mühe machte — das nicht mehr »Und der Hahn?« fragte ich weiter: — »Das männliche Erzählte, sondern »Geträumte« 1 —, hielt mich jetzt gefan- Symbol, zu dem die Henne (etwas verborgener, unten, in gen, geheimnisvoll und beglückend. Als ich schliesslich Grün) als Gegenstück gehört. Das Thema der beiden Ge- doch ging, verliess mit mir ein junges Paar die Kirche: schlechter durchzieht auch die Gesamtkomposition der »Wir sind aus Österreich«, sagten sie, und: »Wir haben beiden seitlichen Mittelfenster: Hier rechts tritt mehr der heute nur erst auf die Farben geschaut.« Mann, links mehr die Frau hervor.« Im Gespräch waren wir näher an den Chor herangetreten. So äussert sich Chagall selber in den von Pfarrer Klaus Mayer erzählten Befremdet blieb ich stehen. Zwei der drei Fenster an den Begegnungen mit ihm. Sie machen den besonderen Reiz seiner Texte in Seitenwänden wurden sichtbar. Grossflächig, mit ganz den drei prächtigen, grossfornlatigen Bildbänden aus, die der Echter- Verlag Würzburg unter dem Namen der beiden (M. Chagall / K. Mayer) wenigen Figuren und alles viel heller, luftiger, kamen sie 1978-1981 herausgebracht hat'. Mayer rapportiert aber kaum Äusserun- mir im ersten Moment wie ein Stilbruch vor: »Ich habe gen des Künstlers direkt zu dessen Bildern: Diese und ihre Symbole, sagt Mühe«, sagte ich. »Ja, die Mittelfenster sind narrativ und Chagall, sollen durch sich selber sprechen. Mayers Meditationen sind bi- folgen den biblischen Geschichten. Die Seitenfenster aber blisch orientiert, bringen uns aber auch gelegentlich den Chassidismus, Chagalls geistig-mystischen Hintergrund, näher. Bereits 38 000 Men- meditieren biblische Poesie.« — Das Wort wirkte in mir schen haben sie sich in St. Stephan, jeweils am Samstag oder Sonntag ge- nach, während der Pfarrer noch kurz erzählte, wie er hier gen zwei Stunden lang, angehört (neulich, am 17. Februar, war es das selber mit Leuten meditiert und wie aus allen Volksschich- 400. Mal): ein neuer Zugang zur Bibel, nicht zuletzt zu ihren Psalmen ten immer wieder Gruppen kommen. Als wir uns vonein- und Liedern. Auf den Farbtafeln kommt Chagalls persönliche Schwarz- lotmalerei sehr schön zur Geltung. Der Künstler dazu: »Wenn ich die ander verabschiedeten, war es in der Kirche still gewor- Fenster nicht (zu Ende) male, sind sie nicht von mir.« den. Ich machte mich nun, bald von der einen, bald von 2 S. u. S. 72 (Anm. d. Red. d. FrRu). Marc Chagall am 7. Juli 1982 95 Jahre: Arbeit statt Feier

Dazu schreibt »Die Welt am Sonntag«, Nr. 27, Hamburg, 4. 7. 1982: nur später auf, verbringe dann aber den ganzen Tag in seinem Atelier. »Dort ist er am glücklichsten. Jeden Tag Marc Chagall . . . wird am Mittwoch, dem 7. Juli 1982, 95 um 9 Uhr beginnt er mit der Arbeit, bei der er ständig Jahre alt. Es wird an diesem Tag keine Feier und keinen Musik hört. Am Nachmittag unterbricht mein Mann für Empfang geben, liess der Künstler auf Anfragen mitteilen. eine halbe Stunde seine Arbeit und geht im Garten spazie- Marc Chagall wurde am 7. Juli 1887 in Vtebesk in Russ- ren«, sagt die Ehefrau. land geboren. Im Alter von 65 Jahren heiratete er in Ven- Vor fünf Jahren, an seinem 90. Geburtstag, sagte der ce Valentina, seine zweite Frau'. Er kaufte sich an der Künstler dazu : »Arbeiten, arbeiten, das ist mein Lebensin- Cöte d'Azur ein Haus in Saint-Paul-de-Vence, in dem er halt. Wenn man nicht arbeitet, stirbt man langsam aber si- seit 1965 lebt. Das von Pinien umstandene Gebäude ver- cher.« lässt er kaum noch. Nur gelegentlich empfängt er zum Im vergangenen Jahr hat Chagall einige Bilder geschaffen Tee zwei Freunde, den Dichter Andre Verdet und den und Radierungen für ein Buch, das im nächsten Jahr er- Musiker Bill Wyman. scheinen wird. Es trägt den Titel: »Die Träume«. Valentina Chagall berichtet, der so hoch betagte Maler Zu Ehren von Marc Chagall wurde am Samstag in Nizza sehe keinen Grund, sein Leben zu ändern. Er stehe jetzt eine Ausstellung über die Tempelkunst eröffnet. 285 Wer- ' Vgl. u. a. dazu: Bella Chagall: »Brennende Lichter«. Nach der jiddi- ke aus der ganzen Welt wurden dazu nach Nizza ge- schen Urfassung. Mit 32 Zeichnungen von Marc Chagall. Hamburg bracht. Marc Chagall stellte als Leihgabe aus seiner per- 1966. Rowohlt (rororo Nr. 1223/24230) 32 Seiten (s. in: FrRu XIX/ sönlichen Sammlung sein Bild »Die Synagoge von Vilna« 1967, S. 140 f.). — Bella Chagall 1895-1944; Marc Chagall heiratete sie 1915 in Witebsk, von 1922 an lebten beide in Paris. zur Verfügung. Die ausgestellten Werke umfassen die (Anmerkung der Red. d. FrRu) Epochen vom 6. bis zum 20. Jahrhundert.

7 Zum Tode von Gershom Scholem (5. 12. 1897 in Berlin — 21. 2. 1982 in Jerusalem) »Wenn ein Weiser stirbt, kann niemand ihn ersetzen«*

Am Sonntag, dem 21. Februar, um 3 Uhr früh, ist Ger- war, auf dem freien Platz zwischen der Van-Leer-Stiftung shom Scholem in Jerusalem gestorben. Am Montag, dem und der Akademie der Wissenschaften aufgebahrt. Das 22. Februar, mittags, wurde er — nach jüdischer Sitte — in geistige Israel war zusammengekommen, aber auch der ein weisses Leinentuch gehüllt, um das noch das blaue Staatspräsident und viele Politiker waren anwesend. Es Tuch der Hebräischen Universität Jerusalem gewickelt sprachen Scholems Freund, der Philosoph und langjährige Präsident der Universität Jerusalem, Nathan Roten- Mit freundlicher Genehmigung ihrer Redaktion entnommen aus »Ori- entierung«. Katholische Blätter für weltanschauliche Information (46/6) streich, und der Präsident der Akademie der Wissenschaf- Zürich, 31. 3. 1982. ten, Ephraim Urbach. Dieser schloss seine Rede mit den

19 Kabbala — Von der lebendigen Kraft im Judentum"- Was die Kabbalisten als Erscheinung in der Geschichte machen, wie das recht naturalistische Symbol heisst. Diese des jüdischen Volkes und des Judentums als Phänomen Vorstellung, hebräisch »zimzum«, das heisst »die Selbst- auszeichnet, ist im wesentlichen die symbolische Auffas- beschränkung Gottes«, ist eines der grundlegenden Sym- sung der Welt, die Auffassung des Judentums als eines bole der späteren Kabbalisten, es hängt tief zusammen mit symbolischen Körpers, in dem etwas Unaussprechbares symbolischen Formulierungen dieser späteren Kabbali- sichtbar wird, nämlich die Gesamtheit der Welt, die Tota- sten, und die hängen nach meiner Überzeugung wieder lität der göttlichen Offenbarung in der Welt. Die Kabbali- zusammen mit der Erfahrung der spanischen Juden von sten versuchten, ihre Welt so zu beschreiben, dass sie dem Grauen und der Grausamkeit des Exils, das hier auf gleichsam widerspiegelt einen göttlichen Lebensprozess, Gott selber übertragen wird. einen Offenbarungsprozess, in dem Gott sich der Welt Von der Wirksamkeit mystischer Symbole mitteilt. Und dieser Prozess, der in Gott selber abläuft, Mich hat die Frage sehr beschäftigt, ob eine rein halachi- der spiegelt sich wider in seiner Schöpfung. Diese symbo- sche, eine rein gesetzesmässige Auffassung des Judentums lische Auffassung der Welt, die die Kabbalisten mit sehr aus sich selbst imstande gewesen wäre, genügend Vitalität vielen Mystikern anderer Religionen teilen, ist für mein herzugeben unter den Stürmen der Geschichte und der Gefühl einer der wesentlichen Aspekte der Kabbala. Und Verfolgung für diese Gruppe, dieses Volk, diese Gemein- so gilt fürs Judentum, um darauf zu sprechen zu kommen, schaft der Juden — die Worte sind ganz gleichgültig . . . dass zwei Dinge für einen jüdischen Mystiker wesentlich was hat die Juden am Leben erhalten in den Stürmen der sind, nämlich eine mystisch& Auffassung der Offenba- Geschichte? Ich meine, da hat die Kabbala eine bedeuten- rung, der Thora, die nicht mehr nur das ist, was da buch- de Rolle gespielt, und gerade für die, die religiös am emp- stäblich steht, sondern ein unendlich lebendiges organi- fänglichsten waren. Denen gab sie eine Antwort, eine sehr sches Gefüge von Symbolen, die die Welt beschreiben, eindrucksvolle und zum Teil sehr erfolgreiche Antwort, darstellt. Und: Der jüdische Mystiker wird ausgehen von die für die Existenz der Juden in der geschichtlichen Welt der jüdischen Grundvorstellung und Grundidee des Mo- etwas bedeutete, nämlich ihnen diese Existenz symbolisch notheismus und diese Idee des einen Gottes nun auf seine deutete als Darstellung irgendeiner tieferen Wirklichkeit. Weise mystisch verlebendigen, indem er nämlich der Ein- — Was die Gegenwart angeht, so ist das Interesse, das die- heit Gottes ein geheimes inneres Leben, das sich in der se Dinge, diese Schriften in unserem Lande erwecken, Welt spiegelt, zuschreibt. sehr verständlich. Ich würde nicht sagen, dass für das, was Das verborgene Leben Gottes spiegelt sich in der Welt gerade aktuell hier im Land Israel geschieht, die alten Es gibt innerhalb solcher mystischer Vorstellungen wie Symbole noch brauchbar sind, also für dessen Interpreta- der Kabbala im Judentum ganz verschiedene Möglichkei- tion. Da ist es schon sehr fraglich, ob diese Symbole, auch ten. Sie können innerhalb solcher Gedankengänge und wenn wir versuchen, sie zu erhellen und in ihrem Zusam- symbolischen Repräsentationen zum Beispiel pantheisti- menhang sinnvoll wieder zu verstehen, noch wirkungsvoll sche Gedankengänge haben, die die Welt irgendwie in sein werden oder können. Das hängt mit der Frage zu- Gott hineinnehmen, und sie können streng theistische sammen, ob wir heute noch einen gemeinsamen Bezug Formen derselben Symbolik haben, die zwischen Gott auf ein Koordinatensystem der Offenbarung haben, einer und der Welt einen durchaus klaren Abgrund aufreissen: Heiligen Schrift, deren Autorität anerkannt ist wie früher, Der Schöpfer und die Schöpfung sind nicht zueinander zu wo die Kabbala sich auf eine Deutung dieser Schrift oder bringen. Beides ist im Bereich mystischer Vorstellungen Schriften beziehen konnte in einer autoritativen Form. möglich, auch in der jüdischen, nicht nur in der christli- Das fehlt heute. Aber was uns heute anzieht, was mich je- chen oder in der islamischen Mystik, von denen ja viel- denfalls an diesen Dingen heute anzieht, das ist die Funk- leicht bekannt ist, dass da Pantheismus und Theismus im- tion, die die kabbalistischen Ideen und Vorstellungen in mer in einer starken Spannung lagen. Auch im Judentum ihren sehr mannigfachen Ausbildungen in der jüdischen ist das sehr deutlich der Fall: Es gibt pantheistische Mög- Geschichte gespielt haben. Das ist noch heute von Interes- lichkeiten der Symbolik, wie sie sich in dem Grundwerk se. — In einer Zeit, in der das Judentum möglichst spiritua- der Kabbala, dem Buche Sohar, »Vom Glanz Gottes«, um lisiert wurde, vom 18. Jahrhundert an, vor allem im 19. 1280 niedergeschlagen haben, und es gibt streng theisti- und frühen 20. Jahrhundert, wurden natürlich Äusserun- sche Vorstellungen, wie zum Beispiel in der Kabbala, die gen der jüdischen Vitalität, die nicht in das rein huma- hier in Safed in Israel 1570 entstanden ist und die von nistisch-rationale Weltbild passten, nicht gern gesehen; grösstem Einfluss auf das spätere Judentum war, sich aus- daher die Abwendung von messianischen Ideen, daher gebildet haben. Isaak Luria, der berühmteste aller späte- auch die Abwendung der Juden von mystischen Ideen, ren Kabbalisten, hat die Vorstellung entwickelt, welche welche um 1850 nicht sehr gern gesehen wurden in der die alte Kabbala nur sehr schemenhaft gekannt hat, von nicht-jüdischen und auch in der jüdischen Welt. Auch in der Selbstbeschränkung Gottes in der Schöpfung. Dies ist einem Judentum, das in der nicht-jüdischen Welt aufzu- eine streng theistische Idee, ein neues Symbol: Damit gehen versuchte, wurden solche Ideen nicht sympathisch überhaupt eine Welt existieren kann, die nicht von vorn- aufgenommen. Heute liegt das ganz anders. Wir sehen herein Gott ist, muss Gott sich zusammengezogen haben; das Judentum als etwas Lebendiges, als eine Gemein- er hat eine Selbstbeschränkung seines Wesens vorgenom- schaft, ein Volk, das sich selbst zu verwirklichen versucht men, durch die die Möglichkeit in ihrem realen geistigen und eine Aufgabe in eigener Verantwortung sucht. Und Sinn zugleich entstanden ist, dass Sein überhaupt existiert, dabei spielt dann die Geschichte der mystischen Überliefe- das nicht Gott ist. Wie könnte denn überhaupt ein Sein rung und dessen, was sie bedeutet hat für das Leben der existieren, das nicht Gott ist, wenn Gott nicht die Mög- jüdischen Gesellschaft, eine grosse Rolle und hat ein lichkeit dazu gegeben hat? Das heisst, warum sind wir Interesse. Gershom Scholem nicht alle Gott? Doch nur dadurch, dass Gott sich sozusa- Ausschnitt aus einem Gespräch mit Jörg Drews, Erstsendung im ARD- gen auf sich selber zurückgezogen hat, um uns Platz zu Fernsehprogramm des Saarländischen Rundfunks vom 20. 6. 1976. Voll- ständige Fassung: Gershom Scholem, Und alles ist Kabbala, München * Entnommen mit freundlicher Genehmigung ihrer Redaktion aus »Ori- 1980. Das Interview ist kein Text nach Art von Scholems Werken; aber entierung« s. o., Anm. S. 19*. in seiner Spontaneität gibt es seine Haltung wieder. (Red.)

20 Worten: »Seine Werke und Forschungen bleiben das täg- Zionisten, den sie nicht verstehen konnten, ein Bild von liche Brot aller, die auf irgendeinem Gebiet der Wissen- Herzl unter den Weihnachtsbaum — den diese Familie in schaft des Judentums, der Religionsgeschichte und des Anlehnung an deutsche Gewohnheiten anzuzünden pfleg- menschlichen Denkens tätig sind. Wir betrauern den Tod te — gestellt hatten. Eine kaum nachvollziehbare Lebens- von Gershom Scholem und finden Trost in der Fülle des leistung, wie sich der junge Gerhard in Berlin als Schüler reichen Werkes, das er hinterlässt. Mit diesem Trost wen- privat die Kenntnisse der hebräischen Sprache und des den wir uns an seine Gemahlin Fanja, die sein Leben und Talmuds verschaffte, die in seinem Elternhaus nicht ge- Schaffen mit Verständnis und Liebe begleitet hat. Es gibt pflegt wurden. Immer mehr wird ihm die Assimilation als nur wenige Menschen, auf die man das Wort beziehen jüdische Lebenslüge klar, und mit grosser Schärfe hat er kann: >Wenn ein Weiser stirbt, kann niemand ihn erset- diese Lüge sein Leben hindurch immer wieder festgestellt; zen<. Sein Andenken sei gesegnet.« dabei war er nicht blind gegenüber den grossen kulturel- Es war ungewöhnlich, diesen pathetischen Satz aus dem len Leistungen, die aus ebendieser deutsch-jüdischen Assi- Munde eines nüchternen Gelehrten zu hören. Aber als ich milation entstanden sind. Als Zionist hat Scholem mit auf diesem Platz stand und nachher zusammen mit dem Ernst Simon und Martin Buber den Gedanken des Zwei- Religionsphilosophen Ernst Simon auf dem Weg über Völker-Staates der Juden und Araber in Palästina vertre- den Mount Scopus, dem Sitz der Universität Jerusalem, ten. Erst unter dem Eindruck des Holocaust hat er sich bis zum Friedhof dem Leichnam Gershom Scholems später zum jüdischen Staat Israel mit arabischer Minder- folgte, war mir klar, dass ich wohl nie mehr in meinem heit bekannt. Leben einem in dieser Weise universalen Wissenschaftler Seit 1923 hat Gershom Scholem in Jerusalem gelebt, seit begegnen würde. Scholem hat Mathematik gelernt und ist 1936 durch alle politischen Wirrnisse im von Juden deut- auf dem Wege über die Philologie Philosoph und, wenn scher Herkunft geprägten Stadtteil Rechavia in derselben man so will, Mystiker geworden. Bevor ich Scholem ken- Wohnung, in der die alten Bücher der Juden in seltenen nengelernt habe, glaubte ich, dass diese Form umfassen- Ausgaben in allen Zimmern bis an die Decke hinauf stan- den Denkens und differenzierter Gelehrsamkeit in unse- den; ein Gelehrtenheim einmaliger Prägung. Man möchte rer Zeit nicht mehr möglich wäre. Scholem war nicht nur wünschen, dass es als ein Studienort auf die Dauer erhal- in der Lage, Rationalität und Glauben zu vereinen, er hat ten bliebe. Die von Scholem zeit seines Lebens mit viel die Technik der wissenschaftlichen Detailarbeit in einer Spürsinn gesammelte Bibliothek hat er der Hebräischen einmaligen Weise mit grossem Überblick zu verbinden ge- Universität hinterlassen. wusst. Frei von allen deutschen Wegen der Verinnerli- Von dieser Wohnung aus hat er auch den Weg zurück chung in religiösen Fragen, war er in der Lage, einzelnen nach Deutschland genommen. Vor allem 1966 auf dem Problemen minutiös über Jahre nachzugehen und zu- jüdischen Weltkongress in Brüssel mit seinem berühmten gleich den Gesamtzusammenhang nie aus den Augen zu Vortrag über Deutsche und Juden, der eine klare Abgren- verlieren und ihn für seine Hörer und Leser lebendig zu zung enthielt und gegen alle verschwommenen deutsch- machen. jüdischen Begegnungen und Gesten des Verzeihens ge- In einem Interview mit der »Jerusalem Post« hat er vor 15 richtet war. Aber zugleich standen in diesem Vortrag fol- Jahren über die Kabbalisten gesagt: »Sie wussten Dinge, gende Sätze: »Fruchtbare Beziehungen zwischen Juden die wir verloren haben. Die fortlaufende Konzentration und Deutschen, in denen eine bedeutende und ebensosehr des Denkens innerhalb eines sehr engen Feldes ist ein Ele- eine die Sprache lähmende, grauenhafte Vergangenheit ment davon.« Schon dieser eine Satz zeigt, wie es ihm ge- aufbewahrt und neu verarbeitet werden soll, sie müssen, lingt, den rationalen Kern in der Analyse mystischer wenn anders sie noch einmal aktuell werden können, im Phantasie aufzuzeigen. Wir verdanken Gershom Scholem Verborgenen vorbereitet werden. In solchem neuen Wir- die Gesamtdarstellung jüdischer Mystik, die Aufklärung ken liegt die einzige Garantie, dass die öffentlichen Bezie- auch noch der ausgefallensten Elemente der Kabbala, da- hungen unserer Völker nicht von gefälschten Losungen bei aber auch die grossartige Analyse des Sabbatai Zwi, und Forderungen vergiftet werden. Schon nagt der Wurm des falschen Messias aus dem 17. Jahrhundert. Leider liegt der Heuchelei an den zarten Wurzeln! Zu einem neuen sein Buch über Sabbatai Zwi noch nicht in Deutsch, son- Verständnis bedarf es, wo Liebe nicht mehr aufgebracht dern nur in Hebräisch und Englisch vor. Die unnachahm- werden kann, anderer Ingredienzen: der Distanz und des liche Art, wie es ihm gelang, die Gestalt dieses falschen Respektes, der Offenheit und Aufgeschlossenheit und mehr Messias zu erfassen, dem damals die Juden in der halben als alles, des reinen Willens.« Welt folgen wollten und der zum Islam übertrat, weil er Ein Ausdruck dieses »reinen Willens« war es, dass Scho- glaubte, dass man sündigen müsse, um wieder zu Gött lem in den letzten 15 Jahren immer mehr Bücher auf aufsteigen zu können, hat wohl jedem Leser nicht nur ein deutsch veröffentlicht hat. Die drei Bände »Judaica« sind gelehrtes Meisterwerk, sondern auch ein literarisches eine Einführung in das jüdische Denken, die in dieser Zu- Kunstwerk geschenkt. Dabei ist gerade dieses Buch ein sammenstellung nur als ein Geschenk an die Deutschen Projekt sorgfältigster Einzelforschung. Kabbala und jüdi- begriffen werden können; die kleine Schrift über einige sche Mystik, der »Lügenmessias« und sein Weg waren den Grundbegriffe des Judentums gehört ebenfalls hierher. Menschen weitgehend verschleiert, und zwar auch den »Judaica 1« vermittelt Grundelemente jüdischen Denkens Juden selbst. Scholem hat diese ganze Welt erforscht, er hat von der messianischen Idee bis zu den 36 verborgenen sie gelebt und sie dargestellt. Damit hat er eine grosse Gerechten. Wir begegnen den Einzelheiten von Scholems Leistung für die Erkenntnis von Religion überhaupt Forschungen und zugleich der Gesamtheit jüdischen Den- vollzogen. Martin Buber hat stärker in die christliche kens. »Judaica 2« erörtert das Verhältnis von Juden und Welt hineingewirkt, aber Gershom Scholem verdanken Deutschen und beschreibt moderne jüdische Geistigkeit auch die Christen die bedeutendere religiöse Erkenntnis. an drei Menschen, die in besonderen Beziehungen zu den Gershom Scholem entstammte einer assimilierten Berliner Deutschen standen: dem Dichter Agnon und den Philo- jüdischen Familie, die zwar nicht zum Christentum über- sophen Martin Buber und Walter Benjamin. »Judaica 3« getreten war, aber sich dem Deutschtum so intensiv wie umfasst ausgesuchte Studien zur jüdischen Mystik. möglich anzupassen versuchte. Unvergessen für jeden Le- Das Buch »Walter Benjamin — die Geschichte einer ser die Szene, die er in seinem Lebensbericht »Von Berlin Freundschaft« und die Veröffentlichung des umfangrei- nach Jerusalem« beschreibt, in der die Eltern dem jungen chen Briefwechsels zwischen Walter Benjamin und Ger-

21 shom Scholem hat den Deutschen ein Dokument geistiger mud. Es war eine Freude zu sehen, mit welcher Vitalität Auseinandersetzung und Verbundenheit gegeben, wie es er in den wenigen Wochen zum geistigen Mittelpunkt die deutsche Literatur sonst kaum besitzt. Durch das Ben- ausgewählter Gelehrter aus der ganzen Welt wurde. Vor jamin-Buch zieht sich die Auseinandersetzung zwischen mir liegt ein bewegendes Bild: Der lachende Scholem im der Faszination, die für Benjamin der Kommunismus Gespräch mit den links und rechts neben seinem Stuhl birgt, der sich für ihn vor allem in seinem Freunde Bert knienden Pädagogen Hartmut von Hentig und dem An- Brecht verkörpert, und dem Zionismus, zu dem sich Ger- thropologen und Soziologen Ivan Illich. Scholem hat kurz shom Scholem nicht nur bekannt hatte, sondern den er in vor seinem Tode in Berlin noch einmal gezeigt, wie der le- seinem israelischen Alltag lebte. Wir lernen in Gershom bendige Geist in der Lage ist, Wissenschaft und Glauben Scholem ein Genie der Freundschaft kennen; wir sehen, als Einheit zu leben und zu vermitteln. wie man einen Menschen lieben und ihm trotzdem in de- Hellmut Becker, Berlin taillierter Auseinandersetzung gegenübertreten kann. Scholem ist ein dialektischer Denker. Jürgen Habermas Prof. Dr. h. c. Hellmut Becker ist Leiter des Max-Planck-Instituts für Bil- hat gezeigt, dass in den von Scholem wiederentdeckten dungsforschung in Berlin. kabbalistischen Schriften Grundlagen des dialektischen Ausgewählte Bibliographie: Denkens liegen, lange vor Hegel und Marx. Judaica. Band 1. Erstausgabe 1963, Frankfurt 1977. Wer an den Wurzeln unserer eigenen Religion, des katho- Judaica. Band 2. Erstausgabe 1970, Frankfurt 1977. lischen und evangelischen Christentums, nicht vorbeige- Judaica. Band 3. Studien zur jüdischen Mystik. Erstausgabe 1970, Frank- hen will, der sollte sich den Büchern Gershom Scholems furt 1977. Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen. Erstausgabe Zürich 1957. zuwenden. Wer sehen will, wie Aufklärung und Religion Als suhrkamp taschenbuch wissenschaft 330, Frankfurt 1980. zusammengehören können, der wird von diesem Mann, Ursprung und Anfänge der Kabbala. Berlin 1962. der die jüdische Mystik neu belebt hat, lernen. Wer dar- Zur Kabbala und ihrer Symbolik. Erstausgabe Zürich 1960. Als suhrkamp taschenbuch wissenschaft 13, Frankfurt 1981. über hinaus sehen will, wie die Deutschen nicht eine un- Von der mystischen Gestalt der Gottheit. Studien zu Grundbegriffen der mögliche Verzeihung erbitten, sondern einen neuen Weg Kabbala. Erstausgabe Zürich 1962. Als suhrkamp taschenbuch wissen- zum jüdischen Volk finden können, der muss insbesonde- schaft 209, Frankfurt 1973. re Scholems Arbeiten über Juden und Deutsche lesen. Sabbatai Sevi. The Mystical Messiah, 1626-1676. Durchgesehene engl. Wer wissen will, wie in einer wissenschaftlichen Zivilisa- Ausgabe, aus dem Hebräischen übersetzt von R. J. Z. Werblowsky. Princeton 1973. tion Glaube lebt, der kann bestimmt an Gershom Scholem Über einige Grundbegriffe des Judentums. edition suhrkamp 414, Frank- nicht vorbeigehen. furt 1970, '1980. Im Herbst 1981 folgte der 84jährige einem Ruf für ein Devarim be-Go — Pirke Morashah u-Tehiah. 2 Bände. Tel Aviv 2 1976. Walter Benjamin — die Geschichte einer Freundschaft. Frankfurt 1975. Jahr an das neu gegründete Wissenschaftskolleg in Berlin, Von Berlin nach Jerusalem. Frankfurt 1977. in dem für die Bundesrepublik erstmalig der Gedanke Walter Benjamin, Gershom Scholem, Briefwechsel 1933-1940. Hg. von eines Advanced Study Center realisiert werden sollte. Gershom Scholem, Frankfurt 1980. Gershom Scholem hielt den Eröffnungsvortrag über die Walter Benjamin, Berliner Chronik. Mit einem Nachwort hg. von Ger- shom Scholem, Frankfurt 1970,1980. Kabbala in der europäischen Geistesgeschichte und be- Walter Benjamin, Briefe. Band 1 und 2. Hg. und mit Anmerkungen ver- gann ein Seminar im kleinsten Kreise über den Sohar, das sehen von Gershom Scholem und Theodor W. Adorno. Frankfurt 1966, wichtigste Buch der Juden neben der Bibel und dem Tal- in der edition suhrkamp 930, Frankfurt 1978.

8 Ein neues Stadium im jüdisch-christlichen Dialog Von Dr. Michael Wyschogrod, Professor für Philosophie_am Baruch College der City University, New York/USA

Professor Dr. Wyschogrod, orthodoxer Jude, hat einen bemerkenswer- darin enthaltenen ausdrücklichen Lehren des Zweiten Va- ten Beitrag zum jüdisch-christlichen Gespräch publiziert". Er setzt sich tikanischen Konzils ab. Diese Dokumente werden zwar darin mit den Werken von Clemens Thoma, Christliche Theologie des Ju- dentums, 1978** (A Christian Theology of Judaism, Translated by Helga nicht von jedermann als vollkommen beurteilt. Johannes Croner, Paulist 1980) und Franz Mussner, Traktat über die Juden"», aus- Oesterreicher, einer der verdienstvollen Promotoren von einander. Wir publizieren hier die nur wenig gekürzte Fassung seines Bei- Nostra aetate IV, veröffentlichte nach dem Konzil einen trags. Die Übersetzung aus dem Englischen besorgte Rita Egger. detaillierten Bericht über verschiedenartige Einflüsse, de- nen dieses Dokument bei seiner Endfassung ausgesetzt Es ist allgemein anerkannt, dass Nostra aetate IV, das war'. Wie jedes andere Konzilsdokument musste Nostra vom Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 promulgierte aetate IV schliesslich einem breiten Meinungsspektrum in Dokument über die christliche Haltung dem Judentum der Kirche entsprechen. Man kann daher eine gewisse gegenüber, ein Markstein in der Geschichte der jüdisch- schwankende Tendenz in diesem Dokument entdecken. christlichen Beziehungen ist. Zusammen mit den Vatika- Aber man hoffte auf stimulierende Wirkungen dieses Do- nischen Richtlinien und Hinweisen für die Durchführung kuments im Katholizismus . . . von Nostra aetate IV (1974) macht dieses Dokument ein In seiner »Christlichen Theologie des Judentums« bedient antisemitisch motiviertes Leben innerhalb der katholi- sich Thoma der historischen Methode. Er beginnt seine schen Kirche sehr schwierig — es sei denn, man lehne die Darstellung mit dem »Frühjudentum«, der Zeitspanne, die frühere christliche Forscher als »Spätjudentum« bezeich- net haben. Letzter Begriff gab der Meinung Ausdruck, * In: Judaism 31 (1982) 355-365. ** Vgl. FrRu XXX/1978, S. 56. LThK, Ergänzungsband: Das Zweite Vatikanische Konzil, II (1967) »»* Vgl. ebd., XXXI/1979, S. 37 ff. 406-478.

22 das Judentum habe im Jahre 70 n. Chr. zu existieren auf- Das heisst selbstverständlich nicht, dass nichts Neues im gehört. Wäre dies so gewesen, könnte man die Periode Neuen Testament ist. Thoma schreibt: »Das Neue bzw. vor dem Untergang des Judentums mit Recht als »Spätju- Singuläre im Neuen Testament ist einzig die geschichtlich dentum« bezeichnen. Falls es aber nicht so war und das einzigartige Person Jesu samt ihren Taten und Widerfahr- Judentum nach 70 n. Chr. weiter lebte und heute noch le- nissen sowie die durch Tod und Auferstehung Christi be- bendig ist, dann ist der von Thoma verwendete Ausdruck dingten theologischen Schöpfungen und Initiativen« (S. »Frühjudentum« für die Periode vom Ende des babyloni- 123) . . . Ohne den Lehren Jesu gewisse neue Elemente schen Exils bis 70 n. Chr. weit besser. abzusprechen, findet Thoma es wesentlich, die Kontinui- Thoma beginnt mit der Rückkehr aus dem babylonischen tät der geistig-religiösen Haltung des Judentums, aus der Exil, weil dies der historische Kontext ist, in dem er den heraus Jesus und seine Lehre verständlich sind, zu beto- Ursprung der grundlegenden biblischen Texte des Juden- nen. Das Neue besteht in der Vertiefung oder Radikalisie- tums (wie den Schöpfungsbericht und die Begründung des rung dessen, was schon bewundernswert war, aber durch Sabbat als Tag, an dem Gott ruhte) sieht. Er bezieht sich Jesus noch bewundernswerter gemacht worden ist. In der auf letzteren (Gen 2, 2 f.) als den priesterlichen Schöp- Tat ist so ein weiter Abstand von den Darstellungsweisen fungsbericht und datiert diesen ins 6./5. Jahrhundert gewonnen, in denen das Christentum mit Hilfe einer Er- v. Chr. Als Kenner der Zeit des Zweiten Tempels bedient niedrigung des Judentums erhöht wurde. sich Thoma der historisch-kritischen Methode . . . Thoma Nirgends ist das Problem der Kontinuität und Verände- bricht mit der bei Christen üblichen Gleichsetzung des Ju- rung in den Lehren Jesu und des Paulus akuter als bei der dentums mit der israelitischen Religion der Hebräischen Frage nach dem Gesetz. Wie in christlicher Diktion üb- Bibel. Statt dessen legt er den Schwerpunkt auf die Viel- lich, verstehen wir hier unter »Gesetz« jene Vorschriften, fältigkeit der jüdischen Gruppen zur Zeit des Zweiten die nur Juden — nicht auch Christen — beobachten (Be- Tempels und auf das rabbinische Judentum. schneidung, Speisegesetze etc.). Die traditionelle Lehre In seinem »Traktat über die Juden« zeigt sich Mussner war, dass diese Verpflichtungen durch Jesus aufgehoben mehr als Bibel-Theologe denn als Historiker. Sein Haupt- worden seien . . . Thoma schreibt: »Den angeblich souve- anliegen ist ein Verständnis des Neuen Testaments, das ränen Gesetzesübertreter Jesu gibt es gar nicht!« (5. 179). der jüdischen Dimension dieses Werkes gerecht wird. Ob- »Wenn wir die Solidarität Jesu mit seinem Volk, dem wohl er das rabbinische Judentum kennt, ist die Hebräi- Glauben und der Lebensweise seines Volkes ernst neh- sche Bibel für ihn die Hauptquelle des Judentums. An die- men, .dann ist die Annahme nicht grundlos, er habe die jü- ser wird relativ wenig historische Kritik geübt. Er folgert dischen Gesetze in ihrem genuinen Sinn gehalten, um (S. 20), dass das Neue Testament (Apg 13, 17-19) die Er- dem Volk eine Wegweisung zu geben« (S. 180). Während wählung Israels und das Geschenk des Landes Kanaan an viele christliche Theologen die vermeintlichen Dichoto- die Israeliten bestätige. Es seien Lehren, die das Neue Te- mien »Gesetz — Gnade« und »Gesetz — Freiheit« hochspie- stament selbstverständlich von der Hebräischen Bibel len, kennt Thoma das jüdische Verständnis der Tora zu übernommen habe. — Es wurde oft argumentiert, dass eine gut, um auf solche missverständliche Unterscheidungen christliche Interpretation des Judentums, die mehr von einzugehen. Er ist auch ein zu guter Historiker, als dass er Texten der Hebräischen Bibel und weniger von rabbini- die Halacha einfach als ein Apriori-System denken könn- schen Quellen abhängig ist, unvermeidlich zur Ablehnung te. Er zitiert Jacob Katz, dass »die Halacha im Kielwasser der Kontinuität des nachbiblischen Judentums führe. sozialer Veränderungen folgte« (5. 156) und David Flus- Mussner stellt dies als falsch heraus. Er zeigt auf, dass ei- ser, der schreibt: »Es gibt natürlich bei Jesus eine ihm ei- ne grundlegende Kontinuität vom biblischen zum rabbini- gentümliche Problematik in seiner Beziehung zum Gesetz schen Judentum besteht, die es seiner Ansicht nach auch und seinen Geboten, aber diese entsteht bei einem jeden zwischen der Hebräischen Bibel und dem Neuen Testa- gläubigen Juden, wenn er sein Judentum ernst nimmt« (5. ment gibt. 156). Thoma führt also die Kontinuität Jesu mit dem tora- Im ersten Teil seines Buches sagt Thoma: »Das Judentum treuen Judentum wieder ein, wie Flusser dies in seinem ist eine eigenständige und eigenwillige Grösse. Es ist vom Buch »Jesus« (Hamburg 1968) tat. Weder Flusser noch Christentum viel unabhängiger, als es das Christentum Thoma negieren eine gewisse Spannung in Jesu Haltung vom Judentum ist und je sein darf« (5. 41). Weiter hebt er gegenüber dem Gesetz. »Er wollte, dass das Gesetz gehal- hervor: »... der christliche Theologe (hat) auch zu beto- ten würde, ohne dass ein Mensch preisgegeben würde« (S. nen, dass das Christus-Ereignis keine sengende Sonne ist, 180). Die Frage bleibt aber, ob Jesu Aussagen über das die das Judentum nach Christus in seiner Legitimität und Gesetz, die jahrhundertelang als grundsätzliche Ableh- Eigenständigkeit beeinträchtigt oder gar verunmöglicht« nung des Gesetzes interpretiert worden sind, wirklich nur (S. 42). Dann folgt der umfassendste Teil seines Buches innerjüdische Debatten über die Tora sind. Dann wären mit dem Titel: »Jesus Christus und seine Botschaft im Zu- sie im wesentlichen nicht anders zu lesen als die zahlrei- sammenhang mit dem frühen und dem rabbinischen Ju- chen Meinungsverschiedenheiten, die in der rabbinischen dentum«. Das meiste darin ist eine Darstellung des Juden- Literatur ausführlich aufgezeichnet sind .. . tums zur Zeit des Zweiten Tempels, wenn es auch klar ist, Mussner behandelt das Gesetz unter verschiedenen Ge- dass diese Darstellung vom Blickpunkt des Auftretens und sichtspunkten. Zuerst schreibt er ein Kapitel »Freude an Wirkens Jesu her in Angriff genommen wird. Früher neig- der Tora« (37-45). Darin wirkt er der weit verbreiteten ten christliche Forscher dazu, die geistige Grösse des christlichen Meinung entgegen, wonach das Judentum ein Christentums dadurch hervorzuheben und zu unterstrei- freudloser Legalismus war und ist. Dieser wiederum fusse chen, dass sie es mit einem sich dem Ende nähernden und auf einem hoffnungslosen Versuch, unzählige Gesetzes- geistig geschwächten Judentum verglichen. Das ist in der forderungen zu erfüllen. Er hebt hervor, dass der Jude die Tat aufgrund der anscheinend antipharisäischen Polemi- Tora als Weisung Gottes erfahre, die in Liebe gegeben ken im Neuen Testament nicht schwierig. Aber es ist nicht und angenommen wurde . . . Mussner beschliesst dieses der Weg, den Thoma wählt! Er schreibt statt dessen: »Al- Kapitel mit einem Zitat des Paulus (Röm 10, 4): Christus le religiösen Vorstellungen und Ideale, die im Neuen Te- ist »des Gesetzes Ende zur Gerechtigkeit für jeden, der stament ausgeformt sind, finden sich in irgendeiner Weise glaubt« (5. 45). Er fügt hinzu, dass die Haltung des Paulus auch im zeitgleichen oder zeitnahen nicht-christusgläubi- zum Gesetz nicht einem Mangel an Respekt entspringt, gen Judentum« (S. 123). sondern seinen christologischen Überzeugungen .. .

23 Ein weiterer Gesichtspunkt Mussners ist das Verhältnis ges« zur Rettung von Israel in Sicht, ein Weg, der die Jesu zum Gesetz. Seine Darlegung gründet sich auf Mt 5, Konversion zum Christentum nicht erforderlich macht.

17- 19. Mussner weist darauf hin, dass diese Verse zu Ein jüdischer Rezensent kann kaum anders als folgern, zahllosen Interpretationen geführt haben, vor allem im dass das schwierige Werk des jüdisch-christlichen Ge-

Zusammenhang mit der Bergpredigt (Mt 5, 21 - 48), in der sprächs, das nach Auschwitz begann, nun Früchte zu tra- Jesus das »Ihr habt gehört« dem »Aber ich sage euch« ge- gen beginnt. genüberstellt. Löst hier Jesus wirklich das Gesetz auf und Nach Mussner sind die Deutungen des Gesetzes von sei- setzt er eine neue Lehre an dessen Stelle? Mussner ver- ten des Paulus an die Heiden, nicht an die Juden gerich- neint dies entschieden. Jesus, so argumentiert er, erfüllt tet. Mussner ist sich bewusst, dass diese Tatsache ein »her- das Gesetz und löst es nicht auf, indem er »die verborge- meneutischer Schlüssel« (S. 228) für das Verstehen der ne, die letzte und eigentliche Intention der Weisung der Haltung des Paulus dem Gesetz gegenüber ist. Meiner Tora herausholt« (5. 191). »Die Ethik des Alten Testa- Meinung nach führt Mussner jedoch nicht alle seine ments«, schreibt Mussner, »wird vielmehr durch den Ju- Grundeinsichten eines genuinen Verständnisses des Pau- den Jesus vollendet, indem er die ethischen Forderungen lus konsequent weiter. Wie ich anderswo 2 dargelegt habe, der Tora bis in die innerste Gesinnung des Menschen, bis ist es die Absicht des Paulus (in Gal und anderen Schrif- in sein >Herz< hinein ausdehnt« (S. 191). Mussner be- ten), zu Jesus konvertierte Heiden von der Beschneidung schliesst dieses Kapitel mit einem Thoma-Zitat: »Den an- und dem Gesetzesgehorsam abzuhalten. geblich souveränen Gesetzesübertreter Jesus gibt es gar Aus Apg 15 wissen wir, dass es in der Jerusalemer Kirche nicht!« (S. 193). Leute gab, die glaubten, ein Heide, der sich der Kirche Es ist also ein gemeinsames Unternehmen von Thoma und anschliessen wolle, müsse sich beschneiden lassen und die Mussner — im Hintergrund unterstützt von David Flusser ganze Tora annehmen. Paulus legte keinen Wert darauf. —, die Lücke zwischen Jesus und der Tora zu verkleinern. Die Judenchristen, die anderer Auffassung waren, hielten Dies aber erscheint im Falle des Paulus um einiges schwie- den Heidenchristen vor, sie seien keine Christen in vollem riger zu sein. Sein offensichtlicher Bruch mit dem Gesetz Sinn, bevor sie die Beschneidung und die ganze Tora an- scheint viel unzweifelhafter als jener von Jesus. Dies ist nähmen. Dies erzeugte beträchliche Unruhe in den Ge- wahrscheinlich der Grund, weshalb Thoma Paulus in sei- meinden, die Paulus gegründet hatte. Als er davon erfuhr, nem Buch kaum erwähnt und jedenfalls nicht mit Bezug beschloss er, das Problem der Jerusalemer Kirche zur Ent- auf das Gesetz. Mussner anderseits widmet der Diskus- scheidung vorzulegen. Laut Apg 15 wurde dieses Problem sion um Paulus und seiner Einstellung dem Judentum und lange debattiert, und die Ansicht des Paulus wurde bestä- dem Gesetz gegenüber 29 Seiten. Er verweist auf Gal 2, tigt. Die Heiden mussten nur die noachidischen Gebote 21: »Wenn durch das Gesetz Rechtfertigung geschah, annehmen, die das rabbinische Judentum für alle Nichtju- dann ist Christus umsonst gestorben« . . . Mussner führt den als verpflichtend betrachtete. die Überzeugung des Paulus, das Gesetz sei nicht länger Aus Apg 15 können wir folgendes ableiten: Alle Streitpar- verpflichtend, auf dessen Glaube zurück, die messianische teien stimmten darin überein, dass christusgläubige Juden Zeit sei angebrochen. Mit dem Beginn des neuen Zeital- weiterhin die Tora beobachten müssten. Wenn nun aber ters war das Heil nicht länger an das Gesetz, sondern nur die Tora aufgrund des Kommens Jesu selbst für Juden noch an den Glauben an Jesus, den Gottessohn, den Ge- nicht mehr verpflichtend war, wäre es schwerlich sinnvoll kreuzigten und Auferstandenen, gebunden. Aber Israel gewesen, darüber zu streiten, ob heidnische Konvertiten nimmt diese Änderung nicht zur Kenntnis. Es führt seinen zur Gesetzeserfüllung verpflichtet werden könnten. Eine Toragehorsam weiter, als ob der neue Äon noch nicht an- solche Diskussion war nur bei Judenchristen möglich, die gebrochen wäre. Nach Mussner ist es wichtig, dass Paulus glaubten, die Tora bleibe für Judenchristen weiterhin ver- die Verstocktheit Israels in Gott begründet sieht, der »ih- bindlich, die aber darin nicht übereinstimmten, ob heidni- nen einen Geist der Umnachtung gab, Augen, um nicht zu sche Konvertiten zur Beschneidung und zur Tora ver- sehen, Ohren, um nicht zu hören« (Röm 11, 8) (S. 220). pflichtet seien. Paulus war sich im klaren, dass sie beides Der Ungehorsam Israels hat den Heiden Heil gebracht: nicht benötigten. Vor dem Kommen Jesu, so dachte Pau- »Durch ihren Fehler ist das Heil zu den Heiden gekom- lus, hätte ein Heide beschnitten werden, das Joch der To- men, um Israel eifersüchtig zu machen« (Röm 11, 11). Is- ra auf sich nehmen und ins Haus Israel eintreten können. raels Ablehnung des Evangeliums stellt sich somit als Akt Nach dem Kommen Jesu konnte ein Heide ein adoptier- des Gehorsams heraus. Der vielleicht wichtigste Abschnitt ter Sohn des Hauses Israel durch den Glauben an Jesus in Mussners Buch lautet: »Es ist wenig wahrscheinlich, und durch die Einhaltung der noachidischen Gebote wer- dass ein total juden-christlich gewordenes Israel noch den. Dies hatte Jesus ermöglicht. Nun können wir auch heute als >Israel< existieren würde. Das Judentum wäre in verstehen, was Paulus meint, wenn er in Gal 3, 13 vom der Kirche und in der Völkerwelt aufgegangen. Das hat »Fluch de`s Gesetzes« spricht, von dem Jesus die Mensch- Gott selbst verhindert, um seine Macht und seine Gnade heit befreite. Er bezieht sich dabei auf die in Dtn 27, vor den Völkern an Israel zu offenbaren. Gottes Macht 15 - 26 erwähnten Flüche, das sind solche, die mit der und Gnade zeigen sich gerade darin, dass er Israel nicht Übertretung des Gesetzes verbunden sind; das Gesetz an im Verlauf der Geschichte post Christum untergehen sich ist kein Fluch. Jüdische Forscher haben Paulus immer liess, trotz all der furchtbaren Katastrophen, die über das wieder vorgeworfen, dass er zwar den Fluch in Dtn 27, Judentum gekommen sind« (S. 221). 15-26, nicht aber den Segen in Dtn 28, der mit dem Ge- Und so wird Israel, das die Annahme des Evangeliums setzesgehorsam verbunden ist, erwähnt. Wir können jetzt verweigert hat, gerettet werden. Wird es nur gerettet wer- verstehen, weshalb er den Fluch ohne den Segen erwähnt. den, wenn es zur Annahme des Evangeliums bereit ist? Wie bei einem Rabbinen, bei dem sich ein Heide zur Kon- Nicht notwendigerweise! Mussner bezieht sich auf Röm version zum Judentum bewirbt, ist es Paulus' Absicht, 11, 25 f.: »Verstockung ist über einen Teil von Israel ge- Heidenchristen abzuraten, sich selber unter die Jurisdik- kommen, bis die Vollzahl der Heiden eingegangen ist, tion der Tora zu begeben. Um dies zu tun, betont Paulus und dann wird ganz Israel gerettet werden.« Mussner be- die Schwierigkeit der Erfüllung der Forderungen der To- tont (S. 55), dass »ganz Israel gerettet werden« wird und ra und die schlimmen Folgen (Flüche), die der Ungehor- nicht nur diejenigen, die das Evangelium angenommen »The Law, Jews and Gentiles — A Jewish Perspective«, Lutheran Quar- haben. Er stellt darum die Möglichkeit eines »Sonderwe- terly 24/4 (1969) 405-415.

24 sam nach sich zieht. Er unterlässt es, vom Segen, der mit als sie vorgaben. Die Rabbinen hatten damit weit weniger dem Gehorsam der Tora gegenüber verbunden ist, zu Probleme; sie hatten keine Bedenken, sich in den Midra- sprechen, weil von diesem nur gesprochen wird, wenn der schim darüber breit auszulassen. In jedem Fall bleibt die Heide trotz der Schwierigkeiten, mit denen er vertraut ge- Tatsache bestehen, dass der Gott der Bibel mit durch und macht wurde, auf der Konversion insistiert. durch menschlichen Eigenschaften dargestellt wird. Der Wenn dem so ist, dann verstand Paulus die Kirche aus Gott Israels ist kein abstrakt philosophisches Absolutum, zwei Teilen, dem jüdischen und dem heidnischen beste- sondern eine Person, an die sich der betende Jude wenden hend. Gemeinsam hätten beide ihren Glauben an Jesus, kann. Und selbst ein Zug von Körperlichkeit kann nicht aber Judenchristen müssten unter der Tora weiterleben, ganz ausgeschlossen werden. Gott wohnt im Tempel in während die Heiden nur den noachidischen Geboten zu Jerusalem wie früher in der Stiftshütte. Wenn, wie Des- gehorchen hätten. Tragischerweise wurden die Worte des cartes darlegte, das Wesen der Körperlichkeit Ausdeh- Paulus, durch die er Heiden von der Annahme des Geset- nung — Besetzung von Raum — ist, dann gerät ein örtlicher zes abhalten wollte, von der Kirche, deren jüdische Kom- bestimmbarer Gott in den Zusammenhang der den Men- ponente verschwunden war, als völlig negative Beurtei- schen als körperlich bekannten Welt. Thoma schreibt: lung des Gesetzes interpretiert. Ich glaube, diese Interpre- »Ein Gott, der sich bei Tagwind im Paradies ergeht (Gen tation stimmt mit Mussners allgemeiner Sicht überein, 3, 8), den Älteste Israels auf dem Gottesberg erblicken welche in diese Richtung zielt, aber diese Schlussfolgerun- (Ex 24, 9- 11), der Israel >mit starker Hand und ausge- gen nicht klar zieht. strecktem Arm< aus dem ägyptischen Sklavenhaus heraus- Trotz ihrer sehr konstruktiven und positiven Ausrichtung führt (Dtn 5, 15) und dessen Aussehen laut Ez 1, 16-26 weichen weder Thoma noch Mussner jenen schwierigen >menschenähnlich< ist, könnte doch wohl, wenn er es frei Sachverhalten aus, die Judentum und Christentum am beschliesst, Mensch werden. Freilich redet die Bibel in den deutlichsten trennen. Von diesen ist nichts bedeutungsvol- angezogenen Stellen mythologisch-organisch. Was bleibt ler als das Problem der Christologie, die Einstufung der aber bei Geheimnissen (Gott redet mit Menschen, zeigt Person Jesu als gleichrangige Person des dreieinigen Got- sich dem Menschen, führt die Menschen etc.) anderes üb- tes. Für den Juden entsteht hierin die höchste Gefahr des rig?« (S. 198 f.). Jüdische Theologie kann dem Problem, Götzendienstes, indem ein menschliches Wesen vergött- das Thoma hier tangiert, nicht ausweichen: Gott »könnte licht wird. Es muss deutlich gesehen werden, dass dieses doch wohl, wenn er es frei beschliesst, Mensch werden«. Thema weit wichtiger ist als die Frage, ob Jesus der Mes- In einem Artikel, auf den sich Thoma bezieht, schrieb ich sias war. Weil das Judentum den Messias immer als Nach- (5. 198): »Wenn das Judentum die Fleischwerdung nicht kommen Davids verstanden hat, der eine Zeit des Frie- annehmen kann, so darum, weil es diese Geschichte nicht dens, der Gerechtigkeit und der Prosperität einleiten wür- hört, weil das Wort Gottes, so wie es vom Judentum ge- de, ist es für einen Juden nicht von letztentscheidender hört wird, ihm das nicht sagt, und weil der jüdische Glau- Bedeutung, zu glauben, ob eine bestimmte Person der be das nicht bezeugt. Und wenn die Kirche die Fleischwer- Messias war oder nicht (z. B. Bar Kochba). Es ist schon dung annimmt, so nicht darum, weil sie irgendwie ent- recht schwierig, eine Person der Vergangenheit, die keine deckte, dass solch ein Ereignis . . . stattzufinden hätte, son- königliche Friedensherrschaft herbeiführte, mit dem tradi- dern weil sie hört, dass dies Gottes freie und gnädige Ent- tionell jüdischen Messiasverständnis in Einklang zu brin- scheidung war — eine vom Menschen nicht vorherzusa- gen. Noch unvergleichlich schwieriger aber ist der Glau- gende Entscheidung. Seltsam genug: in diesem Lichte ge- be, Gott sei ein bestimmter Mensch geworden, der lebte, sehen kann die Gegensätzlichkeit zwischen Judentum und starb und am dritten Tag auferstand, mit dem jüdischen Christentum zwar nicht aufgelöst, aber in einen Zusam- Glaubensverständnis zu vereinen. Juden und Christen ha- menhang gebracht werden, innerhalb dessen es um einen ben eingesehen, dass dieser christliche Glaube für das Ju- Unterschied des Glaubens im Hinblick auf das freie und dentum am unannehmbarsten war. Wie gehen Mussner souveräne Handeln des Gottes Israels geht« 3. und Thoma an dieses Problem heran? Wenn die Lehre von der Inkarnation einer Person des Die Nichtübereinstimmung zwischen Judentum und Chri- dreieinen Gottes in den Menschen Jesus von Nazareth die stentum die Inkarnation betreffend darf weder unter- charakteristischste christliche Lehre ist, von der sich das noch überschätzt werden. Der Unterschied wird über- Judentum absetzen muss, könnte dieses versucht sein, das schätzt, wenn man meint, das Judentum lehre, nicht nur jüdische Verständnis Gottes in grösstmöglicher antitheti- die Inkarnation habe nicht stattgefunden, sondern auch, scher Weise gegenüber dem christlichen zu umschreiben. sie hätte nicht stattfinden können. Wie wir schon gesehen Dieses gänzlich gegensätzliche Gottesverständnis würde haben, beruht die Aussage, wonach etwas nicht hätte den Abstand zwischen Gott und Mensch so gross wie stattfinden können, gewöhnlich auf metaphaysischem möglich darstellen. Ein solcher Gott wäre dem Menschen oder logischem Grund. Diese wird aber problematisch, so ungleich wie möglich. Ihm würde das Personsein und wenn sie auf Gottes freie Taten angewandt wird. Meiner die Verbundenheit mit dem menschlichen Geschick feh- Meinung nach ist die Bibel nicht wohlwollend gegenüber len. Vermutlich wüsste er nicht von der Existenz des Men- menschlichen Voreingenommenheiten eingestellt, wenn es schen. Vielleicht würde er oder es (sogar die Verwendung darum geht, was Gott will oder nicht, kann oder nicht eines Personalpronomens wäre falsch) kein anderes Sein kann. Die einzige Ausnahme ist — ich glaube zwar nicht, als sein eigenes bemerken. Er wäre nämlich mit sich selbst dass es wirklich eine Ausnahme ist — der Glaube, dass vollkommen zufrieden. Der perfekte Gegensatz zum Gott seine Versprechen nicht brechen wird. Aber dies ist menschgewordenen Gott des Christentums ist der unbe- keine Frage des Könnens oder Nichtkönnens Gottes. Wir wegte Beweger des Aristoteles oder »das Eine« des Plotin, glauben, dass er seine Versprechen halten wird, weil er nicht aber der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. dies gesagt hat, und wir glauben ihm. Wir stellen kein me- Es geht Thoma und Mussner in diesem Zusammenhang taphysisches System des Möglichen und Unmöglichen besonders um die Anthropomorphismen der Hebräischen über Gott auf, sondern akzeptieren einfach seine frei pro- Bibel. Schon Moses Maimonides hatte in seinem »Führer klamierte Entscheidung, etwas zu tun oder etwas zu un- der Unschlüssigen« Mühe, die Judenheit davon zu über- zeugen, dass die menschlichen Eigenschaften, die die Bi- »Warum war und ist Karl Barths Theologie für einen jüdischen Theo- bel Gott wiederholt zuschreibt, etwas anderes bedeuteten logen von Interesse?«, EvTh 34 (1974) 222 -236, zit. 226.

25 terlassen. Wir unterstellen Gott nicht metaphysischen Be- dass es in der christlichen Lehre der Inkarnation nicht dingungen. darum geht, Gott habe nur wie ein Mensch ausgesehen Aber was ist zu Thomas Frage, »ob die Menschwerdung (Doketismus), sondern er sei ein menschliches Wesen ge- dem Geist des Alten Testaments widerspreche oder nicht« worden mit einem wirklichen, nicht nur scheinbaren Kör- (S. 198) zu sagen? Hier können wir m. E. nicht klar mit Ja per. oder Nein antworten. Der Gott der Hebräischen Bibel ist Das sind einige Themen, die von Thoma und Mussner in jemand, der mit dem Menschen in Beziehung tritt. Er hat deren tiefgründigen und wichtigen Beiträgen zum jü- Beweggründe und Erwartungen; einige von diesen sind disch-christlichen und besonders zum jüdisch-katholi- erfüllt, andere nicht. Von Zeit zu Zeit kommt er von sei- schen Dialog diskutiert werden. Es ist klar, dass mit der nem Aufenthaltsort herunter auf die Erde und kann sich Publikation dieser Werke ein neues Stadium im Dialog an speziellen Orten der Erde aufhalten. Einige von diesen zwischen Judentum und Christentum erreicht worden ist. werden seine Wohnstatt auf Erden, z. 13. der Tempel in Darin zeigen sich auch die Grenzen, die christlichem Jerusalem. Selbst wenn diese Ausdrücke nicht ganz buch- Denken in der Beziehung beider Glaubensgemeinschaften stäblich zu verstehen sind, müssen sie doch, sollen sie auferlegt sind. Diese Sichtweisen sind nicht dieselben wie nicht ihren erkennbaren Sinn ganz verlieren, etwas von ih- jene der Majorität oder gar der Kirchenführung. Ein Bei- rer normalen Bedeutung behalten. Wenn dem aber so ist, spiel dafür ist die Enzyklika »Dives in Misericordia« von dann haben wir es mit einem Gott zu tun, der dem Men- Papst Johannes Paul 11. 4, in welcher folgender Passus vor- schen nicht ganz unähnlich ist, der aber auch kein kommt: Mensch ist. »Nicht umsonst beanstandete Jesus bei seinen Zuhörern, Es gibt aber auch noch eine gute Begründung für die die den Lehren des Alten Testaments treu waren, die Hal- Schärfe der jüdischen Ablehnung der Menschwerdung. tung, die in dem Spruch zum Ausdruck kommt: >Auge für Wenn Gott in der Hebräischen Bibel dem Menschen auch Auge und Zahn für Zahn<. Das war die damalige Form, noch so nahe kommt, wenn er auch noch so einbezogen die Gerechtigkeit zu verfälschen, und die heutigen haben wird in menschliche Hoffnungen und Ängste — so bleibt sie zum Modell.« 5 er doch der ewige Richter des Menschen, dessen Natur Die Schwierigkeit mit diesem Abschnitt ist zweifach: Er- zwar im Bilde Gottes ist (vgl. Gen 1, 26 f.), der aber nicht stens ist es gut bekannt, dass »Auge für Auge« im Juden- mit Gott vermischt werden darf. Es ist für einen Men- tum der Zeit Jesu eine finanzielle Kompensation meinte, schen leicht, diesen Unterschied zu ignorieren und sich sel- während obiger Abschnitt voraussetzt, diese sei im buch- ber als Herrn seines eigenen Schicksals zu sehen. Wenn er stäblichen Sinn geschehen. Tatsächlich gibt es keine Be- so handelt, erinnert ihn Gott an seine Geschöpflichkeit und weise dafür, dass »Auge für Auge« im Judentum jemals an die Grenze seiner Macht. Weil er nicht nur eine Ma- anders als auf finanzielle Kompensation hin interpretiert rionette in Gottes Hand, sondern ein Gesprächspartner worden ist. Zweitens ist es schwer, einzusehen, wie ein seines Schöpfers ist, ist er Gott gewiss nicht in irgendei- Vers der Hebräischen Bibel, die Christen doch als von nem Sinne ebenbürtig. In diesem Licht kann die Aussage, Gott inspiriert annehmen, als Verfälschung der Gerechtig- ein menschliches Wesen sei Gott gewesen, nur tiefste keit bezeichnet werden kann. Es gibt auch noch andere Beunruhigung in der jüdischen Seele auslösen. Teile in der gleichen Enzyklika, die das gängige katholi- Zwar ist es richtig, dass man Gott ein Dasein im Raum sche Denken über die Hebräische Bibel widerspiegeln. zuschreiben kann. Gleichzeitig aber dürfen wir die Ver- Obwohl der jüdische Einwand gegen den Abschnitt »Au- werfung des Götzendienstes durch die Propheten nicht ge für Auge« dem Vatikan seitens des American Jewish aus den Augen verlieren. Dieser besteht in seiner einfach- Congress zur Kenntnis gebracht wurde, unternahm der sten Form in der Verehrung von Bildern, die aus Holz ge- Vatikan bis heute (Februar 1982) keine Schritte zur Kor- schnitzt oder aus Stein gehauen sind. Eine andere Art von rektur. Götzendienst ist die Verehrung von Himmelskörpern, wie Es kann nur gehofft werden, dass die Arbeiten von Cle- Sonne, Mond oder Sterne. Kein Leser der Hebräischen mens Thoma und Franz Mussner auf allen Ebenen der ka- Bibel kann sich grosser Furcht vor göttlicher Verehrung tholischen Kirche Wirkung haben werden. Jüdisches Den- materieller Wesen entziehen. Zwar ist es auch wahr, dass ken muss darauf antworten, und zwar im Detail und im der von den Propheten angeprangerte Götzendienst die gleichen Geist, in dem diese beiden Bücher geschrieben Verehrung eines Menschen als Gott nicht einschloss. Es sind.

ist aber nicht schwer, einzusehen, dass es für Juden sehr Sie erschien am 30. November 1980. schwierig ist, zuzugeben, die materielle Natur eines Men- Der deutsche Text ist abgedruckt in der Schweiz. Kirchenzeitung schen sei Gott gewesen. Es muss daran erinnert werden, 51-52 (1980) 767-782, zit. 777. 9 Vor 40 Jahren: »Endlösung der Judenfrage« Programm zur Ausrottung Staatssekretärs-Konferenz am Berliner Wannsee, 20. Januar 1942 Von Professor Dr. Wolfgang Scheffler" Zehntausende Juden der besetzten sowjetrussischen Ge- der sie unterstützenden Ordnungspolizei und teilweise biete waren bereits im Kugelhagel der Einsatzgruppen, auch durch einheimische Gruppen während der ersten Phase der »Endlösung der Judenfrage« im zweiten Halb- * Mit freundlicher Genehmigung seiner Redaktion entnommen aus: jahr 1941 getötet worden. Auch erste deutsche Juden- »Das Parlament« (32/3), Bonn, 23. 1. 1982. transporte fielen im Frühwinter 1941 unter unbeschreibli- [Hier nicht wiedergegeben ist die Abb.: »Auschwitz vor 40 Jahren: An- chen Umständen dem mörderischen Geschehen zum Op- kunft eines Transportes jüdischer Bürger aus Ungarn im Lager Ausch- witz. Das Bild zeigt oben die Einrichtungen des berüchtigten Arbeits- und fer. Zu diesem Zeitpunkt hielt es Reinhard Heydrich, der Vernichtungslagers«]. Chef der Sicherheitspolizei und des SD, für angebracht,

26 ranghohe Beamte und Funktionäre der Staats- und Partei- Massenmörder Dr. Lange, Kommandeur der Sicherheits- bürokratie zu einem Treffen mit Vertretern des Himmler- polizei und des SD in Riga, hatte gerade mit seinen Leu- schen Machtapparates einzuladen. Zum 20. Januar 1942 ten unter unübersehbarer Beteiligung einheimischer Kräf- lud der Chef des Reichssicherheitshauptamtes die Vertre- te die Liquidierung von 30 000 lettischen Juden vollzogen, ter jener Behörden in das Gebäude Am Grossen Wannsee während die Zivilverwaltung sich über die Umstände der 56/58 in Berlin ein, die von der inzwischen beschlossenen Massaker beschwert hatte. Deportierung und Vernichtung der europäischen Juden im deutschen Machtbereich in ihren Zuständigkeiten am »Restbestand« wird »behandelt« ehesten berührt sein mussten. So konnte es keine allzu grosse Überraschung für die Vier Staatssekretäre (Dr. Stuckart und Dr. Freisler vom Teilnehmer der Konferenz gewesen sein, als Heydrich, Reichsinnen- und Reichsjustizministerium, Dr. Bühler als nachdem er einen Überblick über die bisherige Juden- Vertreter der Regierung des Generalgouvernements, politik gegeben hatte, das generelle Ziel der Endlösung Erich Neumann, Vertreter von Görings Behörde für den formulierte. Die verschachtelte Fassung hierüber im Vierjahresplan), ein Unterstaatssekretär (Martin Luther Wannseeprotokoll, das in 30 Exemplaren später ver- als zuständiger Mann des Auswärtigen Amtes für Juden- schickt wurde, war beim Kenntnisstand der Teilnehmer fragen) sassen neben je einem Vertreter der Reichskanzlei eindeutig und entsprach im Prinzip dem späteren Gesche- (Fr. W. Kritzinger) und der Parteikanzlei (Gerhard hen. Nachdem er die bisherigen Evakuierungsaktionen als Klopfer), den Vertreter des Reichssicherheitshauptamtes Ausweichmöglichkeiten charakterisiert und damit mögli- (Gestapochef Heinrich Müller und Judenreferent Adolf che Einwände des Ostministeriums über die bisherigen Eichmann), denen der Sicherheitspolizei im Osten (Dr. Vorgänge im Baltikum abgeblockt hatte, heisst es über die Schöngarth aus Krakau und Dr. Lange aus Riga), sowie 11 Millionen Opfer aus den europäischen Ländern, deren einem Repräsentanten des Rasse- und Siedlungshauptam- endgültiges Schicksal Heydrich vor Augen hatte: tes (Gruppenführer Hoffmann) gegenüber. »Unter entsprechender Leitung sollen nun im Zuge der Endlösung die Juden in geeigneter Weise im Osten zum Heydrichs Führungsanspruch Arbeitseinsatz kommen. In grossen Arbeitskolonnen, un- Die ursprünglich für Anfang Dezember 1941 geplante ter Trennung der Geschlechter, werden die arbeitsfähigen Besprechung war aus mehreren Gründen für Heydrich Juden strassenbauend in diese Gebiete geführt, wobei notwendig geworden. Nachdem bereits im Sommer 1941 zweifellos ein Grossteil durch natürliche Verminderung das Todesurteil über die jüdische Bevölkerung in der ausfallen wird. Sowjetunion gesprochen worden war, brachte die Mitte Der allfällig endlich verbleibende Restbestand wird, da es Oktober 1941 einsetzende Deportation der deutschen Ju- sich bei diesem zweifellos um den widerstandsfähigsten den nach dem Osten (Lodz, Minsk, Kowno und Riga) Teil handelt, entsprechend behandelt werden müssen, da Schwierigkeiten mit verschiedenen Behörden mit sich, dieser, eine natürliche Auslese darstellend, bei Freilassung und die teilweise sofortige Ermordung der Deportierten als Keimzelle eines neuen jüdischen Aufbaues anzuspre- am Zielort hatte die Entscheidung zur Folge, in Zukunft chen ist. (Siehe die Erfahrung der Geschichte.)« diese Art der »Endlösung« in das Gebiet des Generalgou- Diese verklausulierte Beschreibung entsprach im Grund- vernements, den »Abfallkübel« des Dritten Reiches, zu prinzip dem späteren Geschehen, nur dass die von Heyd- verlagern. Heydrich ging es daher vor allem darum, den rich auch erwähnten »Durchgangsgettos« (so im Distrikt Führungsanspruch der Sicherheitspolizei für alle Endlö- Lublin), iri welche die Juden auf ihrem »Weg nach Osten« sungsfragen, »ohne Rücksicht auf geographische Gren- zunächst verschleppt werden sollten, nach Fertigstellung zen«, klarzustellen. Dazu benötigte er u. a. die Koopera- der Lager der »Aktion Reinhard« (Belzec, Sobibor und tion mit dem Auswärtigen Amt, die ihm von Luther in Treblinka) sowie des Lagers Auschwitz-Birkenau wegfal- Wannsee durch ergänzende und kommentierende Bemer- len konnten. Der erwähnte »Strassenbau« war sowohl im kungen signalisiert wurde. Überhaupt reagierte die um Hinblick auf die Struktur einer ganzen zu deportierenden Heydrich versammelte Runde überaus kooperativ, wie Bevölkerungsgruppe als auch hinsichtlich der Realitäten Eichmann, der sowohl grosse Teile der von Heydrich ge- im Generalgouvernement und im besetzten sowjetrussi- haltenen Rede vorbereitet als auch die Niederschrift über schen Gebiet, auch damals erkennbar, ein übler Euphe- diese Sitzung, das berüchtigte Wannseeprotokoll, ange- mismus. fertigt hatte, im Jerusalemer Prozess 1961 rechtfertigend Die Juden wollte man »selektieren«, wobei ein »Grossteil feststellte. ausfallen«, d. h. getötet werden sollte. Man wollte sie mit Nun waren die geladenen Herren nicht ohne Vorkennt- Hilfe des Prinzips »Vernichtung durch Arbeit« dezimie- nisse. Über die Tätigkeit der Einsatzgruppen hatte Heyd- ren und den Rest dann ebenfalls liquidieren. Es war ein rich seit längerem Monatsübersichten in hoher Stückzahl Programm der totalen Ausrottung'. (80-100 Exemplare) an ausgewählte Behörderi und Wer die damaligen Verhältnisse genau durchleuchtet, er- Dienststellen verschicken lassen, deren Inhalt über die kennt die Abwegigkeit der Argumente, um es milde aus- Vorgänge im Osten in aller Deutlichkeit Auskunft gaben. zudrücken, mit der einige Zeitgenossen noch heute versu- Das Innenministerium hatte im November 1941 jene 11. chen, die angeführten Passagen des Wannseeprotokolls Verordnung fertiggestellt, in der der bürgerliche Tod der als gefälscht hinzustellen. Dass im übrigen die Teilnehmer deutschen Juden dekretiert worden war. Das bedeutete im der Konferenz genau wussten, worum es im Prinzip ging, einzelnen: Einziehung des Vermögens und Verlust der kann man u. a. dem Hinweis Dr. Bühlers entnehmen, der Staatsangehörigkeit aufgrund der Deportation; die Ur- forderte, mit der Endlösung im Generalgouvernement zu kunde hierüber musste in Gegenwart des Gerichtsvoll- beginnen, da hier einerseits das Transportproblem keine ziehers im Deportations-Sammellager vor Beginn der Rolle spiele und andererseits von den in Frage kommen- Verschleppung von den Opfern quittiert werden: das den 21/2 Millionen Juden die Mehrzahl ohnehin »arbeits- geraubte Vermögen wurde von den Finanzämtern, der unfähig« sei. »Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt« und anderen Ausgenommen von der »Ostevakuierung« sollten lediglich Institutionen verwertet und die Wohnungen mit Behör- die über 65 Jahre alten Juden, Schwerkriegsbeschädigte denempfehlung verteilt. Auch das Ostministerium besass und Juden mit Kriegsauszeichnungen sein, für die das bereits reichlich Erfahrungen über die Vorgänge: der Altersgetto Theresienstadt als Aufenthaltsort bestimmt

27 wurde. Schliesslich nahm die Behandlung der sogenann- stellten Zusatzforderurigen und fügten, natürlich »nur« im ten Mischlinge und Mischehen einen breiten Raum in der Rahmen ihrer Zuständigkeiten, Ergänzungen hinzu. Diskussion ein. In Betracht gezogen wurde die Zwangs- Nach 1945 hatten die befragten überlebenden Teilnehmer sterilisierung derjenigen Personen, denen man den weite- der monströsen Besprechung angeblich so ziemlich alles ren Aufenthalt in ihrer Heimat gestatten wollte, während »vergessen«. Ihre »Zuständigkeit« auf engem Gebiet dürf- man für die Mischehen über die Möglichkeit einer te für sie dann das Eichmannsche Pilatusgefühl gewesen Zwangsscheidung debattierte. Es waren Vorhaben, die sein. auf späteren Konferenzen weiterdiskutiert wurden und In der historischen Erörterung der letzten Jahrzehnte sind die sich in der geplanten Form als undurchführbar erwie- die Vorgänge um die Wannseekonferenz, die sehr eng mit sen. den Grundsatzentscheidungen über die Entwicklungspha- sen der Endlösung zusammenhängen, zumeist recht frag- Allgemeine Zufriedenheit mentarisch behandelt worden. Im Zusammenhang mit Heydrich konnte nach der ca. zweistündigen Konferenz den abenteuerlichen Vermutungen des englischen Schrift- mit der Reaktion seiner Gäste auf die vorgetragenen Plä- stellers David Irving auf diesem Gebiet waren diese Vor- ne zufrieden sein, sie war für ihn kooperativ ausgefallen. gänge sogar Ausgangspunkt zu mehr oder minder speku- Nicht einmal das Ostministerium hatte seine Beschwerden lativen Erörterungen. Konfrontiert man jedoch die Ent- wiederholt. Dr. Lange war umsonst nach Berlin gerufen wicklung z. B. in Berlin mit dem tatsächlichen Vollzug worden. Der Chef der RSHA trank zusammen mit Gesta- der Verdrängungs- und Tötungsaktionen, kommt man po-Müller und Eichmann am Kamin hinterher seinen den grundsätzlichen Entscheidungsabläufen, über die do- Kognak und rauchte, was Eichmann unvergesslich blieb. kumentarisches Material zum Teil fehlt, wesentlich näher. Aber auch der Judenreferent des RSHA war zufrieden. Die Wannseekonferenz vor vierzig Jahren, die stattfand, Rückblickend zog er 1961 in Jerusalem in seiner Recht- als die entscheidenden Beschlüsse schon gefasst und ihre fertigung folgende Bilanz: »... am Ergebnis der Wann- Realisierung bereits im Gange war, bildete den abschlies- seekonferenz, in dem Augenblick hatte ich eine Art Pila- senden Vorgang in diesem Entwicklungsprozess. tus'sche Zufriedenheit in mir verspürt, denn ich fühlte mich bar jeder Schuld. Hier auf der Wannseekonferenz Dazu bringen wir folgende statistische Feststellung von befahlen die Päpste, ich hatte zu gehorchen, und daran 1933 und vom 1. 4. 1982: dachte ich in den kommenden Jahren.« Im Deutschen Reich, innerhalb der Grenzen von 1933, So unreflektiert einfach war das, auch im Jahre 1961. Ge- wohnte etwa eine halbe Million Juden. Am 1. April 1982 nauso einfach wie für viele andere, die schossen, quälten, waren bei den jüdischen Landesverbänden und Gemein- vergasten. Über die Deportationszüge, die zum gleichen den in der Bundesrepublik Deutschland und Westberlin Zeitpunkt im Januar 1942 aus Deutschland bei 30 Grad 28 374 Mitglieder registriert. Diese statistischen Feststel- Kälte nach dem Osten fuhren, zum Teil mit ungeheizten lungen geben in knapper Form die Wirkungen des natio- Waggons, so dass z. B. am Zielort Riga die Mehrzahl ei- nalsozialistischen Judenmordes wieder. Die grösste Ge- nes über 1000 Personen zählenden Transportes erfroren meinde ist zur Zeit Berlin mit 6 507 Mitgliedern. Es folgt ankam, darüber sprach man nicht. Es waren Insassen der Landesverband Bayern mit München 5 410, Frankfurt eines Altersheimes, und der überlebende Rest brauchte, 4 908, Nordrhein mit Düsseldorf 2 859, Landesverband wie es in einer Nachkriegsaussage hiess, »nur über die Hessen 1688, Hamburg 1415, Baden 1 317, Köln 1276, Hecke geworfen« zu werden. Daran dachten die Herren Westfalen 764, Württemberg 697, Rheinland-Pfalz 568, in Berlin-Wannsee wohl kaum, denn »wo gehobelt wird, Niedersachsen 542, Saar 264, Bremen 159. da fallen Späne« war ein geflügeltes Wort im Gestapo- hauptquartier. Aus: Alexander Ginsburg: »Am Vorabend der Ratstagung«, d. i. die Jah- Die Teilnehmer der Wannseekonferenz dürften ähnlich resversammlung des Zentralrats der Juden in Deutschland, in: Jüdischer empfunden haben. Sie nahmen zustimmend vom grössten Pressedienst. Informationen des Zentralrats der Juden in Deutschland, Mordprogramm der modernen Geschichte Kenntnis, Nr. 4, Düsseldorf, Juni 1982, S. 1.

10 Gedichte als Zeugnisse der Menschenwürde Lyrik aus den nationalsozialistischen Konzentrationslagern"-

»Dieses Volk wird mit dem Staube verglichen und wird worden, auch die Kinder waren eines nach dem andern mit den Sternen verglichen: sinkt es, so ist es bis in den ermordet worden, nur ihre ungelenken Darstellungen von Staub gesunken, erhebt es sich, so hat es sich bis zu den gezackten Mauern, von Galgen, Särgen und Stiefelmän- Sternen erhoben.« Talmudtraktat Megilla, 16a nern, aber auch von Karussells, Kinderrollern und Apfel- bäumen waren noch da . .« Die Autorin gesteht im Rück- In ihren 1963 veröffentlichten Aufzeichnungen »Wohin blick ihr Erschrecken über diese Notiz und bedenkt, »dass denn ich« hält Marie Luise Kaschnitz eine Erinnerung an wir, du und ich, während dieser Zeit lebten, uns liebten Tage in Mailand fest, wo sie mit Bekännten in einer Cafe- und glücklich waren . . .« teria der Galleria Vittorio Emmanuele Gespräche geführt 1959 hatte Hanna Volavkova (Stätni Zidovske Museum, hat: »Ein . . . Tischgenosse zog eine Zeitung heraus, in Prag) eine Anthologie herausgegeben: »Kinderzeichnun- der von einer Ausstellung von Kinderzeichnungen be- gen und Gedichte aus Theresienstadt 1941-1944 1« — eine richtet wurde. Die Zeichnungen waren in Theresienstadt Sammlung unter vielen, die vor und nach ihrer Publika- entstanden, der Lehrer, der den Kindern Papier und Bunt- tion erschienen sind, die aber hauptsächlich Gedichte von stifte verschafft hatte, war für diese Liebestat ermordet Mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der »Orientierung« und ' Vgl. dazu: Kinderzeichnungen und Gedichte aus Theresienstadt, 1942- der Verfasserin entnommen aus: »Orientierung«. Katholische Blätter für 1944, hg. vom Verlag Nakaladatelski Orbis (Jüdisches Stadtmuseum in weltanschauliche Information (46/6), Zürich, 31. 3. 1982, S. 65-68. Prag) 1962, s. in: FrRu XV/ 1964, S. 151 f.

28 Erwachsenen mitgeteilt haben, entstanden in den Ver- das Jammern aus der Gaskammer, und der Rauch der ver- nichtungslagern der NS-Zeit. Unweigerlich denkt man an brannten Opfer biss in ihren Augen. Ihre Gedichte waren den Ausspruch Theodor W. Adornos, Gedichte nach der einzige Ausdruck der Auflehnung, den sich ihre Seele Auschwitz zu schreiben, bedeute Barbarei. Gegenüber in einer solchen Situation leisten konnte . . . Indem wir die dieser Auffassung, die sich zäh behauptet hat, wäre zu er- Gedichte vortrugen und schmuggelten, war es so, als ob wägen, dass immerhin in Auschwitz Gedichte geschrieben wir an dieser Auflehnung teilnähmen . . .« worden sind. Das sind die Konturen der Leidens- und Todeslandschaft, Lyrik — gegen den Tod geschrieben in der die folgenden Gedichte entstanden sind. Bei ihren Autoren handelt es sich wohl zumeist um jüdische KZ- Was bedeutet es, an einem Ort wie Auschwitz Gedichte Gefangene (ich konnte die Glaubenszugehörigkeit nicht zu schreiben? Eine Antwort gibt die Lyrikerin Rose Aus- in allen Fällen zweifelsfrei feststellen), die sich vor der länder, wenn sie auf ihre Jahre des Untergrunds in einem Verhaftung fast immer schon schriftstellerisch betätigt ha- Kellerversteck des Czernowitzer Judenghettos zurück- ben. Die einzelnen Texte sind in der vorliegenden Antho- blickt: ». . . und während wir den Tod erwarteten, wohn- logie (»An den Wind geschrieben«, Lyrik der Freiheit, ten manche von uns in Traumworten. Schreiben war Gedichte der Jahre 1933-1945. Gesammelt und eingeleitet Leben. Überleben.« von Manfred Schlösser. Agora-Verlag, Darmstadt 1960 1 a) Alle diese Gedichte aus den »Wohnungen des Todes« sind oft erstmals abgedruckt worden und manchmal auf Um- in der denkbar extremsten Grenzsituation menschlicher wegen in die Hand des Verlegers gelangt; sie stellen eine Existenz entstanden: in unmittelbarer Todesnähe, aus- Auswahl dar, die sich vorab an thematischen Kriterien ori- weglos konfrontiert mit dem schrecklichsten der Schrek- entiert. 2 ken. Vorausgegangen waren Verhaftung und Deporta- tion, die Ankunft an einem unbekannten Ort und die Verzweiflung und Tapferkeit blitzartige Erkenntnis, ausgeliefert zu sein; die Abgabe Manche Texte sind zuerst und vor allem von der Ver- aller persönlichen Effekten und die Umwandlung in die zweiflung diktiert, von der geheim wütenden Beschrei- Lagernummer X, dann die zwangsweise Eingewöhnung bung all dessen, was sich vor den Augen der Verfasser in den KZ-Alltag mit jenen Schikanen, die die Individuali- täglich abgespielt hat: tät des Häftlings systematisch auszulöschen und ihm das Sie gehen ihres Weges mit müdem Schritt, Gefühl personaler Würde zu nehmen suchten. Viele der Der Hunger, der Hunger, der Hunger geht mit. Gefangenen lassen sich zermürben; andere wehren sich Er wühlt im Leib und zehrt am Gebein dagegen, spüren in sich noch einen letzten starken Rest Und gräbt sich tief in das Antlitz hinein. von Selbstbehauptung. Schreiben ist eine dieser Möglich- Und was den Menschen adelt und ehrt, keiten des Widerstands. Das Gedicht drängt sich hier als Der Hunger, der Hunger, der Hunger zerstört. Form geradezu auf, weil es ein geringes handwerkliches Dies sind die Anfangszeilen des Gedichts »Die Hungern- Instrumentarium benötigt und Bedeutsames auf kleinstem den« von Ilse Weber. 1903 war sie, die ausgebildete Kin- Raum auszusagen vermag. Und hier, angesichts der ent- dergärtnerin, in Mährisch-Ostrau geboren worden, hatte setzlichen Vernichtung, steigert sich Lyrik zu ihrer letzt- vor dem Krieg jüdische Märchenbücher und Kinderge- möglichen Bedeutung: Sie gewinnt lebensrettende Kraft, schichten veröffentlicht. 1942 wurde sie mit ihrer Familie indem sie den Autor und seine erste Leserschaft im KZ nach Theresienstadt verschleppt, wo sie ihre Gedichte zwar nicht vor dem physischen Tod bewahrt, aber beiden schrieb; 1944 folgte sie ihrem Mann nach Auschwitz und die Gewissheit vermittelt, dass sie noch immer geist- und starb den Tod in der Gaskammer. gefühlsbegabte Wesen inmitten der infernalischen Ma- Hoffnungslosigkeit spricht sich im Gedicht »Der Kamin« schinerie geblieben sind, dass die organisierte Entwürdi- der damals dreizehnjährigen Wienerin Ruth Klueger aus, gung noch nicht perfekt läuft, sondern vor einem winzi- geschrieben 1944 im KZ Auschwitz (die Autorin überlebte gen Stück Unversehrbarkeit kapitulieren muss. In diesem und wanderte 1947 in die USA aus; weitere Angaben lie- Sinn ist das KZ-Gedicht letzte Provokation der Opfer gen nicht vor): gegenüber den Verfolgern, letzte Verweigerung. Wohl kaum eine Leserschaft bzw. Hörerschaft hat je dem Täglich hinter den Baracken Gedicht eine solch intensive Aufmerksamkeit entgegenge- Seh' ich Rauch und Feuer stehn, bracht wie an diesen Orten der »Endlösung«. Texte wur- Jude, beuge deinen Nacken, Keiner hier kann dem entgehn. den in fliegender Hast weitergeschmuggelt, bis sie die Siehst du in dem Rauche nicht Empfänger erreichten. »Wir waren alle sehr gerührt. Eine Ein verzerrtes Angesicht? von uns weinte, eine andere ballte leidenschaftlich die Ruft es nicht voll Spott und Hohn: Faust, alle baten einstimmig um den Text. Wir wollten das Fünf Millionen berg' ich schon. Gedicht auswendig lernen.« So schreibt die polnische Auschwitz liegt in seiner Hand — Schauspielerin Maria Zerembinska in ihrem Vorwort zu Alles, alles wird verbrannt. den in Auschwitz entstandenen Gedichten ihrer Mitgefan- genen, der polnischen Jüdin Krystyna Zywulska (War- Täglich hinterm Stacheldraht schau 1951). Und sie fährt fort: »Wir warteten auf diese Steigt die Sonne purpurn auf. Gedichte und betrachteten sie als unseren Besitz. Wer Doch ihr Licht wirkt öd und fad, nicht geschlagen worden ist, . nicht >eine Nummer< war, Bricht die andere Flamme auf. wer zwölf Stunden am Tag nicht gehört hat, dass er eine Denn das warme Lebenslicht >Polensau< und ein >Haufen Scheisse< sei, wird es viel- Gilt in Auschwitz längst schon nicht. leicht nicht ganz verstehen, was für uns damals die Ge- Blick zur roten Flamme hin, dichte bedeuteten und warum wir sie so liebten . . . Kry- styna Zywulskas Gedichte wurden in Auschwitz geschrie- Vgl. dazu in: FrRu XIII, S. 106. ben, ungefähr zehn Meter vom Krematorium entfernt. 2 Beispiele für KZ-Lyrik finden sich in zahlreichen Anthologien der fünf- ziger, sechziger und siebziger Jahre. Als eine der jüngeren Publikationen Während sie dort in der Effektenkammer den ganzen Tag sei erwähnt: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland. Deportation und arbeitete, hatte sie ununterbrochen Hunderttausende von Vernichtung in poetischen Zeugnissen. Hg. von Bernd Jentzsch. Kindler- Menschen vor Augen, die in den Tod gingen. Sie hörte Verlag, München 1979.

29 Einzig wahr ist der Kamin. — Gestrüpp um Deinen Fuss? — Er biegt es grade Auschwitz liegt in seiner Hand — Gehend im schmalen Strahl vom Sonnenrade. Alles, alles wird verbrannt. Aus Nebeln Hände? — Dein Griff weiss den Rat Ähnlich äussert sich der einige Jahre ältere Pavel Fried- Der Sumpf bleibt links. Was tot um Leben bat mann (geboren 1921 in Prag, 1944 in Auschwitz ermor- Versinkt. Wo sich Finger krümmt zur Saat det) in seinem Gedicht »Der Schmetterling«, das 1942 in Den müdesten labt Ähre noch und Mand. Theresienstadt als Reaktion auf die Kinderzeichnung ei- Alles ist Tat! Auch Musse auch der Traum — nes Schmetterlings entstanden ist: Du liegst im Gras schaust durch den runden Baum Der letzte wars, der aller allerletzte Sonne und Mond zugleich im blauen Raum der satt und bitter blendend grelle 0 Erde trächtiger Rausch von Saum zu Saum. vielleicht wenn eine Sonnenträne irgendwo auf weissem Stein erklingt »Aber dort hinten ist Licht« so war das Gelb »Amor fati«, »Liebe zum Schicksal«, ist eine der tragen- und trug sich schwebend in die Höhe den Tugenden des religiösen Judentums. Die im KZ er stieg gewiss Auschwitz 1943 ermordete Dichterin Gertrud Kolmar4 gewiss wollt' küssen er dort meine letzte Welt legte dafür in einem ihrer Briefe, zwei Monate vor ihrem Tod, ein ergreifendes Bekenntnis ab: »So will ich auch Und sieben Wochen leb ich da unter mein Schicksal treten . . . Wenn ich es schon nicht gettoisiert kenne: Ich habe es im voraus bejaht, mich ihm im voraus hier fanden mich die Meinen gestellt, und damit weiss ich, dass es mich nicht erdrücken mich ruft der Löwenzahn wird . . .« und auch der weisse Zweig im Hof auf der Kastanie doch einen Schmetterling hab ich hier nicht gesehn Ein Trostgedicht ist Henri Sternbergs »Der Weg«. Gebo- ren 1905 in Berlin, erhielt der jüdische Autor 1933 das war gewiss der allerletzte Schreibverbot. Alle seine Familienangehörigen wurden in denn Schmetterlinge leben nicht im Getto'. Auschwitz, Riga, Buchenwald umgebracht; er selbst stand Die Niederschriften versuchen hier vor allem, das Grauen im KZ Theresienstadt trotz schwerer Erkrankung die Jah- zu fassen — an und für sich ein unmögliches Unterfangen re bis 1945 durch und fand hier, wohl aus starker religiö- —, aber auch einen Raum auszusparen, wo der Autor eine ser Überzeugung schöpfend, einen Durchgang zum Licht: Atempause lang Mensch sein kann. — Zieht man weitere Ich schreite einen Weg Gedichte heran, so ist die Spannweite beträchtlich: hier Voll von Dornen und Steinen. Verzweiflung, dort religiöse Verankerung auch in der Ex- Führt denn kein Steg tremsituation, hier fatalistische Ergebenheit, dort beinahe Über den Strom von Tränen, leidenschaftliche Liebe zum jüdischen Schicksal. Bruno Über die Flut von Sehnen? König, ein 1900 in Prag geborener Beamter, der 1942 Gibt es denn keinen? nach Theresienstadt verschleppt und 1944 im KZ Kaufe- Aber dort hinten ist Licht, ring ermordet worden ist, hinterlässt dieses 1943 in So- Strahlendes Funkeln. nettform geschriebene Gedicht mit den Schlussterzetten: Lange, ach, sahst du es nicht, In grauen Staub versickert unsre Klage, Wie sich im Aufwärtsschreiten Von Heim und Welt getrennt durch Steingemäuer. Vor mir die Wege nun weiten Zu leicht befunden auf des Schicksals Waage, Hinaus aus dem Dunkeln? Verbüssen wir in diesem Fegefeuer Das ist der Weg zur Dir, Die kargen Reste unsrer bangen Tage Ihn muss ich gehn. Und zahlen dem Jahrhundert unsre Steuer. Vergangenes lass ich hier, Solcher Müdigkeit steht die Vitalität einer Gertrud Kanto- Aber als besseres Wesen rowicz gegenüber, die der messianischen Zuversicht des Von Menschheit und Irrtum genesen, gläubigen Judentums entspringt (diese hat u. a. auch ein Werd ich vor Dir stehn. Lied wie die jiddische Hymne der jüdischen Partisanen im Das Gedicht von Kurt Kapper, »Sonett von Theresien- Warschauer Ghetto-Aufstand ermöglicht: »Sog nischt stadt«, spiegelt eine solche Religiosität gleichsam profa- kejnmol as du gejst dem letstn Weg . . . / Sag nie, du ner. Statt des betenden Anrufs an ein göttliches Du zitiert gehst den allerletzten Weg . ..«). Gertrud Kantorowicz der Autor (geboren 1899 in Prag, 1945 in Auschwitz um- war 1876 in Posen geboren worden, hatte Kunstgeschich- gebracht) die Gestirne: te, Philosophie und Archäologie studiert und u. a. 1942 Und Nacht und Tag, und Tag und Nacht, versucht, mit drei älteren Damen die Schweizer Grenze Sie gleiten über unsre Häupter hin, zu überschreiten; dabei wurde sie verhaftet und nach The- Zusammenhanglos, ohne Kraft und Sinn, resienstadt gebracht, wo sie noch als Pflegerin gewirkt Als hätte Puppen man aus uns gemacht. hat, jedoch an Entkräftung im April 1945 gestorben ist, Der Klang der Welt, von Fernen hergebracht, nachdem die SS bereits abgezogen war. Die beinahe Sieb- Wir hören ihn an uns vorüberziehn zigjährige beginnt dieses 1943 in Theresienstadt geschrie- Und irgendwo in Weiten sacht verglühn, bene Gedicht »Amor fati III« mit unglaublicher Lebendig- Und immer tiefer sinken wir im Schacht. keit trotz allem: Hineingestellt in grosses Weltgeschehn, Sei wach den Stimmen die von ringsher tönen Trägt uns der Nachen, unbekannt wohin. Dem Augenblicke lerne Dich versöhnen: Kaltblaue Sterne, die herniedersehn Echo der Frühe tönt sein Tritt — ihn krönen Künftge Gesichte — dunkle und die schönen — Und über unsern irren Wegen ziehn Verklären uns in tröstendem Verstehn Und führen Dich die reichen kühnen Pfade Und kreisen segnend über uns dahin. Alles ist Hier und Jetzt und alles Gnade.

S. o., Anm. 1. 4 Vgl. u. a. Gertrud Kolmar, in: FrRu XXXI/1979, S. 137 f.

30 Die Licht-Dunkel-Metaphorik, beinahe zwingend dieser den sind. Und was in diesem ausserordentlichen Fall die Extremsituation der Autoren zugehörig, bestimmt auch literarische Kritik angeht, so sei auf ein Wort von Karl das »Totengebet« Georg Kafkas, eines weitläufigen Ver- Kraus verwiesen: »Wer jetzt etwas zu sagen hat, der trete wandten von Franz Kafka. Der Verfasser, 1921 im böh- vor — und schweige.« — Etwas wäre jedoch zu bedenken: mischen Teplitz-Schönau geboren, wurde 1942 nach The- Von Unmenschlichkeit lässt sich kaum noch in Worten resienstadt verschickt, wo dieses Gedicht entstanden ist, reden. Und doch ist hier geredet worden. »Die Un- folgte jedoch im Frühling 1944 seiner Mutter freiwillig menschlichkeit des Geschehens war seine Anonymität«, nach Auschwitz und starb Ende 1944 im Lager Schwarz- schreibt der Literaturwissenschaftler Reinhard Baumgart heide. Die Schlussstrophen lauten: in seinen Essays »Literatur für Zeitgenossen« (Frankfurt Wir aber leben und dürfen nicht 1966). »Vergasung, das bedeutete: Täter und Opfer ste- Die Tage versäumen. hen sich nicht mehr gegenüber. In dieser neuen, anony- Wir tragen geduldig das schwere Gewicht men Situation versagen die letzten, die tief im Instinkt Zu deinen Träumen. eingeübten Hemmungen. Deshalb und in diesem Sinne ist die neue Lage unmenschlich. Eine herkömmliche Litera- Oh Herr, die Lebenden kommen zu Dir. tur, eingerichtet nur für Individuen und ihre Konflikte, Die wir geliebt, sind allein. konnte sie nicht mehr beschreiben ... Den äussersten Wir finden sie nicht. Schrecken, so scheint es, halten nur noch die Dokumen- Du aber wirst die Erleuchtung sein. te . .« Angesichts der KZ-Literatur, der KZ-Lyrik im be- Du Licht. sonderen, werden wir Nachgeborenen einem Paradox Andere Gedichte teilen visionäre Bilder mit. Man mag ausgesetzt: Man konnte all dies nicht in Worten beschrei- vielleicht heute solche Imaginationen als blosse Fluchtreak- ben und musste es trotzdem tun. Musste es tatsächlich, tionen bezeichnen; auf jeden Fall ist die Stärke der Vor- denn es war dies eine der Möglichkeiten, dem Grauen zu stellungskraft, die Fähigkeit, über die Finsternis mit Sze- trotzen, sich selbst mit einer letzten Erinnerung an nen der Verklärung hinwegzutäuschen bzw. hinwegzu- menschliche Integrität in den Tod hinüberzuretten. sehreiben, erstaunlich. Ein Beispiel liefert der 1876 in Ko- Gleichzeitig halten manche Gedichte den Lebenden einen blenz geborene Richard Scheid, der sich seinerzeit für die Spiegel vor, wie zu leben, wie zu sterben wäre: beeindruk- Völkerverständigung engagiert hatte, als Mitglied einer kend die Disziplin, der gesammelte Ernst, der diese Tod- Widerstandsgruppe mehrere Jahre Dunkelhaft in Dachau geweihten umgibt, die zum Teil eine von deutlichem erlitten und an diesem Ort auch das Gedicht »In Erwar- Ethos geprägte jüdische Erziehung erfahren und die gei- tung des Todes« geschrieben hatte (dessen Adressatin sich stigen Wertvorstellungen ihres Milieus auch in dieser ex- nicht schlüssig entdeckt): tremen Herausforderung bewahrt haben. Die Judaistin O sprich zu mir, die mich so zart geliebt, Salcia Landmann äusserte mir gegenüber in einem Ge- o teures Bild, von dessen Hauch ich lebe — spräch, die Anhänger des Chassidismus, der mystisch ge- o rufe mich, dass ich mit dir entschwebe, prägten Bewegung des Ostjudentums, seien die einzigen wenn diese Erde jetzt in Nichts zerstiebt. gewesen, die vor den Gaskammern nicht verzweifelt zu- sammengebrochen wären. Tatsächlich hat gerade die jüdi- Die ganze Schöpfung ist von dir entzückt, sche Erziehung im religiös geschlossenen Raum Osteuro- ich sehe schon der Seraphim Erstaunen, pas eine Grundwahrheit des Judentums an die erste Stelle wenn unterm Donner der Gerichtsposaunen gesetzt: die Einheit von Glaube und Tat, wie dies Johan- sich Gottes Mund mit deinem Lächeln schmückt. nes Barta in seiner Studie »Jüdische Familienerziehung« Ein weiteres Gedicht aus dieser Sammlung beschwört die (Zürich 1974) nachweist. Und auch das unverrückbare Geliebte des Verfassers. Dieser, einer der führenden Bewusstsein des jüdischen Volkes, Am Segulla — Eigen- österreichischen Lyriker im Hofmannsthal-Kreis, war tumsvolk — zu sein und damit als auserwähltes Volk auch 1878 im böhmischen Kolin geboren worden: Camill Hoff- die Leiden in grösserem Ausmass kennenzulernen, stärkte mann. Er amtierte als Pressechef und Gesandtschaftsrat das Durchhaltevermögen und gab heilsame Perspektiven der Tschechoslowakei in Berlin bis 1938, war u. a. Mit- frei. arbeiter und Übersetzer Masaryks. Ende Oktober 1944 Reinhard Baumgart gibt weiter in seinem obigen Essay als wurde der jüdische Schriftsteller in Auschwitz ermordet. Überlegung mit: »Haben sich die Gedichte über Ausch- Die Schlusszeilen lauten: witz immer freihalten können von jener Schönheit, die Heute Nacht, mein Herz vergass das Unsägliche durch Kunstaufwand beredt macht, den Zu schlagen, du tratst ein Schrecken zur Ordnung ruft, einzirkelt und befriedet? Mit wunden Händen, blass Celans >Todesfuge< etwa und ihre Motive . . . bewies es Vom langen Einsamsein. nicht schon zuviel Genuss an Kunst, an der durch sie wie- Geliebteste, mein Kind. der >schön< gewordenen Verzweiflung?« Soll man also in Sieh, wir wir elend sind. dieser Aporie das Schweigen wählen, oder muss sich die Ich warf mich hin vor dir, Sprache in und nach diesem Zeitalter der »Endlösung« Beschämt von deinen Wunden. neu bilden? Wahrscheinlich liesse sich der Widerspruch Da warst du schon entschwunden auch dann nicht aufheben, wenn man versuchte, Un- Durch die geheime Tür. menschlichem in neuer Form »gerecht zu werden« — was Das Bild der »geheimen Tür« ist mehr als poetische Evo- sich eben letztlich nicht einrichten lässt. Es bleibt nichts kation; es hat sich zum Sinnbild gesteigert, weil es jene anderes, als den Widerspruch von Text zu Text im Auge Möglichkeit des kreativen Menschen offenbart, innerhalb zu behalten und ein Stück weit auszutragen. eines grauenhaften Geschehens immer noch eine geringe Zone zu ermitteln, wo die Schöpfungs- und Verwand- Kaddisch der Überlebenden lungskraft der Fantasie aufleuchtet. Und es ist daran zu erinnern, dass die wohl sinnreichsten Gedichte über die Toten von Auschwitz und anderswo in Unmögliches beschreiben — ein steter Widerspruch einer bildermächtigen erhabenen Sprache zu uns gekom- Alle diese Gedichte haben zum vornherein ihre Legitima- men sind und deswegen keineswegs die Erschütterung ge- tion durch das Leid erfahren, dessen Ausdruck sie gewor- mindert haben: Nelly Sachs hat sie als Überlebende ge-

31 schrieben, sich in ihrer Trauer fast dahingegeben und im- dies in einem »Offenen Brief an Nelly Sachs« zu deren 75. mer wieder auf die Fragen ihres Volkes eine Antwort ge- Geburtstag 1966 ausgesprochen: sucht: »Warum die schwarze Antwort des Hasses / auf »Als ich Deine Gedichte las . . ., da hast Du meine Toten dein Dasein, / Israel?5« Nicht umsonst taucht hier die Fi- bestattet, all diese fremden furchtbaren Toten, die mir ins gur des Hiob auf, Antworten andeutend und Hoffnungen Zimmer kamen . . . Ich sehe kein zweites Werk, das diese aufzeigend. An Hiob hat sich der jüdische Mensch immer Toten, diese so besonders unglücklichen Toten unter den wieder orientiert. Die Lyrikerin und Essayistin Margarete vielen schlecht gestorbenen, der Erinnerung der Mensch- Susman schreibt in ihrem Werk »Das Buch Hiob und das heit einfügt wie das Deine. Das müssen wir alle Dir dan- Schicksal des jüdischen Volkes« (2 1948; Herder-Taschen- ken: wir, die Überlebenden. Wir, die verschont wurden buch Nr. 318, 1968 6): als Opfer, und in gleicher Weise die, die überlebt haben »Vertrauen zum Leben ist immer wie das Vertrauen auf der Seite der Mitschuldigen. Und die junge Genera- Hiobs im Anblick der unbegriffenen Schöpfung Vertrau- tion, die diese ganze Last erben muss und für die Du sie en zum Wunder. Es ist inmitten des furchtbar schwanken- leichter gemacht hast . . . Deine Dichtung erhält das Un- den Menschendaseins das stille, feste Dennoch, mit dem heil lebendig, denn Du bist die Stimme dieser unseligen es Anker wirft im Bodenlosen. Das Vertrauen ist in der Toten. Und zugleich erlöst Du von dem Unheil. Wie die brennenden messianischen Ungeduld des Volkes die gros- Dichter von jeher und für die Zeiten den Schrecken und se messianische Geduld. Im Vertrauen wurzelt sein War- zugleich die Katharsis des Schreckens mit sich brach- tenkönnen und Überstehen; das Wartenkönnen im nicht ten . . .« mehr Lebbaren ist seine Begnadung durch das Leben Nicht nur all diese hier zitierten Gedichte aus einer Zeit, selbst . . .« wo der Tod »ein Meister aus Deutschland« gewesen ist Auch all die Gedichte nach Auschwitz', wie z. B. jene der (Paul Celan), sind in der denkbar unmittelbarsten Weise Nelly Sachs, der Else Lasker-Schüler oder Paul Celans, wa- sub specie mortis entstanden. Es wären auch all die litera- ren notwendig: nicht nur als Mahnmale, die das Gedächt- rischen Zeugnisse aus den Lagern der Gegenwart in Ost nis für den Schrecken schärfen sollten. Sie waren in einem und West zu berücksichtigen. Lyrik, in dieser Grenzzone gewissen Sinn auch lebensrettend im nachhinein, denn sie zwischen Leben und Tod notiert, fordert zu einem neuen erlösten all die namenlosen Toten in den Massengräbern Verständnis von Poesie überhaupt auf. Nicht Unverbind- und Gaskammern aus ihrer tödlichen Anonymität, verlie- lichkeit ist ihr Kennzeichen, nicht das schöne Wortkleid hen ihnen ein geistiges Weiterleben im Gedächtnis der allein, nicht die virtuose Verwendung von Klang und Nachwelt. Nelly Sachs hat Kaddisch gesprochen, das jü- Rhythmus. Viel eher das, was eine leidenschaftliche und dische Totengebet der Waisen für die Eltern, indem sie sehr bewusste Autorin wie Annette von Droste-Hülshoff mit ihren Gedichten »Grabschriften in die Luft« geschrie- lange zuvor formuliert hat und was schon immer überzeu- ben hat8. Die deutsch-jüdische Lyrikerin Hilde Domin hat gender Lyrik eigen gewesen ist: » ... Und alles, was ich Nelly Sachs, in: »Sternverdunkelung«. Gedichte. Amsterdam 1949, geschrieben: / Das ist kein Hauch und ist keine Luft, / Fischer-Queridon Verlag. N. V. S. 57. Und ist kein Zucken der Finger, / Das ist meines Herzens 6 Vgl. dazu in FrRu XX / 1968, S. 125. flammendes Blut, / Das dringt hervor durch tausend To- Vgl. dazu das Buch von Barbara Just-Dahlmann: Der Schöpfer der Welt wird es wohl erlauben müssen. Jüdische Dichtung nach Auschwitz. re.« Eine solche Lyrik ist auch nach Auschwitz möglich, ja Radius-Verlag, Stuttgart 1980. sogar heil-sam. Nelly Sachs: »In den Wohnungen des Todes«, Berlin 1947, Aufbau Ver- lag, S. 47-55. (Anmerkungen 1, la, 3-6,8 d. Red. d. FrRu). Beatrice Eichmann-Leutenegger, Muri bei Bern

11 Benedicta Maria Kempner — zum Gedenken (1904-1982)

Wir trauern um Benedicta Maria Kempner und bewahren Nach kurzer schwerer Krankheit hat am 4. Mai 1982 vor sie in tiefer Dankbarkeit im Gedenken für ihr Sein, für ihr Vollendung ihres 78sten Lebensjahres der Herrgott zu sich Wirken und die beiden von ihr geschaffenen Bücher', Do- berufen unsere geliebte kumente mit den in dieser Art darin aufgezeichneten Le- Benedicta Maria Ruth Kempner bensbildern, die Zeichen setzen und beispielgebend sind. Autorin der Bücher: »Priester vor Hitlers Tribunalen« Einige Lebensdaten von Benedicta Maria Kempner: »Nonnen unter dem Hakenkreuz« . . . Benedicta Maria Kempner ist auf einer Europareise in Auf Anregung von Augustin Kardinal Bea kämpfte sie zwei Stockholm verstorben. Sie ist durch ihre beiden obenge- Jahrzehnte, um das Andenken an die von der NS-Justiz um- nannten Standardwerke »Priester vor Hitlers Tribunalen« gebrachten Geistlichen und der 400 vom NS-Regime ver- (1966) und »Nonnen unter dem Hakenkreuz« (1979) be- nichteten Nonnen wachzurütteln. Sie ist Trägerin hoher kannt geworden, durch die das Märtyrerschicksal der von Auszeichnungen. der NS-Justiz ermordeten 120 Geistlichen und der vom Robert M. W. Kempner NS-Regime vernichteten 400 Nonnen geschildert wird. für die Familie Kardinal Augustin Bea schrieb das Vorwort zu dieser Do- und Freunde in aller Welt kumentation. Die Päpste Pius XII., Paul VI. und Johannes Die Verstorbene hätte sich über Spenden an die Priorin Gemma, Paul II. wiesen in persönlichen Audienzen Benedicta Karmel Heilig Blut, D-8060 Dachau-Ost, statt zugedachter Blumen- Maria Kempner auf die Notwendigkeit ihrer Arbeit für spenden gefreut. das Andenken der Verfolgten hin. Die Verstorbene, die aus Württemberg stammte, bildete Diese Traueranzeige und die nachstehend angegebenen ' »Priester vor Hitlers Tribunalen«, mit einem Geleitwort von Kardinal Lebensdaten beinhalten ein in besonderer Weise erfülltes Bea, München, 496 Seiten, s. in: FrRu XVIII/1966, S. 145 f. — »Nonnen Leben. Es verpflichtet in vielfältiger Weise zur Dankbar- unter dem Hakenkreuz« Leiden, Heldentum, Tod: Mit einem Vorwort keit. von Kardinal Bea, Würzburg, 241 Seiten, s. in: FrRu XXXI/1979, S. 152 f.

32 sich in Deutschland, Italien und den USA als Sozialarbei- zeichnungen vom Vatikan, von der Bundesrepublik und terin und Soziologin aus. Bis zur NS-Herrschaft war sie von Österreich, nachdem ihre Bücher über die Märtyrer- als Sozialarbeiterin der Stadt Berlin tätig, u. a. in der Ju- Priester und -Nonnen erschienen waren, die auch schwie- gendfürsorge im Dienste gefährdeter Jugendlicher. Beim rige politische und kirchenpolitische Themen berühren. Bezirksamt Prenzlauer Berg war Professor Walter Fried- Das von Frau Kempner erforschte »Durchkämmen« der länder ihr Chef, mit Franz Neumann und Ruth Fischer holländischen Klöster nach dort versteckten »nicht-ari- arbeitete sie eng zusammen. schen« Nonnen, die 1942 in Auschwitz ermordet wurden, Vom NS-Regime mit ihrem Mann Dr. Robert Kempner brachte neue Erkenntnisse über den Holocaust. Zu diesen ins Exil vertrieben, leitete sie im Landschulheim Florenz ermordeten Ordensfrauen gehörte die Karmeliterin jüdi- die Abteilung NS-verfolgter Schülerinnen. Beim Hitler- scher Abstammung Dr. Edith Stein. Auf Anregung von Besuch in Italien wurde sie als Gestapo-Geisel verhaftet Frau Kempner ehrte die Deutsche Bundespost durch eine und kam ins Gefängnis. Nach der Übersiedlung in die Sondermarke den Jahrestag der Ermordung dieser gelehr- USA war sie zunächst wieder im Wohlfahrtsdienst tätig. ten Nonne. Gegen Ende des Krieges arbeitete sie für General Dwight Benedicta Maria Kempner, eine aussergewöhnliche Frau, D. Eisenhower einen Geheimreport über »Frauen in die sich durch persönliche Bescheidenheit und Zurückhal- Deutschland« aus, der für die spätere Besatzungszeit tung auszeichnete, widmete ihr ganzes Leben mit grosser Bedeutung hattet. Energie der Hilfe für Unterprivilegierte und Verfolgte. »Durch die Tätigkeit ihres Ehemannes Dr. Robert M. W. Die Beisetzung hat im engsten Kreise in Lansdowne, Pa. Kempner, der stellvertretender Chefankläger in den Nürn- USA, stattgefunden 2. berger Prozessen war, wurde sie unmittelbar mit den In »Nonnen unter dem Hakenkreuz« in der Einleitung Verbrechen des Nationalsozialismus konfrontiert. Sie der Verfasserin schreibt sie: vernahm zahlreiche Geistliche als Zeugen, die schwere ». . . Unsere Zeit, die so arm ist an heroischen und Schäden infolge der NS-Verfolgung erlitten hatten. Ihr heiligen Vorbildern, hat nicht nur die Dankes- soziales Gewissen liess sie nicht ruhen, den Leidensweg pflicht, sich dieser Zeugen der Wahrheit zu erinnern, der Verfolgten zu erforschen. So entstanden die beiden sie braucht ihr Andenken auch als Wegweiser zu je- Werke«3. nen ewigen Werten, für die sie Opfer gebracht ha- Benedicta Maria Kempner wurde Trägerin hoher Aus- ben. Ihr heiliges Vermächtnis ist unsere Aufgabe!« 4 , Entnommen aus: Allgemeine jüdische Wochenzeitung (XXXVII/21), Gertrud Luckner Düsseldorf 21. 5. 1982. Vgl. in: »Nonnen unter dem Hakenkreuz« US. 4. in: ebd. S. 11.

12 Israel: Zwei dokumentarische Berichte (Frühjahr 1982) I Was bedeutet Israels Rückzug aus dem Sinai?"'/"'* (mit Karte)

Der in Camp David am 26. 3. 1979 geschlossene »Friedensvertrag zwi- aus dem Sinai zurück auf Grund von Übereinkommen schen dem Staat Israel und der Arabischen Republik Ägypten« 1 war ein und Garantien, die sich als unwirksam erwiesen und er- wichtiger Schritt auf der Suche nach Frieden. Dr. Ben Elissar, seinerzeit neute Bedrohung seiner Existenz nicht verhindern konn- Generaldirektor des Amtes des Ministerpräsidenten in Jerusalem, bemerk- te damals dazu: »... Das, was wir heute tun, stellt den Willen dar, den ten. Nun gibt Israel diese lebenswichtige Pufferzone zum Wunsch und das Gebet von Millionen Der Kernpunkt des Vertra- dritten Mal zurück in der Hoffnung auf den Frieden, den ges hatte zum Inhalt, »dass der Kriegszustand zwischen den Parteien der israelisch-ägyptische Friedensvertrag in Aussicht stellt. beendet wird« (Art. I, 1) 1 b und »Israel seine bewaffneten Kräfte und sein Für das Versprechen eines echten und dauerhaften Frie- Zivilpersonal hinter die internationale Grenze zwischen Ägypten und dens hat Israel einen Preis entrichtet, den man nur schwer dem Mandatsgebiet Palästina« zurückzieht (Art. I, 2) lb . Nach der endgültigen Übergabe des Sinai an Ägypten (25. 4. 1982) brin-* ermessen kann: Es büsste die ausserordentlich wichtige gen wir folgenden informatorischen Bericht. (Anm. d. Red. d. FrRu). strategische Tiefe ein; es gab Ölfelder auf, die seinen Indem Israel den letzten Teil der Sinaihalbinsel übergibt — Fortschritt zur wirtschaftlichen Unabhängigkeit ermög- und damit seinen Anteil an dem in Camp David 1978 er- licht hätten; es nahm es auf sich, Milliarden von nur reichten und in Washington 1979 besiegelten Abkommen' schwer zu entbehrenden Dollars für Umsiedlungspro- erfüllt —, kommt ein schicksalreiches Kapitel seiner Ge- gramme auszugeben, die durch das Aufgeben von Städten schichte zum Abschluss. Im Herzen eines jeden Israelis und Siedlungen notwendig wurden, Siedlungen, die durch schwingt das Gebet, dass die unermesslichen Opfer, die den traditionsgebundenen Pioniergeist junger Israelis er- dieser Akt in menschlicher, wirtschaftlicher und strategi- richtet worden waren. scher Hinsicht fordert, diesem kriegsmüden Volke tat- Israel erfüllte sein Versprechen; aber damit nicht genug, sächlich den Frieden bringen mögen. fordert man von ihm weitere »Flexibilität und Opfer«.

Dreimal — in den Jahren 1948, 1956 und 1967 — war Israel gezwungen, Verteidigungskriege gegen feindliche Kräfte Das strategische Risiko: Wiederkehrende Aggressionen zu führen, die sich im Sinai zusammengerottet hatten. Da der Sinai eine Wüste und grösstenteils unbesiedelt ist,

Zweimal — in den Jahren 1949 und 1957 — zog sich Israel eignet er sich hervorragend als Aufmarschgebiet, in dem starke Streitkräfte zusammengezogen und mit verhältnis- * In: Zur Sache. Dokumentationsblätter, April 1982. Hg.: Botschaft des Staates Israel, Presse- und Informationsabteilung, Bonn. mässiger Leichtigkeit verschoben werden können. Die is- ** Leicht gekürzt und abgeändert. raelischen Siedlungen und wirtschaftlichen Zentren, we- 1 Der Friedensvertrag zwischen dem Staat Israel und der Arabischen gen ihrer Nähe zur internationalen Grenzlinie, können Republik Ägypten vom 26. März 1979. In: FrRu XXX./1978, S 3 ff. schnell von feindlichen Bombern und Armeen unter Be- la Vgl. Vorspann, Anm. *** ebd. lb Der Wortlaut des Friedensvertrages, Art. I, 1 und I, 2, ebd. schuss geraten: Eilat ist weniger als 8 km entfernt, Beer (Alle Anmerkungen d. Red. d. FrRu) Sheva etwa 50 km, und zwischen der Grenzstadt Rafah

33 und Tel Aviv liegen nur etwa 90 km. Die Kontrolle über nalen Schiffsverkehr von und nach Eilat; dies war eine fla- die Sinaihalbinsel durch eine feindliche Armee stellt daher grante Verletzung ägyptischer Verpflichtungen und der eine untragbare Bedrohung für Israels Sicherheit dar. Rechte Israels. Präsident Nasser befahl der UNES, Sinai Unmittelbar nach der Unabhängigkeitserklärung vom zu räumen, und entsandte grosse Streitkräfte über den 15. Mai 1948 fielen ägyptische Streitkräfte vom Sinai her Suezkanal, die Positionen längs der israelischen Grenze in den soeben ausgerufenen Staat ein im Einklang mit den bezogen. Es gab wieder Krieg, und der Sinai wurde zum' anderen arabischen Nachbarstaaten, deren Heere die drittenmal von Israel eingenommen. israelischen Grenzen überschritten, um Israel den Garaus Diesmal verweigerte Israel den Rückzug seiner Truppen zu machen. Nachdem die ägyptischen Truppen die südli- aus dem Sinai ohne ein Friedensabkommen. Etwa 12 Jah- che Zugangsstrasse nach Tel Aviv und die Umgebung von re später ebnete die Unterzeichnung des ägyptisch-israe- Jerusalem erreicht hatten, wurden sie zurückgeschlagen, lischen Friedensvertrages den Weg zum Rückzug Israels'. und die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF - Israel De- Inzwischen hatte die Halbinsel aller Welt ihre enorme fense Forces) eroberten im Verlauf dieser Kämpfe Teile strategische und wirtschaftliche Bedeutung für Israel des nördlichen Sinai. deutlich gemacht. Im Oktober 1956 sahen sich die Israelischen Verteidi- gungskräfte nach fortlaufenden Überfällen auf Verkehrs- Militärische Bedeutung Sinais strassen und Grenzsiedlungen durch Fedajin aus dem von Israel gab acht Flugplätze im Sinai auf; einige spielten Ägypten besetzten Gaza-Streifen und wegen der Blocka- nicht nur für die Verteidigung seiner Südwestflanke eine de von Tiran durch im Sinai stationierte Truppen erneut wichtige Rolle, sondern auch gegenüberstehenden Nach- gezwungen, sich den Weg in den Sinai zu erkämpfen. barstaaten im Osten — Syrien, Jordanien, Irak und Saudi- Abermals bewirkte internationaler Druck den Rückzug Is- Arabien —, die bis heute Israel das Recht zur Existenz ab- raels, und eine Sondertruppe der Vereinten Nationen sprechen. Die Flugplätze Eitam und Etzion (in der Nähe (UNES) wurde im Sinai stationiert. von El Arish bzw. Eilat) sind die modernsten im Nahen Im Mai 1967 verkündete der ägyptische Präsident Nasser Osten und vergleichbar den besten der Welt. Zwar wur- die Schliessung der Strasse von Tiran für den internatio- den im Negev nach dem Friedensabkommen mit Ägypten

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A ur O Naama Ophira * Entnommen aus: Was bedeutet Is- harm e raels Rückzug aus dem Sinai? in: Scheile »Zur Sache«, Dokumentationsblät- ter, hg.: Botschaft des Staates Israel. Presse- und Informationsabteilung, April 1982, US 4.

34 zwei neue Flugplätze gebaut — für einen dritten liegen die 3. Investitionen, um Ersatz zu schaffen Pläne vor — sie reichen nicht aus. Der sehr dichte Flugver- Die früheren zivilen und militärischen Einrichtungen im kehr, die notwendig gewordene Streuung von Bodenanla- Sinai mussten nun östlich der neuen internationalen Gren- gen und der Mangel an Luftraum für Übungszwecke stel- ze errichtet werden. Die Kosten der Neuinstallierung der len neue, nicht leicht zu lösende Probleme. Andere Luft- Israelischen Verteidigungskräfte im Negev und der Sied- verteidigungsprobleme, z. B. elektronische Frühwarn- ler belaufen sich auf etwa 6 Milliarden Dollar, und diese stationen auf den Bergen Sinais, können durch fliegende Bürde ist einer der Hauptgründe der finanziellen Schwie- Warnsysteme nicht völlig ersetzt werden; umgekehrt kann rigkeiten Israels. Die Vereinigten Staaten sind an einem Ägypten nun die strategisch wichtigen Höhen dazu benut- Bruchteil dieser Unkosten beteiligt. zen, alle Luftaktivitäten in Israel zu überwachen. 4. Der menschliche Preis Darüber hinaus beeinträchtigt Israels Rückzug vom Flug- hafen und der Marinebasis in Ophira seine Möglichkeit, Neben den materiellen sind überaus grosse menschliche die Schiffahrt von und nach Eilat zu schützen. Der Ge- Opfer entstanden. Zu diesen gehören die Ungewissheit, danke einer erneuten Blockade dieser lebenswichtigen ob der Sinai wieder als Aufmarschgelände für einen An- Meeresstrasse beschwört natürlich die Gefahr eines Krie- griff auf Israel dienen wird oder nicht; das Überlassen von ges, der die Sicherheit der Region und der ganzen Welt in Städten, Dörfern und Siedlungen; der Verzicht auf Atem- Frage stellen würde. raum, den das umzingelte Israel so nötig braucht; das Überlassen historischer Stätten, die mit der Geburt des jü- Der Preis des Friedens dischen Volkes eng verbunden sind, ist der Preis, den das Die Rückgabe des Sinai an Ägypten wird riesige Ausga- Volk am schmerzlichsten empfindet. ben und wirtschaftliche Opfer fordern. Israel investierte Nach der dritten Einnahme des Sinai im Jahre 1967 immense Summen für die Förderung von Erdölfeldern glaubt die Regierung Israels, dass die zivile Entwicklung und deren Entwicklung und die Erstellung der nötigen zi- gewisser kleiner, jedoch lebenswichtiger strategischer vilen und militärischen Infrastruktur. Die erforderlich ge- Zonen — wie das Vorfeld von Rafah im nördlichen Sinai wordene Verlegung militärischer Einrichtungen vom Sinai und ein Streifen der Küste des Golfs von Eilat — notwen- und der 14 Siedlungen ist ausserordentlich kostspielig und dig sei, um Israels Sicherheitspräsenz zu untermauern. In mit ungeahnten, grossen menschlichen Opfern verbunden. den Vorstellungen, die damals von einem künftigen Frie- 1. Infrastruktur den bestanden, waren diese zu entwickelnden Gebiete als Als Israel im Jahre 1967 den Sinai besetzte, fand es eine Brücken für gute künftige Zusammenarbeit und nachbar- riesige, nur spärlich besiedelte Wüste vor, wenige befahr- liche Beziehungen zwischen den kriegsmüden Völkern bare Strassen und eine kaum erwähnenswerte wirtschaftli- gedacht. Tausende Israelis, von Pioniergeist erfasst, che Infrastruktur. Im festen Glauben, die Entwicklung folgten dem Ruf und waren bereit, sich der Urbarma- dieses Wüstenlandes würde auf lange Sicht der wirksam- chung der Wüste im Dienst für Sicherheit und Frieden zu ste Sicherheitsfaktor gegen Aggression sein, baute Israel widmen. Auf den Dünen des nördlichen Sinai entstand die ein modernes Strassennetz von mehr als 1 500 km, Stark- Stadt Yamit mit 530 israelischen Familien. In der Nähe stromleitungen, Wasserversorgungs- und Kommunika- von Yamit wurden 12 landwirtschaftliche Siedlungen er- tionsnetze, welche die gesamte Halbinsel versorgen. Es richtet, in denen 450 Familien Wurzeln schlugen und dem wurden Wohnungen, Schulen, Fabriken, Hotels, Touri- von Urbeginn unfruchtbaren Boden reiche Frucht abge- sten-Ressorts und Gesundheitseinrichtungen errichtet, wannen. Am Golf von Eilat entstanden zwei Touristen- einschliesslich 15 Kliniken für die Beduinenbevölkerung Ressorts, und an der Südspitze Sinais wurde die neue des südlichen Sinai. Neue Ölfelder wurden erschlossen, Stadt Ophira mit 500 Wohneinheiten erbaut. und eine hochtechnologische Landwirtschaft wurde ent- Während der Friedensverhandlungen in Camp David wickelt. Flugplätze, Sicherheitsstrassen, Kommunika- wurde es klar, dass die Hoffnungen auf das Zustande- tions- und logistische Einrichtungen, Stabsgebäude und kommen eines Friedensabkommens mit Ägypten mit dem Militärbasen wurden von der israelischen Armee gebaut. Aufgeben von all dem verbunden ist, was im Sinai müh- Seit 1968 gab Israel 17 Milliarden Dollar für die verschie- sam errichtet und entwickelt worden war. Die gesamte denen Entwicklungsprojekte im Sinai aus, davon 10 Mil- Nation teilt das tiefe Gefühl des persönlichen Verlustes, liarden für Verteidigungsobjekte, 5 Milliarden für die das alle empfinden, die ihr Heim und das ihrer Kinder im Entwicklung der Ölproduktion und 2 Milliarden für Sinai aufzugeben haben. Strassenbau und die zivilen Bedürfnisse. Der grösste Teil dieser Infrastruktur, deren Wert ungefähr der Höhe der Bewährungsprobe gesamten israelischen Auslandsschulden entspricht, ist für Beobachter, die mit dem Standard internationalen Verhal- Israel verloren. tens wohlvertraut sind, meinen, dass Israel an dem Frie- 2. Erdöl densvertrag stärker als Ägypten hänge, und schliessen Die Westküste Sinais ist übersät von Ölfeldern, welche die daraus, dass Israel sein Hauptnutzniesser ist. Sie überse- reichen geologischen Strukturen unter dem flachen Golf hen, dass Ägypten reiche Ölfelder, strategische Vorteile, von Suez anzapfen. Nach der Übergabe der nördlichen beträchtliche Einnahmen aus der Suezkanal-Schiffahrt Ölfelder an Ägypten, gemäss dem Interim-Abkommen und dem Tourismus, grosse ausländische Investitionen von 1975, wurde das von Israel entdeckte und erschlosse- und nicht zuletzt den Frieden erhalten hat. ne Alma-Feld bald die grösste und einzige Quelle für Isra- Führt der Vertrag tatsächlich zu einem echten, dauerhaf- els Petroleum. Als am 25. November 1979 auch dieses ten Frieden, und wenn diesem Friedensprozess auch die Ölfeld Ägypten übergeben wurde, machte sein Ertrag 2 anderen arabischen Staaten eingeschlossen werden kön- Millionen Tonnen jährlich oder 40 000 Barrels pro Tag nen, dann sind Israels Risiken, die menschlichen und fi- aus, und es bestanden alle Voraussetzungen für eine gros- nanziellen Verluste, die der Friedensvertrag mit sich se Erweiterung des Feldes. gebracht hat, durchaus berechtigt. Im Jahre 1979 gab Israel 1,4 Milliarden Dollar für Ölkäu- Nun, da Israel seinen Verpflichtungen nachgekommen ist, fe in Übersee aus. Heute sind seine Ausgaben für Öl 2 steht dem ägyptisch-israelischen Friedensvertrag die Be- Milliarden, eine Summe, die ungefähr dem Jahresprodukt währungsprobe bevor. Anfänge für eine Normalisierung der israelischen Industrie entspricht. der Beziehungen — unter Betonung eines echten Friedens

35 — sind bereits vorhanden. Es gilt, diese Normalisierung Israel hat sein Äusserstes getan und will auch weiterhin al- als Selbstverständlichkeit auf allen Gebieten zu erwei- les tun, um den schwer erkämpften und erhofften Frieden tern. zu einer stabilen Wirklichkeit zu gestalten. II Die Rolle Israels in einem sich wandelnden Mittleren Osten" Von Yitzak Shamir, Aussenminister des Staates Israel*"

Auszug aus »Foreign Affairs«, herausgegeben vom »Council of Foreign stinensischen Problems« die absolute Vorbedingung für Relations« Inc., New York, Frühjahr 1982. jeglichen Fortschritt in Richtung auf Frieden und Stabili- tät sei. Das zweifache Ziel der Aussenpolitik Israels ist schon von Der Begriff »das palästinensische Problem« ist bewusst der Tradition her immer Frieden und Sicherheit gewesen, dehnbar und flexibel gehalten und bietet sich für mehrere zwei Konzeptionen, die eng miteinander verknüpft sind: Interpretationen gleichzeitig an. Die eine ist humanitärer Dort, wo es Stärke gibt, herrscht Frieden — oder wir soll- Art und konzentriert sich auf die palästinensischen Ara- ten wenigstens sagen, dort hat der Frieden eine Chance. ber, die 1948 weggingen' und auf deren schlimmen Zu- Der Friede wird unerreichbar bleiben, wenn Israel stand, der durch wirtschaftliche, ökonomische Mittel ge- schwach ist oder schwach erscheint. Dies ist in der Tat ei- mildert, wenn nicht sogar gelöst werden sollte. Eine ande- ne der entscheidendsten Lehren, die aus der Geschichte re Interpretation ist quasi-humanitär, quasi-politisch. Hier des Mittleren Ostens seit Ende des Zweiten Weltkrieges wird behauptet, es gäbe ein palästinensisches Volk und gelernt werden sollten — nicht nur in bezug auf den ara- nicht nur Flüchtlinge im humanitären Sinn; und da sie bisch-israelischen Konflikt, sondern auf das gesamte Ge- keine Heimat haben (immerhin gibt es kein Land namens biet. »Palästina«), erfordere es die Gerechtigkeit, dass sie ein Der Mittlere Osten ist ein Mosaik von Völkern, Religio- Heimatland in einem Teil jenes Landes erhalten sollten, nen, Sprachen und Kulturen. Obwohl die moslemisch- das einst »Palästina« genannt wurde, und das entlang der arabische Kultur vorherrscht, so hat sie doch keine Ein- Grenzen Israels. Die dritte Interpretation ist völlige Ab- heitlichkeit, keine Homogenität erzeugt. Eine Vielzahl lehnung und Polit-Mord. Nach dieser Theorie haben aus- von religiösen und politischen Strömungen wetteifert mit- schliesslich die Menschen, die sich heute Palästinenser einander oft über politische Grenzen hinaus. Das Gebiet nennen (womit sie palästinensische Araber meinen), ein ist in ständiger Gärung begriffen, und häufig bricht die Anrecht auf das Land, das sich einst Palästina nannte. Unruhe in Gewalt, Terror, Aufruhr, Bürgerkrieg, offenen Dieses Recht, so behauptet diese Theorie, sollte erst welt- und manchmal sich lang hinziehenden Krieg aus. Der weit anerkannt werden, der Titel auf das Land sollte ih- Überraschungsangriff auf den geschwächten Iran, der sich nen »zurückerstattet« werden, und es sollte ihnen gestat- immer noch in den Klauen der Khomeini-Umwälzung be- tet werden zu entscheiden, ob und unter welchen Bedin- findet, der durch Umsturz an die Macht kam, dieser An- gungen sie mit einem verstümmelten Israel zusammenle- griff durch den Irak, dessen Streitkräfte erheblich durch ben wollten oder ob sie auf seiner Auflösung als Staat be- die Sowjetunion materiell verstärkt werden, ist vielleicht stünden. das dramatischste und offensichtlichste Beispiel; aber es Diese Definitionen sind nicht genau, und es gibt Variatio- gibt natürlich noch viele andere. nen und Kombinationen. Sprecher der Araber sind dazu Das Merkmal, das in diesem Zusammenhang am stärksten übergegangen, obskure Hinweise auf »die Rechte des pa- hervorzuheben ist, dieser chronischen Manifestationen lästinensischen Volkes« unter Verwendung aller mögli- von Unfrieden und Kriegszustand, ist die Tatsache, dass chen Varianten der obigen Lesarten zu geben. Dies soll der grösste Teil von ihnen nichts mit Israel oder dem is- als Mittel dienen, um ihre Ablehnung Israels und dessen raelisch-arabischen Konflikt zu tun hat. Vor zwanzig Recht, als ständige, lebensfähige Einheit im Mittleren oder dreissig Jahren gab es ein paar Aussenseiter, die Osten zu existieren, zu maskieren. Der Bannerträger der ernsthaft, wenn auch aus Ignoranz, glaubten, dass eine Summe arabischer Stellungnahmen gegenüber der Exi- Lösung des arabisch-israelischen Konfliktes zu einer Sta- stenz Israels ist die Palästinensische Befreiungsorganisa- bilität in dieser Region führen und eine neue Zeit des tion (PLO). Mit der Aufgabe betraut, als Speerspitze der Fortschritts einleiten würde. Nichts könnte weiter von der arabischen Aktion gegen Israel zu dienen, haben die Füh- Wahrheit entfernt liegen. Es gab zwar vier grössere Krie- rer der PLO die Anwendung einer weiten Spanne von ge zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarn, aber Themata perfektioniert, um den Bedürfnissen ihres terro- eine volle Aufzählung der Zwischenfälle und der kriegeri- ristischen, propagandistischen Kriegs gegen Israel zu ge- schen Auseinandersetzungen in Nordafrika und dem nügen. Daher täten Aussenseiter, die die Lösung des »pa- westlichen Asien, die sowohl inländisches als auch auslän- lästinensischen Problems« unterstützen, besser daran, eine disches oder internationales Ausmass hatten, würde zei- viel präzisere Sprache zu verwenden, wenn sie vermeiden gen, dass ihre überwältigende Mehrzahl keinerlei Verbin- wollen, unbeabsichtigt denjenigen Ermutigung zu gewäh- dung irgendwelcher Art mit den arabischen Beziehungen ren, die die Eliminierung Israels verfechten. zu Israel hat. Israel seinerseits hat eindeutig und umfassend das wesent- liche Problem in Angriff genommen, und dies mit dem II aufrichtigen Wunsch, zu einer fairen und gerechten Lö- Eine neuere Version der alten Theorie, dass der arabisch- sung der legitimen Aspekte dieses Problems beizutragen 2. israelische Konflikt die »Wurzel allen Übels« in diesem Zum Thema einer politischen Einheit, eines »homeland« Gebiet sei, ist die Behauptung, dass die Lösung des »palä- für die Araber des früheren britischen Mandatsgebietes

« In: Zur Sache. Dokumentationsblätter, hg. von der Presse- und Infor- 1 Vgl. dazu u. a.: K. Grossmann: Die arabischen Flüchtlinge, in: FrRu mationsabteilung der Botschaft des Staates Israel, Bonn, Juni 1982, V, 17/18 (August 1952), S. 15 f. sowie: Zum Flüchtlingsproblem, in ebd. S. 3-7. XIX/1967, S. 53-61. «« Seit März 1982 Israels Aussenminister, ist seit 1973 Mitglied der Knes- Vgl. dazu: E. Rees: Die arabischen Flüchtlinge müssen im Nahen set und war von 1977 bis 1980 Präsident der Knesset (s. a. a. 0. S. 2). Osten ausgesiedelt werden, ebd. X/Oktober 1957, S. 38-40.

36 Palästina, sprechen die Tatsachen für sich selbst. Der wohner darstellen. Aber er soll als Interimsvereinbarung Staat, der heute als das Königreich Jordanien bekannt ist, dienen, um zwei Ziele zu erreichen: ist ein integrer Bestandteil (77 Prozent dieses Gebietes) Der arabischen Bevölkerung dieser Gebiete die Mög- dessen, was einst als »Palästina« bekannt war. Daher sind lichkeit zu geben, ihr eigenes Leben zu bestimmen, seine Bewohner Palästinenser und unterscheiden sich und die optimalen Bedingungen für ein friedliches nicht von anderen Palästinensern — weder in der Sprache, Zusammenleben von Juden und Arabern zu schaffen. in der Kultur noch in religiöser oder demographischer Zusammensetzung. Es ist daher kein Wunder, dass palä- Israel hat in Camp David und auch hinterher stets deut- stinensische Araberführer aller politischen Richtungen bei lich gemacht, dass ein Souveränitätsanspruch auf Judäa, vielen Gelegenheiten erklärt haben, dass Jordanien und Samaria und Gaza seitens Israels besteht. Aber um die Tür Palästina identisch sind, dass Jordanier und Palästinenser für eine Lösung offenzuhalten, die für alle Parteien an- ein und dasselbe sind. Es ist nur eine zufällige Gegeben- nehmbar ist, wie es in Camp David ins Aug'e gefasst wur- heit der Geschichte, dass dieser Staat »Königreich Jorda- de, hat Israel bewusst davon Abstand genommen, diese nien« und nicht »Königreich Palästina« genannt wird. Rechte entsprechend seinen Ansprüchen auszuüben. Aufgrund von politischen Entscheidungen, militärischen Zweifelsohne wird der Anspruch am Ende der fünfjähri- Auseinandersetzungen und Bevölkerungsbewegungen in gen Interimsperiode erhoben werden, und obzwar be- einer Zeitspanne von ungefähr dreissig Jahren (1920 bis kannt ist, dass ein ähnlicher Anspruch von arabischer Sei- 1950) wurde Palästina effektiv in zwei Teile gespalten 3. te erhoben werden wird, ist zu hoffen, dass zu diesem Die palästinensischen Araber haben die ausschliessliche Zeitpunkt eine Atmosphäre geschaffen sein wird, die eine Herrschaft über Trans-Jordanien oder Ost-Palästina, Vereinbarung für eine beiderseits akzeptable Lösung er- während die palästinensischen Juden eine Mehrheit in möglicht. Es sollte daher klar verstanden werden, dass, Cis-Jordanien — 23 Prozent des ursprünglichen Palästina gerade weil Israel davon Abstand nimmt, seine Lösung — darstellen; dieses Gebiet umfasst Israel in den Waffen- voranzutreiben, die arabische Seite aus dem gleichen stillstandsgrenzen vor dem Juni 1967 sowie Judäa, Sama- Grund davon Abstand nehmen sollte, auf Massnahmen zu ria und den Gaza-Streifen 4. Die Wiedereinführung des drücken oder auf die Annahme von Prinzipien (z. B. Begriffes »Palästinenser« und seine ausschliessliche An- Selbstbestimmung, ein noch erst sich entwickelndes Parla- wendung auf Araber in Cis-Jordanien (der »West-Bank«) ment für die autonomen Gebiete usw.), die klar über den ist daher eine semantische Übung und ein kalkuliertes Rahmen von Camp David hinausgingen und die endgülti- Manöver, mit dem Ziel, den neuen Anspruch auf das ge- gen Ergebnisse der Verhandlungen über den abschliessen- samte Gebiet des westlichen Palästina zu unterbauen und den Status dieser Gebiete präjudizieren könnten. Mit an- die Legitimität Israels zu untergraben. Hinsichtlich des deren Worten, man soll die Autonomie die Funktion er- humanitären Aspektes der Umsiedlung der Bevölkerung füllen lassen, die sie erfüllen soll — nämlich als eine Inte- aufgrund der arabisch-israelischen Kriege ist es an der rimsvereinbarung bis zu einer abschliessenden Lösung zu Zeit, dass die internationale Gemeinschaft eine Aufforde- dienen, die zu einem späteren Zeitpunkt in Angriff ge- rung an die arabischen Regierungen richtet, besonders an nommen werden so11.8 jene mit grossen finanziellen Ressourcen, ihre Hilfe auf In der Zwischenzeit lernen die Israelis und die Araber in ihre Brüder auszudehnen, genauso wie es Israel für die Judäa, Samaria und Gaza das Zusammenleben — letztlich annähernd eine Million Juden, die als Folge desselben der beste Weg zur Aussöhnung und zum Frieden. Israelis Konfliktes aus arabischen Ländern geflohen sind, getan werden weiterhin in diesen Gebieten ansässig sein. Wie in hat. der Vergangenheit wird dies natürlich nicht auf Kosten Auf die wahren Verhältnisse zurückgeführt, liegt das Pro- der arabischen Bevölkerung und ihres Besitzes geschehen. blem ganz deutlich nicht daran, dass es eines »homeland« Aber da Judäa und Samaria das Herzland der Entstehung für die palästinensischen Araber mangelt. Dies »home- und der Entwicklung des jüdischen Volkes als Nation land« ist Trans-Jordanien oder Ost-Palästina. Es gibt je- darstellen und sind, wird sich Israel an keinem Vorhaben doch 1,2 Millionen palästinensische Araber, die in Gebie- beteiligen, das den Juden das Wohn- und Lebensrecht in ten leben, die seit 1967 von Israel verwaltet werden, in Ju- eben diesen Gebieten absprechen würde. däa, Samaria und dem Gaza-Streifens. Ihr Status und ihre Von nicht geringerer Bedeutung ist die zivile und die mili- Probleme wurden ausgiebig in Camp David besprochen 6. tärische Präsenz Israels in diesen Gebieten; sie ist lebens- Die Gewährung der Souveränität an diese Gebiete wurde wichtig für die Verteidigung Israels — was auf dem Hin- von Israel ausgeschlossen. Ein zweiter Staat »palästinensi- tergrund der neueren Geschichte des Gebietes vollauf klar scher Araber« westlich des Jordan wäre ein Rezept für sein sollte und auch im Hinblick auf Israels offenkundige Anarchie, eine Bedrohung Israels und Jordaniens und eine Unfähigkeit, ein grosses stehendes Heer an seinen Gren- wahrscheinliche Basis für Terroristen und für sowjetische zen zu unterhalten. Die erloschenen Waffenstillstands- Infiltration. Daher wurde letztlich in Camp David be- linien von vor 1967, die sich während fast zwanzig Jahren schlossen, einen Autonomieplan für die Bewohner jener als ein Rezept für chronische Instabilität und Kriegshand- Gegenden auf einer Interimsbasis von fünf Jahren zu im- lungen erwiesen hatten, haben schon seit langem in Ver- plementieren. Dieser Vorschlag wurde von Israel unter- bindung mit der Suche nach einem gangbaren und lebens- breitet und von den anderen Verhandlungspartnern der fähigen Frieden im Mittleren Osten ihre Relevanz verlo- Gespräche in Camp David, Ägypten und den Vereinigten ren. Israel wird auf keinen Fall zu diesen Grenzen oder Staaten, angenommen'. Er soll nicht die endgültige Lö- etwas annähernd Ähnlichem zurückkehren. Über diesen sung des Problems bieten, das diese Gebiete und ihre Be- Punkt besteht in Israel eine praktisch allumfassende Einig- keit. Ein letztes Wort über das Thema Palästina. Es gibt einige 3 Vgl. dazu Karten: I (1937) und Karte II (1947) in: Aus dem Hl. Lande. Menschen, die zweifelsohne guten Willens sind, aber ei- Chronik der Ereignisse im Nahen Osten, S. 40 ff. in ebd. X, S. 52. nige sehr wichtige Tatsachen nicht erkannt haben und die ° ebd. Karte III (1949). 5 Karte des Sechstagekrieges in ebd. XIX/1967, US 2; vgl. dazu: Doku- vorgeschlagen haben, Israel solle mit der PLO verhan- mente zum Abkommen von Camp David; in ebd. XXXI/1979, S. 68 ff. deln. 6 Vgl. u. a. dazu: Rafik Halabi: Die Westbank Story, s. u. S. 94. Sie weisen darauf hin, dass es ausser der PLO keine ande- ' Vgl. dazu: Autonomie — die Weisheit von Camp David; ebd. s. o. Anm. 5. ' Vgl. Abba Eban: Rede vor der Knesset, 19. 3. 1980, ebd. S. 747.

37 re organisierte Stimme gäbe, die die »Palästinenser« re- zige Grund für das Bestehen der PLO die Ablehnung der präsentiere, und sie verweisen weiterhin auf das Bestehen Existenzberechtigung Israels. Dieser Grund wird scham- scheinbar gemässigter Elemente innerhalb dieser Organi- haft unter dem Schleier des vorgeblich legitimen Rufes sation, die entsprechend ermutigt werden könnten, eine nach einem Palästinenserstaat verhüllt. Der Akt selbst, politische Lösung zu suchen, die die Anerkennung Israels dass man der PLO einen Status — gleich welcher Art — bei in sich schliesst. politischen Verhandlungen gewährte, würde sich selbst Das wirkliche Problem liegt aber nicht darin, ob mit der vereiteln. Dadurch würde ihr Ruf von dem Stand einer PLO verhandelt wird oder nicht, sondern ob dies über- Terrororganisation zu einem anerkannten Anwärter zum haupt irgendeinem nützlichen Zwecke dienlich sein wür- Status einer völlig überflüssigen politischen Wesenheit er- de. Selbst wenn man ihren blutrünstigen »modus operan- hoben. Daher schliessen eine Einbeziehung der PLO in di« übersehen würde sowie ihre Willfährigkeit gegenüber jeglichen Aspekt des politischen Prozesses und die Aus- den sowjetischen Zielen und ihre Schlüsselrolle auf der in- sichten auf Frieden einander aus .. . ternationalen Terrorszene, so ist der eigentliche und ein-

Nach Redaktionsschluss bringen wir noch folgende Dokumente als Zeugnisse ausgewogener Berichterstattung. Weitere Analysen folgen später (Anm. d. Red. d. FrRu). III Die PLO in Beirut 1. Die PLO ist eine terroristische Organisation, deren 8. Israel wünscht jedes weitere Blutvergiessen zu vermei- Hauptziel es ist, Israel zu vernichten. Um dieses Ziel zu den. Israel wünscht nicht, die PLO-Terroristen zu demü- verfolgen, führte diese Organisation von ihren Basen im tigen. Es gibt daher auf dem Wege der Diplomatie und Libanon Attentate gegen Menschen in Israel und Juden der Verhandlungen jede mögliche Chance. Israelische ausserhalb Israels aus. Soldaten haben immer nur das Feuer erwidert, nicht er- 2. Israel ist überzeugt, dass es nur durch die Beseitigung öffnet. Die PLO antwortet mit dem bei ihr gewohnten der PLO im Libanon möglich ist, dafür zu sorgen, dass Zynismus und Rücksichtslosigkeit und verletzt immer seine Bürger in Sicherheit und Frieden leben. Die PLO wieder die Waffenruhe. Sie verlegt sich auf Verzöge- wurde bereits aus dem Süden des Libanon entfernt, in rungstaktiken und führt die Unterhändler immer wieder West-Beirut befinden sich jedoch sowohl ein Teil ihrer irre. Nach der Einstellung der libanesischen Regierung ist Kräfte als auch ihre Befehlszentralen. die bewaffnete Anwesenheit der PLO in Beirut illegitim, und es muss der libanesischen Armee ermöglicht werden, 3. Im Westteil Beiruts befinden sich die Hauptquartiere ihre rechtmässige Rolle in ihrer eigenen Hauptstadt wie- der verschiedenen PLO-Gruppierungen, die sich dort der erfüllen zu können. Die Verantwortung für die bisher unter völliger Nichtachtung der Autorität und Souveräni- noch nicht gelöste Krise liegt einzig und allein bei der tät der libanesischen Regierung eingenistet hatten. In den PLO. vergangenen 12 Jahren war die Stadt das Zentrum der Der grösste Teil der libanesischen Bevölkerung, Chri- PLO-Verwaltung, der terroristischen Planung, der Aus- 9. sten, Moslems und Drusen, unterstützt Israels Vorschläge bildung und des Einsatzes der Terroristen gegen Ziele in für eine friedliche Lösung der Konfrontation mit der Israel und aller Welt. In der Stadt befinden sich heute PLO. Doch die PLO hat diese bisher zurückgewiesen und 5000 bis 6000 Terroristen mit ihren Anführern. gräbt sich statt dessen militärisch immer tiefer in Beirut 4. Ebenfalls in Beirut befindet sich der Angelpunkt des ein. Sie hat ihre Artillerie und andere schwere Waffen vor Nachrichtendienstes der Organisation. Dort sind auch die fremden Botschaften, vor Moscheen, Kirchen, Kranken- Propagandazentrale, Zeitung und Hörfunkstation sowie häusern und Schulen aufgebaut. Dies entspricht ihrer die PLO-Presseagentur WAFA. üblichen lange bekannten Taktik, ihre militärische Ausrü- 5. Beirut wurde in ein Zentrum des internationalen Ter- stung inmitten der Zivilbevölkerung aufzustellen. Es ist rors verwandelt mit aktiven Kontakten zu praktisch allen bekannt, dass eine grosse Anzahl von Zivilisten in West- Terror- und Untergrundorganisationen der Welt. Dort Beirut von der PLO praktisch als Geiseln gehalten wird. wurden die administrativen, logistischen und technischen 10. Angesichts solcher Praktiken ist es schwer zu verste- Einrichtungen, die mit der Tätigkeit der terroristischen hen, wie Menschen in der Welt, die selbst andere Normen Handlungen im Ausland verbunden sind, geschaffen: ein befolgen, weiterhin diese Aktivitäten der PLO und ihren Reisebüro und Druckmaschinen mit der Möglichkeit der Status zu verteidigen suchen. Herstellung falscher Pässe, Werkstätten und Lager für 11. In ihren Anstrengungen, Beirut zu befreien und die Waffen, Munition und Sprengsätze. Alles dies wurde dort Bedrohung des Libanon und Israels aus dem Wege zu konzentriert. räumen, tut die isarelische Armee alles in ihrer Macht, um 6. Wie der Süden des Libanon wurde die Stadt Beirut un- die Zahl der Verluste und den Schaden, den jeder Krieg ter der Herrschaft der PLO zu einer Enklave der Gesetz- anrichtet, möglichst gering zu halten. Im Laufe der ver- losigkeit. Solange diese Gruppierungen in der Stadt sind, gangenen Woche warfen die IDF wiederholt Flugblätter wird es keiner libanesischen Regierung möglich sein, ihre ab und riefen die Einwohner von West-Beirut über Laut- Autorität wiederherzustellen, noch die Sicherheit der Zi- sprecher auf, die Stadt zu verlassen, um ihr Leben 'zu ret- vilbevölkerung im Libanon oder in Israel zu gewährlei- ten. Viele der Einwohner kamen diesem Aufruf nach. Is- sten. Es ist im Interesse aller in der zivilisierten Welt, die rael bedauert die Verluste, von denen die zurückgebliebe- Wiederherstellung der libanesischen Souveränität durch ne Bevölkerung betroffen wurde, aufs tiefste. Es besteht die Entwaffnung der PLO und die Beseitigung des dorti- nicht der geringste Zweifel daran, wer die Verantwortung gen Mittelpunktes des Weltterrorismus zu unterstützen. für diese Verluste trägt. 7. In den letzten Wochen schlug die Regierung Israels 12. Israels Kampf richtet sich nicht gegen den Libanon, mehrere Male vor, die Mitglieder und Führer der PLO sondern gegen die PLO. Der beste Beweis hierfür ist der sollten die Waffen niederlegen und den Libanon verlas- besonders herzliche Empfang, der den israelischen Solda- sen. ten von der libanesischen Bevölkerung bereitet wurde, die

38 ihrer Dankbarkeit für die Befreiung vom Terror der PLO verlassen, sobald es seine Souveränität wiedererlangt und durch Israel vielfach offenen Ausdruck verlieh. eine handlungsfähige Zentralregierung hat, und entspre- 13. Israel stellt keinerlei territoriale Ansprüche an den chende Vorkehrungen getroffen hat, um jede künftige Libanon. Wie führende Persönlichkeiten wiederholt ver- Tätigkeit der PLO von seinem Boden aus zu verhindern. sicherten, werden die israelischen Truppen das Land (Presse-Abteilung der Botschaft des Staates Israel, Bonn, 18. Juli 1982)

IV Beschluss des Jüdischen Weltkongresses vom 8. Juli 1982*

Der folgende Beschluss ist von der Exekutive des Jüdischen Weltkongres- dien in vielen Ländern propagiert und gefördert werden. ses am 8. Juli 1982 in Paris angenommen worden: Dies ist besonders unhaltbar angesichts des beschämenden Der Jüdische Weltkongress, der organisierte jüdische Ge- Schweigens und der Untätigkeit derselben Regierungen meinschaften in 60 Ländern der Welt repräsentiert, drückt und Medien in bezug auf das Leiden der Libanesen aller seine völlige Solidarität mit dem Staat und dem Volk von Religionen in den letzten Jahren. Israel aus, in ihrem Ringen, Frieden und Sicherheit für ihr Juden überall in der Welt empfinden tiefe Trauer wegen Land zu erreichen. Die Juden der Welt erkennen an, dass der menschlichen Opfer im Libanon, seien es Israelis oder die augenblicklichen militärischen Handlungen Israels im Araber. Es muss jedoch festgestellt werden, dass die zivi- Libanon nicht dem Zweck der Eroberung dienen, sondern len libanesischen Opfer weitgehend Resultat der vorsätz- — angesichts fortgesetzter Angriffe auf seine Bürger mit lichen Politik der PLO sind, die ihre militärischen Instal- schweren Verlusten von Menschenleben — die Ausübung lationen und Kräfte inmitten der zivilen Ansiedlungen des Rechts auf Selbstverteidigung darstellen, mit dem einnistet. Wir begrüssen die klare Politik der israelischen Ziel, weitere Bedrohungen für die Existenz des Landes zu Regierung, bei der Wiederherstellung der vollen Souve- beseitigen. ränität des Libanon zu helfen und die Rückkehr zu nor- Der Staat Libanon, der früher in Frieden, Wohlstand und malem zivilen Leben in diesem Lande möglich zu machen, Unabhängigkeit lebte, wurde im Jahre 1970 und wieder wie auch die Einführung friedlicher Beziehungen zwi- 1975 von fremden Kräften übernommen, die das Land schen Israel und Libanon anzustreben. Wir hoffen, dass nach all diesem Leiden die Welt nun die- umwandelten in ein Schlachtfeld, einen Unterschlupf für se Gelegenheit ergreifen und die Suche nach einer Lösung Terroristen und ein bewaffnetes Lager, wo die perfektio- der Probleme des Mittleren Ostens voll unterstützen wird, niertesten und modernsten Vernichtungswaffen in Riesen- die nicht nur für Frieden und Sicherheit für Israel sorgen mengen angesammelt wurden, Mengen, die weit über ir- sollte, sondern auch für die Verwirklichung der legitimen gendwelche Verteidigungsbedürfnisse hinausgehen und Rechte des palästinensischen Volkes. klar beweisen, dass sie für den Einsatz gegen Israel vorge- Es ist nun bewiesen worden, bedauerlicherweise mit sehr sehen waren. Die grosse Masse des libanesischen Volkes, viel Leiden, dass Gewaltanwendung und die Zerstörung Christen und Moslems, waren die tragischen Opfer dieser Israels nicht der Weg zur Realisierung dieser Ziele sind, Besetzung ihres Heimatlandes. Die Massierung dieser sondern vielmehr zu einem fortgesetzten Zyklus von Streitkräfte an seiner Grenze, die der Vernichtung Israels Katastrophen führen. Wir bestätigen erneut unsere Unter- gewidmet und zugedacht war, konnte von Israel nicht stützung der Camp-David-Abkommen als dem Pfad zur länger geduldet werden. Wir stehen eindeutig hinter Israel Erreichung eines dauerhaften und gerechten Friedens im in diesem legitimen Ringen um Überleben, Frieden und Nahen Osten. Sicherheit. Diese Erklärung stellt die massgebliche Meinung des Jüdi- Der Jüdische Weltkongress bringt seine scharfe Entrü- schen Weltkongresses dar, wie sie ausgedrückt wurde bei stung über die weitverbreiteten Entstellungen betreffend der Sitzung seiner Exekutive am 8. Juli 1982 in Paris'. die israelischen Ziele und die Tatsachen über seine Mili- täraktion zum Ausdruck, die von Regierungen und Me- ' Der Exekutivausschuss hat seine grosse Besorgnis angesichts der effekti- ven Sperrung der jüdischen Auswanderung aus der Sowjetunion sowie der * In: Libanon im Juli 1982. Berichte und Stellungnahmen, hg. von der dauernden Belästigungen, unter denen die Juden dort leiden, zum Ausdruck Botschaft des Staates Israel, Presse- und Informationsabteilung, Bonn, gebracht und seine Stimme erhoben, um die weltweite Forderung, dass den S. 7 f. Juden gestattet werden soll, die Sowjetunion zu verlassen, zu unterstützen.

V Erklärung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (DIG) zur Lage im Nahen Osten, Juli 1982*

Auf seiner Sitzung am 14. Juli hat das Präsidium der elischen militärischen Massnahmen gegen PLO-Terror Deutsch-Israelischen Gesellschaft folgende Erklärung zur und Kampfgruppen auch aus heutiger Sicht verständlich. Lage im Nahen Osten beschlossen: Die notwendigen Schritte sind nun: Israel führt keinen Krieg gegen den Libanon, sondern ge- 1. unverzügliche freiwillige Räumung des überwiegend gen die PLO-Freischärler. von Moslems bewohnten West-Beirut durch die Kampf- Die seit Jahren anhaltenden terroristischen Aktivitäten der einheiten der PLO. Sie sind es, die mit ihrer Bunkermen- PLO im Libanon und von libanesischem Boden aus gegen talität und Blockade Hunderttausende von libanesischen die Bevölkerung im Norden Israels, die dokumentarisch und palästinensischen Männern, Frauen und Kindern wie belegte Duldung derartiger Aktionen durch Angehörige Geiseln halten; der UN-Streitkräfte im Libanon sowie das Ausmass der 2. die Bereitschaft der arabischen Staaten, die PLO-Frei- Waffenfunde in den bisher entdeckten PLO-Depots ins- schärler aufzunehmen und den palästinensischen Arabern besondere im südlichen Teil des Landes machen die isra- eine Lebens- und Existenzmöglichkeit innerhalb der Völ- kergemeinschaft der nahöstlichen Region zu sichern; * s. in: DIG-Informationen der Deutsch-Israelischen Gesellschaft (12/2), 3. die volle Souveränität eines demokratischen Libanon Bonn, Juli 1982. wiederherzustellen, welche den Abzug aller bewaffneten

39 ausländischen Truppen, einschliesslich der PLO-Verbän- Behandlung aller palästinensischen Araber, ein freier Li- de, bedingt. banon ohne ausländische Bevormundung, eine arabische Die DIG appelliert an die Bundesregierung, im Rahmen Völkergemeinschaft, in der alle ihr Selbstbestimmungs- der Politik der Europäischen Gemeinschaft zur Errei- recht ausüben können, und der Friede für Israel gesichert. chung dieser Ziele konkret beizutragen sowie humanitäre Die DIG beklagt die Fülle einseitiger Berichte und ten- und materielle Hilfe für diesen Integrationsprozess zu ge- denziöse Kommentare über die Vorgänge im Libanon. währen. Das Vorgehen israelischer Einheiten mit den Vernich- Die DIG teilt die Auffassung, dass der durch Camp David tungsmassnahmen der Nazis zu vergleichen und der Ge- eingeleitete Friedensprozess eine geeignete Grundlage da- brauch des Begriffs »Endlösung« sind falsch und verab- für bietet, dass unterschiedliche Bevölkerungsgruppen scheuungswürdig. und Staaten im nahöstlichen Bereich friedlich zusammen- leben können. Die DIG spricht die Erwartung aus, dass Diese Erklärung wurde dem Bundesminister des Auswär- der Weg zu diesem gerechten Frieden im Nahen Osten tigen, Hans-Dietrich Genscher, durch den Präsidenten zwischen Israel und allen seinen Nachbarn beschritten der Deutsch-Israelischen Gesellschaft, Erik Blumenfeld werde. Nur dann sind eine menschliche und respektvolle (MdEP), zur Kenntnis gebracht. 13 Papst Johannes Paul II.: Aufruf an die Katholiken in der Welt zum Gebet um Frieden und Versöhnung der »beiden Völker« im Heiligen Land, Palmsonntag, 4. 4. 1982*

Die jüngsten kriegerischen Auseinandersetzungen im Westjor- gen an Leiden und Entbehrungen für die Menschen dieses danland hat der Papst zum Anlass genommen, um die Katholi- Gebietes. ken in allen Teilen der Welt zum Gebet für Frieden und Versöh- Erst in dieser Woche kam es erneut zu schmerzlichen Ge- nung im Heiligen Land aufzurufen. Vor zahlreichen Pilgern und Touristen auf dem Petersplatz äusserte der Papst den Wunsch, schehnissen im Westjordan mit Toten und Verwundeten. dass »beide Völker« im Heiligen Land in Frieden und Freiheit ne- Unterdessen wächst die Angst und die Unsicherheit der beneinander leben könnten: Bevölkerung, die sich nach Verhältnissen sehnt, in denen »Ganz besonders ist mein Blick an diesem Sonntag der ihre legitimen Bestrebungen anerkannt und sichergestellt Passion des Herrn auf das Land Jesu, auf Palästina, ge- werden. richtet, das Land, in dem er die Liebe verkündet hat und Ist es irreal, nach so vielen Enttäuschungen zu wünschen, gestorben ist, damit die Menschheit die Versöhnung er- dass jedes dieser beiden Völker eines Tages die Existenz lange. Dieses Land sieht seit Jahrzehnten zwei Völker im und Realität des anderen anerkennt und dadurch den Kampf in einem noch immer erbitterten Gegensatz. Jedes Weg zu einem Dialog findet, der beide zu einer Lösung dieser beiden Völker hat seine eigene Geschichte, seine ei- führt, durch die sie in Frieden und Freiheit ihrer Würde gene Tradition, sein eigenes Schicksal, und das scheint ei- entsprechend leben können, indem sie einander den Ein- ne Beilegung des Konfliktes sehr zu erschweren. Es hat satz der Toleranz und der Versöhnung schenken? bereits vier blutige Kriege gegeben mit schrecklichen Fol- Die Kirche, die auf Christus blickt, der den Weg zum Kreuz geht, und in den leidenden Menschen sein heiliges " In: »L'Osservatore Romano«. Wochenausgabe in deutscher Sprache Bild erkennt, erfleht durch unser Gebet Frieden und Ver- (12/Nr. 15-16), Vatikanstadt 9. 4. 1982, S. 1 u. S. 3 aus: »Friedensappell für das Heilige Land. Der Papst vor dem Angelus am Palmsonntag, söhnung auch für die Völker des Landes, das einst sein 4. April 1982.« Land gewesen ist. Darum wollen wir beten.«

14 Echo zur Rundbrief-Folge XXXIII/1981 : Gesamtregisterband I—XXX/1948-1978

Das uns von bischöflicher und weiterer öffentlicher und Die Zuschriften beinhalten eine grosse Schätzung des Rundbriefes und be- anderer Seite zugehende Echo freut uns sehr. Es soll dar- grüssen daher den Registerband als unentbehrliches Instrumentarium zur Aufschlüsselung der bisherigen Bände und als Grundlage für die weitere über in der nächsten Folge berichtet werden. Arbeit. (D. Redaktion d. FrRu) 15 Rundschau 1 Juden und Christen auf dem 19. Deutschen Evangelischen Kirchentag, Hamburg, 17. bis 21. Juni 1981

Vorbemerkung Kirche gefolgt. Die Tage in Hamburg, vom 17. Region. Noch nie zuvor war aber auch die Zahl bis 21. Juni 1981, standen unter der Losung der Mitwirkenden so gross wie diesmal. Fast ein Hamburg war diesmal die Grossstadt, in die die »Fürchte dich nicht«. Unter ihr versammelten sich Sechstel der Dauerteilnehmer war in irgendeiner Laienbewegung »Deutscher Evangelischer Kir- so viele Dauerteilnehmer (117 601, darunter 1816 Weise an der Mitgestaltung dieses Kirchentages chentag« zu ihrem 19. Treffen in der Nach- aus 49 Ländern der Welt) wie nie zuvor bei ei- beteiligt: bei der thematischen Vorbereitung und kriegsgeschichte eingeladen hatte. Der Kirchen- nem Kirchentag. Hinzu kamen jeden Tag rund Durchführung, im Markt der Möglichkeiten und tag war damit einer Einladung der nordelbischen 18 000 Tagesteilnehmer aus der gastgebenden bei der Gestaltung von gottesdienstlichen Veran-

40 staltungen wie insbesondere Feierabendmahlen angemeldet: die Gemeinden haben mit Hamburg anzunehmen, dass ein grosser Prozentsatz, viel- und missionarischen Einsätzen in der Stadt. Da- den Kirchentag wiederentdeckt. leicht 60 oder etwas mehr Prozent, dieser Teil- zu müssen noch die ungezählten Helfer, Quar- Und noch ein paar Zahlen: Während der fünf nehmer junge Menschen sind, wobei ich bei jun- tiergeber und Hausmeister in den als Quartier Tage in Hamburg fanden etwa 1500 Veranstal- gen Menschen ein Alter bis zu 24 Jahren benutzten 280 Schulen und Gemeindehäusern tungen statt. Die 41 Eröffnungsgottesdienste be- meine>.« genannt werden, die dazu beitrugen, dass Ham- suchten rund 100 000 Besucher, beim anschlies- burg die grosse Zahl der Gäste gut beherbergen senden Abend der Begegnung an der Binnenal- ' Vgl. offizieller Berichtsband des Kirchentages konnte und die Gäste sich wohlfühlten. Dieser ster wurden 150 000 Teilnehmer geschätzt. Bei »Deutscher Evangelischer Kirchentag, Doku- Kirchentag war von unten gewachsen und zur der Schlussversammlung im Stadtpark kamen mente, Nürnberg 1981«. Kreuz Verlag, Stutt- Sache von vielen geworden. Das partizipatori- trotz strömenden Regens etwa 90 000 Menschen gart—Berlin 1981, vgl. ibid. S. 5 (s. u. S. 85). sche Element erwies sich als tragfähig. 76,4 Pro- zusammen . Gäste aus der Ökumene 1816 2 . — 2 aus: Der Kirchentag in Zahlen, in: Kirchen- zent der Teilnehmer kamen aus dem kirchlichen Kirchentagspräsident Dr. Richard von Weizsäk- tagstaschenbuch '81, s. u. Bereich oder wurden uher kirchliche Gruppen ker beim Publizistenempfang am 17. 6.: »Es ist 3 a.a.O. s. ibid. S. 19.

Über die »Arbeitsgemeinschaft >Juden und Christen< beim Evangelischen Kirchentag« hat der Freiburger Rundbrief seit deren Beginn, dem Berliner Kirchentag 1961, jeweils regelmässig berichtet'. Prof. Dr. Dietrich Goldschmidt hat in seinem Vortrag: »Zwanzig Jahre >Juden und Christen>«' »die einzelnen Schritte in Kürze nachgezeichnet, die die Mitglieder der Arbeitsgruppe so eng zusammengeführt haben ... Auf dem Kirchentag 1961 in Berlin haben wir gewissermassen unseren ersten Grundkurs gehalten. In einem historischen Rückblick wurden Wurzeln des Antisemitismus in christli- chem Antijudaismus blossgelegt. Politisch wurde der Finger auf die >Vergangenheit in der Gegenwart< — das heisst auf die Notwendigkeit der Bereini- gung des öffentlichen Lebens und speziell des Schulunterrichts von Gestalten und Gedanken des Dritten Reichs, gelegt. Theologische Erkenntnis war, dass Gott einen ewigen Bund mit Israel geschlossen hat ...« 6 Im folgenden bringen wir aus dem Programm der Arbeitsgemeinschaft zwei gehaltene Vorträge: »Bist du, der da kommen soll?« von Professor Dr. Pe- ter von der Osten-Sacken und »Was haltet ihr von Christus?« von Professor Dr. Friedrich-Wilhelm Marquardt7 und stellen voran einige Beobachtungen beim Kirchentag von Rabbiner Dr. Allen Podet, Buffalo/USA'. Dr. Podet ist Rabbiner der Synagoge B'nai Israel in Buffalo und ausserordentlicher Professor für Philosophie und für neuere jüdische Religionswissenschaft am >State University College< in Buffalo. Für das Sommersemester 1981 nahm Rabbiner Dr. Podet eine Gastprofessur an der Universität in München an. Er besuchte mehrere Orte in der Bundesrepublik, hielt Vorträge in verschie- denen jüdischen und nicht jüdischen Kreisen. Er berichtet u. a. von Vorlesungen und Diskussionen in München in studentischen Kreisen, in denen leb- haftes Interesse und Sachkenntnis zu finden war. Die meisten der Teilnehmer wussten etwas über moderne jüdische Geschichte und waren ferner inter- essiert an klassischem Hebräisch, jüdischer Philosophie und Israel angehende Fragen«. Dr. Podet schreibt: »Der allgemeine Bildungsgang war beträcht- lich höher, als ich erwartet hatte, selbst bei jüngeren Studenten. Es war nicht ein eigentliches Pflichtseminar [dabei ist auch — im Vergleich mit den USA und hierzulande — die etwas andere Struktur einiger Faktoren im akademischen Leben zu berücksichtigen] — und viele Teilnehmer waren aus anderen Fakultäten: Jura, Medizin, Ingenieurwesen und Theologie. Es waren auch mittelalterliche Berufstätige dabei, alle lebendig und wissbegierig.

Nachstehende Beobachtungen verdanken wir dem bereits unten angegebenen längeren, von Rabbiner Dr. Podet veröffentlichten und uns von ihm zur Verfügung gestellten Artikel in der >Olean Times Herald< vom 16. 2. 1982, dem wir einige Auszüge über seine Eindrücke beim Kirchentag entnehmen'.

' s. o. S. 4, vgl. ibid. S. 5. 6 a. a. 0. ibid.. S. 611. a. a. 0. ibid. S. 608-617. 7 s. unten. g Entnommen und aus dem Englischen übersetzt aus: »Monaco of the North. No Signs of Catastroph in War, Munich is most beautiful City«. S. un- ten. Aus Raumgründen ist es leider nicht möglich, den ganzen, so fesselnden, informativen Beitrag hier zu bringen und im wesentlichen die nur im Zu- sammenhang mit dem Kirchentag stehenden Stellen wiederzugeben. Eindrücke von Rabbiner Dr. Podet, Buffalo/USA: veau, so intellektuell wie emotionell ist. Diese Halbwüch- sigen und Erwachsenen unterscheiden sich nicht von ih- »Ein anderes 9 besonderes Ereignis war der Kirchentag, rem amerikanischen Gegenüber. Sie haben nur günstigere eine dreitägige Veranstaltung, die praktisch ganze Stadt- Bildungsmöglichkeiten, wie sie in der amerikanischen teile Hamburgs erfasste. In >der ersten Hitze des Gefech- tes< schrieb ich, dass ich nie zuvor etwas Derartiges in Kultur gegenwärtig nicht vorhanden sind. Amerika gesehen habe. Etwa 120 000 Menschen waren Ich nahm an einem vollen Programm teil, das mit Vorträ- dort auf ihre eigenen Kosten versammelt, und die deut- gen und musikalischen und kulturellen Veranstaltungen sche protestantische Kirche zeichnete verantwortlich für abwechselte, und nahm teil an einer von Rabbiner Dr. Al- die Programme. bert Friedlander, dem Direktor des Londoner Leo Baeck College, organisierten Aufführung über den Exodus. Die Mehr als die Hälfte der Teilnehmer war zwischen 16 und grosse Zahl von weltweit anerkannten, am Kirchentag 24 Jahren. Etwa 3000 von ihnen drängten sich in eine der teilnehmenden Gelehrten war beachtenswert. vielen grossen Vortragshallen, um einen auf akademi- schem Niveau stehenden Vortrag über deutsch-jüdische Ich traf auf einige junge Hamburger, jüdische Paare, und Theologie zu hören. In Jeans und bedruckten T-Shirts la- sie bestätigten mir, dass die Hamburger jüdische Gemein- gen sie auf Fussböden und Tribünen neben Leuten in Jak- de der in München in vielen Aspekten ähnlich sei, mit ei- ken und Schlips, und dann blieben sie hängen in theologi- nem Grossteil intellektueller Impulse und kulturellem An- schen und philosophischen Diskussionen, die ideenreich trieb von aussen. Ich begann, den Kirchentag an sich zu und konstruktiv waren. betrachten, unter Führung eines jungen deutschen Stu- dentenpaares, das jedes Jahr daran teilnahm: als eine Art Der Kirchentag hatte etwa 60 Musikkapellen und Chöre, institutionalisiertes Woodstock'° unter Kontrolle (jedoch die Tag und Nacht meist kostenlose Darbietungen brach- nicht allzu sehr), und als Appell an eben die humanitären ten. Der für die in einem Musikführer enthaltenen gleich- Gefühle, die einst so bezeichnend waren für die verschie- stattlichen Um- zeitig laufenden Programme hatte einen densten amerikanischen Bewegungen, welche es nicht fang von 230 Seiten. Alles war mit grosser Sorgfalt ge- schafften, sich zu institutionalisieren. plant worden (z. B. wurden dreimal täglich für 100 000 Leute kostenlose oder subventionierte Mahlzeiten in riesi- Dank der einsichtigen Taktik von Kirche und Staat und gen öffentlichen Küchen oder Zelten ausgeteilt: heisses, durch Bereitstellen öffentlicher Mittel konnte ein Degene- schmackhaftes Essen). rieren oder gar Erliegen des Kirchentages verhütet wer- Vielleicht ist Religion in manchen der Vereinigten Staaten den. Er bietet Aufnahme für alle, die es wünschen — je- überwiegend eine emotionelle Angelegenheit, während sie doch ohne erstickend zu wirken. hier, in diesem Rahmen, wenigstens im allgemeinen Ni- Ein grosser Teil der Kirchentagsdarbietungen und -vor- träge war jüdischen Themen gewidmet: der Geschichte, Mit dem auch 'anderen< Ereignis meint Dr. Podet ein in Maria Laach der Philosophie, Israel, der Literatur und Theologie. Von hier nicht wiedergegebenes stattgefundenes Treffen des Deutschen Koor- dinierungsrates der Gesellschaften für christlich-jüdische Zusammen- 10 Ort im Staat New York; bei einem Musikfestival vom 15.-17. 8. 1969 arbeit. gab es dort ca. 400 000 Besucher.

41 den für die Veranstaltung zur Verfügung stehenden acht zeit (Lk 1, 74 f.). Ist dies dem jüdischen Volk durch Jesus grossen Hallen stand eine für die jüdischen Fächer zur Christus und seine Kirche zuteil geworden? Verfügung. Das Interesse ist ermutigend und lohnend. Die jüdische Erwartung eines Messias bzw. allgemeiner Nach Abschluss des Kirchentages kehrte ich nach Mün- einer Rettergestalt ist sehr viel reicher noch, als mit diesen chen zurück. wenigen Strichen angedeutet. Die Gemeinde vom Toten Ich möchte betonen, dass mein Auftrag ein akademischer Meer hat gleich zwei Messiasse erwartet, einen königli- Auftrag war und ergänzend der Gewinnung von Kenntnis chen und einen priesterlichen; apokalyptische Gruppen über jüdische Gemeinden dienen sollte. Nichtsdestoweni- hoffen auf die Gestalt des wolkenfahrenden Menschen- ger bleiben mir hauptsächlich drei Eindrücke: Die ersten sohnes, andere auf den wiederkehrenden Elia, auf einen beiden betreffen die jüdischen Gemeinden und die Orga- Propheten wie Mose und wie die Überlieferungen mehr nisation jüdisch-christlicher Zusammenarbeit. Vor allem lauten. Die urchristlichen Gemeinden haben in ihr Be- aber schätze ich die in Deutschland gewonnenen mensch- kenntnis zu Jesus Christus diese Erwartungen in grosser lichen Kontakte, im besonderen die in Hohenbrunn [nahe Breite aufgenommen. Dies bedeutete freilich zugleich München, die Gastfreundschaft bei einer Familie]. Diese Auswahl und Neu- oder Umprägung; deren entscheiden- Erinnerungen gehören zu den eindrucksvollsten und er- den Faktor bildete der Tatbestand, der sich nicht ins über- freulichsten.« lieferte Bild fügte: Leiden und Tod dessen, den man als Messias bekannte. Solche Vorgänge der Auswahl und Umprägung sind stets nicht nur Gewinn, sondern auch A Bist du, der da kommen soll? Verlust. Verlorengegangen, allenfalls noch spurenhaft aufbewahrt, ist in der neutestamentlichen wie der christli- Jesus — Messias Israels?"1""1"*"/""*"- chen Erwartung überhaupt jene Gewissheit, der Messias werde Frieden auf Erden und Israel den Gottesdienst oh- Vortrag von Dr. Peter von der Osten-Sacken, ne Unterdrückung in Furchtlosigkeit bringen. Entspre- Professor für Neues Testament chend ist seit den Tagen der Urkirche bis heute die wei- an der Kirchlichen Hochschule Berlin terbestehende und vielfach erfahrene Friedlosigkeit der Welt wie auch der christlichen Gemeinde der entscheiden- Nachfolgend bringen wir den vollen Wortlaut des Vortrages, den Prof. v. d. Osten-Sacken am 18. Juni 1981 in der Arbeitsgruppe »Juden und Chri- de Grund für das Nein zu Jesus Christus als Messias auf sten« bei dem in Hamburg veranstalteten 19. Deutschen Evangelischen jüdischer Seite. Gemessen an der Bibel ist dies Nein nicht Kirchentag hielt, sowie den dort von Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm Mar- weniger legitim als das christliche Ja. quardt gehaltenen Vortrag »Was haltet ihr von Christus?«. Wollen wir jene verlorene Dimension der Messiaserwar- tung nicht weiter verdrängen oder unterdrücken, so kön- I. Das Thema nen wir nur beides zugleich: das Nein der jüdischen Zeit- »Ich hoffe, dass man beim Kirchentag nicht den Frieden genossen der Apostel wie unserer heutigen genauso ernst sucht durch Verzicht auf wichtige Teile des Evangeliums, nehmen wie das Votum jener Christin, die sich brieflich sondern indem man es annimmt und glaubt!« So hat eine an die Kirchentagsleitung gewandt hat. Die Frage unseres besorgte christliche Zeitgenossin mit Blick auf die »Ar- Themas gewinnt damit die präzise Gestalt: In welchem beitsgruppe Juden und Christen« vor geraumer Zeit an die Sinne kann, wird die Legitimität des jüdischen Neins zu Kirchentagsleitung geschrieben. Ihre mahnende Erwar- Jesus als Messias anerkannt, christlicherseits weiterhin tung führt ins Zentrum unseres Themas: »Jesus — Messias von ihm als Messias gesprochen werden, und das heisst ja Israels?«. Denn hätte jene Zeitgenossin in den Tagen der von selbst als Messias Israels? Apostel gelebt und wäre sie damals so fest in der jüdi- Erfragt ist damit ein Verständnis Jesu als Messias, das schen Überlieferung verankert gewesen wie jetzt in der nicht per se antijüdisch ist und von der Verneinung oder christlichen, so hätte sie sich bei dem bedeutsamen Apo- Diffamierung des jüdischen Volkes auf seinem Weg der steltreffen im Jahre 48 in Jerusalem wohl ganz entspre- Treue zur Thora lebt. Zu ertasten sind ein Verständnis Je- chend an dessen Leitung gewandt und bekräftigt: »Ich su als Christus bzw., lehrhaft gesprochen, Orientierungs- hoffe, dass man beim Apostelkonvent nicht den Frieden punkte einer Christologie, die von antijüdischen Tenden- sucht durch Verzicht auf wichtige Teile der Thora, son- zen und Strukturen jener Art frei ist. Drei Gesichtspunkte dern indem man sie annimmt und tut.« Und wären die möchte ich der skizzenhaften Entfaltung voranstellen: Apostel damals solchen Mahnungen — die es tatsächlich 1. Im Unterschied zu bestimmten christlich-theologischen gegeben hat! — gefolgt, so wären sie wohl in arge Be- Traditionen kann ein biblisch orientiertes Christusver- drängnis geraten. Nicht zuletzt hätte es ihnen den Mund ständnis nicht auf die Rückfrage nach Lehre und Handeln verschlossen, von Jesus von Nazareth als Messias zu re- Jesu von Nazareth verzichten. Im Unterschied zu jüdi- den. Denn die Schrift sagt: »Verflucht ist bei Gott, wer schem Fragen nach Jesus wiederum kann christliches am Holze hängt« (5 Mose 21, 23). Wie sollte ein Gekreu- nicht mit David Flusser beim letzten Satz seines Jesusbu- zigter dann der Messias sein? Die Schrift verheisst, mit ches' haltmachen: »Und Jesus verschied«, das heisst, es dem Kommen des erwarteten Königs werde das Kriegsge- kann sich nicht auf den sogenannten irdischen Jesus rät zerstört und Frieden bis zum Ende der Erde herrschen begrenzen. (Sach 9, 9 f.). Konnte davon damals, kann davon heute 2. Die meisten Jesusbücher leiden an dem fundamentalen die Rede sein? In einem vorchristlichen jüdischen Psalm Mangel, dass sie Jesus unvertretbar isolieren. Als einsamer (Ps Sal 17) ist breit entfaltet, was dann im Benedictus des einzelner, alleinstehend, dargestellt wird er in den Evan- Zacharias bei Lukas als Erwartung nachhaltig bekräftigt gelien jedoch, sieht man von dem gelegentlichen Rückzug wird: Der Befreier aus dem Hause Davids werde für Isra- zum Gebet ab, lediglich in zwei Zusammenhängen: in der el erwirken, dass es, errettet aus der Hand seiner Feinde, Versuchungsgeschichte und bei der Passion. Im übrigen Gott furchtlos in Heiligkeit und Gerechtigkeit diene alle- ist er ständig umgeben: von den Jüngern, die gleich zu Be- . ibid. (s. o. S. 41), S. 568. ginn berufen werden, von anonymer Menge seines Vol- ** Vgl. auch S. 46 ff. kes, von Disputanten und anderen. So ist die Gemein- *** 5.568-577. schaft, in der Jesus lebt, für ihn selber als konstitutiv anzu- **** S. in »Dokumente«, ibid. o. S. 41, Anm. 1 (S. 568 - 577), sowie u. S. 85. . Vgl. Jesus in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlt Taschen- (Alle Anmerkungen d. Red. d. FrRu) buch Nr. 140, 1968, S. 133 (vgl. FrRu XX/1968, S. 106 f.).

42 sehen — im weiteren Sinne die Gemeinschaft des jüdischen erwartungen an ihn hefteten? Was hat ihm eine nennens- Volkes, im engeren die Gemeinschaft der Jünger. Kein werte Zahl von Anhängern verschafft, so dass es Schwie- Messias ohne den Kreis seiner Träger, ohne die, die alles rigkeiten gab? Was ist — sein Judentum vorausgesetzt — verlassen. Das Verständnis Jesu Christi und das seiner Ge- die spezifische Kontur des Mannes aus Nazareth, so frag- meinde lassen sich deshalb zwar unterscheiden, bilden mentarisch sie auch bleiben muss? jedoch von vornherein eine untrennbare Einheit. Geht man nach dem, was in Geltung steht oder aber 3. Die Deutungen Jesu als des Christus sind bereits im Wahrscheinlichkeit für sich hat, so lässt sich bündeln: Er Neuen Testament so vielfältig, dass man bestritten hat, es war ein Exorzist, der mit und ohne entsprechenden Ritus gäbe in diesem Punkt einen gemeinsamen Nenner der zu heilen verstand. Er war ein leidenschaftlicher Beter. Er neutestamentlichen Schriften. Demgegenüber ist festzu- war ein Gleichniserzähler von seltener Kraft 2, der in sei- halten: Gemeinsam ist den kanonischen Zeugnissen, dass nen Parabeln für verblüffende Ausgänge gut war. Und er sie ihn bzw. sein Leben als Dasein für . . . begreifen, aussa- war, wie schon die Zeitgenossen polemisch und vielleicht gen und bekennen: für uns, für euch, für viele, für alle. Es zum Teil etwas übertrieben urteilten, »ein Fresser und ist dies fraglos die Mitte des neutestamentlichen Christus- Säufer, ein Freund der Zöllner und Sünder« (Mt 11, 19). bekenntnisses. Entsprechend wird die Frage nach dieser Gegen diese wohl des öfteren lautgewordene Vorhaltung Für-Struktur seines Lebens bei allen drei Zusammenhän- hat er sich mit einem Wort gewehrt oder verteidigt, das gen von zentraler Bedeutung sein — den Aussagen zur fraglos nicht überlebt hätte, wenn gestandene Dogmatiker Vergangenheit, zur Gegenwart und zur Zukunft Jesu. das Neue Testament vor seiner Kanonisierung redigiert Bei der Beschäftigung mit unserem Thema handelt es sich hätten: »Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern schliesslich im wesentlichen um eine innerchristliche Ver- die Kranken. Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen, ständigung. Für sie ist freilich zum einen bedeutsam, dass sondern Sünder« (Mk 2, 17). Nach dem später im Neuen sie im Rahmen christlich-jüdischer Begegnung stattfindet. Testament ausgeprägten Erlöser- und Erlösungsverständ- Zum anderen kennzeichnet sie, dass es mit ihr in eminen- nis gibt es nur noch Sünder. So liegt dies Wort quer zur tem Masse um das Verhältnis Jesu Christi und der christli- nachfolgenden Entwicklung. Wie kaum ein anderes hat es chen Gemeinde zum jüdischen Volk geht. Der Titel darum Anspruch darauf, als Urgestein der Jesusüberliefe- »Messias«, auf Jesus bezogen, bindet im recht verstande- rung angesehen und gewürdigt zu werden. So ist es auch nen Sinne die christliche Gemeinde sehr viel enger an das dies Wort, von dem her sich ein beträchtlicher Teil jener jüdische Volk, als dass er Juden und Christen trennte. spezifischen Kontur Jesu von Nazareth erschliesst. Deshalb erscheinen die sehr verschieden motivierten Der Ruf Jesu an die Sünder ist nicht wie später in den christlichen Stimmen, die teils für einen Verzicht auf christlichen Gemeinden der Ruf zum Glauben an ihn oder diesen Titel und teils für seine Ablehnung plädieren, eher das Evangelium. Vielmehr ergeht er als Ruf zur Umkehr bedenklich als einladend. Unerlässlich ist freilich eine bzw. — das ist nur die andere Seite desselben Sachverhalts Deutung, die sich nicht mit dem ausschmückenden Wie- — als Ruf unter die Herrschaft Gottes. Mit diesem Ruf zur derholen christologischer Formeln begnügt. Umkehr gehört Jesus mit anderen Umkehrbewegungen seiner Zeit (Johannes der Täufer/Qumran) zusammen. H. 1 Jesus von Nazareth Teilt er hier im wesentlichen gemeinjüdisches Verständ- Wer war Jesus? Auf diese Frage ist aus verschiedenen nis, so kennzeichnet ihn im besonderen die Art und Wei- Gründen nur eine fragmentarische Antwort möglich, aus- se, in der sein Wort laut wird. Er zieht sich weder ans To- genommen einen zweifelsfreien Tatbestand: Er war Jude, te Meer zurück, noch wartet er z. B. wie die Priester im von Anfang bis Ende, ist es, sofern wir uns zu ihm als Auf- Tempel, bis die »Zöllner und Sünder« als Umkehrende erwecktem bekennen, auch noch heute. Zu seinem zwei- kommen. Vielmehr geht er selber zu ihnen und praktiziert felsfrei belegten jüdischen Ende gehört seine Hinrichtung (Mahl-)Gemeinschaft mit ihnen, noch bevor er die Ge- am Kreuz durch die Römer. Noch die schwerlich erfun- währ hat, dass sie umkehren: Mahlgemeinschaft auf Hoff- dene Kreuzesinschrift bezeugt es auf ihre Weise: »Der nung hin, aktive, wandernde Suche nach dem oder den König der Juden« (Mk 15, 26) nennt sie ihn und belegt Verlorenen nicht irgendwo, sondern in Israel. Das hatte zusammen mit der Hinrichtungsart der Kreuzigung, dass auf seine Weise etwas Herausforderndes. Wie angedeutet, Jesus von den Römern als angeblicher Messiasanwärter hat es zu Polemiken geführt und sicher damit auch zu verurteilt und zu Tode gebracht worden ist. Ob zu Recht? Konflikten, d. h. zu Streitereien und Spannungen, aber Hier beginnt das Dunkel umstrittener und wohl kaum auch nicht zu mehr. Exemplarisch für dies alles ist die Fol- mehr zu lösender Fragen. Nach 200 Jahren kritischer For- ge der drei in Lk 15 zusammen überlieferten bekannten schung scheint es, als habe sich Jesus selber weder als Gleichnisse vom Verlorenen: vom verlorenen Schaf, der Messias verstanden noch proklamiert. Bei so viel am verlorenen Drachme und dem verlorenen Sohn. Schreibtisch gewonnener Eindeutigkeit möchte man fast Die ersten beiden Gleichnisse (Schaf, Drachme oder Gro- schon wieder skeptisch werden und überlegen, ob es sich schen) wollen gewiss mit der intensiven Suche des Hirten nicht doch noch einmal anders verhalten habe. Wie dem bzw. der Frau das Verhalten Gottes verdeutlichen. Und auch sei, ganz harmlos wird es in Jerusalem .kaum zuge- doch fällt dies Verhalten irdisch mit dem Verhalten Jesu gangen sein. Vielleicht hat es doch einigen unpassenden zusammen. Er selber praktiziert die Suche. Er selber ver- Lärm bei seinem Einzug in die Stadt gegeben. Mehr noch bürgt mit seinem Verhalten handelnd wie mit den Gleich- lässt dann sein aufrührerisches Verhalten im Vorhof des nissen redend dies liebende und verwandelnde Verhältnis Tempels erkennen, dass es nicht an provozierendem Gottes zum Verlorenen. Ein zweiter Aspekt ist für beide Handeln gefehlt hat. Dies lässt noch keineswegs auf ein Gleichnisse konstitutiv, wie zwei Ausleger unabhängig sog. messianisches Selbstbewusstsein Jesu schliessen; aber voneinander erkannt haben (H. D. Leuner, F. Schnider). zumindest die Annahme, dass im Kreise seiner Anhänger Es geht in ihnen um die Suche von Verlorenem mit dem sich bereits zu seinen Lebzeiten einiges an messianischer Ziel der Wiederherstellung einer Ganzheit, der ganzen Erwartung sammelte, dürfte schon angesichts des Fort- Herde von 100 Schafen, der ganzen Kette aus Geldstük- gangs der Geschichte nach seiner Hinrichtung schwerlich ken, das heisst um die Wiederherstellung von ganz Israel, von der Hand zu weisen sein. Was mochte diejenigen, die um die Rückführung seiner verlorenen Teile. Mit Hilfe ihm momentan oder auf Dauer folgten, zu ihm hinziehen, 2 Vgl. D. Flusser: Die rabbinischen Gleichnisse und der Gleichniserzäh- was einen solchen Eindruck hinterlassen, dass sich Heils- ler Jesus. 1. Teil, 1981, s. FrRu XXXII/1980, S. 19 ff.

43 dieser Gleichnisse lässt sich deshalb die spezifische, kon- ganz Israels. Weniger »die Sache Jesu« als vielmehr die krete Suche Jesu nach dem Verlorenen in Israel als Dienst Suche Jesu nach dem Verlorenen geht weiter. Der An- an ganz Israel verstehen, ohne dass jene ärgerliche Unter- fang, den Jesu Wirken darstellt, wird bejaht im Neuan- scheidung zwischen Sündern und Gerechten dogmatisch fang nach Ostern. Das Leitwort »Anfang« bleibt dabei niedergewalzt wird. Von hier aus erschliesst sich auch das Jesu Kennzeichen und das seiner Gemeinde. Auch sein dritte, das Gleichnis vom verlorenen Sohn. Seine ur- Wirken nach Ostern ist nicht Vollendung, Erfüllung aller sprüngliche Heimat hat es wohl am ehesten im Kreis der Dinge, sondern will im Zeichen solchen Anfangs verstan- Mahlgemeinschaft Jesu mit den Randsiedlern. Hier, in den sein. Ausdrücklich nennt Paulus ihn den »Erstling der diesem Kreise, lädt es zur Umkehr ein: Dem Umkehren- Entschlafenen«, Auftakt, nicht Ende. den eilt der Vater entgegen, um ihm anschliessend ein Aus der Erfahrung der Gegenwart Jesu in mancherlei Fest zu bereiten — so wie im Himmel mehr Freude ist über Kräften und aus mancherlei Erleben heraus haben seine einen umkehrenden Sünder als über 99 Gerechte. Das är- Gemeinden seinen Tod in der angedeuteten Struktur zu gert verständlicherweise einen der Gerechten, den älteren begreifen und auszusagen begonnen: »Gestorben für uns, Sohn, dem die zweite Hälfte des Gleichnisses gilt. Freilich für euch, für viele, für alle.« Die Deutung erfolgte zuerst wird er weder verurteilt noch ausser Haus geschickt, viel- in biblischer Sprache, später unter ausdrücklichem Ver- mehr — nach der Vergewisserung seiner Nähe zum Vater weis auf bestimmte Schriftzusammenhänge, etwa Jes 53 — gezielt kritisiert: Du hättest dich freuen sollen. So gibt es (E. Lohse). Der Begriff des Messias bzw. des Christus hat denn in gewissem Sinne doch einen Ruf an die Gerechten: in diesen Leidens- und Todesaussagen einen früh verwur- die Einladung zur Mitfreude, mit dem Himmel und auf zelten Platz. Herausragendes Kennzeichen der Entwick- Erden, zur Mitfreude über die begonnene Wiederherstel- lung ist es, dass man alsbald jenes Dasein Jesu für andere lung des Ganzen und in diesem Sinne, aufgrund dieses sich über den ursprünglichen Kreis in Israel hinaus er- Zusammenhangs, zur Mitfreude über den Weg Jesu zu strecken sah. Die Gemeinden Jesu wenden sich auch Zöllnern und Sündern. Nichtjuden zu und begreifen in Einheit damit Tod und Was meinen Christen, wenn sie Jesus den Messias nen- Auferweckung »für uns/für euch« zugunsten des Mitein- nen? Der erörterte Bereich bietet einen ersten Ansatz zu anders von Juden und Griechen, Israel und den Völkern. einer Antwort. In dem rabbinischen Sammelwerk der Bekanntlich ist der Frage nach dem Sinn von Tod und Mischna (Sanhedrin X, 1) ist die Gewissheit formuliert: Auferweckung Jesu zugunsten anderer theologisch am in- »Ganz Israel hat teil an der kommenden Welt.« Auch der tensivsten und ausführlichsten von Paulus nachgedacht Apostel Paulus teilt sie, wenn er in Röm 11, 26 verheisst: worden, und zwar im Rahmen seiner Rechtfertigungsver- »Ganz Israel wird gerettet werden.« In Übereinstimmung kündigung. Ich möchte mich ausdrücklich nicht in dies damit lässt sich Jesu auf ganz Israel hinzielende Suche Gebiet hineinbegeben, vor allem aus zwei Gründen. Zum nach dem Verlorenen in Israel als Wirken im Zeichen sol- einen ist dieser Traditionsbereich so abgegriffen, dass cher Verheissung verstehen. Es ist ein Wirken, das diese dauernd die Gefahr besteht, sich mit Formeln zu verstän- Verheissung der Rettung ganz Israels auf eine unverwech- digen oder misszuverstehen; zum anderen — und dies ist selbare Weise partiell einlöst. Ihm deshalb den Titel »Mes- wichtiger — führt uns ein anderer, weniger ausgearbeiteter sias« beilegen hiesse wohl dem Neuen Testament selber Aussagekomplex bei Paulus in unserem Zusammenhang vorgreifen. Denn dessen Zeugnisse datieren die geglaubte weiter. Ich habe bereits zu Beginn in Erinnerung gerufen, Messianität Jesu in den ältesten Schichten von der Aufer- dass nach dem Benedictus des Zacharias das Zentrum der weckung an. Sucht man jedoch von hier aus rückwärtsge- Taten des Messias »die Rettung von unseren Feinden und wandt nach messianischen Spuren, so gehört der erörterte aus der Hand aller derer, die uns hassen« bildet (Lk Zusammenhang wohl ins Zentrum. 1, 71), in Übereinstimmung mit jüdischer Erwartung durch die Zeiten hin. Besondere Aufmerksamkeit verdie- .11. 2 Jesus von Nazareth — gekreuzigt und auferweckt nen die im Benedictus verwendeten Wörter oder Begriffe: Die Suche Jesu nach dem Verlorenen endet — aufgrund im Rettung — Feinde — Feindschaft — Hass. Diesen Begriffen einzelnen nicht mehr erfassbarer Geschehnisse — mit dem entsprechen positiv die der Versöhnung, des Friedens und Tod am Kreuz von Römerhand. Die Todesszene in ihrer der Liebe oder des Liebeserweises. An einigen wenigen, überlieferten Gestalt — sei sie von Jesus biblisch gelebt, sei aber wichtigen Stellen der paulinischen Briefe sind sie auf- sie biblisch geformt — scheint mir von grundlegender Be- genommen, und zwar gerade dort, wo Paulus das Dasein deutung für das Verständnis der Rede von seiner Aufer- Jesu Christi in Tod und Auferweckung deutet als »Dasein weckung. Was die Passion kennzeichnet, ist die zuneh- für andere« (2 Kor 5; Röm 5). Paulus bezeugt den Ge- mende Isolierung und Vereinsamung Jesu, das Verlassen- kreuzigten und Auferweckten als Medium der Versöh- sein von dem Kreis, in dem er lebte und wirkte. Der nung der Welt mit Gott. So deutet er auch seine eigene Schrei mit den Anfangsworten von Ps 22 — »Mein Gott, Arbeit in der Gemeinde und aus der Gemeinde heraus als mein Gott, warum hast du mich verlassen?« — wird nicht Dienst der Versöhnung. Diese Versöhnung der Welt zufällig in dem Augenblick laut, da er von allen Menschen durch Jesus Christus mit Gott wird nach Paulus konkret aufgegeben ist. An diesem sehr realen und sehr glaubwür- im Miteinander von Juden und Griechen, Männern und digen Zusammenhang wird mehr als an allen anderen er- Frauen, Herren und Sklaven in der Gemeinde. Wenn kennbar, dass es ein Mensch ist, der dort stirbt (vgl. Phil auch problematisch genug und wenn auch hier nur an- 2, 7 f.). fangsweise, so ist doch nach dem Apostel die Gemeinde Es sind dieselben Leute, die ihn verlassen haben — allen Jesu der Ort, an dem die Hingabe Jesu Christi, sein Da- voran Petrus —, die geraume Zeit nach dem Tod Jesu auf- sein für andere, gelebt, erfahrbar, zur leiblichen Realität grund visionären Erlebens bekennen: Er ist auferweckt wird; sie ist der Ort, an dem, sofern dem Willen Gottes und uns erschienen. Ihre Verkündigung besagt: Aus der gefolgt wird, Feindschaft und Hass überwunden werden. Gottverlassenheit ist Gottesnähe geworden, endzeitliche Ein Splitter der Versöhnungsverkündigung des Apostels Gottesnähe, gekennzeichnet dadurch, dass das Gericht begegnet bei Paulus noch einmal an einer wenig beachte- durchschritten ist. ten, aber im Rahmen des Verhältnisses Kirche—Israel be- Der am Kreuz Verlassene kehrt in den Kreis der Jünger sonders bedeutsamen Stelle, Röm 11. Paulus stellt sich und damit zugleich in den Kreis der Zöllner und Sünder hier dem Faktum, dass Israel in seiner Mehrheit nein zum zurück. Er kehrt zurück in diesen Teil Israels zugunsten Evangelium gesagt hat und sagt. Mit einigen Schlüssen ta-

44 stet er sich an eine Deutung dieses Sachverhalts heran. In H. 3 Der Kommende 11, 15 setzt er erneut ein: »Wenn nämlich ihre Ablehnung Die gängige christliche Auffassung von der Ankunft des (nämlich des Evangeliums) (zur) Versöhnung der Welt Messias lässt sich wie folgt umschreiben: Am Ende der geworden ist, was wird dann . . .« Weil der Satz von sei- Zeiten wird Jesus, wie wir ihn aus den Evangelien kennen, ner Anlage her das Augenmerk auf die Fortsetzung lenkt, wiederkommen und sich endgültig als Messias offenba- geht der Aussagereichtum des zitierten Vordersatzes nur ren, so wie wenn ein Vorhang vor schon längst Bekann- zu rasch verloren; darum als Hauptsatz: »Ihre Zurück- tem weggezogen wird. Dann wird endlich auch ganz Isra- weisung (des Evangeliums von Jesus als Messias) ist die el sich zu ihm bekennen und die christliche Gemeinde mit Versöhnung der Welt.« Ein Messias- oder Christusver- ihrem Bekenntnis zu Jesus als Messias endgültig recht ständnis zu gewinnen, das nicht von vornherein gegen Is- bekommen. So zugespitzt wird es leichter zu begreifen, rael gerichtet ist, heisst m. E. von Paulus her vor allem, dass das alles ziemlich unwahrscheinlich ist und es sich diesen Satz auszuloten. Er lehrt, dass Jesus als Versöh- mit dem Kommenden wohl doch noch einmal anders ver- nung der Welt mit Gott einerseits und das Nein der Mehr- hält. heit Israels zu Jesus als Messias andererseits auf geheim- Eine Einstellung, wie ich sie eben umschrieben habe, trägt nisvolle Weise einander entsprechen, wenn nicht zusam- alle Merkmale einer glaubenden Bemächtigung der Zu- menfallen. Ist dies Zusammengehen von Gottes Ja und Is- kunft an sich, die antastet, was Gott allein vorbehalten ist. raels Nein zu Jesus auch tatsächlich zur Versöhnung der Wenn das Neue Testament sagt, nicht einmal der Sohn Welt geworden? Das ist die von hierher andrängende Fra- kenne Tag und Stunde seines Kommens, was steht dann ge. Und sie zeigt, dass in dem ganzen Zusammenhang bei uns zu wissen? Bereits die christlichen Gemeinden der nicht Israel gefragt wird: Wie hältst du's mit dem Mes- Frühzeit haben vom Kommenden nur in Aussagen zu re- sias?, sondern niemand anders als seine Gemeinde selber. den vermocht, die alle Kennzeichen nicht wörtlich zu Deshalb ist die Kirche durchaus nach ihrem Zeugnis ge- nehmender Bilder an sich tragen. Schwerlich haben sie in fragt, auch nach ihrem Zeugnis vor Israel. Aber das Leit- ihrer wie in unserer Zeit ohne weiteres denselben Sinn. wort dieses Zeugnisses ist nicht Mission, sondern die Fra- Lässt sich jene brennende Erwartung der dicht bevorste- ge nach dem eigenen Versöhntsein der Gemeinde Jesu mit henden Ankunft Jesu in den ersten christlichen Gemein- Gott und durch niemand anders als Jesus Christus. Dies den vergleichen mit unserem kühlen Bekenntnissatz: Versöhntsein mit Gott ist keine zu glaubende Glaubens- »Von dort wird er kommen zu richten die Lebenden und lehre. Es stellt sich vielmehr dar im Mit- und Füreinander die Toten«? Das, was damals in nächster Nähe schien, ist der Verschiedenen. Die Frage: Jesus — Messias Israels? ist in bald 2000 Jahren in ungreifbare Ferne gerückt und deshalb zuallererst die Frage nach der Realität von Frie- mehr denn je Geheimnis. Der Apostel Paulus hat, gerade den und Versöhnung in der christlichen Gemeinde selber. was Israel betrifft, im Römerbrief Kap. 11 exemplarisch Schliesslich ein letzter Gesichtspunkt, der in unserem Zu- gezeigt, wie mit solchen Geheimnissen umzugehen ist. Er sammenhang von besonderem Gewicht ist. Eine christli- verkündet dort, ohne auf die Frage nach dem Wie des Ge- che Gemeinde, die sich mit Paulus dazu bekennt, dass sie schehens näher einzugehen: Wenn alle Völker der Herr- durch Jesus mit Gott versöhnt und also mit seinem Wollen schaft Gottes eingefügt sind, dann wird ganz Israel geret- einverstanden ist, sagt damit zugleich etwas über ihr Ver- tet werden. Mit dieser Gewissheit hat er der römischen hältnis zu Israel aus. Sie bekennt mit ihrem eigenen Ver- Gemeinde so viel von dem Geheimnis, das über der Zu- söhntsein zugleich, dass sie in Überwindung ihrer heidni- kunft liegt, offenbart, wie seiner Auffassung nach nötig schen Tendenzen auch mit Gottes unergründlicher, be- ist, damit sie in angemessenem, brüderlichem Verhältnis dingungsloser, anstössiger und doch unumstösslicher, er- zum jüdischen Volk zu leben vermag. wählender Liebe zu seinem jüdischen Volk ausgesöhnt ist. Ähnlich dürfte für uns, was die Zukunft Jesu Christi be- Eine Gemeinde, die ihr Bekenntnis ernst meint, ernst trifft, das Vertrauen entscheidend sein, dass er so, wie er nimmt und in glaubwürdiger Zeugenschaft lebt, kann des- für seine Gemeinde in der Vergangenheit da war und in halb gar nicht in Feindschaft, sondern nur selber in Zu- der Gegenwart da ist, es auch zukünftig sein wird. Ent- wendung zu Israel leben. Legt sie aber glaubwürdig Zeug- sprechend besagt für uns als Christen die Erwartung Jesu nis ab, dass sie aus Feinden zu Versöhnten, wenn nicht zu in erster Linie, dass unsere Bindung an Gott und unser Freunden geworden ist, dann erhebt sie keine Anerken- Bekenntnis zu ihm auch in Zukunft durch Jesus Christus nungsforderungen an Israel (»Ihr müsst . . .«), sondern vermittelt bleiben. Was uns deshalb Sorge machen sollte, tut, was ihr aufgetragen ist: Sie lebt die alte Gewissheit, ist weniger die Zukunft Israels angesichts seines Neins als dass Jesu Dasein für andere in dieser Weise, durch die vielmehr die Frage, ob unser Ja kräftig genug ist. Es könn- Versöhnung seiner Gemeinde, ein Dasein auch zugunsten te ja sehr wohl sein, dass bei der Ankunft des Messias, Israels ist. So vermag vielleicht, wenn in der christlichen wenn er Israel befreien wird von allen seinen Feinden, Is- Gemeinde aus Feinden Versöhnte werden, die ihre Ver- rael selber bekennt: »Ja, den haben wir gemeint«, Chri- söhnung in der Beziehung zum jüdischen Volk leben, et- sten aber zweifelnd fragen: »Bist du, der da kommen was an messianischem Schimmer aufzuleuchten, jenem soll?« Bei alledem ist dem Messias selber jüdisch wie Wort des Lukas gemäss : »Errettet aus der Hand unserer christlich eine Grenze gesetzt. So wie er allein Beauftrag- Feinde und aller derer, die uns hassen.« Es vermag etwas ter Gottes ist, wird er am Ende alle Herrschaft an Gott aufzuleuchten, ohne dass die jüdische Gemeinde, wie es zurückgeben, auf dass Er sei alles in allem (1 Kor 15, 28). so oft geschehen ist, auf ihrem eigenen Weg mit Gott an- Damit sind wir erneut an dem Punkt, der sich als die Mit- getastet wird. Noch einmal mag uns gerade an diesem te der ganzen Frage »Jesus — Messias Israels?« erwiesen Punkt deutlich werden, in welchem Masse das Wort »An- hat. Auch im Hinblick auf den Kommenden ergibt die fang« — und nicht etwa »Vollendung« — Evangelium und christliche Rede von Jesus als Messias nur so viel Sinn, Gemeinde Jesu Christi kennzeichnet. Wir haben, so liesse wie seine Gemeinde selber in der Gegenwart glaubhaft zu sich auch sagen, keine Missionsaufgabe, das jüdische leben bereit ist. Nichts könnte das Evangelium mehr ver- Volk zum Ja zu Jesus als Messias zu führen. Wir haben kehren, als wenn wir den Tatbestand, dass wir anders auf freilich umgekehrt, und zwar in dem genau umschriebe- Jesus sehen und hören und mehr in ihm erkennen als Ju- nen Sinne, die Pflicht und Schuldigkeit, ihm — durch un- den, zum Anlass nähmen, ihn, wie so oft bisher, gegen das

ser Verhalten — ein pures Nein zu Jesus so schwer wie jüdische Volk auszuspielen. Das Evangelium von Jesus möglich zu machen. dem Christus ernst zu nehmen heisst vielmehr für die Kir-

45 che, im Verhältnis zu Israel vor allem — ich möchte dies seine Anhänger: »Ihr aber, wer sagt ihr, dass ich sei?« noch einmal wiederholen —, sich nicht als Feinde, sondern (Mk 8,29). Jesus fragt nach Jesus. Er ist sich selbst eine of- der Botschaft des Evangeliums gemäss als Versöhnte zu fene Frage. Er kann sie nicht allein beantworten. Jeden- erweisen und wenigstens als christliche Gemeinde dazu falls will er sie nicht allein beantworten. Er beteiligt Men- beizutragen, dass Israel, mit Lukas gesprochen, Gott schen, ihm ferne und ihm nahe, an dieser für ihn wie für furchtlos in Heiligkeit und Gerechtigkeit zu dienen ver- jeden anderen lebenswichtigen Frage: Wer bin ich? Er mag. Nur in dem Masse, in dem sie selber sich in diese will und kann mit dem Geheimnis seines Daseins nicht al- Richtung bewegt, ist es kein Lippenbekenntnis, wenn die lein fertig werden. Immer wieder stellt er sich bei seinen christliche Gemeinde Jesus den Messias nennt. Es ist ein Mitmenschen in Frage. Drängt sie zur Antwort. Es sieht Kennzeichen unseres geschichtlichen Ortes, unseres Le- aus, als gäbe es Klarheit über sein wahres Wesen gar nicht bens als Christen in Deutschland, dass religiöser und poli- in ihm selbst, sondern nur in der Wirkung, die von ihm tischer Auftrag hier zu bedeutsamer Übereinstimmung ausgeht, und in den Ausdrücken, die andere für das fin- kommen. Denn wenn es eine einzige Konsequenz aus den, was Jesus ihnen bedeutet. dem in unserem Land und in unserer Geschichte verübten Juden hat er zuerst nach sich gefragt. Antworten kamen Unrecht gibt, dann die, dass das jüdische Volk in Israel so vielfältig, wie das Judentum immer war und ist: »Du und in der Diaspora für uns und für alle kommenden Ge- seiest der Propheten einer«, meinte man (Mk 8, 28). »Etli- nerationen in immer neu zu bedenkendem Sinne unantast- che sagen, du seiest Elias« — der Vorläufer des Messias bar bleibt. Dies schliesst die Kritik an einzelnen oder auch (Mk 8, 28). »Andere sagen, du seiest Johannes der Täu- an bestimmten Regierungen und ihren Aktionen nicht fer« (Mk 8, 28) — denn seine und Jesu Botschaft stimmten aus, macht jedoch allein schon die Erwägung der Liefe- aufs Wort miteinander überein. Im engeren Kreis kom- rung von Waffen an einen der Feinde Israels durch eine men andere Antworten. »Rabbi« nennen sie ihn, Meister deutsche Regierung zu einer Unfasslichkeit. der Bibelauslegung wie nur einer in Israel. Andere, poli- tisch gesonnene Anhänger, die sich auch in seinem Um- HL Ausblick kreis von Waffen und ihren politischen Decknamen nicht Ist er der Messias (Israels) — ja oder nein? In dieser Struk- trennen können, hoffen, dass er das Reich für Israel wie- tur bewegt sich die Fragestellung weithin bis in unsere Ge- der herstellt (Lk 24, 21). Im allerengsten Kreis nennt einer genwart. An die Stelle dieses Titels können dabei andere ihn »Messias«, Petrus war das. Aber Jesus droht: Behaltet treten, die vielfach auch als sehr viel angemessener ange- das in eurer jüdischen Umwelt für euch. Von Fleisch und sehen werden: Gottessohn, Menschensohn, Gottesknecht Blut könnt ihr das nicht haben, das heisst nicht aus der und andere mehr. Diese Vereinfachung der Fragestellung Tradition der Mütter und Väter Israels. Da ist er als Mes- mag in statu confessionis, im Bekenntnisstand, unver- sias schwer denkbar. meidlich sein, der freilich selten genug besteht. Sie hat, Verwirrend viele Antworten. Aber wir müssen das verste- von ihm abgesehen, vielfach äusserst destruktive Folgen. hen: so viele Antworten, wie es in Israel Hoffnungen gibt. Denn ein einfaches Ja oder Nein lässt keine Nuancierun- Und so viele Hoffnungen wie Verheissungen. Daher gen zu und stellt allzuleicht den Titel über die Sache. So kommt es, dass Jesus in Israel nicht eindeutig verstanden ist es z. B. unempfänglich für die von erheblichen Unter- werden kann. Er bleibt da vieldeutig. Muss sich in Israel schieden gekennzeichnete Breite der Einstellungen zu Je- selbst ein offenes Geheimnis bleiben. In der nichtjüdischen sus im jüdischen Volk. Zwischen dem Vorwurf »Er ist be- Völkerwelt war das anders. Auch da redet freilich die sessen« in Mk 3 oder der ähnlich orientierten mittelalter- Gottheit auf mancherlei Weise, wie in Israel. Aber soll es lichen jüdischen Jesusdarstellung (Toledot Jeschu) einer- ernst gemeint sein, gerät es unter Einheitszwang. Wahr- seits und den bekannten Würdigungen Jesu von jüdischer haft göttlich ist nicht die Vielfalt. Nur der tiefe Grund, Seite in unserer Zeit andererseits klaffen Welten. Diese das höchste unbewegliche Wesen, das Eine-Ganze. Nur Zugänge zu Jesus in ihrer Unterschiedlichkeit zu erfassen, das ist wesentlich. Wesensoffenheiten können da nicht be- würde ein einfaches Entweder-Oder verhindern und da- stehen. mit in einem Gespräch sprachunfähig machen, das gerade In dieser Welt sind die christlichen Theologen gross ge- erst begonnen hat. Dass Juden und Christen Jesus jeweils worden. Sie wollten nichts offen lassen. Gerade, was Jesus anders sehen, gerade so, in der Verschiedenheit, ihn je- betrifft, nicht. »Du bist Christus, der Sohn des lebendigen doch je ein Stück weit authentisch erfassen — auf diese nur Gottes.« So und nicht anders. Man schrieb bald schwarz noch anzudeutende Möglichkeit sollten wir uns sehr viel auf weiss fest, wer er ist. Wer glaubt, unterschreibt. Wer stärker als bisher einlassen. nicht unterschreibt, glaubt nicht. Wir haben vor zwei Jahren beim Nürnberger Kirchentag gefragt, was Christsein nach Auschwitz für unser Han- B Was haltet Ihr von Christus? deln heissen möchte'. Heute fragen wir weiter, was es theologisch heisst: für unser »Dünken um Christus«. Ein Jesus zwischen Christen katholischer Neutestamentler, Franz Mussner aus Re- gensburg, hat eine »theologische Wiedergutmachung« ge- und Juden* fordert, die wir schuldig seien: nicht den Opfern — das geht ja nicht —, aber der Erkenntnis der Wahrheit 2. Wir in Vortrag von Prof. Dr. Friedrich-Wilhelm der Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen meinen, es Marquardt, Berlin, am 19. Juni 1981 sei Zeit für eine Grunderneuerung. Damit wir uns nicht in Halle 4 missverstehen: Wir können uns keine Veränderung unse- res Bekenntnisses zu Jesus Christus vorstellen. Manche er- warten das. Wir können es nicht. Aber unser Denken von Jesus hat oft andere Menschen nach sich selbst gefragt. Christus, unsere Christologie kann von Grund aus erneu- »Wer sagen die Leute, dass ich sei?« (Mk 8,27). Oder — an ert werden. Sie muss es. Pharisäer gerichtet: »Was dünket euch um Christus? Was

haltet ihr vom Messias?« (Mt 22,42). Oder, in Anrede an 1 Vgl. dazu F.-W. Marquardt: »Christus nach Auschwitz«, in: FrRu XXXI/1979, S. 87, B. * ibid. (s. o. S. 41) Anm. 1 (S. 578-588, sowie u. S. 85). 2 Vgl. dazu: F. Mussner: Theologische »Wiedergutmachung«. Am Bei- (Alle Anmerkungen d. Red. d. FrRu). spiel der Auslegung des Galaterbriefes, in: FrRu XXVI/1974, S. 7-11.

46 Im folgenden vier Gesichtspunkte dazu. 1. »Dass unser Hat mich gesandt, den Armen frohe Botschaft zu bringen, Herr Jesus Christus ein geborener Jude sei.« — 2. »Wir den Gefangenen Befreiung zu verkündigen, Blinden Au- kennen Christus nach dem Fleisch nicht mehr« (2 Kor 5, genlicht, Zerschlagene zu befreien und zu entlassen und

16). — 3. »Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft ein angenehmes Jahr des Herrn auszurufen«, das heisst noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben ein Jahr der Wiedergutmachung alles Unrechts (Lk 4, 18- oder zu ihm kommen kann.« — 4. Er ist »ein Licht, zu er- 19). Das ist doch kein Zufall, dass die ökumenische Chri- leuchten die Heiden und zum Preis seines Volkes Israel« stenheit Jesus nun alttestamentlich kennenlernt. Auf mich (Lk 2, 32). Zwei Bibelworte geben uns Weisung und zwei wirkt es wie eine Aufforderung: Er will überhaupt in sei- Lutherworte. nen sozialen Beziehungen gesehen werden, nicht nur aus dem Zusammenhang des Alten Testaments heraus, auch I. »Dass unser Herr Jesus Christus ein geborener Jude sei.« im Zusammenhang mit dem Volk des Alten Testaments. Das ist der Titel einer Lutherschrift von 1523. Anders als Jesus will zu uns gehören, aber auch zu ihnen — zu allem die grässlichen späteren antijüdischen Schriften war diese Volk, aber vor allem auch zu diesem Volk. Was meint frühe voll Dankbarkeit gegen Israel, dass es uns Jesus ge- dies? schenkt hat — voll Wohlwollen und Hoffnung für das jü- Dass unser Herr Jesus Christus ein geborener Jude sei, dische Volk. wirkt sich dahin aus, dass es nun nicht mehr nur ein Uns beschäftigt nicht diese Lutherschrift. Nur ihr Titel. christliches Verhältnis zu Jesus gibt, sondern auch ein Unser Herr Jesus Christus war ein geborener Jude, einst- nichtchristliches: ein jüdisches. Denn Jesus zeigt nun meh- mals, damals. Er ist es aber auch heute. Er ist nicht nur ein rere Dimensionen seiner sozialen Identität; eine den Ju- geborener, auch ein gestorbener und auferstandener Jude. den offene, eine den Nichtjuden offene. Und beide Seiten Er ist der uns heute regierende Jude. Dies betonen wir an seiner Offenheit sind je dem anderen ein Geheimnis. erster Stelle. Denn es war zu lange verdrängt oder zu un- Hören wir Martin Buber. Was Jesus für die Christen sei, deutlich in seiner Grundbedeutung erfasst. Christen in der verstehe er nicht. Aber es sei ihm ein ehrwürdiges Ge- Geisteswelt Griechenlands, Russlands, des Orients möch- heimnis. Dass die Christenheit ihn als Gott und Erlöser ten es noch heute unbetont lassen. Auch bei uns finden ansehe, finde er eine Tatsache von höchstem Ernst. Er sich Theologen, auf die das »banal« wirkt. Sie denken: könne die christliche Lehre von Jesus durchaus als »we- Der Geist hebt unsere Schwachheiten auf, Schwachheiten sentliche Begebenheit zwischen oben und unten verste- unserer Geburt und historischen Herkunft. Sie denken: hen«. Aber dazu gebe es auch eine Kehrseite. Ein Jude Der Geist stellt uns ins Geistige. Das Fleisch ist nichts nüt- könne nämlich Jesus noch ganz anders von innen her ver- ze. Spätestens mit seiner Auferstehung fallen seine jüdi- stehen als je ein nichtjüdischer Christ. Nicht besser, aber schen Hüllen von ihm ab. Nun ist er nur noch wahrer intimer, aus jüdischem Selbstverständnis heraus. Von da Mensch und wahrer Gott. könne er ein brüderlich-aufgeschlossenes Verhältnis zu Aber eine solche Vergeistigung kennt die Bibel nicht. Der Jesus haben. Buber wählt den Namen des grossen Bru- Auferstandene ist nicht das Ende seiner eigenen Geschich- ders, um sein Verhältnis zu Jesus zu bezeichnen. Andere te. Der wahre Gott steht nicht gegen den wirklichen Men- Juden benennen ihn anders, verhalten sich auch distan- schen. Der wahre Mensch ist auch der wirkliche Mensch. zierter zu ihm. In der sogenannten »Heimholung Jesu« in Paulus gibt Zeugnis: »Geboren von einem Weibe und un- das jüdische Volk, die unserer Generation eine jüdische ter das Gesetz getan« (Gal 4, 4). Das heisst: Der wahre Jesus-Darstellung nach der anderen schenkt, wirkt sich Mensch ist richtiger Jude. Als richtiger Jude ist Jesus ein jüdischer Beziehungsreichtum aus. Keiner käme auf den praktizierender Jude, nicht bloss ein Namensjude: Täter Gedanken, sein Jesus-Verhältnis als das einzig wahre hin- der Thora, Beter des Schema Jisrael (Mk 12, 29 f.), Teil- zustellen. Sie halten Jesus bewusst in der Offenheit ihres nehmer an der Alija hinauf nach Jerusalem, dabei, wenn Fragens und ihrer Verstehensversuche. Auch uns gegen- Israel zu Pessach, beim Laubhüttenfest und sonst das Ge- über. Von unserem Bekenntnis zu Jesus sagt Buber, er denken seiner Befreiung aus der Hand seiner Unterdrük- müsse es »um seinet- und meinetwillen zu begreifen versu- ker feiert. Im Titel seiner Schrift hat Martin Luther uns chen«. das bewusst machen wollen. Das sollten wir umgekehrt auch. Es darf uns nicht ober- Unserer Generation fällt zu, das in seiner ganzen Trag- flächlich interessant, es muss uns 'ewig wichtig werden, es weite erst zu entdecken. Eine neue Dimension am bibli- geht uns unbedingt an, dass unser Herr Jesus Christus an- schen Christus und am historischen Jesus will erschlossen ders gesehen werden kann, als wir ihn sehen. In unserer werden. In erster Dimension wurde er theologisch ent- Generation wird er nach Israel heimgeholt. Wir sollten deckt. Unsere Väter sahen auf sein Gottesverhältnis und dies als seine eigene Heimkehr nach Israel begrüssen ler- auf Gottes Verhältnis zu ihm. Er ist wahrer Gott, das nen und als Zeichen seines ewigen Lebens. Es gehört zu drängte sich ihnen als Erkenntnis auf. In einer zweiten Di- ihm selbst. Er will hier wie dort zu Hause sein. Er will in mension wurde er historisch entdeckt: als Mensch an sei- mehrfacher Weise sich öffnen. In mehrfach ihm eigener nem Ort, in seiner Zeit. Seit dem 18. Jahrhundert war un- Weise. seren Vätern diese Seite Jesu wichtig. Und nun sind wir Mancher wird sich erst einmal sperren dagegen: Alles dran, Jesus noch einmal in einer ganz neuen Dimension werde relativiert, in den Pluralismus der Meinungen her- zu begreifen: Jesus in dritter Dimension. Neben seiner untergezogen. Nichts soll mehr eindeutig bleiben. Alles theologischen Dimension und seiner historischen öffnen soll man so und auch anders sehen können. Jetzt wollen sich uns seine sozialen Dimensionen. Der wahre Gott und sie uns womöglich noch eine jüdische Theorie von zwei der wahre Mensch ist auch: Mitmensch. Glaubensweisen, zwei Glaubenswegen aufschwatzen. Das ist ein weites Feld. Überall in der Welt, wo Menschen Nein, Freunde. Es geht um Jesu eigenen Lebensweg, seine heute auf Jesus bauen, werden sie in soziale Kämpfe ge- ihm eigenen Daseinsoffenheiten. Ich vertrete keinen Rela- sendet. Das geschieht in der Dritten Welt, aber auch bei tivismus unserer Betrachtung, unserer Menschen-Art und uns: mehr als in früheren Generationen. Es ist, als giesse Weise, ihn zu sehen. Es geht um etwas rein Tatsächliches: Jesus erst über unsere Generation den Geist dessen aus, Er wird verschieden gesehen, und das hat seine guten was er in der Synagoge von Kapernaum in der Hebräi- Gründe. Diese Verschiedenheit liegt in ihm; es sind seine schen Bibel gelernt und auf sich selbst angewandt hat: Wege, wenn es dazu kommt, nicht unsere Wege. Weisen »Der Geist des Herrn ruht auf mir. Er hat mich gesalbt. seiner Offenheit, nicht unseres Glaubens. Es sind seine

47 zwei Seiten. Jesus Christus ist unser Herr. Und zugleich sie ihn intimer. Aber doch nicht unmittelbarer als wir. ein geborener, wirklicher, praktizierender Jude. Und jedenfalls kann man nicht sagen: Die Juden kennen Das ist neu und hart. In der abendländischen Tradition Jesus historisch, wir Christen aber kennen ihn nach der sind wir gewohnt, Wahrheit nur in der Einheit zu sehen. Offenbarung. So sind wir nach zweitausend Jahren beide Uns genügt darum nicht eine Gottes-Einheit Jesu, auch nicht mehr mit ihm dran. Beide lernen wir ihn erst wieder wenn er sich hier und da verschieden zeigt. Wir fordern kennen. Und für uns beide ist es, wenn wir ihn kennenler- auch Menschen-Einheit und gleiches Verständnis Jesu. nen, ein neues Erkennen. Mehr als ein äusseres Wahrneh- Ein einheitlicher Begriff von Jesus ist uns wichtiger als sei- men und Beurteilen: ein geistiges Aufgehen, Aufgehen ei- ne Lebens-Einheit, in der er vielfältig wirkt und sich zeigt. nes von ihm ausgehenden erneuernden Geistes. Doch sind Aber solch ein Drang nach Verständniseinheit ist kein wir da verschieden dran, in anderer Erkenntnissituation. notwendiges Glaubensinteresse. Es ist Vernunftinteresse, Jüdisches Erkennen Jesu kann ein Wiedererkennen sein, Interesse der vereinheitlichenden, zwingenden Vernunft, vielleicht ein zorniges, vielleicht auch ein erfreutes, viel- die wir im Abendland — Gott sei's geklagt — als allein ver- leicht emotionslos-nüchtern. Eben das Wiedersehen eines nünftig ansehen: Vernunft, die alles »in den Griff bekom- Bruders. Sie nehmen an ihm wahr, was sie ohnehin, auch men« möchte. ohne ihn, schon kennen. Sie erkennen ihn aus ihrem jüdi- Biblisch sieht das anders aus. Um Einheit wird gebetet: schen Lebenshorizont heraus. Da mag dies oder das aus »Auf dass sie alle eins seien«, betet Jesus (Joh 17, 21). Das dem Rahmen fallen. Aber das sehen sie untereinander setzt Menscheneinheit gar nicht voraus, erzwingt sie auch auch verschieden. Sie können es aber jedenfalls einord- nicht. Erhofft sie nur. Entscheidend ist etwas ganz ande- nen. Sie können ihn beurteilen. res. Der eine Gott. Und dass Juden sich mit diesem Gott Wir nicht. Wenn er uns aufgeht, geht uns nichts Ver- einen, und wir Nichtjuden auch. Darauf hat die kirchliche wandtes auf. Ein ganz anderes Weltverständnis, Selbstver- Christuslehre, das Dogma, auch immer alles Gewicht ge- ständnis. Ein ganz anderes Gottesverhältnis. Als geborene legt: Jesus ist zu sehen als der Jude, der sich mit Gott eint Nichtjuden sind wir ja ohne Gott in der Welt, fremd den und so mit Gott eins ist. Genau darauf blickt auch ein Ju- Bündnissen der Verheissung und ohne Bürgerrechte unter de den anderen an: dass er im Bunde mit Gott ist und sich den Heiligen. Erst durch Jesus werden wir hinübergeris- mit ihm eint. Was an dem Sich-Einen Jesu mit Gott das sen in eine Geschichte, die nicht unsere ist. Für uns ist Er- Wichtigste ist, das sehen wir wohl verschieden. Müssen es kennen Jesu eine Entfremdung von Vaterhaus und auch verschieden sehen. Denn zuletzt ist die innerste Seite Freundschaft, ein Bruch mit angeborener und in heidni- seines Gottesverhältnisses uns beiden entzogen. Sie bleibt scher Kultur angelernter Lebensart. Wir werden geistig sein Geheimnis — wie ja jeder von uns sein eigenes Ge- und seelisch verpflanzt. Uns geschieht, was wir in der heimnis mit Gott hat, ja: ist. Taufe ausdrücken. Etwas, wo wir mit eigener Vernunft Zu seinem Gottesgeheimnis gehört, dass Juden sagen: Er und Kraft deswegen nicht heranreichen, weil beide von ist gar nicht exklusiv Besonderes in Israel. Vielleicht war Hause aus nicht unterrichtet werden zum Begreifen dieses er, wenn man es historisch betrachtet, jüdischer Extremist Gottes, des Gottes Jesu. Wir werden durch Jesus abra- in irgendeinem Sinne, kein politisch Radikaler, aber ein hamitisch, der Macht der Ursprungsmythen unseres Vol- theologisch Radikaler. Doch das gehört in das Erschei- kes, unserer Kultur und Politik entrissen. Christusglaube nungsbild des Judentums; auch im Christentum gibt es so ist für uns Nichtjuden Bruch, Revolution. Wir kommen etwas. Seine Besonderheit lässt sich jedenfalls nicht auf- da nicht zu uns selbst. weisen an Worten, Taten, Verhaltensweisen, nicht an sei- Natürlich haben wir in unserem Christentum doch auch nem Tod. Seine Besonderheit ist allein die Ganzheit, die ein Heimatgefühl. Und das Christentum hat es ja auch — Einheit, in der er den Juden als der ihre, als Jude er- nur zu gut — verstanden, die Völkerkulturen einzuheili- scheint: und den Nichtjuden auch als der ihre. gen, Werte zu schaffen für Geborgenheitsgefühle; allzu Gemeinsam ist unseren verschiedenen Erfahrungen nur: tiefe Widersprüche zwischen dem Gott Israels und den er könnte kein Athener sein, kein Pariser, Moskauer oder Quellen natürlicher Religion, den Bedürfnissen einer Hamburger. Kein Heidenmensch, sondern ein Jude. Kein Volksreligion, den angeblichen Notwendigkeiten einer Mensch an sich, sondern Mensch dieses Volkes. Man allgemeinen Zivilreligion wurden ausgeglichen. Der Wü- kann ihn nicht aus allgemeiner Menschlichkeit verstehen, stengott wurde assimiliert. Unser Glaube fand Vernunft- nur aus dem Leben des jüdischen Volkes heraus. Denn synthesen, Staatssynthesen. Jesus und die Mächte konnten nur im Judentum wird das Menschliche so verstanden, kombiniert werden. dass es in Kern und Wesen, in Fleisch und Geist von Gott Aber immer wieder brach in unserer Christentumsge- her und auf Gott hin ist. Will die christliche Lehre dem al- schichte ein schlechtes Gewissen durch wegen dieser ten Christus-Dogma treu bleiben und Jesus nach Kern Dompteur-Einstellung dem Gott Israels gegenüber. Und und Wesen vom wahren Gott her und auf den wahren wir spüren: Seine Wahrheit hat der Gott Jesu und Israels Gott hin verstehen, dann können wir dies heute nur noch, doch nur in den Nachfolgebewegungen, wo wir geführt wenn wir ihn im Lebensrahmen seines Volkes verstehen. werden, wohin wir nicht wollen. Und Jesus-Nachfolge ist Denn die allgemeine Menschlichkeit weiss nichts mehr für uns Heidenchristen, was die Exodus-Geschichte für vom wahren Gott. Aber geborene Juden: die leben nach Juden war und ist: Befreiung aus dem Sklavenhaus. wie vor von ihm her und auf ihn hin. Der Apostel Paulus hat uns Heidenchristen das unvergess- Darum muss es uns so wichtig werden, dass unser Herr lich klargemacht in seinem Verständnis der Gesetzesord- Jesus Christus ein geborener Jude sei. Seine Gotteinheit nungen dieser Welt: Mächte, überindividuelle Systeme, hängt daran. die uns über die Köpfe wachsen. Sie regeln unseren äusse- ren Verkehr, prägen uns aber auch innerlich und verlan- 2. »Wir kennen Christus nach dem Fleisch nicht mehr« gen ihren Tribut. Damit trifft er vor allem unsere Heiden- (2 Kor 5, 16) wirklichkeit mit ihren barbarischen Naturmächtigkeiten. Wahrscheinlich die Juden auch nicht. Sie müssen ihn ja Da brauchen wir uns nicht lange in Antike und Mittelalter hindurch-kennen durch alle die geschichtlichen Auswir- umzusehen. Zuletzt haben wir es am Nationalsozialismus kungen dessen, dass wir ihn so geheimnisvoll anders ver- erfahren. Er war System gewordene Natur- und Blutver- standen haben und verstehen als sie. Sie haben unser Chri- götzung, Gesetzlichkeit der Sünde, wie Luther sie ver- stusverständnis bitter erleiden müssen. Vielleicht kennen stand: Ordnung, die nicht zuliess, dass der wahre Gott Is-

48 raels Gott sein sollte, weil sie uns selbst zu Gott machen schleudern konnten. Als bezöge unsere Wahrheit ihre wollte. Und diese Fleisch-und-Blut-Gesetzlichkeit haben Kraft nicht aus sich selbst, sondern nur aus vermeintlichen wir als Gottes Gesetz ausgegeben. Unwahrheiten. Bis zum heutigen Tage meinen wir eine Kein Wunder, dass im Bann einer solchen Gesetzlichkeit Gerechtigkeit aus Glauben nur vertreten zu können, wenn auch unser Christusbild vergesetzlicht wurde. Das fing wir sie strikt, prinzipiell, schematisch gegen eine Gerech- früh an. Dem Zimmermann aus Nazareth wurden in unse- tigkeit aus Werken ausspielen. Was hätten wir viel von Je- rem Kulturkreis die Kleider der römischen Cäsaren ange- su Bergpredigt zu sagen, wenn wir nicht die Pharisäer zur zogen und ihre Insignien in die Hand gedrückt: Reichsap- Karikatur der Alten machen könnten, von denen er sich fel, Schwert in Hoheitsglanz, thronend über unserem Im- mit seinem »Ich aber sage euch« angeblich abhebt. Was perium. Und seine Kirche regelte Bedingungen der Zuge- wüssten wir seinem heilsamen Tode zu danken ohne eine hörigkeit zu seinem Reich, die Menschen zu erfüllen hat- Mordschuldlüge gegen die Juden? ten. Nur wer diesen fest eingekleideten Herren-Jesus Freunde: Das geht so nicht weiter. Entweder hat unser glaubt und getauft wird, ist in Gnade. Es ist in keinem an- Glaube Kraft aus dem, dem wir glauben. Dann können deren Heil. Nichts bleibt mehr ihm überlassen. Man kann seine Urteile keine Verurteilungen Andersglaubender sich gar nicht mehr vorstellen, dass er herabsteigen könnte mehr sein, nur noch freie und offene Bekenntnisse zu von seinem Thron, sich noch einmal entäussern könnte, ihm: hassfreie Bekenntnisse. Und offene Bekenntnisse: die ganze Bedingungslogik abschütteln und gerade denen solche, die ihm selbst die Bewahrheitung überlassen und mit Freude entgegeneilen könnte, die ihn nicht glauben, auf alle physischen und geistig-seelischen Machtmittel sich nicht taufen lassen, nach der Gesetzlichkeit des Glau- verzichten. Oder Jesus wandert aus unserer Glaubenswelt bens nicht zu ihm gehören wollen und zu denen er doch aus, in andere Glaubenswelten ein, zieht sich womöglich gehört. Die christliche Vergesetzlichung des Christusglau- ganz nach Israel in seine historische Heimat zurück, wird bens hat uns abgestumpft gegen die freien Offenheiten endgültig »historisch«. Mir helfen in dieser Sache Rat- seines Lebens. Wir machen unseren Glauben zur Bedin- schläge, die mein Lehrer Karl Barth in seiner ersten Rö- gung wahrer Gemeinschaft mit ihm, nicht seine Zunei- merbriefauslegung formuliert hat. »Denkt lieber gar nicht gung, und kontrollieren scharf, wer zu den Seinen gehört, nach über die taktische Lage zwischen Gott und den ver- wer nicht. So will ihn gesetzlicher Glaube entmündigen. schiedenen Menschen.« »Es ist gefährlich, seine eigene Sonderbar nur, dass wir die Gesetzeskritik des Apostels Stellung im Reiche Gottes zu erwägen, sich selbst zu be- Paulus nie unserem Christusglauben ins Stammbuch ge- trachten und mit anderen zu vergleichen. Schaut nicht auf schrieben fanden. Wir haben sie immer nur judenkritisch euch selbst und schaut nicht auf die andern. Glaubt nicht gelesen, Gesetzessplitter in den Augen des jüdischen Bru- an euren Glauben, sondern schaut auf Gott. Und glaubt ders entdeckt, unempfindlich gegen Gesetzesbalken in un- nicht an den Unglauben der andern, sondern schaut wie- seren Augen, gerade wenn sie den Heiland sehen. Das ist der auf Gott.« das Gesetz der Sünde und des Todes, an dem Jesus stirbt Kann man es irgend jemanden vorwerfen, dass er Jesus und von dem wir erlöst werden müssen. nicht glaubt? Ihn nicht als den erkennt, der er ist? »Ich Was Jesus für das jüdische Gesetz bedeutet: Woher sollen glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an wir das wissen können? Unsere Urteile darüber sind im- Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kom- mer unexistentiell, Urteile ohne Erfahrung, angemasst. men kann.« Wie sollte ich dann einen Glauben Israels an Selten sind wir bisher auf den Gedanken gekommen, dass Jesus Christus einklagen können. Ich müsste den Heiligen wir die jüdische Selbstkritik, die Paulus in seiner Kritik Geist einklagen. Es ist eine Selbstvergessenheit der Armut des Gesetzes vollzieht, erst dann verstehen könnten, wenn des Glaubens, wenn ich ihn zum Gesetz erkläre, das ich wir sie auf uns selbst anwendeten und in eine Selbstkritik nicht erfüllen kann, aber andere erfüllen müssen. unserer heidnischen und heidenchristlichen Gesetzlichkeit übersetzten. Eben: Wir sollten Christus nicht mehr nach 4. Und nun zum Schluss : »Was haltet ihr vom Messias?« dem Mass unseres »Fleisches«, unserer Tradition, Engstir- Im jüdisch-christlichen Gespräch kommt immer öfter der nigkeit, Gesetzlichkeit, nicht mehr nach dem Mass unse- Gedanke auf, wir sollten auf die Kennzeichnung Jesu als res Richtgeistes gegen andere kennen wollen. Messias Israels verzichten. Zuletzt hat dies der amerikani- sche Theologe Paul van Buren vorgeschlagen. Jesus sei 3. Liebe Freunde. In diesen Erneuerungswunsch ist ein nicht der Messias Israels. Jedenfalls sei er vom Judentum schweres, kompliziertes Problem eingeschlossen. Ich er- her als Messias schlechterdings nicht zu erkennen, auch wähne es nur kurz. Aber es ist ein Angelpunkt für die heute nicht. So verschiedene jüdische Messias-Vorstellun- Möglichkeit, Jesus zwischen Juden und Christen zu glau- gen es auch gebe: Jesus entspreche nicht einmal von ferne ben. auch nicht einem der Hoffnungstitel Israels. Darum sei es Gehört es nicht zu einem wahren Glauben, dass er von nicht nur sinnlos, diese grundjüdische Kennzeichnung sich auf andere schliessen darf? Er ist überreich beschenkt. weiter für Jesus zu verwenden. Es stecke auch feindselige Er ist scharf gerichtet. Wir erfahren ihn als Menschwer- Gesinnung darin: Man beraube Israel seiner ihm eigenen dung des Menschen. Und natürlich wird uns das zum Hoffnungsgestalten, um sie ihm dafür in einer entfremde- Mass des Menschseins schlechthin. Da beginnt das Herz ten Form aufzudrängen. zu brennen für jeden anderen: dass er es auch erfahren Diesem Vorschlag stimme ich nicht zu. Er leidet noch an möchte. Und wir beginnen, uns um sein Heil zu sorgen. unserem alten Übel, theologische Gedanken über unsere Das bleibt so, wo geglaubt wird. Die Frage ist nur: Wie eigenen Köpfe hinweg, ausserhalb unserer eigenen Glau- kommt das über die Lippen, wenn das Herz voll ist? Alles, benspraxis zu formulieren. Im Neuen Testament wird was wir sagen, enthält Urteile. Nur geht es darum, ob Ur- aber so von dem Messias Jesus gesprochen, dass es mich, teile des Glaubens als Verurteilungen anderen Glaubens der ich kein geborener Jude bin, unbedingt angeht, ohne oder des Unglaubens herausdürfen. Leider sind wir Chri- dass dadurch Israel etwas geraubt und seine messianische sten es so gewöhnt. Vom ersten Augenblick an haben wir Hoffnung vergewaltigt werden muss. gemeint, unserem Glauben Klarheit nur geben zu können Als unser Herr Jesus Christus, so erzählt es Lukas, nach durch Verurteilung dessen, was wir nicht als rechten seiner Geburt von den Eltern in den Tempel von Jerusa- Glauben meinen ansehen zu können. Wir haben immer lem gebracht wurde, um dort beschnitten zu werden, das nur Ja sagen wollen, wenn wir zugleich ein Nein heraus- heisst, um an seinem Körper das Zeichen des Israelbundes

49 eingeschnitten zu bekommen, da gab es einen alten jüdi- ihm und uns. Beziehungslos gebraucht, sind sie alle un- schen Augenzeugen dafür, Simeon mit Namen, den das wahr. Jesus ist in dem Masse Messias Israels, in dem wir tief beglückte. Er nahm das Kind auf seinen Arm und Christusgläubigen dem Volks Israel sein Reich — nun sang ihm ein Lied von seiner Zukunft. Es wird sein »ein zwar nicht »errichten«. Aber bejahen, schützen und dan- Licht zu erleuchten die Heiden und zum Preis seines Vol- ken. Und wenn sein Reich, weil das zu hoch gegriffen kes Israel«. Lukas erzählt, dass Simeon mit diesen Worten sein könnte, dann jedenfalls sein Recht inmitten der Völ- das Kind als Gesalbten des Herrn, als Messias, angesun- ker, seinen Frieden inmitten der Weltzeit. Dass wir, statt gen habe. Ich möchte gerne dies Lied zur Anleitung für ihn zum Preis seines Volkes Israel zu leben, unseren Chri- unsere Frage wählen: »Was dünket euch um Christus?« stusglauben auslebten in Judentumskritik, in theologi- Denn Jesus wird da sowohl den Heiden wie seinem Volke schen Liquidationstheorien, die bis zum heutigen Tage an Israel zugesungen. Beiden soll er etwas bedeuten. Und Theologischen Fakultäten hartnäckig behauptet werden — zwar beiden in einer bestimmten Reihenfolge. Und beiden nicht zuletzt das macht es Juden unmöglich, in unserem etwas Verschiedenes. Herrn ihren Christus zu sehen. Wenn wir ihn so glauben, Zuerst wird er ein Licht der Heiden werden. Hebräisch: ist er es auch wirklich nicht. Unser Christusbekenntnis ist Or gojim. Er wird das werden, was ein Knecht Gottes in dann nichts als Ideologie. Israel schon immer werden soll, ja wozu das jüdische Aber so muss es ja, Gott sei Dank, nicht weiter sein. Un- Volk insgesamt berufen und erwähnt ist: »Zum Licht der ser Herr Jesus Christus — der war und ist ein geborener, Völker will ich dich machen« (Jes 49, 6). Ja: »Ich, der auferstandener und lebender Jude. Wer von uns ihn Herr, habe dich in Treuen berufen und bei der Hand ge- preist, preist in ihm sein Volk Israel, wird aus einem Feind fasst, ich habe dich gebildet und zum Bundesmittler für zu einem Freund seines Gottes. Schlägt sich geistig-see- das Menschengeschlecht, zum Licht der Völker, gemacht, lisch zu diesem Volk. Schlägt sich auch politisch und ge- blinde Augen aufzutun, Gebundene herauszuführen aus sellschaftlich für es. Bekennt sich zu Jesus Christus und dem Gefängnis und die in der Finsternis sitzen aus dem macht die Erde für Israel bewohnbar. Bekehrt die

Kerker« (Jes 42, 6 -7). Wir wissen: Jesus hat diese soziale Menschheit zur Freundlichkeit für dieses Volk. Darin Berufung zum Helfer der Armen, zum Befreier der Ge- wird Jesus zum Messias Israels, dass der Gott Abrahams, fangenen in der Synagoge von Kapernaum für sich ange- Isaaks und Jakobs in uns Aussenposten unter den Weltvöl- nommen. Aber er hat auch die ökumenische Mission des kern bezieht: für den Schalom, der Israel und alle Völker ganzen jüdischen Volkes als echter, im Bund beschnitte- umfasst. ner Jude angenommen. Genau so sieht es Paulus. »Chri- Liebe Freunde. Wir sind weder urteilsfähig noch zuständig stus ist ein Diener der Beschnittenen geworden«, sagt er, für eine Erkenntnis Jesu als des Messias durch die Juden. und sein Dienst führt dazu, dass alte Verheissungen an Wir sind aber sehr zuständig für seine Erkennbarkeit. Ob er die Väter Israels bestätigt werden und die Heiden anfan- der Messias wirklich ist? Das bleibe doch offen zwischen gen, Gott zu preisen« (Röm 15, 7 ff.). Auch Matthäus: Als den Juden und uns — so offen wie alles, was er selbst er- Jesus später in Kapernaum seinen Wohnsitz nahm, da be- weisen muss. Er selbst besteht auf dieser Offenheit mit seiner gann das »Galiläa der Heiden« ein grosses Licht zu sehen, an uns gerichteten Frage: »Was dünket euch um Christus?« und die im Lande und Schatten des Todes sassen, »denen ist ein Licht aufgegangen« (Mt 4, 12 - 15). Das heisst: Jesus ist darin »Messias«, dass er zuerst uns 2 Tagung bischöflicher Delegierter Heiden angeht. Mit ihm kommt das Heil von den Juden und anderer Experten für die Beziehun- zu uns. Damit beginnt sein messianisches Werk. Er reisst uns aus unserer heidnischen Finsternis heraus, aus einem gen zwischen der katholischen Kirche Dasein ohne Gott in der Welt, aus Verfall an die Gesetz- und dem Judentum, lichkeiten einer gojisch geprägten äusseren und inneren 2.-5. 3. 1982"/**/*** Wirklichkeit, die weder von den Bündnissen noch von den Verbindlichkeiten des realen Gottes etwas weiss. Und Vom 2. bis zum 5. März 1982 fand beim Sekretariat zur er ruft uns zu Hausgenossen Gottes. Förderung christlicher Einheit die erste Tagung der von Dies aber, sagen die Zeugen des Neuen Testaments, ge- Bischofskonferenzen Delegierten und anderer Experten schieht »zum Preis seines Volkes Israel«, dem ja das für die Beziehungen zwischen der katholischen Kirche und Sohn-Gottes-Statut gehört und die Gegenwart Gottes, die dem Judentum statt. Die Tagung war von der mit dem Se- Bündnisse und die Gesetzgebung, der Gottesdienst und kretariat zur Förderung christlicher Einheit verbundenen die Verheissungen, die Väter, der Christus nach dem Kommission für die religiösen Beziehungen zum Juden- Fleisch und der über allem in Ewigkeit zu preisende Gott tum angeregt worden. Die Kommission untersteht dem (Röm 9, 4-5). Wenn Jesus dem Gott Israels die Heiden Sekretariat, aber unterscheidet sich von diesem. Fünfund- gewinnt, erfüllt sich etwas vom Berufsziel des jüdischen dreissig Personen aus fünf Kontinenten nahmen an der Volkes. Es ehrt dies Volk, dass sein Licht jetzt unter uns Tagung teil, darunter fünf Bischöfe, ein Vertreter der or- Finsterlingen leuchtet. Es bestätigt Israel in der ihm eige- thodoxen Kirche, der anglikanischen Gemeinschaft, des nen Mission, und das heisst: im Grunde seiner Berufung Lutherischen Weltbundes und des Ökumenischen Rats und Erwählung. Darin ist er wirklich der Messias Israels, der Kirchen, sowie fünf Behörden der Römischen Kurie: dass, indem er uns geborene Heiden erleuchtet, eben dies der Rat für die öffentlichen Angelegenheiten der Kirche, zum Preis seines Volkes Israel geschieht. die Kongregation für den Klerus, die Kongregation für Was heisst das? Vor allem: dass es keinen Sinn hat, über das katholische Bildungswesen, das Sekretariat für die richtige oder falsche, zutreffende oder unzutreffende Be- Nichtchristen und die Päpstliche Kommission »Justitia et griffe oder Bilder vom Messias zu streiten. Das ist Philo- Pax«*". S. E. Msgr. Ramon Torrella, Vizepräsident des logie und trägt nichts aus. Wenn wir aussagen wollen, Sekretariats zur Förderung christlicher Einheit, leitete die dass Jesus der Messias Israels sei, dann müssen wir ihn Sitzungen unter Assistenz von Msgr. Jorge Mejia, Sekretär messianisch bezeugen. Das Bekenntnis zu seiner Messia- der Kommission. nität besagt genau soviel Wahrheit, wie sie von uns ernst * Abgedruckt in »L'Osservatore Romano« (CXXII/58, 36943), Cittä Del genommen und gelebt wird. Mit allen Aussagen über Je- Vaticano, 11. 3. 1982. sus steht es so. Sie drücken ja Beziehungen aus zwischen Aus dem Italienischen übersetzt. *** S. o. S. 3 f.

50 Nachdem S. E. Msgr. Torrella die Teilnehmer begrüsst techese, den Entwurf eines Dokuments über die Darstel- hatte, stellte Msgr. Mejia die Arbeit der Kommission vor lung der Juden und des Judentums in der Katechese, der und gab einen Bericht mit Bezug über die seit dem Vati- in der Treue zu den Lehren des katholischen Glaubens kanischen Konzil bestehenden Beziehungen zwischen der und auf der Achtung vor der Gegebenheit des früheren katholischen Kirche und dem Judentum auf internationa- und heutigen Judentums basiert, so dass die Katechese ein ler Ebene. Die Darstellung bezog sich auch auf die von getreues Bild vom jüdischen Volk vermittelt. Der an- der Kommission innerhalb der katholischen Kirche gelei- schliessende Gedankenaustausch hat wesentlich dazu bei- stete Arbeit gemäss dem Dokument zur Durchführung getragen, diesen Entwurf des Dokuments zu bereichern, von »Nostra aetate« Nr. 4, das 1974 von derselben Korn- dessen Studium nun mit Hilfe der Teilnehmer innerhalb mission veröffentlicht wurde unter dem Titel »Vatikani- der Kommission für die religiösen Beziehungen zum Ju- sche Richtlinien und Hinweise für die Durchführung der dentum weitergehen muss. Zunächst berichteten die Teil- Konzilserklärung >Nostra aetate< Nr. 4«'. nehmer, die Vertreter der anderen Kirchen und des Öku- Der erste Tag war dem Studium der biblischen Aspekte menischen Rats der Kirchen über ihre Erfahrungen, Fort- der jüdisch-christlichen Beziehungen gewidmet. Sie sind schritte und Schwierigkeiten, denen der Dialog in den von grosser Bedeutung, wenn man den normativen Wert verschiedensten örtlichen Gegebenheiten begegnet. berücksichtigt, den das Wort Gottes im Alten Testament Die Tagung endete mit einer zusammenfassenden Be- für beide religiöse Gemeinschaften besitzt. Die Darstel- trachtung von S. E. Msgr. Torrella. Im Hinblick auf ein lung erfolgte durch Maurice Gilbert SJ, Rektor des entschiedeneres künftiges Augenmerk auf diesem Gebiet, Päpstlichen Bibelinstituts, der vor allem die verschiedenen sei es auf biblischer und theologischer oder auf pastoraler Bundesschlüsse zwischen Gott und dem erwählten Volk Ebene, wurden die wichtigsten Punkte der Vorträge und Israel behandelte, durch die Geschichte hindurch bis Jesus Diskussionen hervorgehoben. Christus, wobei er die allen Bundesschlüssen gemeinsa- An allen Tagen, zu Beginn der Sitzungen, hielt P. Rein- men und die jeweils spezifischen Aspekte hervorhob. Er hard Neudecker SJ, Professor für rabbinische Literatur am wollte auch die besondere Bedeutung des ewigen Bundes Päpstlichen Bibelinstitut, eine durch rabbinische Texte il- mit Abraham und seine Fortdauer in der Zeit hervor- lustrierte Meditation, mit Bezug zu Texten aus dem Alten heben. Ein Teil seines Vortrags war der Analyse einiger und Neuen Testament. Texte des Neuen Testaments gewidmet, die sich eben auf Nach Beendigung der Tagung empfing der Heilige Vater die Problematik dieser Bundesschlüsse im Zusammenhang die Teilnehmer in Audienz 3. mit der Verkündigung des Neuen Bundes in Jesus Chri- Vgl. o. S. 3. stus beziehen. In der anschliessenden Diskussion wurde die von P. Gilbert behandelte Thematik noch durch eine ausdrückliche Betonung der Komplexität der angeschnit- 3 Frühjahrstagung 1982 der Leiter tenen Probleme bereichert und erweitert. von Arbeitsgemeinschaften zum Thema Für den zweiten Tag stand das Studium der theologischen »Juden im Religionsunterricht« Aspekte der jüdisch-christlichen Beziehungen auf dem Programm. Referent war P. Jacques Marcel Dubois OP, Die Leiter der Arbeitsgemeinschaften katholischer Reli- Jerusalem, Berater der Kommission für die religiösen Be- gionslehrer der Diözese Mainz trafen sich am 22./23. ziehungen zum Judentum. Der theologische Kontext der März 1982 auf Einladung des Dezernates Schulen und jüdisch-christlichen Beziehungen war Hauptgegenstand Hochschulen in Ilbenstadt zu ihrer Frühjahrstagung, die seiner Rede, wobei er vom spezifischen Charakter solcher unter dem Thema stand: »Die Behandlung Juden und Ju- Beziehungen ausging. Er forderte, dass die wichtigsten dentum im Religionsunterricht«. Themen einer christlichen Theologie des Judentums im Als Referent konnte der Freiburger Theologe Prof. Dr. Licht 'des Glaubens und der katholischen Tradition her- Günter Biemer gewonnen werden, der sich seit 1977 im ausgestellt werden 2. Die Kontinuität im göttlichen Heils- Rahmen eines Forschungsauftrages intensiv mit der Pro- plan und die zentrale Bedeutung des Mysteriums des blemstellung befasst und mittlerweile die Ergebnisse auch toten und auferstandenen Christus sind die beiden Fix- veröffentlicht hat unter dem Titel: »Freiburger Leitlinien punkte dieser Analyse. P. Dubois hob besonders die spiri- zum Lernprozess Christen — Juden«, Bd. 2. 1/2/3 tuelle Erfahrung hervor, die in dieser theologischen Refle- Günter Biemer, der zunächst einen Gesamtüberblick über xion den Vorrang haben muss, unter Würdigung der Be- die Problematik gab, wies im Laufe der Tagung darauf deutung des »Mysteriums« Israels, von dem der Heilige hin, dass die Kirche unter Papst Johannes Paul II. weiter Paulus spricht (vgl. Röm 11, 25). das Ziel verfolge, entstellende Aussagen über die Juden Am Nachmittag desselben Tages bot Dr. Eugene Fisher, zu korrigieren. Dies sollte besonders auch in der Liturgie Sekretär des Sekretariats der Bischofskonferenz der USA und der Katechese beachtet werden. Er zitierte in diesem für die Beziehungen zwischen Katholiken und Juden, eine Zusammenhang auch die »Erklärung der deutschen Bi- Studie dar über die politischen Aspekte des christlich-jüdi- schöfe über das Verhältnis der Kirche zum Judentum« schen Dialogs. Er analysierte die Begriffe »religiös« und vom 28. 4. 1980, in der es u. a. heisst: »Allzu oft ist in der »politisch« in beiden Traditionen mit einigen Anregungen, Kirche, besonders in Predigt und Katechese, in falscher um auch zu der komplexen Realität des zeitgenössischen und entstellender Weise über das Judentum gesprochen Judentums während des Dialogs Stellung zu nehmen. worden. Falsche Einstellungen waren die Folge. Wo im- Auf die beiden Reden folgte eine vertiefte Diskussion, die mer Fehlurteile und Fehlverhalten vorliegen, sind unver- dazu diente, einige dargelegte Punkte zu illustrieren, die züglich Umdenken und Umkehr geboten.« 5 in der pastoralen Praxis zu einer besseren Orientierung Konkret zeigte der Referent an Beispielen aus Religions- verhelfen sollen. 1 Vgl. in: FrRu XXXII/1980, S. 98 f. Am letzten Tag erläuterte Sofia Cavaletti, Expertin in Ka- 2 Vgl. zu Bd. 2 der Reihe »Lernprozess Juden Christen«: Peter Fiedler, Das Judentum im katholischen Religionsunterricht in: FrRu Vgl. FrRu XXVI/1974, S. 3 ff. XXXI/1979, S. 110 ff. sowie ebd. S. 3-5: »Theologische Grundlagenfor- 2 Vgl. u. a. dazu auch: Jacques Marcel Dubois OP, Professor für grie- schung für den Religionsunterricht«. chische und mittelalterliche Philosophie an der Hebräischen Universität ' zu Bd. 3: s. u. S. 60. Jerusalem: »Gemeinsames Bezeugen des Gedenkens und der Hoffnung«, 4 s. o. S. 3 f. in: FrRu XXXII/1980, S. 42-48. 5 Dazu vgl. in FrRu XXXII/1980, S. 7-15.

51 büchern auf, wie oft ein verzerrtes Bild der »Pharisäer« den Nachbarländern an, der vom Akademiehaus kaum gezeichnet werde, dass Begriffe wie »Sabbatgebot« und bewältigt werden konnte. »Gesetzestreue« einseitig negativ besetzt seien und nicht Das Eröffnungsreferat »Karl der Grosse und der Alte selten fälschlicherweise der »strafende« Gott des Alten Bund« hielt Professor Dr. Raymund Kottje, Ordinarius Testamentes dem »liebenden« Gott des Neuen Testamen- für mittelalterliche Geschichte der Universität Augsburg. tes gegenübergestellt werde. Kottje begann mit der Bemerkung, das Thema der Ta- Ganz bewusst setzte der Beirat der AG-Leiter, der unter gung »Karl der Grosse und die Juden« sei selbst unter Ge- Federführung von Schulrat i. R. Alfons Maurer das Pro- schichtskundigen kaum zu erwarten. In der allgemeinen gramm vorbereitet und zusammengestellt hatte, das The- und zünftigen Literatur findet sich zu diesem Thema so ma »Unsere gemeinsame Hoffnung«6 an den Abschluss gut wie nichts. Demgegenüber wird Karl in der jüdischen der Tagung. Diese gemeinsame Hoffnung gründet in der Tradition als Ideal eines Herrschers und Gesetzgebers ge- Gottesherrschaft, die sich nach jüdischer Hoffnung in der sehen. Die jüdische Wertschätzung würdigt den Herr- Geschichte der Menschen am Ende durchsetzen wird, scher als Garanten eines friedlichen Abschnitts in der jüdi- nach christlicher Hoffnung als werdende Christusherr- schen Geschichte auf mitteleuropäischem Boden, der sich schaft ihrer Vollendung entgegenstrebt. von den Jahrhunderten davor und danach deutlich ab- Natürlich soll die Tagung Konsequenzen in der Lehrer- hebt. Der Referent belegte dies durch die Skizzierung der fortbildung haben. Die Leiter der Arbeitsgemeinschaften jüdischen Lage im westgotischen Reich und merowingi- wollen nun ihrerseits in Seminarveranstaltungen das The- schen Frankreich, die — besonders bei den Westgoten (6. ma »Juden« aufgreifen und für eine unterrichtspraktische und 7. Jahrhundert) — von mancherlei Bedrängnis gekenn- Umsetzung sorgen. zeichnet war: Dagegen bieten die Quellen des karolingi- schen Reichs keinen Hinweis auf rechtliche oder tatsäch- 6 Vgl. dazu: »Für ein neues Verhältnis zur Glaubensgeschichte des jüdi- schen Volkes. Erklärung der Gemeinsamen Synode der Bistümer in der liche Beschränkungen der Juden. Für die Zeit von der Bundesrepublik Deutschland, 22. 11. 1975«, in FrRu XXVII/1975, S. 5. Mitte des 8. bis zur Mitte des 9. Jahrhunderts gibt es kein (Alle Anmerkungen d. Red. d. FrRu) Zeugnis des Verbots von gesellschaftlichem Verkehr zwi- schen Juden und Christen. »Die Prüfung der Quellen kommt zu dem Fazit: die Stellung der Juden in der Zeit 4 Karl der Grosse und die Juden Karls ist ungeheuer gefestigt.« Kottje erklärte diesen Wandel durch einen Wandel des christlichen Verhältnis- Zu einer Tagung der ses zum »Alten Bund«. Die Belege für das besondere Bischöflichen Akademie Aachen* Interesse am »Alten Testament« sind zahlreich. Am be- Von Jochanan Koenig, Aachen kanntesten ist die Verehrung Karls als neuer Moses, neuer David oder neuer Salomon; am Hofe nannte man ihn Die Lage der jüdischen Minderheit in Deutschland spie- »David«, wie ja auch eine Reihe der führenden Köpfe sei- gelte in der Geschichte die Harmonien und Vorzüge, die nes Hofes alttestamentliche Namen erhielten. Die Fran- Widersprüche und Mängel der Gesamtgesellschaft wider. ken werden mit dem auserwählten Volk verglichen. Mo- Daseins- und Entfaltungsmöglichkeiten der Juden hingen doinus rühmte Aachen als »sedes davidica«, und Alkuin von der deutschen Gesamtentwicklung ab. Veränderun- sprach von Karls Aachener Pfalzkirche als dem »templum gen in der Umwelt schlugen sich — wenn auch nicht immer sapientissimi Salomonis«. Auch sind alttestamentliche Ein- in gleicher Richtung und mit gleichem Schritt — im Leben flüsse auf die christliche Liturgie der Karolingerzeit (Be- der jüdischen Gemeinschaft nieder. Ein wechselseitiger vorzugung von ungesäuertem Brot für die Eucharistie; Zusammenhang zwischen jüdischer und allgemeiner Ge- stilles Beten des Hochgebets; Weiheliturgien; Kommu- schichte in Deutschland besteht seit der Zeit, von der her nionwürdigkeit) unverkennbar. Lässt sich bei diesen Ein- eine durchgehende Geschichte der Juden auf deutschem flüssen ein persönlicher Anteil Karls nicht belegen, so ist Boden fortläuft. Dies ist die Zeit der Karolinger. er im Bereich des Rechts leichter zu greifen. Karls Gesetz- Was nun bei der allgemeinen Geschichtsbetrachtung zu gebungs- und Verwaltungsakte sehen im Alten Testament registrieren ist, lässt sich auch an der geschichtswissen- und seinen Ordnungen eine selbstverständliche Grundlage schaftlichen wie populären Darstellung der so bedeuten- der christlichen Lebensordnungen, was besonders in der den Zeit Karls des Grossen ablesen: Der Verweisungszu- Einschärfung des Sonntagsgebots und des Zehngebots sammenhang zwischen allgemeiner und jüdischer Ge- deutlich wird. Der Referent schloss: »Es ist gut begrün- schichte bleibt ausgeblendet, jüdische Existenz wird kaum det, daran zu denken: das gute Verhältnis zwischen Chri- wahrgenommen. Zwar bietet das von Wolfgang Braunfels sten und Juden im Karolingerreich geht auf das positive betreute vierbändige Standardwerk »Karl der Grosse. Le- Verhältnis der Christen zum Alten Testament zurück.« benswerk und Nachleben« (1965/67) einen Aufsatz »Karl Diese Grundthese fand bei den teilnehmenden Mediävi- und der Islam«, aber einen Beitrag »Karl und die Juden« sten Widerspruch. Prof. Dr. Friedrich Lotter (Kassel) hielt sucht man in der Festschrift richtungweisender und zünf- ihr entgegen: »Die Juden waren als wirtschaftliche Grösse tiger Karisforschung vergeblich. wichtig, so dass eine nachträgliche ideologische Legitima- Bleibt diese Zeit wirklich auf die Frage nach »Karl und tion willkommen war.« Prof. Kottje erwiderte, dass es die Juden« stumm? Bot nicht das »Alte Testament«, die Wirtschaftspolitik im damaligen Sinne noch nicht gab und Hebräische Bibel, eine Brücke zwischen damaliger Kirche nur wenige Juden Hoflieferanten waren; eine allgemeine und Judenschaft? Welche Rechtsstellung hatten die Juden wirtschaftliche Bedeutung der Juden für die Karolinger unter Karl? Diesen Fragen galt eine Fachtagung, zu der lässt sich nicht belegen. Eine Begründung der positiven die Bischöfliche Akademie des Bistums Aachen gemein- Stellung aus wirtschaftlicher Lage scheitere an der Gegen- sam mit der Aachener Gesellschaft für Christlich-Jüdische probe, nach der etwa der Jude Isaac als Angehöriger einer Zusammenarbeit ins Aachener August-Pieper-Haus ein- Gesandtschaft nach Bagdad bei den Westgoten undenk- geladen hatte. Die Referenten mit grossem Namen zogen bar wäre. »Statt dessen legt sich der umgekehrte Schluss einen Hörerkreis aus dem gesamten Bundesgebiet und nahe: Die Offenheit für das Alte Testament förderte die wirtschaftliche Bedeutung der Juden!« * Als Vortrag bei der Akademietagung am 8. 3. 1980, vgl. H. H. Henrix: Den zweiten Akzent der Tagung setzte Domkustos Prälat »Unter dem Bogen des Bundes«, s. u. S. 85 f. Dr. Erich Stephany, der bereits königliche Hoheiten und

52 Kirchenfürsten, Staatspräsidenten und Grössen des kultu- en.« Flusser schloss im Blick darauf, dass auf seinen Vor- rellen Lebens durch den Aachener Dom geführt hat. Un- schlag hin Dipl.-Theol. Henrix die Tagung ausrichtete, ter dem Thema »Alttestamentlicher Einfluss in der Pfalz- sein mit grosser Aufmerksamkeit aufgenommenes Refe- kirche Karls« erschloss er den Dom als eine architektoni- rat: »Mein Verdienst liegt nicht in dem, was ich gesagt sche Persönlichkeit, die sowohl biblische als auch römi- habe, sondern darin, dass ich das Thema >Karl der Grosse sche Züge trägt. Bei seiner Erläuterung der Anlage des und die Juden< vorgeschlagen habe.« »Paradieses«, d. h. des Vorhofes mit dem gegliederten Die Diskussion des Flusser-Referates wurde zum Exper- Zugang (vom Turmbau am Anfang des Platzes vorbei am tenaustausch der teilnehmenden Mediävisten. Prof. Lotter in der Mitte gelegenen Brunnen durch das bronzene bil- unterstrich deutlich, dass die kaiserliche Judengesetzge- derlose Doppeltor) zum oktogonalen Zentralbau, sprach bung eine Judenschutzgesetzgebung gewesen sei. Reichs- der Domkustos das in der Forschung noch ungelöste Pro- gewalt und Episkopalgewalt schützen Juden. Im Ver- blem an, woher die Bauvorstellung der Pfalzkirche gleich zu der fürchterlich antijüdischen Gesetzessamm- kommt. Behutsam trug er seinen Antwortversuch vor: lung der »Hispania« aus dem Westgotenreich des 6. und »Vielleicht handelt es sich dabei um einen Rekonstruk- 7. Jahrhunderts sei für die Situation des 10. und 11. Jahr- tionsversuch zum Allerheiligsten des biblischen Tempels — hunderts in Deutschland der Begriff der »Symbiose« an- dies nicht als Imitation aufgrund einer Archäologie, son- wendbar. Die Zeit von Karl dem Grossen bis ins 13. Jahr- dern eines Gehaltes. Der Bau dürfte auf biblische, beson- hundert ist für die Juden dA deutschen Reiches eine Zeit ders alttestamentliche Bildvorstellungen zurückgegriffen guten Lebens. Die Kreuzzüge seien in diesem Trend nur haben.« Gleichwohl atmet er eine solche geistige Weite, eine Unterbrechung. dass er römische Vorstellungen leicht integrieren kann. Dass diese äusserst strittige These nicht diskutiert wurde, »Charakteristisch für Karl ist die Mischung der Vorstel- lag an der Konzentration der Tagung auf die Zeit Karls. lungen aus alttestamentlichem und römischem Bereich.« Gewiss war der Sommer 1096 mit der Niedermachung Anschauung für diese These boten das bilderlose Doppel- der jüdischen Gemeinden am Rhein wie ein Blitz aus hei- tor und der bilderfreie Schachtbau des Oktogons. terem Himmel, hat aber die jüdische Situation nachhaltig Als letzten Referenten des zweitägigen Expertenaus- verändert. Die jüdische Minderheit stellt der Verfolgung tauschs vor einem grossen Hörerkreis stellte Akademiedo- durch die Mehrheit ein Nein entgegen, das das Leben hin- zent Hans Hermann Henrix Professor Dr. David Flusser gibt, »um den Namen zu heiligen«. Seitdem gehören für vor, der eigens aus Jerusalem angereist war und eine Vor- die nachfolgenden Jahrhunderte Verfolgung und Wider- tragsreise durch mehrere Städte am Nieder- und Mittel- standskraft zur jüdischen Existenz im deutschen Reich. rhein anschloss. Der Gelehrte der Hebräischen Universi- Das ist nicht nur Unterbrechung, das ist aus jüdischer tät referierte zur »Judenfrage aus der Sicht Karls des Sicht Weltenwende! Grossen«. Sein Referat wurde eine eindrucksvolle Lobre- Prof. Kottje differenzierte die Grundthese David Flussers: de Karls, die jüdische Tradition fortführte, eine überwäl- »Das Judenproblem hat es in der karolingischen Zeit wohl tigende Gelehrsamkeit zeigte und die zünftige Karlsfor- tatsächlich nicht gegeben. Aber es gab Judenprobleme!" schung herausfordern sollte. Flusser hob dabei weniger Es sei symptomatisch, dass Karl die Gesetze, welche die auf die Rechtsstellung der Juden unter Karl ab, sondern Rechtsstellung der Juden minderten, nicht bestätigte. zeichnete die geistige Gestalt des Herrschers. Er kenn- Aber es gab Regelungen zur religiösen Praxis, die auch jü- zeichnete Karls Verständnis des Gottesdienstes als altte- dische Praxis einschränkend betraf, wie etwa die Ein- stamentlich, das — auch angesichts politischer Vorteile ge- schärfung des Sonntagsgebots, das eine generelle Arbeits- genüber Byzanz im Falle anderer Haltung — bei der Ab- ruhe an diesem Tag durchsetzte. Kottje äusserte sich weisung der Bilderverehrung blieb. »Das Christentum skeptisch zu der Hypothese seines Jerusalemer Kollegen, Karls war nicht sentimental, sondern herrschaftlich; es wonach eine typologische Auslegung des Alten Testa- war kaiserlich.« Auch Flusser ging auf die Beziehung ments durch die Kirche eine Verschlechterung der Stel- »Karl und Rom« ein. Karl habe den Titel »imperator Ro- lung der Juden nach sich gezogen habe; die Quellen gä- manorum« nie betont aufgenommen. Ihm lag an der Er- ben für diese Fragen zu wenig Auskunft. neuerung eines kaiserlichen Gedankens, der — wie die Sal- Der Giessener Mittelalterforscher Prof. Dr. Hans Dieter bung zeigt — mit alttestamentlichen Mustern verbunden Kahl las die Bedeutung Karls des Grossen für das gemein- ist. Karl wollte ein »imperium christianum«, ging von ei- same Leben von Christen und Nichtchristen — besonders ner selbstverständlichen Einheit zwischen Altem Testa- Juden — aus dem negativen Befund ab: Karl hat die nega- ment und Neuem Testament aus und stützte sich bei sei- tiven gesetzlichen Vorgaben eben nicht aufgegriffen. Kahl nem Herrscherleitbild eben nicht auf das Neue Testa- versuchte, Karls Bedeutung durch zwei Aspekte in die ment, wo — nach einer Zwischenbemerkung des Referen- übergreifende Geschichte einzuordnen: Erstens hat der in ten — »eben nur Pilatus als Imperator erscheint«, sondern der Tagung immer wieder angesprochene Agobard von auch das »Alte Testament»; für Karl war das Alte Testa- Lyon (769-850) nicht nur gegen die Juden polemisiert, ment christlich, ohne blosser Schatten des Neuen Testa- sondern auch gegen das »Personalitätsprinzip« im Recht, ments zu sein. Karl findet in seinem Reich eine Gruppe welches ihm ein Hindernis der Reichseinheit schien. Es von Menschen, die an seine Herrscherwürde erinnern: die gab damals kein allgemeines Recht, sondern jeder hatte Juden, die in ihrer Schrift mit dem Urtext u. a. lesen, wie das Recht, nach dem Recht, in dem er geboren wurde, zu die Christen ihren König nannten: »König David«. Karl leben: die Burgunder, die Bayern, die Sachsen und neben hat keine Judenfrage gekannt. Er ist ein »terrible simplifi- weiteren anderen auch die Juden. Offensichtlich ist das cateur« eines Genies, das etwas Neues bauen will: Euro- Personalitätsprinzip für Karls Stellung zu den Juden pa. Er erneuerte die Kraft des Christentums; hier geht er wichtig! Zweitens ist Bernhard von Clairvaux mit einer Einfachheit vor, die ihn die Frage, welche in der (1090-1153) am Vorabend des 2. Kreuzzuges gegen Ju- ganzen Geschichte zwischen Christen und Juden so denpogrome aufgestanden. In seinen Predigten bezieht grundlegend und belastend ist, nämlich die Gottesmord- er sich immer wieder auf Röm 11, 25 f.: »Doch sollen sie frage, nicht stellen liess. »War es nicht eine glückliche (die Juden) sich zur Vesper (d. h. am Ende der Zeit) be- Weltstunde, als Karl so einfach über die Juden dachte, kehren, die Zeit wird ihnen Hilfe bringen. Am Ende, dass es bei ihm keine Judenfrage gab? Wo man es mit den wenn die Menge der Völker eingetreten ist, dann wird Juden hält, dort lässt sich offensichtlich Dauerhaftes bau- ganz Israel gerettet werden, spricht der Apostel (Paulus:

53 Röm 11, 25 f.).« Ein noch unbearbeitetes Forschungskapi- 5 Exodus und Exil: tel der Exegesegeschichte sei — so Kahl — die Wirkungsge- schichte dieser paulinischen Sicht auf das Verhältnis der Tagung des Deutschen Koordinierungsrats Christen zu den Juden. Offensichtlich hat die paulinische der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Vorstellung auf Karl eingewirkt. Es hat z. Z. Karls viele Zusammenarbeit, Aachen, 7. März 1982 ungetaufte Christen gegeben, so dass nach dieser heilsge- schichtlichen Sicht der Zeitpunkt des Drängens auf eine Zur Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille an Bekehrung der Juden noch längst nicht gekommen war. Schalom Ben-Chorin Ihren Abschluss fand die Fachtagung in einem Podium, das der Frage galt: »Karl der Grosse — ein >Leitbild< im in- »Exodus und Exil — vom Leben in der Fremde« : Unter dieses Thema hat- te der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jü- terreligiösen Verhältnis?«. Prälat Stephany machte darauf dische Zusammenarbeit seine Jahrestagung im März 1982 gestellt. Dazu aufmerksam, wie sehr sich der Aachener Beschäftigung schrieb Hans H. Henrix in der Einführung einer für das Jahresthema mit den am Ort befindlichen Zeugnissen Karls das Fak- eigens herausgegebenen Arbeitshilfe*: tum einer Entwicklung in der Persönlichkeit des Kaisers' »Die Begriffe von Auszug, Exil und Fremde wollen in ih- aufdrängt. Das Moment der karlischen Persönlichkeits- rem religiösen wie politischen, geschichtlichen wie aktuel- entwicklung wird in der zünftigen Karlsforschung zuwe- len, biblischen wie allgemeinliterarischen Sinn wahrge- nig bedacht und muss auch in der Beantwortung nach nommen werden. Und ihr Begreifen ist dennoch nur Frag- dem Leitbild Karl berücksichtigt werden. Und gerade für ment, das auf ein >Jenseits< allgemeiner Begriffe und die Zeit der Auseinandersetzung Karls mit den Sachsen Theorien hinweist; die Lebens-, Erfahrungs- und Biogra- (772 - 804) ist der Begriff des interreligiösen Verhältnisses phiegebundenheit des Themas. An dieser hängt es, wenn nach Professor Kahl äusserst problematisch. Denken wir im Verfolgen des Themas vielfältige einander durchdrin- heute dabei vorrangig an das Verhältnis von Juden, Chri- gende, sich überlagernde und einander gegenläufige sten und Muslimen, so stand für Karl eindeutig das Ver- Aspekte eines >Lebens in der Fremde< begegnen. An ihr hältnis zu den Heiden im Vordergrund; demgegenüber hängt es auch, wenn sich bei der Aufnahme des Themas bleibt das christlich-jüdische Verhältnis deutlich zweitran- Kontroversen einstellen mögen; für den einen ist das jüdi- gig. Wurde so vom Historischen das Recht der Frage sche Exodus- und Exilschicksal so einzigartig, dass er den nach Karl als Leitbild im interreligiösen Verhältnis proble- Vergleich mit nichtjüdischem Schicksal wie eine Verlet- matisiert, so meldete der in der Tagung durch äusserst be- zung der jüdischen Würde empfindet; für den anderen ist hutsame Argumentation hervortretende Prof. Kottje vom dieses jüdische Schicksal nur als >Modell< für das allge- Theologischen her seine Zweifel an: Wenn man so meinmenschliche Geschick bedenkenswert. Dem einen ist belangvoll und so undifferenziert auf das »Alte Testa- der >Exodus< ein Synonym für den Weg in die Freiheit ment« als Grundlage christlichen Lebens zurückgreift, wie schlechthin; dem anderen erscheint der Weg aus dem Karl das getan habe, dann handle man sich besonders mit Sklavenhaus in die Freiheit so sehr als ein Weg zur Offen- dem zeremonialgesetzlichen Element der Bibel Probleme barung am Sinai, dass ihm die Freiheit ohne Bindung an ein, die ja jüdischerseits auch vorhanden sein müssten. Gottes Gebot inhaltsleer und orientierungslos bleibt. Der Dies löste einen lebhaften Einspruch von Prof. Flusser eine sieht im Staat Israel das jüdische Exil beendet; für aus: Jüdischem Verständnis stehe die Bibel nicht in direk- den anderen bleibt ein >Staat Israel in vormessianischer tem Rückgriff zur Hand, sondern vermittelt durch die Zeit< ebenso Exil wie andere Länder.« Tradition, die ja auf die Probleme etwa der Tempellosig- keit und des Verlustes der Autonomie ihre Antwort gibt. Die Tageszeitung »Aachener Nachrichten (AN)« schreibt am 6. 3. 1982: 1 Hier zeigt sich eine beträchtliche jüdisch-christliche Aachen: — »Der Frieden wird durch Überrüstung und Differenz. Im übrigen schien Flusser noch am meisten der Verletzung des Gleichgewichts ebenso bedroht wie durch Hauptfrage des Podiums abgewinnen zu können. Und er Hass, Menschenverachtung und verblendete Ideologie.« wendete sehr entschlossen den Blick vom Historischen ins Diesen Satz stellte Bundesminister Dr. Dieter Haack sei- Gegenwärtige, um ein heutiges Leitbild christlich-jüdi- nen Grüssen voran, die er am Sonntagmorgen im Namen schen Verhältnisses vorzulegen. Dazu zitierte er den Aa- der Bundesregierung der Festversammlung überbrachte, chener Bischof Prof. Dr. Klaus Hemmerle, der im Vor- die sich zur Eröffnung der »Woche der Brüderlichkeit« wort zum Arbeitspapier des Gesprächskreises »Juden und im Krönungssaal des Aachener Rathauses eingefunden Christen« beim Zentralkomitee der Deutschen Katholiken hatte. Höhepunkt dieser Veranstaltung war die Verlei- vom 8. Mai 1979 u. a. schrieb: »Nicht nur Berührung an hung der Buber-Rosenzweig-Medaille an Schalom Ben- den Rändern, sondern Berührung von Mitte zu Mitte. Chorin aus Jerusalem 2, jenen Wissenschaftler, der es wie Nicht nur Aufarbeitung der ungeheuren geschichtlichen kaum ein zweiter verstanden hat, nach den schrecklichen Last, die auf dem gegenwärtigen Verhältnis liegt, nicht Ereignissen des sogenannten Dritten Reiches das Ge- nur Rückweg zur gemeinsamen Wurzel und der Weise, spräch zwischen Juden und Christen neu in Gang zu brin- wie aus ihr vor Jahrhunderten gemeinsames Erbe wuchs, gen und zu versachlichen. nicht nur Zugehen auf gemeinsame Aufgaben, wobei aber Die Veranstaltung im Rathaus — der zahlreiche Ehrengä- die unterschiedliche Motivierung und der unterschiedli- ste von Bund, Land und Stadt beiwohnten — wurde vom che Glaubenshintergrund auf sich beruhen blieben. Nein, gegenwärtiges, aus seinem Ursprung lebendes, die eigene * Vgl. dazu: »Exodus und Exil«, Arbeitshilfe: 1982 hg. v. Deutschen Ko- Substanz ganz und gar an- und ernst nehmendes Juden- ordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenar- tum und Christentum stossen vor in die Gleichzeitigkeit beit, Frankfurt/M., 86 Seiten. des Gesprächs über das, was den Juden zum Juden und ' Nr. 55, Jo Winkens unter der Überschrift: »Chorin ergriff die ausge- den Christen zum Christen macht.« streckte Hand .. .« 2 Geboren 1913 in München, emigriert 1935 nach Palästina. Der Text der Verleihungsurkunde lautet: »Der Deutsche Koordinierungsrat der Ge- sellschaften für Christlich Jüdische Zusammenarbeit verleiht Herrn Scha- lom Ben-Chorin in Anerkennung seiner Pionierarbeit für ein besseres Ver- ständnis von Juden und Christen, Israelis und Deutschen sowie in Würdi- gung seiner Verdienste um eine auch Nichtjuden verständliche Interpreta- tion des jüdischen Glaubens, seine Deutung christlicher Urgestalten aus ih- rer jüdischen Umwelt, die Buber-Rosenzweig-Medaille für das Jahr 1982.«

54 ZDF original übertragen. Der Krönungssaal des Rathau- Hand, die nicht ergriffen wird, herabsinkt und sich viel- ses — am Sonntagmorgen präsentierte er sich einmal mehr leicht wieder zur Faust ballt.« in seiner ganzen Geschichtsträchtigkeit als würdiger Rah- [Aus der >Allgemeinen jüdischen Wochenzeitung<. 3]: men für eine Veranstaltung, die eigentlich und überhaupt der Bewältigung unserer Vergangenheit diente. Einer Anstelle einer Festrede wählte man bei dieser Eröffnungs- Vergangenheit, die, wie es Martin Stöhr von der Akade- feier den Dialog in Form einer Podiumsdiskussion, zu der mie Arnoldshain formulierte: ». . . nicht zur missverstan- sich Schalom Ben-Chorin Dr. Hans Lamm, Bischof Dr. denen Bagatelle werden darf«. Klaus Hemmerle und der nordrhein-westfälische Minister- Der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für präsident und Synodale der Evangelischen Kirche im Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, der in das Rathaus Rheinland, Johannes Rau, zusammenfanden. Moderator eingeladen hatte, will die diesjährige Woche der Brüder- Pfarrer Martin Stöhr stellte gleich eingangs die Frage, was lichkeit unter das Motto gestellt wissen: »Exodus und Exil Juden und Christen am Exodus lernen könnten, die Bi- — vom Leben in der Fremde«. schof Hemmerle dahingehend beantwortete, dass »der Grund genug für den Landesrabbiner Dr. N. Peter Levin- Exodus eine >bleibende Grundfigur< sei dafür, dass das son, in seiner Ansprache zu betonen: »Woche der Bürder- Reich Gottes auch in der Zukunft bestehe«. Schalom Ben- lichkeit! Für viele klingt das zynisch, angesichts der massi- Chorin verwies, ergänzend dazu, auf die beispielhafte ven Unbrüderlichkeit, die uns allerorts umgibt. Juden, Durchsichtigkeit der Bibel: »Gott ist der Führergott aller und nicht nur sie, sind verunsichert. Der unmenschliche Völker, er führt sie aus der Knechtschaft in die Freiheit.« Geist des Nationalsozialismus spukt wieder durch die Der Exodus-Gedanke habe für alle Völker seine Aktuali- Lande. Fremdenhass lodert auf. Die Vergangenheit wird tät behalten. entweder bagatellisiert oder glorifiziert. Das Demokratie- Die Frage Johannes Raus »Wie gewinnen wir die Selbst- verständnis ist angeschlagen. Auschwitz wird zur Lüge verständlichkeit wieder zu einem Gespräch unter Brü- degradiert.« dern, zu denen die Araber und die Türken auch gehö- Aber damit nicht genug. Rabbiner Levinson wies auch ren?«, die mit grossem Applaus aufgenommen wurde, er- darauf hin, dass nicht nur die Opfer von gestern Unsi- weiterte Pfarrer Stöhr durch die Frage, wie dem wachsen- cherheit ergreift. Wörtlich sagte Levinson: »Die Angst den Hass gegen Ausländer zu begegnen sei. Sehr bündig geht um. Vor der Zerstörung, den Megatonnen, dem un- gab Rau darauf die Antwort, dies sei nur durch Gespräche sagbaren Unheil. Und eine Jugend geht auf die Strasse, möglich. Und was er weiterhin zu bedenken gab, sollte nicht um zu randalieren, sondern der Schrecken sitzt ihr auch im christlich-jüdischen Dialog immer wieder be- in den Gliedern. Einige lähmt er und andere träumen. wusst bleiben: »Es gibt Fremdheiten, und diese Fremdhei- Vom Leben, von der heilen Natur und von der Liebe als ten müssen abgebaut werden. Wir haben es zu tun auch Antwort auf den Tod.« mit dem Zusammenstossen von Kulturkreisen.« Bundesminister Haack, der in seinem Grusswort die Ge- Bischof Hemmerle, der die Ansicht vertrat, dass aus dem fährdung des Friedens durch Überrüstung und Verlet- Gespräch zwischen Juden und Christen »eine ganz spe- zung des Gleichgewichts formulierte, meinte auch: »Un- zielle innerchristliche Dynamik freigesetzt« werde, die sere Verantwortung im freien Teil unserer Nation ist es, »gegenüber politischen Kurzschlüssen sehr hellsichtig ma- dafür zu sorgen, dass niemals mehr Menschen von hier chen« könne, hielt die Kirche für den geeigneten Sammel- aus ins Exil gehen müssen und diejenigen, die aus politi- punkt, dies Gespräch zu fördern — eine These, der Johan- schen, rassischen oder religiösen Gründen um Asyl nach- nes Rau allerdings widersprach, »weil die Leute nicht suchen, bei uns menschenwürdig leben können. Dem christianisiert werden wollen«. Doch so engagiert sich der Fremdenhass und der Ausländerfeindlichkeit muss ent- Ministerpräsident auch für den Dialog mit den ausländi- schieden begegnet werden.« schen Mitbürgern einsetzte, so zeigte er auch sehr reali- Und dann trat der Wissenschaftler, der es sich zur Le- stisch die Gefahren auf, die etwa eine allzu grosszügige bensaufgabe gemacht hat, der Aussöhnung und der Ver- Handhabung des Asylrechts nach sich ziehen muss: »Asyl- ständigung zwischen Juden und Christen zu dienen, Scha- recht wird, wenn es nur in Anspruch genommen wird, lom Ben-Chorin, der einmal Fritz Rosenthal hiess, unter >weil's hier schöner ist<, eines Tages nicht mehr brauchbar dem Beifall der Festversammlung an das Rednerpult. Ein sein für die, die es brauchen.« Redner, der für seine Auszeichnung einfach »Dank« sa- Pessimistisch zu allen Bemühungen, Brüderlichkeit zu gen wollte. Und den begann er so: »Zu den Lieblingsge- schaffen, äusserte sich Dr. Hans Lamm. »Wie kann die dichten meiner Jugend gehörte die Ballade von Schiller Botschaft der christlich-jüdischen Zusammenarbeit, der >Der Graf von Habsburg., die mit den Worten beginnt: Toleranz gegenüber Ausländern und Asylanten dem >Zu Aachen in seiner Kaiserpracht. Die Schönheit dieses >Mann auf der Strasse< klargemacht werden?« war seine Gedichtes hat mir immer wieder Tränen der Rührung in brennende Frage. Er habe oft das Gefühl, im Rahmen des die Augen getrieben, aber ich konnte wohl nicht ahnen, christlich-jüdischen Dialogs »in einem luftleeren Raum zu dass sein Anfang autobiographische Bedeutung für mich leben«. erlangen würde. Und nun ist es soweit, in der kaiserlichen Auch Schalom Ben-Chorin nahm Stellung zu dem Pro- Pracht des >altertümlichen Saales< darf ich eine Ehrung blem des Fremdenhasses, da man in Israel vor einer ganz entgegennehmen.« ähnlichen Frage stehe. »Ein Land, zwei Völker — das ist Woche der Brüderlichkeit — Mahnung für das Gestern — die Frage, vor die wir gestellt sind. Und es ist wichtig, Aufgabe für das Heute. Schalom Ben-Chorin umriss sie dass wir dabei dasselbe erkennen wie Sie: dass einerlei so: »Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges tat sich mir Recht herrsche zwischen dem Bürger und dem Fremdling, in Deutschland (er war bisher wieder über dreissigmal wie es uns die Heilige Schrift einschärft: Der Fremdling, hier) ein neues weites Feld der Begegnung auf. Das christ- der in deinen Toren lebt, ist dir gleichgestellt.« Hier kä- lich-jüdische Gespräch in diesem Land war teuer erkauft, men wir auch zu der Frage von Exodus und Exil zurück, mit dem Blut der Millionen Opfer des Holocaust. Erst fuhr Ben-Chorin fort, nachdem der anhaltende Applaus durch dieses furchtbare Geschehen war der Weg frei ge- für seine klare Stellungnahme abgeebbt war. »Wie wird worden zu einer Begegnung, die nun an die Stelle der [XXXVII/11], 12. 7. 1982: Aus einem Beitrag von Bolke Jacobs unter >Vergegnung< trat. Ich habe die hingestreckte Hand er- der Überschrift: »Der Fremdling ist dir gleichgestellt. Eröffnungsveran- griffen, denn es war mir klar, dass eine hingestreckte staltung zur Woche der Brüderlichkeit«.

55 denn das begründet in der Heiligen Schrift? Weil ihr Für die Juden, die im Lauf ihrer Geschichte mehrfach selbst Sklaven und Fremdlinge Israels im Lande Ägypten Exodus und Exil erlebten, hatten dabei, so Ben-Chorin, wart. Deshalb dürfen wir alle das Herz nicht verschliessen immer eine »unverwüstliche Heimat« bei sich — die »he- vor dem Andersgearteten, der unser Bruder ist« .. . bräische Bibel«. Er selbst fühlt sich als »Repräsentant einer Walter Leo Schwarz unterstrich in einem Nachwort, Ex- scheidenden Generation, zwischen zwei Heimaten, die odus und Exil seien einzigartig im Volke Israels. »Denn aus Exodus und Exil erwachsen sind«. alle anderen Exile dieser Erde haben ihr Mass im Leben Ben-Chorin versteht sich als Bürger »im Zweistromland, und in der Geschichte Israels. Seine Auserwählung ist es, das für mich durch Isar (München) und Jordan (Jerusa- Hilfe für alle zu sein, aus dem Exil in die Heimat aufzu- lem) gekennzeichnet wird«. Heimat ist für ihn da, »wo brechen.« Umrahmt wurde die Feierstunde durch hebräi- der Mensch dem Menschen begegnet«. Israel war für sche und lateinische Gesänge der Schola cantorum St. Foil- Ben-Chorin, der sich selbst als »Zionist« bezeichnet, frü- lan, Aachen. her »das Land der Verheissung«. Heute sei es für ihn Die Tendenz der Gesellschaften für Christlich-Jüdische »Land der Bewährung«. Er fügte in der Diskussion hinzu: Zusammenarbeit, den christlich-jüdischen Dialog auszu- »Nur das Land der Bewährung kann Land der Verheis- weiten auf andere Minderheiten in Deutschland, wurde in sung werden.« Im Rückblick auf sein Leben könne er diesem Jahr nachdrücklich verstärkt. Sosehr das zu be- auch sagen: »Ich durfte die neue Heimat gewinnen, ohne grüssen ist, sollte dabei nicht aus dem Auge verloren wer- die alte zu verlieren.« Und weiter: »Das Herz ist weit wie den, dass wir in der theologischen Aufarbeit zwischen Ju- die Welt. Es macht das Exil zur Heimat, aber nie die Hei- den und Christen noch ebenso am Anfang stehen wie im mat zum Exil.«5 zwischenmenschlichen Miteinander. Der Status wirklicher Dem Festakt im Krönungssaal schloss sich ein auch in- Brüderlichkeit ist noch lange nicht erreicht — einige Sätze, haltsreicher Empfang des Ministerpräsidenten von Nord- die innerhalb dieser Eröffnungsfeier fielen, machten dies rhein-Westfalen, Johannes Rau, im Weissen Saal an. deutlich. Etwa wenn der Fernsehkommentator es begrüss- »Im Rahmen der Aachener Akademietagung, die Diplom- te, dass sich Judentum hier einmal nicht »als Selbstzweck theologe Hans-Hermann Henrix leitete, feierte Schalom repräsentiert und präsentiert« und keine »Besinnungsstun- Ben-Chorin mit den rund 180 Teilnehmern den Kid- de über die tragische Vergangenheit zwischen Christen dusch, die häusliche Sabbatfeier. Ein Sabbatmorgengot- und Juden« gehalten worden sei. Wenn Wohnungsbau- tesdienst in der Aachener jüdischen Gemeinde an der Op- minister Haack unterstrich, »besonders Deutsche und Ju- penhoff-Allee, die Eröffnung einer Ausstellung sowie eine den« seien zur Versöhnung aufgerufen. Oder wenn einer Dom-Führung gehörten ebenfalls zum Programm der Ta- der Diskussionsteilnehmer sagte: »Vom Leben in der gung.«6 Das eindrucksvolle Schlusswort' hielt Walter Leo Fremde können die besser erzählen, die heute in diesem Schwarz, Lic. theol., der geschäftsführende Vorstand der Land leben . . . Juden, Sinti und Roma und die Auslän- Aachener Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammen- der.« Solche Sätze können auf die Gefahr aufmerksam arbeit. Gertrud Luckner machen, dass die Beschäftigung mit dem Ausländerpro- Aus: »Trotz Exodus und Exil — Heimat der Juden blieb die hebräische blem eine Distanzierung von den Juden zur Folge haben Bibel«, von Kurt Holz, in: »Der Weg. Evangelisches Sonntagsblatt für kann — eine Gefahr, vor der sich die Gesellschaften für das Rheinland« (37/12), 28. 3. 1982. 6 Eindrucksvoll war auch die Ausstellung »Bilder zur Geschichte des Ju- Christlich-Jüdische Zusammenarbeit hüten sollten.; dentums« von Martin Reisberg und Bitia Rosendor im Atrium am Elisen- Bolke Jacobs brunnen, die wir am Samstagabend, 6. 3., erleben konnten. — Erfreulich auch, dass am Montag, 8. 3., im Evangelischen Gemeindehaus eine Aus- Aus der Ansprache von Ben-Chorin sei ferner noch be- stellung mit Bildern von dem verstorbenen, früher in Jerusalem lebenden richtet*: Ben-Chorin entschloss sich 1935, nach Verhaf- Jakob Steinhardt eröffnet wurde. Zugrunde lag das Wort Ruts zu ihrer Schwiegermutter: >Wohin du tungen durch die Gestapo, zur Auswanderung. »Ein An- gehst, gehe auch ich, und wo du bleibst, da bleibe auch ich. Dein Volk ist gebot von Verwandten, nach Argentinien zu gehen, mein Volk, und dein Gott ist mein Gott< (Rut 1, 16). >Es ist das Bekennt- schlug er aus: >Ich sagte mir damals, wenn schon in nis einer Nichtisraelitin zum Gott Israels. Es zeigt, dass Gott auch den Deutschland keine Heimat möglich ist, obwohl der Heiden, die sich zu Abraham und seinen Nachkommen, zum Volk Israel, bekennen, Segen und Heil schenkt< (vgl. Gen 12, 3). — (Vgl. »Die Bibel. Stammbaum bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht, was soll Einheitsübersetzung«, Herder 1980). — Bedauerlicherweise fehlt hier der ich dann in Argentinien?< meinte er. >Die Kompassnadel Raum zur Wiedergabe des Beitrags. meines Herzens wies nach Jerusalem.< In Israel traf er auf (Alle Anmerkungen d. Red. d. FrRu.) einen schottischen Geistlichen, der die presbyterianische Gemeinde in Tiberias leitete. Durch diese Begegnung wurde Ben-Chorin zur Teilnahme am jüdisch-christlichen Gespräch angeregt: >Mission hat es gegeben in Israel, aber 6 Papst ehrt Opfer des National- Dialog zwischen zwei gleichberechtigten Partnern stellte sozialismus"- etwas Neues dar. Statt Überredung gab es Unterre- dung< . . .« »Zugewachsen ist ihm das Gespräch zwischen Johannes Paul II. hat in den Ardeatinischen Höhlen bei Rom Juden und Christen, gesucht habe er es nicht.« 4 »In Jeru- der 335 Italiener gedacht, die [am 24. und 25. März] 1944 salem — beschrieben in einem weiteren autobiographi- von deutschen Truppen als Geiseln in den Steinbrüchen schen Werk — wurde der Schriftsteller und Journalist in erschossen worden waren'. Die Opfer dieser Racheak- den 40er Jahren verstärkt zum Theologen: Er suchte ei- tion, Italiener und italienische Juden, waren als Vergel- nen Mittelweg zwischen streng gesetzestreuer Orthodoxie tung dafür ermordet worden, dass italienische Wider- und dem säkularen Judentum (>dem Zion ohne Gott<, wie standskämpfer bei einem Bombenanschlag 33 deutsche Ben-Chorin es nennt), gründete die erste jüdische Reform- Soldaten getötet hatten. Der Papst legte am 38. Jahrestag gemeinde. Und bemühte sich, den jüdisch-christlichen des Massakers in Begleitung von Angehörigen der Opfer Dialog in Gang zu setzen.« 2 Blumen an dem Denkmal [der >Fosse Ardeatine<] nieder. Schalom Ben-Chorin nannte Exodus und Exil eine »sich immer wiederholende Grundstruktur« für das Judentum. * In: DIG-Informationen (12/2), Bonn, Juli 1982. 1 Vgl. dazu: »Kreuz und Davids-Stern«, eine Aufnahme von den >Fosse

4 In: >Aachener Volkszeitung<, 8. 3. 1982, unter der Überschrift: »Das Ardeatine<, wo Kreuz und Davids-Stern bezeugen, dass Christen und Ju- Herz als Kompass wies ihm den Weg«, von Dietmar Milgon. Vgl. a. a. 0. den zum ersten Mal gemeinsam verfolgt wurden; in: Beilage zum FrRu Nr. 54, 6. 3. 1982 in: »Die Sprache als Heimat«. III/IV, Nr. 12/15 (Dezember 1951).

56 7 Resolution des Verwaltungsrats siede< ist Bekenntnis und Klage zugleich — der alte nordi- sche Glaube hatte hierfür die beängstigende Vorstellung des Zentralrats der Juden von der Götterdämmerung.« in Deutschland In diese Welt der jugendlichen Rebellion und der kultu- In einer Sondersitzung in der vergangenen Woche in Frankfurt hat der rellen Umwälzungen hinein wurden zwei Männer gebo- Verwaltungsrat des Zentralrats der Juden in Deutschland die folgende ren, die Freunde und Partner werden sollten: Gustav Resolution beschlossen: Landauer', 1870 in Karlsruhe geboren, und Martin Bu- »Die Juden in Deutschland sind besorgt, dass in weiten ber2, 1878 in Wien. Und so wie das »Fin de siede«, in Kreisen der Bevölkerung und in der Publizistik die militä- dem beide ausserordentlich früh auch wissenschaftlich rische Auseinandersetzung im Libanon mit der Massen- heranreiften, eine Epoche der Rebellion und Umwälzun- vernichtung der Juden durch den Nationalsozialismus gen war, so waren Landauer und Buber dazu prädestiniert gleichgesetzt wird. Bisher schon haben extrem rechte wie und entschlossen, Rebellen und Kulturrevolutionäre zu extrem linke Gruppierungen undifferenziert den Staat Is- werden. »Wir wollen nicht die Revolution, wir sind die Re- rael und die Juden angegriffen und verunglimpft. Dass volution«, sagte Buber einmal vor dem Hapoel Hazair 2a. sich jetzt auch insonderheit kirchliche Kreise, politische Landauer und Buber waren Kulturrevolutionäre'; Vertre- Organisationen und gewerkschaftliche Gruppierungen, ter geistiger Erneuerung als Weg zur Umwälzung der Ge- die bisher der Aussöhnung zu dienen vorgaben, daran be- sellschaft. Beide stammten aus jüdischen Familien, in de- teiligen, macht uns betroffen. Wir können uns des Ein- nen kaum noch jüdische Traditionen lebendig waren, und drucks nicht erwehren, und verschiedene Vorgänge in beide, der Wärme eines jüdischen Familienlebens schon deutschen Städten sind der Nachweis dafür, dass ein Anti- früh entrissen, erreichten schon in jungen Jahren ein un- semitismus aufbricht, den wir überwunden glaubten. Die gewöhnliches Niveau in ihren wissenschaftlichen Arbei- Ereignisse der letzten Wochen machten deutlich, wie ten. Beide heirateten nichtjüdische Frauen in jungen Jah- dünn und brüchig der Boden ist, auf dem sich unsere De- ren. Wir verstehen ihre Arbeit, ihre Bewegungen, ihre Be- mokratie bewegt. ziehungen und ihren Einfluss am besten im Kontext jener Wir beklagen jedes Opfer, ob Christen, Moslems oder Ju- europäischen Welt, deren Erben sie waren. Buber kannte den. Wir könnten jedoch die vielerorts geäusserte Anteil- zeit seines Lebens keine materiellen Nöte, weder in Euro- nahme ernster nehmen, wenn sie auch früher für die Bür- pa (Wien, Lemberg, Berlin, München, Florenz und ger des Staates Israel und für die durch den Terror der Frankfurt) noch in Israel, wo er ein zweites Zentrum für PLO gefährdeten und gemordeten Juden in ganz Europa seine Schaffenskraft fand. Landauer wurde im Alter von und für die von der PLO seit Jahren bedrohten und er-' 49 Jahren aus dem Leben gerissen, ermordet für seine Be- mordeten Libanesen geäussert worden wäre. teiligung an der Münchener Revolution von 1919, deren Wir erwarten, dass die Parteien, die Kirchen, die Gewerk- Kulturkommissar er gewesen war. Sein Leben war immer schaften und die zuständigen Staatsorgane ihre Absicht, unruhig, bedrängt von finanziellen Sorgen, sei es in den die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus wachzuhalten Studentenjahren in Heidelberg, Berlin, Zürich oder und daraus zu lernen, beibehalten, um die Bürger zu befä- Strassburg, oder in seinen späteren Jahren in London, higen, zwischen dem organisierten Massenmord durch Hermsdorf oder Krumbach. Seine erste Ehe mit einer die Nationalsozialisten und der Auseinandersetzung im nicht jüdischen Arbeiterin, die er in anarchistischen Krei- Libanon zu unterscheiden.« sen kennengelernt hatte, endete in Scheidung; eine Toch- ter aus dieser Ehe überlebte, eine andere starb früh, seine (In: Allgemeine jüdische Wochenzeitung, XXXVII/31, Düsseldorf, 30. 7. erste Frau erlag der Tuberkulose. Auch die zweite Ehe 1982.) war überschattet von Not und Tragik, sosehr sie durch persönliches Glück, fruchtbare schriftstellerische Zusam- 8 Genossen in Utopia*: menarbeit und die Geburt zweier Töchter bestimmt war. Landauer wurde dreimal (1893, 1896 und 1899) wegen Martin Buber, Gustav Landauer** seiner politischen und jounalistischen Aktivitäten nach langen Prozessen zu Gefängnisstrafen verurteilt; seine Von Dr. Ruth Link-Salinger (Hyman), zweite Frau, die jüdische Dichterin und Übersetzerin New York, Professor für neuere Hedwig Lachmann, starb 1918 nach kurzer Krankheit. Geschichte und Philosophie*** Wichtiger als die Wendungen ihrer persönlichen Schick- sale ist jedoch die Richtung, in der beider Leben parallel Von Max Nordau, dem Propheten des »Fin de siede«, lief. Landauer wurde um 1891, als Student in Zürich, zum stammt folgende Beschreibung der Epoche zwischen 1890 radikalen Sozialisten. Auf den Kongressen der Sozialisti- und 1900: »Die derzeitige Situation ist seltsam verwir- rend, eine Mischung aus fieberhafter Unruhe und offener 1 Vgl. R. Link-Salinger (Hyman), Nachwort zu Gustav Landauer: Er- kenntnis und Befreiung, Suhrkamp, Frankfurt 1976; dsb, Gustav Landau- Verzweiflung, aus Angstvisionen und verlogenem Ab- er: Philosopher of Utopia, Hackett, Indianapolis 1977; dsb, Gustav scheu. Vorherrschend ist ein Gefühl der Angst, Angst vor Landauer in: »Historical Transmission«, in: Proceedings. American Aca- dem drohenden Untergang und der Vernichtung. ,Fin de demy for Jewish Research, Bd. 41-42; Oeuvres Gustav Landauer in: ebd., Bd. 43. Vgl. auch dsb, »Themes an the Study of 19th and 20th Cen- * Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Berger. tury Utopianism«, in: Bulletin, Centre Universitaire d'Etudes Europeen- ** Diese Fassung entstand zur Zeit eines Symposiums vom 3.-6. 1. 1978 nes, März 1975. Hilfreich für eine Neubewertung von Landauer waren in Beer Sheva anlässlich des 100. Geburtstags von Martin Buber. Kürzere die Staatsarchive des Innenministeriums der DDR in Merseburg und Fassungen dieses Aufsatzes wurden u. a. beim Weltkongress für Judastik Potsdam, die die Verfasserin einsehen konnte; dsgl. das Landauer-Ar- (Jerusalem 1973), vor dem religionsgeschichtlichen Institut der Columbia chiv, jetzt Teil des Buber-Archivs der Universitätsbibliothek in Jerusalem. University (1975), vor dem Department of Religion der Temple Universi- 2 Vgl. G. Schaeder: Martin Buber. Hebräischer Humanismus, Vanden- ty (1974) und dem philosophischen Institut der San Diego State Universi- hoeck & Ruprecht, Göttingen 1966; Martin Buber: Briefwechsel aus sie- ty (1976) vorgetragen und diskutiert. ben Jahrzehnten, L. Schneider, Heidelberg, Bd. I 1972, Bd. II 1973, Bd. *** Ruth Link-Salinger (Hyman) war im Sommersemester 1979 und III 1975. 1980 Gastprofessorin für Politische Wissenschaft und Germanistik an der Hapoel Hazair (wörtl. »Der junge Arbeiter«) — Zionistisch-volkssozia- Freien Universität Berlin; im Sommersemester 1981 mit einem Lehrauf- listische Gruppe. (Anm. d. Red. d. FrRu). trag für jüdische Philosophie und Geschichte an der Kirchlichen Hoch- Vgl. von der Verfasserin: Gustav Landauers »Revolution«, in: Interna- schule Berlin und im Wintersemester 1979 als »Professor of Philosophy« tionale Wissenschaftliche Korrespondenz. Historische Kommission, Freie an der Yeshiva University in New York. Universität Berlin 1975.

57 schen Internationale von 1893 und 1896 versuchte er ver- Menschen, die neue Gesellschaft schaffen und so den au- geblich, die Aufnahme der Anarchisten als gleichberech- toritären europäischen Nationalstaat unterminieren soll- tigte Delegierte durchzusetzen. Während der neunziger ten'. Buber, eine starke intellektuelle und charismatische Jahre begann seine Mitarbeit an der Zeitschrift der deut- Kraft in den zionistischen Studentengruppen von Prag schen Anarcho-Sozialisten, dem »Sozialist«, von und Wien (gegründet von jüdischen Studenten wie Hans

1909 - 1915 war er ihr Chefredakteur. Im Berlin der neun- Kohn, Hugo Bergman und Robert Weltsch), entwickelte ziger Jahre und der Jahrhundertwende kam es zur Grün- die revolutionäre Ideologie von Bar Kochba und Hapoel dung der »Neuen Freien Volksbühne«, ein Versuch, mo- Hazairu. In das Programm dieser Gruppen brachte er die dernes Theater in Berlin einzuführen, an dem sich Buber Gedanken und Werke Landauers ein; diese begründeten und Landauer beteiligten. Beide gehörten auch zur »Neu- die Überzeugungen der Kommunalisten und Kultursozia- en Gemeinschaft« der Brüder Hart, einer Gruppe von listen wie A. D. Gordon und Chaim Arlosoroff. In einer Linksliberalen, die auf kulturellem und sozialem Weg die neueren Arbeit von Elkanah Margalit (hebräischer Titel:

Gesellschaft erneuern wollten. Ihr Programm hatte aller- Hashomer Hazair 1913-36 8) wird der Einfluss der deut- dings mystische, religiöse Untertöne, und Landauer di- schen Wandervögel, der Jugendbewegung, der neuen stanzierte sich bald wieder davon. Seit 1908 gehörten Bu- Psychologie und der messianischen Strömungen im euro- ber und Landauer zum »Sozialistischen Bund«, einer von päischen Sozialismus auf die ersten Kibbuzim und Ge- Landauer gegründeten sozialistischen Bewegung, deren meinschaftssiedlungen nachgewiesen, die vor 1925 durch ideologische Grundlagen Kommunalismus und Kultur- Auswanderer aus Zentraleuropa gegründet wurden. Populismus waren. Der Sozialistische Bund hatte bis zu Hier hat Landauer seine geistigen Erben gefunden — dank seinem Verbot im Ersten Weltkrieg (1915) mehrere Zellen Bubers Einfluss. Buber brachte Landauers Vermächtnis in in Deutschland. 1914 gründete Buber mit einer kleinen jene zionistischen Gruppen hinein, in denen er arbeitete: Gruppe holländischer, norwegischer und deutscher Pazi- in jene Gruppen, die im Zionismus einen radikalen Bruch fisten, darunter Landauer, den »Blutbund« jener, die Frie- mit der Vergangenheit sahen; für die der Zionismus die den und Verständigung in der Welt verwirklichen woll- geistige Wiedergeburt des Judentums und seine Vereini- ten. Diese Gruppe, die später den Namen »Forte-Kreis« gung mit der Natur und den eigenen uralten Traditionen erhielt (für 1915 war ein Treffen in Forte, Italien, vorge- bedeutete; für die die Kibbuz-Bewegung der entschiedene sehen, und der Name setzte sich durch, auch wenn dieses Bruch der jungen, aktiven, arbeitenden Juden mit einer Treffen nie stattfand), sollte von vornherein nicht mehr dekadenten bürgerlichen Existenz unter den Unterdrük- als hundert Mitglieder umfassen — ein Beispiel für jene kern war. Für Buber, wie für Landauer, bedeutete Sozia- zahllosen kleinen »Bünde«, die für Deutschland und lismus einen Neuanfang, die Vergeistigung des Lebens Frankreich in dieser Zeit so typisch waren. Kleine Grup- und der gesellschaftlichen Verhältnisse, den Aufbau einer pen mit sozialen Programmen wurden von Intellektuellen freien Gemeinschaft, die Verwirklichung des Ichs in Dia- der Rechten wie der Linken ständig neu gegründet und log, Zusammenarbeit und Harmonie mit anderen — eine wieder aufgegeben; lose Gruppen und Vereinigungen die- Vergöttlichung durch das Ausstrecken nach dem Göttli- ser Art versammelten sich dauernd in den Kaffeehäusern chen. und Kneipen von Paris, Berlin, München und Wien. Die- Von entscheidender Bedeutung sind dabei Begriffe wie se politisch-literarischen Vereinigungen waren ein wesent- Tat, Geist und Zukunft. Revolution ist Neuanfang — und liches Kennzeichen des europäischen Lebens im 18. und dieser beginnt bei einem selbst. Die Geisteshaltung ist exi- 19. Jahrhundert — ebenso wie die unzähligen kleinen Zeit- stentialistisch: Man hat ein Leben, ein Selbst, eine Tat schriften für Literatur und Politik. (den Neuanfang), und die Zeit dafür ist jetzt. Die europäische politische Situation begünstigte nicht nur Beide, Buber wie Landauer, standen unter dem Einfluss die Entstehung von Parlamenten und politischen Parteien, der Mystik und einzelner Mystiker. Landauer übersetzte sie schuf auch die Bünde, Bewegungen, Zeitschriften und Meister Eckardt ins Deutsche; Buber veröffentlichte Traktate und programmatischen Erklärungen ihrer Zeit. schon früh seine Anthologie mystischer und ekstatischer Die »Neue Gemeinschaft«, in der Buber und Landauer ih- Erfahrungen aus Mittelalter und Neuzeit. Die ekstati- re Vorträge hielten, bestand überwiegend aus gebildeten schen Konfessionen. Die Faszination des Heiligen, der re- Intellektuellen4 ; ähnliches gilt für den Forte-Kreis. Der ligiösen Erfahrung, der Begegnung, des Dialogs, des mit- Sozialistische Bund dagegen war ein Versuch, Kulturre- fühlenden Gesprächs, der Vereinigung, des Magischen volution, Kommunalismus und radikalen Aktivismus in und des Sakramentalen findet sich nicht nur in Bubers die Massen zu tragen. Die Neue Freie Volksbühne in Ber- und Landauers Sozialismus und Kommunalismus; sie lin, an der Buber und Landauer aktiv mitarbeiteten, war durchzieht weite Teile der europäischen Literatur und re- eine ähnliche Bemühung von Intellektuellen, die Massen ligiösen Bestrebungen dieser Zeit. Die Einheit von zu erziehen. Buber und Landauer bemühten sich gemein- Mensch und Natur, von Menschlichem und Göttlichem, sam um die Gründung von Gemeinschaftssiedlungen' in von Mensch und Mensch, das Streben nach Einheit und Deutschland: Ausgangspunkt war die Überzeugung, dass Vereinigung als Gegensatz zur »Zersplitterung« 9 des Entfremdung, Identitätsverlust, Einsamkeit und Leere nur menschlichen Lebens (man beachte dieselben Begriffe im in vorstädtischen Siedlungen zu überwinden seien 6, die in chassidischen Shyirat Hakelimt) kennzeichnet das Ge- Freiwilligkeit, Zusammenarbeit und Freiheit den neuen meinsame in den Arbeiten Bubers und Landauers. Hier sa- hen sie die heilige Aufgabe des Propheten, des Philoso-

4 P. R. Mendes-Flohr, »Martin Buber and the Moral Dilemma of Zio- phen, des Künstlers, des Zaddik, des Chalutz, des Juden nism«, in: The Jerusalem Quarterly, Nr. 3, Frühjahr 1977. (oder wie immer sie ihre Idealtypen in den jeweiligen s So auch andere jüdische Utopisten wie Theodor Hertzka, Herausgeber Schriften auch begrifflich fassten): dieses Einssein, diese der Neuen Freien Presse in Wien, und Franz Oppenheimer, Soziologe rettende Einheit, diese Neuschöpfung in die Erfahrung und Mitarbeiter von Herzl. Mit Landauer zusammen setzten sich auch Hertzka und Oppenheimer aktiv für Gemeinschaftssiedlungen ein. Mit ih- und in die Welt hineinzubringen. Dies ist die revolutionä- ren Beiträgen zum europäischen Utopismus und zur jüdischen Wiederge- burt beschäftigt sich die Verfasserin in späterer Arbeit (cEuvres Franz H. Schempp, Gemeinschaftssiedlungen auf religiöser und weltanschau- Oppenheimer). licher Grundlage, J. C. B. Mohr, Tübingen 1969. 6 W. Fähnders / M. Rector, Linksradikalismus und Literatur: Untersu- Den Hinweis auf dieses Buch verdanke ich Prof. Shlomo Avineri. chungen zur Geschichte der sozialistischen Literatur in der Weimarer Re- Vgl. W. Laqueur, Reflections an Youth Movements in: Commentary, publik, Rowohlt, Hamburg 1974. Juni 1969.

58 re Tat: der Realität aufgrund neuer Verheissungen und Utopisten fliesst eine Tradition, die sich stets gegen das neuer Einsichten neu zu begegnen und sie und die Welt Herrschende richtet, um den menschlichen Geist zu ver- darin zu verändern; einen neuen Geist zu bringen; Bedeu- jüngen und zu erneuern, — gelegentlich gebrochen und tung zu vermitteln; über sich selbst hinauszugreifen und unterdrückt, dann wieder aufgenommen und fortge- zu verändern. Wesentliche Kräfte hierfür waren »Die Re- führt. de, die Lehre und das Lied«, wie eines von Bubers Büchern Hier war Landauers Inspiration. Künstliche Dogmen, heisst'". • Parteien, Programme und politische Aktivitäten, die auf Sprache als Grundlage: Sowohl Buber 9b wie Landauer wa- marxistischer, materialistischer Grundlage aufbauten, hin- ren hervorragende Schriftsteller; Landauer zudem ein dern die Entwicklung des wahren Sozialismus. Wenn für ausserordentlicher Redner. Alle Rezensionen erwähnen Buber gilt, dass es genausoviel Heiliges in der Welt gibt, sein unglaubliches Sprachgefühl in seinen Übersetzungen als der Chassid durch sein Handeln die Welt heiligt; wenn von Wilde, Tolstoi, Briefen aus der Französischen Revo- für Sartre gilt, dass die Welt genausoviel Sinn hat, als der lution, Strindberg, Whitman, Eckardt und Kropotkin. Mensch ihr Sinn gibt; dann gilt für Landauer, dass es ge- Seine Shakespeare-Studien, die von Buber nach seinem nausoviel Sozialismus und Gemeinschaft in der mensch- Tod in zwei Bänden veröffentlicht wurden, machen Land- lichen Erfahrung gibt, als der Mensch verwirklichen will. auer bis heute zu einem klassischen deutschen Shake- Der Sozialismus ist keine notwendige Entwicklung, nicht speare-Interpreten. Und in allem geht es um die Wahrheit vorherbestimmt oder determiniert, sondern die Schöpfung des Wortes, immer um das Wort, um Wahrheit und Wort. freien, entschiedenen Handelns. Dies verband Landauer mit Buber, der später eine grund- Im Unterschied zu Buber hatte Landauer niemals die legend neue Übersetzung der Hebräischen Bibel in die Möglichkeiten, die eine feste Stellung an einer Universität deutsch-jüdische Erfahrungswelt einbringen sollte. Auch eröffnet. Buber wurde Lehrer am Frankfurter Jüdischen Rosenzweig und Buber hatten dieses Ziel: das wahre Lehrhaus, dann an der dortigen Universität, später Pro- Wort zu vermitteln, die lebendige Erfahrung des heiligen fessor an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Land- Wortes und des heiligen Textes weiterzugeben. auer, dem die Promotion wegen seiner politischen Aktivi- Das andere ist Bubers Text, der lebendige Text, der den täten und wegen seiner Gefängnisstrafen verweigert wur- Leser oder Hörer verpflichtet. Die Lehre steht für sich al- den, konnte seine ungewöhnlichen, fruchtbaren literari- lein, sie hat keine Deutungen nötig. Sie steht für sich, für schen und philosophischen Gaben niemals gestützt auf ei- immer. Landauer und Buber waren fasziniert vom tief- ne Stellung in einer Hochschule verbreiten. Obwohl er gründigen, ewigen Orient. Nach Schopenhauer spürten mit Buber und Nachum Goldman zusammen an Plänen viele Deutsche diese Kraft des Ostens, des Orients; die für eine Jüdische Volkshochschule arbeitete, obwohl er ei- dynamische Religiosität des Ostens, aus Indien und Chi- nen äusserst interessanten Entwurf zur Reform der Mün- na, kam nach Westen. Buber spricht davon, wie er seine chener Universität verlegte, als er 1919 Kulturkommissar grundlegende religiöse Offenbarung im Alter von 26 Jah- war, konnte er doch niemals an einer Universität arbeiten. ren im Chassidismus fand — und wir wissen, dass er sie nie Sein bleibendes Werk besteht so vor allem aus seinen etwa wieder aufgab. Der Chassidismus wurde für ihn zur mo- 600 Beiträgen und Essays in verschiedenen literarischen dernen jüdischen Inspiration. Frei von den Schlacken und und politischen Zeitschriften, vor allem in seiner eigenen, Routinen des rabbinischen Judentums, begegnete hier dem >Sozialist<. Unvergessen sind seine Übersetzungen dem religiösen Humanisten Buber die wahre Inspiration und seine literarischen, politischen und philosophischen der verborgenen Botschaft, die verborgene Lehre, das Kritiken in seinen Büchern Skepsis und Mystik, Rechen- Wesen der Heiligkeit des heiligen Lehrers. Hier fand sich schaft, Der werdende Mensch, Beginen und in dem zwei- Gemeinschaft, wahre Gemeinschaft, »jichud« — Grundleh- bändigen Shakespeare-Werk. Unvergessen sind zudem re des Judentums. Hier war Freude in einer tragischen seine Vorträge in den Berliner jüdischen Salons während Welt; hier konnte der Mensch seine tragische Existenz des Ersten Weltkrieges, — es heisst, dass er bei solchen Ge- transzendieren. In dieser fast sakramentalen Gemein- legenheiten seine Zuhörer völlig vergass, um statt dessen schaft fanden die Gläubigen, die Chassidim, ihre Kraft. Philosophen und Literaten aller Zeiten anzureden. (»Kraft« ist bei Buber und Landauer ein Lieblingswort.) Eine liebevolle Erinnerung an Landauer ist die zweibändi- Buber versuchte, die Gemeinschaft der chassidischen Er- ge Briefauswahl, die Buber und Ina Britschgi-Schimmer fahrung mit dem Kommunalismus der von Europäern ge- 1929 nach Jahren mühsamen Sammelns veröffentlichten. gründeten Jugend-Kibbuzim zu vereinigen. Seine Begei- Die Auswahl war schwierig, denn die Menschen jener sterung übertrug sich auf Landauer, der sich gegen Ende Zeit schrieben viel und häufig, — oft genug über uninteres- seines Lebens durch einige kleinere Veröffentlichungen sante Dinge —, und Landauer schrieb mehr und besser als zu den zionistischen Kreisen um Buber hingezogen fühl- andere. Nachdem man nun die ganze Korrespondenz im te10. Von Landauers »Judentum« zu sprechen, wäre Amsterdamer Institut für Sozialgeschichte einsehen kann, falsch. Für ihn gab es nur sein »Judesein«, sein jüdisches muss die Auswahl von 1929 Unzufriedenheit wecken. Schicksal, seine jüdische Empathie, seine jüdische Erfah- Buber wollte noch einen Band mit politischen Schriften rung — ins Ethische gewendet, ins Humanistische, ins Re- und Briefen folgen lassen, doch dieser Plan wurde nie ver- ligiöse. Sein Humanismus und seine jüdische Inspiration wirklicht — schon in den zwanziger Jahren war die Be- gehörten zusammen, er konnte und wollte sie nicht tren- schäftigung mit dem politischen Anarchismus nicht unge- nen. Seine Bewegung war nicht die zionistische, sondern fährlich. Buber selbst geriet mehr und mehr in seine Arbeit die anarchistisch-sozialistische — die Tradition all jener, über die jüdische Nationalkultur; der geliebte Freund, die seit Urzeiten die radikale Freiheit des Menschen ver- 1929 noch einmal erinnert, verblasst in Bubers Erinnerun- wirklichen wollten. Von den Propheten über die Essener gen von 1939. Bubers Pfade in Utopia geben nur noch ein und die mittelalterlichen Mystiker bis zu den modernen schwaches, mattes Bild von Landauer; der lebendige Landauer war längst zuvor in die Arbeit Bubers eingegan- Leipzig 1917, Insel Verlag. 11/1 1 a 9b Vgl. dazu auch: M. Buber. Begegnung, Stuttgart 1960, W. Kohlham- gen . mer. (Anm. 9a, 9b d. Red. d. FrRu). 10 Für die erhellende Diskussion zwischen Nachum Goldman und Gustav " R. Link-Salinger (Hyman) zusammen mit A. Hyman, »Works about Landauer über eine Konferenz über europäischen Sozialismus und jüdi- Gustav Landauer«, in: »Philosopher of Utopia«.

schen Kommunalismus vgl. G. Landauer: Philospher of Utopia, S. 52 f., " a Vgl. dazu: Grete Schaeder, ibid. s. o. S. 57, Anm. 2 (S. 213). (Anm. d. 73 und 116. Red. d. FrRu).

59 Was für uns zu tun bleibt, ist die Beschäftigung mit dem Buber sagte in seiner Nachrede: »In der Revolution, ge- politischen Landauer, mit jenem Landauer, der nicht der gen die Revolution, für die Revolution«. Dies ist ein ande- Bubersche ist, dessen Aktivitäten Bubers Arbeit nicht be- rer Landauer, der in seinen Schriften und Zeugnissen rührten. So wie Buber in den zwanziger Jahren immer nicht sichtbar wird: der Landauer der politischen Bewe- stärker in religiöse Kreise drang llb (in jüdische wie prote- gungen. Der Marxismusforscher George Lichtheim sagt stantische), so lebt Landauer in radikalen Gruppen weiter, in seinem Buch Marxismus, dass man Marx nur verstehen im Anarcho-Sozialismus und Kommunalismusu. Hier fin- kann, wenn man über seine Schriften hinaus auch die ge- den wir den Journalisten und Herausgeber Landauer, der schichtlichen Bewegungen kennt, die seinen organisatori- geduldig dreimal ins Gefängnis ging, um politische Aus- schen Anstrengungen folgten. Dasselbe gilt für Landauer. senseiter zu verteidigen, der um die Führung einer soziali- Um ihn und seine Rolle in der europäischen Geistesge- stischen Literaturzeitschrift kämpfte, die er nicht als Bil- schichte zu verstehen, muss man auch den Autor des Auf- dungsblättchen für Arbeiter gestalten wollte. Hier ist der ruf zum Sozialismus kennen, als Programm für den Sozia- Landauer, der seinen eigenen Weg in die Sozialistische listischen Bund zweimal nachgedruckt; man muss den Internationale ging — und wieder heraus —; der Versamm- Verfasser der 30 Thesen über den Sozialismus kennen, in lungen sprengte, um sich Gehör zu verschaffen; der ent- denen er seine grundlegende Kritik am Marxismus zu- gegen seinen eigenen Überzeugungen von Revolution an sammenfasst; und man muss seine politischen Aktivitäten der Münchener Revolution teilnahm, in der er seinen Tod kennen. Und dies ist immer noch derselbe Landauer wie finden sollte. der, der Spinoza, Goethe und Shakespeare liebt, um ihrer Weisheit willen, in der sie vom Tode des Menschen lehr- "b Vgl. dazu u. a.: M. Buber, Der Heilige Weg. Ein Wort an die Juden ten; derselbe Landauer, der in einem seiner letzten Briefe und an die Völker. Dem Freunde Gustav Landauer aufs Grab. Rütten & schrieb: »Jetzt geht es in den Tod, jetzt heisst es den Kopf Loening, Frankfurt 1919. (Anm. d. Red. d. FrRu). hochhalten«. " R. Link-Salinger (Hyman), signatur, g. 1.: Gustav Landauer in: »Sozia- list« (Aufsätze zu Politik, Sozialismus und Kultur), Suhrkamp, Frankfurt Der politische Existentialist Landauer wartet noch auf 1981. seine Entdeckung und Wertung'.

16 Literaturhinweise

Werkstattbericht terrichtstunden selbstverständlich mitthematisiert werden. Von grundsätzlicher Bedeutung sind auch die hier ange- A. BIESINGER / G. BIEMER / P. FIEDLER (Hrsg.) in schlossenen Überlegungen zur Medienproblematik bei Zusammenarbeit mit K.-H. Minz und U. Reck: Was Ju- Religionsunterricht über das Verhältnis Christen Juden den und Judentum für Christen bedeuten. Eine neue Ver- (U. Reck). Der direkt aus der und für die Unterrichtspra- hältnisbesinnung zwischen Christen und Juden. Lehr- xis konzipierte Hauptteil des Buches (Kapitel 3) bringt die Lerneinheiten für die Sekundarstufen (Lernprozess Chri- Verlaufsplanung eines Basiskurses zum vorliegendem sten Juden, Band 3). Themenkreis (A. Biesinger). Dieser Basiskurs kann in der Ziel dieses im Frühjahr 1983 erscheinenden Buches, des- Sekundarstufe II in leicht zu modifizierender Form auch sen Manuskript im März 1982 abgeschlossen wurde, ist schon am Ende der Sekundarstufe I eingesetzt werden. In nicht nur, ein Curriculum zum Lernprozess Christen Ju- Kapitel 4 ist die Umriss- und Prozessplanung für die bei- den vorzustellen, sondern eben damit auch einen eigen- den Aufbaukurse »Land« und »Volk« durchgeführt. Aus ständigen Beitrag zur Didaktik des Religionsunterrichts diesen drei Kursen lässt sich in komprehensiver Weise oh- zu leisten (A. Biesinger). In dieser Hinsicht wird die Ar- ne weiteres ein Leistungskurs erstellen. Als Anhang bringt beit der didaktischen Vermittlung von der Fachwissen- Kapitel 5 zunächst eine referierende und rezensierende schaft (Theologie) zur Anthropologie vorausgesetzt, wie Übersicht über die erreichbaren Unterrichtsmaterialien sie bereits in Band 2 dieser Reihe (G. Biemer [Hrsg.], (Medien) zum Thema und zu angrenzenden Themenkrei- Freiburger Leitlinien zum Lernprozess Christen Juden, sen (K.-H. Minz/U. Reck). Darauf folgen als Medien im Düsseldorf 1981) geleistet wurde' und die entsprechend weiteren Sinn, d. h. für den Lehr-Lernbedarf zubereitet, den fachdidaktischen Erfordernissen bis zur Erstellung ei- fachwissenschaftliche Beiträge zu den Grundkategorien nes Grobzielpools geführt hat. Daran anknüpfend wendet der Verhältnisbesinnung Christen Juden (E. L. Ehrlich, B. sich Kapitel 1 diesen Problemen zu: Religion im Zusam- Feininger, K.-H. Minz, B. Uhde). menhang der Selbstbegründung der Pädagogik (G. Bie- Der zusammen mit diesem Band erscheinende Band 4 der mer) — Der Anspruch Jesu als »regulative Idee« zu einer Reihe »Lernprozess Christen Juden«, hrsg. von K.-H. Religionsdidaktik (P. Fiedler) — Didaktische Gliederung Minz, U. Reck, P. Fiedler in Zusammenarbeit mit G. Bie- des gesamten Themenbereichs »Christen Juden« (G. Bie- mer und A. Biesinger, enthält die Quellentexte für den Ba- mer / P. Fiedler). In Kapitel 2 wird eine didaktische Kon- siskurs und die beiden Aufbaukurse. Der Konzeption die- zeption zur unterrichtlichen Planung des »Lernprozesses ser — im Manuskript ebenfalls schon fertiggestellten Quel- Christen Juden« vorgelegt (A. Biesinger), die infolge der lensammlung als »Schüler-Reader« entsprechend, ist ein eingehenden Auseinandersetzung mit den didaktischen kleines Glossar zu diesen Kurstexten beigefügt. Konzeptionen von W. Klafki, W. Schulz und F. v. Cube Peter Fiedler, Freiburg i. Br. allgemeine Gültigkeit für religionsunterrichtliche Planung beansprucht. Lern- und sozialpsychologische Überlegun- gen zum Abbau von Vorurteilen im Religionsunterricht HORST BÜRKLE: Missionstheologie. Stuttgart 1979. sind so konkretisiert, dass diese Aspekte in sehr vielen Un- Verlag W. Kohlhammer. 212 Seiten. In einem weiten Rundgang geht der bekannte evangeli- 1 S. FrRu XXXII/1980, S. 98 f. Vgl. dazu auch: Peter Fiedler: Das Ju- sche Missions- und Religionswissenschaftler das Thema dentum im Katholischen Religionsunterricht. Analysen — Bewertungen — der Mission an: aus Reflexionen über die gegenwärtige Perspektiven (Reihe: •Lernprozess Christen Juden« Bd. 1) s. in: FrRu Missionssituation führt der Weg zurück zu den Missions- XXXI/1979, S. 1 1 I f. sowie ebd. S. 3-8: Was katholische Schüler vom Judentum erfahren. verständnissen der Vergangenheit, um schliesslich von (Anmerkung d. Red. d. FrRu) dort wieder zur Gegenwart zurückzukehren und rich-

60 tungweisend Grundzüge eines modernen christlichen MARTHA GROTHOLTMANN: Israels Prophetie er- (evangelischen) Missionsverständnisses zu erarbeiten. füllt sich vor unseren Augen. 2. Aufl. o. J. Selbstverlag Das Buch versteht sich selbst als eine Art von Einführung, Martha Grotholtmann. 73 Seiten. und unter dieser Selbstbegrenzung ist es denn auch zu be- Ein Büchlein, das mit grossem persönlichen Einsatz ge- trachten und zu beurteilen. Angesichts dieser Zielsetzung schrieben ist. Er wiegt jedoch, von der Faktenverwertung und dieses Charakters darf man keine theologischen abgesehen, den fundamentalistischen Umgang mit der Bi- Grundsatzerörterungen erwarten, die hier nicht abgelei- bel nicht auf, demzufolge sich etwa in Israels Geschichte stet werden können. Dies gilt besonders auch im Blick auf Gottes Strafgericht ausgewirkt habe, worauf mit der das, was das jüdisch-christliche Anliegen (nennen wir es Rückkehr ins Land die Endzeit anbreche. Der Philosemi- einmal so) in dieser Beziehung beinhalten würde. tismus, der sich hier zu Wort meldet und der auch den Odilo Kaiser, Freiburg i. Br. Missionsgedanken noch einschliesst, lässt sich heute ein- fach nicht mehr rechtfertigen. Peter Fiedler 0. EISSFELDT: Kleine Schriften VI. Hrsg. von R. Seil- heim / F. Mass. Tübingen 1979. J. C. B. Mohr (Paul Sie- GOTTHOLD HASENHÜTTL: Einführung in die Got- beck). XVIII und 187 Seiten. teslehre. Darmstadt 1980. Wissenschaftliche Buchgesell- Der abschliessende sechste Band der »Kleinen Schriften« schaft. 267 Seiten. enthält neben zwei posthum erschienenen Beiträgen über Ein in philosophisch-theologischen Grenzfragen versier- »Kultzelt und Tempel« und über die »Monopol-Ansprü- ter Autor zeigt, wie man sich im Verlaufe der Geschichte che des Heiligtums von Silo« (beide aus dem Jahre 1972) mit Verstandes-, Gemüts- und Willenskräften einen Zu- vor allem Ergänzungen und Nachträge zum Verzeichnis gang zu Gott sichern wollte, wie die Berechtigung dieses der Schriften Otto Eissfeldts sowie — worauf besonders Bemühens negiert wurde und wie sich die Gottesfrage für hinzuweisen ist — einen analytischen Index, ein Stellenre- heutige denkende Menschen ausnimmt. Hasenhüttl be- gister, das die biblischen und ausserbiblischen Stellen no- ginnt mit den Ursprüngen der abendländischen Gotteser- tiert, weiterhin ein Verzeichnis der Autoren und Abkür- fahrung: wie die Griechen ihr Verhältnis zu den Göttern zungen wie eine Liste von Druckfehlerberichtigungen zu und zu Gott gefunden haben, welche Hauptzüge der Gott allen sechs Bänden. Im Vorwort geben die Herausgeber des Alten Testaments trägt und wie im jesuanischen Ge- eine erste Würdigung des Menschen und Gelehrten Otto schehen eine »Humanisierung Gottes« eingetreten ist. Im Eissfeldt, in deren Rahmen auch die drei Ansprachen ab- zweiten Hauptteil geht es um die kirchliche Deutung der gedruckt werden, die bei der Trauerfeier am 27. April Gotteserfahrung. Dabei werden hauptsächlich frühkirchli- 1973 in der Laurentiuskirche zu Halle/Saale gehalten che Aussagen über Gott berücksichtigt. Das Mittelalter wurden. — Durch die in diesem Band enthaltenen Indices scheint fast nur in einem Exkurs über den Gottesbegriff und Register wird erst der volle Reichtum des in den bei Thomas von Aquin auf. Der dritte Hauptteil ist bei »Kleinen Schriften« enthaltenen Materials erschlossen, weitem der umfangreichste: »Die Gottesfrage heute» (5. wofür der Leser Herausgebern und Mitarbeitern zu gros- 117-243). Register und Literaturverzeichnis schliessen das sem Dank verpflichtet ist. Peter Weimar, Münster Buch ab. Hasenhüttl schreibt keine abgeklärte und ausgewogene J. A. EMERTON (Hrsg.): Studies in the Historical Books Geschichte der christlichen Religionsphilosophie. Seine of the Old Testament, Vol. XXX. Leiden 1979. Verlag E. kritisch-kommentierenden Ideen und sein Engagement J. Brill. 278 Seiten. scheinen in allen Kapiteln unübersehbar auf. Die Athei- In diesem Bande sind eine Reihe von Aufsätzen gesam- sten und die Vertreter der Gott-ist-tot-Theologie des 19./ melt worden, die alle historischen Themen zum Inhalt ha- 20. Jahrhunderts bewegen ihn sehr stark. Er möchte seine ben, seinerzeit an Vetus Testamentum geschickt wurden Meinung über Gott erst nach gründlicher Beachtung der und nun hier gemeinsam erscheinen. A. G. Auld unter- Argumente der Bestreiter Gottes formulieren. Er wehrt sucht den hebräischen und griechischen Text des Buches sich gegen jede vorschnelle Flucht in den unreflektierten Josua. Von Z. Ben-Barak stammt eine Untersuchung über Glauben. So möchte er sich als jemand bewähren, der Du den gesetzlichen Hintergrund der Rückforderung Davids zu Du mit den modernen Schwierigkeiten steht. »Die Kri- für seine Ehefrau Michel, die längst wieder einen anderen se der heutigen Theologie gründet in der Erfahrungslosig- Mann geheiratet hatte (vgl. 2 Sam 2, 12-3,1). R. Bickert keit des Glaubens an einen persönlichen Gott« (118). Ha- behandelt das Thema: Die List Joabs und der Sinnes- senhüttl kann daher kein theistisches System und keinen wandel Davids, eine deuteronomistische Einschaltung in Gottesbegriff akzeptieren, die diese Erfahrungslosigkeit die Thronfolgeerzählung in 2 Sam 14, 2-22. R. L. Braun perpetuieren würden: »Entscheidend wichtig ist sicher, arbeitet über die Bücher der Chronik, Ezra und Nehemia dass Gott mit dem Selbstvollzug des Menschen in eine so auf dem Hintergrund der Theologie sowie der Literatur- enge Verbindung gebracht wird, dass im Freiheitsgesche- geschichte. Von Interesse ist ferner B. Lindars Studie über hen und im Akt der Befreiung Gott antizipatorisch gegen- die israelitischen Stämme im Richterbuch. D. F. Murray wärtig wird und von Gott dort gesprochen werden kann, behandelt die erzählerische Struktur und Technik in der wo Freiheit verifiziert wird. In ihr wird Gottes Kommen Deborah-Barak-Geschichte (Ri 4, 4-22). T Veijola wid- zu den Menschen indirekt bewahrheitet und erfahrbar« met seine Studie dem Gedächtnis des Hethiters Uria, eine (217). Man dürfe Gott nicht ohne den Menschen begrei- Widmung, für die der Verfasser zweifellos ein Patent an- fen wollen. Gott als blosse Begründungshypothese für melden kann, so etwas als Erster getan zu haben. Der menschliches Dasein oder gar als Zementierer der gesell- Aufsatz behandelt Salomo, der Erstgeborene Bathsebas. schaftlichen Zustände sei »letztlich uninteressant« (225). Der Autor sucht zu beweisen, dass die Erzählung von Wo und wie soll denn Gott gesucht werden? In der Liebe dem ersten gestorbenen Kind der Bathseba eine Legende zum Mitmenschen! »Gottesliebe wird in Jesus Christus sei, die von Salomo den Makel nehmen will, als Frucht ei- konkret. Die Funken der Liebe sind nicht im fernen Welt- nes ehebrecherischen Verhältnisses geboren zu sein. An- all verstreut zu suchen . . ., sondern mitten in der Ge- dere Aufsätze ergänzen die erwähnten. Der Band ist schichte, in den Augenblicken des Lebens, am nächsten reichhaltig und wird zu konsultieren sein, wenn man Ein- Menschen werden sie erfahrbar« (60). zelprobleme der Geschichte Israels zu behandeln hat. Man kann dieser grossartigen Optik — Gott als Liebe, die E. L. Ehrlich in der mitmenschlichen Bewährung aufscheint — gewiss

61 nicht widersprechen. In der Tat muss der Gottesgedanke zes (Lev 17, 1-26, 46) enden die Ausführungen zum 3. »ein ständiger Beitrag« sein, »die Welt im Werden zu er- Buch Mose (S. 10-80). halten und auf menschenwürdigere gesellschaftliche Ver- Ähnlich kommentiert Lamparter auch das 4. Buch Mose hältnisse zu achten« (227). Andernfalls degeneriert er zu (S. 84-174). Wiederum sind bei der Textauswahl und bei tönender Ideologie. Der Autor muss sich aber fragen las- der. Texteinteilung inhaltliche Gesichtspunkte massge- sen, ob er einem zu sehr nur auf heutige Situationen zuge- bend. Näher besprochen werden: der Heerbann und die spitzten Gottesbild huldigt. Er wehrt sich gegen einen Lagerordnung Israels (Num 1, 1-9, 14); der Aufbruch Gott >an sich<: »Gott ist >an sich< genauso, wie er sich er- vom Sinai und die Ereignisse des Wüstenzugs (Num 9, schliesst, wie er sich schenkt. So wie die Menschen ihn als 15-10, 36); das Murren Israels in der Wüste (Num 11, Gabe empfangen, so ist er . . . So ist Gott nichts für sich 1-35); das Aufbegehren Mirjams und Aarons (Num 12, und daher alles für uns . . . Von hier her ist es beinahe 1-16); die Aussendung und Rückkehr der Kundschafter selbstverständlich, dass es kein innertrinitarisches >Du< (Num 13, 1-14, 45); der Aufruhr Korahs, Dathans und gibt. Es ist sinnlos, an ein Du-Sagen von Vater und Sohn Abirams (Num 16, 1-19, 22); von Kades nach Hesbon zu denken« (88). Gewiss sind wir in theologischen Dis- (Num 20, 1-21, 35); Balak und Bileam (Num 22, 1-24, kussionen »bestenfalls blinde Bettler, die miteinander 25); die Heimführung in das gelobte Land (Num 25, streiten« (124). Aber auch dann scheint die Frage nach 1-36, 13). dem Gott jenseits menschlicher Bezugspunkte nicht nur Für die Textinterpretation benützt Lamparter die Kom- der Blindheit zu entstammen. Ist Gott wirklich nur eine mentare von M. Noth ( --- ATD 6/7). Als sichere Quellen reine »Beziehungswirklichkeit«, wie der Verfasser mehr- nimmt er J, E, P an. Die Texte, die er zeitlich nicht ein- mals hervorhebt (z. B. 80.95)? Jedenfalls weist das, was in deutig einordnen kann, nennt er kurz. Hilfreich sind die der Bibel und in der jüdischen und in der christlichen Ge- vielen religionsgeschichtlichen Hinweise im 3. Buch Mose schichte unter JHWH bzw. Kyrios — gewiss nur ahnend gerade auch für die Leser, die nur geringe Kenntnisse be- und stotternd — verstanden wurde, auch auf einen unend- sitzen. Lamparter vermeidet verwirrende Fachdiskussio- lichen Überhang Gottes über allen (gewiss nicht zu mini- nen. Dagegen sind seine aktualisierenden Assoziationen malisierenden) innerweltlichen, innergeschichtlichen und mit Situationen in unserer Zeit manchmal zu gewagt (vgl. innermenschlichen Beziehungen hin. z. B.: S. 48, Anm. 6; S. 78, Anm. 36 u. a.). Noch deutli- Kritische Anmerkungen zu Gottesaussagen eines gründ- cher wird das im 4. Buch Mose, wo Lamparters Aktuali- lich forschenden Mitmenschen sind leicht zu finden. We- sierungen öfters einen leicht moralisierenden Ton anneh- gen der Unerreichbarkeit Gottes sind auch sie nie der men (S. 125, Anm. 8; S. 152, Anm. 22; S. 169, Anm. 12). Weisheit besserer Schluss. Der Rezensent darf daher trotz Insgesamt schmälert diese Feststellung jedoch keineswegs Dissens in Details seine volle Anerkennung und Bewunde- die enorme Leistung und das solide Wissen, die diesem rung aussprechen: Hasenhüttls Buch über Gott, die Ge- Kommentar zugrunde liegen. Dem Verfasser ist es weit- schichte der menschlichen Gottesvorstellungen und das gehend gelungen, die im Buchtitel »In Gottes Schuld« an- Scheitern aller Systeme, die im Zusammenhang mit Gott gedeutete Botschaft dieser beiden alttestamentlichen Bü- aufgestellt wurden, hat ihn beeindruckt und beunruhigt. cher herauszuarbeiten. Sie geben auch den Menschen Clemens Thoma heute — wie damals dem Volk Gottes — entscheidende Hinweise zum Problem der Schuld: Nicht das Ableugnen HELMUT LAMPARTER: In Gottes Schuld. Ausgewähl- der Schuld, das Verdrängen oder das gewaltsame Verges- te Texte aus dem dritten und vierten Buch Mose. Die sen hilft dem einzelnen oder einem Volk, sondern die Botschaft des Alten Testaments 7/8. Stuttgart 1980. Umkehr in Reue zum vergebenden Gott. Calwer Verlag. 174 Seiten. Josef Wehrle, Triberg Die von Hellmuth Frey vor mehr als vier Jahrzehnten be- gonnene Reihe »Erläuterungen alttestamentlicher Schrif- GÜNTER LANCZKOWSKI: Einführung in die Reli- ten« hat mit H. Lamparters Übersetzung und Auslegung gionswissenschaft. Darmstadt 1980. Wissenschaftliche ausgewählter Texte aus dem 3. und 4. Buch Mose ihren Buchgesellschaft. 116 Seiten. Abschluss gefunden. Wie die gesamte Reihe soll auch die- Trotz aller Voraussagen der Verfechter der Säkularisie- ser Kommentar einem möglichst breiten Leserkreis den rung gewinnt das Phänomen der Religionen immer mehr Zugang zu den manchmal schwer verstehbaren alttesta- an Bedeutung. Dies gilt nicht nur für die Länder Latein- mentlichen Texten erschliessen. Diesem Anliegen kommt amerikas, Afrikas und Asiens, wo sich der Prozess der Sä- H. Lamparter entgegen durch seine einfache und ver- kularisierung gar nicht durchsetzen konnte, sondern auch ständliche Sprache. für Europa und Nordamerika. Das Zweite vatikanische Den Kommentaren zum 3. und 4. Buch Mose geht jeweils Konzil hat diese Entwicklung erkannt und sich in seiner eine kurze Einführung voran (S. 7-9 und S. 81-83). In »Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nicht- diesen Einführungen werden vor allem die Entstehung christlichen Religionen« positiv mit den Religionen aus- und die Überlieferung der heute vorliegenden Texte be- einandergesetzt. handelt. In diesem Zusammenhang ist eine sachgerechte Kenntnis Eine ausführliche Besprechung erfahren im 3. Buch Mose der Religionen unerlässlich. Eine solche Kenntnis vermit- die Opfergesetze (Lev 1, 1-7, 38). Nach Lamparter kön- telt u. a. die Religionswissenschaft. Im Jahre 1980 veröf- nen wir auch heute den Brand-Speise-Schlacht-Sünd- und fentlichte der bekannte Heidelberger Religionswissen- Schuldopfern immer noch mehr als ein blosses religions- schaftler Günter Lanczkowski eine kurze »Einführung in kundliches Interesse abgewinnen; denn ohne sie würde die Religionswissenschaft«, die in meisterhafter Weise uns der Schlüssel zum Verständnis des Sühnetodes Jesu aufzeigt, wie und weshalb die Religionswissenschaft sich fehlen, wie ihn z. B. der Hebräerbrief beschreibt (S. 11 mit den Religionen beschäftigt. Zunächst wird auf die ak- ff.). Das nächste grössere Kapitel hat das Hohepriester- tuelle Bedeutung der Religionswissenschaft eingegangen. amt Aarons und seiner Söhne (Lev 8, 1-10, 20) zum The- Für Europa und die Kirche hatte das Thema der Religio- ma. Dann folgt eine Zusammenfassung der Reinheitsvor- nen bis in unser Jahrhundert hinein keine eigentliche Be- schriften in Lev 11, 1-15, 33. Mit den Erklärungen des deutung. Das Mittelalter kannte als fremde Religionen Rituals am grossen Versöhnungstag (Lev 16, 1-34) und nur das Judentum und den Islam, die bekämpft wurden. mit einer eingehenden Besprechung des Heiligkeitsgeset- Selbst das Zeitalter der Entdeckungen brachte kein Ernst-

62 nehmen anderer Religionen. Sie wurden als Götzendienst und Laien; es gibt das Mönchtum; es gibt berufsreligiöse abgelehnt und stellten für das christliche Glaubensbe- Sonderformen, etwa die Soldatenreligion; es gibt Sekten wusstsein keine Infragestellung dar. Auch noch von einer und einen Synkretismus. Objekte der Religionsforschung anderen Seite her glaubte man in unseren Tagen das Phä- sind sodann auch interreligiöse Strömungen. Hierbei han- nomen der Religionen nicht beachten zu brauchen: die delt es sich um religiöse Erscheinungen, die in verschiede- moderne Zivilisation mit ihrer Säkularisierung schrieb der nen traditionellen Religionen auftreten, wie etwa: Mystik, Religion keine grosse Bedeutung mehr zu. Doch die Vor- Gnosis, Schamanismus. stellung, die ganze Welt würde einer Verweltlichung ent- Im dritten Kapitel werden die verschiedenen religionswis- gegengehen, erwies sich als unrealistisch. Lanczkowski senschaftlichen Disziplinen vorgestellt: Religionsgeschich- zeigt nämlich in eindrucksvoller Weise auf, dass die Reli- te, Religionsphänomenologie, Religionstypologie, Reli- gionen heute, wie schon seit Jahrtausenden, gestaltende gionsgeographie, Religionsethnologie, Religionssoziolo- Kräfte unserer Zeit sind. Dabei verweist er zunächst auf gie sowie Religionspsychologie. Bei der Darstellung der weltpolitische Ereignisse der letzten Jahrzehnte, die die Religionsgeschichte macht Lanczkowski sehr überzeugen- zeitgenössische Bedeutung der Religionen demonstrieren. de Aussagen über die Kenntnis der fremden Sprachen, die Von besonderer Bedeutung ist hier die Re-Islamisierung: auch für die Theologie gelten. Da die Religionsgeschichte Saudi-Arabien und Pakistan sind nach dem 2. Weltkrieg wesentlich mit literarischen Quellen zu tun hat, ist die Re- als islamische Staaten entstanden; in jüngster Zeit ist die ligionswissenschaft zu einem guten Teil Philologie. Hier Entwicklung in Libyen, Libanon und Iran zu nennen; in kann man sich nicht mit Übersetzungen zufriedengeben. Südostasien wären Malaysia und Indonesien zu nennen. Es geht ja nicht um ein blosses Übersetzen von Texten, Der Einfluss der Religionen auf den politischen Bereich sondern die Sprachen sind ja der religiös bestimmte Aus- ist aber nicht auf den Islam beschränkt: Man denke etwa druck des Denkens. an die Entstehung des Staates Israel sowie an die neue Be- Sehr bedeutsam erscheinen mir die Ausführungen im vier- deutung des Shinto für Japan. ten Kapitel über das Verhältnis von Religionswissenschaft Hieraus folgert Lanczkowski, dass allein schon, um der und Theologie. Auf der einen Seite wandte sich die Theo- Orientierung in unserer Welt willen, für den modernen logie gegen eine Beschäftigung mit den Religionen: etwa Menschen religionskundliches Wissen erforderlich ist. Adolf von Harnack und die dialektische Theologie eines Wichtiger aber als die Auswirkung der Religionen im po- Karl Barth. Die Religionen sind Unglaube; das Christen- litischen Bereich ist ein anderes Phänomen, das man »Ein- tum ist keine Religion. Eine ähnliche Haltung gab es bruch der Religionsgeschichte« und »Schock der Entdek- schon in der alten Kirche, etwa bei Marcion. Viel stärker kung der Weltreligionen« genannt hat. Das eigentliche re- aber ist auf der anderen Seite die positive Beschäftigung ligiöse Problem heute ist nicht der Angriff der Säkularisie- mit den Religionen: so schon die Lehre vom logos sper- rung, sondern die existentielle Erfahrung der Pluralität matikos des Clemens von Alexandrien. Selbst im Mittelal- der Weltreligionen sowie die innere Begegnung der Reli- ter finden wir Auseinandersetzungen mit Fremdreligio- gionen. Aus der Sicht Europas und des Christentums nen. Heute ist die Theologie vor allem aus folgenden heisst dies, dass die Christen in die existentielle Entschei- Gründen auf die Auseinandersetzung mit den Religionen dung gerufen sind, vor allem durch folgende drei Fakto- angewiesen: ren: die Gegenmission asiatischer Religionen, die Aktivi- das Verstehen der Anfänge des Christentums erfordert die tät der sogenannten Neuen Religionen sowie die westli- Kenntnis der antiken Religionen; che Aufnahme- und Gefolgsbereitschaft für fremde Leh- die Mission der Kirche verlangt die Kenntnis der Fremd- ren und Praktiken. Vor allem angesichts des missionari- religionen; schen Aufbruchs der Weltreligionen gewinnt die Ausein- die interreligiöse Auseinandersetzung ist aber heute nicht andersetzung mit ihnen existentielle Bedeutung. Dieser Si- mehr auf die Länder der Mission begrenzt, sondern spielt tuation hat das Zweite Vatikanum in seiner »Erklärung sich auch in den traditionellen Verbreitungsgebieten der über das Verhalten zu den nichtchristlichen Religionen« Kirchen ab. ebenso entsprochen wie die vielfachen Bemühungen um Vor allem aus den letztgenannten Gründen heraus hat eine »Religionstheologie«. All dies aber ist ohne die Arbeit sich das Zweite Vatikanum mit den Religionen befasst. der Religionswissenschaft nicht möglich. Das Bemühen des Zweiten Vatikanums traf sich mit den In einem zweiten Kapitel stellt der Autor »Objekte der Re- Arbeiten von Theologen anderer Konfessionen, und es ligionsforschung« vor. Um der Eigenständigkeit der Reli- entstand das Programm einer Religionstheologie, die gionswissenschaft willen muss nach dem Zentralbegriff noch eine grosse Aufgabe vor sich hat. dieser Wissenschaft gefragt werden. So geht es zunächst Es folgen im fünften Kapitel einige Bemerkungen zum um den Begriff der »Religion«. Dieser Begriff der Reli- Verhältnis von Religionswissenschaft und Philosophie. Hier gion ist aber nicht der der Aufklärung, die sogenannte geht es vor allem um die Frage, ob die Religionsphiloso- »natürliche Religion«, d. h. die Einsicht vernünftiger We- phie eine Disziplin der Religionswissenschaft sei. sen in die Gesetze der Welt, sondern er ist von den histo- Lanczkowski unterscheidet eine Religionsphilosophie, die rischen, positiven Religionen abzuleiten. Damit sind er- rein deduktiv vorgeht, von einer Religionsphilosophie, die hebliche Schwierigkeiten verbunden, denn der religions- von den wirklichen, geschichtlichen Religionen ausgeht. geschichtliche Pluralismus ist ja nicht nur eine numerische Er anerkennt als zur Religionswissenschaft gehörend nur Grösse, sondern inhaltlicher Art. Trotzdem kann man die letztere an. feststellen, dass Religion ein unableitbares Phänomen ist, In den weiteren Kapiteln des Buches folgen dann noch das gekennzeichnet ist durch die Wechselbeziehung zwi- kleinere Ausführungen über Religionskritik, Religionswis- schen der Gottheit einerseits und der Reaktion des Men- senschaft als akademisches Fach sowie über Fachorganisa- schen andererseits. Schwierigkeiten bereitet hier nur der tion und Kongresse. Urbuddhismus. Eine zweite Forschungsrichtung betrach- Den Abschluss des Buches bilden Ausführungen über For- tet die Heiligkeit anstelle der Göttlichkeit als zentrales schungsrichtungen und Forschungsaufgaben. Hier wer- Element der Religion. den Gottesglaube und Mythos genannt, religiöse Autori- Die Religionsforschung entdeckt nicht nur eine Vielzahl tät, Kult, Symbole sowie die Frage des Evolutionismus von Religionen, sondern auch einen religionsinternen Plu- und seiner Überwindung. ralismus. So gibt es den Unterschied zwischen Priestern Das vorliegende Buch stellt eine kurze, prägnante und

63 vorzügliche Einführung in die Religionswissenschaft dar. (1799-1877), der den grössten Teil seiner akademischen Es wäre jedem, der sich mit den Religionen befassen will, Tätigkeit an der Universität in Halle (seit 1826) verbrach- als einleitende Lektüre zu empfehlen. te. Vor allem in der vorangehenden Berliner Zeit war Heribert Bettscheider, St. Augustin Tholuck in der »Judenmission« tätig (1822-1826 war er Sekretär der »Berliner Gesellschaft zur Beförderung des BERNHARD LANG: Wie wird man Prophet in Israel? Christentums unter den Juden«). Der zentrale Abschnitt Aufsätze zum Alten Testament. Düsseldorf 1980. Patmos- des Aufsatzes widmet sich den beiden (einzigen) Jahrgän- Verlag. 200 Seiten. Vordere Umschlagseite mit einer Wie- gen (1824 und 1825) der von Th. herausgegebenen Zeit- dergabe des Holzschnitts »Prophet« von Emil Nolde schrift »Der Freund Israels. Eine Zeitschrift für Christen (1912). und Israeliten« (S. 125-145). Das in den hier vorgeführten Das Buch enthält nicht nur eine Zusammenstellung, son- »Bekehrungsgeschichten« aufscheinende menschliche Di- dern eine Zusammenerarbeitung von Aufsätzen aus ver- lemma (auf beiden Seiten) erhält einigen theologischen schiedenen Bereichen des Alten Testaments. Diese Berei- Hintergrund im abschliessenden Überblick über die »Aus- che sind erstens gut gewählt und zweitens gut aufeinander legung des Briefes Pauli an die Römer« (S. 149 ff.) aufge- abgestimmt. Und sie sind drittens gut durchgearbeitet. So- hellt. Denn Th. hat »niemals den Versuch unternommen, mit könnte diese Publikation ein wenig beispielhaft sein das Unternehmen einer christlichen Mission an Israel zu- für Veröffentlichungen in einer Zeit, die nicht mehr über sammenhängend theologisch zu reflektieren« (149). In alle wünschenswerten Mittel zur Unterstützung von pu- dem erstmals 1824 erschienenen Kommentar heisst es zu blikationswerten Arbeiten verfügt und somit sich leider Röm 11, 17: Paulus »zeigt, wie das Volk der Juden gleich- auch nicht mehr alle Aufsatzbände herkömmlicher Art sam der göttliche Canal ist, der durch das ganze Men- wird leisten können. schengeschlecht geht, und aus dem alle, die göttliche Er- Das inhaltliche Spektrum reicht, wie bereits angedeutet, leuchtung geniessen wollen, ihr Lebenswasser ableiten recht weit: Schule, Unterricht allgemein, theologische An- müssen. Durch das Christenthum — will P.(aulus) sagen — sätze aus dem Alltagsleben heraus bis zum Aufbau regel- ist das Judenthum nicht eigentlich aufgehoben; vielmehr rechter Theologien, Krankheit, Altersfragen, grundsätzli- war das Judenthum nur die Hülle, welche einst das Chri- che Hilflosigkeit des Menschen, Gottesverehrung, Grund- stenthum verdeckte« (zitiert auf S. 155). Diese Verbie- rechte des Menschen — das und noch einiges mehr wird gung des »Ölbaumgleichnisses« ist bezeichnend. Denn da- ausserordentlich ansprechend und lebendig (diese »Ver- mit kann zwar »der innere, heilsgeschichtliche Zusam- heissung« im Umschlagtext wird erfüllt!) verhandelt, und menhang« von AT und NT bzw. von Judentum und Chri- es ist diesbezüglich kein Unterschied zu machen zwischen stentum »und die geistliche Notwendigkeit der himmli- den stärker wissenschaftlichen und den mehr wissen- schen Ökonomie« aufrechterhalten, zugleich aber mit schaftsvermittelnden Beiträgen. christlicher Herablassung ein Stehen des jüdischen Volkes Besonders fein gearbeitet kann man gewiss den Abschnitt »in seiner gegenwärtigen Verfassung unter dem göttlichen »Ein Kranker sieht seinen Gott — Das Buch Ijob« finden Strafgericht« behauptet werden, wobei dies »als ernsthaf- (S. 137-148). Aber läge hier, in der umsichtigen Aufnah- tes Strafen mit >pädagogischer< Abzweckung« gilt (155 f.). me des religionsgeschichtlichen Materials, nicht bereits so Der Aufsatz macht historische und theologische Zusam- etwas wie der Schlüssel zu manchen Fragen, die sich im menhänge deutlich; m. E. fehlt es ihm jedoch etwas an der Abschnitt »Was sagt das Zweite Vatikanum über das Alte nötigen Distanz zur behandelten Thematik. Testament?« (5. 171-180) stellen oder dort gestellt wer- Peter Fiedler, Freiburg i. Br. den? Der eine oder andere Konzilsvater war nämlich nicht nur etwa neuscholastisch vorbelastet, sondern viel- HARALD VON MENDELSSOHN: Jesus — Rebell oder leicht eher religionsgeschichtlich und -wissenschaftlich Erlöser. Die Geschichte des frühen Christentums. Ham- ebenso wie scholastisch (und das heisst hier spekulativ- burg 1981. Hoffmann und Campe. 320 Seiten. theologisch) gebildet, so dass er lediglich bestimmte Kon- Ein neues Jesus-Buch ist anzuzeigen. Es will weder von ei- vergenzen zwischen hochscholastischem Denken und re- nem christlichen noch von einem jüdischen Standpunkt ligionsgeschichtlichem und religionswissenschaftlichem aus geschrieben worden sein, sondern — nach bestem Be- Wissen (und Würdigen!) bereits wahrzunehmen vermoch- mühen — aus historischer Sicht (Vorwort). Es wagt den te : eine Problematik, die in der Zukunft erst noch stärker Versuch, das Neue Testament und die darin beschriebe- auf das Christentum zukommen wird — wofür das Vati- nen Fakten aufgrund ihrer geistigen und politischen Vor- kanum II in der »Erklärung über das Verhältnis der Kir- aussetzungen zu erklären (ebda.). Auf knappen 300 Seiten che zu den nichtchristlichen Religionen« erfreulicherweise wird die Geschichte Jesu und die seiner Gemeinde bis eine richtunggebende Vorbereitung getroffen hat. (Muss zum frühen 4. Jh. dargestellt. Belegende und erklärende man erwähnen, dass dies natürlich unter dem Einsatz der Anmerkungen sind dem Text angehängt (S. 280-298). Bi- oben gemeinten Konzilsväter geschah?) bliographie, Zeittafeln und ein Personenregister schliessen Es ist zu bedauern, dass das sehr empfehlenswerte Buch den Band ab. sich unter einem etwas eigentümlichen Titel präsentiert; Der Titel verrät in etwa den Inhalt: Jesus von Nazareth dass dieser einer Studentenperspektive entstammt, macht gehört in die jüdische Widerstandsbewegung. Seine ei- ihn nicht besser. Leider macht man nämlich die Erfah- gentliche Existenz ist die des Rebellen. Zum Erlöser wird rung, dass manche gute Sachpublikation auf diese oder er erst in der deutenden Umformung durch Paulus. Nur ähnliche Weise sich selbst schadet. Und das muss wohl diese Verformung macht ihn zum Ursprung einer Kirche, nicht sein. Odilo Kaiser, Freiburg i. Br. die den politisch-revolutionären Ursprung verrät, zur staatstreuen, hierarchisch straffen Organisation wird, ge- PETER MASER: »Der Freund Israels« — F. A. G. Tho- tragen von einem »neuen Menschentyp, den es im Alter- luck und die Judenmission des frühen 19. Jahrhunderts = tum, trotz der oft grauenhaften Ereignisse damals, nicht Sonderdruck aus dem Jahrbuch für schlesische Kirchenge- gegeben hat: der ideologische Fanatiker« (S. 276). schichte 1980, S. 108-161. Der Verfasser hat viel Mühe aufgewandt. Da wird ge- Der Aufsatz beschäftigt sich mit einem der wichtigsten schickt und ansprechend die Vorgeschichte Israels ge- Vertreter der Erweckungsbewegung im Protestantismus schildert, die mit Alexander dem Grossen beginnt. Da des 19. Jahrhunderts, dem Breslauer F. A. G. Tholuck wird ausführlich die Zeit Jesu dargestellt und die Not des

64 jüdischen Volkes unter der römischen Besatzungsmacht, alten Druckausgaben (British Museum und Universitätsbi- die sich ständig in Aufruhr und Protest entlädt, um dann bliothek Kopenhagen) zitiert werden. von den Besatzern wieder niedergeschlagen zu werden. K. Suso Frank, Freiburg i. Br. Jesus wird ganz in die Widerstandsbewegung eingeordnet und ganz von hier aus erklärt, freilich die Identität von FRANK E. REYNOLDS / THEODORE M. LUDWIG geistlichem und weltlichem Führertum unterstrichen, (Hrsg.) : Transitions and Transformations in the History denn »Gesetzestreue, Nationalismus und Religion bilde- of Religions. Leiden 1980. E. J. Brill. VI, 285 Seiten. ten im Judentum eine untrennbare Einheit« (S. 129). Das Thema der Religionen rückt heute verstärkt in den Nun ist ein solches Jesusbild ja nicht ganz neu. Um es Mittelpunkt des Interesses. Wir werden ganz konkret mit deutlich herauszustellen, geht der Verfasser eigenwillige den Religionen konfrontiert und durch sie in Frage ge- Wege. Die Methode, nach der das Neue Testament als stellt. Die Gründe dafür sind bekannt. zuverlässige Auskunft, als halbe und versteckte Andeu- In diesem Zusammenhang wird die Frage nach der rech- tung oder als grobe (paulinische!) Fälschung genommen ten Kenntnis der Religionen erneut akut. Es geht um die wird, ist weder einsichtig noch überzeugend. Nur ein paar Frage der Methode der Religionswissenschaft. Hierbei ist, Beispiele: Jesus scheint gehbehindert gewesen zu sein, vor allem im deutschsprachigen Raum; auch die Frage an- denn nur deshalb bedurfte er auf dem Weg zur Kreuzi- gesprochen, ob und in welchem Masse die Theologie ei- gung der Hilfe Simons von Kyrene. »Wenn Jesus nicht nen Beitrag zur Kenntnis und zum Verstehen der Religio- von Haus aus gehinkt hat, wäre es sogar denkbar, dass er nen leisten kann. künstlich gelähmt worden ist, z. B. anlässlich der Zeremo- Einen ernst zu nehmenden Beitrag zu diesem Thema bildet nie der Verklärung.« Eine rituelle Lähmung wird ja auch das Buch: »Transitions and Transformations in the History von Jakob (Gen 32,23-24) berichtet! (S. 75). of Religions. Essays in honor of Joseph M. Kitagawa«. Jesus ist auch nicht am Kreuz gestorben. Er wurde leben- Dieses Buch ist eine Festschrift für den bekannten Reli- dig begraben, weil vorschnell für tot erklärt (S. 77). Und gionsgeschichtler Joseph M. Kitagawa, der an der Univer- ein Beweis dafür: Das Turiner Leichentuch, das Spuren sity of Chicago lehrt. Es handelt sich dabei aber um eine frischen Blutes zeigt: »Aus einem Leichnam fliesst kein Festschrift besonderer Art. Schüler Kitagawas behandeln Blut« (S. 78). Die »Weissgekleideten« der Auferstehungs- das Thema »Übergang und Umwandlung, Weiterentwick- berichte werden zu Essenern, »die ja stets weissgekleidet lung und Neuinterpretation« in verschiedenen Religionen waren. Als es feststand, dass Jesus die Kreuzigung über- unter Anwendung der besonderen religionsgeschichtli- lebt hatte, werden sie alles drangesetzt haben, um ihn zu chen Methode Kitagawas. retten und gesundzupflegen« (S. 152). Nach seiner Ge- Worin besteht die religionsgeschichtliche Methode Kita- sundung ging Jesus nach Damaskus und von hier schliess- gawas? Zunächst geht sie davon aus, dass es eine spezi- lich in den ferneren Osten. Aber in Damaskus muss er er- fisch religiöse Dimension der menschlichen Existenz gibt kennen, dass seine früheren Gefährten seine Sendung und dass die wissenschaftliche Beschäftigung damit eine nicht weitertragen können. Da entdeckt er Paulus, will spezifische religionsgeschichtliche Methode erfordert. ihn »für die Sache Israels gewinnen und ihm eine Aufgabe Das soll nicht heissen, dass auch andere Wissenschaften übertragen, die sonst keiner zu übernehmen vermochte« sich mit der Religion befassen sollen oder dass die Reli- (S. 173; S. 158: »Jesu Begegnung mit Paulus muss nicht gionsgeschichte die »Königin« der Wissenschaften sei und unbedingt idyllisch gewesen sein«). Paulus, dem Jesus sei- daher einer wissenschaftlichen Genauigkeit nicht bedürfe. ne Sache anvertraut, aber hat ihn dann schmählich verra- Gemeint ist vielmehr, dass die eigentliche Aufgabe der ten. Paulus »erinnert an gewisse moderne Revolutionäre, Religionsgeschichte darin besteht, religiöse Erfahrung als die eine Ideologie vorgefunden haben, sie nach eigenem religiöse zu interpretieren und zu verstehen und so in die Bedürfnis umgestalten und in die Tat umsetzen, ohne dass Bedeutung des religiösen Phänomens einzudringen. Diese sie selber gewahr werden, wie sehr diese Ideologie und Aufgabe bringt es mit sich, die strenge Dichotomie zwi- ihre Voraussetzungen hierdurch verändert werden« (S. schen objektiver und subjektiver Erkenntnis aufzulösen. 175). Die Beispiele mögen die Art der Darstellung und Diese Methode anerkennt die streng wissenschaftliche ob- der Argumentation belegen. jektive Methode, religiöse Phänomene zu interpretieren. An Einzelheiten wäre viel zu fragen: Hat Paulus den hi- Ebenso anerkennt sie die Bedeutung und Gültigkeit der storischen Jesus wirklich nur »als Symbol aufgefasst«? (5. theologischen Interpretation. Das eigentliche Ziel der Re- 159). Ist Celsus ein jüdischer Schriftsteller? Stammt das ligionsgeschichte aber kann durch diese Methoden nicht Dogma von der Dreifaltigkeit vom Kirchenvater Tertul- erreicht werden. Vielmehr kann ein »integrales Verständ- lian? (5. 232, vorbereitet durch Simon Magus und die nis« der religiösen Erfahrung nur durch eine Methode er- Gnostiker). Sind die Apologeten Quadratus und Aristides reicht werden, die in sich eine Oszillation zwischen objek- Bischöfe gewesen? (S. 254). Halten katholische Exegeten tiver, wissenschaftlicher Distanz und disziplinierter Ein- wirklich noch an der paulinischen Verfasserschaft des He- fühlung und Identifikation vereinigt. bräerbriefes fest? (S. 273) usw. Dass die katholische Lehre Ferner gilt für die Religionsgeschichte, dass die Religio- von der Unbefleckten Empfängnis nicht richtig verstan- nen selbst den ersten Gegenstand der religionsgeschichtli- den ist (S. 44. 253), wundert einen nicht; dass Markion chen Untersuchung darstellen. So muss jede Religion von »möglicherweise Suffraganbischof bei seinem Vater gewe- ihrer innersten Mitte her interpretiert werden. Zugleich sen« sein soll, wundert einen dagegen (S. 257), ebenso die aber muss jede Religion im breiteren Kontext der allge- Behauptung, Köln sei Sitz des Primas der katholischen meinen Religionsgeschichte gesehen werden. Schliesslich Kirche Deutschlands (S. 30) und die kühne Feststellung, muss die Religion in ihrer Beziehung zu den anderen dass der »Fall Jesu« das ganze Imperium beschäftigt habe Aspekten des menschlichen Lebens untersucht werden. (S. 127). Unrichtig ist der Traum Konstantins vor der Unter Anwendung dieser Methode behandeln nun die Au- Schlacht an der Milvischen Brücke nach Lactantius wie- toren des Bandes ein sehr wichtiges und aktuelles Thema dergegeben (S. 277) und Athanasius war auf dem Konzil der Religionsgeschichte, das auch im Vordergrund der von Nizäa noch nicht Bischof (ebda.). Der häufig genann- Forschungen von Kitagawa steht: Übergang und Um- te Kirchenvater Origenes wird ständig falsch Origines ge- wandlung der Religion. Bei dieser Frage geht es um den schrieben. Die Ernsthaftigkeit der historischen Arbeit soll religiösen Wandel, den wir in der ganzen Religionsge- wohl belegt werden, wenn Epiphanius und Eusebius nach schichte feststellen, ganz besonders aber in unseren Ta-

65 gen. Die Religionen stellen sich auf die Umwälzungen in schlossen (20-27 — wie reimt sich damit die Bevorzugung der modernen Welt ein. Hierbei geht es um die Fragen der johanneischen Chronologie — 449 — zusammen?). Da- von Tradition und Identität. Der Religionsgeschichte geht gegen werden die entsprechenden Angaben zu Mt merk- es aber vor allem um die Bedeutung des religiösen Wan- würdigerweise skeptisch beurteilt (27 f.). Die Werke der dels als einer wichtigen Dimension der religiösen Erfah- Synoptiker könne man allesamt »in die Gattung der di- rung selbst. Soziologen, die hier viel gearbeitet haben, daktischen Biographie einordnen« (31). Indem der Autor verfolgen ein anderes Ziel: ihnen geht es um die Interpre- auf dieser Basis die »persönlichen Voraussetzungen, die tation des sozialen und kulturellen Wandels; der Reli- Jesus für sein Wirken als Lehrer besass« (Kap. II »Die jü- gionsgeschichte geht es um ein Verständnis des religiösen dische Volksbildung« und Kap. III »Die Autorität Jesu«), Wandels selbst. Ein Verstehen des religiösen Wandels ist und den vorösterlichen » >Sitz im Leben< der Jesus-Über- nämlich zentral für ein Verständnis von Religion über- lieferung« (96) erschliesst (Kap. IV und V), gelangt er zu haupt. Die Religion besteht ja in einem lebendigen Pro- Ergebnissen, die den Leser verblüffen — unabhängig da- zess der Weitergabe. Hierbei handelt es sich immer um ei- von, ob er jene Voraussetzungen teilt oder nicht. Dass die nen dynamischen Prozess der Umwandlung. breite Auswertung altbiblischen und frühjüdischen Mate- Dieser Prozess der Weitergabe und Umwandlung wird rials Analogieschlüsse auf Jesus und seine Gemeinschaft nun an fünf grossen religiösen Traditionen dargestellt. erlaubt, ist durchaus einzuräumen. Freilich steht der Au- Zunächst wird die prophetische Umwandlung der Bot- tor seinen Hypothesen weit weniger zurückhaltend ge- schaft Israels während der nationalen Katastrophe des ba- genüber als denen der attackierten Formgeschichtler, und bylonischen Exils analysiert. Dann wird die moderne Um- das, weil er selbstverständlich auch von einem bestimmten wandlung des Theravada-Buddhismus im Bereich der so- Jesusbild ausgeht und sich nicht bloss auf »die äussere, so- zialen Ordnung in Burma und Thailand aufgewiesen. zusagen >technische< Seite der Verkündigung Jesu« (95) Es folgen zwei Studien über den Islam. Die eine behandelt beschränkt. Jesus ist für ihn Davidide (302) und Messias die Entwicklung der zwei Arten von Schriftfrömmigkeit (§ 12), wofür u. a. »die substantielle Zuverlässigkeit des im klassischen Islam. Hier wird die Dialektik der Um- Verhörsberichtes« vor dem Sanhedrin ins Feld geführt wandlung und der Kontinuität in der Entwicklung der wird (302). Diese Vorentscheidung bestimmt natürlich Koran-Exegese und Rezitation behandelt. Die zweite Stu- nicht nur die Form, sondern auch die Inhalte des Lehrens die befasst sich mit der Umwandlung der Rolle des Iman Jesu — etwa nach dem Motto: je gefüllter eine christologi- in Nordamerika. sche Aussage, um so wahrscheinlicher authentisch. Wo es Die wichtige chinesische religiöse Tradition wird ebenfalls nottut, bietet sich der Rückzug auf Jesu »esoterische Un- in zwei Beiträgen behandelt. Zunächst geht es um die chi- terweisung« an, so etwa bei der »Parabeltheorie« Mk 4, nesische Kosmologie, die durch die volkstümliche Inter- 11 f. oder im Hinblick auf sein gewaltsames Ende, mit pretation in eine dualistische Weltanschauung gebracht dem »Jesus aus verschiedenen Gründen (apokalyptische wurde. Die zweite Studie behandelt die moderne Um- Predigt, Sabbatkonflikte usw.) vor allem gegen Ende sei- wandlung der konfuzianischen Lehre mit ihrer Harmoni- nes Wirkens ernsthaft ... rechnen musste« (478). Diese sierung der kosmologischen und sozialen Wirklichkeit in Hinweise genügen, um die Tatsache einmal mehr bestä- die Lehre Maos von der Notwendigkeit des Widerspru- tigt zu sehen, dass umfängliche judaistische Kenntnisse ches und des Kampfes für die heile Gesellschaft. Zum keineswegs eine unvoreingenommene Sicht des Juden- Schluss werden die verschiedenen Dimensionen der japa- tums der Zeit Jesu (und darüber hinaus) zu gewährleisten nischen Religion in drei Studien dargestellt. So wird die brauchen. Peter Fiedler, Freiburg i. Br. Beziehung zwischen Buddhismus und der japanischen Königsideologie behandelt wie auch die Beziehung zwi- JÜRGEN ROLOFF: Die Apostelgeschichte (Das Neue schen Buddhismus und der japanischen schamanistischen Testament Deutsch, Bd. 5). Göttingen 1981. Verlag Van- Tradition. Schliesslich wird die sogenannte Säkularisie- denhoeck & Ruprecht. 385 Seiten mit einer Karte. rung der Religion im modernen Japan diskutiert. Hier liegt endlich ein gut lesbarer, nicht nur dem Fach- Dieses Buch stellt einen wichtigen und interessanten Bei- mann verständlicher Kommentar zur Apg vor, der auf trag dar, sowohl was die Methode der Religionsgeschich- dem neuesten Stand der Forschung ist. Die wissenschaftli- te anbelangt, wie auch das Thema des religiösen Wandels. chen Auslegungen von Haenchen, Conzelmann — und So ist dieses Buch nicht nur für den Religionsgeschichtler auch noch die jüngste von G. Schneider — hatten das Ge- von Bedeutung, sondern auch für den Theologen, für den wicht auf die theologische Konzeption des Verf. gelegt; das Thema des religiösen Wandels ein zentraler Punkt so entstand manchmal der Eindruck, als sei die Apg nur seiner eigenen Theologie bildet. eine ziemlich in der Luft hängende Propagandaschrift. Heribert Bettscheider, St. Augustin Dagegen will Roloff wieder Lk, dem Geschichtsschreiber, gerecht werden; vor allem arbeitet er die zugrunde liegen- RAINER RIESNER: Jesus als Lehrer. Eine Untersu- den Traditionen heraus (8 ff.). Zwar war der Verf. auch chung zum Ursprung der Evangelien-Überlieferung nach Roloff kein Paulusbegleiter, und natürlich hat er (Wiss. Untersuchungen zum NT, 2. Reihe, 7). Tübingen grosse Szenen und Reden selbst entworfen, aber ein erster 1982. Verlag J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). XI, 614 Sei- Abschnitt A kann doch meistens einiges an vorgegebener ten. Überlieferung wahrscheinlich machen. Dass dabei keine Das Buch, eine überarbeitete Tübinger Dissertation bei 0. über allen Zweifel erhabenen Ergebnisse erzielt werden Betz, nimmt Exzesse der Formgeschichte aufs Korn. Seine können, liegt in der Schwierigkeit der Sache. Z. B. scheint These, »dass Jesus selbst in seinem Wirken als Lehrer den es mir wenig glücklich, wenn das »Wir«, das kein rein lite- Überlieferungsprozess in Gang setzte« (70), ist jedoch auf rarisches Mittel sein soll, auf verschiedene Quellen (ein eine Art und Weise ausgearbeitet, die ihrerseits als über- Wege- und Stationenverzeichnis, ein Rechenschaftsbe- zogen zu bezeichnen ist. So gehört zum Bild, das »sich richt der Kollektendelegation, ein Bericht über die Rom- der Verfasser von der Weitergabe der Jesus-Traditionen reise) aufgeteilt wird. Mögen auch manche Vermutungen in der Urkirche macht« (18), die 1976 von J. A. T. Robin- dem kritischen Leser zu weit gehen, er wird doch immer son propagierte »Rückdatierung« von Mk und Lk vor das zuverlässig über die Probleme unterrichtet. Jahr 65; darin ist die Anerkennung der frühkirchlichen Beachtlich ist, dass Roloff von der durch 1,8 bestimmten Traditionen über die Identität dieser Evangelisten einge- Dreiteilung der Apg abgeht und sie in fünf thematische

66 Erzählzusammenhänge gliedert, die jeweils durch feierli- gewinnen ist. Das Judentum hat kein eigenes Bild vom hi- che Schlussbemerkungen abgerundet sind (13 f.). Theolo- storischen Jesus bewahrt. Dies gilt auch für die legendä- gisch zeigt er Verständnis für die Anliegen des Verf., die ren mittelalterlichen Toledot Jeschu, die Geschichte Jesu, für die ausgehende 2. Generation des Christentums kenn- die das talmudische Material sehr frei kombinieren, dazu zeichnend sind. Hier wird das Evangelium zu einer auf aber auch die Evangelien auswerten. Die Toledot Jeschu den irdischen Jesus zurückführbaren Überlieferung (36). haben die Aufgabe, dem jüdischen Leser oder Hörer ein Die Kirche hat Zeit, die Welt mit diesem Wort zu durch- jüdisches Evangelium an die Hand zu geben, das es ihm dringen. Dabei manifestiert sich das Wort in der Tradi- ermöglicht, die christlichen Anwürfe zurückzuweisen. tion, geht aber nicht in ihr auf (erhellende Ausführungen Die Toledot Jeschu waren ihrer Natur nach eine für den zum Amt 305 f.). Die Zeit der Kirche tritt jedoch nicht, inneren jüdischen Gebrauch geschriebene Erzählung, die wie vielfach behauptet worden ist, an die Stelle der Paru- wohl mehr mündlich als schriftlich von Generation zu Ge- sie, sie ist vielmehr ganz umklammert durch die einander neration weiter überliefert wurde. 1681 wurden sie an- entsprechenden, aufeinander bezogenen Ereignisse der scheinend zum ersten Mal veröffentlicht, und zwar von Himmelfahrt und der Parusie (25). Freilich gibt Roloff Christen, in der Absicht, das Judentum antichristlicher zu, dass Lk den Zusammenhang zwischen Christologie Tendenzen zu bezichtigen.' und Eschatologie aufgeweicht hat (51). Aber Kenntnis von der Erzählung gibt es schon seit dem Die Leser dieser Zeitschrift wird vor allem interessieren, 5. Jahrhundert in christlichen Kreisen, wenn wir auch kei- wie Lk nach diesem Kommentar das Verhältnis der Chri- ne Ahnung haben, wie die so früh genannten Toledot Je- sten zu Israel und zum Judentum darstellt. Er verarbeitet schu beschaffen waren. Auch Luther teilt die Legende in 3, 20 f., ein judenchristliches Traditionsstück, wonach die seiner antijüdischen Schrift »Vom Schem Hamphoras und Parusie des Messias Jesus dadurch beschleunigt wird, dass vom Geschlecht Christi« 1543 mit. Der jüdische Gelehrte Israel sich bekehrt und zum Glauben kommt. Historisch Moritz Steinschneider hielt denn auch diese ganze Legen- zutreffend versteht er die Urgemeinde weder als jüdische de für eine »Erfindung von Judenfeinden, welche die Ju- Sondergruppe noch gar als neue Grösse neben Israel, sie den längst zurückgewiesen« (Schlichting S. 8). Im grossen sei vielmehr das wahre Israel der Endzeit. Darin, dass da- und ganzen wurde der jüdische Ursprung der Legende je- mals wenigstens ein Teil der Juden Jerusalems zum Glau- doch nicht geleugnet, aber auch jüdische Gelehrte des ben an Christus gekommen ist, findet er den sichtbaren 19. Jahrhunderts zeigten sich entrüstet über diese Schrift. Erweis für die Kontinuität der Kirche mit Israel (72 f.). Moses Mendelssohn nannte sie »eine Missgeburt«, Hein- Auch Paulus hält nach der Apg mit Selbstverständlichkeit rich Grätz »jenes geschmacklose Machwerk«, andere »ein an jüdischen Sitten fest (276.296.314 f.; Skepsis allerdings Kehrichthaufen in einer dunklen Ecke der jüdischen Lite- gegenüber der Beschneidung des Timotheus 240). Freilich ratur« (Schlichting S. 5, Anm. 17). Für jüdische und ist es problematisch, wenn der lukanische Paulus 26, 6 f. christliche aufgeklärte Gemüter mag die Erzählung, die in die christliche Auferstehungshoffnung in der pharisä- Dutzenden Fassungen und Handschriften vorliegt', auch ischen Hoffnung ohne Rest aufgehen lässt. Denn sie hat recht anstössig sein. Allen Fassungen liegt ungefähr fol- eine Struktur gewonnen, die sich von der aller zeitgenös- gender Kern der Legende zugrunde: sischen jüdischen Hoffnungen grundlegend unterscheidet Jesus Mutter, eine fromme und arme Jungfrau, verlobt (351; vgl. zu den bleibenden Differenzen 354). mit einem Weisen Israels, wird von einem bösen jüdischen Schliesslich dominiert aber doch die Perspektive der spä- Nachbarn vergewaltigt oder verführt und gebiert so den teren heidenchristlichen Kirche des Lk: mit 19, 21 ist Je- Bastard Jeschu, der bald sehr viel Weisheit zeigt, sich aber rusalem das Zentrum der Gegner des Evangeliums, das gegenüber Schülern und Lehrern überhebt. Durch eine List endzeitliche Gottesvolk der Kirche hat dort von nun an eignet er sich im Tempel den Gottesnamen an, durch den keine Stätte mehr; Gott weist ihm einen neuen Mittel- er viele Wunder tut und Herrscherin und Volk auf seine punkt an: Rom, das Zentrum der heidnischen Welt (289; Seite zieht. Nach langen Kämpfen gelingt es einem der vgl. 318). 22, 18 spricht Jesus »das Verwerfungsurteil über Gelehrten (in der Fassung, die Schlichting veröffentlicht, sein Volk aus« (320 f.). 23, 7 ff. will Lk zeigen, dass das Jehuda Isch Bartota = Judas Ischariot), ihn mit demsel- Judentum, das sich der Heilsbotschaft verschlossen hat, ben Gottesnamen zu besiegen. Und nach einigem Hin seine innere Identität und äussere Glaubwürdigkeit verlo- und Her wird Jeschu endlich gesteinigt, sein Leichnam an ren hat (327). Der heidenchristlichen Kirche gehöre die einem Kohlstumpf gehängt und schliesslich beerdigt. Um Zukunft (371). Diese fast überscharfe Charakteristik des etwaigen Jüngern zuvorzukommen, wird sein Leichnam lukanischen Geschichtsentwurfes lässt aber ab und zu entwendet, versteckt und schliesslich wieder gefunden auch sein Motiv durchblicken: es ist das Ringen der hei- und die Auferstehungslegende der Jünger damit wider- denchristlichen Kirche um ihre eigene Identität, es ist, so legt. Im Anhang wird die Entstehung des Christentums möchte ich hinzufügen, eine geradezu verzweifelte Apo- beschrieben und seine Verbreitung in alle Welt. logetik, der bewusst bleibt, wie undenkbar ein endzeitli- In den jetzt greifbaren Versionen scheinen viele und ver- ches Handeln Gottes ist, das an Israel vorbeigeht. schiedene Traditionen zusammengekommen zu sein, die Dieter Zeller, Mainz zum Teil schwer vereinbar sind. Die Herrscherin der Ju- den, die Königin Helene, ist eine Kombination der Has- GÜNTER SCHLICHTING: Ein jüdisches Leben Jesu. monäerin Alexandra (76-67 v. Chr., die einzige Königin, Die verschollene Toledot-Jeschu-Fassung Tam u-muad. die über Israel geherrscht hat), Königin Helene von Adia- Einleitung, Text, Übersetzung, Kommentar, Motivsynop- bene, ein zum Judentum übergetretenes Königshaus zur se, Bibliographie. Wissenschaftliche Untersuchungen zum Zeit Jesu, und Königin Helene, die Mutter des römischen Neuen Testament 24. Tübingen 1982. J. C. B. Mohr. XVI 1 1681 von Christoph Wagenseil mit lateinischer Übersetzung unter dem und 292 Seiten. Titel »Tela ignea Satanae«. Eine andere hebräische Fassung mit lat. Bei der Frage nach dem historischen Jesus im 19. und 20. Übersetzung veröffentlichte Jabob Huldricus, Leyden 1705, vgl. auch Jahrhundert hat man immer wieder versucht, auch jüdi- Anm. 3. sche Quellen heranzuziehen. Im Talmud kommen an ca. 2 Am besten bisher zusammengestellt von E. Bischoff »Ein jüdisch-deut- sches Leben Jesu«, Leipzig 1895, und S. Krauss »Das Leben Jesu nach jü- 40 Stellen Hinweise auf Jesu und seine Jünger vor, Hin- dischen Quellen«, Berlin 1902. Das letztere Buch ist bis heute die aus- weise ganz verschiedener Art und Qualität, aus denen nur führlichste Darstellung aller Rezensionen und Probleme, wenn auch sehr wenig für Leben und Lehre des historischen Jesus zu nicht vollständig.

67 Kaisers Konstantin. Auch die Gelehrten, die in den Tole- über die Toledot-Jeschu-Literatur, die Forschung und dot Jeschu vorkommen, reichen von Schimon Ben She- Wirkungsgeschichte, dann eine besondere Einführung in tach, dem Bruder der Königin Alexandra (1. Jahrhundert die hier vorgelegte Fassung der Toledot Jeschu und die v. Chr.) über Rabbi Aqiba (2. Jahrhundert n. Chr.) bis zu Nachfolgedrucke. Schlichting ist es gelungen, die Hand- Rabbi Tanchum (4. Jahrhundert n. Chr.). In der Abfolge schrift ausfindig zu machen, die wohl die Druckvorlage der Apostel taucht neben Petrus und Paulus auch der Hä- war und die kurz vor Drucklegung zu diesem besonderen retiker Nestorius (4. Jahrhundert n. Chr.)(in einigen Ver- Zwecke angefertigt zu sein scheint. Sie befindet sich heute sionen statt Nestorius Lutherius) auf. Aber an chronologi- in Amsterdam. Der Bearbeiter schildert das Verhältnis der scher richtiger Abfolge und der Aufzählung eines ge- Mutterhandschrift zum Druck und die Querverbindungen schichtlich richtigen Ablaufs waren die Toledot Jeschu si- zu anderen Handschriften. Weitere Kapitel sind »Wort- cher nicht interessiert. Etwas enttäuscht schreibt denn wahl und Sprachgebrauch«, »Sitz im Leben«, »Der theo- auch Albert Schweitzer in seiner Zusammenfassung der logische Gehalt« und »Die Komposition«, wo der Bear- Leben-Jesu-Forschung (2. Aufl. Tübingen 1913, S. 320): beiter eine Übersicht über die meisten anderen Fassungen »Dass diese Schrift keine wertvollen Erinnerungen birgt, und Handschriften bringt. Das Schlusskapitel ist über- dürfte sicher sein.« schrieben mit »Die literarische und pädagogische Lei- Wenn ein christlicher Theologe heute sich die Mühe stung«. macht, eine Version dieser Schrift in einer wissenschaftli- Es folgt dann als Hauptteil des Buches der Abdruck des chen Ausgabe herauszubringen, so wird er darin wohl an- Erstdruckes Tam u-muad. Auf der linken Seite steht der dere Reichtümer gefunden haben als »wertvolle (histori- hebräische Text in Fotokopie, rechts die deutsche Über- sche) Erinnerungen«. Bevor diese aber zur Sprache kom- setzung. Tam u-muad ist ein Volksbuch in flüssigem He- men, soll auf Form und Anlage des Buches das Augen- bräisch geschrieben mit langatmigen und grossangelegten merk gelenkt werden. Der Bearbeiter hat es sich nicht zur Szenenbeschreibungen. Der Bearbeiter hat die Lektüre, Aufgabe gemacht, eine Synopse und Gegenüberstellung im Hebräischen wie im Deutschen, nun dadurch gestört aller bis heute vorhandenen Texte zu machen, eine solche oder behindert, dass er seinen Text, teilweise recht pedan- Arbeit steht noch aus. Inzwischen sind lediglich einzelne tisch, in Abschnitte und Unterabschnitte unterteilt, zu- Handschriften, eine davon aus dem Jemen, und eine Rei- sätzlich zu denen des Druckes und diese z. T. kleinsten he alter aramäischer Fragmente aus der Synagoge Altkai- Textpartien jeweils im deutschen Text mit Überschriften ro, Fostat, veröffentlicht worden (vgl. Schlichting S. 3 ff.). versehen hat, in Extremfällen dasselbe sagend wie der Schlichting legt einen Text vor, einer der wenigen von jü- nachfolgende Text. Zum Beispiel: S. 163, Überschrift: discher Seite3 gedruckten Texte, der 18244 zum ersten »Sie ändern ihren Namen in >Apostel< 26, 28.« Text: »Sie Mal erschien, unter dem Namen Tam u-muad. Schlich- änderten ihren Namen (in) >Apostel.< Oder S. 183: Über- ting weist in den Bibliotheken der Welt sechs Exemplare schrift: »Die Christen gehorchen Schim'on (30, 34/35)«. dieses Druckes nach. Darunter stellen zwei Exemplare Text: »Die Christen aber gehorchen ihm, weil sie ihm sehr den Erstdruck dar und je zwei weitere Exemplare zwei vertrauten.« Der hebräische Text wurde, um ihn an die anastatische Nachdrucke (die Vorläufer des modernen deutsche Übersetzung und Einteilung anzugleichen, zer- photomechanischen Nachdruckes) aus dem Ende des schnitten, meistens inmitten der Zeilen. Dadurch ist natür- 19. Jahrhunderts. Das Buch wurde dann nicht mehr ver- lich die originale Seiteneinteilung auch nicht einzuhalten legt, weil es inzwischen durch zwei Neuüberarbeitungen und die jeweilige Mitteilung von Seite und Zeile in den ersetzt wurde, eins für ein aufgeklärtes, ein anderes für deutschen Überschriften recht sinnlos. ein orthodoxes Publikum, die jeweils dem Zeitgeist und Diese Untereinteilung ist am Rande durchnumeriert, zum dem Leserpublikum angepasst und deshalb leichter zu ver- leichteren Auffinden in der am Ende des Buches sich be- treiben waren und besonders in Amerika zahlreiche Neu- findenden nützlichen »Motiv-Synopse«, die Übereinstim- auflagen mit weiteren Anpassungen erlebten. Wie die Ge- mung und Abweichungen mit den anderen Versionen an- heimhaltung und Verfolgung dieser Art Literatur im zeigt. 19. Jahrhundert noch verbreitet war, geht dadurch hervor, Die sehr ausführlichen und gründlichen Anmerkungen zu dass Schlichting nur so wenige Exemplare ausmachen der Übersetzung finden sich am Ende des Textteiles. Vie- konnte und dass keines dieser Exemplare den beiden Alt- les davon hätte man sich systematisch zusammengestellt in meistern dieser Forschung, Bischof und Kraus (vgl. Anm. der Einleitung behandelt gewünscht. Nicht einmal der 2), in ihren Darstellungen bekannt waren. Trotzdem wäre Name des Buches tam u-muad »Ganz und bezeugt«, Ge- im Untertitel des Buches das Wort »verschollen« besser gensatzpaar aus der Gesetzesdiskussion des Talmuds, durch das Wort »selten« zu ersetzen. vieldeutig und schillernd, ist in der Einleitung erwähnt, Schlichtings Textausgabe enthält eine kurze Einleitung wohl aber in den Anmerkungen. Ebenso wäre eine gründ- lichere Zusammenstellung und Untersuchung der Un- Die von dem ehemaligen Rabbiner und zum Christentum übergetrete- heilstitel für Jeschu und Anhänger in der Einleitung wün- nen Jechiel Zebi Lichtenstein behaupteten Drucke (Schlichting S. 15) der schenswert gewesen, genauso wie eine Zusammenstellung Toledot Jeschu in Amsterdam und ein Jerusalem Druck aus dem Jahr 1610 (in Jerusalem erschien das erste hebräische Buch 1840) gehören der Hauptmotive und Quellen, aus denen die Erzählung wohl der Phantasie an. Schlichting hat gerade diese Version ausgewählt, zusammengesetzt ist. Trotz dieser Kritik muss festgehal- weil sie die nach seiner Meinung theologisch reichste und durchdachteste ten werden, dass es sich bei dieser Ausgabe um ein Mei- ist. sterstück philologischer Arbeit handelt. 4 Die Jahresangabe geht aus dem Chronogramm auf dem Titelblatt her- vor. Steinschneider (Schlichting S. 8) hält sie für eine Fälschung oder Ir- Bei einer ersten Lektüre des Textes — sie sei dem Leser vor reführung, was Schlichting mit Recht nicht für einsichtig hält. Jellinek der Lektüre der Einleitung empfohlen, er dürfte sie sonst (Bet ha Midrasch VI, 2. Aufl. Jerusalem 1938, S. X hält die Jahreszahl für kaum verstehen — ist auffällig, wie verschieden die Hinter- möglich und glaubt, dass das Buch, auf Grund der hebräischen Typen zu gründe und der Aussagecharakter der einzelnen Erzäh- urteilen, in Breslau gedruckt wurde. Ben Jacob (Ozar ha-sepharim, Wil- na 1880) kennt den Druck nicht. Friedberg (Bet Eked Sepharim [Israel, lungseinheiten sind, die zum Teil nichts mit dem eigentli- o. J.] t Nr. 1411) schliesst sich in der Ortsangabe Jellinek an, nicht aber chen Anliegen des Buches zu tun haben und die Freude in der Jahresangabe (»ohne Jahresangabe«). Das Jahr 1824 als Jahr einer am Erzählen, an Beschreibung von Charakteren und jüdischen Erstveröffentlichung einer Version der Toledot Jeschu passt menschlichen Verwicklungen verraten. Es handelt sich sehr gut in den Kampf gegen die christliche Mission, die sich zu dieser Zeit schon fest etabliert, ihren ersten Höhepunkt und ihre ersten Erfolge hier um echte Volksliteratur, die das Volk auch unterhal- erlebt hat. ten will, nicht nur um trockene Apologetik. Besonders

68 auffällig ist das positive Bild der Maria, die ein durchge- drasch die Petruslegende veröffentlicht, kommt 1877 zu hender Zug aller Toledot-Jeschu-Versionen ist. Verblüf- dem Schluss : »Wer alle diese . . . Bearbeitungen ohne fend auch die positive Schilderung der Kirchengründer, Vorurtheile liest, muss sich sagen, dass die Haupttendenz Johannes, Paulus und Petrus, die alle rabbinische Gelehr- derselben nicht darin besteht, ' das Christenthum zu te waren, heimlich ins Christenvolk eingeschmuggelt wur- schmähen, sondern die Juden gegen die im Namen Jesu den, zum Schein das Christentum annahmen, um das Ju- veranlassten Bedrückungen der Kirche in Schutz zu neh- dentum vor dem Untergang zu bewahren. Ihre Hauptbot- men« (2. Aufl. Jerusalem 1938, S. X). schaft ist die: Trennung der Christen von den Juden. Die Es geht nicht um die Wahrheitsfrage, enthalten die Evan- Christen mögen die Juden in Ruhe lassen, schliesslich sind gelien oder die Toledot Jeschu die Wahrheit über Jesu. sie es gewesen, denen die Christen ihre Erlösung zu ver- Der jüdische Gelehrte S. Kraus schreibt in seinem zitier- danken haben. Sicher spiegelt das die Bedrohung des Ju- ten Buch (S. 237): »Für mich soll Joledoth Jeschu< nicht dentums durch die in die Synagoge eindringenden juden- Richter sein über die Grundwahrheiten des Christentums, christlichen Missionare am Ende des 18./Anfang des sondern es soll aussagen über Anschauungen, die sich in- 19. Jahrhunderts wieder. Gerade der heidnische Nestorius nerhalb des Judentums über das Christentum gebildet ha- (vor Petrus aufgezählt), dem judaisierende Tendenzen ben, d. h. es enthält nicht objektive, sondern subjektive nachgewiesen werden (recht unhistorisch, aber innerhalb Wahrheiten, indem es zwar nicht weiss, was wirklich sich der Polemik der Grosskirche gegen ihn), ist der Übeltäter zugetragen, wohl aber weiss, wie jene Vorgänge sich in und die wahre Gefahr für die Juden. den Augen der Juden spiegelten.« Diese Rückholung ins Judentum der drei Hauptapostel Das grosse Verdienst von Schlichting ist es, diese Grund- des Christentums, die der Version tam u-muad zum Teil wahrheiten für sich selbst als Christen und seine christli- bereits vorgegeben, aber auf alle Fälle noch verstärkt wur- chen Leser herausgestellt zu haben. Im Vorwort macht de, ist nun pädagogisch besonders interessant. Das Chri- der Bearbeiter dazu ein persönliches Bekenntnis: »Dass ich stentum, das durch seinen Stifter quasi satanische Züge als junger Mensch in meiner Studienzeit aufgrund der Ur- aufweist und die Verführung des Judentums beabsichtigt, teile christlicher und jüdischer Gelehrter der Vergangen- wird durch seine pseudochristlichen, in Wahrheit aber jü- heit die Toledot Jeschu zunächst für eine Schmähschrift dischen Apostel zu einer Heilsreligion für die Heiden, die gehalten habe, bedaure ich heute. Bei weiterer Vertiefung friedlich neben dem Judentum akzeptiert werden und die in die Geschichte dieses Volksbuches wurde ich gewahr, auch für das Judentum von Segen sein kann. Folgerichtig dass es sich vielmehr um eine Äusserung des jüdischen enthält tam u-muad, und dies ist Sondertradition dieser Überlebenskampfes handelt, deren tiefgreifende theologi- Version, nach dem Fluch über Jeschu, einen Segen über sche Wurzeln gerade den christlichen Leser zu einer Neu- die drei Hauptapostel, die auch für das jüdische Volk und besinnung herausfordern. Auch in dieser Beziehung will die jüdische Dichtung viel Segensreiches getan haben. diese Arbeit ein Beitrag zur geistigen Wiedergutmachung »Der Unreine, Jeschu« (besser als Schlichting »der unrei- sein.« (5. V) ne Jeschu«) war bei seinem Tode 33 Jahre alt, so dass er- Und in den Abschlussbemerkungen der Einleitung kommt füllt wurde »Die Männer voll Blutschuld und Trug errei- Schlichting durch die Beschäftigung mit dieser jüdischen chen nicht die Hälfte ihrer Tage« (Ps 55, 24). An Rabbi Legende zu Konsequenzen, zu denen vielleicht nicht jeder Jehuda Isch Bartota (Judas Ischariot, Gelehrter bei der christliche Leser kommen wird, die nichtsdestoweniger als Bekämpfung Jeschu) aber und Rabbi Jochanan (der Jün- persönliches Zeugnis wichtig sind: ger Johannes), Abba Schaul (Paulus), Rabbi Schimon Ke- »Unter den verschiedenen Toledot-Jeschu-Ausgaben hat pha (Petrus) und ihren Genossen erfüllt sich »Ich aber T (Tam u-muad) den Anspruch Jeschus am tiefsten aufge- vertraue auf dich« (Ps 55, 24). Sie werden es erlangen, die fasst und am folgerichtigsten dargestellt und hat damit im Huld des Herrn zu schauen und an seinem Tempel ihre jüdisch-christlichen Verhältnis zukunftweisende Akzente Lust zu sehen. Ihr Andenken gereiche zum Segen. »Been- gesetzt. Dass ein Jude zum Herrn der Kirche wurde, det und bezeugt« (nach dem hebräischen Text übersetzt, bleibt der Sporn und die Aufgabe, die das christlich-jüdi- Schlichting, S. 186). Und damit endet das Buch. sche Gespräch auch in Zukunft weiterführen können. Der Dieser Vorgang ist für die spätere Entwicklung in der jü- Christ aber wird auch durch das Schattenbild hindurch dischen Leben-Jesu-Literatur höchst interessant und be- ' die Herrlichkeit seines Herrn erkennen.« (S. 50) merkenswert, da genau der umgekehrte Weg gewählt Michael Krupp, Jerusalem wird: Der wahre Jesu ist durch seine Jünger, besonders aber den Heidenapostel Paulus und die nachfolgende hei- EDUARD SCHWEIZER: Das Evangelium nach Lukas denchristliche Kirche seinem Judentum entfremdet wor- (Das Neue Testament Deutsch, Band 3). Göttingen 1982. den, und dadurch entstand im Abfall vom Judentum eine Verlag Vandenhoeck & Ruprecht. 264 Seiten. andere und neue Religion. Mit diesem Band hat der Zürcher Exeget seine Synopti- In den Dialogen zwischen den rabbinischen Gelehrten ker-Kommentierung in der NTD-Reihe komplettiert. Die und Jeschu wird zuweilen eine theologische Tiefe wie in Auslegung, die perikopenweise mit Analyse, Einzelerklä- den mittelalterlichen Zwangsdisputen zwischen christli- rung und (theologischer) Zusammenfassung vorgeht, ist chen Theologen und Rabbinern erreicht, wobei Jeschu wieder von einer »Einführung« (zu Einleitungsfragen) ganz in den Argumenten seiner mittelalterlichen christli- und von »Rückblicken« gerahmt; diese nehmen hier zur chen Disputanten redet und nicht wie der Jude Jesu, der Christologie des Lukas und zur Frage nach Recht und historische Jesu, den das Judentum dieser Zeit wohl auch Grenzen seiner Verkündigung im Vergleich zu Paulus schwerlich kennen konnte. In dem Auf und Ab zwischen u. a. zusammenfassend Stellung. Ein solches Vergleichen ist Jeschu und den Gelehrten wird der ganze Ernst und die durchaus sinnvoll; doch führt es allzu leicht zum Messen ganze Gefahr deutlich, mit der das Judentum um sein bzw. zum Verlangen, Lukas irgendwie mit Paulus zusam- überleben in der Bedrohung durch das Christentum menzubringen — anders ist es scheinbar nicht möglich, den kämpft. Evangelisten positiv zu sehen. Diesem Druck kann auch Eine Koexistenz in Freiheit und Unabhängigkeit vonein- Schweizer bei allem Wohlwollen, mit dem er auf Lukas ander mit der Kirche für die Juden zu schaffen ist sicher zu hören versucht, letztlich nicht entgehen. Denn mit der ein Hauptanliegen dieser so viel geschmähten jüdischen Bestreitung einer Polemik gegen das Judentum (4) oder Schrift. Schon Jellinek, der im 6. Band seines Bet ha-Mi- mit dem Hinweis darauf, dass sich die lukanische Kon-

69 zeption nicht so wie etwa die »matthäische Heilsgeschich- sich ein »fundamentaler Einwand« ein, auf den wir oben te« zur »Rechtfertigung der scheusslichsten Judenverfol- schon kurz hinwiesen, nämlich der, »dass diesem Glauben gungen« missbrauchen liess (255), ist es nicht getan. Das in der Wirklichkeit dieses dem Tod und der Nichtigkeit Übel wäre vielmehr erst an der Wurzel gepackt, wenn immer noch unterworfenen >Äons< offenkundig keine man darauf verzichtete, »gesetzlich-jüdische Frömmigkeit sichtbare Veränderung entspricht« (342), was zwar nicht als Gefahr« zu kennzeichnen, die man von Paulus her als bloss der Jude wahrnimmt, sondern auch der Nichtjude, »Selbstrechtfertigung« denunziert (213). Ebenso wenig der Jude aber besonders. Denn »Erlösung war für das Ju- haltbar ist eine triumphalistische Behauptung wie die, dass dentum immer schon ein Vorgang, >der sich entscheidend erst das Christusereignis »der ganzen Geschichte Israels in der Welt des Sichtbaren vollzieht und ohne solche Er- Sinn gibt« (61). Wenn wir Christen nämlich, dem Exkurs scheinung im Sichtbaren nicht gedacht werden kann< (G. »Endgültiges Kommen und Endgeschichte« (215-219) zu- Scholem)« (ebd.). Wo bleibt die messianische Herrlich- folge, »mit Lukas an der Erwartung eines alles abschlies- keit, der »pneumatische Glanz«? senden Handelns Gottes festhalten, aber das Hauptge- Es können hier die Antworten des Apostels auf diese be- wicht auf das dadurch bestimmte Verhalten des Men- drängenden Fragen nicht vorgeführt werden; Theobald schen in der Zwischenzeit legen« müssen, dann steht doch erörtert sie eingehend in sorgfältigen Analysen und im wohl auch uns die letzte Sinnerschliessung noch aus, auch Gespräch mit der ganzen Forschung. Paulus macht Ernst wenn wir sie in Jesus Christus grundgelegt glauben — wie mit dem Anbruch der »Fülle« in Christus, überspielt aber sie für Israel und die Juden eben im Exodus grundgelegt beachtlicherweise dabei nie enthusiastisch die Konditio- ist; ausserdem kann »das Interesse für Gott als Schöpfer nen dieses Äons, vielmehr hält er die Hoffnung auf die der Welt und mit ihm der Einsatz für Natur, Gesellschaft »Erlösung des Leibes« (Röm 8, 23), auf den offenbaren und Staat« (218) von uns nur dadurch einigermassen ver- Anbruch der Heilsfülle, lebendig. »Darin ist die paulini- wirklicht werden, dass wir Jesu Auslegungen des »Geset- sche Eschatologie mit der jüdischen Eschatologie zutiefst zes« als verbindlich ansehen. Das hervorragende Profil, verbunden, dass sie im Glauben an die Gegenwärtigkeit das der Kommentar selbstverständlich besitzt, hätte durch des Perisseia, welche sich in der Leiblichkeit des Men- den Verzicht auf derartige Inkonsequenzen nur gesteigert schen und seiner In-Dienst-Nahme sichtbar dokumen- werden können. Peter Fiedler, Freiburg i. Br. tiert, doch zuletzt auf die Überholung ihrer gegenwärti- gen paradoxen Erscheinungsweise im offenbaren Anbruch der Gottesherrschaft, und das heisst auch auf die Erfül- MICHAEL THEOBALD: Die überströmende Gnade. lung aller messianischen Verheissungen, aus ist« (343 f.). Studien zu einem paulinischen Motivfeld (Forschung zur Das paulinische Motiv des »Reichtums« spielt aber auch Bibel, Bd. 22). Würzburg 1982. Echter Verlag. 350 Seiten. im Israel-Part des Römerbriefs eine wichtige Rolle (vgl. Im christlich-jüdischen Gespräch spielt immer wieder das Röm 9, 23; 10, 12; 11, 12), weshalb gerade auch das Thema »Verheissungsüberschuss« eine wichtige Rolle, in »Israel-Kapitel« in Theobolds Arbeit für den Leser des dem Sinn (vom jüdischen Gesprächspartner her gesagt): Freiburger Rundbriefes von hoher Bedeutung ist; Th. Jesus von Nazareth habe in Wirklichkeit die altbundli- überschreibt es: »Gottes Reichtum und der Fall Israels« chen Heilsverheissungen nicht erfüllt; folglich sei er auch (129-166). Der Apostel schreibt in Röm 12: »Wenn aber nicht der Messias. Jedenfalls gäbe es da noch einen gros- ihr [der Juden] Fall Reichtum für die Welt und ihr Zu- sen »Verheissungsüberschuss«, dessen Erfüllung noch aus- rückbleiben Reichtum für die Heiden [bedeutet], um wie- steht (wie etwa die alle umfassende Gerechtigkeit, der viel mehr ihre Fülle«: hier bleiben Israel und die Heiden weltumspannende Friede, die Überwindung von Krank- untrennbar aufeinander bezogen, insofern aus der »Ver- heit und Tod). Ein gewichtiger, scheinbar schwer wider- stockung« der Juden dem Evangelium gegenüber der legbarer Einwand! Paulus, der aus dem Judentum kam, Reichtum Christi für die Heiden resultierte, der ihnen in hat zwar nicht den Begriff »Verheissungsüberschuss« ge- der Mission mitgeteilt wird; andererseits wird im gleichen braucht, aber er redet in seinen Briefen häufig vom Atemzug die Rettung Israels angesagt (wie dann noch ein- »Überschuss« (»Überströmen«), substantivisch und verbal deutiger in Röm 11, 26). »Juden und Heiden — das ist die

(griechisch: Perisseia, perisseuein), oder auch von »Fülle« Achse, um die sich die Reflexion des Paulus in Röm 9- 11 und »Reichtum« (»Reichsein«). Mit welchem Recht kann dreht. Diese Achse ist für sein Denken konstitutiv, erwar- er so reden? Diese Frage zu beantworten, ist das Ziel der tet er doch nicht, dass die Polarität von Israel und Ekkle- Dissertation von M. Theobald. Es zeigt sich, dass Paulus sia sich in dieser Zeit auflösen werde, etwa derart, dass so nur »von seiner Sicht des Christusereignisses her« (341) ein zum Evangelium bekehrtes Israel von der Kirche ab- reden kann. »Auch die spezifische Verborgenheit, in der sorbiert würde. Das bleibende Nebeneinander der beiden sich dieser Anbruch [der »Fülle«, des »Überströmens«, des Gotteszeugen Israel und Ekklesia ist ihm vielmehr Zei- »Reichtums«] vollzieht, erklärt sich für ihn von diesem chen dafür, dass die Geschichte andauert und der offen- Ursprungsgeschehen her« (ebd.), das ja unlösbar mit bare Anbruch des Heils noch auf sich warten lässt« (165). Kreuz und Auferstehung Jesu zusammenhängt, aber auch Niemand, der sich mit Röm 9-11 ernsthaft beschäftigt, mit der Berufungserfahrung des Apostels, die ihn persön- wird an den den feinsten Verästelungen des paulinischen lich die Übermacht der Gnade erkennen liess. Hier liegen Gedankengangs sorgfältig nachgehenden Analysen Theo- die historischen und biographischen Wurzeln für den balds vorbeigehen dürfen. Ein wichtiges Werk gerade »Umschlag durch Übermass« (P. Ricoeur), den Paulus auch für das christlich-jüdische Gespräch. dann im Hinblick auf das Heilsgeschehen in Christus Franz Mussner, Passau theologisch durchreflektierte, so besonders in Röm 5, 12- 21 (Die Macht der Sünde und die Fülle der Gnade), in 2 FRANZ-ELMAR WILMS: Freude vor Gott. Kult und Kor 3 f. (Die Fülle der Herrlichkeit und die Schwachheit Fest in Israel. (Schlüssel zur Bibel). Regensburg 1981. des Apostels), in 2 Kor 10-13 (Masslosigkeit und Selbst- Verlag Friedrich Pustet. 469 Seiten. ruhm), in 2 Kor 8 f. (Die »unaussprechliche Gottesgabe« In der Reihe »Schlüssel zur Bibel« veröffentlichte F.-E. bei den Heiden). Auch in der paulinischen Paränese wirkt Wilms nach seinem ersten Band »Wunder im Alten Testa- sich »das Gesetz des Überflusses« aus, nämlich im Rei- ment» (1979) 1 nun eine Arbeit, die sich mit der Kultpraxis cherwerden in der Liebe (1 Thess, Phil, 1 Kor). und dem Kultverständnis des alttestamentlichen Israel Gegen diese »Überfluss«-Theologie des Apostels stellt i S. u. S. 71.

70 auseinandersetzt. Es ist eine Arbeit geworden, die durch chen, Krafttaten, Grosstaten, »Schlag«/»Plage«, Versu- ihre umfassende Information einen guten Einstieg ermög- chungen, Wahrzeichen, furchterregende Taten, Ruhmes- licht und weiterführende Anregungen für ein sachgemäs- taten), hinsichtlich Vorkommen, inhaltlicher Bedeutung seres Verständnis der alttestamentlichen gottesdienstli- wie dahinter aufscheinender theologischer Konzeption chen Praxis vermittelt. Nach einer einführenden Darstel- untersucht werden. lung über das Wesen des Kultes gibt der Verf. einen kur- Im zweiten Teil wird sodann eine Reihe alttestamentlicher zen Abriss über die Religionsgeschichte Israels, der durch Wundererzählungen unter übergreifenden thematischen seine selektiven Hinweise und durch das Einbeziehen des Aspekten (1. Wunder der »Rettung am Meer»; 2. Wunder geschichtlichen Horizontes den Rahmen für die im 3. Ka- als Lehre Jon 1,4 - 16; 3. Jahwe als Kriegsheld Ex 17,8 - 16; pitel enthaltenen speziellen Ausführungen über den Kult Ri 6.7 und 8,28; 2 Chr 20,1 - 30; 4. Naturwunder im Ver- im Alten Testament darstellt. Aufgehängt wird die Dar- lauf der Wüstenwanderung Ex 15,22 - 27; 17,1 - 7; Num stellung an Sonderthemen wie z. B. Gebet, Riten der Rei- 20,1 - 13; Ex 16; Num 11; 5. Prophetenwunder aus dem nigung und Entheiligung, Weiheriten, Fasten und Busse, Elischazyklus) analysiert. Der abschliessende dritte Teil der vielfältigen und historisch differenzierten Opferpraxis. fragt nach der Antwort des alttestamentlichen Menschen Weitere Kapitel über die heiligen Stätten, die heiligen Zei- auf die göttlichen Zeichen, wobei diese unter dem doppel- ten (mit dem Festkalender) und das Kultpersonal vervoll- ten Aspekt der Gotteserkenntnis einerseits und der Ver- ständigen den phänomenologischen Rundgang. Im härtung des Herzens andererseits zusammengefasst wird. Schlusskapitel versucht Wilms dann zu einer Auswertung — Die Behauptung des Klappentextes, wonach es dem Au- des Materials für das christliche Kultverständnis zu gelan- tor gelingt, »die Ziele und Absichten der Wundererzäh- gen. Einige kritische Anfragen an die Arbeit betreffen die lungen des AT aufzuschlüsseln und erkennbar zu machen, Darstellung der prophetischen Kultkritik, die sich nach was Israel unter >Wunder< verstand«, ist nicht eingelöst. dem Verf. nirgends gegen die Art der Darbringung der Vor allem — nicht zuletzt auch wegen der unzureichenden Opfer, vielmehr jedoch gegen den falschen Adressaten Analyse der Texte — ist es nicht gelungen, die theologische richtet (S. 76). Es ist zu fragen, ob Wilms mit dieser Be- Konzeption der einzelnen Wundergeschichten wie ihre hauptung der radikalen Kultkritik der Propheten Jesaja, Funktion im Rahmen umgreifender literarischer Zusam- Amos, Hosea und Jeremia gerecht wird. Ob zur Zeit der menhänge sichtbar zu machen. So müssen denn die altte- Landnahme allen israelitischen Stämmen die Verehrung stamentlichen Wundererzählungen weiterhin auf eine be- eines einzigen Gottes gemeinsam war, mag in dieser Ex- friedigende Bearbeitung warten. Peter Weimar, Münster klusivität auch überzogen formuliert sein. Die »Freude vor Jahwe« als liturgische Anweisung be- ELIAS BICKERMAN: Studies in Jewish Christian Histo- trachtet der Verf. als ein Charakteristikum Israels (S. ry, Part Two (Arbeiten zur Geschichte des antiken Juden- 108). Diese Freude, die die dunklen Erfahrungen des Le- tums und Urchristentums, Band IX). Leiden 1980. E. J. bens einbezieht, weiss um die Not des Alltags. Erst am Brill. 405 Seiten. Ausgang des Alten Testaments wäre dann eine andere Es war ein sinnvolles Unternehmen, die Aufsätze des be- Stimmung in den Gottesdienst gekommen, insoweit näm- deutenden, jüngst verstorbenen Gelehrten Elias Bicker- lich die Angst vor der Sünde und die Sorge, diese von man zu sammeln. Er vereinigte in sich das Wissen eines Gott nicht verziehen zu bekommen, sich breitgemacht klassischen Philologen mit tiefen Einsichten in das antike haben. Die ausführlich aufgezählten alttestamentlichen Judentum. Bickerman war eine der Autoritäten für das Belegstellen über die israelitische Opferpraxis lassen hellenistische Judentum, und seine Arbeiten über die durch die Auslassung des jeweiligen Kontextes oft einen Makkabäer werden auch in der Zukunft Geltung behal- tieferen und kritischen Einblick in die Grundstrukturen ten. Im vorliegenden Werk sind Studien in englischer, der alttestamentlichen Kultauffassung vermissen. Bei der deutscher und französischer Sprache vereinigt worden;

Auswertung des aufgeführten Textmaterials wäre zu wün- zeitlich stammen sie aus den Jahren 1927 - 1975. Durch die schen gewesen, dass Wilms der Familie als Ort des liturgi- 1927 publizierte Arbeit ist Bickerman in der wissenschaft- schen Geschehens2 mehr Aufmerksamkeit gewidmet hätte. lichen Welt bekanntgeworden: Ritualmord und Eselskult. Gerade hier liegt eine typisch jüdische Besonderheit des li- Es handelt sich hier um ein altes Wandermotiv, vermutlich turgischen Verständnisses vor, die es verdient hätte, ei- im 4. Jahrhundert v. Chr. entstanden. Es wurde um 200 gens herausgestellt zu werden, weil gerade sie einen v. Chr. von Mnaseas in die griechische Literatur eingeführt. fruchtbaren Ansatz für die Verlebendigung und Erneue- Einige Jahrzehnte später behaupteten die Apologeten des rung unserer Liturgie darstellen könnte. Epiphanes, Juden beteten einen Eselskopf an. Mit der Dirk Kinet, Augsburg Verbreitung des Christentums wurde diese Fabel auch auf

2 Dazu u. a.: Robert Raphael Geis, Vom unbekannten Judentum. Frei- diese Religion übertragen. Nach Tertullian verschwindet burg i. Br. '1961, Herder (vgl. in: FrRu XIII, 122), 2 1975. diese Fabel: Severus eröffnet die erste allgemeine Verfol- (Anm. d. Red. d. FrRu) gung. FRANZ-ELMAR WILMS: Wunder im Alten Testament Von den anderen Studien erwähnen wir: Date of Testa- (Schlüssel zur Bibel). Regensburg 1979. Verlag Friedrich ment of Twelve Patriarchs. Bickerman kommt zu dem Pustet. 368 Seiten. Ergebnis, dass das Werk nach 330 und vor 120 v. Chr. Die vorliegende Arbeit, die aus Vorlesungen an der Päd- entstanden ist. Der wahrscheinlichste Zeitpunkt dürfte das agogischen Hochschule Karlsruhe entstanden ist, unter- erste Viertel des 2. Jahrhunderts v. Chr. sein; der Autor nimmt erneut und zugleich umfassend den Versuch, dem des Buches war also ein Zeitgenosse von Jesus Sirach. In Phänomen des Wunders im Alten Testament nachzuspü- einer anderen Arbeit über die Privilegien der Juden be- ren. Nach einigen mehr allgemeinen Hinweisen auf das weist Bickerman, dass die entsprechenden Zeugnisse bei alttestamentliche Wunderverständnis (»>Wunder< sind für Josephus keineswegs alle gefälscht zu sein brauchen, wie den gläubigen Israeliten alle Werke seines Gottes. Sie ver- dies in hellenistischer Zeit üblich war. Misstrauen braucht weisen den Menschen an Gott und fordern ihn auf, Jahwe man nur gegenüber dem Brief des Königs Areus sowie ge- zu preisen, >weil er Grosses getan«<), behandelt der erste genüber dem Briefwechsel zwischen Ptolemäus VII. und Teil die alttestamentliche Wunderterminologie, wobei die Onias IV. zu haben. Von grosser Bedeutung ist ferner die verschiedenen Begriffe, mit denen im Alten Testament das Untersuchung der seleuzidischen Charter für Jerusalem Phänomen des Wunders im einzelnen benannt wird (Zei- (Josephus, Ant. XII, 140 ff.). Der Verf. kommt zu dem

71 Ergebnis, dass dieses von Antiochus III. zwischen 200 und (A Philosophical-Mystical Interpretation of a Shi cur Qo- 197 erlassene Edikt authentisch ist. Der Inhalt spiegelt die mah-Text: 153-171) und Arnold J. Band (The Funktion besondere politische Struktur Jerusalems wieder; es han- an the Enigmatic in Two Hasidic Tales: 185-209). Sie delt sich um eine Stadt, deren Zentrum ein Tempel ist, ei- verstehen unter Mystik eine einigende Sinn-Schau Gottes, ne Stadt, in welcher die Priesterschaft priviligiert ist und der Geschichte und des Lebensschicksals der Glieder des in der die Tora die Verfassung ersetzt. Volkes Gottes, die aus einer Übung der Selbstbeherr- In der Studie »Ein jüdischer Festbrief vom Jahre 124 schung, Besinnung und symbolischen Intuition erwächst v. Chr. (II. Makk. 1, 1-9)« untersucht Bickerman die theo- (vgl. 15 u. ö.). Diesem Definierungsversuch wird aller- logische Tendenz dieses wichtigen Schreibens und den zeit- dings von den verschiedenen Autoren nur vage gefolgt. geschichtlichen Hintergrund. Von besonderem Interesse Gerschom Scholem, der grosse Altmeister jüdischer My- sind auch die Studien über die pharisäische Traditionsket- stik-Forschung, habe die engen Zusammenhänge zwi- te sowie über den berühmten Spruch von Antigonos aus schen der Shi cur Qomah-Tradition und den anthropo- Socho (Pirke Abot I, 3). Erwähnt sei auch die Arbeit über morphen Versen des Hohenliedes (Hl 5, 11-16) erkannt »The Civic Prayer for Jerusalem«. Weitere Studien, so (4). Der Anthropomorphismus der Shi cur Qomah-Texte u. a. über den hellenistisch-jüdischen Schriftsteller Deme- (in denen von phantastischen Grössenmassen Gottes die trios (Ende des 3. Jh. v. Chr. in Alexandrien), sollten Rede ist) sei nicht so naiv und so derb gemeint gewesen, ebenfalls sorgfältig gelesen werden. Das Buch bietet eine wie dies Moses Maimonides (1135-1204) und auch mo- Fülle von Einsichten auf der Grundlage einer sorgfältigen derne Forscher unterstellt haben. Die Shi cur Qomah-Tex- philologischen Beschäftigung mit den antiken Texten. te »beabsichtigen nicht, die Gottheit zu beschreiben, son- E. L. Ehrlich dem nur die Dimensionen seiner körperlichen Erschei- nungsweise« (154). Und auch diese Erscheinungsweise ha- MARTIN BUBER: Begegnung, Autobiographische Frag- be bei vielen Mystikern (mit Ausnahme der Zohar-Tradi- mente, mit einem Nachwort von Albrecht Goes. Heidel- tion) nur »eine symbolische Bedeutung« (165) gehabt. berg 3 1978. Verlag Lambert Schneider. Kleinformat, 114 Von besonderer Bedeutung sind Forschungen über Früh- Seiten. formen der jüdischen Mystik. Nach David Winston war Ein gefälliges und inhaltsreiches Buch! Buber charakteri- bereits Philo von Alexandrien (gest. ca. 40 n. Chr.) stark sierte seine eigene Vergangenheit, seine Lehrer und die mystisch gestimmt. Er war »zumindest ein mystischer Genese seiner Ideen nicht immer auf gleiche Weise. In Theoretiker (wenn nicht auch ein handelnder Mystiker), dieser Auflage wurden ca. 40 Änderungen gegenüber den und zwar vom Innersten seines Wesens heraus. Seine phi- beiden ersten Auflagen vorgenommen'. Die 3. Auflage losophischen Schriften können nicht voll verstanden wer- enthält einen knappen textkritischen Apparat, aus dem er- den, wenn man seine mystischen Vorstellungen nicht be- sichtlich wird, wann Buber etwas über sich niederschrieb achtet« (34 f.) Ithamar Gruenwald modifiziert seine frü- und wann er Retuschen an früheren Blickweisen anbrach- here These über den Ursprung der Gnosis im Rahmen des te. Zwanzig relativ kurze Texte umschreiben fragmenta- Judentums: Die Gnostiker hätten zwar jüdisches Material risch und doch gültig, welche Erfahrung Buber mit der (besonders aus der Apokalyptik und aus der Mystik) be- Natur, mit den Menschen und mit sich selbst machte. nützt. Man dürfe aber diese Benützung nicht als eine blosse Clemens Thoma indirekte Reflexion über jüdisches Material verstehen. Vgl. in: FrRu XV/1964, S. 127: Stuttgart 1963, W. Kohlhammer, hg. Wenn auch das Judentum nicht die einzige Quelle der von P. A. Schilpp / M. Friedmann in der Reihe: »Philosophen des 20. Gnosis gewesen sei, so gebe es doch »connecting points Jahrhunderts«. between Jewish Merkavah Mysticism and Gnosticism«. Dies bedeute jedoch nicht, dass es »einen jüdischen Typ MARC CHAGALL / KLAUS MAYER (Hrsg.): Der der Gnosis« gab (52). Gott der Väter. Das Chagall-Fenster zu St. Stephan in Amos Funkenstein analysiert die Weise mit der einer der Mainz. Würzburg 1978-1981. Echter Verlag. Grossfor- bedeutendsten jüdischen Mystiker des Mittelalters, Mose mat, 12 Farbfotos, 54 Seiten. ban Nachman aus Gerona (1195-1270), die Tora deutete. S. o. S. 18 f. Er habe den Bibeltext »in den Dienst historisch-kosmolo- gischer Überlegungen gestellt«. Er arbeitete aus der Tora JOSEPH DAN / FRANK TALMAGE (Hrsg.): Studies in »das Exil als das universale Gericht Gottes in der Ge- Jewish Mysticism. Proceedings of Regional Conferences schichte« heraus (133). Diese theosophisch-historiosophi- Held at the University of California, Los Angeles and schen Anliegen haben bei Mose ben Nachman auch eine McGill University in April, 1978, Cambridge Mass. (Asso- die Einbildungskraft anregende Funktion: Sie symbolisie- ciation for Jewish Studies) 1982.220 Seiten. ren die göttlichen Bewegungen und Kräfte (142). Die Herausgeber stellen die Forderung auf, dass das Stu- Joseph Dan analysiert eine Reflexion über das Gebet, die dium der jüdischen Mystik (Merkaba-Mystik, Hekhalot- aus dem mystischen Kreis »special cherub« (12./13. Jh.) in Mystik, Kabbala, chassidische Mystik, mystischer Hala- Nordfrankreich stammt. Es ging diesen Mystikern um die chismus etc.) als unentbehrlicher Teil judaistischer Stu- Zielrichtung der Gebetsintention. Man dürfe die Gebete dien und Forschung akzeptiert werden muss. Denn »das nur an die Heiligkeit Gottes richten. Diese Heiligkeit sei Verständnis der Entwicklung der jüdischen Mystik ist für identisch mit der Kavod (= Herrlichkeit) Gottes. Man das Studium der meisten historischen, religiösen und lite- dürfe mit dieser Kavod Gottes keine anthropomorphen rarischen Phänomene des Judentums wesentlich« (2). Zur Vorstellungen verbinden. Sie sei jener Aspekt Gottes, der Untermauerung dieser These melden sich die bekannte- weder Form noch Bild hat. Damit wird die Forderung ver- sten Schüler Gerschom Scholems zu Wort: Joseph Dan bunden, dass das Gebet an kein Wesen gerichtet werden (Mysticism in Jewish History, Religion and Literature: dürfe, das menschliche Eigenschaften besitze. Empfänger 1-14; The Emergence of Mystical Prayer: 85-120), David von Gebeten sei einzig der ungreifbare und unbildliche

Winston (Was Philo a Mystic?: 15-39), Ithamar Gruen- Gott (94-97). wald (Jewish Merkavah Mysticism and Gnosticism: Das Phänomen der jüdischen Mystik wird in diesem Sam-

41 - 55), Ivan Marcus (Hasidei 'Ashkenaz: Private Peni- melband allseitig anzuleuchten versucht. Dazu gehören tentials: 57-84), Amos Funkenstein (Nahmanides' Symbo- auch geschichtliche Fragen. Joseph Dan macht z. B. dar- lical Reading of History: 129-140), David R. Blumenthal auf aufmerksam, dass man bei Untersuchungen über die

72 Geschichte der jüdischen Mystik stark zwischen vor und scher Nahum hineingedeuteten Feindschaftsbeziehungen nach 1492 n. Chr. unterscheiden muss. Vor 1492 wurde zwischen der Qumrangemeinde, den Pharisäern und den die Mystik in esoterischen Zirkeln gepflegt; die Mystiker Sadduzäern anzubringen. Hier und an vielen andern Stel- traten nicht als »possessors of divine secrets« (12) auf, len kann man den Fortschritt der Forschung mitverfolgen. sondern als legitime Vertreter der rabbinischen Tradition. Insgesamt wird jeder, der sich über die Qumranforschung Nach 1492 trat eine Krise in der jüdisch-philosophischen von Zeit zu Zeit aus fachlichen (historischen, judaisti- Argumentation zutage. Die Ursache hierfür lag in den schen, alttestamentlichen, neutestamentlichen) Rücksich- Vertreibungen und Verfolgungen. Deshalb wandten sich ten orientieren muss, für diesen ausgezeichnet orientie- immer mehr jüdische Intellektuelle der Kabbala zu, »seek- renden Band dankbar sein. Clemens Thoma ing answers to the questions of meaning of Jewish ex- istence in exile and a promise of approaching redemption« WILHELM GÜDE: Die rechtliche Stellung der Juden in (13). den Schriften deutscher Juristen des 16. und 17. Jahrhun- Leider wird in diesem Sammelband keine begriffliche derts. Sigmaringen 1981. Verlag Jan Thorbecke. 88 Sei- Übereinkunft erreicht. Es ist in der Wissenschaft umstrit- ten. ten, ob der Mystik-Begriff im Falle des Judentums günstig Der Verfasser, jetzt Richter am Oberlandesgericht Karls- ist; namhafte Autoren ziehen den Begriff Esoterik vor. Ei- ruhe, ist bereits durch seine Mitarbeit an Band 2 der Aus- ne Begriffsstudie, weshalb »Mystik« der beste Begriff für gewählten Schriften von Guido Kisch und durch seinen die geschilderten Phänomene sei, hätte in den Band hin- Beitrag »Zur rechtlichen Stellung der Juden in der frühe- eingehört. Vorteilhaft wäre ferner gewesen, wenn die Zo- ren Neuzeit« in der Festgabe zum Schweizerischen Juri- har-Tradition eingehender behandelt worden wäre. Von stentag 1973 einschlägig ausgewiesen. Er hat damals dem diesen Mängeln abgesehen, liefert das Buch eine verlässli- Altmeister der jüdischen Rechtsgeschichte in Basel wäh- che Übersicht über den derzeitigen Stand der Forschung rend einiger Jahre als wissenschaftlicher Assistent zur Sei- über mystisch-esoterische jüdische Strömungen und um te gestanden. Von daher rührt auch die Anregung zu die- deren geschichtliches und theologisches Umfeld. ser Arbeit, die dann 1980 der Freiburger rechtswissen- Clemens Thoma schaftlichen Fakultät als Dissertation vorlag und die nun, besonders schön ausgestattet und mit einer Widmung an KARL E. GRÖZINGER / NORBERT ILG / HER- Guido Kisch versehen, in diesem demselben nahe verbun- MANN LICHTENBERGER / GERHARD-W. NEBE / denen Verlag erschienen ist. HARTMUT PABST (Hrsg.): Qumran. Wege der For- Güdes Buch vermittelt in sehr genauer und dennoch fes- schung, Bd. 410. Darmstadt 1981. Wissenschaftliche selnder Darstellung ein eindrucksvolles Bild von den viel- Buchgesellschaft. 398 Seiten. fältigen Gesichtspunkten, unter denen die Juristen des Dieser Band will über die Qumranforschung der letzten Spätmittelalters, der Reformationszeit und des beginnen- 30 Jahre orientieren. Aus dem Gesamt der Beiträge soll ei- den Naturrechts die Rechtsstellung der Juden zu begrei- ne Forschungsgeschichte herausschauen. Den Herausge- fen und zu regeln versuchten. Hierbei spielten — dies ist bern ist zu attestieren, dass sie die Qumranforschung der ein besonders wichtiges Ergebnis der Arbeit — Rassenvor- ersten und zweiten Stunde samt ihren Theorien kennen urteile noch keine Rolle, und es herrschte das Bestreben und kritisch zu würdigen wissen. In der Einleitung erklä- vor, alte religiöse Spannungen, Furcht und tief eingewur- ren sie, weshalb sie gerade diese Autoren und diese Arti- zelte Vorstellungen von der Niedertracht und Rechtlosig- kel auswählten, an welchen Punkten der Forschungstrend keit der Juden durch eine im geltenden Römischen Recht seither eine andere Wendung nahm und wo sie meinen, begründete Friedensordnung zu überwinden. Neben dem auf lasche Forschungsansätze (Fehlübersetzungen etc.) kirchenrechtlichen Gebot der Nächstenliebe — das freilich hinweisen zu müssen. die Ausübung religiösen Zwangs nicht ausschloss — war Folgende Themenkreise werden angegangen: 1) Zeit und die Stellung der Juden als cives Romani und als Schutzbe- Umwelt der Gemeinde, 2) Struktur und Organisation, 3) fohlene des Kaisers, als »der kaiserlichen Majestät Kam- Theologie und Heilserwartungen, 4) Die Bedeutung für merknechte«, von entscheidendem Gewicht. Bedeutende die Erforschung des Alten und Neuen Testaments. Cha- Persönlichkeiten wie Johannes Reuchlin oder Ulrich Za- rakteristische Arbeiten von 13 Forschern, die von 1955 bis sius treten recht unterschiedlich in Erscheinung, die da- 1971 die Qumranforschung mitprägten, sind in diesem malige juristische Literatur wird abgehandelt, religiöse Band abgedruckt. Einer von ihnen, Andre Dupont-Som- und rechtliche Gründe für die Duldung der Juden, das Ju- mer scheint mit zwei Artikeln (»Fremdeinflüsse auf die jü- denregal und die Idee der Billigkeit (aequitas), die auch in dische Qumransekte« und »Schuld und Reinigungsriten in der Rechtsprechung des Reichskammergerichts gegenüber Qumran«) auf. Es wäre wohl besser gewesen, Dupont- den Juden eine Rolle spielt. Einschlägige Quellen sind Sommer auch nur — wie alle andern Autoren — mit einem grossenteils deutsch und lateinisch zitiert. Artikel ins Bild zu rücken und dafür etwa D. Barthelemy Der Verfasser unterscheidet mit gutem Grund die oftmals das Wort zu geben. Er hätte vor allem über die sprachli- grausame Wirklichkeit, die er durch Beispiele belegt, von chen Fremdeinflüsse Gründliches zu sagen. der juristischen Lehre: »Das Recht bildet den Damm, der Ein besonderes Verdienst dieser Edition besteht darin, die Juden vor schrankenloser Willkür bewahrt und ihnen dass 11 Arbeiten aus dem Englischen, Französischen oder damit wenigstens einen bescheidenen Lebensraum si- Hebräischen übersetzt sind. Es handelt sich durchweg um chert.« Eine wertvolle, nachdenklich stimmende Arbeit! ausgezeichnete Übersetzungen, an denen nichts zu mä- Hans Thieme, Freiburg i. Br. keln bleibt. Schliesslich ist auch die geglückte Zuordnung der einzelnen Artikel zueinander zu erwähnen. J. T. Milik ALFRED •HAVERKAMP (Hrsg.): Zur Geschichte der (Die Geschichte der Essener: 58-120) ergänzt und korri- Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der frü- giert H. H. Rowleys Geschichte der Essener (23-57). Eine heren Neuzeit (Monographien zur Geschichte des Mittel- besonders geglückte Gegenüberstellung besteht zwischen alters, Bd. 24). Stuttgart 1981. A. Hiersemann Verlag. 319 der Arbeit von David Flusser (121-166) und jener von Seiten. Yigael Yadin über den Pescher Nahum. Aufgrund der neu Dieser reichhaltige Band würde ein weit ausführlicheres gefundenen Tempelrolle von Qumran vermag Yadin Referat erfordern, als dies möglich ist. Wir können hier deutliche Korrekturen und Fragezeichen an die in der Pe- nur weniges erwähnen und den Leser ersuchen, dieses

73 wertvolle Buch sorgfältig zu studieren, da es eine Fülle dung zwischen jenen Fragen gelingt, welche der moderne von sonst schwer zugänglichem Material enthält. F. Graus Mensch aus seinem (wirklichen oder doch vermeintlichen) behandelt historische Traditionen über Juden im Spätmit- gegenwärtigen wissenschaftlich orientierten Wissensstand telalter. Nur gelegentlich und beiläufig drangen geschicht- heraus stellt (oder welche ihn von dorther, vielleicht dun- liche Reminiszenzen in das jüdische Schrifttum ein, sonst kel, bedrängen), und jenen anderen, welche beständig neu galt Geschichte als Abfolge von Leiden und Verfolgung. aus der unmittelbaren Erfahrung des Lebens und seiner Auch die Christen behandelten die Juden nicht im Rah- (wie immer gearteten) Bedrohung einfach erwachsen. men einer Geschichtsdarstellung, sondern überlieferten Hier liegt die Qualität des Werkes allein schon einmal Schauerlegenden, etwa die von Ritualmorden und Ho- darin, dass der Verfasser diese Fragen in ihren Abgründen stienschändungen. Sonst erscheinen Juden in Anekdoten aufgespürt hat. Dass er sie darüber hinaus dann auch und folkloristischen Berichten, die aber nicht Ansatzpunkt sprachlich überhaupt und dazu noch in dieser geradezu für historische Traditionen sind. Die historische Betrach- leicht zugänglichen und verständlichen Form zu fassen tung der Juden im Spätmittelalter war auch deshalb un- und damit zu vermitteln vermag, ist eine weitere hohe möglich, weil die Juden fortlaufend mehr dämonisiert Qualität des Werkes. Wer immer sich mit solchen Fragen wurden und ein ähnliches Schicksal wie andere Rand- zu beschäftigen hat, wird leicht ermessen können, was da- gruppen der Gesellschaft erfuhren (vgl. die Hexenverfol- hinter sich verbirgt. gungen). Selbstverständlich ist der Ansatz von Heschel in bezug auf In einer ausführlichen Studie behandelt der Herausgeber die Gottesfrage, welche in Konsequenz das ganze Werk A. Haverkamp die Judenverfolgung zur Zeit des Schwar- durchzieht, ein positiver und nicht etwa ein neutraler. zen Todes im Gesellschaftsgefüge deutscher Städte. Der Doch wird aus der Lektüre deutlich, warum dem so ist — Verfasser kommt zu dem Ergebnis, dass man bei diesem und im Grunde sogar sein muss, denn jene (vermeintliche) für die Judenheit tiefgreifenden Verfolgungsprozess nicht Neutralität wird als ein recht künstliches Postulat einer von einer einheitlichen Motivation der Verfolger sprechen bestimmten Art des Denkens blossgelegt — und darin (aber kann. Man müsste vor allem auch die politische Motiva- eben nur dort) entsprechend respektiert. Manche Formu- tion innerhalb der städtischen Führungsschichten und der lierung, die vielleicht für sich genommen missverständlich Herrschaftsträger in den Territorien näher erforschen. sein könnte, wird durch den Zusammenhang eindeutig. Wesentlich war dabei die Regelung der Nutzungsrechte Alles in allem: ein zutiefst religiöses Werk im besten Sinn über die Juden. E. Voltmer, Zur Geschichte der Juden im dieses Wortes, das auf der Höhe der Fragen unserer Zeit spätmittelalterlichen Speyer, bietet eine Fallstudie am Bei- steht. Eine bessere Empfehlung könnte es wohl kaum ge- spiel dieser Stadt. Hier lässt sich zeigen, wie der Stadtrat ben. Odilo Kaiser, Freiburg i. Br. aus finanziellen Erwägungen eigentlicher Träger der Ju- denpolitik wird und sich die Nutzungsrechte über die Ju- STEFAN HEYM: Ahasver. Roman. München 1981. C. den erkämpft. F. Irsigler, Juden und Lombarden am Nie- Bertelsmann Verlag. 319 Seiten. derrhein im 14. Jahrhundert, zeigt, dass Juden und Lom- Ahasver — Revolutionär, personifizierte Hoffnung, ge- barden, beide im Geldgeschäft tätig, eine unterschiedliche stürzter Engel, Weltveränderer, Prinzip des Guten und Stellung besassen: Juden bleiben unterdrückte religiöse Retter in der Not — er ist für Stefan Heym der »ewige Ju- Minderheit, unter der es auch viel Arme gibt. Beide wer- de«, der »ewig wandernde Jude«. Die »Keimzelle des Ge- den dann übrigens allmählich durch das Vordringen ein- dankens vom irdischen Weiterleben eines Zeitgenossen heimischer Kreditgeber aus den grösseren Geldleihge- des Gekreuzigten bis zu dessen endlicher Rückkunft« (S. schäften verdrängt. Walter Röll befasst sich mit den Ju- 238) liegt in Joh 21,22 f. Die eigentliche Ahasver-Literatur denleiden an der Schwelle der Neuzeit; A. Maimon be- entstand erst nach der Reformation (S. 239). Die Legende handelt den Judenvertreibungsversuch Albrechts II. von berichtet von einer Begegnung des ersten schleswig-hol- Mainz und seinen Misserfolg (1515/16); Daniel Cohen steinischen Kirchensuperintendenten Paul von Eitzen mit schreibt über die Entwicklung' der Landrabbinate in den dem ewigen Juden. Diese Legende hat Heym mit einem deutschen Territorien bis zur Emanzipation, und V. Press Briefwechsel der Jahre 1979- 81 zwischen einem DDR- untersucht den Versuch von Rabbinern und Vorstehern Ideologen und einem Jerusalemer Professor über die Exi- zur Zeit Rudolfs II., eine überregionale Organisation für stenz Ahasvers verflochten. Nach der Überzeugung des die Juden im Reich zu schaffen. E. L. Ehrlich letzteren lebt dieser Ahasver heute als Schuster an der Via Dolorosa in Jerusalem, unauffällig und bescheiden. ABRAHAM JOSHUA HESCHEL: Gott sucht den Men- Der Autor hat in diesem anspruchsvollen Roman viel schen. Eine Philosophie des Judentums. (Deutsche Neu- Theologie verarbeitet. Sein Werk erstreckt sich über die bearbeitung der amerikanischen Ausgabe von 1955 durch gesamte Weltzeit: von der Erschaffung der Welt bzw. der R. Olmesdahl.). Neukirchen-Vluyn 1980. Neukirchener Engel bis hin zum Weltenende, bis Armageddon stattfin- Verlag des Erziehungsvereins GmbH. 330 Seiten. det. Heym hat ein hochentwickeltes Sensorium für theo- Es ist wahrscheinlich gerade das Urjüdische, das dieses logische Fragen, denen sich der jüdisch-christliche Dialog Buch in so hohem Masse auszeichnet und empfehlenswert stellen muss. Von diesbezüglich besonderem Interesse ist macht: dass nämlich Religion und Leben so unzertrenn- Kapitel 19 des Romans, in dem eine disputatio zwischen lich zusammengehören — und hier auch so gesehen und Juden und Christen geschildert wird (S. 196-207). Ihr dargestellt werden, dass jede Vereinseitigung sich gerade Hauptthema ist, »ob der ans Kreuz geschlagene Jesus wie von selbst verunmöglicht. Es wird nur wenige Bücher Christus der eine und wahre Sohn Gottes, geheiligt sei geben, welche man so uneingeschränkt in so viele Hände sein Name, und der Meschiach gewesen, und ob die Ju- (und Köpfe!) wünschen kann, wie dies für das Werk von den in Anerkenntnis dieses nicht besser täten, sich zum Heschel gelten darf christlichen Glauben zu bekehren, das Sakrament der Man wird den Ansatz, und in Konsequenz dazu die ge- Taufe anzunehmen und derart ihre jammervolle Existenz samte Ausführung, als religionsphilosophisch bezeichnen zu verbessern und sogar in der grossen und reichen Stadt dürfen; auch die Kennzeichnung als fundamentaltheolo- Hamburg das Bürgerrecht erwerben zu können« (S. 196). gisch dürfte nicht unangebracht sein. Heym nimmt auch mittelalterlich klassische Vorwürfe Doch so oder so: entscheidend ist, dass Heschel eine auf, die sich Juden und Christen gegenseitig machten (jü- ebenso unmittelbare wie ausserordentlich tiefe Verbin- discherseits »Toledot-Jeschu«-Geschichte S. 90; christ-

74 licherseits antijüdische Legenden wie Brunnenvergiftung, schem Charakter — der endzeitliche Sammler des Volkes, Mord von Christenkindern für das Pesachfest sowie das Herrscher und Richter (als neuer Mose, Josua, David und Bild des Juden als Wucherer S. 90 f.141). — Das christlich- Salomo), der ohne abzuirren und ohne zu ermüden in jüdisch »heisse Thema der göttlichen Trinität wird respek- perfekter Unterordnung zur Würde und zum Willen Got- tiert als letztlich etwas Unerschliessliches, dennoch aber tes denkt und handelt. Er ist König nur im Schatten und voller Aussagekraft inszeniert. Im Gespräch Ahasvers mit in Unterordnung zum König Gott. — Eine grössere Voll- Gott über die Gottebenbildlichkeit des Menschen erkennt ständigkeit in den Anmerkungen und Erwägungen wäre Ahasver »zugleich mit ihm (Gott) und durch ihn hindurch zwar wünschenswert gewesen. Aber auch in dieser knap- die Jammergestalt des Reb Joshua, und ich sprach: Du al- pen Form ist die neue Übersetzung und Kommentierung so bist Gott?« (S. 129). Heym bringt seine Hauptfigur, der PsSal ein unersetzliches Werk für alle, die Messiasfor- den ewigen Juden, immer wieder in Verbindung zu Reb schung betreiben. Clemens Thoma, Luzern Joshua. Obgleich Ahasver einst Jesus auf dem Weg nach Golgatha von seiner Türe gewiesen hat und darum vom BARBARA JUST-DAHLMANN: Der Schöpfer der Welt Rabbi zur ewigen Wanderschaft verflucht worden ist, ist wird es wohl erlauben müssen. Jüdische Dichtung nach sein Verhältnis zu diesem von Liebe geprägt (S. 270). Bei Auschwitz. Stuttgart 1980. Radius-Verlag. der Wiederkunft Christi ist denn Ahasver auch der einzi- S. o. S. 32. ge, der Jesus sofort erkennt und ihn aufnimmt. Heyms Ahasver ist ein literarisches Meisterwerk, in barok- WILLIAM (WILLY) KATZ : Ein jüdisch-deutsches Leben kern Erzählstil verfasst, voll von poetischer Kraft. Die 1904-1939-1978. Tübingen 1980. Katzmann-Verlag. 248 spritzige Satire macht es zwar zur genüsslichen Lektüre, Seiten. doch stellt das Werk keine geringen Anforderungen. Der Verfasser, 1895 in einem Dorf nahe bei Kassel gebo- Rita Egger, Luzern ren, schrieb dieses Buch in den siebziger Jahren als hoch angesehener religiöser Leiter und nachheriger »Minister SVEND HOLM-NIELSEN: Die Psalmen Salomos. Jüdi- Emeritus« einer jüdischen Gemeinde in Sydney, wohin er sche Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit, Bd. 5, Lie- 1939 ausgewandert war. Er schildert darin mittels fingier- ferung 2. Gütersloh 1977. Gütersloher Verlagshaus ter, aber auf zumeist eigenem Erleben, auf seinem For- Mohn. 112 Seiten. schen und Nachdenken beruhender Aufzeichnungen von Die Psalmen Salomonis (PsSal) sind eine Sammlung von Briefen, Begegnungen, Gesprächen usw. das Schicksal ei- 18 Preisungen, Bittgebeten, Gedichten und poetisch aus- nes deutschen Juden, der in friedlichem und freundschaft- gedrückten Klagen über das Gedeihen und Wüten der lichem Kontakt mit Nachbarn und Schulkameraden auf- Frevler (Hellenisten, Hasmonäer, Römer) sowie über die wuchs, während des Ersten Weltkriegs als Frontsoldat auf unerträglich schweren Bedrängnisse der Getreuen. Unge- hervorragende Weise seine Pflicht erfüllte und dafür aus- fähr in der Mitte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts wur- gezeichnet wurde und der danach in Studium und Beruf den sie wohl in Palästina verfasst und fanden teilweise mit zunehmender Sorge, aber immer noch voller Vertrau- vermutlich in Alexandrien auch in Gottesdiensten Ver- en in das deutsche Volk — dem er sich auch als gläubiger wendung. Besonderes Interesse fanden in der Forschung Jude zugehörig fühlte — das Heraufkommen des Natio- immer schon die PsSal 17 und 18, die messianische Vor- nalsozialismus und Antisemitismus sowie die Auswirkun- stellungen und Erwartungen enthalten. gen von Hitlers »Massenpropaganda« erlebte. Selbst die Wie die Reihe »Jüdische Schriften aus hellenistisch-römi- »Machtergreifung« sahen er und seine Freunde zuerst scher Zeit« im allgemeinen, so sind die neu übersetzten noch nicht als Schicksalswende, sondern als eine hoffent- und kommentierten PsSal im besonderen zu begrüssen. lich nur kurzfristige Episode an, bis die danach einsetzen- Textkritische und philologische Genauigkeit zeichnen sie den gesetzgeberischen und polizeilichen Massnahmen, aus. Man ist nun nicht mehr auf Übersetzungen und vor allem aber die dem Pogrom vom 9. November 1938 Kommentierungen aus dem Beginn unseres Jahrhunderts folgenden grausamen Erlebnisse als Häftling in Buchen- (Emil Kautzsch) angewiesen. Der Anmerkungsapparat ist wald, ihn eines schlechteren belehrten. jedoch besonders in PsSal 17 und 18 zu knapp gehalten. Nun begann der Verfasser erst recht — immer wieder im Es hätte deutlicher gemacht werden müssen, wie diese Gedankenaustausch mit deutschen Freunden —, sein »jü- beiden Psalmen atl. Stellen (in hebräischer und LXX-Ver- disch-deutsches Leben« und damit zugleich dasjenige aller sion) messianisch deuten und wie diese Deutung sich von deutschen Juden zu überprüfen, wobei ihm das durch phi- neutestamentlicher, targumischer und rabbinischer Deu- losophische Vorlesungen, zumal bei dem Neukantianer tung unterscheidet. Der Mangel liegt sowohl darin, dass Hermann Cohen in Marburg, durch theologische und ge- nicht alle Stellen beigezogen werden, als auch darin, dass schichtliche Studien geschulte Denken wesentliche Dien- kaum eine vergleichende Reflexion stattfindet. Es genügt ste leistete. Dies macht den exemplarischen Wert seiner — z. B. kaum, zu PsSal 17,21 anzumerken, hier sei an 2 Sam nicht als Autobiographie gedachten — Aufzeichnungen 7,13 und an mehrere »messianische Passagen« namentlich aus. An gewissen Mängeln, etwa an fehlerhaften Datie- der Prophetenliteratur zu erinnern. Darüber hinaus wäre rungen, sollte sich ein verständiger Leser nicht stossen. auf die an dieser Stelle sich findende Kontamination von Und immer wieder versetzt sich der Autor mit grosser Hyios (aus 2 Sam 7,13) und pais (Gottesknechtlieder) hin- Objektivität und Einfühlungsvermögen auch in die Lage zuweisen gewesen sowie auf die entsprechenden Deutun- seiner deutschen Freunde und Bekannten. Er vermag auch gen auf Israel (LXX), einen Propheten (MT) und den Positives zu berichten, was er von dem einen oder ande- Messias (Targum Jonathan, Mk 1,11; Apg 3,13 usw.). In ren Teilhaber der damaligen Herrschaftsordnung erfah- PsSal 17,34 wird der Messias als »Starker« (dynatos) be- ren hat. Gerade dies verleiht seinen Schilderungen ihr Ge- zeichnet. Der Hinweis auf Lk 11,21 par. wäre hier eben- wicht und ihre Verlässlichkeit auch dort, wo sie Wider- falls angebracht gewesen. Wenn ferner etwa in einem Ex- wärtiges und Abscheuliches festhalten. »Ich bemühe mich, kurs die Züge und Taten des Messias laut PsSal 17 und 18 gerecht zu sein und mich von persönlichen Gefühlen frei aufgelistet und in ihrer Gesamtheit erwogen worden wä- zu halten«, schreibt der Verfasser einmal mit gutem ren, hätten sich weitere wichtige Bezüge zum Neuen Te- Grund. »Ich bete, dass ich nicht in den gleichen Fehler stament ergeben. Der Messias ist ja nach den PsSal — die- verfalle, den wir an den Nazis verdammt haben, als sie die sen einzigen Schriften mit eindeutig königlich-messiani- Juden für alles Übel verantwortlich machten. Wie könnte

75 ich nun das ganze deutsche Volk wegen der Taten seiner dische Gelehrte dargeboten werden. Es handelt sich Verbrecher verdammen ?« Und er betont mit Recht, dass durchweg um Wiederabdrucke, aber die — zum Teil bis in »die Verantwortung für die Ermordung von 6 Millionen die dreissiger Jahre zurückreichenden — Erstdrucke, man- Juden schwer auf dem Gewissen vieler führender Persön- che in englischer Sprache, sind an so unterschiedlichen lichkeiten, auch der Westmächte« lastet. »Man hat zu lan- und weit verstreuten Orten veröffentlicht worden, dass ge untätig zugesehen.« durch ihre Zusammenfassung der Wissenschaft nunmehr Dank einer Reihe glücklicher Zufälle gelingt es W. Katz, ein sehr grosser Dienst getan wird. Grundlegende The- noch wenige Wochen vor dem Ausbruch des Zweiten men, wie etwa »Toleranz und Menschenwürde«, »Juden- Weltkriegs Deutschland zu verlassen; in Australien be- recht in Mitteleuropa — einst und heute«, »The Yellow ginnt für ihn und seine Frau ein neues Leben. Doch die in- Badge in History« wechseln ab mit solchen ganz speziel- nere Auseinandersetzung mit dem Lande seiner Herkunft len Inhalts wie etwa »Der erste in Deutschland promo- dauert fort, freilich aufs äusserste betroffen durch Nach- vierte Jude« oder »Die Zensur jüdischer Bücher in Böh- richten von den unsäglichen Greueln, die damals in men«. Arbeiten, die nur von der örtlichen Rechtsgeschich- Deutschland und in den besetzten Gebieten verübt wor- te, vom Einfluss der Bibel auf das mittelalterliche Recht den sind. Nach dem Zusammenbruch des »Dritten oder von der Geschichte der Juden in Amerika handeln, Reichs« nimmt der Verfasser — dessen Mutter und fünf wurden ausgeschlossen. Ausführliche Ergänzungen und weitere nächste Angehörige zu den Opfern gehören — ein Schriftenverzeichnis, worin zum Vorteil des Benutzers trotz schwerer innerer Hemmnisse die Verbindung zu je- auch sehr zahlreiche Rezensionen angeführt sind, be- nen Freunden wieder auf, besucht sie in Kassel, besucht schliessen den wertvollen Band. aber auch mehrfach Israel, zu dem er ein neues Verhältnis Im zweiten sind es sieben Teile, worin Beiträge zur Ge- gewinnt und dessen Politik er rechtfertigt. Er denkt über schichte der mittelalterlichen Rechtsquellen, vor allem des den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, über das Sachsenspiegels und der Schöffenspruchsammlungen, zu Fehlen eines Schuldbekenntnisses der Deutschen 1945 »Nationalismus und Rasse im mittelalterlichen Recht«, und über die Wiedergutmachung nach. Auch die »gerade- zur Rezeption des römischen Rechts, zur Geschichte des zu unnatürliche Teilung Deutschlands« als »aufgezwun- Vollstreckungsrechts, zur Wissenschaftsgeschichte sowie gene russische Entscheidung« gibt ihm zu denken. wiederum Rezensionen und Nachrufe dargeboten wer- Das »Wiedererwachen des Antisemitismus« in vielen Län- den, dazu abermals ausführliche Ergänzungen und Hin- dern macht ihn besorgt, und er entwickelt — dies ist wohl weise auf neue Literatur sowie eine Bibliographie. Auch das wichtigste Ergebnis dieses Buches — ein »Erziehungs- diesen Band wird nicht allein der Rechtshistoriker oder programm«, wie inskünftig der jungen Generation in der Geschichtswissenschaftler überhaupt mit Gewinn stu- Deutschland schon auf den Schulen das Geschehene be- dieren, enthält er doch eine ganze Menge von dem, was kannt gemacht und damit erst der Weg für eine »gerechte man »Allgemeine Bildung« zu nennen pflegt, beispielswei- Beurteilung des deutschen Volkes im Ausland« gebahnt se zur Ideengeschichte, zur Kunstgeschichte und Litera- werden könnte. Dass der Autor als Theologe gerade auch turgeschichte. So wird man als deutscher Rechtshistoriker auf die Rolle und Bedeutung von Glauben und Kirche in angesichts der Fülle des hier Gebotenen und der zahlrei- Vergangenheit und Zukunft für das deutsch-jüdische Ver- chen geistigen Brücken, die der Verfasser zu anderen hältnis eingehend zu sprechen kommt, auf den »christli- Ländern und Kontinenten, zu ganz verschiedenen Völ- chen Antisemitismus« und auf das Gemeinsame beider Re- kern und Traditionen geschlagen hat, immer getragen von ligionen — nicht ohne spürbare Kritik oder Anerkennung dem Grundgedanken der Rechtsidee, zu dem er sich in führender Persönlichkeiten wie Kardinal Bea oder Hel- seinem Vorwort bekennt, von tiefem Dank und von Be- mut Gollwitzer —, sei hier nur noch abschliessend kurz er- wunderung erfüllt. Hans Thieme, Freiburg i. Br. wähnt, wie auch auf die Beibringung von weiteren lehrrei- chen Zitaten verzichtet werden musste — ein Grund mehr, ERNST G. LOWENTHAL: Juden in Preussen. Ein bio- dieses wertvolle Buch selber zu lesen! graphisches Verzeichnis. Mit einem Vorwort von Roland Hans Thieme, Freiburg i. Br. Klemig. Herausgegeben als Ergänzung zur gleichnamigen Ausstellung vom Bildarchiv Preussischer Kulturbesitz Ber- GUIDO KISCH: Forschungen zur Rechts-, Wirtschafts- lin. Berlin 1981. Buchhandelsausgabe und Vertrieb: Diet- und Sozialgeschichte der Juden. Mit einem Verzeichnis rich Reimer Verlag. Mit 61 Abbildungen im Text und 20 der Schriften von Guido Kisch zur Rechts- und Sozialge- Umschlagabbildungen. 256 Seiten. schichte der Juden. Sigmaringen 1979. Verlag Jan Thor- Das vorliegende Werk stellt einen ausserordentlich wich- becke. 495 Seiten. tigen Beitrag zur Geschichte der Juden in Preussen dar GUIDO KISCH: Forschungen zur Rechts- und Sozialge- —und trifft damit selbstverständlich zugleich in das Herz- schichte des Mittelalters. Mit einem Verzeichnis der stück der neueren Geschichte der Juden in Deutschland. Schriften von Guido Kisch zur mittelalterlichen Rechtsge- Der überaus fachkundigen Arbeit von Ernst G. Lowen- schichte. Sigmaringen 1980. Verlag Jan Thorbecke. 544 thal, einem hervorragenden Biographiker, ist es zu dan- Seiten. ken, dass dieses Unternehmen als sehr geglückt bezeich- Als Fortsetzung seiner »Ausgewählten Schriften« — vgl. net werden kann. die Anzeige des ersten Bandes im FrRu XXX/1978 S. Was den erfassten Zeitraum angeht: der Ausschnitt um-

170 — erschienen in derselben guten Ausstattung diese bei- fasst die rund 150 Jahre von 1780 bis 1930. Selbstver- den wiederum überaus reichhaltigen und stattlichen Wer- ständlich war eine starke zahlenmässige Beschränkung ge- ke des nunmehr im 94. Lebensjahr stehenden Verfassers, boten: trotzdem werden fast 2000 Kurzbiographien vor- des »grand old man« der jüdischen Rechtsgeschichte, über gelegt. Beabsichtigt ist das allein Mögliche, also so etwas dessen Lebenserinnerungen wir im FrRu XXVII/1975 wie ein »Schnitt« durch die sich anbietenden Materialien. S. 121 berichtet haben. Das heisst natürlich, dass zahlreiche Gruppen (etwa Der erste dieser beiden Bände setzt sich aus sechs Teilen Handwerker usw.) überhaupt kaum berücksichtigt wer- zusammen, in denen Studien zum mittelalterlichen Recht, den konnten, denn die nötigen Unterlagen finden sich zum Verhältnis zwischen Universitäten und Juden, Bio- nun einmal nur unter bestimmten Voraussetzungen (Pu- graphisches und Bibliographisches, Rezensionen über Bü- blikationen, aktenkundige Tätigkeiten in einer Gemeinde, cher zur jüdischen Rechtsgeschichte und Nachrufe auf jii- Verwaltung usw.); in einzelnen Fällen ist man doch von

76 der sehr verständlichen Grundregel (vgl. S. 8 f.) abgegan- MENDELSSOHN-STUDIEN. Beiträge zur neueren gen. deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, herausge- Obwohl es nicht die Aufgabe einer derartigen Kurzbio- geben von Cecile Lowenthal-Hensel und Rudolf Elvers. graphien-Sammlung sein kann, Fragen mehr allgemeiner Band 3, 1979. Band 4: Zum 250. Geburtstag von Moses Art zu behandeln, so werden diese doch angesprochen Mendelssohn, 1979. Berlin. Verlag Duncker & Humblot. (z. B. das deutsch-jüdische Zusammenleben, innerjüdische 248 und 311 Seiten. Fragen, der Zuordnungskomplex »Preussen« und andere) In dieser schon durch ihre ersten beiden 1972 und 1975 oder sogar skizzenhaft verdeutlicht (vgl. Vorbemerkung herausgekommenen Bände bestens eingeführten Reihe S. 5-10). sind neuerlich zwei weitere erschienen, welche die vor- Ein kleines Beispiel für Überraschungen, wie dieses bio- bildliche Zusammenarbeit zwischen privaten und öffentli- graphische Verzeichnis sie (gewiss auch in anderen Fäl- chen Institutionen sowie Forschern aus verschiedenen len) zu bieten vermag, sei angeführt. Kardinal Augustin Ländern und Erdteilen bei der Verwertung von teilweise Bea (1881-1968) studierte vor dem Ersten Weltkrieg für noch überhaupt nicht bekannten, geschweige denn ausge- kurze Zeit in Berlin Orientalistik. Das vorliegende Ver- schöpften Nachlässen aus der weitverzweigten Familie zeichnis enthält die Kurzbiographien von zweien seiner Mendelssohn, ihrer Verwandten und Freunde bekunden. damaligen Lehrer, deren der Kardinal sich stets mit Freu- Handelt es sich in Band 3 um eine Reihe von Beiträgen, de und Dankbarkeit erinnerte. Einmal ist dies Jakob Barth welche die verschiedenen Generationen dieses für die (1851-1914), der selbst auch aus Baden gebürtig war und deutsche Geistes- und Kulturgeschichte seit der Mitte des drei Jahrzehnte als Professor am Rabbiner-Seminar sowie 18. bis ins 20. Jahrhundert so bedeutungsvollen Familien- auch an der Universität Berlin wirkte. Zum anderen han- verbandes angehen, so ist der 4. Band allein dem Stamm- delt es sich um Eugen Mittwoch (1876-1942), der damals, vater desselben, dem Philosophen Moses Mendelssohn nur wenige Jahre älter als Bea, als Privatdozent tätig war. (1729- 1786), gewidmet. Sein Sohn, der Bankier Abraham Angesichts der Bedeutung, welche Kardinal Bea für die Mendelssohn-Bartholdy (1776-1835), Vater des wohl be- Entwicklung der Beziehungen und des Verständnisses kanntesten Familienmitglieds, des Komponisten Felix M.- zwischen Christentum und Judentum zukommt, wird man B. (1809 - 1847), und sein Enkel, der Geograph und Histo- die Erwähnung dieser Gelehrten besonders aufmerksam riker Georg Benjamin M. (1794 - 1874), traten zum Pro- und dankbar vermerken dürfen. testantismus über; von letzterem schreibt eine Freundin Odilo Kaiser, Freiburg i. Br. (1821): >er meint es so von Herzen ehrlich, es ist ihm so hoher Ernst, dass ihn wohl nur wenig geborne Christen an JOHANN MAIER / PETER SCHÄFER: Kleines Lexi- wahrem Glauben übertreffen und er beyweitem die grös- kon des Judentums. Stuttgart 1981. Verlag Katholisches sere Zahl selbst der Besseren<. Dennoch spielt aber auch Bibelwerk. 332 Seiten. die religiöse Herkunft dieser deutsch-jüdischen Familie Ziel dieses Lexikons im Taschenbuchformat ist nach dem bei dem, was sie erschaffen und erreicht, was sie erlebt Vorwort der Verfasser »eine knappe, erste Information und erlitten hat, immer wieder eine Rolle, wodurch ihre über die jüdische Religion, wobei die Grenzen zu anderen Schicksale so exemplarisch und nachdenkenswert erschei- Aspekten des Judentums bewusst nicht zu eng gezogen nen. wurden, weil das Verhältnis zwischen Geschichte, Kultur- Im Band 3 werden wir bekannt gemacht mit einer Anzahl geschichte und Religionsgeschichte im Judentum im Lauf interessanter Quellen: Briefe und biographische Mittei- von fast vier Jahrtausenden und im Rahmen völlig unter- lungen, worin sich das Leben in den berühmten Berliner schiedlicher regionaler Bedingungen nicht immer gleich- Salons während der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mässig zu bestimmen ist«. Wenn dabei »auch den Bezie- widerspiegelt, Schilderungen kriegerischen Geschehens hungen zwischen Judentum und Christentum ein entspre- von 1813/14, Äusserungen prominenter Persönlichkeiten chendes Gewicht zugemessen« ist, so wird hier, um der zu wichtigen Themen, so etwa Alexander von Humboldts heute noch verbreiteten Einengung auf die neutestament- über ständische Verfassung und Monarchie, Ernst Moritz liche Zeit entgegenzuwirken, der Schwerpunkt gezielt auf Arndts über die >Göttinger Sieben< und über Eduard Gans die seitherige Geschichte dieser Beziehungen gelegt, zu- oder von Clemens Perthes über das Verhältnis Preussens mal da für die Anfangszeit auf das gleich ausgestattete zu Deutschland 1849. Besonders eindrucksvoll ist das Le- »Kleine Stuttgarter Bibel-Lexikon« verwiesen werden bensbild des Völkerrechtlers und Rechtshistorikers Al- kann. Die Kompetenz der beiden Verfasser gewährleistet brecht M.-B. (1874-1936), eines Enkels des Komponisten, dem Benutzer selbstverständlich zuverlässige Information der bis zur Emigration in Hamburg lehrte und dessen sich über das Judentum in Vergangenheit und Gegenwart. jeder, der damals schon auf jenen Gebieten tätig war, an- Wer etwa die genaue Bedeutung eines Begriffs sucht, wer erkennend erinnern sollte, von Alfred Vagts (USA) ge- sich zu einem Problem einen gerafften Überblick ver- zeichnet. schaffen will oder wer zu einem Namen eine knappe Aus- Band 4 beginnt mit einem gewichtigen Beitrag von Alex- kunft verlangt, hat nun die Orientierung griffbereit. So ander Altmann (USA) >Gewissensfreiheit und Toleranz<. kann das Lexikon einen Stammplatz für Studium und Un- Darin wird mit profunder Gelehrsamkeit die Vorge- terrichtsvorbereitung) beanspruchen, und dies nicht al- schichte des kirchlichen und weltlichen Rechts dargestellt, lein, wo es um jüdische Themen als solche geht, sondern gegen welches Moses Mendelssohn zu Felde zog, seine auch dort, wo in christlicher Theologie und Verkündi- >Halbheiten und Inkonsequenzen<, aber auch die >Ansätze gung das Judentum — wie indirekt auch immer — berührt zum Begriff der Gewissensfreiheit<, wie sie in der Thomi- wird. Man kann es den Verfassern und dem Verlag nur stischen Lehre von der Verpflichtungskraft des irrenden wünschen, dass dieses hochkarätige Angebot von Grund- Gewissens enthalten sind. Wir begegnen Denkern wie lageninformation, wozu auch die aussergewöhnliche Be- Jean Bodin, Johannes Althusius, Samuel von Pufendorf bilderung zu zählen ist, die ihm gemässe Resonanz findet. und Christian Thomasius in dieser wertvollen >begriffsge- Vielleicht lassen sich die offenen Seiten bei einer Neuauf- schichtlichen Untersuchung< über die >Nichterzwingbar- lage nicht nur, wie vorgesehen, für zusätzliche Artikel, keit des Glaubens< und über das Verhältnis von >Gewissen sondern auch für einige Literaturhinweise nützen. Denn und Staatsvertrag<. Immer noch kam >die Toleranz in nur die »appetitanregende« Wirkung dieses Lexikons liegt auf sehr beschränktem Masse zu ihrem Rechte< — erst die der Hand. Peter Fiedler, Freiburg i. Br. Schriften von Mendelssohn >atmen einen neuen Geist<

77 und lassen die >naturrechtliche Haltung< spüren, der sein tung der Juden, die ein gefährliches Potential im Sinne ei- Freund Lessing im >Nathan< dichterischen Ausdruck ver- nes Gefälles zum Mord in sich schliesst. liehen und die Christian Wilhelm von Dohm durch seine Antisemitismus ist in seinem Ungeist immer auch ein An- berühmte Schrift >Über die bürgerliche Verbesserung der griff auf den lebendigen Gott, indem man sich grundsätz- Juden< (1781) zu verwirklichen unternommen hat. Auch lich gegen seinen Zeugen in dieser Welt, das jüdische die folgenden Abhandlungen — die hier im einzelnen nicht Volk, wendet, und wer begriffen hat, dass wir durch Jesus besprochen werden können — verdienen allen Respekt. Ob Christus in das Volk Gottes eingereiht wurden, »geistlich es sich dabei um Jageslektüre in Berlin (1740 - 1780)< und Semiten« sind, wie Papst Pius XI. (1938) erklärte, und so- das >Leseverhalten breiterer Schichten< jener Zeit, um die mit auf jüdischen Fundamenten stehen und gehen, der Bereinigung herkömmlicher Fehlurteile über die Haltung weiss auch, dass Christen mit der Judenfeindschaft — in der Berliner Akademie, von Maupertuis, Leibniz und welcher Form auch immer — geistlichen Selbstmord ver- Gottsched im Zusammenhang mit der durch Mendelssohn üben. und Lessing verfassten Schrift >Pope ein Metaphysiker< Dieses gediegene und anschaulich geschriebene Buch soll- handelt, um >die Bedeutung Mendelssohns für die Litera- te zur Pflichtleküre für jedermann werden, der guten Wil- tur des 18. Jahrhunderts, um >Naturrecht und Ästhetik bei lens ist, mit diesem Ungeist aufzuräumen, vor allem aber Mendelssohn<, oder ob bisher unveröffentlichte Briefe für alle Christen, die in irgendeiner Form im Dienste der und Dokumente aus dem Umkreis von Mendelssohn, Les- Unterweisung und Fortbildung stehen. sing, Nicolai, Jacobi, Jean Paul und der Akademie abge- In diesem Jahr (1982) soll noch Band V erscheinen. In druckt und erläutert werden — immer wird der Leser mit den Bänden mit geraden Nummern ist ein für den Ge- bemerkenswerten Vorgängen des deutschen und europä- brauch wichtiges Register für diesen und den vorangehen- ischen Geisteslebens jener Zeit der Aufklärung und des den Band enthalten. Rudolf Pfisterer, Schwäbisch Hall >späten Naturrechts< bekannt gemacht. Und schliesslich stellen auch die letzten beiden Aufsätze, ein Rückblick auf BERNHARD RÜBENACH (Hrsg.): Begegnungen mit das Mendelssohn-Gedenken vor fünfzig Jahren und eine dem Judentum. Stuttgart/Berlin 1981. Kreuz Verlag. 399 Geschichte der damals in Gang gebrachten, durch die Er- Seiten. eignisse der Folgezeit zum Erliegen gekommenen und Die Diskussion um Entstehung und Ausmass des Holo- nun in erweiterter Gestalt wieder im Erscheinen begriffe- caust liess — sofern sie nicht ohnehin auf verschlossene nen Gesamtausgabe von Mendelssohns Schriften, wertvol- Ohren stiess — allgemein meist solche Fragen aufkommen, le Beiträge zur Zeitgeschichte dar. So bedeutet dieser die die Betroffenheit über das Ausmass eigener Mitverant- Band, dessen Inhalt auch wieder durch sorgfältige Regi- wortung und -schuld formulierten, die aber kaum — oder ster erschlossen ist, eine echte Bereicherung unseres Wis- nur vereinzelt — nach den »Opfern, nach den jüdischen sens. Hans Thieme, Freiburg i. Br. Menschen, nach dem Judentum« (371, Nachwort des Hrsg.) selbst fragten. Vorurteile mehr als fundiertes Urtei- LtON POLIAKOV: Geschichte des Antisemitismus, Bd. len, vermeintliches Wissen mehr als fundiertes Wissen, I—V. Aus dem Französischen übersetzt von Rudolf Pfiste- Ängste vor der Infragestellung eigener liebgewonnener rer. Originaltitel: Histoire de l'Antis8mitisme. Worms. Denk- und Verhaltensmuster stehen hier einer Begegnung Verlag Georg Heintz. mit dem Judentum, mit jüdischem Glauben, jüdischer Ge- Bd. I: Von der Antike bis zu den Kreuzzügen.' 1977. 93 schichte, jüdischer Kultur im Wege; Berührungsängste, Seiten. die in bestimmten politischen Zusammenhängen in Hass Bd. II: Das Zeitalter der Verteufelung und des Ghettos. und Verfolgungswahn umschlugen und — so Rübenach — 1978. 239 Seiten. herrühren aus der Unfähigkeit, das tiefe Geprägtsein der Bd. III: Religiöse und soziale Toleranz unter dem Islam. Menschheitsgeschichte mit ihrem vom Judentum kom- Mit einem Anhang: Die Juden im Kirchenstaat. 1979. 178 menden »Entwurf eines menschlichen Menschen« (373) Seiten. sich einzugestehen, aufzuarbeiten und dadurch eine Än- Bd. IV: Die Marranen im Schatten der Inquisition. Mit ei- derung in den eigenen Vorstellungen herbeizuführen. So nem Anhang: Die Morissken und ihre Vertreibung. 1981. wird Aufklärung zum Ausgangspunkt und Ziel einer Dar- 249 Seiten. stellung des Judentums und seiner »bis heute ungebrochen Es ist leicht, den Antisemitismus in Bausch und Bogen zu und konstant wirkende(n) und lebendige(n) Kultur, .. . verurteilen; ausser wortreichen Beteuerungen bringt dies Religion und Geschichte« (373), die zunächst als ein- nichts ein. Schwieriger ist es, dieses verheerende Gift in drucksvolles Schwerpunktprogramm des Südwestfunks in seinen verschieden gefärbten und etikettierten Dosierun- rund 220 Sendungen von Dezember 1980 bis Juni 1981 gen zu entlarven und diesen tödlichen, nicht nur die Ju- ausgestrahlt diesem Buch zugrunde liegt, wobei der Her- den bedrohenden Ungeist bis in seine letzten Schlupfwin- ausgeber auch für Konzeption und Planung jenes SWF- kel zu verfolgen und ihn dort aufzustöbern. Programms verantwortlich zeichnete. So kann das vorlie- Dieser sachlichen, in die Tiefe gehenden und in die Breite gende Buch denn auch bestenfalls ein Querschnitt durch wirkenden Information will dieses allen wissenschaftli- jenes Schwerpunktprogramm darstellen, ohne dabei »lük- chen Ansprüchen genügende, im Deutschen auf acht Bän- kenlose Vollständigkeit« (374) anstreben zu wollen. de angelegte Werk dienen. Hier wird von dem in der An- Trotzdem bietet der vorliegende Band durch die Spann- tike gegen die Juden vorhandenen Hass ein weiter Bogen weite der zumeist von jüdischen Autoren gelieferten Bei- über den »christlichen« Antijudaismus bis zum Antisemi- träge — insgesamt sind es 22 — ein Spiegelbild jüdischen tismus der Moderne geschlagen. Die eine bleibende, Glaubens, Denkens und Lebens und seiner vielfältigen durch alle Variationen sich hindurchziehende Konstante Wirkungsgeschichte. Dies wird besonders in den beiden ist die Feindschaft gegen die Juden — der Antisemitismus ersten Abschnitten »Das auserwählte Volk« (9-113) und meint nur die Juden, und nicht etwa auch andere »Semi- »Jüdische Kultur« (117-197) deutlich, die immer wieder ten« —, für die als Beweis immer neue angebliche Begrün- den gemeinschaftsbildenden Grund jüdischer Existenz mit dungen theologischer und politischer, wirtschaftlicher ihrer Wurzel in der Glaubensgeschichte vom Sinaibund und sozialer Natur herangezogen werden. Hauptnenner beginnend anklingen lassen, und es sind gerade diese ist und bleibt bis in unsere Zeit hinein immer die Ausschal- Wurzeln, die auch solche Gebiete wie Sprache, Literatur, S. auch in FrRu XXVIII/1976, S. 107 (Anm. d. Red. d. FrRu). Musik, Kunst und Medizin nachhaltig beeinflusst haben.

78 Diese Glaubensgeschichte aber mit ihren lebensgestalten- 1980. Neukirchener Verlag des Erziehungsvereins den Implikationen bis in die Moderne geriet dann in ein GmbH. 153 Seiten. Spannungsfeld hinein, als mit der Entstehung des Chri- Das Buch ist aus Rundfunkvorträgen hervorgegangen und stentums einerseits und des Islam andererseits zwei Glau- gibt einen sehr guten Einblick in das jüdische Selbstver- bensbewegungen erstanden, die, undenkbar ohne ihre jü- ständnis, beginnend mit der Zeit der Heimkehr aus dem dischen Wurzeln und Elemente, sich in ihren jeweiligen babylonischen Exil. Rund eintausend Jahre Geschichte zwar verschieden begründeten und formulierten Absolut- werden anhand der Erörterung der religiösen und politi- heitsansprüchen gegenüber dem Judentum abgrenzten schen Ideen und Verhältnisse, der Einrichtungen und der und dessen Geschichte nur allzuoft in eine Leidensge- Literaturen sowie der entscheidenden geschichtlichen Er- schichte verwandelten. eignisse skizziert. So wird eine reiche Sachübersicht gebo- Für das Christentum wird dieser Prozess erkennbar, wenn ten, die fast alle wichtigen Grössen aus der behandelten im Abschnitt »Spannungsfeld Christentum—Judentum« Zeit (etwa 6. Jh. vor bis 7. Jh. n. Chr.) berücksichtigt. — In

(199 -258) bereits im Neuen Testament angelegte Wur- Einzelfragen wird man gelegentlich anderer Auffassung zeln des Antijudaismus diskutiert werden (223 - 237). sein können; aber es ist dem Autor, der sehr engagiert Jener Abgrenzungsprozess vom Judentum lässt sich be- schreibt, angesichts der Entstehung und der Zielsetzung sonders in dem zunächst noch innerjüdisch zu bezeich- des Buches nicht zu verdenken, dass er auf abweichende nenden Streit um die Auslegung der Tora zwischen Ju- Meinungen nicht eingeht. Odilo Kaiser, Freiburg i. Br. denchristen und Juden beobachten, der sich ins Grund- sätzliche verkehrte, als er zu einer christlichen Gemein- PETER SCHÄFER: Der Bar Kokhba Aufstand. Studien schaft kam, die mehr und mehr aus Heidenchristen be- zum zweiten Jüdischen Krieg gegen Rom. Texte und Stu- stand, sich aber als alleinige Erben der Tora — jener >Wei- dien zum Antiken Judentum 1. Tübingen 1981. Verlag sung zum Leben< — ansah. Darum gilt es verstärkt auf die Mohr, Paul Siebeck. 271 Seiten. »Bedeutung der Tora für die Christen« (Rendtorff, 213) Anders als der erste Aufstand gegen Rom hat der zweite als dem gemeinsamen Gut von Juden und Christen zu ver- Aufstand, der Bar Kokhba Krieg, keinen Historiker ge- weisen. Wie Christen bei dieser Aufarbeitung von Ge- funden, der den Krieg aus nächster Nähe miterlebt und meinsamkeiten sich schwertun, wird deutlich durch die ihn beschrieben hätte, wie Josephus Flavius den ersten. Tatsache, dass der Beginn eines christlichen Bemühens Die Geschichtsschreibung war und ist also darauf ange- um das Verständnis des Judentums erst durch den wahn- wiesen, aus den verstreuten Nachrichten über den Krieg sinnigen Massenmord an den europäischen Juden ausge- bei römischen Schriftstellern und in jüdischen Quellen, löst wurde und dieses Bemühen dennoch erst in den An- ebenso aus archäologischen Funden, den ungefähren fängen steht, wie die Frage des Beitrags von Ehrlich »Ein- Gang der Dinge zu rekonstruieren. Dies ist meist ein ander näher gekommen?« (239) und der Beitrag über die schwieriges Unterfangen, da die historischen Quellen oft vatikanische Israelpolitik (249 ff.) signalisieren. spät und tendenziös sind und meist kein Interesse am ge- Ganz gewiss dürften dagegen noch Gespräche zwischen nauen Ablauf der Ereignisse, die sie streifen, haben. Zum Judentum, Christentum und Islam (285 ff.), trotz partiel- anderen sind die archäologischen Quellen nicht so zahl- ler fruchtbarer Symbiose und vieler Gemeinsamkeiten be- reich und viele der gefundenen Dokumente bisher nicht sonders zwischen Judentum und Islam — wie die Beiträge veröffentlicht. des jüdischen Orientalisten Stern (261 ff.) und die des ara- Trotz des spärlichen Materials sind in der Neuzeit, beson- bischen Orientalisten Khoury (273 ff.) aufweisen —, noch ders in Israel, eine Reihe umfangreicher und detaillierter zu den Ausnahmen gehören und von einzelnen abhängen. Monographien zu diesem Thema, oder zu Teilaspekten So wirkt auch dieser Abschnitt über »Synagoge—Kirche- des Themas, erschienen. Sie werden im Vorwort bei Schä- Moschee« (259-301) etwas isoliert in dem Gesamtzusam- fer genannt und im Hauptteil des Buches diskutiert. Schä- menhang der Beiträge, besonders dann, wenn zuletzt un- fer hat nun nicht die Absicht, diesen Monographien eine ter dem Titel »Das Bild der anderen« (303-369) jene ver- neue hinzuzufügen. Das Ziel des Buches ist es, »an den hängnisvollen zum Holocaust führenden Mechanismen Grundlagen für eine neue und weiterführende Sicht des des Vorurteils thematisiert werden, die im Bild des Juden Bar Kokhba Aufstandes mitzuwirken« (S. 4). immer nur den Gegner sehen wollen, in Wirklichkeit aber Das Buch behandelt die wichtigsten literarischen Quellen, mehr über die eigene Person und die Gesellschaft Aus- besonders die rabbinischen, die von der Forschung bisher kunft geben. »Es ist eine traurige Geschichte, deren Aus- für eine Darstellung der Ereignisse herangezogen wur- gang nicht abzusehen ist« (352) formuliert abschliessend den, und hinterfragt die Legitimität der entsprechenden Hans Mayer angesichts der ambivalenten Haltungen ge- Fragestellung, die von der Forschung an diese Quellen genüber Juden in der deutschen Literatur und weist damit herangetragen wurde, und die Logik der Schlüsse, die ge- auf die Gefahren hin, die entstehen, wenn Vorurteile, Un- zogen wurden. »Das Ziel des Beitrags ist daher zunächst verständnis oder offener Neonazismus wieder ins Blick- und ganz bewusst destruktiv« (S. 4). feld aktueller Tagesereignisse rücken. Ein Gespräch über In den acht Kapiteln des Buches behandelt Schäfer die den »Weg nach Auschwitz und die Lage heute« (353 ff.) wichtigsten Komplexe des Bar Kokhba Krieges, so wie sie vermag die Gefährlichkeit solcher Dispositionen nur noch von der Forschung vorgegeben sind. Ausnahme ist ledig- besonders herauszustellen. lich Kapitel sechs, das die zusammenhängende literarische Soll jene »traurige Geschichte« aber zu einer Begegnung Einheit zum Bar Kokhba Krieg, die sich in der rabbini- mit dem Judentum, genauer mit jüdischen Mitmenschen schen Literatur findet, in ihrer Geschlossenheit unter- sich wandeln, so ist Offenheit gefordert und Bereitschaft, sucht. Auf eine genaue Analyse aller Quellen folgt jeweils sich auf Neues einzulassen, zu dem dieser Band einlädt, eine zuweilen bis ins kleinste Detail gehende Auseinan- der durch ein Nachwort des Hrsg. (371 f.), ein Mitarbei- dersetzung mit der Sekundärliteratur. terverzeichnis (377 ff.), einer in das Thema einführenden Das erste Kapitel behandelt »Die Chronologie« des Auf- Literaturliste (382 ff.) und einem ausführlichen Register standes. Auf Grund von Cassius Dio, aber auch der Do- (385 ff.) abgeschlossen wird. Alfred Wittstock, Mainz kumente aus dem Wadi Muraba'at, kommt Schäfer zu dem Ergebnis, dass der Aufstand im Frühjahr 132 n. Chr., SHMUEL SAFRAI: Das jüdische Volk im Zeitalter des spätestens im März dieses Jahres, begann und wahrschein- Zweiten Tempels. Zweite Auflage. Neukirchen-Vluyn lich im Spätherbst 135 zu Ende war mit Nachzugsgefech-

79 ten bis in den Beginn des Jahres 136 hinein. Das ergibt ei- seiner Ausgabe gewählten Text genommen hätte (der in ne Dauer des Aufstandes von dreieinhalb bis vier Jahren. Wahrheit der Text von Qohelet Rabba zu sein scheint), Kapitel zwei ist 'überschrieben mit »Die Ursachen«. Hier sondern den auch bei Margulies im Textapparat aufge- werden nacheinander die Komplexe der versprochene und führten Text der Handschrift München, der die ursprüng- dann wieder zurückgenommene Tempelaufbau, die dem lichste Fassung des Wajiqra Rabba enthält und der genau Aufstand vorausgehende Gründung der heidnischen Stadt die Auslassungen aufweist, die Schäfer für die ursprüngli- Aelia Capitolina und das Verbot der Beschneidung disku- che Fassung vermutet. tiert. Alle diese drei von der Forschung vorgeschlagenen Bei der Würdigung des Buches wird man sich hin und Gründe lehnt Schäfer ab, jedenfalls als Primärgründe. wieder des Eindruckes nicht erwehren können, dass Schä- Dem Aufstand vorauszugehen scheint ihm lediglich die fer der Sekundärliteratur gegenüber sehr kritisch und zuwei- Gründung von Aelia Capitolina, das Beschneidungsverbot len wohl zu kritisch gegenübersteht und zu wenig bereit sei eher die Folge des Krieges, und ein bewilligter und ist, aus den literarischen Quellen irgendwelche historische dann wieder zurückgenommener Tempelbau sei wahr- Erkenntnisse zu erschliessen. Andererseits bietet er selbst scheinlich unhistorisch. Seiner Meinung nach lägen die manchmal Lösungsversuche an oder erwägt Lösungsmög- wahren Gründe vielmehr in einer allgemeinen Hellenisie- lichkeiten (so im Kapitel zwei), für die er keine Quellen rungspolitik unter Hadrian, die von einer hellenisten- anführt. Angesichts aber einer grossen Phantasie und ei- freundlichen jüdischen Partei durchgesetzt werden sollte. ner häufig anzutreffenden ganz unkritischen Ausbeutung Das Ganze sei so weniger ein römisch-jüdischer Krieg als literarischer Quellen bei vielen Autoren zu dem Thema ist ein innerjüdischer Konflikt. dieses Buch als desillusionierend wichtig und unentbehr- Das dritte Kapitel behandelt die Person Bar Kokhbas lich. Es macht klar, auf welch schwachen Informations- nach Name und Herkunft, Titel (Messias und Nasi) und quellen eine Geschichtsschreibung des zweiten Aufstandes Persönlichkeit. Schäfer versucht zu erweisen, dass aus den gegen Rom eigentlich steht, worüber auch alle Eloquenz Quellen und den archäologischen Befunden und den zeit- und die Rekonstruktion eines plausibel logischen Ablaufs genössischen Dokumenten und Münzen keine eindeuti- der Ereignisse nicht hinwegtäuschen können. Das Buch gen messianischen Ansprüche erkenntlich seien. Der Nasi- wird abgerundet durch ein ausführliches Literaturver- Titel gehe weniger auf den Nasi als Vorsitzenden des zeichnis und verschiedene Indices. Sanhedrin, sondern auf Idealvorstellungen einer Herr- Michael Krupp, Jerusalem scherfigur bei Hesekiel zurück. Im ganzen ergebe sich die Figur eines religiös denkenden und handelnden zeloti- PETER SCHÄFER (Ed.): Synopse zur Hekhalot-Litera- schen, kompromisslosen und harten Volksführers. tur. Texte und Studien zum Antiken Judentum (Hrsg. M. Im vierten Kapitel »Die Rückeroberung Jerusalems und Hengel/P. Schäfer) Bd. 2. Tübingen 1981.1 C. B. Mohr. der Wiederaufbau des Tempels« erweist Schäfer, dass auf XXV, 299 Seiten, Grossformat. Grund der Quellen und vor allem des archäologischen Be- Für die künftige Erforschung der Hekhalot-Literatur ist fundes beides eher auszuschliessen ist. diese Edition eine entscheidende Wegmarke. Die Zeit der Im fünften Kapitel »Die territoriale Ausbreitung« kommt Forschungspioniere, die irgend eine Handschrift über Schäfer zum Schluss, dass sich der Aufstand auf das Ge- Himmelsreisen jüdischer Esoteriker der Spätantike und biet Judäas beschränkt hat. des Mittelalters verabsolutierten und Theorien darüber Im sechsten Kapitel behandelt der Verfasser, wie oben er- darboten, ist damit vorbei. Peter Schäfer und seine Mitar- wähnt, den in mehreren Versionen und Texten vorliegen- beiter (bes. M. Schlüter und H. G. von Mutius) erstellten den, einzig zusammenhängenden Bericht der Ereignisse in mit Hilfe der elektronischen Datenverarbeitung eine Syn- der rabbinischen Literatur, den sogenannten »Bethar- opse von Handschriften, damit die Fülle der Mutmassun- Komplex«. Ein Vergleich dieser Texte macht es möglich, gen und Theorien über die Hekhalot-Literatur für jeden literarische gemeinsame Grundbestandteile zu erkennen, Judaisten kritisch nachprüfbar würde. Die Textüberliefe- Zusammenhänge zwischen den einzelnen Versionen und rung dieser Literatur ist »in einem extrem korrupten Zu- gegenseitige Beeinflussungen aufzuweisen. Vieles Mate- stand, der es nicht erlaubt, eine Handschrift oder eine rial stellt sich dabei als sekundär heraus und gehört von Handschriftengruppe vor andern Handschriften zu favo- Hause aus nicht zum Bar Kokhba Krieg. Historische risieren und eine sog. kritische Edition zu erstellen. Dieses Schlüsse auf den Verlauf des Krieges sind teils nicht, teils Problem, das ähnlich auch für die Midrash-Literatur gilt, nur mit grösster Vorsicht möglich. stellt sich hier in verschärfter Form«. Ausserdem müsse Im siebten Kapitel »Die Hadrianische Verfolgung« wer- man sehr lange »mit stark flukturierenden Traditionen« den die einzelnen Verbote, die die Forschung gesammelt rechnen (Einleitung). Die Herausgeber möchten keinen hat, kritisch untersucht und auf ihre zeitliche Einordnung Schritt zu viel tun, um ja keine Vorentscheidungen zu fäl- befragt. Schäfer kommt dabei zu der Feststellung, dass len, die den Weg der Forschung missleiten könnten. Erst viele von der Forschung angenommene Verbote in ihrer müssten — und dies sei der Zweck dieser Edition — die Historizität überhaupt anzuzweifeln sind und andere Handschriften miteinander vergleichbar gemacht werden. nicht unbedingt mit dem Bar Kokhba Krieg in Zusam- Erst danach könnten Strukturanalysen, Vergleiche und menhang stehen. Das wichtigste Material enthält die To- evtl. Datierungen vorgenommen werden. Die Diskussion sefta. In der Schlussauswertung (S. 235) dieses Kapitels müsse sich zunächst an dieser Synopse entzünden. Man möchte Schäfer als gesichert nur das Beschneidungsverbot müsse in Kauf nehmen, »dass der Umkreis dessen, was zu während (nicht davor) des Aufstandes oder kurz danach dieser Literaturgattung gehört und was nicht (zumindest gelten lassen, während er vorher auch andere Verbote wie vorläufig) offengehalten werden soll« (VI). das des Verlesens der Estherrolle (S. 205) für möglich Die Einleitung zu dieser Hekhalot-Synopse (V—XXII) hält. verdeutlicht in ausgezeichneter Weise das Anliegen der Im Schlusskapitel wird »Das positive Hadriansbild in der Herausgeber, den Umfang der einbezogenen Hekhalot- rabbinischen Literatur« behandelt, auf das der Verfasser Literatur, den Stand der Forschung, den Zustand und den als Gegenstück zu der düsteren Figur des Gegners Bar Aufriss der einzelnen Handschriften und die Umgangs- Kokhbas hinweist. Bei der Geschichte aus Wajiqra Rabba weise der Editoren mit den Handschriften (Konventio- hätte es der Verfasser in seiner Argumentation leichter ge- nen). Man erfährt auch, wo sich Editionen einzelner habt, wenn er als Grundtext nicht den von Margulies in Hekhalot-Schriften befinden (Odeberg, Wertheimer,

80 Scholem etc.) und wie man den Weg von diesen Editionen nalismus zu wissen glauben, aber in ihren Ausführungen zur Schäfer-Edition finden kann. nach Weinrich doch hinter diesen Ausgangspunkt zurück- Für eine endgültige Beurteilung dieser Synopse ist es noch fallen. So behauptet Gogarten zwar einerseits radikal die zu früh. Sie wird die brauchbare und unumgängliche Basis Unverfügbarkeit der Wirklichkeit für den Menschen, für die weitere Erforschung der Hekhalot-Literatur sein. wenn er auf die absolute Wesensverschiedenheit von Gott Jeder interessierte Judaist und Literaturgeschichtler wird und Mensch hinweist, aber andererseits wird diese We- sie mit grösster Dankbarkeit entgegennehmen und sich sensverschiedenheit faktisch durch einen zunehmend an- mit ihrer Hilfe an die Arbeit machen, um möglichst sach- thropologisch gefassten Gottesbegriff überwunden, der entsprechende Einsichten in die frömmigkeits- und gei- wiederum dem Menschen wirklichkeitssetzende Macht stesgeschichtliche Bedeutung der Hekhalot-Literatur zu zukommen lässt. In der Theologie Bonhoeffers erscheint gewinnen. Clemens Thoma Wirklichkeit als Erlebnis, das als »Erfahrung konkreter gottursprünglicher Gemeinschaftlichkeit« (261) gedeutet MICHAEL WEINRICH: Der Wirklichkeit begegnen .. . wird, welche aber nur christologisch zugänglich ist. In- Studien zu Buber, Grisebach, Gogarten, Bonhoeffer und dem Weinrich Bonhoeffers Theologie als eine »existen- Hirsch. Neukirchen 1980. Neukirchener Verlag. XII, 386 tial-ontologische Entfaltung christologischer Ekklesiozen- Seiten. trik« (263) beschreibt, wird seine Kritik an Bonhoeffer Die Frage nach der Wirklichkeit stellen signalisiert einer- formuliert, welche bereits im Interpretationsweg — ein seits angesichts ständiger Veränderungen in allen Lebens- Nachgehen von Bonhoeffers Gedanken als Gefälle von bereichen tief sitzende Unsicherheiten sowie andererseits »aussertheologisch gewonnener Problembeschreibung die Offenheit des Begriffs von Wirklichkeit. In der vorlie- und angeschlossener theologischer Reflexion und Begrün- genden, stark überarbeiteten Fassung seiner Göttinger dung« (263) — Weinrichs angelegt ist. Hirschs Theologie Dissertation von 1978 unternimmt Weinrich den Versuch, betont die analogielose Individualität des Menschen, die »einen der unterschiedlichen Wege der Theologie, Wirk- als Personalität ihr Selbstbewusstsein nur aus der individu- lichkeit zu beschreiben« (VII), systematisch zu würdigen. ellen Anrede des personalen Gottes im Gewissen gewinnt. Wie kann Theologie angemessen nach Wirklichkeit fra- Damit verzichtet Hirsch zunächst ganz auf das menschli- gen und von ihr reden? Weinrich geht dieser Frage nach, che Du, denn es ist das Du Gottes, das den Menschen un- indem er in einem Hauptteil eine geistesgeschichtliche mittelbar im Gewissen entscheidungshaft anruft. Somit Untersuchung des Personalismus Bubers und Grisebachs liegt »alle Gotteserkenntnis in der Innerlichkeit des Indivi- vornimmt, um deren Rezeption in den theologischen Ent- duums« (325) begründet, und der Mensch erhebt sich würfen von Gogarten, Bonhoeffer und Hirsch nachzu- wieder zum Sachverwalter von Wirklichkeit. Weinrich zeichnen. Der systematische Ort dieser Personalismus- zeigt somit, dass die theologische Rezeption des Persona- rezeption in den untersuchten theologischen Konzeptio- lismus in der Frage nach Wirklichkeit und damit seiner nen wird deutlich, wenn Weinrich die Ergebnisse seiner kritischen Sicht eines Wirklichkeit entwerfenden Men- Untersuchung aufnimmt in die Erörterung gegenwärtiger schen ihren Kritikanspruch nicht durchgängig einlösen theologischer Diskussionen um Wirklichkeit, zu denen in konnte, sondern — besonders bei Gogarten und Hirsch — den Prolegomena hingeführt wird, während die Epile- noch zu affirmativen Schlüssen bezüglich der Vorfind- gomena »in der Auseinandersetzung mit dem durch die lichkeit gelangte. Inwieweit diese Tradition in gegenwärti- Prolegomena bereitgestellten Material über die Reichwei- ge theologische Entwürfe hineinwirkt, weist Weinrich in te der Frage nach der Wirklichkeit nachdenken« (333) den Epilegomena auf. wollen. Dieses Material stellen die systematisch-theologi- Bei aller Kritik am Personalismus ist es aber durch die schen Ansätze von Pannenberg, T. Rendtorff, Zahrnt, ganze Arbeit hindurch Bubers Verweis auf Wirklichkeit, Tillich, Sölle und Ebeling. Gleichzeitig wird hier in den mit der Weinrich ins Gespräch tritt, wobei es zu einem — Prolegomena der Leser auf den Massstab allen Redens soweit ich sehe — Neuansatz in der Buberinterpretation von Wirklichkeit verwiesen, wenn Weinrich in der alten kommt, der besonders im christlich-jüdischen Gespräch Weisheit Israels, an deren Anfang die >Furcht des Herrn< unbedingt Beachtung finden sollte, will dieses nicht der steht, jene Erkenntnistheorie Israels ausmacht, der sich Gefahr erliegen, in ein unverbindliches Geplauder abzu- erst in dieser Voraussetzung Wirklichkeit erschliesst. gleiten, das sich zudem noch auf eine zeitlos scheinende Die Gemeinsamkeit aller im Hauptteil der Arbeit unter- Ich-Du-Lebensphilosophie Bubers berufen zu können suchten und äusserst präzis dargestellten Positionen ist ge- glaubt. Solche Domestizierung Bubers verkennt den von kennzeichnet durch den Versuch — ausgelöst im Persona- Weinrich an Bubers Werk herausgestellten Zusammen- lismus durch die Katastrophe des 1. Weltkrieges —, Wirk- hang von >Ich und Du< mit Bubers Rede von der >Gottes- lichkeit als dem Menschen sich entziehende, durch ihn finsternis< als dem >Charakter der Weltstunde, in der wir nicht zu konstituierende neu zu beschreiben, wobei der. leben< (Buber). Sowenig dem menschlichen Ich Wirklich- selbstherrlichen Subjektstellung des Menschen der Boden keit setzende Macht zukommt, sondern sie ihm nur im entzogen werden soll. Auf der Suche nach der >unverre- Du begegnet, wenn anders er nicht selbst an der mensch- chenbaren Wirklichkeit< stösst man im Personalismus auf lichen Seite der Gottesfinsternis mitarbeitet, sowenig die zentrale Kategorie der Begegnung, deren Erlebnis sich kommt ihm die Möglichkeit zu, an ihrer Erhellung mit- begrifflicher Erfassung entzieht, denn allein in der vorbe- zuwirken, so dass die »Diagnose der Gottesfinsternis haltlosen Begegnung eines konkreten menschlichen Du wirkliche Entmachtung des Menschen bedeutet« (76). Im erschliesst sich dem Ich Wirklichkeit; sie wird von sich aus Hoffen auf Aufhellung der Gottesfinsternis allein durch evident, ohne in der Verfügbarkeit des Ich zu stehen. Gott selbst stellt sich Buber in die prophetische Tradition Sieht Weinrich bei aller Sympathie für den Personalismus der hebräischen Bibel und deren radikale Kritik am selbst- Bubers gerade hier eine gewisse Gefahr des Irrationalis- süchtigen Menschen. Im Aufweis dieses Zusammenhangs mus, der angesichts faktisch vorhandener gesellschaftli- bei Buber gelingt es Weinrich, jene Buberinterpretationen cher Machtstrukturen heute gravierende Folgen nach sich und -rezeptionen in ihre Schranken zu weisen, die die Bu- zieht, so gilt seine Kritik dann besonders den theologi- bersche Rede von der Vergegenwärtigung von Wirklich- schen Versuchen, die den Personalismus zwar rezipieren, keit in der Begegnung von Ich und Du gleichsam als da sie sich in gleicher »Abwehr aller begrifflichen Deu- Rezept zur Erhellung der Zeiten verstehend anwenden tung der erlebten Wirklichkeit« (129) eins mit dem Perso- wollen.

81 So erweist sich die Arbeit Weinrichs auch hier als wichti- bietet gerade auch im Hinblick auf die Schwierigkeit des ger richtungweisender Beitrag im Aufweis systematisch- Themas für christliche Schüler Alternativen an. Als wichti- theologischer Zusammenhänge bei der komplexen Frage ge Hilfe verdienen auch die vorgelegten Medien eigens nach der Wirklichkeit, die bedrohlich anmutenden Vor- hervorgehoben zu werden. Selbstverständlich kann das findlichkeiten widersteht. Alfred Wittstock, Mainz christlich-jüdische Verhältnis hier nur am Rande gestreift werden: an den Beispielen der heute noch weitverbreite- ELIE WIESEL: Adam oder das Geheimnis des Anfangs. ten christlichen Entgegensetzung Jesu zu »den« Phari- Brüderliche Urgestalten. Freiburg 1980. Herder. 232 Sei- säern und an der (mittelalterlichen) Kontrastierung von ten. Ecclesia und Synagoge. Doch sollten Schüler — und natür- Elie Wiesel erzählt Geschichten. Erzählt er altbiblische lich auch Lehrer —, die eine solche Unterrichtsreihe erar- Legenden in heutiger Weise oder heutiges Wissen in bi- beitet haben, imstande sein, dem antijüdischen Vorwurf blisch-legendären Worten? Beides trifft in gleichem Masse der »Gesetzlichkeit« zu widerstehen, mag er nun von zu, so dass Betrachtungen alttestamentlicher Urgestalten Paulus, von einem reformatorischen Standpunkt oder gelungen sind, die in ihrer Nähe und Aktualität zu berüh- sonstwoher begründet werden. Das Buch ist uneinge- ren vermögen. schränkt zu empfehlen, auch über den schulischen Bereich Elie Wiesel schildert Hintergründe des Handelns, Bege- hinaus. Peter Fiedler, Freiburg i. Br. benheiten aus dem Leben sowie mögliche Motive und Entwicklungsprozesse der Erzväter, die uns in ihrer Viel- YEAR BOOK (Leo Baeck Institute) Bd. XXV: London deutigkeit ansprechen und dem Mitfühlen zugänglich 1980. Secker & Warburg. 490 Seiten. werden. In unprätentiöser Weise geht er die psychologi- Sowohl das 1955 von dem »Council of Jews from Ger- sche Durchdringung der geschilderten Figuren an, ohne many«1 gegründete Leo Baeck Institute wie auch sein jemals in ein oberflächliches Psychologisieren zu verfal- Jahrbuch" beging 1980 sein 25jähriges Jubiläum. Das In- len. Er stellt Fragen, die auf unorthodoxe Art Tabus zur stitut wurde mit den Aufgaben betreut der Materialsamm- Seite schieben, wird dabei jedoch nie den Ursprüngen und lung und Forschung der Geschichte der Juden in Deutsch- Traditionen jüdischen wie chasidischen Fühlens und Er- land und in den deutschsprachigen Ländern seit der zählens untreu. Emanzipation bis zur Vernichtung und der neuen Zer- So werden Midrasch-Legenden mit den manchmal kargen streuung. Mit dem Institut ist eine Anekdote verbunden, Berichten der Bibel zu reichhaltigen Portraits verwoben, die sich mit dem Gedanken einer jährlichen Publikation welche dem Erzähler wie auch seinem Leser den Raum verband; es war Martin Buber, der dem Jahrbuch eine be- zum Aufspüren des verborgenen Poetischen belassen. Ein grenzte Lebensdauer voraussagte, so wie genau der Name Reigen »erster« Menschen wird uns vorgeführt: vom Pro- dies besagt. In dankbarer Erinnerung an diesen wohlwol- totyp Adam über den Erzvater Abraham bis zum symboli- lenden Skeptizismus Bubers wird sein Andenken im Jahr- schen Hiob. Sie alle tragen mehr als ein Gesicht und buch durch Papiere von Arthur Cohen und Nahum Glat- scheinen uns deshalb verwandt zu sein in ihrer ursprüngli- zer geehrt'', die diese anlässlich seines 100jährigen Ge- chen Menschlichkeit. burtstags bei einem vom New Yorker Leo Baeck Institute Elie Wiesels Erzählweise ist bisweilen von einer gewissen gehaltenen Symposion im Oktober 1981 vortrugen 2. Das Respektlosigkeit gekennzeichnet, einer teils humorvollen, prägnante Vorwort aus der Feder von Arnold Paucker 3, teils leidenschaftlich in Frage stellenden. Es gelingt ihm je- in dem er u. a. über gemeinsame Sitzungen mit der >Ame- doch immer wieder, an unser Mitgefühl und unsere Ver- rican Historical Association< anlässlich ihrer Jahresver- bundenheit mit dem leidenden Judenvolk zu appellieren. sammlungen berichtet und auch über eine andere gemein- Es ist ein stilles, verborgenes Geführtwerden im Solida- same Sitzung über >Religion and Secularization in Ger- rischsein mit jenen, die als erste die Fragwürdigkeit des man Society during the 19th and 20th Centuries 2< in San Menschseins erfahren haben. Francisco im Dezember 1978. Auch erinnert A. Paucker Nicht alles in Wiesels Erzählungen ist originale Schöp- an die jährliche Bibliographie, für die das Jahrbuch Bertha fung. Er ist aber auch kein blosser Imitator der . osteuro- Cohn zu besonderem Dank verpflichtet ist, die 24 Jahre päischen Chasidim des 18./19. Jh.s, sondern vermag bis zu ihrem Ruhestand dieses wertvolle Werk betreut hat. Überliefertes in ein heute ansprechendes Gewand zu klei- Dies wird nun fortgesetzt von Irmgard Foerg, Locarno, den. Die Midraschskizzen der »brüderlichen Urgestalten« und Annette Pringe1 vom London Leo Baeck Institute 2a. vermögen zu faszinieren. Monique Pia, Luzern Aus diesem Band und den folgenden Bänden geben wir in Auswahl eine kurze Übersicht: ALFRED WITTSTOCK: Toraliebe im jüdischen Volk. Introduction by Ismar Schorsch: The Leo Baeck Institute: Theologische Grundlegung und Ausarbeitung einer Un- Continuity amid Desolation — Ismar Schorsch: The Reli- terrichtsreihe für Sekundarstufe II (Das Judentum. Ab- gious Parameters of Wissenschaft — Jewish Academics at handlungen und Entwürfe für Studium und Unterricht, Prussian Universities — Vernon Lidtke: Social Class and hrsg. v. Peter von der Osten-Sacken, Bd. 2). Berlin 1981. Secularisation in Imperial — The Working Clas- Selbstverlag Institut Kirche und Judentum. 103 Seiten. ses Geoffrey G. Field: Religion in the German Volks- Das Buch ist aus Betroffenheit über die offenbaren Folgen schule, 1890-1928. des christlichen Antijudaismus, für den »das Gesetz« ei- Michael A. Meyer: The Orthodox and the Enlightened — nen Kernpunkt bildet(e), und aus der Erfahrung im (evan- An Unpublished Contemporary Analysis of Berlin Jewry's gelischen) Religionsunterricht heraus entstanden. Zentral sind demgemäss »Theologische Perspektiven in didakti- 1 Der »Council of Jews from Germany« wurde nach dem Krieg von den hauptsächlichsten Organisationen der Juden aus Deutschland in Israel, in 17 -42), »Didaktische Konkretio- schem Horizont« (5. den USA und in Grossbritannien gegründet zum Schutz ihrer Rechte und nen« (S. 47-58) und »Die Unterrichtsreihe — Lernziele, Interessen. Das Institut trägt den Namen zur Ehre des Mannes, der die Verlaufspläne und Medien« (S. 59-91). Die Entfaltung letzte repräsentative Gestalt des deutschen Judentums in Deutschland dessen, was die Tora für das jüdische Volk bis heute be- während der Nazizeit war. deutet, wird von den biblischen Ansätzen her über das tal- la S. dazu das Vorwort S. VII/VIII. i b Und auch die Zeitschrift des Instituts: das >Bulletin< (s. u. S. 98). mudische Schrifttum bis zu heutigen Verständnisweisen 2 Vgl. ebd. S. VII. sachgemäss durchgeführt. Dabei spielen »Bund« und Sab- S. dazu Bd. XXII/1977 in: FrRu XXXI/1979, S. 143. bat die zentralen Rollen. Die vorgelegte Unterrichtsreihe Ebd. S. VII u. VIII.

82 Spiritual Condition in the Early Nineteenth Century. vorangestellte Bild symbolisiert dieses Geschehen bestür- From the Wilhelminian Era to Nazi Rule: Peter Pulzer: zend: das oben stehende Bild bringt eine Prozession der Why was there a Jewish Question in Imperial Germany? — Jüdischen Gemeinschaft aus Memmingen, Baden, 1912, Marjorie Lamberti: Liberals, Socialists and the Defence bei der Einweihung ihrer neuen Synagoge. Die untere Ab- against Antisemitism in the Wilhelminian Period — Max P. bildung: Juden beim Pogrom 1938 in Baden-Baden beim Birnbaum: On the Jewish Struggle for Religious Equality Abmarsch ins Konzentrationslager. in Prussia 1897-1914 — Hermann Greive: Zionism and Arnold Paucker berichtet u. a. vom Hinscheiden Selma Jewish Orthodoxy — Walter Zwi Bacharach: Jews in Con- Stern-Täublers (17. 8. 1981 in der Schweiz in ihrem 92. frontation with Racist Antisemitism, 1879-1933 — Paul Jahr) sowie von Dolf (A. P.) Michaelis, Mitglied des Jeru- Yogi Mayer: Equality — Egality — Jews and Sport in Ger- salemer Board des Leo Baeck Institute (27. 9. 1981 im 76. many — Carl J. Rheins: The Verband nationaldeutscher Jahr) sowie von Gershom Scholem6 (20. 2. 1982 in Jerusa- Juden 1921-1933 — Lawrence Baron: Erich Mühsam's lem im 85. Jahr). Er gehörte dem Stab des Jerusalemer In- Jewish Identity. stituts seit seiner Gründung an. Das Institut wird ihn sehr Arthur A. Cohen: Martin Buber and Judaism — Nahum N. vermissen. Glatzer: Reflections on Buber's Impact on German Jewry. Sämtliche Bände enthalten, wie üblich, die auf hohem Ni- veau stehenden Illustrationen, Dokumentationen, Regi- DASS.: 1981 Bd. XXVI, 526 Seiten: ster und sorgfältige Bibliographie. Auch in diesem XXVI. Band berichtet Arnold Paucker Es folgt wiederum in Auswahl eine Übersicht aus dem wiederum von einer anderen, der 9. Jahresversammlung reichhaltigen Inhalt: der >American Historical Association< im Dezember 1979, Marion A. Kaplan: Tradition and Transition — The Accul- über: »Ethnic Minorities and the Jews in Imperial Ger- turation, Assimilation and Integration of Jews in Imperial many«3a. Dieses Jahrbuch 1981 behandelt Minoritäten Germany — A Gender Analysis — Stefi Jersch-Wenzel: The und ihre Strömungen. Jews as a »Classic« Minority in Eighteenth- and Nine- Es ist bemerkenswert, dass die letzten Jahrbücher sich zu- teenth-Century Prussia. nehmend mit den Verhaltensmustern der Juden unter der Marjorie Lamberti: From Coexistence to Conflict — Zio- NS-Herrschaft und den jüdischen Reaktionen und ihrer nism and the Jewish Community in Germany, 1897-1914 Ausstossung aus dem politischen Deutschland befassen. In — Peter M. Baldwin: Zionist and Non-Zionist Jews in the dieser Hinsicht ist besonders die weit gespannte Untersu- Last Years before the Nazi Regime — Jacob Boas: Ger- chung von Herbert A. Strauss zu nennen: »Jewish Emigra- many or Diaspora? German Jewry's Shifting Perceptions tion from Germany — Nazi Policies and Jewish Respon- in the Nazi Era (1933-1938). ses« (I)4. Moshe Zimmerman: Jewish Nationalism and Zionism in Der Band enthält folgende Abschnitte: I Ethnic Minori- German-Jewish Students' Organisations — Marsha L. Ro- ties — II Jewry in the Austrian Empire — III Profiles of zenblit: The Assertion of Identity — Jewish Student Natio- Rabbis — IV Jewish Youth Movements — V Germans and nalism at the University of Vienna before the First 'World Jews — VI Antisemitism or Philosemitism — VII In the War — Jack Wertheimer: The »Ausländerfrage« at Institu- Third Reich; aus den darin enthaltenen Beiträgen bringen tions of Higher Learning — A Controversy over Russian- wir eine kurze Übersicht: Jewish Students in Imperial Germany. Vicki Caron and Paula Hyman: The Failed Alliance — Jew- Moshe Pelli: The Attitude of the First Maskilim in Ger- ish-Catholic Relations in Alsace-Lorraine, 1871-1914 many towards the Talmud — Robert Liberles: Leopold »The Unwanted Element« — East Euro-—Jack Wertheimer: Stein and the Paradox of Reform Clericalism, 18'44-1862 pean Jews in Imperial Germany — Istvan Deak: Ethnic Mi- — Gershon Greenberg: Mendelssohn in America — David norities and the Jews in Imperial Germany — Comments Einhorn's Radical Reform Judaism — Alfred Jospe: The on the Papers of Vicki Caron and Paula Hyman and of Study of Judaism in German Universities before 1933. Jack Wertheimer — Jacob Tour y: Jewish Townships in the German-Speaking Parts of the Austrian Empire — Before Auch einem erfreulicherweise wachsenden, für diesen and After the Revolution of 1848/1849 — Michael Anthony Themenbereich aufgeschlossenen Interessentenkreis sollte Riff: Assimilation and Conversion in Bohemia — Secession das Standardwerk des Leo-Baeck-Instituts ein unentbehr- from the Jewish Community in Prague 1868-1917 — Ro- liches Hilfsmittel sein. G. L. bert S. Wistrich: Austrian Social Democracy and the Prob- 6 S. o. S. 19 ff. lem of Galician Jewry 1890-1914 — John W Boyer: Karl Lueger and the Viennese Jews. MOSCHE ZIMMERMANN: Hamburgischer Patriotis- Alexander Altmann: Adolf Altmann (1879-1944) — A Filial mus und deutscher Nationalismus. Die Emanzipation der Memoir — F. S. Perles: Felix Perles, 1874-1933 — James J. Juden in Hamburg 1830-1865. (Hamburger Beiträge zur Walters: The Life and Work of Malvin Warschauer. Geschichte der deutschen Juden, Band VI). Hamburg Arno Herzig: The Role of Antisemitism in the Early Years 1979. Hans Christians Verlag. 266 Seiten. of the German Workers' Movement — Ian Kershaw: The In dieser schon bisher wiederholt im Freiburger Rundbrief Persecution of the Jews and German Popular Opinion in angezeigten, vorzüglichen Schriftenreihe (vgl. XXVII/ the Third Reich — G. Bording Mathieu: The Secret Anti- 1975 S. 122; XXVIII/1976 S. 102) ist als Band VI eine Juden-Sondernummer of 21st May 1943. Arbeit erschienen, die abermals Beachtung weit über den Kreis der unmittelbar von ihr angesprochenen örtlichen DASS.: 1982 Bd. XXVII, 512 Seiten: Geschichtsforscher hinaus verdient. Denn was die am An- Als zweiter Band unter den letzten Jahrbüchern zeichnet fang der behandelten Epoche grösste jüdische Gemeinde dieses XXVII. Jahrbuch das Schicksal der Deutsch-Jüdi- Deutschlands in wirtschaftlichen und politischen Ausein- schen Gemeinschaft seit der Thronbesteigung Wilhelms andersetzungen um ihre Integration und Emanzipation II. bis in die Zeit, in die die wachsende Flut des National- seit den dreissiger Jahren des vorigen Jahrhunderts erlebt sozialismus sie in den Abgrund stürzte'. Das dem Band und wie sie es nach und nach zu bewältigen vermocht hat dank der Lenkung durch Persönlichkeiten wie Gabriel 3. Vgl. ebd. S. VII. • Vgl. ebd. XXV/1980, S. 313. Riesser, nachmals Abgeordneter in der Paulskirche — der 5 S. ebd. S. VII. Hauptfigur dieses Buchs — und Anton Ree, vor allem aber

83 dank der Revolution von 1848/49, dies hat exemplari- MARIANNE AWERBUCH: Christlich-jüdische Begeg- sche, wirtschafts-, geistes- und verfassungsgeschichtliche nung im Zeitalter der Frühscholastik (Abhandlungen zum Bedeutung. Der Wiederaufbau Hamburgs nach dem gros- christlich-jüdischen Dialog, Bd. 8). München 1980. Chri- sen Brand 1842 sei wichtiger als die Vollendung des Köl- stian-Kaiser-Verlag. 242 Seiten. ner Dorns, eines Wahrzeichens des neuen deutschen Na- In ihrem Werk unternimmt die Autorin den Versuch, die tionalismus, schrieb damals ein Autor Lübecker Herkunft jüdisch-christlichen Beziehungen in Westeuropa mit dem — und niemand hat mehr zu jenem Wiederaufbau beige- räumlichen Schwerpunkt Frankreich und dem sachlichen tragen als Salomon Heine. So stehen sich die Fronten ge- Schwerpunkt Bibelexegese innerhalb des 11. und 12. Jahr- genüber: Lokalpatriotismus auf der einen, deutscher Na- hunderts darzustellen. Jüdischerseits behandelt sie die tionalismus auf der anderen Seite, und nicht zufällig wur- Entwicklung der nordfranzösischen Exegetenschule, die de der Begriff >Antisemitismus< von einem Hamburger, sich in den Gestalten Raschis (Kap. 3 und 5) sowie Josef von Wilhelm Marr, erfunden. Den im Staatsarchiv Ham- Karas, Samuel Ben Meirs und Josef Bechor Schors (Kap. burg liegenden, bisher kaum benutzten Nachlass des 6) manifestiert. Den Auslegungsstil der genannten Gelehr- Letztgenannten ausgiebig verwertet zu haben, ist ein be- ten illustriert die Verfasserin mit zahlreichen, in deutscher sonderes Verdienst dieser, zunächst als Jerusalemer Dis- Übersetzung gebotenen Beispielen aus deren Bibelkom- sertation entstandenen Arbeit. Der Autor, Sohn Hambur- mentaren und zeigt dabei auf, wie sich die Schriftexegese ger Eltern, schrieb dieselbe nach langjährigen Studien und von der noch stark dem haggadischen Midrasch verhafte- legt nun mit dieser ergänzten sowie verbesserten deut- ten Auslegungsweise Raschis weg zu einer immer stärker schen Fassung ein sehr reichhaltiges und interessantes literal orientierten Auslegung wandelt, die sich bei der Er- Werk vor. Es ist nämlich das Problem der bürgerlichen klärung mehr am Wortlaut des Bibeltextes selbst orientiert Emanzipation schlechthin, nicht allein diejenige der Ju- als an den ausserbiblischen Traditionen der Rabbinen zu den, womit sich Zimmermann beschäftigt; er versteht dar- diesem oder jenem Vers. Besondere Beachtung verdienen unter die Entwicklung einer modernen, auf dem Grund- dabei solche Textproben, die antichristliche Polemik ent- satz der Gleichberechtigung beruhenden Gesellschaft. halten — sei es dass christologische Interpretationen altte- Ferner ist für ihn der Begriff >Nationalismus< identisch mit stamentlicher Bibelverse aufs Korn genommen oder dass >nationaler Einheit< im Gegensatz zu Partikularismus oder Sitten und Gebräuche der christlichen Umwelt gegeisselt Lokalpatriotismus. Dies erklärt zum Beispiel, warum ro- werden. mantische Vorstellungen, wie sie in der Zeit des Vormärz Zum andern verweist die Autorin auf das Interesse christ- teilweise vertreten wurden, wegen darin enthaltener Un- licher Theologen am hebräischen Originaltext des AT gleichheit der Stände auf manche jüdische Vorkämpfer und an jüdischen Auslegungen desselben, um die eigene des Liberalismus eher abschreckend wirkten. Auch kon- exegetische Arbeit auf bessere Grundlagen zu stellen. Als kurrierten spezielle Hamburger Voraussetzungen, zu ver- Beispiele werden der Zisterzienser Nikolaus von Manja- stehen aus der wirtschaftlichen Lage und Bedeutung der coria aus der 1. Hälfte des 12. Jahrhunderts (Kap. 4.2) Stadt, mit dem Gleichberechtigungsstreben der jüdischen und vor allem dessen Zeitgenosse Hugo von St.-Viktor Minderheit, das man in einem einheitlichen deutschen (Kap. 9) genannt. Auch auf die antijüdische Polemik Nationalstaat eher verwirklichen zu können hoffte. Was kirchlicher Autoren kommt die Verfasserin zu sprechen, der Verfasser über dieses alles zusammengetragen hat, ist wie dies des Italieners Petrus Damiani aus dem 11. Jahr- beeindruckend. Politische und weltanschauliche Fehden — hundert (Kap. 4.4) und die von masslosem Judenhass ge- auch solche unter jüdischen Vorkämpfern verschiedener prägte Schmähschrift des Petrus Venerabilis aus Cluny Richtung — wurden oftmals in nahezu verschollenen Lo- vom Jahre 1146, in Verbindung mit der die Autorin wich- kalblättern und Schriften ausgefochten, die hier sorgfältig tige Bemerkungen über die darin verarbeiteten und ver- herangezogen sind. Neuere Veröffentlichungen zur Ver- ballhornisierten jüdischen Quellen macht (Kap. 8). Unter fassungsgeschichte jener Zeit — es sei beispielsweise erin- der von der Autorin verarbeiteten Disputationenliteratur nert an A. Laufs, Recht und Gericht im Werk der Pauls- verdient die Zusammenfassung des Gesprächs zwischen kirche, 1978, an W. Siemann, Die Frankfurter National- dem Abt Gilbert Crispin von Westminster und einem nicht versammlung 1848/49 zwischen demokratischem Libera- näher genannten Juden Beachtung (Kap. 4.4). lismus und konservativer Reform, 1976, an W. Fiedler, Zwischen die Abschnitte, die die theologisch-literarischen Die erste deutsche Nationalversammlungt1848/49, 1980 — Zeugnisse beider Religionen behandeln, flicht die Autorin werden durch das Buch von Zimmermann ergänzt oder historische Kapitel ein, die die realgeschichtlichen, sozia- bestätigt. Für Antisemiten bewirkte auch die christliche len und politischen Rahmenbedingungen abhandeln, un- Taufe, zu der Gabriel Riesser nicht bereit war, weil er es — ter denen die Juden Deutschlands und vor allem Frank- wie seine berühmte Rede im Frankfurter Parlament besagt reichs zu leben hatten. So beschäftigen sich die Kapitel 1 — gemäss dem >Princip der Ehre< verschmähte, >durch ei- und 2 mit dem schon vor den Greueln des 1. Kreuzzuges nen Religionswechsel schnöde versagte Rechte zu erwer- nicht spannungsfreien Zusammenleben von Juden und ben<, schon damals kein Ende ihrer Judenfeindschaft, da Christen in den beiden Ländern, das von gelegentlichen deren Grund nicht nur in der Religion lag. >Sie bleiben Verfolgungen auf lokaler Ebene gekennzeichnet war. auch Juden in sozialer, staatlicher und nationaler Hin- Kap. 7 behandelt den wachsenden Antijudaismus in den sicht<, heisst es in dem >Schwarzbuch< von Ben Carlo französischen Städten während des 12. Jahrhunderts so- (Hamburg 1843), und schon 1841 schreibt der Altonaer wie die Judenpolitik der damals regierenden französi- Arzt Reichenbach, auch das Naturrecht spreche gegen die schen Könige. Emanzipation der Juden: >Nach dem Naturrecht bleibt je- Bei Stichproben sind mir folgende Versehen aufgefallen: de Gattung für sich. Und wehe der einen, wenn sie der S. 36 Anm. 3: Josef Kimchi lebte bis ca. 1170, nicht bis andern ins Gehäge kommt.< So ist also der Rassismus da- 1140; S. 121 Anm. 99: Lies: Pesikta Rabbati . . . Wien, mals in Hamburg schon perfekt. Wilhelm Marr, zeitle- 1880, S. 161 (statt S. 181); S. 186 Anm. 29: Der Traktat bens ein politischer und persönlicher Gegner Riessers, hat des Petrus Alphonsi steht in Bd. 157 der Patrologia Lati- demselben in Reden und Schriften oftmals auf erschrek- na, nicht in Bd. 177. kende Weise Ausdruck gegeben. Er überlebte, 1819 gebo- Bei einer eventuellen Neuauflage dieses hochinformativen ren, Gabriel Riesser (1806-1863) um zwanzig Jahre. Sei- Buches, dem ein weiterer Leserkreis gewünscht sei, sollten ne Saat ist aufgegangen. Hans Thieme, Freiburg i. Br. indices locorum hinzugefügt werden, vor allem ein Bibel-

84 stellenregister. Es würde demjenigen, der das Buch ganz Berichte christlicher Palästinapilger an: 1. Der Pilger von gezielt auf die Auslegung bestimmter Schrifttexte, etwa Bordeaux (333); 2. Die Nonne Etheria (um 400); 3. St. Jes 52/53, befragt, gute Dienste leisten. Hieronymus, Paula und Eustochium (404); 4. Der Bischof Hans-Georg von Mutius, Köln Eucharius (nach 444); 5. Der Archidiakon Theodosius (zwischen 518 und 530); 6. Das Jerusalem Brevier (um ANNETTE BYGOTT: Wege Israels. Ein Modell für den 550); 7. Der Pilger von Piacenza (um 570); 8. Der Bischof Religionsunterricht in den Klassen 9-11. Berlin 1981. Arkulf und der Abt Adomnanus (um 680). Selbstverlag Institut Kirche und Judentum. 80 Seiten. Es folgen dann ein Abkürzungsverzeichnis, Ortsregister, Dies ist eine hervorragende Zusammenstellung von Bil- eine Kartenskizze des Heiligen Landes mit Eintragung dern (nur schwarzweiss), Texten, Quellen und Informa- der wichtigsten Pilgerorte sowie eine Kartenskizze des al- tionen über das Judentum und über Israel. Die Autorin ten Nahen Ostens. versteht das ganze Heft als Unterrichtsmodell für den Re- »Die vorliegende Sammlung reicht nur bis in die 2. Hälfte ligionsunterricht. Es beginnt (vielleicht didaktisch nicht des 7. Jahrhunderts. Es ist eine Auswahl des Wichtigsten, ganz glücklich) mit dem »Sch'ma Jissrael«, führt über bis zu dem Zeitpunkt, da der gesamte Orient der grünen Themen wie Tora und Talmud, Sabbat, Synagoge, Cha- Fahne des Propheten Muhammad zufiel: also bis 640 . . . nukka, Situation der Juden im 19. Jahrhundert bis zur Auf eine Fortführung bis zur Kreuzfahrerzeit und darüber Staatsgründung Israels, zum Araberkonflikt und dem hinaus ist verzichtet worden. Zwar hätten aus den folgen- Verhältnis Israels zur Diaspora. den Jahrhunderten durchaus noch einige wertvolle Pilger- Die Stärken dieses Unterrichtsmodells: viele Abbildungen, berichte geboten werden können, aber zwei Gründe spra- die den Schülern und wohl auch den meisten Lehrern un- chen für die Beschränkung: einmal die Rücksicht auf den bekannt sind, ausgezeichnete Texte auch narrativer Struk- Umfang dieses Buches und zum anderen der Umstand, tur aus der jüdischen Überlieferung, viele Zahlen und dass die Pilgerliteratur seit der Epoche der Kreuzzüge in Fakten, gute Anregungen für die Arbeit mit der Bibel. ein neues Stadium tritt. Von nun an ist die Fülle der litera- Allerdings wirft das Unterrichtswerk auch ein paar Fragen rischen Zeugnisse nur noch schwer zu übersehen.« (S. 31). auf. Sie liegen m. E. weniger im inhaltlichen als im metho- »Die Texte sind in der Regel in barbarischem Latein ge- dischen Bereich. Einmal erscheint es mir fast nicht mög- schrieben . . ., das den Übergang zu den romanischen lich, das Thema so umfassend wie hier vorgeschlagen Tochtersprachen bereits erkennen lässt.« Was die Litera- schon in der Sekundarstufe I zu behandeln. Selbst für die turgattung betrifft, sind die meisten Texte »bunte Mi- Sekundarstufe II ergeben sich in dieser Hinsicht Proble- schungen aus Itinerar (Wege- und Stationenverzeichnis, me. Man wünschte sich, dass alle Religionslehrer annä- Reisebericht, Andachtsschilderung und Baubeschreibung) hernd mit der Thematik so vertraut wären, wie es hier für — mit einem Wort: ein kurioses . . . aber in seiner Abseitig- Schüler versucht wird. Zum anderen entspricht ein so line- keit gerade interessantes und reizvolles Genre altchristli- ar aufgebautes Modell wenig dem Korrelationsprinzip, chen Schrifttums.« das in der Religionspädagogik mehr und mehr als Funda- Die Berichte geben einen guten Einblick in die »religiöse ment des Unterrichts postuliert wird. Vor allem fehlt auch Bewusstseinslage« der abendländischen Pilger sowie in die ein durchgängiger Bezug zum christlichen Glauben und Mühen und Strapazen, die eine solche Reise mit sich zur gemeinsamen christlich-jüdischen Geschichte. Dies brachte. Dieses Buch ist sicher eine interessante und wert- erscheint mir für den Religionsunterricht unverzichtbar, volle Lektüre für jeden, der das Heilige Land kennt. »Es da ohne diesen Bezug der Unterricht allzu leicht zur Re- eignet sich auch hervorragend als Begleiter auf besinnli- ligionskunde wird. chen Reisen durch das Land der Bibel.« Aber die Bedenken mögen nicht überbewertet werden. Hansjörg Rasch, Freiburg i. Br. Wünschenswert wäre es schon, wenn sich unsere Schüler und Lehrer so intensiv mit dem Judentum befassen wür- KURT EBERHARDT (Hrsg.): »Was glauben die ande- den. Aber meist wissen die Schüler nicht annähernd so viel ren?« Im Auftrag des Bildungswerkes und der Arbeitsge- von ihrem eigenen Glauben, wie hier für das Judentum meinschaft der Kirchen und Religionsgesellschaften. Gü- vorgeschlagen wird. Werner Trutwin, Bonn tersloh 1977. Verlagshaus Gerd Mohn. 224 Seiten. Diese kleine Schrift, ein Siebenstern-Taschenbuch, ist die DAS KIRCHENTAGSTASCHENBUCH: Hamburg '81 Neuauflage eines erstmals 1957 erschienenen Buches, in (hrsg. von Carola Wolff). Stuttgart '81. Kreuz Verlag. 256 dem sich 27 christliche Kirchen und Religionsgesellschaf- Seiten. ten kurz selbst vorstellen. So findet man hier neben Ka- S. o. S. 41, Anm. 2. tholiken, Protestanten und Orthodoxen z. B. auch Altka- tholiken, Methodisten, Heilsarmee, Menoniten, Neuapo- DEUTSCHER EVANGELISCHER KIRCHENTAG stolische Kirche u. v. a. Für jede dieser Gemeinschaften HAMBURG 1981. Dokumente, hrsg. im Auftrag des Prä- stehen wenige Seiten zur Verfügung. Die Darstellungen sidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Stutt- sind kurz und sachlich, das ganze Buch atmet den Geist gart-Berlin 1981. Kreuz Verlag. 776 Seiten. christlicher Ökumene. Bedeutsam ist, dass hier auch das S. o. S. 41. Judentum Einlass gefunden hat. Seine religiös-theologi- schen Profile werden von dem bereits 1954 verstorbenen HERBERT DONNER: Pilgerfahrt ins Heilige Land. Die Rabbiner Hermann Schreiber kenntnisreich dargestellt. ältesten Berichte christlicher Palästinapilger (4.-7. Jh.). Ferner findet man in diesem Buch einen kurzen Exkurs Stuttgart 1979. Katholisches Bibelwerk. - 435 Seiten. über den Wiederaufbau der Jüdischen Gemeinde in Berlin Reiseführer aller Arten ins Heilige Land gibt es viele. nach Beendigung des 2. Weltkriegs. Der Text stammt von Doch eine Beschreibung einer Pilgerfahrt ins Heilige Ralph Schweiger. Alles in allem — eine informationsreiche Land von christlichen Palästinapilgern aus dem 4.-7. Jahr- kurze Einführung in die Vielfalt religiöser Gemeinschaf- hundert findet sich selten. ten. Hier hat man über sie das gesammelt greifbar, was Herbert Donner, Professor für Altes Testament, hat in sonst nur schwer zugänglich ist. Werner Trutwin, Bonn dem vorliegenden Buch solche Berichte »jeweils ausführ- lich eingeleitet, übersetzt und in Fussnoten erläutert«. HANS HERMANN HENRIX (Hrsg.): Unter dem Bo- Nach Vorwort und Einleitung schliessen sich folgende gen des Bundes. Beiträge aus jüdischer und christlicher

85 Existenz (Aachener Beiträge zu Pastoral- und Bildungs- oft missverstanden und unterschätzt wird, sind Breunings fragen 11). Aachen 1981. Einhard-Verlag. 328 Seiten. Ausführungen notwendig. Schalom Ben-Chorin zeigt, wie Dieser Sammelband ist ein Ergebnis verschiedener Aache- wichtig die Reich-Gottes-Erwartung für Judentum und ner Akademietagungen in letzter Zeit. Der rührige Her- Christentum ist und wie Juden und Christen diese Erwar- ausgeber ist überzeugt, dass der Leser »über die Konver- tung immer wieder in den Hintergrund schoben, verharm- genz und den untergründigen Zusammenhalt der einzel- losten oder pervertierten. — Der von Henrix herausgege- nen Beiträge erstaunt sein« wird. »Die Tatsache, dass sich bene Sammelband bietet einen gültigen Überblick über die unterschiedlichen Beiträge sehr bald zu wenigen über- heutige Gesprächstendenzen und -möglichkeiten zwi- greifenden Formalaspekten fügten, mag ihm den Zusam- schen Christen und Juden. Clemens Thoma menklang des Vielstimmigen anzeigen« (11). Die innere Einheit des Buches und seiner Themen ist in der Tat (be- RUTH KASTNING-OLMESDAHL: Die Juden und der sonders in den ersten drei Teilen) gut geglückt; 12 jüdi- Tod Jesu. Antijüdische Motive in den evangelischen Re- sche und 7 christliche Autoren teilen sich in der Aufgabe, ligionsbüchern für die Grundschule. Neukirchen-Vluyn geschichtlich relevante Persönlichkeiten neu aufscheinen 1981. Neukirchener Verlag. X, 238 Seiten. zu lassen, heutige jüdische Erfahrungen in ihrer Viel- Endlich kommen wir einen Schritt voran in den jüdisch- schichtigkeit darzustellen, christlich-jüdische Probleme christlichen Beziehungen. Es hilft vorerst nicht weiter, und Hoffnungen aufzuzeigen und vorbildliche Predigten grundsätzliche Optionen auszudifferenzieren, wenn wir zu entwerfen, um die Menschen auf christlich-jüdische uns dabei nicht gleichzeitig der mühsamen Inventurarbeit Möglichkeiten und Anliegen aufmerksam zu machen. im Bereich der praktisch wirksamen Theologie unterzie- Es ist einleuchtend, dass man sich in der Kaiserstadt hen. Inzwischen wurden ja bereits verschiedene Arbeiten Aachen Gedanken über Karl den Grossen und die Juden vorgelegt, die sich dieser eher undankbaren Aufgabe an- machte.' Karls Königtum war ja von alttestamentlichen genommen haben. Ruth Kastning-Olmesdahl sucht mit Motiven geprägt. Die renovatio seines Reiches sollte nach ihrer Untersuchung nun einen Ort auf, an dem viele Men- biblischen Mustern geschehen. Daher stammt seine För- schen bei uns das erste Mal in ihrem Leben mit dem Ju- derung der Juden, die ihm überdies als Träger von Bil- dentum konfrontiert werden. Für die meisten ist das der dung, Tradition und Ethik wichtig waren. Raymund Religionsunterricht in der Grundschule, wo es die Kinder Kottje schreibt über Karl den Grossen und die Juden in wenigstens indirekt mit dem Judentum zu tun bekommen. seinem Reich (11 - 33), David Flusser über die Judenfrage Wenn man sich einmal vergegenwärtigt, wie nachhaltig aus der Sicht Karls des Grossen (34-46). Ein weiterer sich der erste Kontakt, eine erste Begegnung auf die gan- Aufsatz über das Mittelalter stammt von Barry S. Kogan: ze folgende Beziehung auswirkt, kann die Bedeutung des Sorgt Gott sich wirklich? Saadja Gaon, Juda Halevi und Religionsunterrichts an unseren Grundschulen kaum Maimonides über das Problem des Bösen (47-73). Die überschätzt werden. Ruth Kastning-Olmesdahl unter- Positionen jüdisch-mittelalterlicher Religionsphilosophen sucht am Beispiel des »Prozesses« und der Passion Jesu dem Leid gegenüber schliessen sich stark — wenn auch die Religionsbücher der Grundschule als die zentralen nicht eingestanden — an christliche Gedankengänge an. Unterrichtsmittel des Religionsunterrichts mit der Frage, Aus dem Aufsatz von Michael A. Meyer, Abraham Gei- ob und inwiefern sich in den verschiedenen Darstellungen gers historisches Judentum (74-78) und aus andern Passa- und Einschätzungen — zweifellos meist unbeabsichtigt — gen dieses Sammelbandes sieht man, dass das liberale Ju- antijüdische Motive erhalten haben, auf die wir aufmerk- dentum des 19. Jh. derzeit in den USA am gründlichsten sam werden müssen. Sie legt damit eine vergleichbare Ar- erforscht wird. Ganz hervorragend ist auch Gotthard beit vor, wie sie für den katholischen Religionsunterricht Fuchs, ». . . lautlos geschrien, dass es anders sein soll« — bereits von Peter Fiedler — allerdings auf anderer Mate- Theologische Anmerkungen zur Lyrik Paul Celans rialbasis — vorgelegt wurde', und füllt damit eine bisher (108-132). Celan ist der erstrangige Lyriker und Betroffe- leichtfertig übergangene Lücke aus. Die Konzentration ne des Holocaust. Fuchs analysiert ihn nicht nur theolo- auf den »Prozess« und die Passion Jesu hilft ihr, sowohl gisch, sondern auch bis in seine Familie und in seine Gei- den Begriff des Antijudaismus konkret zu konturieren als stesverwandten hinein (Th.W. Adorno, Nelly Sachs etc.). auch die verschiedenen Religionsbücher miteinander ver- Hier kann nicht auf alle Aufsätze eingegangen werden. gleichbar zu machen, denn dieses Thema wird in jedem Unverzichtbar ist aber die Erwähnung von Jakob J. Petu- Religionsbuch in irgendeiner Weise berücksichtigt. Zu- chowskis »Arbeiter in demselben Weinberg — Ansätze zu dem ist es in der unheilvollen Geschichte immer wieder einer jüdischen Theologie des Christentums« (204 - 215), der Kreuzestod Jesu gewesen, der in besonderer Weise von Wilhelm Breuning »Der nie gekündigte Bund — Fun- den Hass gegen die Juden mobilisiert hat. Will man aus dament für ein geistliches Gespräch« (216-234) und von dieser Tradition ausbrechen, so kommt alles darauf an, Schalom Ben-Chorin »Dein Reich komme — Reich-Got- dass wir unsere Kreuzestheologie gründlich durchforsten, tes-Erwartungen in jüdischer und christlicher Sicht« (235- um die uns schon selbstverständlich gewordenen, lang tra- 249). Petuchowski macht seine bisher wohl profiliertesten dierten Vorstellungen von einem heuchlerischen und hin- Bemerkungen zu einer jüdischen Theologie des Christen- terhältigen Pharisäer- und Schriftgelehrtentum auszuräu- tums. Er weist auf verschiedene jüdische und christliche men, das nichts anderes im Sinne hatte, als Jesus ans Mes- Geschichtsklitterungen und Ideenverengungen hin. Es ge- ser zu liefern, damit er sie in ihrer zwanghaften Selbst- he aber darum, »dass sich aus der gemeinsamen hebrä- sicherheit nicht weiter stören kann. Von hier aus gilt es ischen Bibel — von Gott gewollt — zwei verschiedene legiti- dann, den zweiten Schritt zu tun und all die von der me Religionen entwickelt haben, das Judentum und das Theologie abhängigen Multiplikatoren zu sichten, d.h. be- Christentum, die sich ihre Existenzberechtigung nicht ge- sonders die Predigthilfen und Unterrichtsmittel zu analy- genseitig absprechen dürfen — ja, die sich im Gegenteil ih- sieren, um sie dann erneuern zu können. Dies ist genau res unlösbaren Zusammenhangs im göttlichen Plan in Zeit das Gefälle, in dem die Untersuchung von Kastning-01- und Ewigkeit bewusst werden sollen« (210 f.). Wilhelm mesdahl in ihrer Konzentration auf die Religionsbücher Breuning gibt eine ausgewogene Deutung der Erklärung der Grundschule entstanden ist. der deutschen Bischöfe über das Verhältnis der Kirche Die Untersuchung gliedert sich in zwei etwa gleich starke zum Judentum vom 28. April 1980. Da dieses Dokument Kapitel. Das erste Kapitel versucht zunächst fachwissen- ' Vgl. dazu u. a. o. Expl. 1. i S. FrRu XXXI/1979, S. 111 f.

86 schaftlich der Frage nach der Beteiligung der Juden an der nun keineswegs den Religionspädagogen allein anlasten, Hinrichtung Jesu nachzugehen, wobei ein besonderes Ge- vielmehr spiegelt er zunächst ja nur eine breite Strömung wicht auf der Feststellung des Zeitpunktes liegt, von dem unserer neutestametntlichen Theologie wider, die sich in an die Beteiligung einiger Juden an der Hinrichtung Jesu merkwürdiger Renitenz immer noch weitgehend aus dem zur kollektiven Verurteilung der Juden überhaupt benutzt vermeintlichen unüberbrückbaren Konflikt Jesu mit dem wurde, indem aus dem historischen Faktum schliesslich Judentum nährt. So steht auch in den Religionsbüchern ein dogmatisches Verdikt wird. Zunächst untersucht Kast- das Konfliktmodell im Vordergrund, wobei sich vor- ning-Olmesdahl die Aussagen des Neuen Testaments und nehmlich die Mitmenschlichkeit Jesu an der Gesetzes- ihre Wahrnehmung durch die Theologie. Sie kommt da- frömmigkeit der Juden reibt, was schliesslich in plausibler bei zu dem Ergebnis: »Ein Antijudaismus, für den jüdi- Verlängerung in den Leidensweg Jesu führt. »Man fragt sche Schuld am Tod Jesu ein entscheidendes Argument nicht mehr nach den Glaubensgründen, die es vielen Ju- ist, kann sich dafür nicht auf das NT berufen.« (31) Auch den unmöglich machten, den Messias Jesus, wie ihn die bei den Kirchenvätern ist ein vorsichtiges Urteil geboten. Christen verkündeten, anzuerkennen, sondern nach den Zwar lässt sich ein zunehmender Antijudaismus im 3. sozialen und juristischen Gründen ihrer Gegnerschaft ge- Jahrhundert belegen, doch die entscheidende Wende gen den historischen Jesus. Nicht mehr der abgelehnte kommt erst mit der »Christianisierung« des Römischen Messias steht im Mittelpunkt, sondern der abgelehnte So- Reiches durch Konstantin. »Die Juden sind jetzt nicht zialreformer.« (212) Besonders schmerzlich ist die Sicht- mehr nur Andersgläubige, sondern als solche ein Fremd- weise vor allem deshalb, weil sie mit einem — wie man körper in einem Staat, der um seiner eigenen Identität wil- meinen sollte — leicht zu behebenden Defizit zusammen- len ihr Lebensrecht jederzeit beschränken kann und das hängt, nämlich schlicht auf eine mangelnde Kenntnis des auch tut. Anders als der »heidnische« Staat kann der Judentums zurückzuführen ist. christliche Nachfolger des Römischen Reiches die Plurali- Wie bei jeder Pionierarbeit liessen sich nun auch bei der tät der Religion nicht verkraften.« (39) Hier werden die Arbeit von Kastning-Olmesdahl eine Reihe von klärenden Keimlinge für eine verheerende Tradition gepflanzt, die oder auch vertiefenden Fragen formulieren, die sich be- bis heute in die Auslegung des Neuen Testaments hinein- sonders um eine präzisere Diffenzierung und entschiede- wirkt. Um die Analyse auf eine solidere Basis zu stellen, nere Gewichtung von historischen und dogmatischen Ar- nimmt Kastning-Olmesdahl zur Schuldfrage bei der Ver- gumentationszusammenhängen drehen würden. Doch ein urteilung und Hinrichtung Jesu die Passionsgeschichten, solches Gespräch sollte man nicht mit einigen Andeutun- ja eigentlich die ganzen Evangelien insoweit hinzu, als sie gen im Rahmen einer Rezension anzetteln, denn damit uns über Konflikte Jesu mit seinen Zeitgenossen und geräten allzu schnell die beherzigenswerten Ergebnisse Glaubensbrüdern »berichten«. Dabei wird deutlich, dass dieser Untersuchung in den Hintergrund. Nur wer wirk- die Auseinandersetzungen häufig erst durch die Ausleger lich bereit ist, sich von den Fragen von Kastning-Olmes- im deutlichen Widerspruch zu den Texten zu einem Streit dahl auf den Weg schicken zu lassen, auch ohne immer stilisiert werden. Ausserdem neigen die Ausleger ebenfalls schon zu wissen, wo dieser Weg schliesslich enden wird, im Gegensatz zur Gesamtheit der Texte zu voreiligen Ge- ist auch berechtigt, Rückfragen zu bedenken zu geben. neralisierungen. Es ist keineswegs einfach, einen »Pro- Ich bin jedenfalls sicher, dass die Untersuchungen von zess« Jesu zu rekonstruieren, da sich viele uns geläufige Kastning-Olmesdahl uns noch eine Weile beschäftigen Zusammenhänge und Kausalitäten bei genauerer Über- werden, denn in ihrer Kritik liegt ja auch Programm, das prüfung als konstruiert und widersprüchlich erweisen. Als nun auf seine Bearbeitung und Realisierung wartet. In redaktionelle Motive hebt Kastning-Olmesdahl zwei diesem Sinne kommt dieser Arbeit ein unschätzbares Ver- Aspekte als Begründung für die Judenkritik der Evange- dienst innerhalb der Religionspädagogik zu. lien hervor: »1. das Bemühen, mit der römischen Obrig- Michael Weinrich, Siegen keit keine Schwierigkeiten zu bekommen; 2. die missiona- rische Tätigkeit unter den Juden, die noch nicht Jesus als JAKOB J. PETUCHOWSKI / WALTER STROLZ den Christus akzeptieren.« (106) (Hrsg.): Offenbarung im jüdischen und christlichen Glau- Das zweite Kapitel der Untersuchung wendet sich den bensverständnis. Quaestiones disputatae Nr. 92. Freiburg Religionsbüchern der Grundschule aus den letzten 30 Jah- i. Br. 1981. Herder-Verlag. 263 Seiten. ren zu. Ganz allgemein formuliert geht es im Blick auf die »Wenn Juden und Christen gemeinsam über ihr Offenba- einzelnen Bücher um die Frage: »Welches Bild vom Ju- rungsverständnis nachdenken, dann berühren sie die gros- dentum erhalten die Schüler durch dieses Buch?« (115) se Frage nach dem Ursprung und Ziel ihrer Existenz im Als Kriterien für die Analysen dienen dabei 1. das Pro- Glauben.« So lautet der erste Satz dieses einen von vier blem der Textauswahl, 2. die Gestaltung der jeweiligen jüdischen und sechs christlichen Theologen, Historikern Texte, 3. die berücksichtigten einzelnen inhaltlichen und Philosophen herausgegebenen Sammelbandes über Aspekte und 4. die Beschreibung des Judentums und des die Offenbarung nach traditionellem und modernem Ver- Verhältnisses der Juden zu Jesus. Auf eine kurze Erläute- ständnis. Dem Offenbarungsbegriff samt dem jeweils ge- rung der Konzeption des jeweils untersuchten Buches fol- meinten Inhalt wird in diesem Buch eine Schlüsselfunk- gen die zum Teil sehr erhellenden kritischen Analysen, tion für das Verständnis des Jude- und Christseins zuge- die es deutlich zu machen verstehen, dass sich der Antiju- schrieben. Alle Autoren wehren sich gegen isoliert-ontolo- daismus in zunächst völlig unproblematisch erscheinenden gische Blickrichtungen. Offenbarung müsse zusammenge- Formulierungen verborgen halten kann, was ihn jedoch sehen werden mit geschichtlicher Erfahrung und mit der keineswegs unschädlicher gemacht hat. Das Ergebnis der je wechselnden Bewusstseins- und Auseinandersetzungs- Untersuchungen verwundert dann auch nicht mehr: »Die lage verschiedener Epochen. Alle wollen ferner nicht nur Analyse hat ergeben, dass die Mehrzahl der Religionsbü- vergangene und gegenwärtige Auffassungen analysieren, cher immer noch antijüdische Aussagen enthält und ein sondern engagieren sich auch stark für jüdisch-christli- nicht sachgerechtes Bild des Judentums zur Zeit Jesu ches Zusammenstehen aufgrund gemeinsamer und ähnli- zeichnet. Ein wesentlicher Schuldanteil der Juden am cher Erfahrungen und Bedrohungen. Juden und Christen Kreuzestod Jesu wird, obwohl historisch schwer zu erfas- hätten den Auftrag, »in gemeinsamer Glaubensverantwor- sen und kaum zu beweisen, weiterhin als selbstverständ- tung, in Treue und Wahrhaftigkeit (Sach 8,8) dafür zu lich angenommen.« (212) Diesen Sachverhalt kann man sorgen, dass die Botschaft von jenem Gott, der bei den

87 Ersten ist und noch Derselbe bei den Letzten (Jes 41,4; Bedenker der Offenbarung, Franz Rosenzweig Offb 1,8), furchtlos, unverkürzt und ökumenisch erprobt (1886-1929), zunehmend Anerkennung; er bezieht nicht weitergegeben wird« (10). nur ontologische und historische Gegebenheiten ein, son- Nie wurde so stark über Offenbarung gestritten wie in der dern auch sprachphilosophische. Walter Strolz, der Initia- Aufklärungszeit. Dass daher das Offenbarungsverständnis tor dieses Buches, analysiert sowohl Rosenzweigs Ge- des Baruch Spinoza und verschiedener jüdischer und dankenwelt als auch jene seiner mit ihm in Beziehung ste- christlicher Theologen des 18./19. Jahrhunderts dargelegt henden Zeitgenossen in gründlicher Weise. Was auf jüdi- wird, ist von der Sache her angezeigt. Spinoza, der nach scher Seite mit dem Offenbarungsbedenker Rosenzweig Hegel »Hauptpunkt der modernen Philosophie« bleibt, geschieht, geschieht auf christlicher Seite mit der Offen- erfährt seitens des Paderborner Fundamentaltheologen barungskonstitution des 2. Vatikanischen Konzils (Dei Peter Eicher eine scharfsinnige Bearbeitung (123-161). verbum). Nach dessen Lehre teilt sich Gott »selbst mit und Sein »expressives Gott-Denken hat alles Leben aus bibli- tut das Geheimnis seines Willens kund. Dies erfolgt in ei- scher Offenbarung zutiefst in Frage gestellt oder zumin- nem planvollen Prozess, dessen innergeschichtlicher Teil dest funktionalisiert« (159). Neben Spinoza hätte auch historia salutis genannt wird« (230). Max Seckler, der Tü- Moses Mendelssohn mit seinem aufklärerischen Offenba- binger Fundamentaltheologe, analysiert diese Konstitu- rungsbegriff (Offenbarung = Gesetzgebung) einen eige- tion. Sein Luzerner Kollege Dietrich Wiederkehr warnt nen Artikel verdient. Statt dessen wird Mendelssohn nur vor Einseitigkeiten. Man dürfe weder den Ursprung der en passant in einer Untersuchung von Michael A. Meyer Offenbarung verabsolutieren noch ihr endgeschichtliches über die Offenbarungsfrage im Judentum des 19. Jhs. be- Ziel noch ihre Praktikabilität in der Gegenwart. Es müsse handelt. Angesichts der Fülle von jüdischen und christli- vielmehr für ein »bewegliches Gleichgewicht« plädiert wer- chen Autoritäten der Vergangenheit, die auch noch für den, um traditionelle Verfestigungen, Engführungen in der heute etwas Wichtiges zur Offenbarung zu sagen hätten, Gegenwart und wirre Zukunftsträume zu bannen (70 f). wäre es unfair, den Herausgebern einen Vorwurf zu ma- Abgesehen von einigen personellen Nichtberücksichtigun- chen, weil sie den einen oder andern dem Rezensenten gen und dem Fehlen eines Registers ist das vorliegende besonders liegenden Autor nicht berücksichtigten. In die- Buch zur Aufarbeitung eines ökumenisch bewährten Of- sem Buch geschieht aber eine Einseitigkeit. Der fenbarungsverständnisses dienlich. Clemens Thoma intellektualistische jüdische Scholastiker Mose ben Mai- mon wird zwar von Barry S. Kogan (Cincinnati) sachkun- MIRJAM PRAGER OSB: Das Buch meines Lebens. dig und mit Bezügen zu Augustinus von Hippo und Tho- Graz-Wien-Köln 1981. Verlag Styria. 127 Seiten. mas von Aquin behandelt. Niemand aber greift das Offen- Das kleine Buch beinhaltet den Lebensbericht der Bene- barungsverständnis seines mystisch-esoterischen »Antipo- diktinerin aus der Abtei St. Gabriel/Bertholdstein, die den den« Mose ben Nachman auf. Dadurch fällt die seit dem Lesern des FrRu ja bestens bekannt ist. Es ist sehr zu be- Mittelalter bis heute einflussreiche mystisch-esoterische grüssen, dass eine solche Ernte des Lebens wenigstens in Offenbarungstradition unter den Tisch. einer kurzen Zusammenfassung einer breiten Leserschicht Der erste Teil des Buches ist dem Offenbarungsverständ- vorgelegt und darüber hinaus überhaupt in gedruckter nis des Alten Testaments (weshalb nicht auch des Neuen Form der Nachwelt übergeben und zugleich überantwor- Testaments?) gewidmet. Shemaryahu Talmon, Bibliker an tet werden kann. Wieviel Leid, wieviel Not, wieviel kost- der Hebräischen Universität Jerusalem, und Rolf Rend- bare Erfahrung steckt in diesen oft kurzen Abschnitten, torff, der Heidelberger Ordinarius für Altes Testament, diesen Skizzen über Tage, die für das innere wie für das beschreiben in jüdisch-christlicher Eintracht, was in der äussere Leben und Überleben von so grosser Bedeutung hebräischen Bibel mit Offenbarung gemeint sei. Sie sei waren. — Dieses kleine Buch der gelehrten Klosterfrau ist nicht Selbstenthüllung Gottes, sondern »Machterweis«. gleichermassen ein Zeugnis des Glaubens wie der Ge- Adressatin sei die israelitische Gemeinschaft (31f). Gott schichte. Es ist ein »Betrachtungsbuch« ganz eigener Art, offenbare sich den nichtisraelitischen Völkern »als der ei- dem man eine vielfältige Nutzung seitens vieler Leser von ne, der er ist, indem er sich ihnen als der Gott Israels of- Herzen wünschen darf. Odilo Kaiser, Freiburg i. Br. fenbart« (44). Man dürfe das Alte Testament nicht von ei- nem neutestamentlichen oder dogmatischen Blickpunkt CLEMENS THOMA: Die theologischen Beziehungen aus zum Provisorium erklären. Der Selbsterweis des Got- zwischen Judentum und Christentum. Darmstadt 1982. tes Israels finde nicht erst am Ende, sondern am Anfang Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 211 Seiten. der Geschichte Israels statt (461). Polar zu diesen den Ur- Erscheint 1982. sprung der Offenbarung betonenden Untersuchungen entwirft Hans-Joachim Kraus am Ende des Buches einige WILLY ISRAEL COHN: Als Jude in Breslau — 1941. »Perspektiven eines messianischen Christusglaubens« (Aus den Tagebüchern von Studienrat a. D. Dr. Willy Is- (237-261). Eine »messianische Geschichtskonzeption« sei rael Cohn), hg. von Joseph Walk. Jerusalem 1975. Ver- zu erarbeiten. Vier Hauptaussagen lägen ihr zugrunde: 1. band ehemaliger Breslauer und Schlesier in Israel. Ramat Gott kommt zu Israel; 2. Gott kommt in und mit Israel Gan, Bar-Ilan University. Institute for the Research of zur Welt der Völker; 3. Im Kontext dieser beiden ersten Diaspora Jewry*. 90 u. 5 Seiten. Aussagen steht das Bekenntnis des Christusglaubens; 4. Nach den Gedenkfeiern zur 40.Wiederkehr des Novem- Auch wenn der Christusglaube bekennt: In Jesus von Na- ber-Pogroms 1938, besonders aber nach der Ausstrahlung zaret ist das Ereignis des Kommens Gottes in und mit Is- der Fernsehserie »Holocaust« 1 sind in der Bundesrepublik rael zum Ziel gelangt, so bleibt doch das Ende der Gottes- eine Fülle persönlicher Erinnerungen von verschiedenen geschichte noch unerreicht und unerfüllt (242 ff). Kraus Seiten aus der Zeit der dunklen 12 Jahre der neueren sieht somit die Offenbarung in der Geschichte als sich zu- deutschen Geschichte erschienen. Auch die jüdische Stim- nehmend expansiv und intensiv durchsetzende Herrschaft me ist wieder stärker gehört worden, Tagebücher aus dem Gottes. Eine gewiss grossartige Optik, die ausserdem bi- Versteck, Aufzeichnungen aus dem Ghetto, dem Unter- blisch (alt- und neutestamentlich) gut begründet wird! * Das Buch ist in Deutschland erhältlich über Pfarrer Rudolf Maurer, Derzeit sind die Umstände günstig, ein Buch über die Kastanienallee 4, 7320 Göppingen-Ferndau (DM 10,— + Porto). christlichen und jüdischen Offenbarungsauffassungen Vgl. u. a. auch: »40 Jahre danach«, in: FrRu XXX/1978, S. 20-34. herauszugeben. Auf jüdischer Seite erfährt der moderne (Alle Anmerkungen d. Gertrud Luckner)

88 grund, aus den Konzentrationslagern. Das hier vorzustel- Zuge abgefahren. Niemand kann wissen, ob die Juden lende Tagebuch ist bereits 1975 in Jerusalem in Deutsch von Tormersdorf nicht eine bessere Zukunft haben wer- erschienen, in Deutschland aber bisher nicht bekannt ge- den als wir; alles ist ungewiss.« Und am 13. 10. schreibt worden, weil die israelischen Verleger keine Beziehungen er: »Ich war beim (jüdischen) Barbier, wo ich einigen zum deutschen Markt haben. Um so wichtiger ist aber ge- >Rassengenossen< wegen ihrer Märchenerzählungen rade heute diese jüdische Stimme, nachdem die erste Wel- gründlich Bescheid sagte.« Aber manchmal schlägt auch le der Anteilnahme in der Bundesrepublik abgeebbt ist, die pessimistische Seite an, bis hin zu Selbstmordgedan- der Neonazismus offener vorgetragen wird als je und wie- ken, die er aber der Kinder wegen nicht aufkommen lässt. der Frechheiten aufgetischt werden wie die, dass der Ju- Nach dem Abschied von einem zur Deportation Bestimm- denmord eine jüdische Erfindung sei. ten schreibt er am 12. 10.: »Seine Haltung ist sehr würdig Dieses Tagebuch ist kein Tagebuch aus dem Untergrund, und fest. Er glaubt allerdings, dass wir dem Untergang ge- keines aus dem Ghetto oder den Konzentrationslagern, weiht sind, und wenn man unsere Lage im Augenblick sondern aus dem »noch heilen« Breslau des Jahres 1941, überdenkt, so spricht ja wohl viel für diese pessimistische als Juden noch unter ihren »arischen« Mitbürgern leben Auffassung.« Aber nach jeder Feier eines jüdischen Festes durften. Es beschreibt also viel von dem Alltag im Kriegs- findet sich der Vermerk, dass das Fest im nächsten Jahr si- breslau aus der Sicht eines hier legal lebenden Juden. cher in einer glücklicheren Zeit stattfinden möge. Dass Willy Israel Cohn, der Schreiber des Tagebuches, 1888 in man es vielleicht gar nicht mehr erleben könne, davon fin- Breslau geboren, entstammt einer angesehenen liberal- det sich im Jahre 1941 kein Hinweis. Am 14. 10.: »Nun konservativen Familie, studierte in Heidelberg Geschichte feiern wir das Thorafreudenfest schon das 9. Mal im Drit- und war dann Lehrer an einem angesehenen Breslauer ten Reich! Vielleicht feiern wir es das nächste Mal schon Gymnasium. 1933 wurde er entlassen, obwohl er Front- in Freiheit.« Aber diese Hoffnung hat einen über das Per- kämpfer des Ersten Weltkrieges gewesen war. Ganz dem sönliche hinausgehenden Anhalt. Am 18. 10.: »Heute ist Deutschtum verbunden, konnte er sich nicht entschlies- Sabbat Bereschit. Wieder beginnt ein neues Jahr der Tho- sen, Deutschland zu verlassen und verblieb hier bis zum ravorlesung; unser Volk wird diesen Zyklus noch oft le- bitteren Ende, bis zur Deportation, aus der er, seine Frau sen, mögen auch noch so viele zu Grunde gehen!« Oder und zwei jüngere Töchter nicht mehr zurückkommen am .8. November: »Heute ist der Vorabend des berüchtig- sollten. (Drei grössere Kinder hatten rechtzeitig vorher ten 9. November! Vor 3 Jahren brannten die Synagogen! Deutschland verlassen können.) Nach 1933, nach seiner Und doch wird das jüdische Volk die Zeiten überdauern!« Entlassung, widmete sich Willy Israel Cohn ganz dem Im Anhang enthält das Buch noch einige ausgewählte Ar- Studium und der Erforschung der Geschichte des deut- tikel von Willy Israel Cohn. Es enthält zwei Vorworte in schen Judentums, veröffentlichte hier zahlreiche Arbeiten, Englisch und Hebräisch von einem der überlebenden Kin- besonders auch in Zusammenarbeit mit Leo Baeck, und der des Autors und vom Herausgeber Dr. Josef Walk, der hielt Vorträge darüber in jüdischen Kreisen weit über die eine historische Würdigung des Tagebuchs gibt. Ein auf- Grenzen Breslaus hinaus. Auch in jüdischen Zeitungen schlussreiches Personenregister und ein Ortsregister be- und Zeitschriften erschienen seine Artikel, und von den schliessen diese inhaltsreiche Schrift. Sie sei besonders der Erträgen dieser Arbeiten konnte Cohn seinen bescheide- Jugend empfohlen, die auf diese Weise einen Einblick in nen Lebensunterhalt aufrechterhalten. diese dunkle Zeit deutscher Vergangenheit gewinnt. 41 Jahre hat Cohn Tagebuch geführt, wie durch ein Wun- Michael Krupp, Jerusalem der blieben diese Dokumente von vollgeschriebenen Klad- 2 Prof. Dr. Hermann Hoffmann, Breslau, geboren am 14. 7. 1878 in Glo- den erhalten. Hier findet sich nun ein kleiner Auszug, das gau, 12. 1. 1972 in Leipzig verstorben. Der langjährige Religionslehrer letzte Jahr davon, vom 1. Januar bis zu den letzten erhal- am St.-Matthias-Gymnasium in Breslau gehörte zu den Begründern des ten gebliebenen Aufzeichnungen vom 17. November »Quickborn«, dem Anfang der katholischen Jugendbewegung. Sein Le- ben galt der ökumenischen Bewegung, der deutsch-polnischen Verständi- 1941, kurz vor seiner Deportation. Das Fesselnde an die- gung, dem internationalen Versöhnungsbund. Seine Wohnung war auch sem Tagebuch ist der Einblick in jüdisches Schicksal des_ in den Verfolgungsjahren eine Stätte der Begegnung, der Information Kriegsjahres 1941, die noch funktionierenden Beziehun- und der Hilfe. (Vgl. dazu: »Hermann Hoffmann (Breslau). Im Dienste gen zur »arischen«, besonders auch zur christlichen Um- des Friedens. Lebenserinnerungen eines katholischen Europäers«. Kon- rad Theiss Verlag. Stuttgart-Aalen 1970.) welt, mit der Willy Cohn bis zum Schluss freundschaftli- Die Unterzeichnete besuchte auf ihren damaligen Hilfsreisen, wenn sie che Beziehungen unterhielt. Über sie hörte er vom christ- nach Breslau führten, auch Prof. Hoffmann. Nach meiner Verhaftung im lichen Widerstand, den er in seinem Tagebuch würdigt. März 1943 durch die Gestapo erfuhren die Freunde aus Breslau dies be- Das Buch enthält eine Menge geschichtlich wertvollen zeichnenderweise über Hermann Hoffmann. — Nachdem er schliesslich 1948 auch aus Breslau ausgewiesen wurde, nahm er seinen Wohnsitz in Materials. Man erfährt von der Reaktion der Breslauer Leipzig und besuchte zuweilen Freiburg. Bis in sein hohes Alter, mit nim- Bevölkerung auf die Einführung des Judensterns, von Be- mermüdem Interesse an Frieden und Versöhnung beinhaltende Fragen, schimpfungen und moralischer Hilfe durch die nicht jüdi- nahm er auch regen Anteil am Judentum und Israel. sche Bevölkerung. Besonders wichtig sind die Interpreta- tion des Zeitgeschehens von jüdischer betroffener Sicht JANINA DAVID: Ein Stück Himmel. Erinnerungen an aus, das Durchdringen von Gerüchten über das jüdische eine Kindheit. 369 Seiten. Schicksal im Osten und die grosse Skepsis, die diesen Be- JANINA DAVID: Ein Stück Erde. Das Ende einer Kind- richten auch von Juden gegenüber geäussert wurde. heit. 295 Seiten. München-Wien 1982. Carl Hanser Ver- Die immer noch grosse Hochschätzung gegenüber deut- lag. Aus dem Englischen von Hannelore Neves, »A Squa- scher Kultur und deutschem Geist konnte es nicht fassen, re of Sky«, »A Touch of Earth. A Wartime Childhood«. dass Deutsche zu dem fähig sein sollten, was gerüchtewei- Zahllose Menschen kennen Janina David sozusagen per- se durchdrang: »Prof. [Hermann] Hoffmann 2 sagte mir sönlich: Der Fernsehfilm nach dem ersten Band ihrer das Grausige, kaum Fassbare, dass in Lemberg 12 000 Ju- Kindheitserinnerungen hat sie — anrührend dargestellt von den erschossen worden seien. Die SS soll das gemacht ha- Dana Vavroea — in viele Häuser gebracht, ergreifender, ben« (S. 46). Ohne Kommentar, ob er diese Dinge für weil wahrer als das fiktive Szenario von »Holocaust«. Die wahr hält. Die immer stärker werdenden Transporte aus beiden Erinnerungsbücher erlauben indessen eine noch in- Breslau scheinen ihm aber weniger gefährlich. Eintragung timere Bekanntschaft mit der jetzt Fünfzigjährigen, der es vom 1. August 1941: »Die erste Gruppe der Breslauer Ju- gegeben ist, spontan, naiv, bildkräftig, gestaltenreich, von den für Tormersdorf ist gestern mit dem planmässigen gelegentlichem Humor durchblitzt, ohne Bitterkeit und

89 auch ohne Sentimentalität Erinnerungen heraufzurufen, den geborene Israeli, Professor für Neuere Geschichte in die, anschaulich und frisch wie am ersten Tag, wie sie Tel Aviv, erinnert sich im Jahre 1977 . . . Und mit der Er- sind, sich für die Übersetzung in die Sprache des Films ge- innerung kommt das Wissen. Die erzählte Lebensge- radezu anbieten. Der Hergang ist einfach und grotesker- schichte spielt auf drei ineinander verschränkten Zeitebe- weise sogar typisch für Tausende ähnlicher Schicksale: nen: der Gegenwart, der frühen Kindheit und der Zwi- Die einzige Tochter einer etwas problematischen Ehe be- schenzeit. Den bürgerlich-wohlhabenden Eltern gelingt güterter jüdischer Eltern in Kalisch erlebt nach behüteter mit ihrem einzigen Kind die Flucht nach Frankreich; dort Kindheit die Schrecken des Krieges auf der Flucht und aber werden sie von dem tödlichen Strudel erfasst, nach- unter den Bomben auf Warschau, dann die immer ent- dem sie den kleinen Paul noch in die Obhut von Nonnen setzlicher werdenden Lebens- und Überlebensnöte im hatten geben können. Das Kind wird brav katholisch, eif- Warschauer Ghetto, dem das kleine Mädchen kurz vor riger Ministrant und liebäugelt sogar damit, Jesuit zu wer- dem Aufstand entkommt. Bei einer dramatisch verwirrten den. Immer aber bleibt er vereinsamt und fühlt sich von polnischen Familie findet Janina ein vorläufiges Versteck der Gemeinschaft ausgeschlossen. Von der Religion sei- und wird schliesslich unter anderem Namen in einem von ner Vorväter weiss er so gut wie nichts, das katholische Ordensfrauen geleiteten Erziehungsheim untergebracht. Christentum ist für ihn eine Ersatzgeborgenheit. Eines Um sich »den anderen« anzugleichen, aber auch aus Tages beginnt er, sich auf seine jüdische Wurzeln zu be- Sehnsucht nach Herzensheimat, empfängt sie die Taufe sinnen, nicht so sehr aufgrund von Schwierigkeiten mit und wird eine eifrige und gläubige Katholikin. Nach dem christlichen Glauben als aus Heimweh nach Mutter- schweren körperlichen Leiden und Entbehrungen und in schoss und Vaterfürsorge. So entdeckt er den Zionismus verzweifelter, schliesslich enttäuschter Hoffnung auf ein und schifft sich — 1948! — in flammender Begeisterung mit Wiedersehen mit den Eltern, vor allem mit dem über alles anderen jungen Leuten auf der berühmt-berüchtigten »Al- geliebten Vater, kommt sie nach Kriegsende in ihre Hei- talena« in das Land der Väter ein, das ihm nun zum Va- matstadt zurück und erlebt plötzlich ihr totales Anders- terland werden sollte. (Die »Altalena« wurde bekanntlich sein und die Unmöglichkeit, sicher fernerhin mit dem pol- auf Befehl von Ben Gurion vor der Küste beschossen und nischen Volk und dessen Religion zu identifizieren. Sie zerstört.) — Das Buch, flüssig aus dem Französischen verliert den Glauben, fast ohne Schmerz, und gewinnt übersetzt, ist glänzend geschrieben, beschwört psycholo- keinen neuen — es sei denn den an das zurückkehrende gisch einfühlsam unwiederbringlich Vergangenes herauf, Leben. Hier endet der Bericht über eine Kindheit. Die bezeugt und erzeugt Zukunftsmut. Trotz der kühl ge- nächsten Stationen, die man aus den Verlagsmitteilungen schilderten Ereignisse von Konversion zum Christentum kennt und vielleicht aus einem dritten Band noch näher und Rückkehr zum Judentum ist es jedoch für den Dialog kennenlernen wird, heissen: Australien, Frankreich, Lon- zwischen beiden unergiebig, weil keinerlei Thematisie- don und — ungesuchter literarischer Ruhm. rung erfolgt, sondern lediglich ein biographisches Detail be- Zwei Dinge sind es, die abgesehen von der hohen literari- richtet wird, dem keine tiefere Auseinandersetzung zu- schen Qualität an dieser Stelle interessieren: 1. Der un- grunde liegt. Paulus Gordan OSB, Beuron/Salzburg verhohlene Antisemitismus der polnischen Bevölkerung. »Das ist das einzige Gute an diesem Hitler, dass er uns die Neue Literatur zum Verhältnis der Juden vom Hals schafft« (Ein Stück Erde, S. 11), — Vol- kes Stimme! Ausnahmen bestätigen die Regel: Es gab Katholischen Kirche und der Katholiken grossherzige Polen, wie es grossherzige Deutsche gab; Deutschlands zum Nationalsozialismus sonst wäre ja auch Janina nicht mehr am Leben. Aber ich verstehe jetzt besser, weshalb Kardinal Wyszynski in ei- MARTIN HÖLLEN: Heinrich Wienken, der >unpoliti- nem Gespräch, das ich vor Jahren mit ihm führen durfte, sche< Kirchenpolitiker. Eine Biographie aus drei Epochen ganz unprovoziert und spontan solchen Wert darauf legte, des deutschen Katholizismus (= Veröffentlichungen der zu behaupten, dass die Polen in ihrer Gesamtheit keine Kommission für Zeitgeschichte; Reihe B, Forschungen; Antisemiten gewesen seien; offenbar wollte er sein Volk Bd. 33). Mainz 1981. Matthias-Grünewald-Verlag auf jede Weise aus dem Verdacht geistiger Komplizen- XXVIII, 164 Seiten. schaft mit den Nazis rücken. 2. Man lernt aus den Erin- Zu den umstrittensten Gestalten im katholischen Epi- nerungen der Janina David, dass es auch in Polen viele skopat während der Zeit des Dritten Reiches gehört durchaus westlich assimilierte Juden gab, die von ihrer Heinrich Wienken. Viele, die ihn persönlich gekannt ha- Religion kaum noch eine Ahnung hatten. Janina schildert ben, denken noch heute an ihn'. Unbestreitbar ist etwa einen Sederabend ohne jedes Verständnis für den sein Einsatz für Notleidende und Verfolgte. Dass er sich Vorgang und erwähnt an mehreren Stellen »aramäisch« nicht ohne Erfolg eingesetzt hat, um Juden zu helfen la, sie als die jüdische Kult- und Gebetssprache! So war ihr der Maschinerie des Todes und der Massenvernichtung Übertritt zum katholischen Christentum keine eigentliche, zu entreissen, steht auf der Habenseite. Aber auf der Soll- auf Einsicht beruhende und durch Glaubensgnade bewirk- seite steht seine Angepasstheit an das jeweilige Regime. te Konversion, sondern vor allem eine lebensrettende Ihm wird zum Vorwurf gemacht, dass er zu viele Konzes- Massnahme, wie sie auch nach dem Zusammenbruch ihrer sionen gemacht habe, zunächst gegenüber den Vertretern kindlichen Glaubenswelt nicht zum religiösen Judentum ' Solche Dankbarkeit dafür möchte ich hier auch persönlich bezeugen zurückkehrt, dem sie niemals angehört hatte. Ihre Ge- (vgl. dazu a. 0. Anm. 584). Es bedeutete damals viel, für praktische Ver- suche der Hilfe und seelische Ermutigung auf meinen'mich auch in den schichte ist lebenswahr und lebenswarm, liebenswert und Jahren 1941 bis zu meiner Verhaftung 1943 u. a. nach Berlin führenden ergreifend, aber weder das »Stück Himmel« noch das Hilfsfahnen (etwa alle drei bis vier Wochen) bei den kurzen Aufenthalten »Stück Erde« weist auf jenen Vater hin, an den sich der dort eine immer offene Tür bei Bischof Wienken zu finden. Lagebespre- Christ vertrauensvoll wendet mit der Bitte: »Dein Wille chungen und Rat waren wertvoll. Tief verpflichtet bin ich Bischof Wien- ken auch für seinen Einsatz für mich nach meiner Verhaftung beim geschehe wie im Himmel so auf Erden«. Reichssicherheitshauptamt. Eine etwaige Freilassung meinerseits konnte Paulus Gordan OSB, Salzburg es dort für mich nicht geben. Wie lästig aber solcher Einsatz der Gestapo war, konnte ich in den Verhören erkennen. Man konnte mich wohl nicht mehr einfach verschwinden lassen. Bischof Wienken konnten seine derar- SAUL FRIEDLÄNDER: Wenn die Erinnerung kommt. tigen Bemühungen für mich nur belasten, er hat sie nicht gescheut. Stuttgart 1979. Deutsche Verlagsanstalt. 191 Seiten. " S. 91 u. S. ebd., Anm. 2. Der im Jahre 1932 in Prag als Kind deutschsprachiger Ju- (Anmerkungen d. Gertrud Luckner)

90 des Dritten Reiches, dem nationalsozialistisch geworde- te, ohne Ansehen der Person. Darum konnte er sich übri- nen Staat; nach 1945 dann dem von der SED bestimmten gens auch mit Kommunisten gut verstehen. Der Spitzna- Staat der DDR. Die Vorwürfe sind nicht aus der Luft ge- me >der rote Heinrich< verrät doch etwas von diesem sei- griffen. Wienken hat tatsächlich mancherlei Kompromisse nem Einsatz für Notleidende. Er blieb sich selbst treu, geschlossen, die bedenklich erscheinen müssen. Sein Auf- wenn er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges aber- treten gegenüber den Ministerien des NS-Staates wirkte mals versuchte, mit seinem Verhandeln einen Ausgleich zuweilen recht devot. So konnte Bischof Galen sich ge- zwischen Kirche und DDR zu schaffen. Auch in dieser genüber Wienken verwahren: »Du sollst mich nicht im Zeit blieben die Vorwürfe die gleichen, nämlich, dass er Ministerium entschuldigen.« Bischof Galen war ein schar- zu viele Konzessionen mache. Immer bleibt also die Fra- fer Kritiker der Weimarer Verfassung. Er war streng na- ge, wie sich Kirche in einem Staat verhalten soll, der den tional und konservativ. Er war antiliberal und antisoziali- ganzen Menschen beansprucht und dessen Ideologie im stisch. So hatten ihn einige der Mitarbeiter seines Vetters, Grunde antichristlich ist. Am Beispiel Wienkens zeigt des Berliner Bischofs Konrad Preysing, noch Ende 1937 Höllen, dass es einer hohen politischen Begabung bedarf, im Verdacht, dass er letztlich mit dem NS-System sympa- wenn die Gratwanderung gelingen soll, die Gratwande- thisiere. Um so bemerkenswerter ist, worauf Höllen auf- rung der Wahrung der Unabhängigkeit der Kirche mit merksam macht, dass Galen grundsätzlich sich dagegen ihren unaufgebbaren Forderungen und der Tolerierung verwahrte, dass Wienken die deutschen Bischöfe im eines Staates, dessen Ideologie sie weder mittragen kann Reichskirchenministerium wegen ihrer Proteste entschul- noch darf. Wienken war diese politische Begabung nicht. digte und dass er ihn wegen seiner Predigten verteidigen Darin liegt letztendlich seine Tragik. Denen aber, denen zu müssen glaubte. Der Freiburger Erzbischof Gröber, er geholfen hat, wird er dennoch in guter Erinnerung blei- der anfänglich selbst mit dem Regime sympathisiert hatte, ben. Der Verfasser hat die Problematik gut erkannt und dann aber sich entschieden davon abkehrte und sich für fair dargestellt. Er ist sorglich den erreichbaren Quellen Verfolgte einsetztet, charakterisierte in einem Brief vom nachgegangen. Wienken hat sich selten persönlich über 14. Juni 1942 Wienken als einen »überaus vorsichtigen seine Motive geäussert. Dass es dem Verfasser trotzdem und fleissigen Bischof«. Die ablehnende Haltung mancher gelungen ist, eine ebenso lebendige wie einfühlsame Dar- Bischöfe gegenüber Wienken erklärt sich nicht zuletzt stellung zu geben, verdient Anerkennung. daraus, dass dieser als ein Parteigänger und Bote des Bres- Willehad Paul Eckert, Köln lauer Kardinals Bertram galt. Zwischen Bertram und dem BERND JENTZSCH (Hrsg.): Der Tod ist ein Meister Berliner Bischof Preysing aber bestanden unüberbrückba- aus Deutschland. Deportation und Vernichtung in poeti- re Gegensätze. Der Berliner Bischof lehnte die blosse Ein- schen Zeugnissen. München 1979. Kindler-Verlag. gabenpolitik Kardinal Bertrams ab, der als Vorsitzender S. o. S. 29. der Fuldaer Bischofskonferenz schliesslich eine Schlüssel- stellung innerhalb des deutschen Episkopats innehatte. Es HELMUT KRAUSNICK / HANS-HEINRICH WIL- kann auch kein Zweifel darüber sein, dass Wienken die HELM: Die Truppe des Weltanschauungskrieges. Die Wünsche Bertrams ausgeführt hat, schon weil er von Na- Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD tur aus die gleiche Linie vertreten musste. 1938 - 1942 ( = Quellen und Darstellungen zur Zeitge- An Wienken kann man die Tragödie des »unpolitischen« schichte, Bd. 22). Stuttgart 1981. Deutsche Verlags-An- Bischofs demonstrieren, der sich berufen fühlt, mit dem stalt. 688 Seiten. Staat und seinen Vertretern zugunsten der Kirche zu ver- So viel über den Nationalsozialismus schon geschrieben handeln. Wienken hat zu wenig bedacht oder erkannt, worden ist, so erschreckend »neu« kann eine Untersu- dass der Staat von der Partei abhängig war. Ein scheinbar chung dennoch sein, wenn sie wie diese in der besten Tra- unpolitisches Handeln ist in Wahrheit dennoch politisch; dition geschichtlich-wissenschaftlicher Arbeit Quellennä- denn es bestätigt das System, mit dem die Verhandlungen he und geschichtliche Perspektive zusammenbringt; und durchgeführt werden. Es ist immer nur ein kleiner Schritt das um so mehr, je erdrückender die Fülle des präsenten von der Anerkennung der Staatsautorität zur Kollabora- und präsentierten einzelnen ist. tion mit ihr. Kann sie erlaubt sein? Wenn ja, unter wel- Das Buch behandelt eine Spezialfrage, aber nicht nur für chen Bedingungen? Kam bei Wienken nicht doch noch ei- Spezialisten: Es geht um die »Einsatzgruppen«, militäri- ne gewisse Anfälligkeit für das NS-System hinzu? Sagen sche Einheiten mit Sonderaufträgen, weniger zur Be- wir es genauer, für ganz bestimmte Aspekte. In seiner Ber- kämpfung des militärischen Gegners (es sei denn indi- liner Tätigkeit hatte sich Wienken als Vorstandsmitglied rekt), vielmehr des politischen Gegners, und das hiess in der »Volksgemeinschaft für gute Sitte« hervorgetan und nationalsozialistischer Sicht nicht zuletzt des sogenannten bereits im November 1924 in einer Eingabe an das Reichs- Rassenfeinds. Entsprechend wurde zu ihrer wichtigsten innenministerium härtere Massnahmen gegen die »Aus- Sonderaufgabe die Erfüllung des Geheimbefehls zur Li- wüchse im Theaterwesen und Schrifttum« gefordert. Mit quidierung von Angehörigen politisch und rassisch »uner- einer Anzeige ging er auch gegen die Zeichnung »Chri- wünschter« Bevölkerungsteile, besonders der Juden. stus mit der Gasmaske« des George Grosz vor. Es war Die ersten Pläne für das Buch stammen aus den fünfziger nicht allein Furcht vor sexueller Libertinage, die ihn be- Jahren. Es schien unabweisbar, die erhaltenen, vom wegte, sondern auch sein Erschrecken über die soziale Reichssicherheitshauptamt in Berlin aufgrund von Berich- Verwahrlosung unter den Jugendlichen der Grossstadt ten der Einsatzgruppen zusammengestellten »Ereignis- Berlin. Er sah in ihr ein Ergebnis einer verfehlten Kultur- meldungen«, also ein in der zu rekonstruierenden Situa- politik, Ergebnisse einer liberalistischen Gesinnung. Die tion selbst entstandenes und besonders wichtiges Quellen- antiliberale Einstellung des Nationalsozialismus sagte ihm material, geschlossen der Öffentlichkeit bekannt zu ma- daher offensichtlich zu. Doch muss man nach den Moti- chen. Helmut Krausnick, der dann auch den wichtigen ven fragen. Er selbst kam zu seiner antiliberalen Haltung Beitrag »Judenverfolgung« zu dem zweibändigen Stan- aus seiner Sorge um die Jugend, aus seinem Miterleiden dardwerk »Anatomie des SS-Staates« (1965) verfasst hat, der Grossstadtnot. Unbestreitbar ist sein daraus erwachse- wollte sich der Aufgabe unterziehen. Seine in diesem Ban- nes soziales Engagement, sein Einsatz für Notleidende al- de vorgelegte auswertende Beschreibung und Untersu- ler Art, seine grosszügige Hilfe für jeden, der ihn brauch- chung ist daraus geworden. Sie behandelt die Zeit von der 2 Vgl. dazu Erwin Keller: Conrad Gröber, in FrRu XXXII/1980, S. 134. erstmaligen Verwendung solcher Sondereinheiten im

91 März 1938 (beim Einmarsch in Österreich) bis zum Be- in Ruhe, auch ruhigen Gewissens dem nachgehen, was ginn des Russlandfeldzugs eingehend und legt bei der man schon immer dunkel als dringend, vielleicht als not- überblickartigen Darstellung der Tätigkeit der Einsatz- wendig empfunden hatte. »Pragmatismus in Politik und gruppen in der Sowjetunion den Akzent auf einen beson- Verwaltung vertrugen sich, wie es scheint, ausgezeichnet deren Aspekt, nämlich auf das Verhältnis der Einsatz- mit einem rational nicht zu rechtfertigenden Abgren- gruppen zur Wehrmacht. Damit schliesst der erste Teil zungsbedürfnis gegenüber >undeutschem Wesen< und mit des Buches. einem militanten Antisemitismus. Selbst krasse Ideologie- Der umfangreichere zweite Teil geht auf eine ursprüng- feindlichkeit und gänzlich unsentimentale Gefühlskälte lich über 1000 Seiten starke Doktorarbeit des fast vierzig ()nüchterne Sachlichkeit<) boten nicht immer einen siche- Jahre jüngeren Forschers Hans-Heinrich Wilhelm zurück ren Schutz gegen judenfeindliche Anwandlungen genauso und behandelt im Detail die Aktivitäten der Einsatzgrup- wenig wie eine Erziehung zu christlicher Nächstenliebe pe A, einer der vier beim Russlandfeldzug verwendeten oder eine intime Vertrautheit mit der abendländischen Einsatzgruppen, die im nördlichsten Abschnitt operierte. Bildungstradition.« (S. 625 f.) Die gekürzte und umgearbeitete Dissertation ist — ein- Mit den Morden der Einsatzgruppen nahm die national- dringlich und eingängig formuliert — ein Stück gelungener sozialistische Massenvernichtung menschlichen Lebens historischer Prosa, durch oft seitenlange Quellenzitate erst ihren Anfang — die Todeslager sind nicht Gegenstand (vor allem aus den »Ereignismeldungen«) weniger unter- dieses Buches. Doch sind schon in der behandelten Phase brochen als angereichert. Auch Wilhelmwendet sein Augen- die Zahlen erschreckend: »Morde an nur fünfzig bis hun- merk dem Verhältnis der Einsatzgruppen zum Heer zu, dert Menschen figurieren als >kleinere Exekutionen<. Da- besonders im Abschnitt »Die Beteiligung anderer deut- neben ist die Rede von >Massenexekutionen<, von >Gross- scher Dienststellen und Organisationen« (S. 589-609). aktionen<, die auch einmal >mehrere Tage in Anspruch< Hier geht es um einen der Punkte, auf die im Zusammen- nahmen. Zahlenmässig unerreicht blieb die Aktion des hang mit diesem Buche besonders hinzuweisen ist. Die — Sonderkommandos 4a bei Kiew (Babi Jar), von der befrie- freilich nicht erstmals thematisierte — Frage wird gestützt digt festgestellt wurde, sie sei >reibungslos verlaufen<. In auf ein so massenhaftes und unzweideutiges Material und zwei Tagen, am 29. und 30. September 1941, wurden hier mit solcher Sachkenntnis und Klarheit behandelt, dass es laut amtlicher Meldung der zuständigen Einheit nicht we- für niemanden mehr einen (Aus-)Weg hinter die vorgetra- niger als 33 771 Juden erschossen. Es erforderte über 100 genen Ergebnisse zurück geben sollte. »1941/42 war bei Lastkraftwagen, um ihre Kleidung abzutransportieren, den deutschen Dienststellen ausserhalb der SS nicht nur die der NS-Volkswohlfahrt zugeführt wurde . .« (S. 15) im Ostland von einer massiven Gegnerschaft gegen die Ju- Das sorgfältig gearbeitete und überreich dokumentierte denvernichtung wenig zu spüren. Einwände kamen erst, Buch, in dem Literaturverzeichnis und Register nicht feh- als ernste wirtschaftliche Komplikationen drohten und als len, verdient eine weite Verbreitung, und der fachwissen- die Deportationen deutscher Juden einsetzte; zum Teil schaftlich Ungerüstete sollte sich durch die Stärke des wurden lediglich Transportprobleme ins Treffen geführt. Bandes nicht abschrecken lassen; das Beste und Wichtig- Einzelne Stellen, wie z. B. Generalkommissar Kube, hät- ste ist auch ohne historisches Rüstzeug verständlich. ten zumindest das deutsche assimilierte Judentum von der Hermann Greive, Köln Massenvernichtung tatsächlich gern ausgenommen. Aus den Quellen ergibt sich jedoch keineswegs der Eindruck, MARTIN NIEMÖLLER: Dahlemer Predigten 1936/37. dass Sicherheitspolizei und SD sich besondere Mühe ga- Mit Vorwort von Thomas Mann. Neuausgabe München ben, die anderen Stellen in Unkenntnis über die geplanten 1981. Verlag Chr. Kaiser (Reihe: Lesezeichen). 207 Seiten. Massnahmen zu lassen oder sie jeweils erst in letzter Mi- Dieser Band vereinigt die letzten 28 Predigten M. Nie- nute zu überrumpeln. In aller Regel gab es genügend möllers vor seiner Verhaftung am 1. 7. 1937, die er als Ge- Kenntnis, und es herrschte jenes Mass an allgemeinem meindepastor von Berlin-Dahlem zwischen Oktober 1936 Einverständnis sämtlicher beteiligter Stellen, wie man es und Juni 1937 gehalten hat. Bereits 1938 von Pastor Karl auch sonst im >bürokratischen Alltag< bei der Durchfüh- Immer publiziert, waren sie auch Freunden der Bekennen- rung einer von oben kommenden, nicht gerade angeneh- den Kirche im Ausland zugänglich gemacht worden. So men und zum Teil unverständlichen Anordnung günstig- geht diese Neuausgabe auf den Nachdruck in Zollikon/ stenfalls erwarten konnte. Dies ging so weit, dass verein- Schweiz zurück (»Dennoch getrost«, 1939). Zusätzlich ist zelt nicht direkt Zuständige den in erster Linie für die jetzt (S. 185-191) das Vorwort »Niemöller« abgedruckt, Durchführung Verantwortlichen ihr persönliches Mitge- das Th. Mann für die neugefasste englische Ausgabe fühl aussprachen — wie Generalfeldmarschall v. Bock sei- (»The Gestapo Defied«, 1942) geschrieben hattet. Prof. F. nem Höheren SS- und Polizeiführer v. d. Bach-Zelewski.« Hildebrandt, damals Hilfsprediger in Dahlem, hellt in ei- (S. 598 f.) ner »Nachlese« (S. 192-199) den >Sitz im Leben< dieser Nicht zu Unrecht wird auf den »bürokratischen Alltag« Predigten auf. Die angeschlossene Fürbittenliste der angespielt. Doch heisst dies nicht (und das neue Buch lei- Westfälischen Bekenntnissynode vom 28. 7. 1937 lässt in stet auch einem solchen Missverständnis nicht Vorschub), ihrer Kargheit die damalige Terroratmosphäre gespen- dass positives menschliches Desinteresse, Verachtung und stisch aufstehen. Wie es demgegenüber auf kirchlicher selbst Ekel, dies alles ja nur andere Formen des- Hasses, Seite aussah, macht die abschliessende Zeittafel (5. im Zuge des verordneten und organisierten Tötungs-»Be- 204- 207) deutlich. Sie beginnt mit 1936, wo zum 3. 1. die triebes« verschwanden — es gibt genug Zeugnisse für das »Sitzung des Reichsbruderrates« vermerkt ist, »bei der die Gegenteil. Der offene, von akuter Angst geprägte Hass- Spaltung der Bekennenden Kirche offenbar wird«, und sie ausbruch war freilich angesichts dessen, dass nunmehr endet mit dem 8. 3. 1938, wofür es heisst: »Der Bruderrat Staat, Partei und Führer die Verantwortung übernommen beschliesst eine Kanzelabkündigung zum Fall Niemöller, hatten, kaum mehr vonnöten, wenn er auch weiter vor- auf dem Psalmwort >Recht muss doch Recht bleiben< fus- kam. Man muss beides zusammenhalten: persönliche send« — nachdem der Pastor trotz seines Freispruchs ins Überzeugung von der Minderwertigkeit der Juden, Zi- KZ Sachsenhausen gekommen war; und dann weiter: geuner und Bolschewisten, elementare Abneigung (was ist »Einspruch des Lutherischen Rates mit der Begründung, das anderes als stiller Hass) und die obrigkeitliche Delega- ' Martin Niemöller, geb. 14. 1. 1892, konnte 1982 seinen 90. Geburtstag tion, das Handeln im Auftrag. Jetzt konnte man endlich begehen. (Anm. d. Red. des FrRu)

92 die Kirche dürfe sich nur für die Freiheit der Verkündi- Buch besprochen worden, ein ausgesprochen nützliches gung einsetzen, aber nicht in die staatliche Rechtssphäre und angesichts der in jüngerer Zeit immer wieder zu hö- eingreifen.« — Jeder, der daran zweifelt, dass wir Christen renden Verharmlosungen des Nationalsozialismus wichti- aus der Geschichte genug gelernt hätten, wird dem Verlag ges, ja notwendiges Buch: »Endlösung der Judenfrage«: für diese Wiederveröffentlichung dankbar sein. Massenmord oder »Gaskammerlüge« ? (FrRu XXXII/1980, Peter Fiedler, Freiburg i. Br. S. 141 f.). Das nun zur Diskussion stehende neue Buch ist eigentlich ein älteres, das bereits 1964 entstanden ist und EBERHARD RÖHM / JÖRG THIERFELDER: Evange- in englischer Sprache unter dem Titel »How was it possi- lische Kirche zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Bilder und ble?« bereits 1971 erschienen ist. Dem Verfasser ist es mit Texte einer Ausstellung. Mit einer Einführung von Klaus seiner Darstellung, die — wie er selber im Vorwort hervor- Scholder. Stuttgart 1981. Calwer Verlag. 160 Seiten. hebt — nicht auf eigenen Quellenstudien beruht und »sich »Dieser Bild- und Textband entstand als Dokumentation mehr an den interessierten Laien« wendet (S. 9), um die und Kommentar zu einer im Auftrag der Evangelischen Kontinuität der Judenfeindschaft in Deutschland zu tun. Kirche in Deutschland für den Reichstag in Berlin erstell- Er will damit sicherlich nicht jener »weinerlichen [lachry- ten Ausstellung gleichen Titels« (2). Die 9 Kapitel des Bu- mose] Auffassung von der jüdischen Geschichte« das ches gehen chronologisch vor: Die nationalsozialistische Wort reden, von der der bedeutendste lebende Historiker Bewegung und die evangelische Kirche bis 1933 — Die der jüdischen Geschichte schreibt, dass er sein ganzes Le- Machtergreifung der Deutschen Christen — Die Anfänge ben dagegen gekämpft habe (Salo W. Baron: Newer Em- der Bekennenden Kirche — Das Evangelium und die NS- phases in Jewish History, in: History and Jewish Histo- Weltanschauung — Kirche in der Zerreissprobe rians, Philadelphia 1954, S. 96). Tatsächlich ist ja die Bi- (1935-1939) — Kirche und Krieg — Der Weg zum Massen- lanz judenfeindlicher Befangenheiten und blutiger Verfol- mord — Distanz zum politischen Widerstand — Schuld und gungen gerade für das nördliche Mitteleuropa besonders neuer Anfang. Mit seinem zum grossen Teil bisher nicht erschreckend, wenngleich einerseits judenfeindliche veröffentlichten 154 Quellenstücken aus kirchlichen und Wahnvorstellungen und Judenmord nicht auf diesen staatlichen Archiven sowie aus Privatbesitz bietet das Raum beschränkt waren und andererseits auch hier besse- Buch einen allgemeinverständlichen originären Überblick re, vielleicht sogar bedeutende Zeiten nicht gänzlich feh- über die gesamte Epoche unter dem Blickwinkel der len. Das historische Gewicht der belasteten Tradition Evangelischen Kirche. Bei der Auswahl und Erläuterung steht indes fest: Ohne sie wäre in der Tat nicht möglich der Bilder und Dokumente hat man gezielt einer Schön- gewesen, was geschehen ist; und das ist das Argument. färberei oder gar Idealisierung entgegengearbeitet. Viel- Nicht minder wichtig war freilich die konkrete Situation mehr entsteht das beklemmende Bild einer Wirklichkeit, der Unterdrückung, der brutale Wille der ausschlagge- in der zwar einzelne Christen zur Opposition gegen das benden Schichten, im forcierten Verteilungskampf der verbrecherische Regime (mit allen Konsequenzen) bereit Jahre um 1930 Besitz und Macht zu erhalten, koste es, waren, die Masse der Christen und führenden Kirchen- was es wolle (auch menschliches Leben). Der Verfasser männer jedoch durch Zustimmung (»Deutsche Chri- leugnet dies nicht, indem er eindrucksvoll über die andere sten«), Nicht-sehen-Wollen und Ängstlichkeit ihr Chri- Seite der Sache belehrt, über den sozusagen traditionsge- stentum — und die Menschlichkeit — verrieten oder ver- sicherten Grad der Bereitschaft der Menschen, sich in Ab- leugneten. Um nur ein Beispiel anzuführen, auf das Frau neigung und Hass gegen Juden und Judentum irreführen Dr. G. Luckner den Rez. hinwies: Auf S. 134 ist die Vika- zu lassen. rin Katharina Staritz abgebildet, die als Leiterin der Bres- Wie in ähnlichen Übersichtsdarstellungen, auch sonst un- lauer »Hilfsstelle für evangelische Nichtarier« ein vom terlaufen freilich auch Irrtümer. So z. B. wenn im Zusam- dortigen Stadtdekan autorisiertes Rundschreiben mit der menhang mit einem Ritualmord der 30er Jahre des 19. Aufforderung herausgab, die vom 19. 9. 1941 zum Tragen Jahrhunderts im Rheinland (Kreis Grevenbroich) die des »Judensterns« verpflichteten Gemeindemitglieder Schrift eines Pfarrers »Über den Gebrauch des Christen- nicht zu isolieren. Die Bildunterschrift weist darauf hin, blutes bei den Juden« genannt wird, als sei sie ein Teil des dass Frau Staritz ihren Mut mit der Entlassung aus dem beschämenden Vorgangs (5. 144), während sie in Wahr- Kirchendienst und einem Jahr KZ Ravensbrück bezahlen heit die Haftbarmachung der Juden verurteilt und den musste. Ausserdem ist das vorangehende Dokument eine christlichen Blutaberglauben als Vorurteil zu entlarven Abschrift des Rundschreibens der DEK-Kirchenkanzlei sucht; verfasst hat die Schrift Pfarrer Binterim aus Bilk. vom 22. 12. 1941, in der »geeignete Vorkehrungen« ange- Auch fehlen in der Literaturliste des Buches, die die Titel raten werden, »dass die getauften Nichtarier dem kirchli- enthält, auf die der Verfasser sich seinerzeit gestützt hat, chen Leben der deutschen Gemeinde fernbleiben«. So natürlich die jüngeren Arbeiten zum Thema, z. B. das vollbringt dieses Buch echte Trauerarbeit. Didaktisch klar verdienstvolle Buch Wanda Kampmanns »Deutsche und konzipiert und äusserst preiswert, gehört es in jeden Reli- Juden« 1, auch Eleonore Sterlings Arbeit »Er ist wie du«, gions- und Geschichtsunterricht, ebenso in die Jugendar- spätere Auflage »Judenhass« 2 (um nur zwei bekannte Ti- beit und (kirchliche) Erwachsenenbildung. Denn nur, tel speziell zur deutsch-jüdischen Geschichte zu nennen). wenn wir unserer christlichen Vergangenheit so in die Au- Indes bleibt genug, was die Übersicht für den umsichtigen gen zu sehen bereit sind, wie sie wirklich war, werden wir Religions- und Geschichtslehrer empfehlenswert macht. aus ihr zu lernen vermögen. Dieses Buch öffnet die Au- Man darf wünschen, dass sie in der deutschen. Original- gen. Peter Fiedler, Freiburg i. Br. fassung ähnlich viel Beachung findet wie nach dem Vor- LUDWIG ROSENTHAL: Wie war es möglich? Zur Ge- wort des Verlegers und Herausgebers Günther Schwarz schichte der Judenverfolgungen in Deutschland von der in englischer Übersetzung in den Vereinigten Staaten. Hermann Greive, Köln Frühzeit bis 1933, als Vorläufer von Hitlers »Endlösung Vgl. in: FrRu XV, 129. der Judenfrage«*. Ein Beitrag zur Klärung des Kollektiv- 2 Vgl. a.a.O. XXI, 114 (Anm. d. Red. d. FrRu). schuld-Problems. Darmstadt 1981. Verlag Darmstädter Nach Redaktionsschluss : 1 Blätter. 185 Seiten. JOSEPH WALK (Hrsg.): Das Sonderrecht für die Juden Von Ludwig Rosenthal ist auch im letzten >Rundbrief< ein im NS-Staat. "' Vgl. o. S. 26 ff. S. u. S. 101, Anm. 1.

93 RAFIK HALABI: Die Westbank Story. Aus dem Hebräi- Dorfgemeinschaft und ihre ersten Berührungspunkte zu schen von Jizchak Barsam. Königstein/Ts. 1981. Athe- den jüdischen Siedlungen der Umgebung schon vor der näum. 212 Seiten. Staatsgründung. Rafik Halabi war der erste seines Dorfes, Rafik Halabi gehört zu der völkischen Minorität in Israel, der auf die höhere Schule kam. Er schildert seine und die die in ihrer Loyalität zu ihrem Staat besonders gespalten Probleme seiner nachfolgenden Kameraden, die sie als ist. Er ist Druse und — wenn man eine Befragung vorneh- Drusen in einer jüdischen Schule haben, in der sie viel men würde — der wohl am meisten bekannte Druse in sei- über jüdische Dichtung, Religion und Zionismus lernen, nem Lande. Rafik Halabi ist seit fast zehn Jahren der aber nichts über ihre arabische Geschichte und Herkunft. Korrespondent des Hebräischen Israelischen Fernsehens Die ganze komplexe Situation zwischen einer bevorzug- in der Westbank. Wenn die Zeiten besonders gespannt ten Minorität und dem letztlichen — Un- oder Missverste- sind, erscheint Rafik Halabi Abend für Abend mit seinen hen ihrer Situation durch die israelischen Stellen wird hier Reportagen im Hebräischen Fernsehen und informiert ausgebreitet und leuchtet an vielen Stellen des Buches im- den israelischen Bürger über die Situation der Araber im mer wieder auf, ebenso wie die doppelseitige Resonanz besetzten West-Jordanien mit allen Schattenseiten einer gerade der jungen drusischen Generation auf dieses Ver- Besatzungspolitik, die der israelische Normalbürger sonst halten in Bejahung, Zurückhaltung oder Ablehnung die- nicht zur Kenntnis nehmen würde. sem Staat, oder besser noch, dieser jüdischen Gesellschaft In der Tat ist der persönliche Mut und seine Fähigkeit, gegenüber. zwischen allen Klippen der feindlichen Lager hindurchzu- Auch das folgende Kapitel »Jerusalem« trägt viele auto- manövrieren, bewundernswert. Radikale aus beiden La- biographische Züge. Als arabisch sprechender Student trat gern, Araber wie jüdische Siedler in der Westbank, haben Rafik Halabi 1967 in die Dienste des Bürgermeisters von immer wieder versucht, Rafik Halabi nicht filmen zu las- Jerusalem, Teddy Kollek, mit der Aufgabe, die Interessen sen und haben auch vor Morddrohungen nicht halt ge- der arabischen Bürger der annektierten Oststadt besser im macht. Polizeischutz und ständiges Wechseln des Nacht- gemeinsamen Jerusalemer Stadtrat berücksichtigen zu quartiers in Krisenzeiten waren die Folge. können. Eine durchaus heikle Aufgabe, die den Verfasser Rafik Halabi hat es immer wieder verstanden, das Ver- schnell an die Grenze der Loyalität bringt, seinem Staat trauen der wichtigsten arabischen Führer der Westbank oder seinen arabischen Brüdern gegenüber. zu erwerben und zu erhalten, sei es, dass es sich um Leute Der Grossteil des Buches ist nun der Situation in den be- der PLO handelt, Kommunisten, Repräsentanten anderer setzten Gebieten, der Westbank, und dem Gazastreifen Splittergruppen oder Leute des gemässigten Flügels, die gewidmet. Einschübe sind Kapitel über die Situation der über heimliche oder offene Beziehungen zu Jordanien israelischen Araber und über die gesellschaftlichen und verfügen. Zu allen diesen Leuten fand Rafik Halabi eine kulturellen Probleme, mit denen iraelische Araber, aber offene Tür: Interviews, die keinem Israeli gewährt wur- auch die Araber in der Westbank zu tun haben, umgeben den, Rafik Halabi konnte sie in der Regel erhalten. von dem modernen jüdischen Staat mit seinen westlichen Das Bemerkenswerte an seiner Berichterstattung ist die Gesellschaftsstrukturen. Besonders interessant ist hier die Offenheit und die Ehrlichkeit, mit der er über die Miss- detaillierte Beschreibung von der Rückwirkung eines er- stände der israelischen Besatzungspolitik berichtet. Immer starkenden palästinensischen Nationalgefühls in der wieder wurde der Versuch gemacht, besonders seit der Westbank seit 1967 auf die Araber in Israel. Einschub ist Likudblock an der Regierung ist, Rafik Halabi aus dem auch ein Kapitel über die jüdischen Wehrsiedlungen in- israelischen Fernsehen auszuschalten. Minister haben sich nerhalb des besetzten arabischen Gebietes. Halabi ver- über ihn in der Knesset beschwert. Aber immer wieder ist hehlt hier nirgendwo, wo seine Sympathien und Antipa- es Rafik Halabi gelungen, gerade durch die Beliebtheit, thien liegen, er versucht aber auch hier, diese Bewegung über die er bei seinen jüdischen Kollegen im Fernsehen aus seinen Wurzeln heraus zu verstehen. Ohne die Schil- verfügt, diese Angriffe abzuwehren. Sein erstes Buch wird derung der Wehrsiedlungen ist es sicher auch ganz un- diese Frontenstellung nur verschärfen, denn es ist so offen möglich, die Situation, wie sie heute in der Westbank exi- geschrieben wie seine Reportagen. So offen, dass sich bis- stiert, zu erklären, denn viele Entwicklungen im arabi- her kein israelischer Verlag bereit gefunden hat, es in sei- schen Bereich sind Reaktionen auf die Aktivität jüdischer ner Originalsprache, in der es geschrieben wurde, Hebrä- Siedler in ihrer Mitte. isch, zu veröffentlichen. Diese solide Sachkenntnis unterscheidet dieses Buch von Leider ist der Titel des Buches eher irreführend als hilf- allen anderen Versuchen, die Situation der Araber in der reich: »Die Westbank Story«, wohl übernommen von der Westbank zu erfassen und zu beschreiben, Versuche, die englischen Fassung, die im Druck ist. Aber es handelt sich meist von Leuten stammen, die sich nur wenige Wochen ja keineswegs um eine Story wie das bekannte Vorbild des oder Monate in der Westbank aufgehalten haben. Ausser- Titels. Noch platter ist der Untertitel des Buches »Stirb dem ist es die gründlichste und detaillierteste Untersu- für dein Land und die Ehre deiner Schwester«. Dies ist in chung bisher auf diesem Gebiet. der Tat ein Zitat aus dem Buch, aus dem ersten Kapitel, in Rafik Halabi schildert so aus eigener Anschauung die dem Rafik Halabi seinen Vater beschreibt, und dies ist Lähmung der arabischen Bevölkerung direkt nach der sein Vermächtnis an seinen Sohn: Israel ist auch das Va- überraschenden Eroberung im Juni 1967, den Aufbau des terland der Drusen, aber ebenso gilt es, die Familienehre arabischen Widerstandes, die Einrichtung der ersten ara- und -tradition durch alle Modernisierung hindurch zu er- bischen Selbstverwaltung, die Herausbildung von Terror- halten. zellen, die ersten Terroranschläge unter der kooperativen Das Buch ist eine Mischung von Autobiographie und Tat- eigenen Bevölkerung und das Vordringen in die jüdischen sachenbericht, beides manchmal schlecht verwoben, so Siedlungsgebiete jenseits der grünen Linie sowie die Ge- dass man dem Autor empfehlen möchte, aus dem Buch genmassnahmen der israelischen Besatzungsorgane. Da doch zwei Bücher zu machen, die den beiden höchst die Geschichte in jedem Gebiet einen anderen Verlauf interessanten Anliegen des Verfassers besser gerecht wer- nahm, in Gaza anders als in Hebron, in Bethlehem anders den könnten. Rein autobiographisch ist das erste Kapitel als in Ramalla oder Nablus, werden die Entwicklungen in »Der innere Konflikt eines Drusen« . Rafik Halabi wurde diesen Gebieten jeweils getrennt durchgesprochen, begin- 1946 in dem kleinen Drusendorf Daliat el Karmel in der nend mit der Schilderung der konservativen Führungs- Nähe von Haifa geboren. Er schildert hier die intakte (Fortsetzung Seite 96)

94 Israel-Mappe"* und Jerusalem-Mappe mit je zwanzig Grafiken jüdischer und arabischer Kinder"/*" .. Begleitender Text hebräisch, arabisch, englisch, deutsch. Hrsg.: Puah Menczel, Beersheba — Jerusalem 1981. Bezug s. u. Anm. 1. Zur Feier des dreissigjährigen Bestehens der ersten Gesamtschule in Israel. — Begründet in Beersheba durch Dr. Puah Menczel.

Diese »Zeichnungen von jüdischer Jugend . betonen immer wieder die Begegnung des Exotischen mit dem Modernen: An Abrahams Brunnen treffen Araber mit ihren Kamelen mit Tou- risten in moderner Kleidung zusammen, und auch deren Auto- bus ist nicht vergessen.« Bild Bl. 8: Afro-asiati- scher Besuch: Von Simcha Shemesh, 14 Jahre, aus dem Irak, Beersheba. Alle Nationen treffen sich vor der Schule. Studenten des >International Trai- ning Centre for Comm- unity Services< auf dem Ca rmel, HaiJä".

Bild Bl. 1: Abrahams Brunnen. Von Jaffa Meir, 15 Jahre, aus dem Irak, Beersheba.

»Diese Blätter kommen zu ihrem grössten Teil aus der Wüste, aus einer Wüste, die in Jahrtausenden ausgedorrt und verödet ist: Heimat von Nomaden, der Negev. Aus biblischen Ge- schichten erstehen alte Bilder. Sie erinnern an vergangene Blü- te, an die Zeit der Erzväter und Patriarchen: Gedanken an den Brunnen Abrahams tauchen auf. Viel ist in den alten Berichten Der »,Afro-asiatische Besuch< zeigt zwei Besucher in exotischer von den Brunnen in der Wüste die Rede. Sie werden die Brun- Kleidung, die von Bewohnern eines Hauses aus den Fenstern nen des Lebendigen und Sehenden genannt. Nach ihnen graben und auf der Strasse stehenden Personen gehörig angestaunt die Menschen, und ihre Feinde verschütten sie. Wir spüren den werden. Die künstlerische Phantasie dieser Jugend beschäftigt gleichnishaften Charakter des Bildes in der Entsprechung und eben besonders dies Zusammentreffen des unverfälschten Ori- seine Hintergründe im Bedeutenden und Sinnvollen. Zum Was- ents mit europäischen Einwanderern und Touristen — auch für ser, das Leben spendet, führen viele Fährten; Fährten von Men- uns' immer wieder ein starker Eindruck, wenn wir durch die schen und Fährten von Tieren; Rinnsale des Schicksals, ebenso Strassen von Beersheba schlendern ...«, veränderlich wie reich an Gestalt. Es sind dunkle und helle We- ge, die zum Ursprung hinführen, zum Ort der Begegnung, zur Bild BI. 19: Chassidische Ursache. In unserem Bilde kommt in den Kreisen der Steinset- Musik auf Grossvater zungen des Brunnenrandes eine Bewegung zur Ruhe. Betont ist Olsens dänischer Geige. eine Mitte gesagt und wird in lockerem Gleichgewicht um- Von Olga Schnittke, 15 spielt. Dem schwarzen Tier antwortet ein weisses. In ihren Sat- Jahre (Russland). teldecken ordnen sich die Strukturen der Hintergründe zu Mu- stern und ornamentalen Reihen. Lassen wir dieses Bild am An- fang stehen. Es kann für das Ganze gelten: für den Versuch des Menschen, den Wüsten der Erde und den Wüsten der mensch- lichen Herzen neues Leben zu entringen. Davon soll hier in doppelter Hinsicht die Rede sein. Beersheba, >Brunnen der Sieben<, >Schwurbrunnen<, diesen Na- men trägt die Hauptstadt der Negev seit biblischen Zeiten. In den ersten Anfängen des Staates Israel suchten dort Einwande- rer aus aller Welt eine neue Heimat zu finden und in der Wüste Wurzel zu schlagen. Sie kamen aus dem Irak, aus Polen, Ru- mänien, Russland, Ägypten, Tunis und Marokko mit all ihren verschiedenen Sprachen und Nationalitäten. Die Jugend, auch die der Araber und Nomaden, musste in das Gemeinsame des neuen Staates hineinwachsen. Die Barrieren der Sprache, des Hasses, die Hindernisse des Unzulänglichen waren zu beseiti- gen. Hier setzte die Erziehung ein. Mit der Gründung einer er- sten Gesamtschule im Jahr 1954 durch Frau Dr. Puah Menczel hat diese Pioniertat begonnen. Sie wurde zu einem Brücken- schlag auch hin zu den verfeindeten Arabern und Nomaden. Jüdische und arabische Kinder, Kinder von Neueinwanderern und Nomaden sassen und sitzen in dieser Schule Seite an Seite. »Besonders hervorzuheben ist in der >Jerusalem<-Mappe die Gleiches Bildungsgut wird ihnen vermittet, sie haben alle die- Zeichnung ›Chassidischer Tanz<. Die Bewegung des tanzenden selben Chancen. Neues Leben begann in der Wüste. Aus dem Chassid und die musikalische Inbrunst des Geigers (Auge und Gegeneinander und Nebeneinander wurde ein Miteinander Stellung des linken Fusses!) sind mit wenigen Strichen ein- und. Füreinander . . .« 1 drucksvoll gestaltet; Max Liebermann mit seinem Satz >Zeich- nen heisst weglassen< hätte an dem Bild seine Freude gehabt.« 3 * Vgl. in FrRu XXVIII/1976, S. 133. G. L. ** Vgl. a. 0. XXX/1978, S. 187. Gotthilf Ehninger, S. 84 in: Dr. Puah Menczel-Ben Tovim (Hrsg.): la ebd., S. 202. 2 Leben und Wirken. Unser Erzieherisches Werk. In Memoriam Dr. Jo- Heinrich Strauss, aus: Künstlerische Phantasie der Jugend, in: ebd. sef Schlomo Menczel. 1903-1953. Beersheba- Jerusalem 1981. — Bezug S. 95 f. nur bei Rubin Maas, Jerusalem 31003, P. 0. B. 372. ders., ebd.

95 schicht, die mit Jordanien verbunden ist, über die Ereig- von Flüchtlingen eingesetzt hat. Furchtbar ist beispielswei- nisse des Oktoberkrieges 1973 zu den Bürgermeisterwah- se, was die auf einem griechischen Rettungsschiff, der len in der Westbank, bis zur Ablösung der konservativen »Frossula«, 1939 zusammengepferchten tschechoslowaki- Führungsschicht durch eine mehr PLO-orientierte Füh- schen Juden und was 1942 die aus den von Hitler besetz- rungsschicht, wie sie heute in den meisten Städten der ten Ländern stammenden Flüchtlinge auf der »Struma« Westbank an der Macht ist. durchmachen mussten. »Dem deutschen Vernichtungs- In besonderer Weise schildert Rafik Halabi die verschie- wahn standen die Mächte, an die sich die Juden hilfesu- denen Tendenzen der israelischen Militärregierung und chend wandten, wenn auch auf eine andere Art, an Härte die wechselnden Methoden, mit den Problemen der Be- und Grausamkeit wenig nach«, schreibt der Verfasser setzung dieser Gebiete fertig zu werden. Er markiert be- hierzu. Er selbst distanziert sich aber von Hassgefühlen sonders die Fehler der Militärregierung, die er für gewisse auf eine Weise, die ihm Ehre macht. unnötige Entwicklungen in der Westbank, die die Situa- Die europäischen Staaten, vor allem die Mandatsmacht tion besonders erschwert haben, verantwortlich macht. England, aber auch Frankreich und in erster Linie natür- Das Buch schliesst mit einem leidenschaftlichen Appell an lich Hitler-Deutschland spielen öfter eine verhängnisvolle die politische Vernunft von Besetzern und Besetzten und Rolle; das Verhältnis zwischen Juden und Arabern, das endet mit einem Bekenntnis, mitzuwirken am Aufbau ei- zeitweilig noch ganz harmonisch war, wird dadurch ge- nes gerechten und demokratischen Israels. trübt. Einmal schreibt der Autor: »Das sogenannte Ara- Das Buch wird allen Beteiligten, Arabern wie Juden, nicht berproblem hört auf, ein Problem zu sein in dem Mo- immer gefallen, weil es ein ehrliches Buch ist und die ment, wo man den Araber als gleichwertig erachtet. Dies Schwächen beider Seiten herausstellt. Für jeden, der an ei- fällt dem Neueinwanderer aus Europa oft ungemein ner objektiven Berichterstattung über dieses Krisengebiet schwer.« Auch vertritt Eran Laor die Ansicht, »die Juden Nr. 1 interessiert ist, ist dieses Buch unentbehrlich. sollten sich als eines der Völker des Orients, als Orienta- Dr. Michael Krupp, Jerusalem len erklären und fühlen« — nur dann könne ihnen eine Zu- kunft inmitten der Völker dieses Erdteils blühen, »Gedan- ERAN LAOR (ERIK LANDSTEIN): Ein Leben für Isra- ken, die zur Zeit ihrer Niederschrift (1937) kaum verstan- el. Rückblick eines Weltbürgers. Bonn 1980. Keil Verlag. den wurden«. 312 Seiten. Philosophie und Dichtung beschäftigen den sehr sprach- Im ersten, 1972 in Stuttgart erschienenen Bande seiner kundigen Verfasser, dessen Essays und Gedichte in ver- Erinnerungen, betitelt »Vergangen und ausgelöscht«, hat- schiedenen Übersetzungen erschienen sind. Politik an sich te der als Sohn eines Landarztes in der Südslowakei — da- dagegen »interessierte ihn nie«. Eindrucksvoll beschreibt mals ein Teil Ungarns — 1900 geborene Verfasser das er die weltweite Solidarität der Juden, woher sie auch Schicksal des slowakisch-ungarischen Judentums behan- kommen und welches ihre religiöse Überzeugung sein delt. Dieser zweite, auch durch einen Bildteil bereicherte mag. Eine Anerkennung erfährt die deutsche Wiedergut- Band schildert nun einen weiteren, überaus erlebnisrei- machung, ein besonderes Lob die »tiefe menschliche Ge- chen und spannend beschriebenen Abschnitt seines Le- sinnung« des Kardinals Roncalli, des späteren Papstes Jo- bens. Nachdem er Wien — wo seine Mutter lebte — 1925 hannes XXIII. Wir dürfen dem dritten Band dieser verlassen und acht Jahre lang in Konstantinopel eine lei- Memoiren, der die Erlebnisse des Verfassers während der tende Stellung in dem Warenhaus Mayer & Co., einem folgenden Zeit in Persien schildern wird, mit beson- Familienunternehmen, versehen hatte, besuchte er 1933 derem Interesse entgegensehen. erstmals Palästina — damals noch englisches Mandat —, Hans Thieme, Freiburg i. Br. was für den Verfasser, der sich bis dahin mehr als Welt- bürger denn als Jude gefühlt, ja sogar der jüdischen Reh- KARLHANS LIEBL: Die Einstellung der israelischen gionsgemeinschaft den Rücken gekehrt und als Freimau- Parteien zum Palästina-Problem. (Europäische Hoch- rer gewirkt hatte, zu einem entscheidenden Erlebnis wur- schulschriften: Reihe XXXI, Politikwissenschaft, Bd. 25). de. Zwar ist seine Skepsis gegenüber der traditionellen re- Frankfurt a. M. — Bern 1981. Verlag Peter D. Lang. 287 ligiösen Ausübung rabbinischer Vorschriften offenbar er- Seiten. halten geblieben; eine hierzu 1938 verfasste Schrift »A Die Nahost-Problematik gehört zu den bewegendsten new sense of Purpose« über die »religiöse Renaissance des Fragen unserer Zeit, in jüdischer Sicht (speziell für Israel) Judentums« ist bis jetzt erst in englischer Sprache erschie- wie in allgemeiner Sicht. Alle aktuell-politische Befassung nen (London 1967). Aber die Zugehörigkeit zum Volk damit kreist um die Frage der Kompromissmöglichkeiten, und — nach seiner Ausrufung — zum Staat Israel hat das d. h. der Voraussetzungen, und seien es allerkleinste An- Leben des Autors seit jener Reise geprägt, und er hat ihm knüpfpunkte, für einen zukünftigen Ausgleich. In diesem auf seine Weise in mancherlei verantwortungsvollen und Zusammenhang ist die Meinungsbildung innerhalb der is- riskanten Tätigkeiten zu dienen vermocht. Der Inhalt die- raelischen und arabischen politischen Gruppierungen von ses Buches, ein »vielfarbiges Panorama«, das bis zum En- ausschlaggebendem Gewicht, so sehr diese Gruppierun- de des Jahres 1945 reicht, gehört daher gewiss zu den an- gen jeweils nur Teile der betreffenden Bevölkerungen re- schaulichsten Quellen für eine Geschichte des Nahen präsentieren. Theoretisch-situationsanalytisch wie poli- Ostens während der Jahre des Nationalsozialismus und tisch-praktisch führt an den parteipolitischen Positionen des Zweiten Weltkriegs. Zitate aus damaligen Briefen des kein Weg vorbei. Verfassers verbürgen die Authentizität. Deshalb ist es hochverdienstlich, dass Karlhans Liebl sich Vor allem ist es natürlich das jüdische Schicksal, das der der Aufgabe unterzogen hat, die »Einstellung der israeli- Flüchtlinge aus zahlreichen Ländern, aber auch dasjenige schen Parteien zum Palästina-Problem« zusammenfas- der Türken, der christlichen Libanesen, der Araber, Kur- send darzustellen. Dass er vom »Palästina-Problem« den, Abessinier usw., welches den sehr kontaktfreudigen spricht, mag damit zusammenhängen, dass das Problem in Autor beschäftigt, der vielerlei Freunde und Bekannte hat seiner Entstehung älter ist als der Staat Israel; doch ist dieser und der sich in mancher ganz unterschiedlicher Funktion, Wortgebrauch wohl auch eine Geste. In Israel ist aus auch in solchen der Schiffahrt, der Gastronomie, des briti- verständlichen Gründen eher von Nahost o. ä. als von schen Geheimdiensts und der französischen Abwehr mit Palästina die Rede. jenen Völkern abgegeben und vor allem für die Rettung Die Wortwahl bedeutet keine distinktionslose Parteinah-

96 me, weist vielmehr nur darauf hin, dass Sachlichkeit, zu- schen Volkes« (14). Die Beiträge geben dem Leser einen mindest im Sinne von Nicht-Einseitigkeit angestrebt ist. Einblick in verschiedene Aspekte des Zionismus. Was freilich — besonders im historischen Teil (S. 2 ff. Ent- Ohne sich mit dem Problem zu beschäftigen, hat Napole- stehungsgeschichte des Staates) — Verzerrungen von der on I., so wird erzählt, den Zionismus unmittelbar erfasst, Art allzu grober Vereinfachungen nicht ausschliesst. Z. B. als er eine Synagoge in einem kleinen »jüdischen Stättel« begründete Moses Hess nicht die nationale Bewegung des am 9. Av. betrat. Im Halbdunkel der Synagoge sah er die Judentums, ist vielmehr nur der Autor eines relativ früh — Juden auf dem Boden sitzen, weinend und Klagelieder aber fast unbeachtet — erschienenen Buches jüdisch-natio- singend. Nach dem Grund fragend, erhielt er zur Ant- naler Orientierung (Rom und Jerusalem, 1862), auch »hat wort, die Juden beklagen die Zerstörung ihres Tempels in die Zionistische Bewegung ihre Ursache« nicht schlechter- Jerusalem. Er wollte wissen, wann das geschehen sei. Als dings »im Antisemitismus«, so wichtig der anhaltende An- er erfuhr, dass das Geschehen etwa 2000 Jahre zurück lie- tisemitismus für die frühe Geschichte des Zionismus war ge, soll er ausgerufen haben: »Ein Volk, das 2000 Jahre in (vgl. S. 2 und 3). Schon die Insinuation einer unikausalen der Zerstörung existiert und die Vernichtung seines Tem- Ausschliesslichkeit ist hier irreführend. Indes liegt der pels und Landes beweint, wird eines Tages sicherlich in sachliche und umfangmässige Schwerpunkt der Arbeit sein Vaterland zurückkehren.« nicht in den ersten, eher allgemeinen jüdisch-historischen Die Beiträge von Martin Stöhr »Zionismus — eine Befrei- Passagen, sondern in den späteren Abschnitten des zwei- ungsbewegung?« (S. 7-16), von Pinchas Lapide »Befreiung ten Teils, etwa angefangen von dem Kapitel »Die Ursa- in der Geschichte. Grundbewegung im biblischen Denken chen des Palästina-Problems vor der Staatsgründung« (S. und Leben« (5. 17-29) und von Friedrich-Wilhelm Mar- 28 ff.), und besonders im dritten Teil »Das Palästina-Pro- quardt »Zionismus — Selbstbefreiung und Befreiung ande- blem aus der Sicht der israelischen Parteien und ihre Lö- rer« (S. 30-42) gehen von der Grundbedeutung des Ex- sungsvorstellungen« (S. 70-174). Und hier wird eine Fülle odus aus als Vorläufer und Wegweiser der Befreiungsbe- zuverlässiger Informationen geboten, die man sonst müh- wegungen der Völker, zu welchen sie die zionistische und sam zusammensuchen müsste, ja die zum Teil — durch den palästinensische rechnen. Stöhr meint: »Eine Existenzsi- Autor auf dem Wege der Informal Interview Method (ei- cherung beider Befreiungsbewegungen . . . ist nur mitein- ner weniger starren, variableren Fragebogen-Methode) ander und nicht gegeneinander möglich. Die eine kommt gewonnen — in diesem Buche erstmals in dieser From zu ihrem Recht, wenn sie zum Rechtshelfer der anderen schriftlich fixiert und publiziert vorliegen. wird« (14). Der Weg dazu ist leider nicht vorgezeichnet. Den vierten Teil »Die Lösungsvorstellungen der israeli- Marquardt verbindet mit der Selbstbefreiung (handelt es schen Parteien zum Palästina-Problem und ihre Realisie- sich wirklich um Selbstbefreiung oder um Befreiung durch rungschancen« (es geht um das Letztgenannte) sollte man Gott?) die Befreiung anderer, welche er auf Exodus 12, eher als einen Anhang ansehen; so interessant manches 38 stützt: »Auch viel Volk zog mit ihnen.« Er unterschei- ist, u. a. die »Modell-Betrachtung« dazu (5. 194 ff.). det den Exodus von Freiheitsbewegungen, »die nicht den Trotz des ernstesten Bemühens des Autors hat hier doch anderen, sondern vom anderen befreien« (32). Die Ge- manches, speziell der Schlussabschnitt (S. 205), den Cha- schichte des modernen Zionismus ist umfassend behandelt rakter des >guten Rates<, der — ohne Anführungszeichen — und führt zu Marquardts »Gewissheit, dass die Selbstbe- doch gerade hier wirklich teuer ist. »Es besteht für Israel freiungsbewegung des jüdischen Volkes, wie immer seine noch die Möglichkeit« usf. Besteht sie? für Israel? so ab- heutigen politischen Geschicke im Nahen Osten sich ge- strakt? in welchem Sinne denn nur genau? Die schlichte stalten werden, auch die Mitbefreiung anderer sein wird« Wahrnehmung von Möglichkeiten wäre doch etwas so (42). Einfaches. Und ein bisschen klingt es so einfach — nur ist Michael Krupp, Jerusalem, gibt eine gute Übersicht »Zur es das nicht. Siedlungsgeschichte in Palästina/Israel«, die gleichzeitig Ein Anhang, der den benutzten Fragebogen, eine Liste Kurzgeschichte des Volkes seit seinem Auftreten in Ka- der befragten Parteiorganisationen, den Text der Balfour- naan ist (43-67). Nützliches Kartenmaterial ist dem Text Deklaration, des Biltmore-Programms (von 1942) und beigefügt. Die Übersicht zeigt deutlich, dass in Palästina, des israelisch-ägyptischen Friedensvertrages vom 24. No- trotz der periodisch auftretenden Verfolgungen, durchge- vember 1978 enthält, rundet das hilfreiche und verdienst- hend jüdische Siedlungen bestanden. volle (allerdings nicht immer elegant formulierte) Buch Jean Amery benennt seinen wichtigen Beitrag: »Der ehrba- ab; ein Register fehlt. re Antisemitismus« (S. 68-85). Er sieht eine wesentliche Allen, die am Zustandekommen der Arbeit und ihrer Ver- Quelle des heutigen Antisemitismus der »Rechten« und öffentlichung beteiligt waren, ist zu danken, wäre sie et- der »Linken« im vorteilhaften Ölgeschäft, wodurch er was weniger teuer (angesichts der anspruchslosen Aufma- »ehrbar« wird. Der Antisemitismus hat auch Schule bei chung), so gälte dies auch für den Verlag. Sie wird sicher- den Jungen gemacht, »die oftmals noch keinen Juden von lich viel benutzt werden und verdient es. Bleibt nur zu Angesicht zu Angesicht sahen« (71). Dasselbe gilt für den wünschen, dass dies auch dem Autor — besonders wissen- Ostblock, dem der langjährige Leiter der »Roten Kapel- schaftlich — zugute kommt. Hermann Greive, Köln le«, Leopold Trepper, den Rücken kehren und in Israel ein neues Heim suchen musste. »Israel ist nicht nur das MARTIN STÖHR (Hrsg.): Zionismus. Beiträge zur Dis- Land, in dem der Jude sich nicht mehr im Sinne Sartres kussion. Bd. 9: Abhandlungen zum christlich-jüdischen das Eigenbild vom Feinde aufprägen lässt. Es ist auch das Dialog.» München 1980. Kaiser-Verlag. 158 Seiten. virtuelle Obdach für alle beleidigten und erniedrigten Ju- Die neun Beiträge dieses Bandes entstammen »zwei Semi- den der Welt« (72), selbst für die virulenten linken Anti- naren der Evangelischen Akademie Arnoldshain und ei- Israel-Juden. nem Seminar des Deutschen Koordinierungsrates der Ge- Zum Palästinaproblem meint Amery: »Es steht im Nah- sellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit im ost-Konflikt Recht gegen Recht, und ich füge gleich hin- Frankfurter Römer. Angeregt waren die Vorträge, die ih- zu: Es steht aber nicht Gefahr gegen Gefahr gleicher Ord- ren Vortragscharakter nicht leugnen, durch die Jahresthe- nung. Tatsache ist, dass die grosse arabische Nation . . . matik 1977: Zionismus — Befreiungsbewegung des Jüdi- wild entschlossen sind, den Staat Israel auszuradieren . . .« (74). Der Petrodollar beherrscht die öffentliche Meinung. * Hg. von H. Goliwitzer, Mitarbeit: U. Berger, M. Brocke, A. Friedländer. Das zeigte sich klar im langjährigen libanesischen Bürger-

97 krieg, der viele tausende unschuldige Opfer forderte und eine Rückkehr Israels in das Land seiner Väter niemals das Weltgewissen, einschliesslich des Vatikans, nur möglich wäre« (137). Auch die Stellung der Kirchen und schwach reagierte. Das den Palästinensern zugefügte Un- des Vatikans zum Staate Israel wird nicht übergangen. recht kann beseitigt werden. »Sie sind Angehörige der Ecken kennt sehr wohl den Stellenwert von Deklaratio- grossen arabischen Nationen. Die Zerstörung Israels hin- nen und Studientexten und kommt zum Schluss: »Den- gegen wäre ein irreversibles Unrecht« (82). noch scheinen mir die Zeugnisse gelebter Solidarität noch An seine Erfahrung als Inhaftierter in Auschwitz erin- grösseren Wert zu besitzen. Das Isaias-Haus der Domini- nernd, ruft Am8ry aus: »Der Antisemitismus, auch wenn kaner in Jerusalem ist ein solches Zeugnis des Mitleben- er sich Antizionismus nennt, ist nicht ehrbar, er ist im Ge- wollens und der Solidarität« (142). genteil der unverlierbare Fleck auf der Ehr', den die zivili- Gerhart M. Riegner, Generalsekretär des Jüdischen Welt- sierte Menschheit trägt!« (84) kongresses, beschliesst die Diskussion mit seinem Beitrag In einer Nachschrift vom Juni 1977 spricht Am8ry nach »Weltjudentum, Zionismus und der Staat Israel« den Wahlen in Israel seine Befürchtung aus: »Obskuran- (144-155). Die Baseler Definition des >Zionismus< von ten und Zeloten triumphieren. Ich habe Angst vor der 1897 ist »ohne den Hintergrund der jahrhundertealten re- Entwicklung« (84). ligiösen Zionssehnsucht, die die Juden in ihrer Existenz Nahum Orland, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der durch ihr ganzes Exil begleitet . . ., in ihren Haltungen, Freien Universität Berlin, schreibt über »Zionismuskritik ihren Gebeten, ihren Liedern, ihren Sagen . . ., den perio- in Israel heute« (S. 86-101). Er erinnert an den Antizio- disch auftauchenden Zionsbewegungen« (144) unvollstän- nismus der extremen Orthodoxen, der Assimilanten und dig. Zionismus bedeutet die rechtliche, soziale, ökonomi- der linken jüdischen Kreise, der mehr der Vergangenheit sche, kulturelle und religiöse Wiedergeburt des Individu- angehört, und bringt die Kritik zweier zionistischer Per- ums wie auch des Volkes. Riegner fragt: Hat der Staat Is- sönlichkeiten, Dr. Nahum Goldmann und Lova (Arje und rael dieses Ziel verwirklicht? Das bisher Erreichte ist sehr nicht Benjamin) Eliav, die sich im Dienste des Zionismus eindrucksvoll, aber nach Riegner ist es verfrüht, »von Is- grosse Verdienste erworben haben. Ihre Kritik berührt rael als der zentralen schöpferischen Kraft im jüdischen das arabisch-israelische und soziale Problem. Leben« (147) zu sprechen. »Die Geschichte Palästinas und das Recht der Palästinen- Der Verlust von sechs Millionen Juden, die in der jüdi- ser auf ihre Heimat« von Nimer S. Haddad (S. 102-115), schen Tradition tief wurzelten und aktiv an der Verwirkli- Filmemacher in USA, fällt aus dem Rahmen des Dialogs. chung des Zionismus beteiligt waren, einerseits und die Seine These lässt sich kurz zusammenfassen: Die Zioni- Existenzkriege Israels andererseits haben die erhoffte Ent- sten haben nur kurze Zeit vor zweitausend Jahren in Palä- wicklung gehemmt und verzögert. stina gelebt, dort »keine Kultur und keine fortlaufende Riegner sieht das vielleicht schwerste Problem in der alten Geschichte« (102) hinterlassen, »die heiligen Schriften Kontroverse zwischen Herzl und Ahad Haam, in der falsch ausgelegt« (105), denn den Arabern gelte die Land- Sinn- und Zielsetzung des Staates. Soll Israel ein Staat wie verheissung. Haddad insistiert, dass die Araber Palästinas die anderen sein oder das geistig-kulturelle Zentrum des die Nachfahren der Phönizier, Kanaaniter und Philister ganzen Volkes? Die Antwort liegt in der künftigen Ent- sind (107). Haddads mangelhafte Geschichtskenntnis wicklung des Staates, die nicht unwesentlich von der Be- wird ersetzt von PLO-Propagandaklischees. Der Heraus- ziehung mit seinen Nachbarn beeinflusst ist. geber sollte erwägen, ob es bei einer künftigen Neuaufla- Die »Beiträge zur Diskussion« bieten dem Leser vielseitige ge dieses Buches nicht angebracht wäre, dem palästinensi- Einblicke in die Problematik und neues Material zum schen Volke durch einen sachlichen Beitrag einen besse- Thema Zionismus. Diese Veröffentlichung, trotz Wieder- ren Dienst zu erweisen. Hier ist nicht der Ort, die vielen holungen mancher Aspekte und bedauerlicher Ungenau- Geschichts- und Zitatfälschungen anzuführen. Es muss je- igkeiten, ist allen zu empfehlen, die wissen möchten, was doch erwähnt werden, dass nicht ein einziges Ben-Gu- Zionismus im jüdischen Selbstverständnis und in der Sicht rion-Zitat richtig ist! . von Kritikern ist. Dr. Yehiel Ilsar, Jerusalem Willehad Paul Eckert OP hat die aufschlussreichen »Streif- lichter auf die Geschichte des christlichen Zionismus« (S. Bibliographische Notizen 116-143) beigetragen. »Unter christlichem Zionismus ist zu verstehen das Eintreten für eine Rückkehr der Juden in BULLETIN DES LEO BAECK INSTITUTS. Nr. 60, ihr Land oder, anders ausgedrückt, in das Land der Vä- Jerusalem 1981. Jüdischer Verlag. 76 Seiten. ter«, inspiriert »von einer Hochachtung vor den Juden als D. Bankier liefert mit seinem Aufsatz »Otto Strasser und dem von Gott zuerst erwählten Volk« (120). Er hängt mit die Judenfrage« (S. 3 - 20) einen aufschlussreichen Beitrag der Erwartung der Endzeit zusammen, in welcher die Ju- zu einer differenzierenden Beurteilung des Antisemitis- den sich zum Christentum bekehren werden. Der utopisch mus in der NSDAP in den 20er und 30er Jahren. A. Drey- christliche Zionismus des späten 18. Jahrhunderts und der er widmet sich mit »Josef Kastein — schöpferische Jahre in bereits realistisch ausgerichtete des 19. Jahrhunderts dür- der Schweiz« (S. 21-50) dem Lebensabschnitt des Schrift- fen, nach Eckert, als »Wegbereiter« des politischen Zio- stellers Dr. Julius Katzenstein zwischen 1927 und 1935 in nismus angesehen werden. Wichtige Vertreter des christli- Ascona (-Moscia); hier entstanden neben anderen Wer- chen Zionismus, von Isaac de la Peyrere (1596 - 1676) bis ken vor allem seine — dem Einfluss M. Bubers wesentlich Charles Henry Churchill, dem britischen Konsul in Da- verdankten — Bücher über Sabbati Zewi, Uriel da Costa maskus während der Damaskusaffäre 1840, werden ein- und »Eine Geschichte der Juden«, die Anfang der 30er gehend gewürdigt, ebenso die Bemühungen einflussrei- Jahre bei E. Rowohlt herauskamen. Am Dichter Karl cher Männer, wie Lawrence Oliphante (1829-1888) und Beck (1817 in Baja, Ungarn, geboren, 1879 in Wien ge-

Reverend William Henry Hechler (1845 - 1931), ein Ver- storben) exemplifiziert R. Kestenberg-Gladstein »Identi- ehrer Herzls, dem er über den Grossherzog von Baden tätsprobleme der ersten Assimilationsgeneration in deut- die Begegnung mit Wilhelm II. vermittelte. scher Sprache« (S. 51-66). Einem Auszug aus Lea Gold- Die Begriffe Land, Verheissung, Gottes Volk in der Sicht bergs »Begegnung mit einem Dichter« (hebr.), Tel Aviv zeitgenössischer Theologen (Marquardt, Rendtorff, 1952, bei dem es sich um Abraham Sonne ( = Abraham Wirth) werden erörtert wie auch die Bedeutung Israels, ben Jizchak) handelt (5. 67-69), lässt R. Weltsch ein aus dem, im Sinne Franz Mussners, »ohne den Willen Gottes persönlicher Verbundenheit formuliertes Nachwort fol-

98 gen (S. 69-72). Schliesslich ist ein Auszug aus den unver- Familie verbunden war und mit wieviel zusätzlicher for- öffentlichten Memoiren »Fünfzig Jahre« von Yesheahu scherischer Präzision und persönlicher Zuneigung zu ein- Aviad (= Oscar Wolfsberg 1893-1957) abgedruckt (S. zelnen Menschen er dem Schicksal des ganzen Kreises 73-76); darin beschreibt er — immer im Blick auf die zio- nachgegangen ist, dabei weit in die deutsch-jüdische Ge- nistische Bewegung — den Unterricht am jüdischen Gym- schichte zurückgreifend. nasium seiner Heimatstadt Hamburg. Peter Fiedler Im übrigen enthält diese neueste Ausgabe der (von 1957 bis 1978 von Dr. Hans Tramer s.A. geleiteten und neuer- DASS.: 25 JAHRE'/< * 6/1982, hg. von Joseph Walk / dings von Professor Joseph Walk und Daniel Chil Bre- Daniel Chil Brecher, Jerusalem. Königstein/Taunus. Jüdi- cher, Jerusalem, herausgegebenen) deutschsprachigen Zeit- scher Verlag. 94 Seiten. schrift des Baeck-Instituts Aufsätze über »Achad Ha'am Der im vergangenen Februar [1982] heimgegangene Pro- und der deutsche Zionismus« (von Professor Jehuda Rein- fessor Gerschom Scholem' konnte noch kurz vor seinem harz, Michigan) und über »Lion Feuchtwanger und das Tode eine kleine Studie abschliessen, die den Ahnen und Judentum« (von Dr. Arie Wolf, Jerusalem). Mit diesem in- Verwandten seines guten Freundes Walter Benjamin gilt. teressanten Heft kann das »Bulletin« auf sein 25jähriges Der Artikel, möglicherweise Scholems letzter, steht im Bestehen zurückblicken. Dr. E. G. Lowenthal, Berlin Mittelpunkt des neuesten Bulletin-Heftes des Leo- Baeck-Instituts. Er stützt sich auf Notizen, die sich Scho- lem über Jahre hinweg über die Vorfahren und Angehöri- JUDAICA. Beiträge zum Verständnis des jüdischen gen seines Jugendfreundes, des 1890 in Berlin geborenen Schicksals in Vergangenheit und Gegenwart. Herausgege- Literaturhistorikers und Kulturphilosophen, der sich 1940 ben im Auftrag der Stiftung für Kirche und Judentum, Ba- auf der Flucht vor den ihn verfolgenden Nazis in Port sel. 38. Jg., Heft 1, März 1982. Bou/Py'renäen das Leben nahm, gemacht hat. Dieses Heft hat nach der endgültigen Streichung der frü- Die Untersuchung über Benjamins väterliche und mütter- heren Bezeichnung der Stiftung, »Schweizerische Evange- liche Familie sowie über andere Verwandte ist auch so- lische Judenmission«, im Oktober 1981 programmatische zial- und kulturhistorisch besonders aufschlussreich, ob- Bedeutung, wie es Pfr. M. Cunz im Vorwort unter dem wohl der Verfasser von sich aus einschränkend betont, er Titel »Abschied von der Judenmission« ausführt und wie habe »keine vollständige >Sippschaftstafel< im Sinne wis- es die vier Aufsätze jeweils auf eigentümliche Art belegen. senschaftlicher Genealogie« liefern können. Dennoch: Als »Bestandsaufnahme und Ausblick« versteht der Leiter was immer Scholem hier zu Papier gebracht hat, ist, wie des (dt.) »Evangel.-Luth. Zentralvereins für Mission unter nicht anders zu erwarten, sorgfältig und gründlich, das Israel«, Pastor A. H. Baumann, seinen Beitrag »Judenmis- heisst: so genau wie nur möglich. sion. Christliches Zeugnis unter Juden« (S. 3-13). Er wen- Benjamins väterliche Familie stammte aus dem Rheini- det sich, gerade auch angesichts des Holocausts, gegen schen, etwa aus dem Gebiet zwischen Niederrhein und pauschale Disqualifizierungen. Unverzichtbar ist für ihn: Ruhr (Schermbeck, Jülich, Düsseldorf, Essen, Siegburg, »Das Bekenntnis zu Jesus Christus« als »das Herzstück Köln) und lässt sich mindestens bis in den Beginn des 18. christlichen Glaubens . . . muss unbedingt — ohne Wenn Jahrhunderts zurückverfolgen; da gibt es manche Quer- und Aber — ausgesprochen werden können. Keinesfalls verbindungen zu anderen Familien, zum Beispiel der von darf es aber aus einem unbedingten und >absoluten< Be- Heinrich Heine. Benjamins Mutter war eine geborene kenntnis in einen Absolutheitsanspruch der Kirche und Schoenflies (Berlin 1869-1930). Ihre Familie kam im we- des Christentums umgewandelt werden« (5. 12). So be- sentlichen aus Schwerin an der Warthe und aus Pyritz/ &reift man, das E. L. Ehrlich in seiner Antwort, deren Pommern. Scholem erwähnt in diesem Zusammenhang Uberschrift das Vorwort aufgenommen hat, seinen Ge- u.a. die heute noch zumindest dem Namen nach bekannt sprächspartner einen »Baal Teschuwa« und seinen Aufsatz gebliebene Antiquarsfamilie Stargardt, wie überhaupt der »ein menschlich so überzeugendes Dokument« nennt (S. ganze Aufsatz mit einer Fülle von Namen, Personen- 14). Ehrlichs von erfrischender Deutlichkeit diktierte Aus- schicksalen und Berufszugehörigkeiten aufwartet. Das gilt führungen (bis S. 23) zielen denn auch eindeutig auf die auch und insbesondere für die übrigen Anverwandten, vor >höhere< Ebene von Theologie und Kirche(n) als Institu- allem für einen Bruder, den Arzt Georg Benjamin (Berlin tion(en). Ob dort aber seine Feststellung akzeptiert wird: 1895 — Konzentrationslager Mauthausen 1942), der 1926 »Christliche Existenz im Sinne des Jesus von Nazareth ist die nichtjüdische Juristin Hilde Lange heiratete (in den das einzige Zeugnis, das Juden von Christen überhaupt zu Jahren 1945/67 gefürchtete DDR-Staatsanwältin und erkennen bereit und in der Lage sind« (S. 17)? In ähnli- Justizministerin) und für seine Schwester Dora cher Weise >Klartext< schreiben dann die beiden Ordens- (1901-1946), aber auch für zahlreiche Vettern und Kusi- leute Oswald Daniel Rufeisen und Georges Passelecq. Der nen väterlicher- und mütterlicherseits, zum Teil bekannte erste überlegt aus persönlicher Betroffenheit die Frage Persönlichkeiten im deutschen Kultur- und Wirtschaftsle- »Kann ein Jude in der Kirche seine Identität wahren ?« (S. ben der letzten 100-150 Jahre. Dazu gehört beispielsweise 24-31). Wie die Antwort zeigt, die seinen eigenen Weg die 1943 in Auschwitz umgekommene Dichterin Gertrud bestimmt, muss die Frage freilich umgedreht werden: »Ei- Kolmar (-Chodziesner2). Zusammen mit Scholems rund ne zukünftige Kirche von Judenchristen in Israel wird 50 kenntnisreichen, ergänzenden und erklärenden An- zwar eins sein mit der Weltkirche, aber sie wird mit ihrer merkungen wird diese Fülle von Details zu einer Fund- eigenen Lunge atmen, um so allen anderen Kirchen .. . grube nicht bloss für Familienforscher. Man merkt dem erst wieder einmal das Atmen beizubringen.« Deshalb sei- Autor an, wie innig er mit Walter Benjamin und dessen ne Forderung: Bei der Rückbesinnung auf die anfängliche Mutterkirche in Jerusalem, einer »Rückschau, die um der Zukunft der Kirche willen geschehen soll, kann es .. . * S. o., entnommen mit freundlicher Genehmigung von Dr. E. G. Lo- wenthal und dem Herausgeber des >Mitteilungsblatt (MB). Wochenzei- nicht darum gehen, alles, was >darnach< gekommen ist, zu tung des Irgun Olej Merkas Europa<, (50/27), Tel-Aviv, 16. 7. 1982. ignorieren oder gar durchzustreichen, sondern es muss ** Vgl. dazu: E. G. Lowenthal: Juden in Preussen. Ein biographisches ein Lernprozess in Gang kommen, der die späteren Ent- Verzeichnis, s. o. S. 76 f. wicklungen in der Kirche als Inkulturationsvorgang inter- Vgl. o. S. 19. 2 Vgl. dazu in FrRu XIII (Juni 1961), S. 106, u. a.: Gertrud Kolmar: Das pretiert« (S. 29). Der belgische Benediktiner beginnt seine lyrische Werk, a. 0. XXXI/1979, S. 137: Eine jüdische Mutter. »Anmerkungen zu zeitgenössischen judenchristlichen Be-

99 wegungen« (S. 32-46) mit einem geschichtlichen Rück- als Israel auszuzeichnende Besonderheit wurde es wahr- blick und geht dann auf die Bewegung »Juden für Jesus« scheinlich vom Herrenbruder Jakobus und anderen Ju- in den USA als ein Beispiel für die nachwachsenden »Hy- denchristen am Apostelkonzil vertreten, die entweder die draköpfe der Bekehrungssucht« ein (S. 38). Das theologi- volle Einbeziehung der Heidenchristen ins Gottesvolk Is- sche Fazit ist höchst beachtlich: »Die fundamentalistische rael verlangten (so z. B. die Judaisten in Galatien) oder Ideologie ist eine ständige Versuchung für den von der >gesetzesfreie< Heidenmission im Namen Jesu in ähnlicher Theologie formulierten Glauben. Das Ausruhen auf der Weise bejahten wie fromme Juden die Existenz von soge- Irrtumslosigkeit der Schrift (und auf der Unfehlbarkeit nannten >Gottesfürchtigen<, gleichsam als äusseren Kreis der Kirche und des Papstes), bei gleichzeitiger Verwer- des einen Gottesvolkes . . .«. Gegenüber der Rheinischen fung jeglichen Rechtes des Verstandes, ist eine beunruhi- Eklektik bestehe das Bonner Papier »im wesentlichen dar- gende Angelegenheit« (S. 45 f.). Dieses Heft versagt ei- in, neutestamentliche Aussagen auszubreiten, die in den nem das Ausruhen. Peter Fiedler, Freiburg i. Br. Dokumenten der Rheinländischen Kirche >vergessen< worden sind«. Luz umschreibt die gestellte Aufgabe fol- ULRICH LUZ : Zur Erneuerung des Verhältnisses von gendermassen: »In einer kritischen Reflexion unserer gan- Christen und Juden — Bemerkungen zur Diskussion über zen Tradition in der Situation nach dem Holocaust, die die Rheinländer Synodalbeschlüsse. mit dem Neuen Testament beginnen muss, und im Ver- CLEMENS THOMA: Beschluss 37 der Evangelischen such, sie im Lichte des Zentrums der neutestamentlichen Kirche im Rheinland: Fortschritt und neue Fragen. In: Ju- Botschaft neu zu überdenken, darin müsste ein christli- daica (37/4) Basel, 12/1981, S. 195-211 und 212-219. cher Beitrag zur Erneuerung des Verhältnisses von Chri- Die im Auftrag der Stiftung für Kirche und Judentum sten und Juden bestehen, der die hier liegende christliche durch K. Hruby als verantwortlichem Redakteur heraus- Schuld wirklich ernst nimmt«. III. Nach der begründeten gegebene und hinfort stärker thematisch gestaltete Zeit- Ablehnung der radikalen Forderungen von R. Ruether schrift >Judaica< soll durch die erwähnten Beiträge eines deutet Luz andere »Denkmöglichkeiten« an, wobei er sich evangelischen und katholischen Theologen zur sachge- Paulus als dem einzigen neutestamentlichen Theologen mässen Diskussion um den Rheinischen »Synodalbe- zuwendet, »der über das ungläubige Israel nicht endgültig schluss zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen den Stab gebrochen hat«, sondern »mit einer endzeitli- und Juden« vom 11.1.1980 beitragen, durch den u. a. die chen Rettung von Ganz-Israel durch seine Verhärtung »Thesen zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen hindurch« rechnet, » und zwar durch den von Zion kom- und Juden« entgegengenommen wurden. Zunächst wer- menden Parusiechristus«. Nach Luz macht »die Argumen- den hier die Ausführungen der beiden schweizerischen tation . . . in Röm 9-11 . . . deutlich, dass die Schlussthese Autoren möglichst durch Zitate skizziert und dann kurz des Paulus von der Rettung Ganz-Israels . . . für ihn keine gewürdigt. direkte Konsequenz aus seinem alttestamentlich-jüdischen Luz berücksichtigt die von 13 Bonner Professoren unter- Glauben ist, sondern eine Konsequenz aus seiner Christo- zeichneten »Erwägungen zur kirchlichen Handreichung logie, genauer, aus seiner Rechtfertigungstheologie .. . zur Erneuerung des Verhältnisses von Christen und Ju- Diese Konsequenz ist so wunderbar und dem Menschen den«. Er bedauert nicht nur, dass die Diskussion »manch- von sich selbst aus so unmöglich, dass sie Paulus nicht an- mal in einen betrüblichen theologischen Kahlschlag aus- ders als in Gestalt eines >Geheimnisses< ziehen kann .. . zuarten droht«, sondern möchte — »weil es beim Dialog Die paulinische Christologie bietet also einen Ansatz, mit Israel um ein fundamentales Problem christlichen Gottes Absolutheit von menschlicher Absolutheit zu un- Glaubens geht« — zur Verständigung unter den christli- terscheiden und zu verhindern, dass Christen jetzt schon chen Gesprächspartnern in drei Schritten beitragen. I. Luz im Namen des Menschensohnes eschatologische Urteile teilt einerseits die Bedenken, dass das Holocaust (Thoma dekretieren . . . Hier müsste m. E. eine christologische Re- gebraucht den Begriff korrekt im Neutrum) und der Staat flexion einsetzen, die die Skylla eines christlich-triumpha- Israel im Sinne der »Wiederauflage der These von der listischen Absolutismus und die Charybdis einer eigen- theologischen Relevanz der >geschichtlichen Stunde<« ge- mächtigen Wahl von Paradigmen (Luz denkt hierbei an wertet werden, wobei ihm die Synodalaussage, dass »die R. Ruether) durch den Menschen vermeiden will.« Errichtung des Staates Israel Zeichen der Treue Gottes Während die Ausführungen von Luz stärker neutesta- gegenüber seinem Volk« sei, »noch zu direkt, zu undia- mentlich-hermeneutisch bestimmt sind, sind die von Tho- lektisch zu sein scheint«, plädiert aber andererseits dafür, ma eher ekklesiologisch; auch ein empfindsamer Prote- »die Grundintention der These des Ausschusses über das stant tut gut daran, darauf zu hören, zumal sich der Ver- Verhältnis von Christen und Juden nach dem Holocaust, fasser »als befreundeter Mitchrist jener, welche die Hand- betroffen von menschlicher Schuld und getragen von gött- reichung 39 verfasst haben«, sehr um »katholische Fair- licher Vergebung, und in diesem Sinn gerade nicht unge- ness« bemüht, die wohl auch innerkatholische Kritik ent- schichtlich nachzudenken« ernst zu nehmen. II. Ausge- hält. Gewiss sind »konfessionalistisches Denken und Ver- hend von der nicht genauer umschriebenen Aussage über halten . . . in christlich-jüdischen Fragen absurd«, den- die »Mitverantwortung und Schuld der Christen in noch gibt es m. E. zwar »getrennte«, aber doch auf Grund Deutschland am Holocaust« und der Bonner Feststellung, der Traditionen eine differenzierte katholisch-jüdische, dass »die nationalsozialistische Ideologie . . . ebenso offen griechisch-orthodox-jüdische Problematik, wobei die pro- unchristlich und antichristlich wie antijüdisch« war, for- testantisch-jüdische Problematik bei den Lutheranern et- dert Luz eine umfassende Aufarbeitung des Antijudaismus was anders liegt als bei den Reformierten usw. Dies dürfte im Christentum. In der Geschichte habe jüdisches Nein zu bis zu einem gewissen Grad auch für die Trinitätslehre Jesus Christus immer wieder Antijudaismus zur Folge ge- gelten, auf die Thoma mit Recht am Ende seiner Ausfüh- habt. Weder die Rheinische Synode noch das Bonner Pa- rungen hinweist: »Das christlich-jüdische Gespräch darf pier seien exegetisch und hermeneutisch weit genug ge- jedoch nicht nur in der von der Rheinischen Landessyn- gangen. Beachtenswert sind die Hinweise auf Stellen wie ode geprägten Tendenz fortgeführt werden. Die tiefsit- 2 Kor 3, Apg 28, Mt 21-24, Eph 2 und die Feststellung: zendste Frage zwischen Christen und Juden ist jene nach »Das vom Ausschuss vertretene Denkmodell des einen der Einzigkeit Gottes. Wir bekennen ja den dreifaltigen Gottesvolkes . . . ist zwar auch ein neutestamentliches Gott als identisch mit dem einzigen Gott Israels . . . Je- Denkmodell. Konsequent und ohne Preisgabe der Tora dem Aussenstehenden — insbesondere dem Juden und

100 Moslem — müssen aber bestimmte, nicht von Feingefühl praktisch nicht auskommt, geht es schliesslich um den Ka- und geistigem Eindringen zeugende Aussagen in Theolo- non im Kanon. Dieser kann christologisch bestimmt wer- gie, Liturgie und Volksfrömmigkeit annähernd trithei- den. Kann man eine breitere, vielleicht sogar jüdisch- stisch erscheinen«. In bezug auf den Rheinischen Synodal- christliche, aber deswegen nicht unchristologische Basis beschluss und die Thesen wünscht Thoma eine genauere gewinnen, wenn man (mit Paulus) in der Liebe die Fülle Umschreibung von »Mitverantwortung und Schuld«; er (pleroma) der Tora sieht (Röm 13, 10)? Damit wäre die beanstandet, dass die »judenmordenden Gefolgsleute Hit- gebotene und durch Gott ermöglichte Liebe ein herme- lers« als »Erben des Christentums« bezeichnet werden, neutisches Kriterium im Hinblick auf das Alte und das zumal »Erbe« ein theologisch-heilsgeschichtlicher Begriff Neue Testament. Im Anschluss an Thoma könnte man ist. Wohl ist Thoma »mit der Landessynode der gläubigen darauf hinweisen, dass sich im christlichen Bereich eine Auffassung, dass die Treue Gottes im Staat Israel zum Entsakralisierung — durchaus im Einklang mit der königs- zeichenhaften Ausdruck kommt«, dennoch übt er Kritik kritischen Tendenz im Alten Testament — durchsetzt; es an der Terminologie des Beschlusses, der »die Errichtung wäre ein unbiblischer Anachronismus, durch eine ver- des Staates Israel« als »Zeichen der Treue Gottes« wertet, meintliche heilsgeschichtliche Einordnung den demokrati- indem er u.a. schreibt: »Um der heilsgeschichtlichen Miss- schen Staat Israel zu sakralisieren und dadurch womög- deutung entgegenzuwirken und um auch nicht Vorschub lich Kompromisse zum Frieden zu verhindern. Wenn der für weitere Überhöhungen von angestrebten politischen Rheinische Beschluss Jesus als den »Messias Israels« be- Gebilden durch andere Gruppen im Nahen Osten . . . zu kennt, so ist dies ein geradezu missionarisches Zeugnis. Es leisten, wäre es für die Synode wohl besser gewesen, >die wäre besser, sich zu fragen, wie dieses Zeugnis den Juden Errichtung des Staates Israel< nicht explicite in den Text gegenüber wahrzunehmen ist, als von scheinbarer »Absa- hinein zu nehmen. Sie hätte ja statt dessen sagen können, ge an die Judenmission« zu reden. Vielleicht gehören die neben der fortdauernden Existenz und der Heimkehr die- Art und Weise des Austragens innerchristlicher Differen- ses Volkes sei auch das erneute Leben dieses Volkes im zen auch zum kirchlichen »Zeugnis dem jüdischen Volk Land Israel ein Zeichen der Treue Gottes. Das >Land Isra- gegenüber«. Herbert Schmid, Kaiserslautern el< ist ja ein weit stärker im religiös-biblischen Bereich ver- wurzelter Begriff als der Staat Israel. Wir dürfen nicht WOLFGANG SCHEFFLER: Vor 40 Jahren: »Endlösung vergessen, dass politische, humanitäre und religiös-natio- der Judenfrage«. Programm zur Ausrottung. In: »Das nale Anliegen des Staates Israel durch (heilsgeschichtli- Parlament« (23/31), Bonn, 20. 1. 1982 (s. o. S. 26-28). che) Ideologien u. U. vertuscht werden können. Realpoli- tische Möglichkeiten zu Kompromissen können dadurch JOSEPH WALK (Hrsg.) 1 : Das Sonderrecht für die Juden verpasst werden.« Weiter moniert Thoma die Entgegen- im NS-Staat. Eine Sammlung der gesetzlichen Massnah- setzung von »Zeugnis« und »Mission« im Synodalbe- men und Richtlinien — Inhalt und Bedeutung. Unter Mit- schluss und schreibt: »Die Formulierung: >darum sind wir arbeit von Daniel Chil Brecher, Bracha Freundlich, Yoram überzeugt, dass die Kirche ihr Zeugnis dem jüdischen Konrad Jacoby und Hans Isaak Weiss mit Beiträgen von Volk gegenüber nicht wie ihr Zeugnis an die Völkerwelt Robert M. W. Kempner, einem Geleitwort von Jürgen wahrnehmen kann<, hätte viel falschen Zungenschlag bei Schmude und einem Nachwort von Adalbert Rückerl. Hei- Gegnern erst gar nicht aufkommen lassen. In christlichen delberg—Karlsruhe 1981. Verlag C. F. Müller. XVII, 452 Aussagen über das Judentum muss man sich davor hüten, Seiten. sich in eine unnötige Parteilichkeit zwischen Juden und Adalbert Rückerl, abgeordnet 1961 zur und seit 1. 9. 1966 etwa den Völkern der Dritten Welt hineinmanövrieren zu Leiter der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen lassen . . . Man darf sich von Gesprächspartnern.. . nicht in Ludwigsburg und leitender Oberstaatsanwalt, in seinem dazu verleiten lassen, einer christlichen Aufgabe und dem namentlich lesenswerten Nachwort zu dem Werk: damit zusammenhängenden Begriff in einem kirchlichen »Was hat man eigentlich seinerzeit gewusst? Was konnte Dokument einen negativen Sinn zu unterlegen.« Hinsicht- man wissen? Wovor hat man damals bewusst oder unbe- lich der Forderung des gemeinsamen Lesens der Heiligen wusst die Augen verschlossen? Das Buch ist geeignet, al- Schrift durch Christen und Juden gibt Thoma u. a. zu be- len jenen w eiterzuhelfen, die sich ernsthaft um eine Be- denken: »Weite Teile des Judentums konservativer und antwortung solcher Fragen bemühen . . . Es zeigt, dass orthodoxer Richtung betrachten die Bibelinterpretation sich der Leidensweg dieser Menschen bis hin vor die Tore und ihre Anwendung, wie sie seit frührabbinischer Zeit in- der Vernichtungsstätten vor aller Augen abspielte . . .« nerhalb des Judentums gepflegt wird, als nicht mit Aus- (S. 408). wärtigen teilbaren Ausdruck jüdischer Identität . . . Der »Am 4. August 1981 übergab Dr. Joseph Walk, Direktor religiöse Jude unterscheide sich vom Christen dadurch, des Leo Baeck Institutes in Jerusalem, dem Bundesmini- dass er seinen Tanach in geistig-religiöser Gemeinsamkeit ster der Justiz, Dr. Jürgen Schmude, anlässlich einer Presse- mit den Grossen des Judentums . . . deute. Dadurch ge- konferenz das erste Exemplar dieser Dokumentation. Das winnt er Halt auch gegenüber den Christen, für die ja Werk enthält, genau und mühselig aus einer Fülle von Christus der (einzige) Lehrer sei. Nur mit grosser Vor- Material geborgen, das antijüdische Sonderrecht, soweit sicht könne daher Gesprächen mit Christen über den Ta- es schriftlich niedergelegt worden ist. Es zeigt mit einer nach zugestimmt werden.« geradezu erschreckenden Deutlichkeit und erstmalig Die kritischen Äusserungen von Luz und Thoma decken durch Aufzählung und Charakterisierung von Hunderten sich z. T. und ergänzen sich. Luz beanstandet mit Recht von antijüdischen Gesetzen, Verordnungen, Erlassen und die Eklektik des Rheinischen Beschlusses in bezug auf Bi- Befehlen, dass die Massnahmen, mit denen man den Ju- belstellen, wendet sich aber dann selbst zur Überwindung den ihre Rechte als Staatsbürger, ihre Menschenrechte und biblisch bedingter Aporien »eklektisch« Röm 9-11 zu. Ist Menschenwürde und in letzter Konsequenz ihr Recht auf diese gute »Auswahl« situativ nur durch das Holocaust Leben abgesprochen hatte, weitgehend in aller Offenheit, bedingt? Hypothetisch könnte man dann meinen, dass et- in der Öffentlichkeit und im Namen der Öffentlichkeit wa christliche Minderheiten im Staate Israel, direkt unbe- getroffen wurden. Die umfassende Dokumentation führt lastet durch das Holocaust und konfrontiert mit Schwie- einerseits mit bestürzender Eindringlichkeit vor Augen, rigkeiten, eine andere situative Eklektik wählen könnten. Bei dem Problem des Prinzips der Eklektik, ohne die man 1 Vgl. o. S. 93, Anm. 1.

101 wie unter dem nationalsozialistischen Regime innerhalb Dr. K.empner beschliesst die von ihm beigesteuerte Einfüh- nur weniger Jahre — von oben her initiiert, gelenkt und rung und schreibt: überwacht — immer schneller und immer skr upelloser die »So gibt dieses Werk zum ersten Mal ein vollständiges Diffamierung, Entrechtung und Verfolgung der Juden bis Bild über die Struktur des amtlichen Apparates der Juden- hin zu deren physischer Vernichtung betrieben wurde. verfolgung bis zur Judenvernichtung. Die Bedeutung die- Andererseits macht sie deutlich, wie gross die Zahl derer ser Vorschriften ist um so schwerwiegender, als ihre Aus- war, welche die gegen die Juden getroffenen Massnah- wirkungen weder vor Gerichten noch in sonstiger Weise men kennen konnten oder sogar kennen mussten. Das mit Rechtsmitteln angefochten werden konnten — abgese- Buch leistet damit einen wertvollen Beitrag "zur zeitge- hen von seltenen Ausnahmen. schichtlichen Forschung und füllt eine auffällige Lücke in Das Buch füllt eine auffällige Lücke in der Literatur über der Literatur über den Holocaust. Seine weit darüber hin- den Holocaust. Es ist ein unentbehrlicher Lehrstoff nicht ausgreifende Bedeutung ist aber darin zu sehen, dass je- nur für Juristen und ein Muss für die Förderung der poli- der, der die aufgeführten Angaben gedanklich in die tischen Bildung.« Gertrud Luckner Wirklichkeit umzusetzen vermag, eindringlich ermahnt wird, dort ohne Zögern den Anfängen zu wehren, wo 2 Vgl. aus der »Presseinformation«. immer er die Menschenrechte bedroht sieht.« 2

17 Aus unserer Arbeit

I Altenwohnheim für NS-verfolgte Christen in Israel (Nahariyya)*

Zur Information für neue Leser sind folgende Abschnitte aus der vorher- gehenden Jahresfolge** wiedergegeben:

Das Altenwohnheim ist für aufgrund der Nürnberger Ge- setze Verfolgte nicht jüdischen Glaubens bestimmt. Es handelt sich dabei um nach Israel Eingewanderte des deutschen Kulturkreises aus den Ostblockländern. Meist sind dies katholische Frauen, die in der NS-Zeit jüdische Kinder und Männer, Letztüberlebende, retteten, mit ih- nen die Verfolgung durchstanden, nach dem Krieg die Geretteten heirateten und schliesslich mit ihnen nach Isra- Abb. 1: Links Frau B. aus Polen im Liegestuhl — daneben Frau P. el kamen'. Die meisten Bewohner des Heimes sind derzeit aus Rumänien, r.: Frau V. aus Bulgarien. über 90 Jahre altla. Nach langen, schweren Jahren haben sie endlich eine Geborgenheit in dem Heim gefunden und Platz frei, wenn er gerade gebraucht wird. Wieviel alte erstmals wieder ein eigenes Zimmer. Leute hier ihr Leben meistern, ohne jemanden um Hilfe Das Hause bietet 20 Insassen Heimat. Alle haben eine ge- zu bitten, zeigen einige Schicksale der Bewohner .. .« meinsame Vergangenheit während der Zeit der Verfol- (s. u. S. r. u. 103 f.). gung. Der Grundgedanke dieses Hauses ist: soviel Privat- Frau Hemker dankte allen Spendern in diesen Briefen, die initiative wie möglich und sowenig Hilfestellung als nö- mit ihren Spenden dem Heim damit so entscheidend ge- tig . . . holfen haben, und schreibt: »Mit Hilfe einer grosszügigen Frau Elisabeth Hemker, die für das Heim verantwortlich Spende der Stadt Bielefeld konnten wir unsere Schulden ist2a, schrieb vom 11. 5. und Juni 1982: »Seit dem Einzug bezahlen9. Wer je Schulden ohne ein festes Einkommen in das Heim am 1. 11. 19782b geht das Haus nun in das hatte, kann unsere Gefühle verstehen. Und mit den Spen- fünfte Jahr seines Bestehens, und die Sorge vieler Zeitge- den, die über das Treuhandkonto des Deutschen Caritas- nossen, »woher wollen sie die Bewohner nehmen, so viele verbandes eingehen (s. u. S. 104), konnten wir dringende Jahre seit Ende des Krieges«, war überflüssig. Es stehen Reparaturen und das beständige Defizit — das 1981 mo- Anwärter auf der Warteliste', und ab und zu wird ein natlich DM 1000,— betrug — decken. Unsere grosse Sorge ist der Heizkessel, der immer, wenn es gerade wirklich * Vgl. dazu: FrRu XXVII/1975, S. 147 ff., ibid.: XXVIII/1976, S. 137 kalt ist, streikt. Aber unser Herdfeuer im Wohnraum ret- f.; XXIX/1977, S. 159 f.; XXX/1978, S. 188 f.; XXXI/1979, S. 159 ff. tete uns vor der Kälte, und nach zwei Tagen hatten wir ** FrRu XXXI/1979, S. 159; XXXII/1980, S. 144 f. auch wieder warmes Wasser. Einer der Bewohner meinte : 'Zum Schicksal einer der Bewohnerinnen: Frau Y., geb. A., geb. 1900 in Polen, getauft r.-k., heiratete 1922 in Westpreussen, der Ehemann wurde »Solche Pannen erinnern uns daran, wie gut wir es ha- 1943 im Lager Warschau ermordet. Nach der Todeserklärung heiratete ben.« Dies zeigt die Stimmung im Haus, die ausgezeich- Frau Y. einen von ihr geretteten Juden, Einwanderung 1957 nach Israel. net ist, und dies bewährt sich in Krisensituationen, wie et- Verfolgung: Wegen Verstecks von Juden Hausdurchsuchungen, ihr Ehe- mann im Lager getötet, sie schwer misshandelt. Herr Y. starb vor weni- wa Beschuss [z. B. von der unweiten Grenze im Libanon], gen Jahren; Frau Y., völlig vereinsamt, fand Geborgenheit im Altenheim. wenn einer dem anderen hilfreich beisteht, das Haus nicht la Vgl. u. S. 103 r. u. verkommt, wenn das Personal wegen der kritischen Situ- S. FrRu XXXI/1979, S. 160, Abb. 1 u. 2. ation nicht kommen kann, usw. Zeitung und Radio sind 2a als Vorsitzende des israelischen Trägervereins. in solchen Tagen besonders wichtig. 2b ebd., XXX11978, S. 188. Auch Nachkommen in der wachsenden Gemeinde dieser Pflegekinder, In letzter Zeit haben wir auch einige Schwerbehinderte die im engen Kontakt mit den Pflegemüttern stehen, werden Anwärter. aufgenommen, die sich im Laufe der Zeit erholten und

102 wieder bewegungsfähig sind. Eines unserer Zimmer ist ständig mit Rekonvaleszenten belegt°. Wir kamen hier zu der Überzeugung, dass das ein wichtiger Service ist: nach einer Augenoperation, oder auch mit einem gebrochenen Arm, kann man sich nicht allein helfend. Wenn sie das Haus verlassen, können sie sich wieder selbst versorgen, und wenn sie dann für ständig kommen, ist dies nicht mehr eine so grosse Umstellung, denn sie kennen das Haus und die Lebensgewohnheiten. Zu einigen Schicksalen von in letzter Zeit neu Zugezoge- nen:4a Frau C. wohnte seit 30 Jahren in einem Dorf in der Nähe von Haifa, sie stammt aus Ungarn und wurde von einem ungarischen Karmeliter betreut. In der letzten Zeit verbarrikadierte sie sich in ihrem Häuschen und ging kaum noch aus. Die Altenpflegerin der Gemeinde lehnte sie ab: »Ich bin kein Sozialfall«, auch wollte sie nieman- den in ihrer Wohnung. Ich nahm sie einmal nach Naha- riyya mit, und sie wollte gleich im Heim bleiben. Aber bis alles geregelt war, verging einige Zeit, und sie bekam Zweifel, ob man sie noch aufnehmen würde: >Das Haus Abb. 2: Im Speisezimmer: in der Mitte die Heimleiterin (aus Rumä- ist zu schön für mich.< Als es dann soweit war und sie nien), rechts Frau N., wohnt in der Nähe, bringt täglich Rosen aus kaum persönliche Gegenstände hatte, erbot ich mich, ihr ihrem Garten und besorgt für Heimbewohner Einkäufe. bei der Übersiedlung zu helfen. Wir haben keine gemein- same Sprache und versuchen, uns unverbal zu verständi- Leben hätte sie früh aufstehen und bereit sein müssen. gen. Ihre Sachen hatte sie in einem Holzkoffer, als sie ihn Jetzt möchte sie gern im Morgenrock frühstücken. Dies mir gab, sagte sie: >Das ist das einzige, was von meinem liess sich einrichten, auch den anderen Heimbewohnern Mann in Auschwitz geblieben ist.< Ich wusste aber, dass gegenüber, denn jeder kann sich das Frühstück selber zu- ihr Mann vor einigen Jahren in Israel gestorben war. Spä- bereiten, nur macht kaum jemand davon Gebrauch. ter versuchte ich mit Hilfe unserer Heimmutter, der Sache Bei einem Belich in Bersheba bat mich die dortige Ge- auf den Grund zu kommen, und hörte: Frau C. war in er- meindeassisten un, mit ihr eine alte Dame in Dimona zu ster Ehe mit einem Juden verheiratet, der in Auschwitz besuchen. Der sich uns bietende Anblick wäre für eine umkam. Nach dem Krieg kam sie mit dem jüdischen Ehe- Filmkulisse gut gewesen: ein Riesengelände mit Bulldogs mann, den sie in zweiter Ehe geheiratet hatte, nach Israel. und Baukränen, und dazwischen ein kleines, halbes Haus, Sie hatte während des Krieges lange Zeit mit ihrem Mann die andere Hälfte war schon abgerissen. In dem verriegel- versteckt gelebt, und von Zeit zu Zeit verschanzt sie sich ten und verrammelten Haus lebte Frau D., eine ehemalige in ihrem Badezimmer. Krankenschwester, deren jüdischer Ehemann vor kurzem In der gleichen Woche bekamen wir eine andere Ungarin, gestorben war. Sie klagte uns ihr Leid, sie bekäme eine Frau K., direkt aus dem Krankenhaus. Wir boten ihr einen Abfindung, wenn sie das Haus verlässt. Aber diese reiche Platz als Rekonvaleszentin an für zwei Monate. Ich hatte nicht, um eine Wohnung zu kaufen. Ich schlug ihr den den Eindruck, dass sie dann wiederhergestellt sein würde Einzug in unser Heim vor. Sie wollte zwar noch bis zum und nach Hause zurückkehren könnte. Sie ist getauft, jü- Jahrestag ihres Mannes in Dimona bleiben, entschloss sich discher Herkunft, war mit einem Christen verheiratet. aber auf Zureden, mittlerweile umzusiedeln und dann nur Aber dies hat sie nicht vor der Verfolgung bewahrt. Ihr noch zum Jahrestag nach Dimona zu fahren. Sie ist nun Geist ist ganz klar und lebendig. Sie hat einen typischen seit einigen Monaten unsere Bewohnerin, und da sie pol- ungarischen Humor, aber ihre physischen Kräfte reichen nisch und hebräisch spricht und noch gut zu Fuss ist, be- gerade aus, um vom Zimmer zur Terrasse und zum Spei- gleitet sie oft andere in die Stadt zum Einkaufen. sesaal zu kommen. Von den Bewohnern sind zur Zeit (Juni 1982) fünf Polen, Frau A., eine Polin, deren erster Mann im Krieg gegen die drei Ungarn, zwei Deutsche, eine Bulgarin, eine Rumä- Deutschen fiel, sie rettete mehrere Juden, darunter zwei nin. Inzwischen sind weitere hinzugekommen. Die mei- Kinder, einen Jungen, für den sie aber nur Papiere als sten sind jetzt über 90 Jahre (vgl. o. S. 102). Mädchen haben konnte, und so lebte er vier Monate als Ilona. Bei einem Besuch in Israel — er lebt mit seiner Mut- Aus dem Leben der römisch-katholischen Gemeinde hebräi- ter in den USA — lernte ich ihn kennen. Ich kannte seine scher Sprache in Haifa Geschichte und fragte ihn danach. Er konnte sich noch an Frau Hemker schreibt: »Es ist mein zwanzigstes Jahr in sehr viel Einzelheiten erinnern und sagte mir: >Wenn man Israel, und wenn ich die Veränderungen im Laufe dieser in Gefahr ist, hört man auf, ein Kind zu sein, und be- zwanzig Jahre bedenke, so ist es fast unfassbar, was sich nimmt sich den Umständen entsprechend.< Einer der ge- im Laufe dieser Jahre alles verändert hat: die Beziehungen retteten Juden heiratete Frau A. nach dem Krieg, und sie Deutschland—Israel, Juden—Christen', sogar die Beziehun- kam mit ihm nach Israel. Sie hat ihn gepflegt, und nach gen zwischen arabisch und hebräisch sprechenden Chri- seinem Tod löste sie das Geschäft auf und kam ins Alten- sten'. Als ich am Gründonnerstag dieses Jahres (1982) bei wohnheim. Ihre einzige Bitte war, dass sie nicht zum Frühstück in den Speisesaal kommen brauche, ihr ganzes 5 Vgl. dazu ebd. XXVII/1975, S. 147, XXIX/1977, S. 159 f. (Ferienkolo- nie der hebräischsprechenden röm.-kath. Gemeinde Galiläa: eine solche Helfende Kräfte im Heim stehen auch durch eine ständige Einrichtung Ferienkolonie veranstaltet Elisabeth Hemker jährlich. — Text und Melo- zur Verfügung: dies ist jeweils eine Volontärin aus Deutschland, die zur die für die hl. Messe ist von Jochanan Elihai, Priester der Kleinen Brüder Überbrückung bis zur Erreichung eines Studienplatzes ein soziales Jahr Jesu von Foucauld, der später auch Text und Melodie in Arabisch im Heim absolviert, dabei Altenpflege erlernt, vormittags einen Kursus in schrieb'. Ich hatte die Freude, den Karsamstag 1981 in der Pfarrkirche Hebräisch besucht und nachmittags dem Heim zur Verfügung steht. Er- von Haifa mitzufeiern, als die arabische Gemeinde die Kirche in der für freute Eltern aus Deutschland kommen gelegentlich zu Besuch. sie reservierten Zeit auch mit für die hebräische Gemeinde zur Verfügung 4a S. o. S. 102. stellte.) (Anm. Gertrud Luckner).

103 einem arabisch-hebräischen Gottesdienst in der Pfarrkir- zwischen Deutschland und Israel gibt, ist es das Verdienst che in Haifa die Lesung aus dem Alten Testament über von Personen wie Frau Hemker und Institutionen wie die das Pessah (das Fest der Verwandlung") vortrug — in den des Gertrud-Luckner-Hauses, das ein Symbol ist für alle meisten arabischen Gemeinden werden nur Lesungen aus die Menschen, die in den dunkelsten Stunden unseres dem Neuen Testament gelesen —, war es in der Kirche Volkes Menschen gerettet haben, der eigenen Gefahr ganz still. Ich hatte den Eindruck, dass die Leute dies zum nicht achtend.« erstenmal wirklich hörten. Unsere Gemeinde entwickelt Frau Hemker schreibt: »Auf meine Bitte fand die Feier bei sich derart, dass es nicht mehr ausreicht, wenn man am uns im Heim statt. Ich hatte es geheimgehalten und die Sonntag nur in den Gottesdienst geht und dieMitglieder Mitarbeiter zum Empfang des Botschafters eingeladen. besucht oder dass diese sich gegenseitig besuchen. Beson- Die Überraschung war perfekt. Die Bewohner waren ders für die Kinder sind längere Zusammenkünfte drin- stolz, als ob ihnen diese Auszeichnung verliehen worden gend nötig. Aber der Raum in der Kirche ist dafür nicht wäre. Wir hatten die Tische auf der Veranda gedeckt, es geeignet. Es fehlt uns ein Gemeindezentrum und dafür an kam ein kühler Wind vom Meer auf, so dass wir unsere finanziellen Mitteln. Gäste mit Jacken und Schals versehen mussten, und dies Am Schawuotfest (dem sog. >Wochenfest<, zur Erinne- nach einem heissen Tag. rung der Übergabe der Gesetzestafeln an Moses am Si- Unsere Pläne für die Zukunft: ein Doppelzimmer in zwei nai6) veranstalteten wir in Haifa Gemeindetage, zu denen Einzelzimmer aufzuteilen, die angefangene Pergola im 60 auswärtige Teilnehmer kamen. Für Unterkunft hatten Garten zu überdecken, wenn wir Erlaubnis dazu bekom- wir gesorgt. Pater Dr. Elias Friedmann hielt zwei Vorträ- men, dringend brauchen wir einen Plattenspieler, wir ha- ge über den Karmel und Haifa. Ich selbst hatte ein Refe- ben Platten, aber keinen Apparat. [Solch ein Plattenspieler rat über den Begriff >Berg< in der Hl. Schrift. Die Euchari- wäre um so hilfreicher, weil in dem Haus mit 20 Personen stie feierten wir in Stella Maris (dem Karmelitenkloster sieben verschiedene Sprachen gesprochen werden: auf dem Karmel). Diejenigen, die gut zu Fuss waren, Deutsch, Polnisch, Russisch, Tschechisch, Ungarisch, Ru- machten eine Wanderung mit Pater Daniel, die anderen mänisch, Bulgarisch.] kümmerten sich um das Picknick. Am nächsten Tag be- Allen Spendern herzlichen Dank, und Sie können sicher suchten wir Muckrakka (die Stätte des Propheten Elias) sein, dass wir unser Talent gut verwalten.« an der Spitze des Karmel. Es war für viele seit Jahren ein Auch wir danken allen Spendern und Helfern von Herzen kleiner Urlaub mit reichlich Zeit für Gespräche, der Kar- und wären für weitere Hilfe ausserordentlich dankbar. Al- mel mit seiner Tradition ist ein geeigneter Ort für Medita- le Bewohner des Heimes sind keine Selbstzahler. Das tion'.« Heim ist nur auf die Sätze des israelischen Sozialministe- Inzwischen wurde Elisabeth Hemker das Bundesver- riums angewiesen. Deswegen dienen auch die über das dienstkreuz verliehens. Frau Hemker wünschte sich diese Treuhandkonto eingehenden Spenden dem entstehenden Verleihung im Kreise der Bewohner und der Mitarbeiter dauernden Defizit und dringenden, laufenden Reparatu- des Heimes. Die Bewohner, diese »Helden, denen nie- ren. mand ein Lied gesungen hat«, sollten teilhaben an dieser Ich wiederhole den Dank für alle Hilfe, die dem Alten- Ehrung. Der Botschafter der Bundesrepublik Deutschland wohnheim galt und gilt. in Israel, Niels Hansen, sagte in seiner Ansprache u. a.: Etwaige Schreiben erbitten wir an: »Wenn es heute, wenige Jahre nach den schrecklichen FREIBURGER RUNDBRIEF Geschehnissen der Vernichtung, normale Verhältnisse Postfach 420, D - 7800 Freiburg i. Br.

5a Zur Erinnerung an den Auszug aus Ägypten. Der Deutsche Caritasverband hat für das Altersheim ein 6 Dies ist in Israel auch ein Erntedankfest. Treuhandkonto errichtet. Spenden sind erbeten an: 7 Vgl. dazu Elisabeth Hemker: Kirche in der Verkündigung in Israel, in: FrRu XIX/1967, S. 61 f. Deutscher Caritasverband, 7800 Freiburg i. Br. 8 Der Wortlaut der Urkunde lautet: »In Anerkennung um Volk und Staat Postscheckkonto Karlsruhe Nr. 7926 - 755 erworbene besondere Verdienste, wurde Frau Elisabeth Hemker, Haifa/ Israel, am 18. Mai 1982 im Altenwohnheim Gertrud Luckner in Naha- riyya durch den Botschafter der Bundesrepublik Deutschland, Niels Han- Mit Vermerk: ALTERSHEIM ISRAEL sen, das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen.« Die grösste hebrä- ische Abendzeitung, »Jedioth Achronot«, schrieb u. a.: »... Frau Hemker Gertrud Luckner erhielt ihre Ausbildung 1951-1953 im Seminar für Seelsorgehilfe Ilben- stadt, Oberhessen. Nach Diözesan-Erfahrungen in Seelsorgebezirken ar- beitete sie 1955-1962 in Lünen, St. Marien. An Silvester 1960 begegnete In diesem Zusammenhang sei mein wiederholter, allerherzlichster Dank sie anlässlich einer Seminartagung Gertrud Luckner bei einem Vortrag zum Ausdruck gebracht auch für eine grossherzige Spende der Stadt über Israel, das war der Anstoss, für 11/2 Jahre nach Israel zu gehen. Hier Freiburg anlässlich meines 80jährigen Geburtstages, speziell für die Be- sollte sie auch eine Studie über die Situation der jüdisch-christlichen Mi- treuung der Bewohner des Altenheims, diesen und mir zur Freude. Auch schehen erstellen. Nach Erhalt des Visums zur Einreise im April 1962, hat es die Heimbewohner und mich sehr erfreut, dass eine Gruppe von zur Zeit des Eichmann-Prozesses, und einem Hebräisch-Kurs in einem Freiburger Kommunalpolitikern trotz ihres gedrängten Programms auf Kibbuz in Obergaliläa, wo sie zum erstenmal Überlebenden der KZ als ihrer Informationsreise durch Israel (auf ihre eigenen Kosten) eine Be- Deutsche gegenüberstand, begann sie ihre Arbeit in der hebräisch-katho- suchsstation im Altenheim in Nahariyya ermöglichten'". Oberbürgermei- lischen Gemeinde als Pastoralassistentin. Sie ist den hebräischen Christen ster Dr. Keidel übergab in Jerusalem die Nachbildung der David-Skulp- bekannt als jemand, der ihre Interessen vertritt, den israelischen Behör- tur vom Freiburger Münster für das Kulturzentrum an Jerusalems Bür- den als geschätzte Fachkraft, viele Deutsche begegnen ihr hier bei Vor- germeister Teddy Kollek. Kollek sagte bei einem Empfang, den er zu trägen. Um ihre fachliche Qualität für die Errichtung des Altenwohn- Ehren der Delegation aus Freiburg gab, dass die Skulptur als Gruss des heims zu erwerben, machte sie eine 2jährige Zusatzausbildung für Geron- christlichen Abendlandes an die geistige Hauptstadt des biblischen Hei- tologie an der Universität Haifa.« matlandes verstanden werde. Die Freiburger Kommunalpolitiker infor- In dem Interview mit »Jedioth Achronot« sagte sie u. a.: »Während des mierten sich in erster Linie über die kommunalen Probleme der Städte in Is- 2. Weltkrieges war ich ein Kind, aber dennoch fühle ich die volle Verant- rael ... >Jede persönliche Begegnung Deutscher mit dem jetzigen Staat wortung für die Taten des deutschen Volkes in diesen schwarzen Jahren. Israel ist wichtiger als jede Wiedergutmachung mit Geld<, erklärte ein Unter keinen Umständen habe ich diese Verantwortung je abgeschüttelt. Sprecher der Stadt Tel Aviv den Freiburgern beim Abschied. Der Israel- Wenn man mir nach 20jähriger Arbeit in Israel das Bundesverdienstkreuz Aufenthalt, an dem auch der Vorsitzende der Israelitischen Gemeinde in verleiht ..., ist es sicher nicht nur für meine Arbeit in Israel und die Chri- Freiburg, Altmann, teilnahm, war nach Aussagen Stadtrat Jorzigs geeig- sten, die ich betreue sondern auch für meinen Beitrag zur Annäherung net, Vorurteile weiter abzubauen und Verständnis für die Lage Israels zu der beiden Völker, trotz der schmerzlichen Erinnerung an die Vernich- gewinnen. hdp./G. L. tung. Für mich war es eine Überraschung und brachte mich in Verlegen- 10 Aus: >Badische Zeitung> Nr. 84, Freiburg i. Br., 13. 4. 1982. Alle An- heit, aber ich freue mich über die Anerkennung.« merkungen d. Gertrud Luckner.

104 II »Eine Brücke über Abgründe der Offenheit und auch im Engagement von Jugend in Deutschland, die auch um Erkenntnis in diesem Lernpro- Geschichte« zess sucht'', ist zu hoffen, dass seine Auswirkung Schritte zur Einstellungsänderung bringt. Um dieser Erwägungen So stellte die »Badische Zeitung«* die »Freiburger Leitli- willen und im Gedenken an das Leid damals und die Op- nien zum Lernprozess Christen Juden«' vor. Sie weisen ei- fer bin ich über die den Lehr- und Lernprozess beinhal- nen neuen Weg und sind eine theologische und didakti- tenden >Leitlinien< sehr dankbar. Ich danke der Projekt- sche Grundlegung, die als Forschungsprojekt »Judentum gruppe des pädagogisch-katechetischen Seminars für die im katholischen Religionsunterricht« am Seminar für Päd- Freude, dass sie mir den Band der >Leitlinien< gewidmet agogik und Katechetik der Universität Freiburg vier Jahre hat.* Gertrud Luckner lang von einer Projektgruppe erarbeitet wurde. Die Bände * ebd. Nr. 205, Freiburg i. Br., 16. 11. 1981. erscheinen in einer Reihe »Lernprozess Christen Ju- ' Vgl. in FrRu XXXII/1980, S. 98 f. den«, herausgegeben von Günter Biemer und Ernst Lud- ebd. XXXI/1979, S. 110-112. wig Ehrlich. Die erarbeiteten Erkenntnisse sollten in Ein- S. o. S. 60. stellung und Auswirkung ihrem Thema gemäss auch um- Vgl. dazu u. a.: Eindrücke von Rabbiner Podet, Buffalo, beim Deut- schen Ev. Kirchentag, Hamburg 1981, s. o. S. 41 — in ähnlicher Weise bei gemünzt werden. Der erste Band bringt eine Bestandsauf- den Katholikentagen (vgl. o. S. 2, in Vorankündigung für FrRu XXXV/ nahme, eine Analyse über »Das Judentum im katholischen 1983). Religionsunterricht« 2 und zeigt, dass es sich in bezug auf Judenfeindschaft um eine jahrhundertealte abzutragende * * * Schuld handelt. Franz Mussner stellt feste, dass es sich da- bei um »eine glückliche >Fortschreibung< einer christlichen Wir freuen uns mitzuteilen, dass Herr Dr. Peter Fiedler, Theologie des Judentums und ihrer religionspädagogisch- Freiburg i. Br., Professor für katholische Theologie und didaktischen Applikationen handelt« 3. Der »Werkstätten- Religionspädagogik an der Pädagogischen Hochschule bericht« 3 (Lernprozess Christen Juden) stellt Band 3 vor, Lörrach bzw. Ludwigsburg, in den Herausgeberkreis ein- der zusammen mit Band 4 erscheint. Im Hinblick auf die getreten ist. G. L.

18 Systematische Übersicht über die Literaturhinweise Seite Seite Ia Bibel und Theologie B. Lang: Wie wird man Prophet in Israel? 64 M. Awerbuch: Chr.-jüd. Begegnung im Zeitalter d. Früh- U. Luz: Zur Erneuerung des Verhältnisses v. Christen u. Ju- scholastik [s. u. Ib, Ha] 84 den. Bemerk. üb. d. Rheinländer Synodalbeschlüsse [s. u. A. H. Baumann: Judenmission. Christliches Zeugnis unter Ha] 100 Juden in: »Judaica« (38/1), März 1982, S. 3-13 [s. u. Ha] 99 P. Maser: »Der Freund Israels«. — F. A. G. Tholuck u. d. Ju- A. Biesinger/G. Biemer/P. Fiedler (Hrsg.) mit K. H. Minz / denmission d. frühen 19. Jh. [s. u. Ib] 64 U. Reck: (Werkstättenbericht) Was Juden u. Judentum f. H. v. Mendelssohn: Jesus — Rebell oder Erlöser. D. Ge- Christen bedeuten. E. neue Verhältnisbesinnung zw. schichte d. frühen Christentums 64 Christen u. Juden. Lehr-Lerneinheiten f. die Sekundar- G. Passelecq OSB: Anmerkungen zu zeitgenössischen ju- stufen (Lernprozess Chr. Juden, Bd. 3) [s. u. Ib, Ha] 60 denchristlichen Bewegungen in: »Judaica« (38/1), März H. Bürkle: Missionstheologie 60 1982, S. 32-46 [s. u. IIa] 99 M. Chagall/K. Mayer: Der Gott der Väter. Das Chagall- J. J. Petuchowski/W Strolz (Hrsg.): Offenbarung im jüd.- Fenster zu St. Stephan in Mainz [s. u. Ib, Ha] 72 chr. Glaubensverständnis [s. u. Ib, Ha] 87 E. L. Ehrlich: Abschied v. d. Judenmission. Antwort an A. F. E. Reynolds/Th. M. Ludwig (Hrsg.): Transitions and Baumann in: »Judaica« (38/1), März 1982, S. 14-23 [s. u. Transformations in the History of Religions 65 99 Ib, Ha] R. Riesner: Jesus als Lehrer. Untersuchung d. Evangelien- 0. Eissfeldt: Kleine Schriften VI. Hrsg.: R. Sellheim / F. Überlieferung 66 61 Mass [s. u. Ib] J. Roloff Die Apg 66 J. A. Emerton (Hrsg.): Studies in the Historical Books of the 0. D. Rufeisen: Kann ein Jude in der Kirche seine Identität AT, Vol. XXX [s. u. Ib] 61 wahren? Zur Frage der Inkulturation des Christentums in K. E. Grözinger/N. Ilg/H. Lichtenberger/G. W. Nebe/H. Israel in: »Judaica« (38/1), März 1982, S. 24-31 [s. u. Ib, Pabst (Hrsg.): Qumran. Wege d. Forschung Bd. 410 [s. u. IIa, IV] 99 Ib] 73 G. Schlichting: Ein jüd. Leben Jesu. Die verschollene . Tole- M. Grotholtmann: Israels Prophetie erfüllt sich vor unseren dot-Jeschu-Fassung Tam u-muad. Einl., Text, Übers., Augen 61 Kommentar, Motivsynopse, Bibliogr. [s. u. Ib, Ha] 67 G. Hasenhüttl: Einführung in d. Gotteslehre 61 E. Schweizer: Das Evangelium nach Lk 69 H. H. Henrix (Hrsg.): Unter dem Bogen d. Bundes. Beitr. M. Theobald: Die überströmende Gnade 70 aus jüd. u. chr. Existenz [s. u. Ib, Ha] 85 C. Thoma: Beschluss 37 d. Ev. Kirche im Rheinland, Fort- Judaica. Beitr. z. Verständnis d. jüd. Schicksals (Abschied v. schritt u. neue Fragen, in: »Judaica« (37/4) [s. u. Ha] 100 d. Judenmission). Basel (38/1), März 1982 [s. u. IIa] 99 C. Thoma: Die theologischen Beziehungen zwischen Juden- R. Kastning-Olmesdahl: Die Juden u. d. Tod Jesu [s. u. Ib, tum u. Christentum [s. u. Ib, Ha] 88 Ha] 86 M. Weinrich: Der Wirklichkeit begegnen. Studien zu Buber H. Lamparter: In Gottes Schuld. Texte aus Mose 3 u. 4. Die [s. u. Ib] 81 Botschaft d. AT 62 E. Wiesel: Adam oder d. Geheimnis d. Anfangs. Brüderl. G. Lanczkowski: Einführung in d. Religionswissenschaft 62 Urgestalten [s. u. Ib, Ha] 82

105 Seite Seite F. E. Wilms: Freude vor Gott. Kult u. Fest in Israel [s. u. Ib] 70 Barbara Just-Dahlmann: Der Schöpfer der Welt wird es F. E. Wilms: Wunder im AT 71 wohl erlauben müssen. Jüd. Dichtung nach Auschwitz [s. u. III] [S. o. S. 32] 75 A. Wittstock: Toraliebe im jüd. Volk [s. u. Ib, Ha] 82 R. Kastning-Olmesdahl: Die Juden u. d. Tod Jesu [s. u. Ia, Ha] 86 W Katz: Ein jüd.-deutsches Leben 1904-1939-1978 75 J. Katzenstein: Sabbati Zewi 98 Ib Jüdische Geschichte und Judentum Ders.: Uriei da Costa 98 Ders.: Eine Geschichte der Juden, in: »Bulletin des Leo Baeck Instituts« Nr. 60, Jerusalem 1981, S. 21-50 98 Y. Aviad (0. Wolfsberg): Fünfzig Jahre. Auszug aus den unveröffentlichten Memoiren, in: »Bulletin des Leo R. Kestenberg-Gladstein: Identitätsprobleme der ersten Assi- Baeck Instituts« Nr. 60, Jerusalem 1981, S. 73-76 98 milationsgeneration in deutscher Sprache, in: »Bulletin des Leo Baeck Instituts« Nr. 60, Jerusalem 1981, S. 51-66 98 M. Awerbuch: Chr.-jüd. Begegnung im Zeitalter d. Früh- G. Kisch: scholastik [s. u. Ia, IIa] 84 Forschungen z. Rechts- u. Sozialgeschichte d. Mittelalters 76 D. Bankier: Otto Strasser und die Judenfrage, in: »Bulletin G. Kisch: Forschungen z. Rechts-, Wirtschafts- u. Sozialge- des Leo Baeck Instituts« Nr. 60, Jerusalem 1981, S. 3-20 98 schichte d. Juden 76 J. Beinharz: Achad Ha'am und der deutsche Zionismus, in: E. Laor (E. Landstein): »25 Jahre Bulletin des Leo Baeck Instituts« Nr. 62, Jeru- Ein Leben für Israel [s. u. III, IV] 96 salem-Königstein / Ts. 1982 [s. u. IV] 99 E. G. Lowenthal: Juden in Preussen 76 E. Bickerman: Studies in Jewish-Christian History II (9) 71 J. Maier/P. Scher: Kleines Lexikon d. Judentums 77 A. Biesinger/G. Biemer/P. Fiedler (Hrsg.) mit K. H. Minz/ P. Maser: »Der Freund Israels« — F. A. G. Tholuck u. d. Ju- U Reck: (Werkstättenbericht) Was Juden u. Judentum f. denmission d. frühen 19. Jh. [s. u. Ia] 64 Christen bedeuten. E. neue Verhältnisbesinnung zw. Mendelssohn-Studien. Beitr. z. neueren dt. Kultur- u. Wirt- Christen u. Juden. Lehr-Lerneinheiten f. die Sekundar- schaftsgeschichte Bd. 3, 1979 — Bd 4: Z. 250. Geburtstag stufen (Lernprozess Chr. Juden, Bd. 3) [s. u. Ia, IIa] 60 von Moses Mendelssohn, 1979 77 M. Buber: Begegnung. Autobiograph. Fragmente mit e. 1 J. Petuchowski/W. Strolz (Hrsg.): Offenbarung im jüd.- Nachwort A. Goes [s. u. IIa] 72 chr. Glaubensverständnis [s. u. Ia, IIa] 87 Bulletin Leo Baeck Institute, Nr. 60, Jerusalem 1981 98 L. Poliakov: Geschichte d. Antisemitismus, Bd. I-IV. »25 Jahre Bulletin des Leo Baeck Instituts« (62/1982) 99 Bd. I: V. d. Antike bis z. d. Kreuzzügen. Bd. II: D. Zeit- alter d. Verteufelung u. d. Ghettos. Bd. III: Religiöse u. A. Bygott: Wege Israels. Ein Modell f. d. Rel.unterricht i. d. soz. Toleranz unter d. Islam. Mit: D. Juden im Kirchen- Klassen 9-11 [s. u. Ha, IV] 85 staat. Bd. IV: Die Marranen im Schatten d. Inquisition. M. Chagall/K. Mayer: Der Gott der Väter. Das Chagall- Mit: D. Morisken u. ihre Vertreibung [s. u. III] 78 Fenster zu St. Stephan in Mainz [s. u. Ia, IIa] 72 L. Rosenthal: Wie war es möglich? Gesch. d. Judenverfol- Willy Israel Cohn: Als Jude in Breslau — 1941. Aus Tagebü- gungen in Deutschl. v. d. Frühzeit b. 1933, als Vorläufer chern d. Studienrats a. D. Dr. Willy Israel Cohn [s. u. III] 88 v. Hitlers Endlösung d. Judenfrage. E. Beim z. Klärung d. Kollektivschuld-Probl. [s. u. III] 93 Joseph Dan/Frank Talmage (Hrsg.): Studies in Jewish Mysti- cism 72 B. Rübenach (Hrsg.): Begegnungen mit d. Judentum [s. u. IIa, III, IV] J. David: Ein Stück Himmel. Erinnerungen an eine Kind- 78 heit [s. u. III] 89 0. D. Rufeisen: Kann ein Jude in der Kirche seine Identität Dies.: Ein Stück Erde. Das Ende einer Kindheit [s. u. III] 89 wahren? Zur Frage der Inkulturation des Christentums in Israel, in: »Judaica« (38/1), März 1982, S. 24-31 [s. u. Ia, A. Dreyer: Josef Kastein — schöpferische Jahre in der IIa, IV] 99 Schweiz in: »Bulletin des Leo Baeck Instituts« Nr. 60, S. Safrai: Das jüd. Volk im Zeitalter d. Zweiten Tempels 79 Jerusalem 1981, S. 21-50 98 P. Scher: Der Bar Kokhba Aufstand. Studien z. zweiten K. Eberhard (Hrsg.): Was glauben die anderen? [s. u. IIa] 85 jüd. Krieg gegen Rom. Texte u. Studien zum Antiken Ju- E. L. Ehrlich: Abschied von der Judenmission. Antwort an dentum 1 79 A. Baumann in: Judaica (38/1), März 1982, S. 14-23 [s. P. Schäfer (Hrsg.): Synopse zur Hekhalot-Literatur. Texte u. Ia, Ha] 99 u. Studien z. Antiken Judentum, Bd. 2 80 0. Eissfeldt: Kleine Schriften VI. Hrsg.: R. Sellheim / F. G. Schlichting: Ein jüd. Leben Jesu. Die verschollene Tole- Mass [s. u. Ia] 61 dot-Jeschu-Fassung Tam u-muad. Einl., Text, übers., J. A. Emerton (Hrsg.): Studies in the Historical Books of the Kommentar, Motivsynopse, Bibliogr. [s. u. Ia, Ha] 67 AT, Vol. XXX [s. u. Ia] 61 G. Scholem: Walter Benjamin, in: 25 Jahre Bulletin des Leo S. Friedländer: Wenn die Erinnerung kommt [s. u. III] 90 Baeck Instituts, Nr. 62, Jerusalem-Königstein/Ts. 1982 99 L. Goldberg: Begegnung mit einem Dichter, in: »Bulletin M. Stöhr (Hrsg.): Zionismus. Beitr. z. Diskussion [s. u. IV] 97 des Leo Baeck Instituts« Nr. 60, Jerusalem 1981, S. 67-69 98 C. Thoma: Die theol. Beziehungen zwischen Judentum u. K. E. Grözinger/N. Ilg/H. Lichtenberger/G. W. Nebe/H. Christentum [s. u. Ia, IIa] 88 Pabst (Hrsg.): Qumran. Wege d. Forschung Bd. 410 [s. u. M. Weinrich: Der Wirklichkeit begegnen. Studien zu Buber Ia] 73 [s. u. Ia] 81 W. Gilde: D. rechtliche Stellung d. Juden in d. Schriften dt. R. Weltsch: Nachwort zu Lea Goldbergs »Begegnung m. ei- Juristen d. 16. u. 17. Jh. 73 nem Dichter«, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts Nr. 60, A. Haverkamp (Hrsg.): Zur Geschichte d. Juden im Jerusalem 1981, S. 69-72 98 Deutschland d. späten Mittelalters u. d. früheren Neuzeit 73 E. Wiesel: Adam oder d. Geheimnis d. Anfangs. Brüderl. H. H. Henrix (Hrsg.): Unter dem Bogen d. Bundes. Beitr. Urgestalten [s. u. Ia, IIa] 82 aus jüd. u. chr. Existenz [s. u. Ia, IIa] 85 F. E. Wilms: Freude vor Gott. Kult u. Fest in Israel [s. u. Ia] 70 A. J. Heschel: Gott sucht den Menschen [s. u. Ha] 74 A. Wittstock: Toraliebe im jüd. Volk [s. u. Ia, Ha] 82 S. Heym: Ahasver. Roman 74 A. Wolf. Lion Feuchtwanger und das Judentum, in: 25 Jah- S. Holm-Nielsen: Die Psalmen Salomos. Jüd. Schriften aus re Bulletin des Leo Baeck Instituts, Nr. 62, Jerusalem- hellen.-röm. Zeit, Bd. 5. 75 Königstein/Ts. 1982 99

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Seite Seite Year Book (Leo Baeck Institute) Bd. XXV/1980 III Verfolgung und Widerstand Dass: Bd. XXVI/1981 Dass: Bd. XXVII/1982 82 M. Willy Israel Cohn: Als Jude in Breslau — 1941. Aus Tagebü- Zimmermann: Hamburger Patriotismus u. dt. Nationa- chern d. Studienrats Dr. W. I. Cohn [s. u. Ib] lismus. D. Emanzipation d. Juden in Hbg., Hbg. Beiträge 88 z. Gesch. d. dt. Juden, Bd. VI 83 J. David: Ein Stück Himmel. Erinnerungen an eine Kind- heit. [s. u. Ib] Dies.: Ein Stück Erde. Das Ende einer Kindheit [s. u. Ib] 89 IIa Christlich-jüdische Beziehungen S. Friedländer: Wenn die Erinnerung kommt [s. u. Ib] 90 M. Höllen: Heinrich Wienken, der »unpolitische« Kirchen- M. Awerbuch: Chr.-jüd. Begegnung im Zeitalter d. Früh- politiker. Biographie aus 3 Epochen d. dt. Katholizismus 90 scholastik [s. u. Ia, Ib] 84 B. Jentzsch (Hrsg.): Der Tod ist ein Meister aus Deutsch- A. H. Baumann: Judenmission. Christliches Zeugnis unter land. Deportation u. Vernichtung in poetischen Zeugnis- Juden, in: »Judaica« (38/1), März 1982, S. 3-13 [s. u. Ia] 99 sen 91 A. Biesinger/G. Biemer/P. Fiedler (Hrsg.) mit K. H. Minz/ B. Just-Dahlmann: Der Schöpfer der Welt wird es wohl er- U. Reck: (Werkstättenbericht) Was Juden u. Judentum f. lauben müssen. Jüd. Dichtung nach Auschwitz 75 Christen bedeuten. E. neue Verhältnisbesinnung zw. H. Krausnick/ H. H. Wilhelm: Die Truppe des Weltan- Christen u. Juden. Lehr-Lerneinheiten f. die Sekundar- schauungskrieges. Die Einsatzgruppen der Sicherheitspo- stufen (Lernprozess Chr. Juden, Bd. 3) [s. u. Ia, Ib] 60 lizei u. des SD 1938-1942 91 M. Buber: Begegnung. Autobiograph. Fragmente mit e. E. Laor (E. Landstein): Ein Leben für Israel [s. u. Ib, IV] 96 Nachwort A. Goes [s. u. Ib] 72 M. Niemöller: Dahlemer Predigten 1936/37. Vorwort von A. Bygott: Wege Israels. Ein Modell f. d. Rel.unterricht i. d. Th. Mann 92 Klassen 9-11 [s. u. Ib, IV] 85 L. Poliakov: Geschichte d. Antisemitismus, Bd. I-IV. Bd. I: M. Chagall/K. Mayer: Der Gott der Väter. Das Chagall- V. d. Antike bis z. d. Kreuzzügen. Bd. II: D. Zeitalter d. Fenster zu St. Stephan in Mainz [s. u. Ia, Ib] 72 Verteufelung u. d. Ghettos. Bd. III: Religiöse u. soz. Das Kirchentagstaschenbuch: Hamburg '81 85 Toleranz unter d. Islam. Mit: D. Juden im Kirchenstaat. Bd. IV: Die Marranen im Schatten d. Inquisition. Mit: D. Deutscher Evangelischer Kirchentag Hamburg 1981. Doku- Morisken u. ihre Vertreibung [s. u. Ib] 78 mente 85 E. Röhm/J. Thierfelder: Ev. Kirche zwischen Kreuz u. Ha- H. Donner: Pilgerfahrt ins HI. Land. Die ältesten Ber. chr. kenkreuz. Bilder u. Texte einer Ausstellung 93 Palästinapilger (4.-7. Jh.) [s. u. IV] 85 L. Rosenthal: Wie war es möglich? Gesch. d. Judenverfol- K. Eberhard (Hrsg.): Was glauben die anderen? [s. u. Ib] 85 gungen in Deutschl. v. d. Frühzeit b. 1933, als Vorläufer E. L. Ehrlich: Abschied von der Judenmission. Antwort an v. Hitlers Endlösung d. Judenfrage. E. Beitr. z. Klärung A. Baumann, in: »Judaica« (38/1), März 1982, S. 14-23 d. Kollektivschuld-Probt. [s. u. Ib] 93 [s. u. Ia, Ib] 99 B. Rübenach (Hrsg.): Begegnungen mit dem Judentum [s. u. H. H. Henrix (Hrsg.): Unter dem Bogen d. Bundes. Beitr. Ib, IIa, IV] 78 aus jüd. u. chr. Existenz [s. u. Ia, Ib] 85 W. Scheeler: Vor 40 Jahren: »Endlösung d. Judenfrage«. A. J. Heschel: Gott sucht den Menschen [s. u. Ib] 74 Programm zur Ausrottung, in: »Das Parlament« (23/31), Bonn, 20. 1. 1982 26 Judaica. Beitr. z. Verständnis d. jüd. Schicksals (Abschied v. d. Judenmission). Basel (38/1), März 1982 [s. u. Ia] 99 Joseph Walk (Hrsg.): Das Sonderrecht für die Juden im NS- Staat. E. Sammlung der gesetzlichen Massnahmen u. R. Kastning-Olmesdahl: Die Juden u. d. Tod Jesu [s. u. Ia, Richtlinien — Inhalt u. Bedeutung mit Beiträgen von Ro- Ib] 86 bert M. W. Kempner u. Adalbert Rückerl 93, 104 U. Luz: Zur Erneuerung des Verhältnisses v. Christen u. Ju- den. Bemerk. üb. d. Rheinländer Synodalbeschlüsse. [s. u. Ia] 100 IV Zionismus und Staat Israel G. Passelecq OSB: Anmerkungen zu zeitgenössischen ju- denchristlichen Bewegungen, in: »Judaica« (38/1), März 1982, S. 32-46 [s. u. Ia] 99 J. Beinharz: Achad Ha'am und der deutsche Zionismus, in: »25 Jahre Bulletin des Leo Baeck Instituts«, Nr. 62, Jeru- J. J. Petuchowski/W. Strolz (Hrsg.): Offenbarung im jüd.- salem-Königstein/Ts. 1982 [s. u. Ib] chr. Glaubensverständnis [s. u. Ia, Ib] 87 99 M. Prager OSB: D. Buch meines Lebens 88 A. Bygott: Wege Israels. Ein Modell f. d. Rel.unterricht i. d. Klassen 9-11 [s. u. Ib, Ha] 85 B. Rübenach (Hrsg.): Begegnungen mit d. Judentum [s. u. Ib, III, IV] 78 H Donner: Pilgerfahrt ins Hl. Land. Die ältesten Ber. chr. Palästinapilger (4.-7. Jh.) [s. u. IIa] 85 Kann ein Jude in der Kirche seine Identität 0. D. Rufeisen: R. Halabi: Die Westbank Story wahren? Zur Frage der Inkulturation des Christentums in 94 Israel, in: »Judaica« (38/1), März 1982, S. 24-31 [s. u. Ia, Israel-Mappe, Jerusalem-Mappe, mit je zwanzig Grafiken jü- Ib, IV] 99 discher und arabischer Kinder. Hrsg.: Puah Menczel 95 G. Schlichting: Ein jüd. Leben Jesu. Die verschollene Tole- E. Laor (E. Landstein): Ein Leben für Israel [s. u. Ib, III] 96 dot-Jeschu-Fassung Tam u-muad. Einl., Text, Übers., Kommentar, Motivsynopse, Bibliogr. [s. u. Ia, Ib] 67 K. H. Liebl: Die Einstellung d. israelischen Parteien z. Palä- stinaproblem 96 C. Thoma: Beschluss 37 d. Ev. Kirche im Rheinland, Fort- schritt u. neue Fragen, in: »Judaica« (37/4) [s. u. Ia] 100 B. Rübenach (Hrsg.): Begegnungen mit d. Judentum [s. u. Ib, IIa, III] 78 C. Thoma: Die theol. Beziehungen zwischen Judentum u. Christentum [s. u. Ia, Ib] 88 0. D. Rufeisen: Kann ein Jude in der Kirche seine Identität wahren? Zur Frage der Inkulturation des Christentums in E, Wiesel: Adam oder d. Geheimnis d. Anfangs. Brüderl. Israel, in: »Judaica« (38/1), März 1982, S. 24-31 [s. u. Ia, Urgestalten [s. u. Ia, 82 Ib, IIa] 99 A. Wittstock:Toraliebe im jüd. Volk [s. u. Ia, Ib] 82 M. Stöhr (Hrsg.): Zionismus. Beitr. z. Diskussion [s. u. Ib] 97

Wie in den vorangegangenen Rundbriefen ist im vorliegenden Heft unter den gleichen Hauptgesichtspunkten, jeweils alphabetisch geordnet, I I die darin verarbeitete Literatur verzeichnet, um deren Auffindung zu erleichtern.

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19 Systematisches Register über den Inhalt Jg. XXXIV Standortangabe der Sparten siehe 3. Umschlagseite

Seite Seite

I. Aufsätze und Berichte 1/3. Jüdische Geschichte und Judentum 1 Papst Joh. Paul II.: Hl. Bibel und Theologie I [vgl. o. S. 3] II Dem Weg des Erbarmens folgen. Anspr. bei d. I Papst Johannes Paul II.: Aufforderung z. einer d. ökum. Begegnung m. Vertretern d. christl., islam. u. Judentum u. Christentum entsprechenden Verkün- jüd. Bekenntnisse, 14. Mai 1982, Lissabon [s. u. I/1, digung u. Forschung. Anspr. a. d. Delegierten d. 1/2, 1/4, 1/5, 1/6] 4 Bischofskonferenzen f. d. Bez. z. Judentum, 6. März 1982 [s. u. 1/2, 1/4, 1/6, I/II] 3 2 Kard. Bea Symposion im Sekretariat zur Förderung II Johannes Paul II.: Dem Weg des Erbarmens folgen, christl. Einheit (anlässlich s. 100. Geburtstags), 19. 12. Anspr. bei d. ökum. Begegnung m. Vertretern d. 1981 christl., islam. u. jüd. Bekenntnisse, Lissabon, 14. I Papst Joh. Paul II. an die Teilnehmer d. Sympo- Mai 1982 [s. u. 1/2, 1/3, 1/4, 1/5, 1/6] 4 sions, 19.12. 1981 [s. u. I/1, 1/2, 1/4, 1/5, 1/6, I/II] 5 II Kard. Bea: Sein Beitrag f. d. Religionsfreiheit, Vor- 2 Kard. Bea, 1881-1968: Symposion im Sekretariat zur trag Gerhart Riegner [s. u. I/1, 1/2, 1/4, 1/5, 1/6, Förderung christl. Einheit (anlässlich s. 100. Geburts- I/II] 7 tages), 19. 12. 1981: 4 Institut für Jüd.-Christl. Forschung in Luzern: I Papst Joh. Paul II. an die Teilnehmer d. Symposions I Wissenschaft vom Judentum u. chr. Theologie: [s. u. 1/2, 1/3, 1/4, 1/5, 1/6, I/II] 5 Prinzipien u. Probleme einer Zusammenarbeit, Vor- II Kard. Bea: Sein Beitrag f. d. Religionsfreiheit, Vor- trag, Sh. Talmon [s. u. I/1, 1/5, 1/6] 12 trag, Gerhart Riegner [s. u. 1/2, 1/3, 1/4, 1/5, 1/6, II Zur Eröffnung d. Instituts am 22. 10. 1981 [s. u. 1/5, I/II] 7 1/6] 16 3 Leitlinien f. d. chr.-jüd. Dialog, verabschiedet v. d. Kon- 5 Herausforderungen, die wir prüfen müssen, Msgr. Jean- sultation: »Kirche u. jüd. Volk«, ök. Rat d. Kirchen, Marie Lustiger, Erzbischof v. Paris, Ansprache im London-Colney, 26. 6. 1981 [s. u. 1/2, 1/5, 1/6, I/10, I/ ICCJ-Kolloquium, Martin-Buber-Haus, Heppenheim, II] 9 30. 6. 1981 [s. u. I/1, 1/4, 1/5, 1/6, I/II] 17 6 I Bei Chagall in Mainz - II Marc Chagall, 7. Juli 1982 4 Institut für Jüd.-Christl. Forschung in Luzern = 95 Jahre: >Arbeit statt Feier< [s. u. 1/6] 19 (22. 10. 1981) I Wissenschaft vom Judentum u. chr. Theologie: 7 Zum Tod v. Gershom Scholem: »Wenn ein Weiser Prinzipien u. Probleme einer Zusammenarbeit, Vor- stirbt, kann niemand ihn ersetzen«; G. Scholem: Kabba- trag, Sh. Talmon [s. u. 1/3, 1/5, 1/6] 12 la - Von d. lebendigen Kraft im Judentum [s. u. 1/6] 19 II Zur Eröffnung d. Instituts a. d. Kath. Fakultät Lu- 8 Michael Wyschogrod: Ein neues Stadium im jüd.-chr. zern (22. 10. 1981) [s. u. 1/3, 1/5, 1/6] 16 Dialog [s. u. I/1, 1/2, 1/5, 1/6] 22

5 Herausforderungen, die wir prüfen müssen, Ansprache, 1/4. Kirche und Synagoge Msgr. Jean-Marie Lustiger, Erzbischof v. Paris (Kollo- quium [ICCJ], Martin-Buber-Haus, Heppenheim, 1 I Papst Johannes Paul II.: I. Aufforderung z. einer d. 20. 5. 1981) (vgl. u.) [s. u. 1/3, 1/4, 1/5, 1/6, I/II] 17 Judentum u. Christentum entsprechenden Verkün- digung u. Forschung - Anspr. a. d. Delegierten d. 8 Michael Wyschogrod: Ein neues Stadium im jüd.-chr. Bischofskonferenzen f. d. Bez. z. Judentum, Dialog [s. u. 1/2, 1/3, 1/5, 1/6] 22 6. März 1982 [s. u. I/1, 1/2, 1/6, I/II] 3 II Johannes Paul II.: Dem Weg des Erbarmens folgen, Anspr. bei d. ökum. Begegnung m. Vertretern d. 1/2. Katechese christl., islam. u. jüd. Bekenntnisse, Lissabon, 14. 1 Papst Joh. Paul II.: Mai 1982 [s. u. I/1, 1/2, 1/3, 1/5, 1/6, I/II] 4 I Aufforderung z. einer d. Judentum u. Christentum 2 Kard. Bea Symposion im Sekretariat zur Förderung entsprechenden Verkündigung u. Forschung, Anspr. christl. Einheit (anlässlich s. 100. Geburtstags), a. d. Delegierten d. Bischofskonferenzen f. d. Bez. z. 19. 12. 1981: I Papst Joh. Paul II. an die Teilnehmer d. Judentum, 6. März 1982 [s. u. I/1, 1/4, 1/6, I/II] 3 Symposions, 19. 12. 1981 [s. u. I/1, 1/2, 1/3, 1/5, 1/6, I/ II Dem Weg des Erbarmens folgen. Anspr. bei d. II] II Kard. Bea: Sein Beitrag f. d. Religionsfreiheit, ökum. Begegnung m. Vertretern d. christl., islam. u. Vortrag, Gerhart Riegner [s. u. I/1, 1/2, 1/3, 1/5, 1/6, jüd. Bekenntnisse, 14. Mai 1982, Lissabon [s. u. I/1, I/II] 7 1/3, 1/4, 1/5, 1/6, I/II] 4 5 Herausforderungen, die wir prüfen müssen, Ansprache Msgr. Jean-Marie Lustiger, Erzbischof v. Paris (s. o) [s. 2 Kard. Bea Symposion im Sekretariat zur Förderung u. I/1, 1/3, 1/5, 1/6, I/II] 17 christl. Einheit (anlässlich s. 100. Geburtstags), 19. 12. 1981: 13 Papst Joh. Paul II.: Aufruf a. d. Katholiken in d. Welt z. I Papst Joh. Paul II. an die Teilnehmer d. Sympo- Gebet um Frieden u. Versöhnung d. »beiden Völker« im sions, 19. 12. 1981 [s. u. I/1, 1/3, 1/4, 1/5, 1/6, I/II] 5 Hl. Land, Palmsonntag, 4. 4. 1982 [s. u. 1/2, I/10, I/11, 1/14] 40 II Kard. Bea: Sein Beitrag f. d. Religionsfreiheit, Vor- trag, Gerhart Riegner [s. u. I/1, 1/3, 1/4, 1/5, 1/6, I/II] 7 1/5. Ökumene 1 Papst Joh. Paul II.: II Dem Weg des Erbarmens folgen. 3 Leitlinien z. chr.-jüd. Dialog, Konsultation Kirche u. Anspr. bei d. ökum. Begegnung m. Vertretern d. christl., jüd. Volk, London-Colney, 26. 6. 1981 [s. u. I/1, 1/5, islam. u. jüd. Bekenntnisse, Lissabon, 14. Mai 1982 9 1/6, I/10, I/II] [s. u. I/1, 1/2, 1/3, 1/4, 1/6] 4 8 Michael Wyschogrod: Ein neues Stadium im jüd.-chr. 2 Kard. Bea Symposion im Sekretariat zur Förderung Dialog [s. u. I/1, 1/3, 1/5, 1/6] 22 christl. Einheit (anlässlich s. 100. Geburtstags), 19. 12. 1981: I Anspr. Papst Joh. Paul II. a. d. Teilnehmer d. 13 Papst Joh. Paul II.: Aufruf a. d. Katholiken in d. Welt z. Symposions, 19. 12. 1981 [s. u. I/1, 1/2, 1/3, 1/4, 1/6, I/ Gebet um Frieden u. Versöhnung d. »beiden Völker« im II] - II Kard. Bea: Sein Beitrag f. d. Religionsfreiheit, Hl. Land, Palmsonntag, 4. 4. 1982 [s. u. 1/4, I/10, I/11, Vortrag, Gerhart Riegner [s. u. I/1, 1/2, 1/3, 1/4, 1/6, 1/14] 40 I/II]

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Seite Seite 3 Leitlinien z. chr.-jüd. Dialog, verabschiedet: Konsulta- 12 Israel: Zwei dokum. Berichte (Frühjahr 1982) tion Kirche u. jüd. Volk, London-Colney, 26. 6. 1981 [s. I Was bed. Israels Rückzug a. d. Sinai? [s. u. I/14] 33 u. I/1, 1/2, 1/6, I/10, I/II] 9 II D. Rolle Israels in einem sich wandelnden Mittl. Osten, Yitzak Shamir [s. u. 1/14] 36 4 Institut für Jüd.-Christl. Forschung in Luzern III D. PLO in Beirut [s. u. I/14] 38 (22. 10. 1981) (s. u. 1/3, 4) 12 IV Beschluss d. Jüd. Weltkongresses, 8. Juli 1982 [s. u. 5 Herausforderungen, die wir prüfen müssen, Ansprache 1/14] 39 Msgr. Jean-Marie Lustiger, Erzbischof v. Paris (vgl. u. V Erkl. d. Deutsch-Israelischen Ges. (DIG) z. Lage im 1/35) [s. u. I/1, 1/3, 1/4, 1/6] 17 Nahen Osten, Juli 1982 [s. u. 1/7, 1/12, 1/14] 39 13 Papst Joh. Paul 11.: Aufruf a. d. Katholiken in d. Welt z. 8 Michael Wyschogrod: Ein neues Stadium im jüd.-chr. Gebet um Frieden u. Versöhnung d. »beiden Völker« im Dialog [s. u. I/1, 1/2, 1/3, 1/6] 22 Hl. Land, Palmsonntag, 4. 4. 1982 [s. u. 1/2, 1/4, I/11, 1/14] 40 1/6. Christen und Juden 1 Papst Joh. Paul II.: I Aufforderung z. einer d. Judentum I/11. Kirche und Christen in Israel — Kirche u. Israel u. Christentum entsprechenden Verkündigung u. For- 13 Papst Joh. Paul II.: Aufruf a. d. Katholiken in d. Welt z. schung, Anspr. an d. Delegierten d. Bischofskonferen- Gebet um Frieden u. Versöhnung d. »beiden Völker« im zen f. d. Bez. z. Judentum, 6. März 1982[s. u. I/1, 1/2, Hl. Land, Palmsonntag, 4. 4. 1982 [s. u. 1/2, 1/4, I/10, 1/4, I/II]. — II Dem Weg des Erbarmens folgen, Anspr. 3 1/14] 40 bei d. ökum. Begegnung m. Vertretern d. christl., islam. u. jüd. Bekenntnisse, Lissabon, 14. Mai 1982 [s. u. I/1, 0. D. Rufeisen: Kann ein Jude in der Kirche seine Iden- 1/2, 1/3, 1/4, 1/5, I/II] 4 tität bewahren? Zur Frage der Inkulturation des Chri- stentums (vgl. o. S. 99) 99 2 Kard. Bea Symposion im Sekretariat zur Förderung christl. Einheit (anlässlich s. 100. Geburtstags), 19. 12. 1/12. Deutschland und Israel 1981: 12 V Erkl. d. Deutsch-Israelischen Ges. (DIG) z. Lage im I Anspr. Papst Joh. Paul II. a. d. Teilnehmer d. Sym- Nahen Osten, Juli 1982 [s. u. 1/7, I/10, 1/14] 39 posions, 19. Dez. 1981 [s. u. I/1, 1/2, 1/3, 1/4, 1/5, I/II] — II Kard. Bea: Sein Beitrag f. d. Religions- 5 1/14. Juden und Araber Freiheit, Vortrag, Gerhart Riegner [s. u. 1/1, 1/2, 12 Israel: Zwei dokum. Berichte (Frühjahr 1982) 1/3, 1/4, 1/5, I/II] 7 I Was bed. Israels Rückzug a. d. Sinai? [s. u. I/10] 33 3 Leitlinien z. chr.-jüd. Dialog, Konsultation »Kirche u. II D. Rolle Israels in einem sich wandelnden Mittl. jüd. Volk«, London-Colney, 26. 6. 1981 [s. u. I/1, 1/2, Osten, Yitzak Shamir [s. u. I/10] 36 1/5, I/10, I/II] 9 III D. PLO in Beirut [s. u. I/10] 38 IV Beschluss d. Jüd. Weltkongresses, 8. Juli 1982 [s. u. 4 Institut für Jüd.-Christl. Forschung in Luzern: 1/10] 39 I Wissenschaft vom Judentum u. chr. Theologie: V Erkl. d. Deutsch-Israelischen Ges. (DIG) z. Lage im Prinzipien u. Probleme einer Zusammenarbeit, Vor- Nahen Osten, Juli 1982 [s. u. 1/7, I/10, 1/12] 39 12 trag, Sh. Talmon [s. u. I/1, 1/3, 1/5] — II Zur 13 Papst Joh. Paul II.: Aufruf a. d. Katholiken in d. Welt z. Eröffnung d. Instituts am 22. 10. 1981 [s. u. 1/3, Gebet um Frieden u. Versöhnung d. »beiden Völker« im 16 1/5] Hl. Land, Palmsonntag, 4. 4. 1982 [s. u. 1/2, 1/4, I/10, 5 Herausforderungen, die wir prüfen müssen, Vortrag I/11] 40 Msgr. Jean-Marie Lustiger, Erzbischof v. Paris (vgl. u. 1/35) [s. u. 1/1, 1/3, 1/4, 1/5] 17 I/II. Tagungen 6 Bei Chagall in Mainz. — Marc Chagall, 7. Juli 1982: 95 Jahre : »Arbeit statt Feier« [s. u. 1/3] 19 1 I Papst Joh. Paul II.: Aufforderung z. einer d. Juden- tum u. Christentum entsprechenden Verkündigung 7 Zum Tode v. Gershom Scholem. — G. Scholem: Kabbala u. Forschung. Anspr. a. d. Delegierten d. Bischofs- — Von d. lebendigen Kraft im Judentum [s. u. 1/3] 19 konferenzen f. d. Bez. z. Judentum, 6. März 1982 [s. u. I/1, 1/2, 1/4, 1/6] 3 8 Michael Wyschogrod: Ein neues Stadium im jüd.-chr. II Johannes Paul II.: Dem Weg des Erbarmens folgen. Dialog [s. u. I/1, 1/2, 1/3, 1/5] 22 Ansprache bei der ökumenischen Begegnung mit Vertretern der christlichen, islamischen u. jüdischen 1/7. Deutsche und Juden — Juden und Deutsche Bekenntnisse in Lissabon, 14. 5. 1982 4 12 V Erkl. d. Deutsch-Israelischen Ges. (DIG) z. Lage im 2 Kard. Bea Symposion im Vatikan (anlässlich s. 100. Ge- Nahen Osten, Juli 1982 [s. u. 1/10, 1/12, 1/14] 39 burtstags), 19. 12. 1981: I Papst Joh. Paul II. a. d. Teil- nehmer d. Symposions [s. u. I/1, 1/2, 1/3, 1/4, 1/5, 1/6] 5 II Gerhart Riegner (Jüd. Weltkongress), Kard. Bea: 1/8. Verfolgung und Widerstand Sein Beitrag f. d. Religionsfreiheit [s. u. I] 7 9 Wolfgang Scheffler: Vor 40 Jahren: »Endlösung d. Ju- denfrage«, Programm z. Ausrottung, 20. 1. 1942 26 3 Leitlinien z. chr.-jüd. Dialog, Konsultation »Kirche u. jüd. Volk«, London-Colney, 26. 6. 1981 [s. u. I/1, 1/2, 10 Gedichte als Zeugnisse der Menschenwürde, Beatrice 1/5, 1/6, 1/10] 9 Eichmann-Leutenegger [s. u. 1/9] 28 5 Herausforderungen, die wir prüfen müssen, Vortrag 11 Benedicta Maria Kempner — z. Gedenken (1904-1982) Msgr. Jean-Marie Lustiger, Erzbischof v. Paris (vgl. u. 1/35) [s. u. I/1, 1/3, 1/4, 1/5, 1/6] 17 [s. u. 1/9, I/VI] 32

1/9. Sühne und Wiedergutmachung III. Echo 10 Gedichte als Zeugnisse d. Menschenwürde, Beatrice 28 14 Echo z. Rundbrief-Folge XXXIII/1981: Gesamtregi- Eichmann-Leutenegger [s. u. 1/8] sterband I-XXX/1948-1978 (vgl. erst in XXXV/1983) 40 11 Benedicta Maria Kempner — z. Gedenken (1904-1982) [s. u. 1/8, I/VI] 32 I/VI. In memoriam 1/10. Staat Israel 3 Leitlinien z. chr.-jüd. Dialog, Konsultation Kirche u. 7 Zum Tode von Gershom Scholem 19 jüd. Volk, London-Colney, 26. 6. 1981 [s. u. I/1, 1/2, I/ 11 Benedicta Maria Kempner — z. Gedenken (1904-1982) 5, 1/6, I/II] 9 [s. u. 1/8, 1/9] 32

109 Seite Seite IV/7. Deutsche und Juden — Juden und Deutsche IV. Rundschau 7 Resolution d. Verwaltungsrates d. Zentralrats d. Juden in Deutschld., Juli 1982 [s. u. W/10, W/12, W/14] 57 IV/ 1. Bibel und Theologie 1 Juden u. Christen auf d. 19. Dt. Ev. Kirchentag, Ham- burg 1981 [s. u. IV/3, IV/5, W76, IV/II] 40 IV/8. Verfolgung und Widerstand Eindrücke v. Rabbiner Dr. Podet, Buffalo, USA [s. u. Joh. Paul II. nach d. Angelusgebet, 10. 10. 1982 [s. u. W/4, IV/3, IV/5, IV/6] 41 W/6] US 2 A Bist du, der da kommen soll? Jesus — Messias Isra- 6 Papst ehrt Opfer d. NS [s. u. W/4] 56 els?, Vortrag Peter v. d. Osten-Sacken [s. u. IV/3, IV75, IV/6, Will] 42 B Was haltet ihr von Christus? Jesus zw. Christen u. IV/9. Sühne und Wiedergutmachung Juden, Vortrag Fr. W. Marquardt [s. u. A] 46 5 Exodus u. Exil. Tagg. d. Dt. Koordinierungsrates d. Ges. f. Chr.-Jüd. Zusammenarbeit, Aachen, 7. März 2 Tagung bischöfl. Delegierter u. anderer Experten f. d. 54 Bez. zw. d. kath. Kirche u. d. Judentum, 2.-5. 3. 1982 [s. 1982 [s. u. W/1, W/3, W/6, IV/II] u. W/2, W/4, W76, Will] 50 5 Exodus u. Exil. Tagg. d. Dt. Koordinierungsrates d. IV/10. Staat Israel Ges. f. Chr.-Jüd. Zusammenarbeit, Aachen, 7. 3. 1982 7 Resolution d. Verwaltungsrates d. Zentralrats d. Juden [s. u. W/3, IV/6, W/9, WM] 54 in Deutschld., Juli 1982 [s. u. W/7, IV/12, W/14] 57

IV/2. Katechese IV/12. Deutschland und Israel 2 Tagung bischöfl. Delegierter u. anderer Experten f. d. 7 Resolution d. Verwaltungsrates d. Zentralrats d. Juden Bez. zw. d. kath. Kirche u. d. Judentum, 2.-5. 3. 1982 in Deutschld., Juli 1982 [s. u. W/7, W/10, W/14] 57 [s. u. W/1, W/4, W/6, IV/II] 50 3 Frühjahrstagung 1982 d. Leiter v. Arbeitsgemeinschaf- ten z. Thema »Juden im Rel.unterricht« [s. u. IV/II] 51 IV/14. Juden und Araber 7 Resolution d. Verwaltungsrates d. Zentralrats d. Juden IV/3. Jüdische Geschichte und Judentum in Deutschld., Juli 1982 (vgl. u. W/12) 57 1 Juden u. Christen auf d. 19. Dt. Ev. Kirchentag, Ham- burg 1981 [s. u. W/ 1, W/3, W/5, IV/II] — Eindrücke 40 v. Rabbiner Dr. Podet, Buffalo, USA [s. u. I] 41 IV/II. Tagungen A Bist du, der da kommen soll? Jesus — Messias Isra- els? Vortrag: Peter v. d. Osten-Sacken [s. u. W/1, 1 Juden u. Christen auf d. 19. Dt. Ev. Kirchentag, Ham- IV/5, IV/6] 42 burg 1981 [s. u. W/1, W/3, IV/5, W/6] 40 B Was haltet ihr von Christus? Jesus zw. Christen u. Juden, Vortrag: Fr. W. Marquardt [s. u. A] 46 2 Tagung bischöfl. Delegierter u. anderer Experten f. d. 4 Karl d. Grosse u. d. Juden, Vortrag bei Tagung d. Bi- Bez. zw. d. kath. Kirche u. d. Judentum im Sekretariat schöfl. Akademie Aachen, 8. 3. 1980 [s. u. IV/4, W/6, zur Förderung chr. Einheit, 2.-5. 3. 1982 [s. u. W/ 1, IV/II] 52 W/2, W/4, W/6] 50 5 Exodus u. Exil. Tagg. d. Dt. Koordinierungsrates d. Ges. f. Chr.-Jüd. Zusammenarbeit, Aachen, 7. März 3 Frühjahrstagung 1982 d. Leiter v. Arbeitsgemeinschaf- ten z. Thema »Juden im Rel.unterricht« [s. u. W/2] 51 1982 [s. u. W/1, W/6, W/9, WM] 54 8 Genossen in Utopia: M. Buber, G. Landauer, R. Link- 5 Exodus u. Exil. Tagg. d. Dt. Koordinierungsrates d. Salinger (Hyman) 57 Ges. f. Chr.-Jüd. Zusammenarbeit, Aachen, 7. März 1982 [s. u. IV/1, W/3, W/6, W/9] 54 IV/4. Kirche und Synagoge Joh. Paul II. nach d. Angelusgebet, 10. 10. 1982 [s. u. W/6, W/8] US 2 VII. Aus unserer Arbeit 2 Tagung bischöfl. Delegierter u. anderer Experten f. d. Bez. zw. d. kath. Kirche u. d. Judentum, Sekretariat z. I Altenwohnheim für NS-verfolgte Christen 102 Förderung chr. Einheit, 2.-5. 3. 1982 [s. u. W/1, W/2, W/6, IV/II] 50 VII/8. Verfolgung und Widerstand 6 Papst ehrt Opfer d. NS [s. u. W/8] 56 102 9. Wiedergutmachung Anm. 1 IV/6. Christen und Juden Einige Schicksale von Heimbewohnern 103 Joh. Paul II. nach d. Angelusgebet, 10. 10. 1982 [s. u. W/4, US 2 VII/ 11. Kirche und Christen in Israel — W/8] Kirche und Israel 1 Juden u. Christen auf d. 19. Dt. Ev. Kirchentag, Ham- Aus dem Leben der röm.-kath. hebräischsprechenden burg 1981 — Eindrücke v. Rabbiner Dr. Podet, Buffalo, 40 USA [s. u. W/1, W/3, W/5, IV/II] 41 Gemeinde 103 A Bist du, der da kommen soll? Jesus — Messias Isra- Gemeindetage dieser Gemeinde (Schawuot, 1982) 104 els? Vortrag, Peter v. d. Osten-Sacken [s. u. IV/1, Text und Melodie der hl. Messe: hebräisch und arabisch 42 (von Jochanan Elihai) 103 W/3, IV/5, IV/II] Anm. 5 B Was haltet ihr von Christus? Jesus zw. Christen u. Juden, Vortrag Fr. W. Marquardt [s. u. IV/1, W/3, VII/ 12. Deutschland und Israel W/5, IV/II] 46 >Jedioth Achronot<: Zur Verleihung des Bundesverdienst- kreuzes an E. Hemker im Altenheim, 18. 5. 1982, durch 2 Tagung bischöfl. Delegierter u. anderer Experten f. d. den Botschafter der Bundesrepublik in Israel 104 Bez. zw. d. kath. Kirche u. d. Judentum, Sekretariat zur Freiburger Kommunalpolitiker übergeben Teddy Kollek Förderung chr. Einheit, 2.-5. 3. 1982 [s. u. IV/I, W/2, 50 David-Skulptur aus Freiburger Münster als »Gruss des W/4, IV/II] christl. Abendlandes an die geistige Hauptstadt des bibli- 4 Karl d. Grosse u. d. Juden, bei Tagung Bischöfl. Akade- schen Abendlandes«, April 1982 104 mie Aachen, 6. 3. 1980 [s. u. W/3, W/4, IV/II] 52 Anm. 9 5 Exodus u. Exil. Tagg. d. Dt. Koordinierungsrates d. VII/2. Katechese Ges. f. Chr.-Jüd. Zusammenarbeit, Aachen, 7. März II Freiburger Leitlinien zum >Lernprozess Christen Juden<: 1982 [s. u. W/1, W/3, W/9, IV/II] 54 Eine Brücke über Abgründe der Geschichte 105

110 20 Personenregister Jahrgang XXXIV*

Das Personenregister umfasst alle Namen einschliesslich der Namen und Autoren aus dem Alten Testament und Neuen Testament, je- weils nachgewiesen mit Seitenangabe. Berufsbezeichnungen oder Titel sind soweit übernommen, als es der eindeutigen Bestimmung von Personen dienlich ist. Statt des im Deutschen gebräuchlichen ß ist das international übliche ss verwendet. Vornamen sind bei neuzeitli- chen Namen nachgestellt, bei Namen des Altertums oder Mittelalters ist hingegen die natürliche Wortfolge beibehalten oder der be- kannteste Teil des Namens vorangestellt. - Für arabische oder hebräische Namen ist die Schreibweise verwendet, in der sie am häufig- sten im FrRu erscheinen. - Nicht in allen Fällen konnte der Vorname angegeben werden.

* Für »IMMANUEL« separates Register s. u. S. 140 / IM 27.

Aaron (AT) 62 Ben Isaac, Salomo (Raschi) 84 Dan, Joseph 72 Frey, Hellmuth 62 Abiram (AT) 62 Ben Jacob 68 Dathan (AT) 62 Friedberg, Abraham 68 Abraham (AT) 3, 5, 10, 12, 15, Ben-Jizchak, Abraham (Abra- David (AT) 15, 52, 53, 61, 75 Friedländer, Albert 97 18, 25, 50, 51, 56, 82, 95 ham Sonne) 99 David, Janina 89, 90 Friedländer, Saul 90 Achad Haam 98, 99 Ben Meir, Samuel 84 Deak, Istvan 83 Friedländer, Walter 33 Adam (AT) 82 Ben Shetach, Schimon 68 Demetrios 72 Friedlander, Albert 41 Adomnanus, Abt 85 Ben Tovim 95 Descartes, Rene 25 Friedmann, Elias OCD 104 Adorno, Theodor W. 22, 29, 86 Benjamin, Dora 99 Dohm, Christian Wilhelm v. 78 Friedmann, Pavel 30 Agnon, Samuel Josef 21 Benjamin, Georg 99 Dolf (A. P.), Michaelis 83 Frizzell, Larry 13 Agobard von Lyon, Bischof 53 Benjamin, Walter 21, 22, 99 Domin, Hilde 32 Fuchs, Gotthard 86 Ahasver 74, 75 Berger, Ulrike 9, 57, 97 Donner, Herbert 85 Funkenstein, Amos 72 Akiba (Aqiba, Aqiva), Rabbi 68 Bergman, Hugo S. 58 Dreyer, A. 98 Albrecht II. v. Mainz 74 Bernhard von Clairvaux 53 Drews, Jörg 20 Galen, Clemens August Graf v., Alexander der Grosse 64 Bertram, Adolf, Kardinal, Erz- Droste-Hülshoff, Annette v. 32 Kardinal 91 Alexandra, Königin 67, 68 bischof 91 Dubois, Jacques Marcel OP 51 Gans, Eduard 77 Alkuin 52 Bettscheider, Heribert 64, 66 Dupont-Sommer, Andre 73 Geiger, Abraham 86 Althusius, Johannes 77 Betz, Otto 66 Dupuy, Bernard, OP 13 Genscher, Hans-Dietrich 40 Altmann, Adolf 83 Bickermann, Elias 71, 72 Gilben, Maurice SJ 51 Altmann, Alexander 77, 83 Bickert, R. 61 Eban, Abba 37 Ginsburg, Alexander 28 Altmann, Hans Heinz 104 Biemer, Günter 51, 60, 105 Ebeling, Gerhard 81 Glatzer, Nahum 82, 83 Amery, Jean 97, 98 Biesinger, Albert 60 Eberhardt, Kurt 85 Goes, Albrecht 72 Amos (AT) 71 Bileam (AT) 62 Ecken, Willehad Paul OP 91, Goethe, Johann Wolfgang v. 60 Antigonos aus (von) Socho 72 Binterim, Anton, Josef 93 98 Gogarten, Friedrich 81 Antiochus III. 72 Birnbaum, Max P. 83 Eckhart, Meister 58, 59 Goldberg, Lea 99 Aqiba (Aqiva) s. u. Akiba Bischoff, E. 67, 68 Egger, Rita 22, 75 Goldmann, Nahum 59, 98 Arafat, Yassir US 2 Blumenfeld, Erik 40 Ehninger, Gotthilf 95 Goldschmidt, Dietrich 41 Areus I, König v. Sparta 71 Blumenthal, David R. 72 Ehrlich, Ernst Ludwig 16, 60, Goldszmit, Henryk s. u. Aristides 65 Boas, Jacob 83 61 72, 74, 79, 99, 105 Korczak, Janusz Aristoteles 25 Bock v. (Generalfeldmarsch.) 92 Eicher, Peter 88 Gollwitzer, Helmut 15, 76, 97 Arkulf, Bischof 85 Bodin, Jean 77 Eichmann, Adolf, SS-Ober- Gordan, Paulus OSB 2, 7, 90 Arlosoroff, Chaim 58 Bonhoeffer, Dietrich 81 sturmbannführer 27, 28 Gordis, Robert S. 9 Arndt, Ernst Moritz 77 Boyer, John W. 83 Eichmann-Leutenegger, Gordon, Aaron David 58 Athanasius von Alexandrien 65 Braun, R. L. 61 Beatrice 32 Gottsched, Johann Christoph 78 Augustinus, Aurelius 88 Braunfels, Wolfgang 52 Einhorn, David 83 Grätz, Heinrich 67 Auld, A. G. 61 Braunschweig, Robert 16 Eisenhower, Dwight D. 33 Graus, F. 74 Ausländer, Rose 29 Brecht, Bert 22 Eissfeldt, Otto 61 Greenberg, Gershon 83 Aviad, Yeshayahu (Oscar Brecher, Daniel Chil 99, 101 Eitzen, Paul von 74 Greive, Hermann, 83, 92, 93, 97 Wolfsberg) 99 Breuning, Wilhelm 86 Elias s. u. Elija Grisebach, Eberhard 81 Avineri, Shlomo 58 Britschgi-Schimmer, Ina 59 Eliav, Arje 98 Gröber, Conrad, Erzbischof 91 Awerbuch, Marianne 84 Brocke, Michael 97 Elihai Jochanan (Yohanan) 103 Grözinger, Karl E. 73 Brown, Robert McAfee 8 Elija (Elias AT) 18, 42, 46 Grossmann, Kurt R. 36 Bacharach, Walter Zwi 83 Buber, Martin 21, 47, 57, 58, Elisabeth (NT) 2 Grosz, George 91 Bach-Zelewski, Erich v. 92 59, 60, 72, 81, 82, 83, 98 Elvers, Rudolf 77 Grotholtmann, Martha 61 Baeck, Leo, Rabbiner US 2, 89 Bühler, Josef, Staatssekretär 27 Emerton, J. A. 61 Gruenwald, Ithamar 72 Balak (AT) 62 Bürkle, Horst 60 Epiphanius 65, 71 Güde, Wilhelm 73 Baldwin, Peter M. 83 Bultmann, Rudolf 15 Esra (Ezra, AT) 61 Gut, Walter 16 Band, Arnold, J. 72 Buren, Paul M. van 49 Etheria 85 Bankier, D. 98 Bygott, Annette 85 Eucharius, Bischof 85 Haack, Dieter 54, 55, 56 Bar Kochba, Simeon 25, 80 Eusebius 65 " Haam s. u. Achad Haam Bar Kokhba s. u. Bar Kochba Caron, Vicki 83 Eustochium 85 Habermas, Jürgen 22 Baron, Lawrence 83 Cassius Dio 79 Ezechiel (AT), Prophet 25 Haddad, Nimer S. 98 Baron, Salo W. 93 Cavaletti, Sofia 51 Hadrian, röm. Kaiser 80 Barsam, Jizchak 94 Celan, Paul 31, 32, 86 Haenchen, Ernst 66 Baraa, Johannes 31 Celsus 65 Fähnders, W. 58 Halabi, Rafik 37, 94, 96 Barth, Jakob 77 Chagall, Bella 19 Feininger, B. 60 Hammerstein, Franz v. 13 Barth, Karl 25, 49, 63 Chagall, Marc 18, 19, 72 Feuchtwanger, Lion 99 Hansen, Niels 104 Barth, Markus 15, 17 Chil Brecher, Daniel 99 Fiedler, Peter 51, 60, 61, 64, 66, Harnack, Adolf v. 63 Barthelemy, D. 73 Chronik (AT) 61, 71 70, 77, 82, 86, 93, 99, 100, 105 Hart Brüder 58 Bathseba (AT) 61 Churchill, Charles Henry 98 Fiedler, W. 84 Hasenhüttl, Gotthold 61, 62 Baumann, A. H. 99 Clemens v. Alexandria 63 Field, Geoffrey G. 82 Haverkamp, Alfred 73, 74 Baumgart, Reinhard 31 Cohen, Arthur A. 82, 83 Finkel, A. 13 Hechler, William Henry 98 Bea, Augustin, SJ, Kurienkardi- Cohen, Daniel 74 Fischer, Ruth 33 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich nal 3, 5, 6, 7, 8, 9, 32, 76, 77 Cohen, Hermann 75 Fisher, Eugene J. 51 16, 22, 88 Beck, Karl 98 Cohn, Berta 82 Flavius, Josephus s. u. Josephus Heine, Heinrich 99 Becker, Hellmut 22 Cohn, Willy Israel 88, 89 Flavius Heine, Salomon 84 Ben Barak, Z. 61 Conzelmann, Hans 66 Flusser, David 15, 23, 24, 42, Helene, Königin (Mutter d. Ben Carlo 84 da Costa, Uriel 98 43, 53, 54, 73, 86 Kaisers Konstantin) 67 Ben-Chorin, Schalom 15, 54, Crispin, Gilben, Abt 84 Foerg, Irmgard 82 Helene v. Adiabene 67 55, 56, 86 Croner, Helga 7, 13, 22 Frank, Suso OFM 65 Hemker, Elisabeth 102, 103 Ben Elissar, Eliahu 33 Cube, F. v. 60 Freisler, Roland 27 Hemmerle, Klaus, Bischof 54, Ben Gurion, David 90, 98 Cunz, M. 99 Freundlich, Bracha 101 55

111 Hengel, Martin 80 Kaiser, Odilo OP 61, 64, 74, 77, Liebermann, Max 95 Mendelssohn-Bartholdy, Henrich, Franz 15 79, 88 Liebt, Karlhans 96 Albrecht 77 Henrix, Hans-Hermann 53, 54, Kampmann, Wanda 93 Lindars, B. 61 Mendelssohn-Bartholdy, Felix 56, 85, 86 Kantorowicz, Gertrud 30 Link-Salinger (Hyman), Ruth 77 Hentig, Hartmut v. 22 Kaplan, Mario A. 83 57, 59, 60 Mendes-Flohr, Paul R. 58 Herzig, Arno 83 Kapper, Kurt 30 Lohse, Eduard, Landesbischof Mestri, Guido del, Apost. Nun- Herzl, Theodor 21, 58, 98 Karas, Josef 84 44 tius in Bonn US 2 Herztka, Theodor 58 Karl der Grosse 52, 53, 54, 86 Lotter, Friedrich 52, 53 Meyer, Michael A. 82, 86, 87 Heschel, Abraham Joshua 74 Kaschnitz, Marie Luise 28 Lowenthal, Ernst G. 76, 99 Michal (AT) 61 Hess, Moses 15, 97 Kastein, Josef 98 Lowenthal-Hensel, Cecile 77 Milgon, Dietmar 56 Hesse, Hermann 16 Kastning-Olmesdahl, Ruth 74, Luckner, Gertrud US 2, 5, 7, 13, Milik, J. T. 73 Heydrich, Reinhard, Chef d. Si- 86, 87 17, 33, 56, 83, 88, 89, 90, 93, Minz, Karl-Heinz 60 cherheitspolizei u. d. SD, Stellv. Katz, Jacob 23 95, 102, 103, 104, 105 Mirjam (Miriam, AT) 62 Reichsprotektor in Böhmen Katz, William (Willy) 75, 76 Ludwig, Theodore M. 65 Mittwoch, Eugen 77 und Mähren26,27,28 Katzenstein, Julius 98 Lueger, Karl 83 Mnaseas 71 Heym, Stefan 74, 75 Kaufmann, Ludwig 18 Lukas, Evangelist' 23, 24, 42, Modonius 52 Hieronymus 85 Kaufmann, Yechezkel 15 43, 44, 45, 46, 47, 49, 50, 66, Mohammed (Muhammad) 85 Hildebrandt, F. 92 Kautzsch, Emil 75 67, 69, 75, 100 Mommsen, Theodor 15 Hiob (Ijob, AT) 32, 64, 82 Keidel, Eugen 104 Luria, Isaak (Jishaq) 20 Moritz, Ernst 77 Hirsch, Emanuel 81 Keller, Erwin 91 Lustiger, Jean-Marie, Erz- Mortkowicz-Olczakowa, Hitler, Adolf 17, 18, 75, 90, 93, Kempner, Benedicta Maria 32, bischof 17 Hanna US 2 96 33 Luther, Martin 47, 48, 67 Moses (AT) 3, 10, 15, 23, 24, Hoch, Marie-Therese NDS 13 Kempner, Robert M. W. 32, 33 Luther, Martin (zuständiger 25, 26, 42, 52, 56, 62, 65, 71, Höllen, Martin 90 101, 102 Mann d. Auswärtigen Amtes 75, 97 Hohelied (Buch, AT) 72 Kershaw, Ian 83 f. Judenfragen) 27 Moses Maimonides 25, 72, 86, Hoffmann (Repräsentant d. Kestenberg-Gladstein, R. 98 Luz, Ulrich 100, 101 88 Rasse- u. Siedlungshauptam- Khoury, Adel-Theodore 79 Moses Nachmanides 72, 88 tes) 27 Kimchi, Josef 84 Maas, F. 61 Mühsam, Erich 83 Hoffmann, Camill 31 Kinet, Dirk 71 Maas, Rubin 95 Müller, G. 15 Hoffmann, David 16 Kisch, Guido 73, 76 Maier, Johann 77 Müller, Heinrich (Chef d. Ge- Hoffmann, Hermann 89 Kitagawa, Joseph M. 65 Maimon, A. 74 stapo) 27, 28 Holm-Nielsen, Svend 75 Klafki, W. 60 Maimonides s. u. Moses Mai- Muhammad s. u. Mohammed Holz, Kurt 56 Klemig, Roland 76 monides Murray, D. F. 61 Hosea (Osee, AT) 71 Klopfer, Gerhard 27 Makkabäer (AT) 72 Murray, John Courtney SJ 7 Hruby, Kurt 100 Klüger, Ruth 29 Mann, Thomas 92 Mussner, Franz 13, 14, 22, 23, Hugo v. St. Viktor 84 König, Bruno 30 Mao Tse-tung 66 24, 25, 26, 46, 70, 98, 105 Huldricus, Jabob 67 Koenig, Jochanan 52 Marcion 63, 65 Mutius, H. G. v. 80, 85 Humboldt, Alexander v. 77 Kogan, Barry S. 86, 88 Marcus, Ivan 72 Hyman, Arthur 59 Kohn, Hans 58 Margalioth, Mordecai 80 Nachmanides s. u. Moses Nach- Hyman, Paula 83 Kolbe, Maximilian OFM US 2 Margalit, Elkanah 58 manides Kollek, Teddy 94, 104 Margulies s. u. Margalioth, Napoleon I. 97 Ilg, Norbert 73 Kolmar, Gertrud 30, 99 Mordecai Nasser, Gamal Abd el 34 Illich, Ivan 22 Konstantin der Grosse, röm. Maria (Mirjam), Mutter Jesu Nathan der Weise (Lessing) 78 Ilsar, Yehiel 98 Kaiser 65, 68, 87 (NT) 2, 3, 18, 67, 69 Nebe, Gerhard-W. 73 Immer, Karl 92 Korach (Korah, AT) 62 Markion s. u. Marcion Nehemia (AT) 61 Irsigler, F. 74 Korczak, Janusz US 2 Markus, Evangelist 43, 46, 47, Nestorius 68, 69 Irving, David 28 Kottje, Raymund 52, 53, 54, 86 66, 75 Neudecker, Reinhard SJ 51 Isaak (AT) 10, 25, 50 Kraus, Hans-Joachim 88 Marquardt, Friedrich Wilhelm Neumann, Erich 27 Kraus, Karl 31 41, 42, 46, 97, 98 Neumann, Franz 33 Jacobi, Friedrich, Heinrich 78 Krausnick, Helmut 91 Marr, Wilhelm 84 Neves, Hannelore 89 Jacoby, Yoram Konrad 101 Krauss, Samuel 67, 68, 69 Marx, Karl 22 Nicolai, Friedrich 78 Jacobs, Bolke 55, 56 Kritzinger, Fr. W. 27 Masaryk, Th. 31 Niemöller, Martin 92 Jäggi, Peer 16 Kropotkin, Fürst P. 59 Maser, Peter 64 Nikolaus von Manjacoria 84 Jakob (AT) 10, 25, 50, 65 Krupp, Michael 69, 80, 89, 96, Mass, F. 61 Noach (Noe, AT) 8 Jakobus d. Ä. (Zebed, Ni") 100 97 Mathieu, Bording G. 83 Nolde, Emil 64 Jehuda Halevi s. u. Juda Halevi Kube, Gauleiter 92 Matthäus, Evangelist 24, 43, 46, Nordau, Max 57 Jehuda Isch Bartota s. u. Judas Küng, Hans 12 50, 66, 100 Noth, Martin 62 Iskariot Maupertius, Pierre-Louis Jellinek, Adolf (Aaron) 68, 69 Lachmann, Hedwig 57 Moreau de 78 Jentzsch, Bernd 29, 91 Lactantius 65 Maurer, Alfons 52 Oesterreicher, John M. 13, 22 Jeremia (AT) 71 Lamberti, Marjorie 83 Maurer, Rudolf 88 Oliphante, Lawrence 98 Jersch-Wenzel, Stefi 83 Lamm, Hans 55 Mayer, Hans 79 Olmesdahl, R. s. u. Kastning- Jesaja (AT) 13, 44, 50, 71, 85, Lamparter, Helmut 62 Mayer, Klaus 19, 72 Olmesdahl Onias IV. 71 88 Lanczkowski, Günter 62, 63 Mayer, Paul Yogi 83 Oppenheimer, Franz 58 Jesus Sirach 71 Landauer, Gustav 57, 58, 59, 60 Meir, Jaffa 95 Joab (AT) 61 Landmann, Salcia 31 Mejia, Jorge, Generalsekretär Origenes 65 Johannes XXIII., Papst 6, 7, 8, Lang, Bernhard 64 der Vatikanischen Kommis- Orland, Nahum 98 96 Lange (Riga), SS-Sturmbann- sion für die religiösen Bezie- Osten-Sacken, Peter v. d. 41, Johannes (Apk) 6, 88 führer 27, 28 hungen z. Judentum 3, 50, 51 42, 82 Johannes der Täufer 43, 46 Lange, Hilde 99 Menczel, Josef Schlomo 95 Johannes, Evangelist 48, 69, 74 Laor, Eran (Erik Landstein) 96 Menczel, Puah 95 Pabst, Hartmut 73 Johannes Paul II. (Woityla, Ka- Lapide, Pinchas 15, 97 Mendelssohn, Georg Benjamin Pannenberg, Wolfhart 81 rol), Papst US 2, 3, 4, 5, 7, Laqueur, Walter 58 77 Passelecq, Georges OSB 99 32, 40, 51, 56 Lasker-Schüler, Else 32 Mendelssohn, Harald v. 64 Paucker, Arnold 82, 83 Jona (Jonas, AT) 71 Lauer, Simon 16 Mendelssohn, Moses 67, 77, 78, Paul, Jean 78 Jorzig,, Herbert 104 Lauf, A. 84 83, 88 Paul VI., Papst 6, 7, 32 Josephus Flavius 14, 71, 79 Leibniz, Gottfried Wilhelm v. 78 Mendelssohn-Bartholdy, Abra- Paula 85 Jospe, Alfred 83 Lessing, Gotthold Ephraim 78 ham 77 Paulus, Apostel 3, 4, 6, 15, 23, Josua (AT) 61, 75 Leuner, Heinz David 43 24, 25, 44, 45, 47, 48, 50, 51, Juda Halevi 86 Levinson, Nathan Peter, Rabbi- 53, 54, 64, 65, 66, 67, 68, 69, Judas Iskariot (NT) 69 ner 55 1 Hier sind auch die aus der Apo- 70, 100, 101 Just-Dahlmann, Barbara 32, 75 Liberles, Robert 83 stelgeschichte (Apg) zitierten Stel- Pelli, Moshe 83 Lichtenberger, Hermann 73 len aufgenommen (vgl. Jerusale- Perles, Felix 83 Kafka, Franz 17, 31 Lichtenstein, Jechiel Zebi 68 mer Bibel: »Dieser Verfasser ist Perles, F. S. 83 Kafka, Georg 31 Lichtheim, George 60 nach der einstimmigen Überliefe- Perthes, Clemens 77 Kahl, Hans Dieter 53, 54 Lidtke, Vernon 82 rung der Kirche Lukas«). Petrus Alphonsi 84

112 Petrus, Apostel 15, 44, 46, 68, Rosenthal, Ludwig 93 Schöngarth (Krakau), SS-Ober- Uhde, Bernd 60 69 Rosenzweig, Franz 14, 15, 59, führer 27 Urbach, Ephraim 19 Petrus Damiani 84 88 Scholder, Klaus 93 Uria (AT) 61 Petrus Venerabilis 84 Rotenstreich, Nathan 19 Scholem, Fanja 21 Petuchowski, Jakob J. 86, 87 Rowley, H. H. 73 Scholem, Gershom (Gerhard) Vägts, Alfred 77 Peyrere, Isaac de la 98 Rozenblit, Marsha L. 83 14, 15, 19, 20, 21, 22, 72, 83, VavroVa, Dana 89 Pfisterer, Rudolf 78 Rudolf II., Kaiser 74 99 Veijola, T. 61 Philo von Alexandrien 72 Rübenach, Bernhard 78 Schopenhauer, Arthur 59 Verdet, Andre 19 Pia, Monique 82 Rückerl, Adalbert 101 Schors, Josef Bechor 84 Volavkova, Hanna 28 Pilatus 53 Ruether, Rosemary R. 100 Schorsch, Ismar 82 Voltmer, E. 74 Piron, Mordechai, Rabbiner 16 Rufeisen, Oswald Daniel OCD Schreiber, Hermann, Rabbiner Vorgrimler, Herbert 3, 8 Pius XI., Papst 78 99, 104 85 Pius XII., Papst 6, 7, 32 Ruth (AT) 56 Schulz, W. 60 Wagenseil, Christoph 67 Plotin 25 Schwarz, Günther 93 Walk, Joseph 88, 89, 93, 99, 101 Podet, Allen, Rabbiner 41, 105 Saadia ben Josef (Gaon zu Sura, Schwarz, Walter 56 Walters, James J. 83 Poliakov, Leon 78 Sa'adjah ben Josef al Fajjumi Schweiger, Ralph 85 Warburg, Aby M. 15 Posen, Jacob, Rabbiner 16 Gaon) 86 Schweitzer, Albert 68 Weber, Ilse 29 Prager, Mirjam OSB 88 Sabbatai, Zwi (Pseudomessias) Schweizer, Eduard 69 Weber, Max 15 Press, V. 74 21, 22, 98 Weber-Krebs, Frieda 2 Preysing, Konrad Graf v., Kar- Sabbati Zewi s. u. Sabbatai Zwi Stalin, Josef 18 Wehrle, Josef 62 dinal, Bischof 91 Sacharja (Zacharias, AT) 42, 87 Stargardt, Familie 99 Weil, Gotthold 14 Pringel, Annette 82 Sachs, Nelly 31, 32, 86 Staritz, Katharina 93 Weinrich, Michael 81, 82, 87 Psalmen (AT) [84 (85), 11] 2; Safrai, Shmuel 79 Stein, Edith (Teresia Benedicta Weinzierl, Erika 13 [137, 5] 18; [22] 44; [55, 24] Salomo (AT) 52, 61, 75 a Cruce) 33 Weimar, Peter 61, 71 69 Samuel (AT) 61, 75 Stein, Leopold 83 Weiss, Hans Isaak 101 Psalmen Salomos 42 Sartre, Jean-Paul 59 Steinhardt, Jakob 56 Weizsäcker, Richard v. 41 Ptolemäus VII. 71 Seckler, Max 88 Steinschneider, Moritz 14, 67, 68 Weltsch, Robert 58, 99 Pufendorf, Samuel v. 77 Sellheim, Rudolf 61 Stephany, Erich 52, 54 Werblowsky, R.-J. Zwi 22 Pulzer, Peter 83 Severus 71 Sterling, Eleonore 93 Wertheimer, Jack 83 Shakespeare, William 59, 60 Stern, Menachem 79 Whitman, C. 0. 59 Quadratus 65 Shamir, Yitzak 36 Stern-Täubler, Selma 83 Wiederkehr, Dietrich 88 Shemesh, Simcha 95 Sternberg, Henri 30 Wienken, Heinrich, Bischof 90, Rahner, Karl 3, 8 Siemann, W. 84 Stöhr, Martin 55, 97 91 Rasch, Hansjörg 85 Silbermann, Joachim 16, 17 Strasser, Otto 98 Wiesel, Elie 82 Raschi, Rabbi s. u. Ben Isaac, Simeon (NT) 50 Strauss, Heinrich 95 Wilczynska, Stefania US 2 Salomo Simon, Ernst 21 Strauss, Herbert A. 83 Wilde, Oskar 59 Rau, Johannes 55, 56 Simon, Magus 65 Strindberg, August 59 Wilhelm II., Kaiser 83, 98 Reb, Joshua 75 Simon v. Kyrene 65 Strolz, Walter 87, 88 Wilhelm, Hans-Heinrich 91, 92 Reck, U. 60 Smedt, Emile Joseph de, Bischof Stuckart, Staatssekretär, Reichs- Willebrands, Jan G. M., Kardi- Rectov, M. 58 7 innenministerium 27 nal 5, 7 Ree, Anton 84 Sölle, Dorothee 81 Wilms, Franz-Elmar 70, 71 Rees, Elfan 36 Sonne, Abraham s. u. Ben Jiz- Talmage, Frank 72 Winkens, Jo 54 Reichenbach 84 chak, Abraham Talmon, Shemaryahu 12, 15, Winston, David 72 Reinharz, Jehuda 99 Spinoza, Baruch (Benedictus) de 16, 88 Wirth, Wolfgang 98 Reisberg, Martin 56 60, 88 Tanchum, Rabbi 68 Wistrich, Robert S. 83 Rendtorff, Rolf 79, 88, 98 Susman, Margarete 32 Tertullian 65, 71 Wittstock, Alfred 79, 82 Rendtorff, Trutz 81 Sylvanus, Erwin US 2 Theobald, Michael 70 Wolf, Arie 99 Reuchlin, Johannes 73 Theodosius, Archidiakon 85 Wolff, Carola 85 Reynolds, Frank E. 65 Schaeder, Grete 57, 59 Thieme, Hans 73, 76, 78, 84, 96 Wolfsberg, Oscar s. u. Aviad, Rheins, Carl J. 83 Schäfer, Peter 77, 79, 80 Thierfelder, Jörg 93 Yeshayahu Richter (Buch AT) 61, 71 Scheffler, Wolfgang 26, 93, 101 Tholuck, F. A. G. 64 Wyler, Herbert 16 Ricoeur, P. 70 Scheid, Richard 31 Thoma, Clemens SVD US 2, Wyler-Guggenheim, Susy 16 Riegner, Gerhart 5, 16, 98 Schempp, H. 58 12, 13, 14, 15, 16, 22, 23, 24, Wyman, Bill 19 Riesner, Rainer 66 Schiller, Friedrich 55 25, 26, 62, 72, 73, 75, 81, 86, Wyschogrod, Michael 22 Riesser, Gabriel 83, 84 Schim'on s. u. Petrus 88, 100, 101 Wyszynski, Stephan, Kardinal, Riff, Michael Anthony 83 Schleiermacher, Friedrich Da- Thomas von Aquin 61, 88 Erzbischof 90 Robinson, John A. T. 66 niel Ernst 16 Thomasius, Christian 77 Yadin, Yigael 73 Röhm, Eberhard 93 Schlichting, Günter 67, 68 Tillich, Paul 81 Röll, Walter 74 Schlösser, Manfred 29 Timotheus (NT) 67 Zacharias (AT) s. u. Sacharja Roloff, Jürgen 66, 67 Schluchter, W. 15 Tolstoi, Leo N. 59 Zacharias (NT) 42, 44 Ron (israel. Botschafter in Rom) Schlüter, M. 80 Torrella, Cascante, Ramon, Bi- Zahrnd, Heinz 81 US 2 Schmid, Herbert 101 schof 3, 50, 51 Zasius, Ulrich 73 Roncalli, Angelo, Nuntius (spä- Schmidig, D. 16 Toury, Jacob 83 Zefanja (AT) s. u. Zephania ter Johannes XXIII.) s. u. Jo- Schmude, Jürgen 101 Tramer, Hans 99 Zeller, Dieter 67 hannes XXIII. Schneider, G. 66 Trepper, Leopold 97 Zephanja (Sophonias, AT) 6 Rosendor, Bitia 56 Schnider, Franz Xaver 43 Trutwin, Werner 85 Zerembinska, Maria 29 Rosenthal, Fritz s. u. Ben Cho- Schnittke, Olga 95 Tur-Sinai, N. H. (Harry Zimmermann, Mos(c)he 83, 84 rin, Schalom Schoenflies, Familie 99 Torczyner) 2, 18 Zywulska, Krystyna 29

113 >IHM Dokumente des heutigen religiösen Denkens 11111110 und Forschens in Israel Hebräische Veröffentlichungen aus Israel in deutscher Übersetzung

HERAUSGEBER: Dr. Marcel J. Dubois OP IMMANUEL X/1982 Jerusalem/Freiburg i. Br. Stellvertretender Herausgeber: Rabbi Jonathan Chipman Ökumenisch-Theologische Forschungsgemeinschaft in Israel* und Freiburger Rundbrief in Zusammenarbeit mit: der Abteilung für Religionswissenschaft der Hebräischen Universität Jerusalem INHALT der »School of Jewish Studies« der Universität Tel Aviv dem »Israel Interfaith Committee« dem Israel Büro des »American Jewish Committee« I Sinaibund, Prophetie und Israels der »Anti-Defamation League of B'nai B'rith« Erwähltheit in der rabbinischen der »Reformed Churches of Holland« Polemik. Von Benjamin Uffenhei- Redaktionskomitee mer, Professor für Bibelwissen- Für 5 Fachbereiche mit je einem jüdischen und schaft an der Universität Tel Aviv . 115 / IM 2 christlichen Redakteur: Hebräische Bibel: Dr. Benjamin Uffenheimer, Pro- fessor für Bibelwissenschaft, Bibelabtlg. der Univer- II Jehoshua Amir zum 70. Geburts- sität von Tel Aviv — Professor Jacques-Raymond tag. Von Benjamin Uffenheimer 128 / IM 15 Tournay OP, Ecole Biblique der Dominikaner in Jerusalem

Neues Testament und zeitgenössisches Judentum: Dr. III Der Text der Mischna. Neue Fak- David Flusser, Professor für Vergleichende Reli- simile-Ausgaben von Mischna- gionswissenschaft, Hebräische Universität Jerusa- lem — Dr. Michael Krupp, Beauftragter der Evan- Handschriften und Editionsversu- gelischen Kirche Berlin für das Ökumenische Ge- che. Teil I — Einleitung: Die drei spräch zwischen Christen, Juden und Moslems in vollständigen Mischna-Hand- Jerusalem schriften. Bearbeitet von Dr. Mi-

- christliche Beziehungen in Vergangenheit und Jüdisch chael Krupp, Jerusalem 134 / IM 21 Gegenwart: Dr. Ze'ev W. Falk, Professor für Fami- lien- und Erbrecht, Hebräische Universität Jerusa- lem — Dr. Paul Figuera Jüdisches Denken und Spiritualität: Dr. Warren IV Personenregister IMMANUEL, Jg. X 140 / IM 27 Z. Harvey — Fr. Jose Espinosa Zeitgenössisches religiöses Gedankengut in Israel: Professor Dr. Pinhas H. Peli, Beersheba — Dr. Wes- ley Brown Berater: Rev. Äke Skoog, Ökumenisch-Theologi- sche Forschungsgemeinschaft in Israel — Theodore Friedman, Anti-Defamation League der B'nai B'rith, New York Für die deutsche Ausgabe (Auswahl): Dr. Gertrud Luckner, Dr. Clemens Thoma SVD, Professor für Bibelwissenschaft und Judaistik, Theologische Fa- kultät Luzern * Gründer und Herausgeber 1972-1980 Dr. J. (Coos) Schone- veld

114 1 IM / I Sinaibund, Prophetie und Israels Erwähltheit in der rabbinischen Polemik' Von Benjamin Uffenheimer, Professor für Bibelwissenschaft an der Universität Tel Aviv

A. Die biblische Problematik 2) War die Offenbarung ein furchterregendes Geschehen Der Bericht von der Gottesoffenbarung am Sinai (Ex oder hat sie sich in äusserer und innerer Ruhe, ohne 19-24) beruht auf der Bundesidee, deren geschichtlichen jegliches Moment von Furcht oder Schrecken, abge- Hintergrund und deren theopolitische Bedeutung ich an spielt? anderer Stelle ausführlich dargelegt habe'. Gott gegen- Wie schon angedeutet ist die Antwort der Quellen alles über ist Israel »Erbteil« oder besser »Vasallenbereich« (Ex andere als eindeutig. Einerseits wird Mose gesagt: »Mein 19,5), den Völkern gegenüber ist es »Königsbereich von Antlitz kannst du nicht sehen, denn nicht sieht mich der Priestern«. In späteren Quellen wird dieses Verhältnis mit Mensch und lebt . . . ich setze dich in die Kluft des Felsens dem Verbum »erwählen« und dem Begriff »Erwählung« und schirme meine Hand über dich, bis ich vorüberfah- bezeichnet (Dtn 7,6; Ps 132,13; 135,4 et passim). Die Inti- re . . . dann siehst du meinen Rücken, aber mein Antlitz mität dieser Stellung Israels Gott gegenüber wird zuwei- wird nicht gesehen« (Ex 33,20-23). Andererseits steht an len mit Vorstellungen aus dem Familienbereich umschrie- anderer Stelle, dass Nadaw und Awihu sowie siebzig von ben, wobei besonders die göttliche Vaterschaft betont den Ältesten Israels auf den Berg gestiegen seien: »Sie sa- wird: »Söhne seid ihr dem Herrn eurem Gott« (Dtn 14,1) hen den Gott Israels . . . Er aber schickte nicht seine Hand oder »mein erstgeborener Sohn ist Israel« (Ex 4,22). Spä- aus wider die Eckpfeiler der Söhne Israels, sie schauten ter wurde der davidische König als Sohn Gottes bezeich- Gottheit und assen und tranken« (Ex 24,10 f.). 3 net (2 Sam 7,14; Jes 9,1; Ps 2,1 et passim), was besonders Die beiden hier implizierten Antworten sind einander im Sinne göttlicher Adoption zu verstehen ist, während konträr entgegengesetzt: Hier steht, Mose allein sei die das Verhältnis Israels zu Gott mit Vorstellungen aus dem Gottesschau zuteil geworden, und zwar eine sehr einge- erotischen Bereich verinnerlicht wird; hierbei ist Gott im- schränkte Schau; dort steht, die Vertreter des Volks hät- mer der enttäuschte oder betrogene Bräutigam, Ehemann ten ihn ohne jegliche Einschränkung gesehen, während oder Liebhaber, während Israel als treulose Braut, Ehe- sie assen und tranken, ohne dass ihnen ein Übel wider- frau, ja als Hure angeprangert wird (Hos 1-3; Jer fuhr. Und wiederum heisst es: »Das Ansehn SEINER Er- 2,1-3.20.23-25.32f.; Hes 16,23). Aus all diesen bildhaften scheinung war wie eines fressenden Feuers am Haupte des Umschreibungen ergibt sich, dass die Nähe zu Gott an Bergs den Augen der Söhne Israels« (Ex 24,17) — dem- Bedingungen geknüpft ist, ohne welche die besonderen nach hätte das ganze Volk ihn gesehen. Rechte hinfällig werden und sich in eine besondere Ferner handelte es sich laut Ex 19,12f.16.18 um ein Schuld verwandeln: »Euch nur habe ich auserkannt von furchterregendes, gefährliches Ereignis, begleitet von Be- allen Sippen des Bodens, darum ordne euch ich zu alle eu- ben und Ausbrüchen der Naturgewalten: »Hütet euch den re Verfehlungen (Am 3,2), wobei das Wort »alle« hervor- Berg zu ersteigen, auch nur seinen Saum zu berühren! gehoben wird; dies schliesst Verfehlungen ein, die ande- Allwer den Berg berührt, sterben muss er, sterben, nicht ren Völkern nicht angerechnet werden, wie z. B. die Ver- rühre an den eine Hand, sondern er werde gesteinigt, ge- wirklichung von Recht und Gerechtigkeit, wie aus dem steinigt oder erschossen, erschossen, ob Tier ob Mensch, dortigen Zusammenhang ersichtlich. er darf nicht leben! . . . Es ward am dritten Tag, wies Im folgenden soll aufgezeigt werden, wie die Rabbinen Is- Morgen wurde, da ward Donnerschallen und Blitze, ein raels Erwähltheit in ihrer polemischen Auseinanderset- schweres Gewölk auf dem Berg und sehr starker Schall zung mit dem Christentum und mit der heidnischen Welt der Posaune. Alles Volk, das im Lager war, bebte . . . Der gedeutet haben. Bei dieser Polemik sind drei Streitfragen Berg Sinai rauchte all, darob dass ER im Feuer auf ihn eng miteinander verbunden: Israels Erwählung, die Sinai- herabfuhr, sein Rauch stieg wie des Schmelzofens Rauch, Offenbarung und die Prophetie in Israel. Die beiden erst- all der Berg bebte sehr.« Dagegen spielte sich laut Ex genannten gehören bereits in der Tora zusammen; die 24,10 f.17 der Vorgang in einer Atmosphäre äusserer und Prophetie als drittes Moment ist erst im Zuge der anti- innerer Ruhe und Gelöstheit ab, wobei das ganze Volk christlichen Polemik dazugekommen. ohne Furcht die Herrlichkeit des Herrn schaute; von Aaron, Nadaw und Awihu sowie siebzig von den Ältesten B. Die harmonistische Exegese des Midrasch Israels heisst es: »Sie sahen den Gott Israels: zu Füssen Was den Charakter der Sinai-Offenbarung betrifft, so be- ihm wie ein Werk aus saphirnen Fliesen, wie der Kern des stehen bereits in der Bibel unterschiedliche Auffassungen, Himmels an Reinheit. Er aber schickte nicht seine Hand welche die Exegeten — frühere wie neuere — beschäftigt aus wider die Eckpfeiler der Söhne Israels, sie schauten haben. In der Hauptsache sind es zwei Fragen, die hinter Gottheit und assen und tranken.« Und von der Wolke der Erzählfolie aufscheinen: heisst es: »Das Ansehn SEINER Erscheinung war wie ei- 1) Wer hat Gott geschaut und wer durfte mit ihm spre- nes fressenden Feuers am Haupte des Bergs den Augen chen: Mose allein oder eine auserlesene Gruppe oder der Söhne Israels« — ohne jeglichen Hinweis auf Äusse- das ganze Volk?2 rungen von Furcht oder Schrecken. * Hebräisch erschienen in der Zeitschrift ‚ Molad<, Nr. 1980, Bd. 8 (31), Im Midrasch wird die erste Frage nicht aufgeworfen, H. 39/40, S. 91-110. Englische Übersetzung in: Immanuel 11 (Herbst denn die Rabbinen sind der Meinung, am Sinai habe das 1980). Aus dem Hebräischen übersetzt von Dr. Dafna Mach, Jerusalem, und vom Verfasser danach überarbeitet. ganze Volk gesehen und gehört, nicht nur Mose oder eine Dazu mein Buch, Die frühe Prophetie in Israel (hebr.), 1972, S. 86 f. kleine Gruppe von auserwählten Vertretern des Volks. Sie und mein Aufsatz über segulla, in: Bet Mikra 4 (1978), S. 427-434. 2 Dazu mein oben, Anm. 1, genanntes hebräisches Buch, S. 99; ferner ge der westlichen Forschung charakteristisch sind: M. Noth, Das zweite S. E. Loewenstam, in: Encyclopaedia Mikrait V, S. 1027 ff.; J. Licht, Of- Buch Mose, ATD, 1959; W. Beyerlin, Herkunft und Geschichte der älte- fenbarung der Gottesgegenwart bei der Sinai-Offenbarung (hebr.), in: FS sten Sinaitraditionen, 1961; B. S. Childs, Exodus, The Old Testament Li- Loewenstam, 1978, S. 251-267. A. Tveig, Die Verleihung der Tora am Si- brary, Philadelphia 1972. nai, Jerusalem 1977. Unter den nicht-hebräischen Veröffentlichungen der Zur Bedeutung dieser Verse vgl. mein oben, Anm. 1, genanntes hebräi- letzten Jahre seien drei genannt, die für die verschiedenen Gedankengän- sches Buch, S. 98-100.

1M2 1 115 sind sich darin einig, dass Gott zweimal erschienen sei: drasch, dem es um den Ausgleich von Widersprüchen auf dem Sinai und am Schilfmeer; beides seien markante zwischen einzelnen Versen geht. Die meisten Motive im Ereignisse unter Beteiligung sämtlicher Bevölkerungs- Midrasch dienen jedoch als Ausdruck individuellen Den- schichten gewesen. Sie legen Wert darauf, dass gerade am kens, wobei das exegetische Interesse von untergeordne- Schilfmeer die Gottesgegenwart von allen geschaut wor- ter Bedeutung ist. Ein Blick auf die in dieser Gruppe an- den sei. zuführenden Aussprüche zeigt, dass ihnen eine Meinungs- Allerdings lassen ihre Ausführungen zwei methodisch ver- verschiedenheit über das Wesen der Sinai-Offenbarung schiedene Grundhaltungen erkennen: Manche äussern zugrunde liegt: Besonders betont wird entweder die geho- sich sehr frei und haben die im Bibeltext immanenten Ge- bene Stimmung, von der das Volk ergriffen war, oder der gensätzlichkeiten noch hervor; andere befassen sich mit immanente numinose Charakter des Geschehens. Nach der Auslegung des Textes und suchen durch Harmonisie- dem ersten Ansatz verspürte das Volk zur Stunde der Of- rung zwischen den widersprüchlichen Aussagen einzelner fenbarung keinerlei Angst, verlangte vielmehr ungestüm, Verse zu vermitteln. Die einen wagen, freie Gedanken zu Gottes Wort zu vernehmen: »Wir wollens aus dem Mun- äussern, welche die Grenzen des biblischen Berichts weit de unseres Königs hören, denn wers durch den Wand- hinter sich lassen; die anderen verlassen gedanklich nicht schirm vernimmt, gleicht nicht dem, ders aus dem Munde den dort abgesteckten Bereich. Den reinen Exegeten un- des Königs hört.«4 ter ihnen geht es nicht darum, ihre eigene Meinung zum Am Schilfmeer erkannten ihn alle und deuteten freudig Ausdruck zu bringen, sondern um die Lösung exegeti- auf ihn. »Rabbi Elieser sagt: Woraufhin sagt man, eine scher Probleme; ihre Methode ist die organische Weiter- Magd am Schilfmeer habe mehr gesehen als Jesaja und führung des innerbiblischen Midrasch, wie am folgenden Hesekiel schauten? Es heisst: >durch die Künder gebe ich Beispiel dargelegt werden soll: Ex 19,9 steht, dass Gott Gleichspruch aus< (Hos 12,11); da sie ihn sahen, erkann- nur mit Mose gesprochen habe, aber mit sehr lauter Stim- ten sie ihn, und alle taten den Mund auf und sprachen: me, und als Begründung wird angegeben: »um des willen, >dies ist mein Gott, ich rühme ihn< (Ex 15,2).«5 »Als der dass höre das Volk, wann ich mit dir rede, und auch dir Heilige gelobt sei Er sich am Meer offenbarte, waren es sie vertrauen auf Weltzeit«. Im Gegensatz dazu heisst es rechtschaffene Frauen, die ihn zuerst erkannten.« 6 Sogar Ex 20,18 f.: »Alles Volk aber, sie sahn das Donnerschal- Kleinkinder und Säuglinge waren an diesem Ereignis be- len, das Fackelngeleucht, den Schall der Posaune, den teiligt: »Als unsere Väter am Meer waren, lag das Klein- rauchenden Berg, das Volk sah, sie schwankten, standen kind auf dem Schoss seiner Mutter und der Säugling von fern. Und sprachen zu Mose: Rede du mit uns, wir saugte an den Brüsten seiner Mutter, und als sie die Got- wollen hören, aber nimmer rede mit uns Gott, sonst müs- tesgegenwart schauten, hob das Kleinkind den Kopf.«' Im sen wir sterben.« Demnach hätte Gott doch mit dem gan- Midrasch Dtn rabba wird erzählt, wie sich die israeliti- zen Volk gesprochen und nicht nur mit Mose allein, wie schen Frauen in hochschwangerem Zustand hinaus aufs der vorige Vers nahegelegt hatte. Der Erzähler versucht Feld begaben, um den Blicken der Ägypter zu entgehen, jedoch, den Widerspruch aufzuweichen und durch die damit diese das Neugeborene nicht umbrächten; in der Annahme aus dem Weg zu schaffen, Gott habe zunächst Fortsetzung heisst es dort: »Und wie überlebten die Kin- wirklich zum Volk gesprochen, allerdings nur mit dem der auf dem Feld? Rabbi Schimon ben Lakisch sagte: Ziel, »euch zu prüfen, ist Gott gekommen, und um des Zwei Engel gab der Heilige gelobt sei Er jedem von ih- willen, dass seine Furcht euch überm Antlitz sei, damit ihr nen, einen zum Waschen und einen zum Bekleiden, auch vom Sündigen lasset« (Ex 20,20). In der Fortsetzung getränkt und gesalbt wurden sie, wie es heisst: >er säugts heisst es: »Mose aber trat zu dem Wetterdunkel, wo Gott mit Honig aus Steinspalt< (Dtn 32,18) 8 und ferner heisst war« (ebd. 21). Die harmonistische Methode dieses Er- es: >ich badete dich in Wasser . . . ich kleidete in Buntge- zählers, wonach Mose erst zum Mittler geworden sei, wirk dich< (Hes 16,10 f.). Rabbi Chija der Grosse sagte: nachdem sich herausgestellt hatte, dass das Volk der un- Nicht die Engel taten dies, sondern der Heilige gelobt sei mittelbaren göttlichen Anrede nicht habe standhalten Er höchstpersönlich, denn es heisst: >ich badete dich<«; können, ist auch dem Deuteronomisten vertraut, der diese wenn es hiesse: >ich liess dich baden<, könnte man sagen, Überlieferung jedoch moralisierend einsetzt. Bei ihm vielleicht durch einen Engel, es steht aber ausdrücklich heisst es: »Antlitz zu Antlitz redete ER mit euch am Berg >ich badete dich< — also nicht durch einen Engel; gepriesen mitten aus dem Feuer — ich aber stand zwischen IHM und sei der Name des Heiligen gelobt sei Er, er höchstpersön- euch zu jener Frist, euch SEINE Rede zu melden, denn lich tat ihnen dies. Da wuchsen die Kinder auf dem Feld ihr fürchtet euch vor dem Feuer und stiegt den Berg nicht auf wie die Pflanzen, und wie sie herangewachsen waren, hinan« (Dtn 5,4 f.); dort ab Vers 20 wird die Aussage von traten sie herdenweise in ihre Häuser. 9 Das ist es, was He- Ex 20,20 noch dahingehend ausgebaut, dass das Volk zur sekiel sagt: >Wachstum gab ich dir wie dem Sprosse des Einhaltung der göttlichen Worte ermahnt wird. Sowohl Feldes< (16,7). Und woher wussten sie, gerade zu ihren der alte Erzähler als auch der Deuteronomist legen also Eltern zu gehen? Der Heilige gelobt sei Er trat ein und den Widerspruch bei, indem sie zwischen den Quellen wies jedem einzelnen von ihnen sein Elternhaus und sagte harmonisieren: Zunächst sprach Gott mit dem Volk, um zu ihm: Ruf deinen Vater Soundso und deine Mutter es zu prüfen und zur Gottesfurcht zu erziehen, und erst Soundso und sag zu ihr: Erinnerst du dich nicht, wie du nachdem es sich der direkten Anrede nicht gewachsen ge- mich auf dem und dem Feld an dem und dem Tag vor zeigt hatte, trat Mose als Mittler in Funktion. Der talmu- nunmehr fünf Monaten geboren hast? Darauf fragt sie dische Midrasch aber begnügte sich nicht mit dieser allge- das Kind: Und wer hat dich aufgezogen? Und es antwor- meinen Erklärung; er wusste sogar genau anzugeben, was 4 Mechilta deRabbi Jischmael, Massechta debaChodesch, II, Ed. Horo- das Volk aus dem Munde Gottes und was aus dem Mun- vitz/Rabin S. 210. de des Mose gehört habe: »>Ich bin der Herr dein Gott< Mechilta deRabbi Jischmael, Massechta deSchira, III, S. 126 f.; bSota 12b; Ex. r. XXIII 15: »Und die aus dem Meer emporstiegen, wiesen jeder und >du sollst keine anderen Götter neben mir haben< ha- einzelne mit dem Finger auf ihn und sprachen: >Mein Schutzgott der, ich ben wir aus dem Munde der Macht gehört<« (bMakkot rühme ihn.<« 24a), das übrige aus dem Mund des Mose. 6 Ex. r. I 16. jSota V 4. Vgl. Ex. r. I 15; bSota 1 lb; Pirke deRabbi Elieser, 42; Seder Eliahu C. Der freie kreative Midrasch rabba VII (Ed. Friedmann, S. 43 unten). Dies war ein Beispiel für ausgesprochen exegetischen Mi- 9 Dazu Ex. r. und bSota s. o. Anm. 8.

116 IM 3 tet: Ein junger Mann, struppig und wohlgestaltl°, wie es Wie wir beobachtet haben, sind diese und ähnliche Mi- sonst keinen gibt, er steht draussen, er hat mich ja herge- draschim in Schriftversen verankert, verschärfen aller- bracht. Darauf sagte sie : Komm, zeig ihn mir, und sie gin- dings die dort angelegten Gegensätze, und zwar nicht so gen hinaus und suchten ihn in sämtlichen Eingängen und sehr aus exegetischem Interesse, als vielmehr um diesen überall, fanden ihn aber nicht. Und deshalb: als sie ans einzigartigen Moment auszumalen und zu vergegenwärti- Meer kamen und ihn sahen, deuteten sie ihren Müttern gen: Die einen sagen, die Tora sei freudig und mit gren- mit dem Finger auf ihn und sagten ihnen: >Dies ist mein zenloser Bereitwilligkeit aufgenommen worden; die ande- Gott, ich rühme ihn< (Ex 15,2) — der ist es, der mich auf- ren aber sagen, nein, ein numinoser abgrundtiefer Schrek- gezogen hat, das ist mein Gott, ich rühme ihn, wahrlich, ken habe Israel beherrscht, die Tora sei ihm sozusagen Wachstum wie dem Sprosse des Feldes gab ich dir« (Dtn. aufgezwungen worden, Er habe den Berg über sie ge- r., Ed. Lieberman, Jerusalem 1940, S. 14 f.). stülpt. Dieser Midrasch beschreibt Gott als schönen lockigen Jüngling, entsprechend der freien Umdeutung von Hld D. Die theologische Fragestellung des Midrasch 5,11: »seine Locken Dattelrispen, schwarz wie der Rabe«. Das freie Denken der Autoren der eben angeführten Be- Er selbst zog die Kinder gross, wusch und fütterte und legstellen ist allerdings nicht Selbstzweck; die theologi- pflegte sie und brachte sie auch nach Hause. Die Kinder sche Diskussion unter den Weisen Israels, hier in erzähle- erkannten ihn am Schilfmeer und zeigten ihn ihren Eltern. risches Gewand gekleidet, weist in erster Linie auf inner- Durch diese höchst gewagte Vermenschlichung entsteht israelische Meinungsverschiedenheiten; ausserdem ist sie eine intime Atmosphäre, welche die Wirklichkeit der Got- eindeutig an eine ausserisraelische Adresse gerichtet: an tesgegenwart unterstreicht: Die Kinder identifizieren ihn die gebildeten Heiden einerseits und an das Christentum mit der Gestalt eines schöngelockten Jünglings, der sie andererseits. Von der einen wie von der anderen Seite versorgt hatte, als sie noch draussen auf dem Feld ausge- wurde die Idee der Erwähltheit Israels angefochten; auf setzt waren. die jeweils angeführten Argumente werden wir noch zu Ähnlich sagten andere Meister, am Schilfmeer sei ihnen sprechen kommen. Im Brennpunkt dieser Polemik stehen der Heilige gelobt sei Er als wehrhafter Jüngling, als folgende drei Fragen: »Kriegsheld« (Ex 15,20) erschienen und auf dem Sinai als 1) Sind die biblischen Aussagen von der göttlichen Rede, mitleidiger Greis." Ja, ganz Israel habe ihn am Schilfmeer der göttlichen Stimme, die am Sinai erscholl, wörtlich in der Fülle seiner menschlichen Konkretheit erkannt und zu verstehen, oder handelt es sich um einen allegori- sogar mit dem Finger auf ihn gewiesen. In diesen Midra- schen Anthropomorphismus für ein transzendentes schim ist das numinose Element ganz zurückgetreten, und Phänomen? geblieben ist nur der Zauber der Offenbarung, wodurch 2) War die Sinai-Offenbarung für Israel allein oder für eine intime Atmosphäre zwischen Gott und dem Volk alle Völker bestimmt? entsteht. Ebenso ist darin zu spüren, dass das Volk, willig, 3) Wie verhält sich diese Offenbarung zu sämtlichen spä- aus einer Art geistiger Hochstimmung heraus, spontan zu- teren Gotteserscheinungen, welche die Propheten hat- sagte: »>Da antwortete alles Volk mitsammen< — sie ant- ten? worteten also nicht kriecherisch, auch nicht einer vom an- Die Quellen sind so geartet, daß sie nicht jede einzelne dern übernommen, sondern sie waren alle eines Sinnes Frage für sich abhandeln, daher werden sie sich auch in und sprachen: >Alles, was ER geredet hat, wir tuns.<«' 2 unseren Betrachtungen nicht ganz streng auseinanderhal- »Rabbi Simai legte aus: Da Israel das Tun dem Hören ten lassen. Wenden wir uns zunächst den Aggadot zu, wo voranstellte, kamen 600 000 Dienstengel zu jedem einzel- Ausführungen über das Wesen des göttlichen Sprechens nen von ihnen und wanden ihm zwei Kronen, eine für mit der Frage nach Israels Stellung unter den Völkern zu- >wir wollen tun< und eine für >wir wollen hören<.«" In die- sammengehen, und versuchen wir, deren polemische sem Sinne ist eine andere 'Überlieferung gestaltet, wonach Adresse zu identifizieren. der Heilige gelobt sei Er die Tora zunächst sämtlichen Weltvölkern angeboten habe, diese aber hätten sie abge- 1) Gottes Wort, Israel und die Völker lehnt: »Dies lehrt, dass der Heilige gelobt sei ER sie jeder Als Ausgangspunkt habe ich einen aggadischen Ausspruch Nation und Sprache antrug, sie dort aber nicht aufgenom- gewählt, der literarisch dramatisierend die universale Be- men wurde; bis er zu Israel kam, die nahmen sie auf.« 14 deutung des göttlichen Wortes betont: »>ER hatte zu Gegenüber den Belegen, welche die Freude des Volkes Aaron gesprochen: Geh Mose entgegen in die Wüste!< hervorheben, da es gewürdigt ward, Gott zu sehen und zu (Ex 4,27) — das ist es, was geschrieben steht: >wunderbar 37,5); was hören, sowie dessen uneingeschränkte Bereitschaft, das mit seinem Schall donnert der Gottherr< (Hiob Joch seines Königtums und seiner Tora anzunehmen, be- heisst >er donnert

10 Ex. r. XXIII 8: »Und sie sagten zu ihnen: ein Jüngling, wohlgestalt aus Haifa und aus dem Munde von Rabbi Elasar ben Pedat tradiert wird: und preiswürdig«, vielleicht ist auch zu lesen: »struppig, wohlgestalt und »>Ich bin der Herr dein Gott< — das ist es, was geschrieben steht: >Gottes preiswürdig«, dazu Lieberman in seiner Ausgabe. Reiterei sind Myriaden, Tausendschaften im Wechselzug< (Ps 68,18). " Mechilta deRabbi Jischmael, Massechta debaChodesch V, S. 219 f.; Rabbi Awdimai aus Haifa sagte: Ich habe gelernt, dass mit dem Heiligen vgl. Tanchuma Buber, I Jitro, S. 40. gelobt sei Er 22 000 Wagen von Dienstengeln auf den Sinai herabfuh- 12 Mechilta deRabbi Jischmael, Massechta debaChodesch, II, S. 209; ebd. ren . . . Rabbi Elasar ben Pedat sagte: Und sie alle stiegen mit scharfen S. 219. Schwertern herab, um Israels Feinde [Euphemismus für Israel selbst] zu " bSchabbat 88a. vertilgen; wenn sie die Tora nicht angenommen hätten, wären sie vertilgt " bAwoda sara 2b. worden. Rabbi Levi sagte: Sie erblickten jedoch das Antlitz der Gottesge- 15 Zu diesem Midrasch s. im folgenden. genwart, und wer das Antlitz der Gottesgegenwart erblickt, stirbt nicht, 16 »'Sie stellten sich unterhalb des Berges auf< (Ex 19, 17) — Raw Dimai wie es heisst: >Im Leuchten des Königsgesichts ist Leben< (Spr 16,15)« bar Chama sagte: Dies lehrt, dass der Heilige gelobt sei Er den Berg wie (Tanchuma Buber, Jitro, S. 76 f.).

1M4 1 117 Stimme von Süden zu ihnen kommen, da rannten sie nach chen der Seelen gekleidet, wird an anderer Stelle mit Isra- Süden, um die Stimme zu empfangen, von Süden wandte el verbunden. Dort heisst es allerdings, ihre Seele sei zu- sichs ihnen nach Norden, da rannten sie gen Norden, und rückgekehrt, als die Tora für sie um Erbarmen bat: »>Ich von Norden wandte sichs nach Osten, da rannten sie gen bin der Herr dein Gott< — damit hub Rabbi Chanina an: Osten, und von Osten wandte sichs ihnen nach Westen >Höre, mein Volk, ich will reden< (Ps 50,7) — Rabbi Schi- und sie rannten gen Westen. Und von Westen wandte mon ben Jochai sagte: Der Heilige gelobt sei Er sprach zu sichs ihnen zum Himmel, da richteten sie ihre Augen gen Israel: Gott bin ich über alle Erdbewohner, aber meinen Himmel, dann wandte sichs zur Erde und sie blickten auf Namen habe ich allein euch zugeordnet; ich heisse nicht die Erde, wie es heisst: >vom Himmel liess er seinen Schall Gott der Heiden, sondern Gott Israels. Rabbi Levi sagte: dich hören, dich in Zucht zu nehmen< (Dtn 4,36). Da Zweierlei erbaten die Israeliten vom Heiligen gelobt sei sprachen die Israeliten untereinander: >aber die Weisheit, Er: seine Herrlichkeit zu schauen und seine Stimme zu woher lässt sie sich finden?< (Hiob 28,12), und die Israeli- hören. Und sie schauten seine Herrlichkeit und hörten ten sagten: Woher kommt der Heilige gelobt sei Er, aus seine Stimme, wie es heisst: >ihr spracht: Nun hat ER un- dem Osten oder aus dem Süden, wie es heisst: >ER, vom ser Gott uns seine Erscheinung und seine Grösse sehen Sinai kam er heran, erglänzte vom Seit- ihnen< (Dtn 33,2), lassen< (Dtn 5,21), und ferner heisst es: >seine Stimme ha- ferner steht geschrieben: >Gott, von Süden kommt er< ben wir mitten aus dem Feuer gehört< (ebd). Sie vermoch-

(Hab 3,3) — und es heisst doch: >alles Volk aber, sie sahn ten aber nicht zu bestehen, denn als sie an den Sinai ka- die Stimmen und die Fackeln< (Ex 20,15) — nicht >die men und ihnen die Offenbarung widerfuhr, hauchten sie Stimme< steht hier, sondern >die Stimmen<. ihre Seele aus ob seines Redens mit ihnen, wie es heisst: Rabbi Jochanan sagte: Die Stimme ging aus und teilte sich >Meine Seele geht aus, seiner Rede nach< (Hld 5,6). Die in sieben Stimmen und in siebzig Sprachen, damit alle Tora aber legte vor dem Heiligen gelobt sei Er Fürsprache Völker es hören sollten, und zwar jedes Volk in seiner für sie ein: Gibt es denn einen König, der seine Tochter eigenen Sprache, da hauchten sie ihre Seelen aus; aber Is- verheiratet und dabei seine Hausgenossen tötet? Die gan- rael hörte es und nahm keinen Schaden« (Ex. r. V 9 und ze Welt ist fröhlich und deine Kinder sterben?! Sogleich Parallelen). kehrte ihre Seele zurück, wie es heisst: >SEINE Weisung Diese Erzählung will uns lehren, dass die Stimme, in der ist schlicht, die Seele wiederbringend< (Ps 19,8). Rabbi Le- die Offenbarung erging, keine gewöhnliche war, die nur vi sagte: Sollte denn Gott nicht gewusst haben, dass Israel aus einer Richtung kommt, vielmehr handelte es sich um vor dem Anblick seiner Herrlichkeit und vor dem Hören eine Vielzahl von nicht ortsgebundenen Stimmen. Sie ka- seiner Stimme nicht bestehen werde? Vielmehr sah der men von Osten und Westen, von Norden und Süden, von Heilige gelobt sei Er voraus, dass sie dereinst abtrünnig unten und oben, d. h. Stimme war überall und drang von werden würden, und dann sollten sie nicht sagen können: überall her; mit anderen Worten: die göttliche Stimme ist wenn er uns seine Herrlichkeit und Grösse hätte schauen eine universale Erscheinung, weder an einen bestimmten und seine Stimme hören lassen, wären wir nicht abtrünnig Ort noch an eine bestimmte Sprache gebunden; sie teilt geworden; darum heisst es >Höre, mein Volk, ich will re- sich in sieben Stimmen und diese wiederum in siebzig den<« (Ex. r. XIX 3). Sprachen, d. h. sie übersetzt sich gleich bei der Offenba- In diesen Erzählungen finden sich zwei Methoden, den rung in die Sprachen aller Völker des Erdballs. Sie ist al- Unterschied zwischen Israel und den Weltvölkern zu er- len verständlich und richtet sich an jeden Menschen kraft klären: Die Vertreter der ersten sind Rabbi Jochanan (3. seines Menschseins. Rabbi Jochanan (3. Jh.) behauptet, Jh.), Rabbi Tanchuma (5. Jh.) und Rabbi Simon. Laut dass die Völker beim Hören der Stimme ihre Seelen aus- Rabbi Jochanan hauchten die Völker der Welt ihre Seelen gehaucht und Schaden genommen hätten. Und er fährt aus, als sie die Stimme vernahmen, Israel dagegen hörte fort: »Wie ging die Stimme aus? Rabbi Tanchuma sagte: und nahm keinen Schaden. Rabbi Tanchuma spitzt die Zweischneidig ging sie aus; sie tötete die Götzendiener, Gegensätze noch dahingehend zu, dass die Stimme zwei- welche die Tora nicht angenommen hatten, und spendete schneidig ergangen sei, den Völkern, welche die Tora Leben den Israeliten, welche die Tora angenommen hat- nicht annahmen, sei sie ans Leben gegangen, an die Israe- ten . . . Komm und sieh, wie die Stimme ausgeht zu den liten dagegen sei sie nach dem Fassungsvermögen jedes Israeliten, nach dem Vermögen jedes einzelnen: den Al- einzelnen ergangen, d. h. es handelte sich jeweils um eine ten nach ihrem Vermögen, den Jünglingen nach ihrem individuelle Anrede. Rabbi Simon sagt, die Stimme sei den Vermögen, den Kindern nach ihrem Vermögen und den Israeliten ein belebendes Mittel, den Völkern ein tödliches Säuglingen nach ihrem Vermögen, den Frauen nach ih- Gift gewesen, mit anderen Worten: den Völkern erschien rem Vermögen, und auch Mose nach seinem Vermögen, Gott in seiner Eigenschaft des Numinosen, den Israeliten wie es heisst: >Mose redete und Gott antwortete ihm in ei- dagegen als fascinans. Der dialogische Charakter der Of- ner Stimme< (Ex 19,19), in der ihm gemässen Stimme, wie fenbarung wird in einem anderen, Rabbi Levi zugeschrie- er sie zu ertragen vermochte. Ferner heisst es: >Die Stim- benen Ausspruch plastisch geschildert: »Rabbi Levi sagte: me des Herrn in der Macht< (Ps 29,4), >in seiner Macht< Der Heilige gelobt sei Er erschien ihnen wie so ein Bild, steht dort nicht, sondern >in der Macht<, nämlich entspre- das in alle Richtungen Gesichter hat; tausend Menschen chend der Macht (d. h. dem Vermögen) jedes einzelnen, schauen es an, und es blickt auf sie alle zurück; so sagte ja sogar entsprechend dem Vermögen der schwangeren beim Reden des Heiligen gelobt sei Er jeder einzelne Frauen, also wirklich nach dem Vermögen jedes einzel- Israelit: Mit mir hat er gesprochen« (Tanchuma Buber, Ji- nen« (ebd.). An der Parallelstelle Lev. r. (S. 25) wird der tro XVII, S. 40). Der dialogische Charakter des Offenba- Ausspruch Rabbi Simon in den Mund gelegt; der Kon- rungsbegriffs erfährt weitere Differenzierung in einem an- trast zwischen Israel und den Weltvölkern ist dort noch deren aggadischen Ausspruch, der zwischen der Anrede schärfer formuliert; »Rabbi Simon sagte: zweischneidig an die Frauen und der an die Männer unterscheidet:u ging das Wort aus, Leben für Israel, tödliches Gift den »>So sprich zum Hause Jakobs< (Ex 19,3) — das sind die Völkern der Welt; das ist es, was geschrieben steht: >wies Frauen. Er sagte zu ihm: sag ihnen die Hauptzüge, die sie hörtest du, und blieb leben< (Dtn 4,33) — du hörst und zu hören vermögen. >Melde den Söhnen Israels< (ebd.) — bleibst leben, die Völker der Welt hörens und sterben« das sind die Männer. Er sagte zu ihm: sag ihnen die Ein- (vgl. auch bSchabbat 88b). Das Furchtmoment, hier in die Vorstellung vom Aushau- " Ex. r. XXVIII 2; vgl. Tanchuma Buber, Jitro, S. 40.

118 I 1M5 zelheiten, die sie zu hören vermögen. Eine andere Deu- mitten aus dem Feuer, der Wolke, dem Wetterdunkel, mit tung: Wieso die Frauen zuerst? Weil sie eifrig in der Er- grossem Schall, und nichts weiter< (Dtn 5,19). Resch La- füllung von Geboten sind. Eine andere Deutung: Damit kisch sagte: Was bedeutet >und nichts weiten? Wenn ein sie ihre Kinder zur Tora anleiten. Mensch seinen Freund ruft, hat seine Stimme ein Echo, Rabbi Tachlifa aus Cäsarea sagte: Der Heilige gelobt sei aber die Stimme, die aus dem Munde des Heiligen gelobt Er sprach: Als ich die Welt erschaffen, erging das Gebot sei Er ging, hatte kein Echo. Das ist nicht so erstaunlich, einzig und allein an Adam, erst nachträglich gelangte es wie es zunächst erscheinen mag; Elia versammelte doch an Eva, und sie übertrat es und brachte Verderben über die Baalspriester auf dem Karmel und sagte zu ihnen: die Welt. Wenn ich diesmal nicht zuerst die Frauen anre- >Ruft doch mit gewaltigem Schall! Er ist doch ein Gott!< de, heben sie die Tora auf; darum heisst es: >So sprich (1 Kön 18,27). Was tat der Heilige gelobt sei Er? Er liess zum Hause Jakobs.<« Daraus folgt, dass die Sinai-Offen- die ganze Welt verstummen, gebot den Oberen und den barung Evas Übertretung wieder gutmachen sollte, ge- Unteren Schweigen, da war die Welt wüst und leer, als sei mäss dem Ausspruch von Rabbi Jochanan: »Als Eva von nichts Geschaffenes auf der Welt, wie es heisst: >aber kein der Schlange überkommen, wurde sie von einem Makel Stimmenschall, kein Antwortender, kein Aufmerken!< behaftet; die Israeliten, die am Sinai standen, wurden ih- (ebd. V. 29). Denn wenn ich spreche, sagen sie: Baal hat res Makels wieder ledig, aber die Götzendiener, die nicht uns geantwortet. Um wieviel mehr gilt dies für den Au- am Sinai standen, wurden ihren Makel nicht wieder los« genblick, als der Heilige gelobt sei Er vom Sinai sprach; (bJewamot 103b). Möglicherweise ist dieser Ausspruch auch da hiess er die ganze Welt schweigen, damit die gegen die christliche Vorstellung von der Erbsünde ge- Menschen wissen sollten, dass ausser ihm keiner sei, dann richtet: Den Heiden haftet die Sünde seit Evas Zeiten erst sprach er >Ich bin der Herr dein Gott<. Und an ande- unauslöschlich an, aber Israel ist am Sinai kraft der Tora rer Stelle steht geschrieben >Ich selber, ich selber bins, der und der Gebote, die es auf sich nahm, davon rein gewor- euch tröstet< (Jes 51,12)«. (Ex. r. XIX 9) den und bedarf fürderhin keiner Erlösung mehr davon. Offensichtlich enthält der Ausspruch zwei Aussagen: Nach der zweiten Methode, wie sie sich bei Rabbi Levi 1) Er betont, dass die Stimme an alle Völker gerichtet (Ex. r. XIX 3) findet, bestand zum Zeitpunkt der Offen- war, und barung kein Unterschied zwischen Israel und den Völ- 2) er entkräftet von vornherein jeden etwaigen Einwand, kern: Beide starben an dem Erschrecken über die direkte die Völker hätten den Ursprung der Stimme missver- göttliche Anrede, allerdings wurde Israel dank des Ein- standen, denn vor der Verkündung liess Gott das All greifens der Tora vor den tödlichen Folgen der Sinai-Of- verstummen. fenbarung errettet. Die Personifizierung der Tora dient Anderen Erzählungen zufolge hätte Gott die Tora zu- hier zur Anrufung der göttlichen Erbarmens für Israel. nächst allen Völkern angeboten, sie aber hätten sie nicht Dagegen hat das Christentum einen anderen Weg ge- annehmen wollen (bSchabbat 88a). Ausserdem sind die sucht, das göttliche Gericht und den Tod zu überwinden: Rabbinen bemüht, die weltweite Öffentlichkeit der Offen- den Glauben an den Gottessohn und sein erlösendes Op- barung hervorzuheben, so etwa Mechilta deRabbi fer. Die Rabbinen aber betonten die Tora als Israels Weg Jischmael, Jitro I, S. 206: »Da lagerten sie in der Wüste< zum Leben; nur sie vermag vor Gott Fürsprache einzule- (Ex 19,2) — die Tora wurde ganz öffentlich, im Nie- gen, Israel Leben zu verleihen. mandsland gegeben, denn wäre sie im Land Israel gege- Diese beiden Methoden stehen für zwei verschiedene ben worden, hätten die Völker der Welt" sagen können, Tendenzen: Rabbi Levis Ansatz ist möglicherweise eine sie hätten keinen Teil daran; deshalb wurde sie ganz öf- Antwort an das Christentum, das den Glauben an den fentlich, im Niemandsland gegeben, so dass sie erhalten Gottessohn anstelle von Tora und Geboten proklamierte. konnte, wer immer da wollte. Wurde sie etwa zur Nacht- Gegen das Mythologische der christlichen Auffassung zeit gegeben? Es steht doch geschrieben: >Es ward am wendet sich Rabbi Abahu sehr scharf: »Rabbi Abahu sag- dritten Tag, wies Morgen wurde< (Ex 19,16); wurde sie te: Dies gleicht einem menschlichen König, der regiert etwa heimlich gegeben? Es steht doch geschrieben: >Da und dabei Vater, Bruder und Sohn hat. Der Heilige ge- ward Donnerschallen und Blitze< (ebd.); war der Schall lobt sei Er sprach: Bei mir ist das nicht so; ich bin der Er- etwa nicht vernehmlich? Es steht doch geschrieben: >Alles ste — ich habe keinen Vater, ich bin der Letzte — ich habe Volk aber, sie sahn das Donnerschallen< (Ex 20,18) und keinen Bruder, und ausser mir ist kein Gott — ich habe ferner: '>SEIN Schall ist im Glanz< (Ps 29,4). Bileam der keinen Sohn« (Ex. r. XIX 4). Dagegen scheint Rabbi Frevler sprach zu allen, die um ihn standen: >ER wird Jochanans und Rabbi Tanchumas Ansatz sowie ein Rabbi Wehr seinem Volke geben< (ebd. V. 10), und sie alle hu- Levi zugeschriebener Ausspruch (Tanchuma Buber, Jitro ben an und sprachen: >ER wird sein Volk segnen mit Frie- XVII, S. 40) keine polemische Spitze zu haben; dort wird den< (ebd.).«" Nicht nur die weltweite Offenbarkeit der Wert darauf gelegt, dass die Offenbarung dank der Tora, Tora-Verleihung wird hier betont, sondern auch die die Israel auf sich nahm, ihren schreckenerregenden Cha- Möglichkeit jedes einzelnen Volkes, herzuzutreten und rakter verlor und zur Grundlage einer dialogischen Bezie- sie zu empfangen, denn sie wurde im Niemandsland, auf hung zwischen Israel und seinem himmlischen Vater wur- dem Sinai, gegeben. Jedermann hatte dort Zutritt und de. Gleichzeitig betonen diese Aussprüche den universalen hätte sie empfangen können; und wer die Bedeutung der Charakter der Offenbarung, deren »Stimme« überall hin- Stimme nicht verstand, konnte sie von Bileam, dem Völ- gelangt und sich in alle Sprachen übersetzt. Diese Vorstel- kerpropheten, erfahren. Diese Punkte werden hervorge- lung nimmt in den Worten Rabbi Abahus im Namen von hoben, um von vornherein jeglichen heidnischen Vorwurf Rabbi Jochanan eine andere Gestalt an: »Rabbi Abahu zurückzuweisen, Gott habe nicht zu den Heiden gespro- sagte im Namen von Rabbi Jochanan: Als der Heilige ge- chen und Israels Tora sei eine partikularistisch-nationale. lobt sei Er die Tora gab, zwitscherte kein Vogel, flatterte Auf die polemische Adresse dieser Aussagen werden wir kein Huhn, brüllte kein Stier, die Ofanim flogen nicht, noch zu sprechen kommen. die Seraphim sagten nicht Dreimal-Heilig, das Meer regte sich nicht, die Geschöpfe sprachen nicht, sondern die " In der Mechilta steht: »den Völkern«, aber mit Berufung auf Jalkut Welt stand stumm und still — da ging die Stimme aus >Ich Tehillim ist die obige Lesart vorzuziehen; gegen Horowitz in seiner Aus- gabe S. 205, Anm. zu Zeile 17. bin der Herr dein Gott<. Und ferner steht geschrieben 19 Mechilta deRabbi Jischmael, Massechta debaChodesch, Jitro I, >Diese Rede redete ER zu all eurem Gesamtring am Berg, S. 205 f.

1M6 1 119 2) Die Sinai-Offenbarung und die Propheten einst vor seinem Lehrer vortragen wird, ist schon dem Wie ist die Sinai-Offenbarung im Verhältnis zu den Got- Mose gesagt worden«.21 Diese Einstellung hebt die phä- tesworten der Propheten zu verstehen? Auf diese Frage nomenologische Sonderstellung der Prophetie in Israel ei- antwortet eine Erzähitradition, die den Brennpunkt des gentlich auf: im Grund besteht kein Unterschied zwischen gesamten geistigen Lebens in Israel in der Sinai-Offenba- Propheten und Schriftgelehrten; die einen wie die ande- rung sieht. Wenden wir uns der Betrachtung dieser Tradi- ren haben das Ihrige am Sinai empfangen. Nach einer an- tion und ihrer Aussagen zu: »>Gott redete all diese Rede, deren Tradition (M Awot I 1) überliefern beide, was Mo- er sprach< (Ex 20,1) — Rabbi Jizchak sagte: Was die Pro- se am Sinai empfing; hier hat die Herabminderung des vi- pheten dereinst in jeder Generation prophezeien würden, sionären und spontanen Elements der Prophetie ihren empfingen sie am Sinai, Mose sagt nämlich zu den Israeli- Höhepunkt erreicht. Nach der Sinai-Offenbarung hat ten: >mit dem, der hier anwesend ist, uns gesellt heute ste- sich nicht nur keinerlei weitere Offenbarung ereignet, laut hend vor SEINEM unsres Gottes Antlitz, und mit dem, Mischna Awot I 1 hatte an dieser Ur-Offenbarung auch der nicht hier mit uns heute ist< (Dtn 29,14) — es heisst kein Mensch ausser Mose teil. Sämtliche übrigen Führer- nicht >der nicht hier mit uns heute steht<, sondern >der gestalten, die Ältesten, die Propheten, die Männer der nicht hier mit uns heute ist<; damit sind die Seelen ge- Grossen VersamMlung, überliefern nurmehr Moses Wor- meint, die erst noch geschaffen werden sollten, von denen te den späteren Generationen Israels. man also noch nicht sagen konnte, dass sie >stehen<. Ob- Diese Aussprüche enthalten die radikale Verschärfung ei- wohl sie damals noch gar nicht existierten, empfing jeder ner Tendenz, die sich in anderen Midraschim äussert, wo einzelne von ihnen seinen Anteil. Ferner steht geschrie- zwischen verschiedenen Graden der Prophetie unterschie- ben: >Lastwort SEINER Rede an Israel durch Maleachi< den wird: Mose habe in einem »leuchtenden« oder »blan- (Mal 1,1) — es heisst nicht >zur Zeit des Maleachi<, son- ken« Spiegel geschaut, die übrigen Propheten dagegen dern >durch Maleachi<, die Kunde hatte er nämlich bereits nur in einem »verschmutzten« oder »trüben«. 22 Ähnlich vom Sinai her in seinem Besitz, aber bis dahin hatte er kei- lautet ein anderer aggadischer Ausspruch, wo 1 Chr 4,18 ne Erlaubnis erhalten, sie zu verkünden . . . Und nicht nur auf Mose gedeutet wird: »>den Vater von Socho< — das alle Propheten erhielten ihre Kündung vom Sinai, son- war der Vater sämtlicher Propheten, die im Heiligen dern auch die Gelehrten und Rabbinen, die in jeder Gene- Geist schauten (hebr. sochim); Rabbi Levi sagte, das ist ration auftreten sollten, erhielten jeder seinen Anteil am arabisch, in Arabien nennt man nämlich den Propheten Sinai, so steht doch geschrieben: >Diese Rede redete ER sochaja.«23 In diesen Aussprüchen erreichte Mose in der zu all eurem Gesamtring am Berg . . . mit grossem Schall, Tat die höchste Stufe prophetischer Schau, aber auch die und nichts weiter< (Dtn 5,19). Rabbi Jochanan sagte: die anderen Propheten waren doch wenigstens Seher. Dem- eine Stimme teilte sich in sieben und diese wiederum in gegenüber streitet die oben ausführlich behandelte Über- siebzig Sprachen« (Ex. r. XXVIII 4) 20. lieferung den Propheten jegliche Sonderstellung ab. Dies Diese Aggada enthält verschiedene Themen: ging so weit, dass Rabbi Awdimai aus Haifa sagen konn- Mit den übrigen bereits angeführten aggadischen Aus- te: »Am Tage der Tempelzerstörung wurde die Prophetie sprüchen gemein hat sie die grundlegende Annahme, dass den Propheten genommen und den Schriftgelehrten gege- die Sinai-Offenbarung ein öffentlicher feierlicher Akt un- ben; ist also ein Schriftgelehrter nicht eigentlich ein Pro- ter Beteiligung des gesamten Volkes war. Allerdings geht phet? Man sagt doch: von den Propheten wurde sie zwar sie noch darüber hinaus mit der Feststellung, dass die genommen, nicht aber von den Schriftgelehrten. Man sagt Israeliten aller Generationen in Gestalt ihrer körperlosen, auch: Ein Gelehrter ist mehr als ein Prophet« (bBaba ba- präexistent bereits vorhandenen Seelen zugegen waren. tra 12 a) . 24 Besonderer Wert wird auf die Anwesenheit der Propheten Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass die Tendenz, gelegt, die in künftigen Generationen in Israel erstehen die Prophetie als Sonderform göttlicher Offenbarung an sollten. Laut Rabbi Jizchak und Resch Lakisch empfingen die Menschen über die Generationen Israels hin zu neu- die Propheten ihre Botschaft vom Sinai, d. h. ihre Sen- tralisieren, in der Aggada zweierlei paradoxen Ausdruck dung und Verkündung war in der grossen Stimme, die findet: in den bereits angeführten Quellen werden die Gott am Sinai erschallen liess, enthalten. Jeder einzelne Propheten zu blossen Tradenteri erniedrigt, die nach der erhielt bereits seinen Anteil, die Erlaubnis zur Kündung Tempelzerstörung von den Schriftgelehrten abgelöst wor- allerdings erst viel später, zur jeweils ihm bestimmten den seien; sie sind jeglicher Sonderstellung verlustig ge- Zeit. Demnach ist die Prophezeiung jedes einzelnen Pro- gangen. Hand in Hand mit dieser Tilgung der Prophetie pheten inhaltlich bereits am Sinai ergangen. Gott hat sich als einer pneumatischen Erscheinung geht eine Herabmin- nur ein einziges Mal in der Geschichte Israels offenbart, derung ihres intellektuellen Rangs: Ein Prophet darf und aus diesem Ereignis bezogen die Propheten und Se- nichts Neues bringen, die Worte der Propheten enthalten her aller späteren Generationen ihre Autorisation. Die nichts, was nicht in der Tora bereits gegeben wäre 25, und Rabbinen gehen sogar so weit, dem späteren Eingreifen manche Gelehrten stellten sogar die erstaunte Frage, in- eines Transzendenten, wie z. B. einer Himmelsstimme, wiefern die prophetischen Bücher überhaupt zu den Heili- jegliche verpflichtende Autorität abzusprechen, wie eine gen Schriften gehörten: »Rabbi Abba bar Chanina sagte: berühmte talmudische Erzählung hervorhebt (bBaba me- Hätte Israel nicht gesündigt, so hätte es nur die fünf Bü- zia 59a/b). cher Moses sowie das Buch Josua, das den Wert des Lan- Der oben zitierten Aggada zufolge weissagten die Pro- des Israel enthält, das bedeutet: >denn in einer Fülle von pheten nicht kraft eines göttlichen Wortes, das zu ihren Weisheit ist Verdrusses die Fülle< (Koh 1,18)« 26 ; »wenn

Lebzeiten an sie erging, sondern kraft dessen, was ihre 21 jPea IV 5; jMegilla IV 1; jChagiga I 5; Ex. r. XLVII 1; bMegilla 19b. präexistenten Seelen am Sinai erhielten; ebenso lehren die In Ex. r. XLVII 1 lautet die Stelle: »Sogar was ein Schüler den Meister Schriftgelehrten nichts grundsätzlich Neues; in ihrer fragt, hat der Heilige gelobt sei Er dem Mose zu jener Stunde gesagt.« Vgl. Urbach im oben, Anm. 20 angegebenen Aufsatz, Anm. 49; zur Him- Schriftauslegung enthüllen sie nur, was Mose am Sinai be- melsstimme s. ebd. S. 19 ff.; S. 23 ff. reits erfahren hatte: »Sogar was ein Meisterschüler der- n Lev. r. I 14, Ed. Margaliot S. 30-32; bSukka 45b; bSanhedrin 97b. 20 Vgl. Tanchuma, Jitro XI. Zum Glauben an die Präexistenz der Seele 23 Lev. r. I 3, S. 9. vgl. Porter, The Pre-existence of Soul in the Book of Wisdom and in 24 Dazu Urbach a. a. 0., S. 9 ff.; dort auch zusätzliche Quellen.

Rabbinical Writings, in: Old Testament and Semitic Studies in Memory " Die meisten einschlägigen Quellen bei Urbach, a. a. 0., S. 2 ff. of W. R. Harper, 1908, I, S. 207-269; E. E. Urbach, Halacha und Pro- bNedarim 22b; Koh. r. I 13; jMegilla I 7 (70d): »Raw, Rabbi Chanina, phetie (hebr.), in: Tarbiz 18 (1947), S. 1-27, bes. S. 6, Anm. 48. Rabbi Jochanan und bar Kappara und Resch Lakisch sagten: Diese Rolle

120 IM 7 sie meinen Worten gehorcht hätten, wären sie keines Pro- glüht man einem den Mund aus (rozezim pä), der über Is- phetenworts bedürftig gewesen« 27 . Demnach werden rael übel redet32 . Ähnlich steht bei Elia: >Er sprach: Eifrig

»Propheten und Schriftwerke dereinst aufgehoben, aber ►geeifert habe ich für DICH, den Gott der Heerscharen, die fünf Bücher Moses werden dereinst nicht aufgeho- denn verlassen haben die Israeliten deinen Bund< (1 Kge ben« 28, »denn es steht nichts in Propheten und Schriftwer- 19,10) — er antwortete: meinen Bund, nicht deinen; >deine ken, worauf Mose in der Tora nicht bereits hingewiesen Altäre haben sie zerstört< — er antwortete: meine Altäre, hätte« 29. Das heisst, nur Israels Sünde ist daran schuld, nicht deine; >deine Propheten haben sie mit dem Schwert sonst hätten die Scheltreden der Propheten überhaupt umgebracht< — er antwortete: (es sind meine Propheten, nicht aufgezeichnet zu werden brauchen. was geht das dich an?). Er sprach: >ich allein bin übrig<, Neben der Bestreitung der Prophetie als eines einmaligen und was steht dort? >Er blickte sich um, da war zu seinen Phänomens findet sich in den Quellen deutliche Kritik am Häupten Glühsteinbackwerk (cugat rezafim)< (ebd. V. 6). Auftreten der Propheten mit ihrer Zurechtweisung und Rabbi Schemuel bar Nachman sagte: Damit glüht man grimmigen Anklage gegen das Volk, denn darin reden sie einem den Mund aus (rozezim pz), der über Israel übel übel wider Israel. Vielmehr wird von ihnen verlangt, Für- redet.«" Ebenso heisst es von Mose: »Mose antwortete, er sprache für ihr Volk einzulegen und bis zur Selbstaufop- sprach: >Da aber, sie werden mir nicht vertrauen< (Ex ferung für Israel einzutreten; wie sich noch herausstellen 4,1). Bei der Gelegenheit hat sich Mose ungebührlich ge- wird, liegt dieser Richtung eine eindeutig anti-christliche äussert. Der Heilige gelobt sei Er hatte ihm doch gesagt: Tendenz zugrunde. So tadelt Rabbi Jochanan an Hosea, >sie werden auf deine Stimme hören<, er aber erwiderte: dass er auf die göttliche Anklage gegen Israel nichts erwi- >sie werden mir nicht vertrauen<. Sogleich erwiderte ihm dert habe, nicht gesagt habe »es sind doch deine Kinder, der Heilige gelobt sei Er auf seine Weise, er gab ihm Zei- die von dir Begnadeten, Söhne Abrahams, Isaaks und chen gemäss seinen Worten. Danach steht nämlich ge- Jakobs, hab Erbarmen mit ihnen. Nicht nur das sagte er schrieben: >ER sprach zu ihm: Was ist das in deiner nicht, sondern er sagte sogar: Herr der Welt, die ganze Hand? Er sprach: Ein Stab< (ebd. V. 2), d. h. nach dem, Welt ist dein — tausch sie gegen ein anderes Volk aus« was da in deiner Hand ist, sollst du bestraft werden, weil (bPessachim 87a/b). 3° Er erklärt Gottes Gebot an den du üble Nachrede über meine Kinder führst, wo sie doch Propheten, eine Hure zur Frau zu nehmen, als pädagogi- Gläubige, Söhne von Gläubigen sind; Gläubige — wie es sche Massnahme, ihn zum Fürsprecher zu machen, damit heisst: >Und das Volk vertraute< (ebd. V. 31), Söhne von er fähig werde, für Israel um Erbramen zu flehen; »was Gläubigen — wie es heisst: >Er aber vertraute IHM< (Gen soll ich mit diesem Alten machen? Ich will ihm sagen: geh, 15,6). Mose hatte die Handlungsweise der Schlange er- nimm dir eine Hure und zeuge mit ihr Hurenkinder, da- griffen, die ihrerseits üble Nachrede über ihren Schöpfer nach will ich zu ihm sagen: schick sie weg; wenn er im- geführt hatte, wie es heisst: >Gott ists bekannt, dass am stande ist, sie wegzuschicken, will auch ich Israel weg- Tag, da ihr davon esset, eure Augen sich klären und ihr schicken !« 31 werdet wie Gott, erkennend Gut und Böse< (Gen 3,5), Besonders scharfe Kritik wurde an Jesaja und an Elia ge- und wie die Schlange bestraft wurde, soll auch dieser der- übt, selbst Mose blieb nicht verschont. Unter den Haupt- einst bestraft werden. So steht doch unmittelbar dahinter: kritikern war Rabbi Simon, der Vater von Rabbi Jehuda, >Er aber sprach: Wirf ihn auf die Erde! Er warf ihn auf auf den sich die Aussagen sämtlicher Amoräer gründen. die Erde, und er wurde zur Schlange.< Weil er gehandelt Diese Exegese geht aus von einem Vers des Hohenliedes: hatte wie die Schlange, zeigte ihm der Heilige gelobt sei »sehet nimmer mich an, dass ich eine Schwärzliche bin« Er die Schlange, um ihm zu sagen: du hast gehandelt wie (1,6). »Rabbi Simon hub an: >Verleumde nimmer einen eine Schlange« (Ex. r. III 15). Knecht bei seinem Herrn< (Spr 30,10) — die Israeliten Mose, Jesaja und Elia werden bestraft für üble Nachrede, heissen Knechte, wie geschrieben steht: >denn mir sind die die sie wider Israel geführt haben, d. h. ihre Scheltrede Israeliten Knechte< (Lev 25,55), und die Propheten heis- wird ihnen als Sünde angerechnet. Demgegenüber wird sen Knechte, wie geschrieben steht: >denn nicht tut mein von den Propheten verlangt, sich für Israel aufzuopfern; Herr, ER, irgend etwas, er habe denn seinen Beschluss of- dies geht aus einem Gespräch Gottes mit Jesaja bei dessen fenbart seinen Knechten den Propheten< (Am 3,7) — weh Berufung hervor: »Jesaja sagte: Ich ging in meinem Lehr- dir, Knecht, klage deinen Mitknecht nicht an! Die Ge- haus auf und ab, da hörte ich die Stimme des Heiligen ge- meinde Israels wirft den Propheten vor: Ihr habt mich an- lobt sei Er: >Wen soll ich senden, wer wird für uns gehn?< geschwärzt bei dem, der da sprach und die Welt ward. (Jes 6,8); ich habe den Micha gesandt, den schlugen sie Keiner hat mich lieber gehabt als Mose, aber dafür, dass auf den Backen, wie geschrieben steht: >mit dem Stecken er gesagt hat >hört doch, ihr Widerstrebenden!< (Num schlagen sie auf die Wange< (Mi 4,14), ich. habe den Amos 20,10) wurde über ihn verhängt, dass er nicht ins Land Is- gesandt, den nannten sie einen Stotterer ... also wen soll rael kam; keiner hat mich lieber gehabt als Jesaja, aber ich senden, wer wird für uns gehn? Sogleich sprach ich: weil er gesagt hat >weh mir, denn ich werde geschweigt< >Da bin ich, sende mich!< Er antwortete ihm: Jesaja, mein (Jes 6,5), sprach der Heilige gelobt sei Er: Was unter- Sohn, sie sind widerwärtige Leute, sie machen viel Mühe, stehst du dich, du hast dein Leben verwirkt! Und inwie- wenn du es auf dich nimmst, von meinen Kindern ernied- fern >und ich bin sesshaft inmitten eines Volkes maklig an rigt und geschlagen zu werden, dann geh als mein Ge- Lippen< (ebd.)? Gleich dahinter steht doch: >Aber von den sandter, wenn aber nicht, dann gehst du nicht. Er antwor- Brandwesen (serafim) flog eines zu mir, eine Glühkohle tete: Seis drum, >den Schlagenden gab ich hin meinen (rizpa) in der Hand< (ebd. V. 6), was ist das? Rabbi Sche- Rücken< (Jes 50,6).« 34 muel bar Nachman sagte: eine Glühkohle (rizpa), mit der 32 Pessikta rabbati (Ed. Friedmann) XXXIII, 151b liest: »Was ist eine Glühkohle (rizpa)? Rabbi Schemuel bar Nachman sagte: Es läuft der ist dem Mose am Sinai mitgeteilt.« Vgl. Urbach, in: Tarbiz 18 (1947), 8, Mund (hebr.: raz pä) dessen, der über meine Kinder üble Nachrede ge- Anm. 59. führt hat«; vgl. die Anmerkungen des Herausgebers, dort auch Paralle- „ Pessikta deRaw Kahana CXVII 2. len. 28 jMegilla I 7 (70d). Cant. r. I 6 — angeführt bei Urbach, The Sages, S. 560 nach MS Parma " Num. r. X 6; Urbach, a. a. 0., Anm. 47 und 62. 1240. Dort auch Parallelen und Bemerkungen zur Lesart. Vgl. meinen 3° Dazu E. E. Urbach, The Sages — Their Concepts and Beliefs, Jerusa- Aufsatz, Die B&ufung des Jesaja in der rabbinischen Überlieferung lem 1975, S. 554-564 mit sehr viel Material zu dieser Frage. (hebr.), in: Die Bibel und die Geschichte Israels (hebr.), Jerusalem 1972, " Dazu mein Aufsatz, Die Hochzeit des Hosea als prophetisches Sym- S. 32 ff. bol (hebr.), in: GS Diem, Jerusalem 1958, S. 269 ff. 34 Lev. r. X 2, S. 197.

IM 8 t 121 Und folgendes wird im Namen von Rabbi Natan überlie- Im folgenden werden wir uns etwas eingehender mit die- fert: »Die Väter und die Propheten haben sich für Israel sen Faktoren befassen. aufgeopfert.« 35 Von Mose heisst es: »Weshalb wurde Mo- se ein leuchtendes Antlitz zuteil, wie - es doch eigentlich 1) Scheltrede und Gebet bei den Propheten erst den Gerechten in der künftigen Welt zukommt? Weil Was die Propheten betrifft, so besteht bereits in der Bibel er den Willen des Heiligen gelobt sei Er tat, weil er zeit eine gewisse Spannung zwischen ihrer Eigenschaft als Bo- seines Lebens um die Ehre des Heiligen gelobt sei Er und ten, die göttliches Strafgericht verkünden und strenge um die Ehre der Israeliten besorgt war, weil er sehnlichst Scheltrede im Munde führen, und ihrer Eigenschaft als danach Ausschau hielt, dass endlich Frieden herrsche zwi- Fürsprecher für ihr Volk. Als Gott dem Abraham offen- schen Israel und seinem himmlischen Vater.« 36 Zwar ist barte, was er mit Sodom und Gomorrha vorhatte (Gen bekannt, dass »die Propheten von Hause aus Gesandte 18,17 ff.), machte Abraham ihm Vorstellungen: »Willst du heissen«37 , d. h. Boten Gottes, aber ihre Aufgabe besteht wirklich den Bewährten raffen mit dem Frevler? . . . das darin, die Interessen beider Seiten zu vertreten, Frieden sei ferne! Aller Erde Richter, sollte der nicht Recht tun?« zwischen Israel und dessen himmlischem Vater zu stiften, (ebd. VV 23.25), und handelte mit Gott um jedes einzelne d. h. für Israel Fürsprache einzulegen. Menschenleben. Und Gott sagt zu Abimelech im Traum: Zusammenfassend sei auf folgende Strukturveränderun- »Nun aber gib die Frau des Mannes zurück, denn er ist gen hingewiesen, die sich im Selbstverständnis der Rabbi- ein Prophet, und er wird für dich beten, so dass du am nen herauskristallisierten: Leben bleibst« (Gen 20,7). 1) Die Propheten werden von Visionären und Pneumati- Auch als das Volk dem Tode nah ist und das göttliche kern zu blossen Traditionsträgern degradiert und nähern Feuer unter ihm wütet, erhebt sich Mose: »da betete Mose sich der Gestalt des Schriftgelehrten, der hauptsächlich zum Herrn« (Num 11,2); auch für Miriam betet er: »ach Überliefertes weitervermittelt. Geistesgeschichtlich brin- Gott, ach heile sie!« (Num 12,13), ebenso für Aron: »Und gen sie nichts Neues, sondern sprechen nur das aus, was da wider Aaron ER sehr erzürnte, ihn zu vertilgen, betete von Urzeiten für sie am Sinai bestimmt war. Das spontane ich auch für Aron zu jener Frist« (Dtn 9,20). Nach der und schöpferische Element der geschichtlichen Prophe- Sünde des Goldenen Kalbs und nach der Sache mit den tengestalten Wird vom rezeptiven völlig überlagert. Statt Kundschaftern ist es seine Fürbitte, die das göttliche dessen wird den Propheten die Aufgabe zugewiesen, für Strafgericht abwendet (Ex 32,11 f.; Num 14,13 - 19). Sa- Israel zu beten, Fürsprache für es einzulegen, es zu rüh- muel betet für das Volk in Mizpa (1 Sam 7,5 ff.). Amos men und für es zu leiden, ähnlich wie die Gerechten und beginnt seine Prophetenlaufbahn mit der zweimaligen Bit- Frommen, denen wir in Dutzenden von Volkserzählun- te um Nachsicht und Vergebung für das Volk (Am 7,2.5). gen in der talmudischen und midraschischen Literatur be- Jeremia widerspricht gelegentlich den Worten seines gött- gegnen.38 Diese Reinterpretation der Gestalt des Prophe- lichen Auftraggebers. Er beteiligt sich an dem öffentlichen ten verleiht der Tatsache Ausdruck, dass die nationale Gebet anlässlich einer Dürre (Jer 14). Habakuk schreit im Führung der Rabbinen das visionäre und pneumatische Gebet ob der Bedrückung durch die Kasdäer und stellt Element der Prophetie gänzlich zurückgedrängt hatte. dabei die Frage nach der Gerechtigkeit im Geschichtsver- Die kühnen Schriftauslegungen, Reinterpretationen, Ver- lauf mit erneuter Schärfe (Hab 1). ordnungen und Neuerungen der Rabbinen entsprachen Tatsächlich ist das Gebet ein integraler Bestandteil der den neuen Lebensbedingungen Israels. Dabei fühlten sich prophetischen Wirksamkeit" und das neben ihrer Eigen- die Rabbinen mitnichten als Reformatoren, die mit der schaft als göttliche Boten, die dem Volk Gottes Wort ver- Tradition brechen. Ganz im Gegenteil, sie waren von dem künden und es zurechtweisen. Durch diesen polaren Ge- Bewusstsein getragen, die in den unerschöpflichen Wor- gensatz zwischen Anklage und Fürsprache entsteht eine ten Gottes enthaltenen Potenzen nach den Bedürfnissen innere Spannung, die von Anfang bis Ende der propheti- ihrer Generation aktualisiert zu haben. schen Epoche ein Charakteristikum des Propheten ist. 2) Eine zweite Tatsache, die sich aus unseren Darlegun- Diese Spannung verschwindet völlig in der apokalypti- gen ergibt, ist die Idealisierung Israels den anderen Völ- schen Literatur, wo visionäre Schreiber zu Wort kommen, kern gegenüber, um es der Sinai-Offenbarung für würdig die ihre Visionen aufzeichnen, ohne warnend und mah- darzustellen. Deshalb ist es unzulässig, schlecht über Isra- nend unters Volk zu gehen. Sie sind zwar Visionäre, aber el zu reden, und ein Prophet, der dies tut, wird prompt ohne Sendungsbewusstsein, so dass nur das Gebet bleibt, bestraft. Die Tora sei allen Völkern angeboten worden, das sie in ihrem Herzen sprechen, wie Daniel, der für sein doch hätten diese sie zurückgewiesen. Einzig und allein Volk betet (Dan 9,3 ff.), und Henoch, der für Asasel und Israel habe sie angenommen. Hand in Hand hiermit geht seine Gefährten betet (1 Hen 13 f.). Laut Jub 1,19-21 be- die radikale Demokratisierung der prophetischen Schau, tet Mose für Israel, Gott möge ihnen »ein reines Herz des prophetischen Pneumas, dessen alle Volksschichten und einen heiligen Geist« verleihen. Laut 2 Hen 12,19-21 am Schilfmeer und am Berg Sinai teilhaftig wurden (dazu betet Abraham zu Gott, er möge ihn aus der Hand der s. oben). bösen Geister erretten, die das Denken und Trachten des Menschen regieren. Das visionäre Buch Esra enthält Ge- E. Die polemische Adresse bete dieses Sehers für Volk und Land. Hier kommt der Wie sind diese Strukturveränderungen zu deuten? Zwei- apokalyptische Seher in die Nähe des volkstümlichen Ge- fellos sind sie mindestens teilweise der Ausdruck des im- rechten und Frommen, wie wir ihn in den aggadischen manenten soziologischen Umbruchs, der das jüdische Teilen von Talmud und Midrasch finden. Demnach ha- Volk zur Zeit des Zweiten Tempels und danach erfasste. ben die Rabbinen den klassischen Propheten nach dem Doch sind es auch äussere geschichtliche Faktoren, die Muster des betenden und fürsprechenden apokalyptischen mit dem Existenzkampf Israels in einer feindlichen Um- Sehers, den sie vor Augen hatten, bewertet. Die Motiva- welt zusammenhängen, welche diesen Prozess förderten. tion für diese Veränderung, die sie am Bild des histori- „ Mechilta deRabbi Jischmael, Massechta dePassecha, Bo I, Ed. Horo- schen Propheten vollzogen, bezogen sie allerdings aus ih- vitz/Rabin S. 4. rem Kampf gegen das Christentum: 36 Seder Eliahu rabba IV, Ed. Friedmann S. 17. Wie allgemein bekannt, suchte das Christentum sowohl " Lev. r. I 1, S. 1-4. " Vgl. Gad Ben-Ammi Zarfati, Fromme Männer der Tat und die Ersten " Dazu Jochanan Muffs, Betrachtungen zum prophetischen Gebet in der

Propheten (hebr.), in: Tarbiz 26 (1957), S. 126 - 130. Bibel (hebr.), in: Eretz Israel 14 (1978), S. 48 - 54.

122 IM 9 seine Botschaft als auch seine Angriffe auf das Judentum 3) Der Erwählungsgedanke und die heidnische Welt durch die Auslegung von Schriftversen zu untermauern, Julian polemisiert in der Hauptsache gegen den jüdischen die zumeist aus prophetischen Büchern genommen waren; Erwählungsgedanken, der in leicht abgewandelter Form es behauptet, die christliche Kirche sei das »Israel nach ins Christentum übernommen worden sei: dem Geiste» und somit die rechtmässige Erbin des »Israel »Mose hat gesagt, dass der Weltschöpfer das Volk der nach dem Fleische«. Die Kirche ist der Sohn der Freien, Hebräer erwählt hat und ihnen seine ganze Sorge gilt; während das Israel nach dem Fleische der Sohn der Magd ebenso hat Mose ihm die Vorsehung über ausschliesslich ist (Gal 3,26; 4,21; Röm 2,28). Die Kirche beanspruchte dieses (sc. Volk) in die Hände gelegt. Was die anderen für ihre Mitglieder den Status von »Jüngern Jesu nach Völker betrifft, so steht bei ihm nichts darüber, wie oder dem Geiste«." Sie tragen Jesu Geist in sich (Petr 1,1); sie unter welchen Gottheiten diese leben . . . Nun will ich be- sind der Liebe wert, denn er hat sein Kommen vorherge- weisen, dass Mose selbst sagt, er sei nur der Gott Israels sagt und sie haben ihn erwartet." Ausserdem gibt es Röm und Judas und diese seien seine Erwählten, ebenso auch 3,9-31 die extreme Gegenüberstellung von Glauben und die Propheten, die nach ihm kamen, und Jesus, sogar Werken, wonach nur der Glaube an Jesus von Sünde und Paulus . . .« (ebd. 99 E. 100 A). Tod erlöst, nicht aber die Erfüllung von Geboten. Er bezichtigt Paulus der Doppelzüngigkeit, denn einmal behaupte er, nur die Juden seien Gottes Erbteil, und ein 2) Das Christentum und der Erwählungsgedanke andermal verkünde er, Gott sei auch der Heiden Gott. Der eben erwähnte Abschnitt des Römerbriefs enthält ei- Danach fährt er fort: »Wir sind berechtigt, an Paulus fol- nen der schärfsten Angriffe auf das Judentum; dort steht: gende Frage zu richten: Wenn Gott nicht nur der Juden, »Es ist keine Furcht Gottes vor ihren Augen. Wir wissen sondern auch der Heiden Gott ist, wie kommt es dann, aber, dass, was das Gesetz sagt, das sagt es denen, die un- dass er den Juden die Gnade der Prophetie verliehen, ih- ter dem Gesetz sind, auf dass aller Mund verstopft werde nen Mose, die Salbung und die Propheten sowie die Tora und alle Welt Gott schuldig sei; darum dass kein Fleisch gesandt hat . . . uns dagegen keinen Propheten, keine Sal- durch des Gesetzes Werke vor ihm gerecht sein mag; bung, keinen Lehrer und keinen Künder, uns die uns be- denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde . . . reitete Gnade seiner Liebe kundzutun. Ja noch mehr: Er So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde hat uns Zehntausende lang, wenn ihr wollt Jahrtausende ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. lang, ignoriert und es zugelassen, dass alle Erdbewohner Oder ist Gott allein der Juden Gott? Ist er nicht auch der vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Niedergang, vom Heiden Gott? Ja freilich, auch der Heiden Gott. Sintemal hohen Norden bis in den tiefsten Süden, Götzen dienten, es ist ein einiger Gott, der da gerecht macht die Beschnit- wie ihr sie aufgrund groben Unverständnisses nennt, mit tenen aus dem Glauben und die Unbeschnittenen durch Ausnahme eines einzigen kleinen Volkes, das sich vor we- den Glauben. Wie? Heben wir denn das Gesetz auf durch niger als zweitausend Jahren in Palästina niedergelassen den Glauben? Das sei ferne! Sondern wir richten das Ge- hat. Wenn er also in gleichem Masse unser aller Gott und setz auf.«42 der Schöpfer des Alls ist, weshalb hat er sich dann von uns Hier wird ein schwerer Vorwurf erhoben; hier wird näm- so ferngehalten? Richtiger wäre demnach wohl die An- lich behauptet, dass die Werke des Gesetzes, d. h. die Er- nahme, dass der Gott der Hebräer nicht der Schöpfer der füllung der biblischen Gebote, eigentlich nur eine gewis- ganzen Welt, auch nicht der Herrscher über alles ist, viel- sermassen innerjüdische Ehtik seien, denn sie beträfen nur mehr ist er, wie ich gesagt habe, eingeschränkt, er ist als diejenigen, »die unter dem Gesetz sind«, mit dem Ziel, al- durch die Gemeinschaft mit anderen Göttern begrenzt zu le Welt vor Gott schuldig zu sprechen. Der Lehre von den betrachten« (100 C.D; 106 C.D). Werken, die nicht von der Sünde zu erlösen vermag — In der Fortsetzung spricht er von der Verschiedenheit der ganz im Gegenteil, dadurch kommt erst »Erkenntnis der einzelnen Völker und davon, dass deren Gesetze jeweils Sünde« — stellt Paulus die Lehre vom Glauben gegenüber, ihrer Natur entsprechen. die sich an jeden Menschen kraft seines Menschseins rich- »Es ist völlig klar, dass die Natur des Menschen die ihm tet: demnach ist der Glaube die Gewähr dafür, dass Gott gemässen Gesetze verordnet hat: kultivierte und mensch- nicht nur der Gott der Juden, sondern der Gott aller liche bei denen, welche die Menschlichkeit über alles Menschen ist. Hier wird der paradoxe Versuch unternom- schätzen; wilde und unmenschliche bei denen, in deren men, zu zeigen, dass der christliche Glaube die eigentliche Innern eine Natur mit negativen Eigenschaften wurzelt; Erfüllung der Tora sei, denn im Unterschied zu den bibli- die Gesetzgeber fügten nämlich nur wenig zu ihrer Natur schen Geboten, die nur Israel betreffen und durch die nur und ihren Neigungen hinzu, durch ihre Erziehung . . .« Israel vor Gott gerecht, die übrigen Völker aber schuldig (131 C). werden, bietet der Glaube jedem Menschen Erlösung. »Und was die Verschiedenheit von Eigenschaften und Ge- Darin besteht der Erweis, dass Gott tatsächlich der Gott bräuchen betrifft, so hat dies weder Mose noch jemand der ganzen Welt ist. Diese paulinischen Einwände gegen anders erläutert, obwohl die Unterschiede zwischen den den jüdischen »Partikularismus« berühren sich mit den Menschen auf dem Gebiet der Sitten und staatlichen Ge- Angriffen, die heidnische Schriftsteller wiederum gegen pflogenheiten von Völkern weit grösser sind als die das Christentum als gegen eine judaisierende Sekte richte- sprachlichen. Denn welcher Hellene würde sagen, man ten. Am tiefgründigsten hat sich Julian Apostata zu dieser solle sich mit Schwester, Tochter oder Mutter ehelich ver- Frage geäussert, und zwar in seiner Schrift »contra Gali- binden? Aber unter den Persern gilt dies als gut und rich- laeos«, die er im Jahre 363, wenige Monate vor seinem tig. Soll ich sie wirklich alle einzeln aufzählen, die Frei- Tod im Perserkrieg, verfasste. Der erste Teil dieser Schrift heitsliebe und den Mangel an Zucht unter den Germanen, ist fast zur Gänze in den Schriften des Bischofs Cyrill von die Demut und Unterwürfigkeit unter Syrern, Persern Alexandria (5. Jh.) erhalten, der sie anführte, um sie zu und Parthern, ja überhaupt unter allen Barbaren in Osten widerlegen. Im folgenden zitieren wir aus der von Wright und Süden, ebenso die Völker, die despotischer regiert 1923 rekonstruierten Version." werden und die's zufrieden sind? Wenn also diese überaus " Ignatius, ad. Magn. (ed. Zahn), S. 2.8.138. grossen und gewichtigen Unterschiede ohne grössere 4' Ebd. S. 74; vgl. dazu die Bemerkungen von Urbach in seinem oben, Anm. 20 genannten hebräischen Aufsatz S. 7. " Röm 3, 18-20.28-31. ner D. Rokeach, Kaiser Julian und die heidnische Reaktion (hebr.), in " Julianus, Contra Galilaeos, in: Loeb Classical Library Bd. 3; vgl. fer- dem Sammelband Die Persönlichkeit (hebr.), Jerusalem 1965, S. 79-92.

/M 10 1123 göttliche Vorsehung gesetzt sind, weshalb machen wir uns gegnung auf die Leugnung von Israels Erwähltheit sowie dann vergeblich solche Mühe und dienen dem, der uns auf den Vorwurf des Partikularismus ist folgender Mi- überhaupt nicht beachtet?« (138 A—C). drasch: »Der Heilige gelobt sei Er sprach zu Israel: Gott »Wenn nun, wie wir gesagt haben, die Unterschiede in bin ich über alle Weltbewohner, aber meinen Namen habe Gesetzen und Gebräuchen in jedem einzelnen Volk nicht ich nur euch zugeordnet. Ich heisse nicht >Gott der Hei- von einem über das jeweilige Volk gesetzten Gott herrüh- den<, sondern >Gott Israels<« (Ex. r. XIX 3). Hier ist ren, der für es verantwortlich ist (und Engel und Dämon unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, dass der Er- und eine besondere Gruppe von dienstbaren Geistern un- wählungsgedanke zum Universalismus keineswegs in Wi- ter sich hat, die den oberen Mächten behilflich sind), derspruch steht; dies ist sowohl gegen das junge Christen- müsste bewiesen werden, wie diese Unterschiede durch tum gerichtet, welches behauptet, nicht dem »Israel nach jemand anders angelegt wurden. Schliesslich genügt es dem Fleische«, sondern ihnen habe Gott »seinen Namen nicht, zu sagen >Gott sprach — und es ward<, denn die Na- zugeordnet«, als auch gegen den Polytheismus, welcher tur der Geschöpfe muss mit den Geboten Gottes in Ein- den Erwählungsgedanken überhaupt ablehnt. Statt dessen klang stehen . . .« (143 A—B). entfaltet Julian von neuem die polytheistische Lehre, wo- Sehr eingehend führt er den Zusammenhang zwischen der nach jedes Volk seinen göttlichen Schutzpatron habe, der Natur und den göttlichen Geboten im folgenden Ab- seinen nationalen Charakteristika entspreche, sei es, weil schnitt aus: ». . . das Menschengeschlecht ist sterblich und er auf die Gestaltwerdung des betreffenden Volks einge- vergänglich. Demnach müssten auch seine Werke ver- wirkt habe, sei es, weil er vom obersten Gott eben wegen gänglich, Wechsel und Veränderung jeglicher Art unter- seiner persönlichen Eignung über dieses und kein anderes worfen sein, da aber Gott ewig ist, müssten auch seine Volk eingesetzt worden sei. Gegen den Vorwurf, Gott ha- Gebote dies sein. Wenn sie dies aber sind, dann sind sie be den Völkern weder Tora noch Prophetie noch Salbung entweder die Natur des Vorhandenen oder stehen doch verliehen, wenden die Rabbinen in zahlreichen Aussprü- wenigstens mit der Natur des Vorhandenen in Einklang, chen, von denen einige oben angeführt sind, ein, dass denn wie sollte die Natur gegen die Gebote Gottes kämp- doch Bileam ein Prophet für die Völker gewesen sei und fen? Und wie sollte sie etwa böswillig von der freiwilligen diesen den göttlichen Willen kundgetan habe." Darüber Übereinstimmung (6goX,oyia) abweichen? . . . Ähnlich hinaus habe der Heilige gelobt sei Er die Tora absichtlich verhält es sich auch mit den politischen Ordnungen der im Niemandsland verliehen, damit alle Völker gleicher- Völker, er hat nicht durch blossen Befehl bewirkt, dass massen Zutritt haben sollten:" Den Vorwurf, den Heiden ihre Natur solchermassen beschaffen sei, er hat uns habe Gott die Tora nicht verkündet, weist Rabbi Jocha- auch nicht nur auf diese Verschiedenheit hin angelegt« nan mit der Aussage zurück, dass der »Heilige gelobt sei

(143 C —D). Er sie jedem Volk in jeder Sprache anbot, sie aber nah- Julians Äusserungen gründen sich demnach auf folgende men sie nicht an, bis dass er zu Israel kam, die nahmen sie Voraussetzungen: an«.46 Schon bei Ben Sira (Kap. 24) weiss die Tora von 1. Israels Tora ist engstirnig und unsinnig, insofern als sie ihrem präexistenten Ursprung zu berichten, wie sie durch davon ausgeht, dass Gott sich nur um ein einziges Völk- Himmel und Erde geirrt sei, um eine Wohnstätte zu fin- chen gekümmert habe, das sich vor Zeiten in einem Teil den, bis sie diese schliesslich in Jerusalem und Zion gefun- von Palästina niedergelassen hatte; ihm allein habe er den. Folglich reicht dieses Motiv bis ins zweite vorchristli- Tora, Propheten, Salbung etc. verliehen, die übrigen Erd- che Jahrhundert zurück, allerdings trägt es bei Ben Sira völker dagegen sträflich vernachlässigt. kosmischen Charakter, während Rabbi Jochanan es ins 2. Diese Tora sei nicht sinnvoll, sie erklärt die Verschie- Historische wendet: Dort durchwanderte die Tora alle denheit der Völker und ihrer Gepflogenheiten nicht, es sei Sphären des Alls, hier ging der Heilige gelobt sei Er von denn, man geht davon aus, dass der Gott der Hebräer ei- einer Nation und Sprache -zur andern, bis er schliesslich ne Lokalgottheit und nicht der Schöpfer Himmels und der bei Israel ankam. Insofern ist die Erwählung Israels kein Erden gewesen sei, was er nach biblischer Aussage aber Willkürakt eines nationalen Stammesgotts, sondern der war. Lohn, den sich Israel dadurch verdient hat, dass es die 3. Julian erläutert in der Fortsetzung seiner Ausführun- Tora angenommen, Gott am Sinai zum König ausgerufen gen, dass die Völker durch die ihnen zu Vormündern ge- oder wie immer dies ausgedrückt sein mag, wohingegen setzten Gottheiten geschaffen wurden; diese hätten die die Völker die Tora nicht angenommen haben. Dieses verschiedenartigen Gesetze jeweils gemäss dem Volks- Motiv hat in der Mechilta deRabbi Jischmael eine bedeu- charakter gegeben. Demnach liesse sich die Vielfalt der tungsvolle Erweiterung erfahren. 47 Wegen der formalen unterschiedlichen Gesetze nur durch die Annahme erklä- und inhaltlichen Analogie dieser Aggada zu Julians Vor- ren, dass sie auf einer Vielzahl von Schutzgöttern, beru- würfen bringen wir sie hier im vollen Wortlaut: hen, nicht aber auf der Grundlage des jüdischen Mono- »Eine andere Deutung: >Ich bin der Herr dein Gott< — Als theismus. der Heilige gelobt sei Er aufstand und sprach >ich bin der Demnach ist es in erster Linie der Vorwurf des Partikula- Herr dein Gott<, erbebte die Erde, wie es heisst: >DU, als rismus, den Julian, hier als Sprecher des Heidentums du ausfuhrst von Seil-, schrittest von Edoms Gefild, bebte überhaupt, gegen das Judentum erhebt. Er knüpft ihn an die Erde< (Ri 5,4), und >die Berge wankten vor IHM< die Idee des Monotheismus selbst, welche einen Glauben (ebd. V. 5), und >SEIN Schall ist in der Kraft< . . . bis >in an die Existenz von Schutzgöttern einzelner Völker nicht seiner Halle spricht alles: Ehre!< (Ps 29,3 -9), bis dass ihre zulässt. Ausserdem verwirft er auch die Glaubenslehre des Häuser des Glanzes der Gottesgegenwart voll wurden. Zu Christentums; seine Abweichung von der biblischen Lehre der Stunde versammelten sich die Könige der Weltvölker entbehre der inneren Kohärenz, wobei bereits die Bibel gemessen am römisch-hellenistischen Polytheismus ein 44 Zur ganzen Fragestellung E. E. Urbach, Homilien (hebr.), in: Tarbiz 25 (1956), S. 272-289. Laut Sifre Dtn 10 (Ed. Finkelstein S. 430), wo sich minderwertiges Werk sei. Gegen die jüdische Tora, wo rabbinische Äusserungen zu heidnischen Propheten und speziell zu Bile- von einem einzigen Gottesgesetz die Rede ist, führt er ei- am finden, steht Bileam als Prophet noch über Mose. nen Relativismus im Bereich von Gesetz und Brauchtum " Mechilta deRabbi Jischmael, Massechta debaChodesch, Jitro I, S. 205 gemäss des Pluralismus von »Naturen« der Weltvölker ins f. Vgl. ferner oben, Text zu Anm. 19. 46 bAwoda sara 2b. Feld. Die Midraschim, die wir zum Teil angeführt haben, " Mechilta deRabbi Jischmael, Massechta debaChodesch, Jitro V, kämpfen demnach an beiden Fronten zugleich. Eine Ent- S. 220-222.

124 /M 11 bei dem Frevler Bileam und sprachen: Womöglich bringt fehlungen liegt in der Natur des Menschen. Das göttliche er eine Sintflut über die Erde, wie es heisst: >Ja denn, Gesetz ist nicht aus der Natur hervorgegangen, sondern Noah-Gewässer ist mir dies, wie ich geschworen habe< es will die Menschen dazu erziehen, ihren »natürlichen« (Jes 54,9). Sie sprachen zu ihm: Womöglich bringt er Trieb zu überwinden, um ein Leben in der Gemeinschaft diesmal keine Wasserflut über die Erde, sondern eine zu ermöglichen. Rabbi Schimon ben Elasar zog in dieser Feuerflut? Er antwortete ihnen: Weder eine Wasser- noch Sache sogar einen Schluss vom Leichteren aufs Schwere- eine Feuerflut, vielmehr will der Heilige gelobt sei Er sei- re: »Wenn die Noachiden schon den sieben ihnen aufer- nem Volk die Tora verleihen, wie es heisst: >ER wird legten und von ihnen akzeptierten Geboten nicht gewach- Wehr seinem Volke geben< (Ps 29,11). Da sie dies aus sei- sen waren, um wieviel weniger dann den Geboten der To- nem Munde vernahmen, kehrten alle um, ein jeglicher an ra.«48 Den universalen Charakter der Tora betonen die seinen Ort. Rabbinen in einigen der oben angeführten Aussprüche; Daher wurde die Tora den Völkern der Welt angetragen, besonders hervorgehoben ist dieses Motiv in der Fortset- um ihnen keine Ausflucht gegenüber der Gottesgegenwart zung der Mechilta: »Unter dreierlei Umständen ist die zu ermöglichen: >Wenn sie uns angetragen worden wäre, Tora verliehen worden: in der Wüste, durch Feuer und hätten wir sie angenommen<, sie ist ihnen angetragen wor- durch Wasser, um zu sagen: So wie diese Dinge für alle den, und sie haben sie nicht angenommen, wie es heisst: Erdbewohner bestimmt sind, sind auch die Worte der >Er sprach: ER, vom Sinai kam er heran . .< (Dtn 33,2). Tora für alle Erdbewohner bestimmt.« 49 Er offenbarte sich den Söhnen Esaus, des Frevlers und Demnach ist die Tora das in Wahrheit universale Gesetz; sprach zu ihnen: Wollt ihr die Tora auf euch nehmen? Sie nur durch sie hat die Welt Bestand. Wenn die Völker die antworteten: Was steht darin? Er antwortete: Du sollst Tora verworfen haben, wie z. B. Julian und Paulus in nicht töten. Sie entgegneten: Das ist für uns doch väterli- ihrer Polemik gegen Israel, so sind sie dadurch schuldig ches Erbe, wie es heisst: >von deinem Schwerte sollst du geworden. Ja noch mehr: Julian suchte die Minderwertig- leben< (Gen 27,40). Er offenbarte sich den Söhnen Am- keit der jüdischen Religion durch die historische Erfah- mons und Moabs und sprach zu ihnen: Wollt ihr die Tora rung zu erhärten: er wies darauf hin, dass Israel selbst vor auf euch nehmen? Sie antworteten: Was steht darin? Er seiner Exilierung den Königen der Heidenvölker untertan antwortete: Du sollst nicht huren. Sie entgegneten: Wir und nur für sehr kurze Zeit frei und selbständig gewesen stammen doch aus der Hurerei, wie es heisst: >Schwanger sei. Entsprechendes macht er den Christen zum Vorwurf: wurden beide Töchter Lots von ihrem Vater< (Gen 19,36), »Wieso seid ihr, die ihr doch unseren Göttern zu Dank wie sollen wir sie da annehmen?! Er offenbarte sich den verpflichtet wart, zu den Juden abgefallen?« (201 E). Söhnen Ismaels und sprach zu ihnen: Wollt ihr die Tora »Die Götter haben die Herrschaft den Römern verliehen, auf euch nehmen? Sie antworteten: Was steht darin? Er den Juden dagegen gewährten sie nur eine kurze Frist, antwortete: Du sollst nicht stehlen. Sie entgegneten: Da- frei zu sein und immer wieder in Knechtschaft zu geraten mit wurde doch unser Vater gesegnet, wie es heisst: >Ein und Fremde im eigenen Land zu sein« (209 D); in der wilder Mensch wird er< (Gen 16,12) und ferner steht: >ge- Fortsetzung zählt er die einzelnen Zeiträume der Knecht- stohlen, ja gestohlen wurde ich< (Gen 40,15). Als er zu Is- schaft in Israels Geschichte auf, von Abraham an bis in die rael kam, >ihrer sind die Abhänge ihm zur Rechten< (Dtn römische Epoche. Schliesslich richtet er an die Christen 33,2), taten alle den Mund auf und sprachen: >Alles was die rhetorische Frage: »Ist es besser, ständig frei zu sein ER geredet hat, wir tuns's, wir hören's!< (Ex 24,7). Ferner und über einen grossen Teil der Erde und des Meers gan- heisst es: >Er steht und schwanken macht er das Erdreich, ze zweitausend Jahre lang "zu herrschen oder nach dem er sieht hin und sprengt die Weltstämme auf< (Hab 3,6).« Gebot von Fremden zu leben?« (218 B). Auf einen solchen Demnach wird Julians Vorwurf, die Gabe der Prophetie Vorwurf, der von Israels Gegnern gewiss wieder und wie- sei Israels ausschliessliches Privileg, hier zurückgewiesen. der erhoben wurde, hat der Midrasch folgende Antwort: Ganz im Gegenteil, der Prophet Bileam, der sogar grösser »>Ich habe dich geführt aus Ägypten, aus dem Knechts- als Mose war, erzählte den Königen der Völker seiner- hause< — sie waren Knechte von Königen; wieso Knechte zeit, dass Gott seinem Volk die Tora verleiht. Ausserdem von Königen, waren sie nicht vielmehr Knechte von betonen die Rabbinen im Gegensatz zu Julians relativisti- Knechten, wie es heisst: >er galt euch ab aus dem Knechts- scher Auffassung, dass Rechte und Gesetze nur der Aus- haus, aus der Hand Pharaos, des Königs von Ägypten< fluss des jeweiligen Volkscharakters seien, in diesem Aus- (Dtn 7,8); sie waren doch Knechte von Königen und spruch, dass es auf der ganzen Welt nur ein einziges Ge- nicht Knechte von Knechten« (ebd. S. 222). Das heisst: setz gibt, nämlich das, welches Gott seinem Volk auf dem Wahre Freiheit ist die im Königtum Gottes; alles übrige Sinai verkündet hat. In Wahrheit entspricht dieses Gesetz ist doch nur Knechtschaft und Menschenjoch. Dabei sind eben nicht den natürlichen Anlagen des Empfängervolks, eben diejenigen, die sich frei dünken, weil sie als Könige sondern soll die Natur jedes Volkes, einschliesslich Isra- über die vier Enden der Erde regieren, eigentlich Knech- els, bessern und seinen eingeborenen Trieb in Zaum hal- te. Dagegen ist Israel, das am Sinai »Gott zum König aus- ten. Es handelt sich um ein einheitliches göttliches Gesetz, gerufen hat«, nicht Menschen, sondern Gott allein unter- das dazu bestimmt ist, die Gestalt jedes einzelnen Volkes tan. nach universalem Muster zu formen, und es gilt aller- Dem politisch-imperialistisch verfälschten Freiheitsbegriff, orten. der von einer Untertänigkeit unter menschliche Könige An anderer Stelle eröffnet Julian: »Bei den Göttern! Gibt ausgeht, stellt der Midrasch die wahre Freiheit entgegen. es denn überhaupt ein Volk, das die übrigen Gebote mit Das ist wirklich eine Internalisierung des Freiheitsbegriffs, Ausnahme von >Du sollst keine anderen Götter neben mir aber keine Spiritualisierung, denn das Königtum Gottes haben< und >Gedenke des Sabbattages< nicht für befol- findet seinen konkreten Ausdruck ja hier auf dieser Welt, genswert hält?« (152 D). Der Midrasch antwortet: Aller- im historischen Raum, und es kommt durchaus vor, dass dings gibt es solche; in der Tat ist die blosse Existenz von die Anhänger des Gottesreichs aufgefordert werden, die »Schwertvölkern« wie Edom, Moab, Ammon und Ismael Knechtschaft der weltlichen Königreiche gewaltsam abzu- auf Übertretung mindestens eines der Zehn Gebote ge- schütteln, wie aus vielen Stellen zu entnehmen. Das sind gründet. Das Verbot des Tötens, Stehlens, Ehebrechens die Hauptargumente gegen das Heidentum. usw. ist für die Völker der Welt durchaus nicht selbstver- Ebd., S. 221. ständlich, ganz im Gegenteil, die Neigung zu diesen Ver- Ebd., S. 222.

IM 12 1 125 4) Israels Erwählung und die antichristliche Polemik werden darf. Hier handelt es sich nicht um die dogmati- Wie gesagt leugnete die christliche Kirche den Erwäh- sche allgemeinverbindliche Haltung »der Rabbinen«, son- lungsgedanken nicht, sondern übertrug ihn auf sich selbst, dern um persönliche Äusserungen einiger Gelehrter. Die- da sie das wahre Gottesvolk, das Israel nach dem Geiste se Aussprüche, welche den pneumatischen Charakter der sei, und zwar kraft ihres Glaubens an Jesus. Wenden wir Prophetie abwerten und in Abrede stellen und die halachi- uns also dieser Argumentation zu und ihrer Entgegnung sche Autorität der Propheten kraft deren pneumatischen von jüdischer Seite. Status in Zweifel ziehen, werden durch andere ergänzt, Zunächst zwei Beispiele von vielen: Laut Römer 3,24f. die halachische Neuerungen den Propheten zuschreiben, werden die Jesusgläubigen »ohne Verdienst gerecht aus und zwar sowohl Neuerungen, welche die Worte der To- seiner Gnade durch die Erlösung, so durch Christum Je- ra bestätigten, als auch solche, welche Worte der Tora an- sum geschehen ist, welchen Gott hat vorgestellt zu einem gesichts einer vorübergehenden Notlage ausser Kraft Gnadenstuhl durch den Glauben in seinem Blut, damit er setzten. 5° Andere Gelehrte widerstreben diesem Trend: sie die Gerechtigkeit, die vor ihm gilt, darbiete in dem, dass legen Wert darauf, dass die Propheten über pneumatische er Sünde vergibt, welche bisher geblieben war unter gött- Autorität verfügen, weil sie Träger des göttlichen Geistes licher Geduld«. »So ist nun nichts Verdammliches an de- und göttlichen Wortes sind. Hier beginnt offenbar eine nen, die in Christo Jesu sind, die nicht nach dem Fleische grundlegende Neusetzung von Werten innerhalb des Ju- wandeln, sondern nach dem Geist. Denn das Gesetz des dentums, wobei die Rabbinen darauf aus sind, die Ent- Geistes, der da lebendig macht in Christo Jesu, hat mich scheidung rabbinischer Gerichtshöfe sowie die hermeneu- freigemacht von dem Gesetz der Sünde und des Todes. tischen Regeln der Tora als Grundlage für die Festset- Denn was dem Gesetz unmöglich war (sintemal es durch zung der Halacha durchzusetzen. Dagegen hatten die das Fleisch geschwächt ward), das tat Gott und sandte sei- Rabbinen keinerlei Absicht, die Prophetie abzuschaffen nen Sohn in der Gestalt des sündlichen Fleisches und der und eine antiprophetische Dogmatik aufzurichten. Es be- Sünde halben und verdammte die Sünde im Fleisch« (ebd. stand durchaus ein Interesse daran, der Prophetie ihren 8,1-3). Platz neben der Tora anzuweisen und die Möglichkeit ih- Da nun die Tora »vom Fleisch geschwächt ward«, ver- rer Erneuerung im Sinne einer messianischen Einrichtung mochte sie nicht, vom Tode zu erretten. Nur der Glaube offenzulassen. Der scharfe Ton der oben angeführten an den Sohn Gottes, der mit seinem Blut gesühnt hat, ver- Aussprüche rührt daher, dass sich die Rabbinen gegen das mag alles Fleisch von Sünde und Tod zu erlösen. Die Christentum zur Wehr setzten, das mit dem Anspruch Gläubigen sind »Kinder Gottes«, die »nach dem Geiste auftrat, die pneumatisch-prophetische Antorität wieder- wandeln« (ebd. V. 8-17); sie sind das Israel nach dem aufzurichten. Damit bestritt es implizit auch die Gültig- Geiste; sie sind die wahren Erben Israels: »Sind wir denn keit der Sinai-Offenbarung. Ausserdem benützten die Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben Christen die Scheltreden der grossen Propheten, um Israel und Miterben Christi, so wir anders mit leiden, auf dass schuldig zu sprechen und ihre Behauptung zu untermau- wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden« (V. 17). ern, das »Israel nach dem Fleische« sei von Gott verwor-

Um diese immer wieder erhobenen Ansprüche zu widerle- fen und enterbt — eine massa perditionis — während die gen, behauptet die talmudische Aggada, dass einzig und göttlichen Verheissungen an Israel auf die Kirche, das »Is- allein die Tora Israel Leben verleihe; sie vermöge es, ih- rael nach dem Geiste« übergegangen seien. Entsprechend nen ihre Seelen von neuem einzuhauchen; ihre Macht be- waren die Rabbinen bemüht, die Schärfe der propheti- stehe eben in dem, was Paulus abwertend als »Werke des schen Anklagen zu mildern und als Gegengewicht dazu Gesetzes« bezeichnet. Denn seit der Sinai-Offenbarung die Rolle der Propheten als Israels Fürsprecher zu beto- sei sie nicht mehr im Himmel, sondern stehe den Men- nen. schen und damit auch ihrer Gerichtsbarkeit zur Verfü- gung. Nicht durch Zeichen und Wunder, nicht durch 5) Die Sinai-Offenbarung, Tora und Prophetie im Kampf Himmelsstimmen und gewiss nicht durch den Glauben an gegen das Christentum die sühnende Wirkung des Todes eines Gottessohnes wer- Auch die Radikalisierung in der Abwertung der Prophetie de Israel vom Tode erlöst, sondern durch die Tora, die bis hin zur völligen Leugnung ihrer Eigenständigkeit ist mitten unter ihnen ist. Sie ist es, die vor Gott Fürsprache im Kontext der antichristlichen Polemik zu sehen. Die hi- für sie einlegt. Der heilige Geist ruht mitnichten auf der storische Adresse von Aussprüchen wie den oben ange- Gemeinde der Jesusgläubigen; sie sind nicht »Kinder Got- führten (Ex. r. V 9; XXVIII 4 u. a.) ist keine andere als tes«. Vielmehr ruht dieser Geist ausschliesslich auf Israel, das zweite Kapitel der Apostelgeschichte und entspre- und zwar gleichermassen auf allen Schichten der Bevölke- chende Stellen. Dort wird erzählt, dass die Jünger, »als rung: alle wurden gewürdigt, am Schilfmeer die Gottesge- der Tag der Pfingsten erfüllt war« (2,1) des Heiligen Gei- genwart zu schauen, auch Frauen und Mägde, selbst stes voll wurden. Mit dem »Tag der Pfingsten« sind die Schulkinder und Säuglinge fehlten nicht. sieben Wochen nach dem ersten Passa-Feiertag, dem Tag Oben haben wir aggadische Aussprüche behandelt, die der Kreuzigung Jesu, gemeint. Dieser Tag fiel auf das darauf ausgingen, das pneumatische Gewicht der Prophe- Wochenfest. Offenbar galt schon in der Frühzeit des tie zu reduzieren oder welche die Existenz einer Sen- Zweiten Tempels das Wochenfest als Fest der Tora-Ver- dungsprophetie nach Mose schlankweg leugneten (Ex. r. leihung. Zwar gibt G. Alon mit Recht zu bedenken, dass V 9; XXVIII 4 et passim). Ebenso haben wir beobachtet, sich dieses Faktum ausdrücklich halachisch erwähnt erst wie kritisch sich einige Gelehrte zur Anklage mancher in der amoräischen Literatur findet." Ausserdem war der Propheten gegen Israel äusserten. Damit erhebt sich die Zeitpunkt der Tora-Verleihung in tannaitischer Zeit noch Frage, ob hier eine generelle Ablehnung der Prophetie umstritten, laut Rabbi Akiwa und Rabbi Jossi war die To- vorliegt, eine Art antiprophetischer Tendenz unter den Rabbinen. Ferner wäre interessant zu wissen, was diese " Dazu E. E. Urbach, in : Tarbiz 18 (1947), S. 1 ff.; dort sind die ein- entscheidende Veränderung in der Bewertung des Pro- schlägigen Quellen zusammengestellt. phetentums, ganz im Gegensatz zur biblischen Auffas- 51 G. Alon, Jews, Judaism and the Classical World, Jerusalem 1977, S. 132. Der entsprechende Ausspruch ist im Namen von Rabbi Elasar sung, verursacht hat. überliefert: »Alle sind sich darüber einig, dass das Wochenfest auch für Zunächst muss betont werden, dass das historische Ge- den Menschen da ist; das ist nämlich der Tag, an dem die Tora verliehen wicht dieser Aussprüche durchaus nicht überbewertet wurde« (bPessachim 69b).

126 I IM 13 ra nämlich am siebten und nicht am sechsten Sivan verlie- gen mit andern Zungen, nach dem der Geist ihnen gab hen worden. 52 auszusprechen . . . Da nun diese Stimme geschah, kam die Dies vermag jedoch die Auffassung anderer Forscher" Menge zusammen und wurden bestürzt; denn es hörte ein nicht zu erschüttern, wonach sich der erste Beleg für das jeglicher, dass sie mit seiner Sprache redeten« (V. 2-6). Wochenfest als das Datum der Tora-Verleihung im Jubi- Aus der hier geschilderten Offenbarung mit Stimmen und läenbuch findet. Ausserdem ist Alons Annahme problema- Feuerzungen klingt das Echo des biblischen Berichts ( ✓X tisch, der Bericht Jub 10 über Noahs Verlassen der Arche 19) von der Sinai-Offenbarung. Alle hörten die Stimmen am ersten Sivan (V. 1), der Bund, den er mit Gott schloss und sahen »Zungen, zerteilt, wie von Feuer«, die auf die (V. 10), das an ihn ergangene Gebot, die Israeliten auf Jünger herabkamen und ihnen die Gabe der Rede in sämt- diesen Bund schwören zu lassen und vom Blut des Bundes lichen Sprachen, die unter den Anwesenden vertreten wa- über sie zu sprengen (V. 11) sowie die jährliche Erneue- ren, verliehen. Kraft dieser Feuerzungen wussten die Jün- rung dieses Bundes (V. 17) — all dies beziehe sich nur auf ger, die doch Galiläer waren und von Haus aus hebräisch den Bund des Regenbogens (Gen 9,13), nicht auf den oder aramäisch sprachen, wunderbarerweise ihre Bot- Sinaibund. Nur wenn wir die ausdrückliche literarische schaft sämtlichen Versammelten in jeweils ihrer Sprache Anknüpfung von Jub 6,11 an Ex 24,8 übersehen, können zu verkünden; die Bedeutung dieses auffallenden Bildes wir zu einem so seltsamen Schluss gelangen, denn das im lässt sich nur so befriedigend erklären, dass wir uns klar- Jubiläenbuch geschilderte Zeremoniell des Bundesschlus- machen, das hier eine Vermischung von zwei Überliefe- ses stimmt in allen Einzelheiten mit dem Bericht in Ex- rungen über den Charakter der göttlichen Stimme vor- odus überein. Ausserdem wissen wir schlechterdings liegt, nämlich der Überlieferung im Namen von Rabbi nichts davon, dass der Bund des Regenbogens, der laut Jochanan von der göttlichen Stimme, die sich in sieben Gen die ganze Menschheit umfasste, in Israel jemals ge- Stimmen und wiederum in siebzig Sprachen geteilt habe, feiert worden wäre. wie oben angeführt (Ex. r. V 9; bSchabbat 88b; Midrasch Darüber hinaus behauptet Jub 1,1, Mose sei am 16. Tag Tehillim zu Ps 92,3, Ed. Buber S. 202a), und zum anderen des 3. Monats auf den Berg gestiegen, um die Tafeln zu die Überlieferung, welche die göttliche Stimme mit Feuer- empfangen. Nach der Rechnung des Verfassers des Jubi- funken vergleicht; letztere findet sich im Midrasch zu läenbuchs, die mit dem Kalender von Qumran zusammen- Psalm 92 (Ed. Buber, loc. cit.), bSchabbat 88b und in den geht", fällt das Wochenfest auf den 15. Sivan, und laut Targumen Jonathan und Neofiti zu Ex 20,2. rabbinischer Überlieferung fiel Moses Aufstieg auf den So steht bSchabbat 88b zu lesen: »Ein Tanna vom Lehr- Tag unmittelbar nach der Tora-Verleihung (bJoma 4b haus des Rabbi Jischmael: >gleich einem Schmiedeham- und Parallelen)." mer, der Felsen zerspellt< (Jer 23,28) — wie ein Hammer Demnach dürfen wir wohl davon ausgehen, dass nach Funken stieben lässt, so zerteilte sich jedes einzelne Ge- dem Jubiläenbuch das Fest der Erstlingsfrüchte zugleich bot, das aus dem Munde des Heiligen gelobt sei Er her- das Wochenfest, das Fest der Bundeserneuerung und das vorging, in siebzig Sprachen.« In der Paralleläusserung im Fest der Tora-Verleihung ist. Eine Stütze findet diese An- Midrasch zu den Psalmen (s. o.) wird im Namen von Rab- nahme an der Überlieferung der Falaschas, die nach allge- bi Jehoschua überliefert: »Als der Heilige gelobt sei Er meiner Auffassung sehr früh ist." das Gebot aus seinem Munde hervorgehen liess, zerteilte In jüngster Zeit wurde ein weiterer Vorstoss in diese es sich in mehrere Lichter, wie es heisst: >Mein Herr gibt Richtung unternommen und mit Recht darauf hingewie- den Sprach aus — der Heroldinnen gross ist die Schar< (Ps sen, dass sich die früheste Andeutung für einen Zusam- 68,12).« Und im Targum Jonathan zu Ex 20,2 heisst es: menhang zwischen dem Wochenfest und einem Fest der »Als das Gebot aus dem Munde des Heiligen gelobt sei Er Bundeserneuerung bereits 2 Chr 15,10 ff. für die Zeit des hervorging, war es wie Funken und Blitze, wie Feuerflam- judäischen Königs Asa findet. Das dort geschilderte Fest men . . . Es flog aus und schwebte in der Himmelsluft und fällt in den dritten Monat, d. h. Sivan, und die dort vor- wurde wieder im israelischen Lager gesehen und grub sich kommenden Ausdrücke von der hebräischen Wurzel für wieder auf die Bundestafeln ein.«" »schwören« werden vom Verfasser auf den Treuschwur Bei den zerteilten Feuerzungen handelt es sich um die gedeutet, den die Anwesenden leisteten und mit dem sie Funken des göttlichen Wortes, die in alle Richtungen stie- die Bedingungen des göttlichen Bundes annahmen. 57 ben. Sie stellen das göttliche Wort dar, das sich bereits Die Annahme ist wohl berechtigt, dass der Bericht Apg beim Ausgehen in siebzig Sprachen übersetzt. So wird die 2,1 ff. sich tatsächlich auf ein Geschehen bezieht, das sich Konkretisierung des göttlichen Wortes bzw. der göttli- am Wochenfest ereignete, d. h. am Fest der Tora-Verlei- chen Stimme dargestellt, die wesenhaft meta-sprachlich hung, und dass diese Ineinssetzung bereits in der Frühzeit ist. Die zeitliche Ansetzung dieser Offenbarung am Wo- des Zweiten Tempels üblich war. Eine Stütze für diese chenfest und ihre symbolhafte Gestaltung lassen keinen These haben die Forscher im Wortlaut des Abschnitts ge- Zweifel daran, dass der Verfasser des zweiten Kapitels funden, wo es unter anderem heisst: »Und es geschah der Apostelgeschichte die Absicht verfolgte, die Sinai-Of- schnell ein Brausen vom Himmel als eines gewaltigen fenbarung zu verdrängen und zu ersetzen; an eben dem Windes und erfüllte das ganze Haus, da sie sassen. Und es Tag, da Gott sich seinem Volk am Sinai offenbarte, ge- erschienen ihnen Zungen, geteilt, wie von Feuer; und er schah die Offenbarung an die Apostel, die eine neue Bot- setzte sich auf einen jeglichen unter ihnen; und sie wur- schaft verkündeten, welche die alte aufheben sollte; es den alle voll des heiligen Geistes und fingen an, zu predi- war also gewissermassen eine neue Tora-Verleihung. Die 52 Awot deRabbi Natan Version A und B, jeweils am Anfang; bSchabbat polemische Erwiderung der Rabbinen in den oben ange- 86b; bJoma 4b; vgl. dazu S. Safrai, Die Wallfahrt zur Zeit des Zweiten führten Midraschim über die Sinai-Offenbarung arbeitet Tempels, Neukirchen 1981, S. 236-238, bes. Anm. 144. mit genau den gleichen Symbolen. Sie will klarstellen, das " I. Heinemann, Philons griechische und jüdische Bildung, Breslau 1932, es nur diese eine Offenbarung gegeben hat, zu der nichts S. 128 ff.; Ch. Albeck, Das Buch der Jubiläen und die Halacha, Berlin 1920, S. 15 f.; J. N. Epstein im ersten Band seiner gesammelten Schriften hinzugefügt und von der nichts abgezogen wird. Ferner (hebr.), Jerusalem 1950, S. 165. teilte sich die Stimme am Sinai in siebzig Stimmen, d. h. " S. Talmon, Studien zu apokryphen Schriften, in: GS E. L. Sukenik, sie war an die gesamte Menschheit gerichtet; es war eine 1957, S. 77 ff. Botschaft an jeden Menschen in seiner Eigenschaft als " Dazu Safrai, wie oben Anm. 52. Mensch. Der heilige Geist jedoch ruht nur auf Israel, da- 56 Dazu Alon und Safrai, wie oben Anm. 51 und 52 angegeben. " J. Potin, La fAte Juive de la Pentecöte, Lectio Divina 65, I—II, 1971. " Die Quellen sind bei Potin angeführt, s. o. Anm. 57.

IM 14 1 127 her ist die Behauptung der Jesusgläubigen unwahr, dass sei auf die Gemeinde der Gläubigen übergegangen. — sie die Erben des »Israel nach dem Fleische« seien; ganz Die zweite Front, an der die Rabbinen zu kämpfen hat- im Gegenteil, Israel ist vor Gott lieb und wert; jeder ein- ten, war die heidnische Welt, welche den Erwählungsge- zelne hatte teil an der Offenbarung Gottes, jeder erblickte danken und den Ein-Gott-Glauben als partikularistische tatsächlich die göttliche Erscheinung, wie die oben ange- Vorstellungen kategorisch ablehnte. Die heidnischen führten Sprüche hervorheben. Denker vertraten einen Polytheismus, laut dem verschie- dene Schutzgötter jeweils den Charakter und die Lebens- 6) Schlusswort weise des ihnen untergebenen Volkes verkörpern. Das Die Erhebung der Sinai-Offenbarung zum zentralen Er- Heidentum führte einerseits zu einer Relativierung eignis und zur einzigen göttlichen Offenbarung in der menschlicher Lebensweise überhaupt, andererseits ver- Geschichte Israels, die damit verbundene Herabminde- kündete es, die ethischen Grundbegriffe seien dem Men- rung der pneumatischen Gestalt der Prophetie und deren schen von Natur angeboren. Darauf erwiderten die Rab- Einbeziehung in die ununterbrochene Traditionskette binen: Nein, vielmehr ist der Gott Israels der Gott der vom Sinai her, die Hervorhebung der Erwählung Israels ganzen Welt; der Geltungsbereich der Tora ist nicht auf als eines historischen Verdienstes zusammen mit der Kri- die Grenzen Israels beschränkt. Erst nachdem die Völker tik an den Scheltreden einiger Propheten und die Beto- die Tora verworfen hatten, bot Gott sie den Israeliten an, nung deren Rolle als Fürsprecher Israels — dies waren die welche sie dann willig annahmen. Daher ist die Erwäh- Strukturveränderungen innerhalb des jüdischen Selbstver- lung Israels ein historisches Verdienst und kein von vorn- ständnisses, die sich im Laufe des jahrhundertelangen herein verliehenes Privileg. Und schliesslich gibt es über- Kampfes der Rabbinen gegen die Kirche herauskristalli- haupt keine natürliche allgemein-menschliche Moral, es sierten. Hiermit wies das Judentum den christlichen Ver- gibt nur ein einziges göttliches Gesetz, nämlich die Tora, such zurück, Israels historische Entrechtung biblisch zu welche die »natürlichen« Neigungen des Menschen in begründen. Ferner waren die anthropomorphe Aus- Zaum halten soll. In der Tat waren es nicht dogmatische drucksweise und die radikale Demokratisierung des pro- Erwägungen, von denen sich die Rabbinen bei ihren Be- phetischen Pneumas — hervorstechende Züge in der Ag- trachtungen und Entscheidungen leiten liessen, sondern gada — dazu bestimmt, das dialogische Verhältnis Israels die innersten Existenzprobleme des jüdischen Volkes und zu seinem himmlischen Vater zu veranschaulichen und die Notwendigkeit, sich gegen Feinde aller Art zur Wehr den christlichen Anspruch zu widerlegen, der heilige Geist zu setzen.

II Jehoshua Amir zum 70. Geburtstag* Von Benjamin Uffenheimer, Professor für Bibelwissenschaft an der Universität Tel Aviv

Zu Ehren Ihres 70. Geburtstags haben wir uns hier ver- jüdischen Tradition gegenüber bahnte. Dies geschah kei- sammelt, um einen Blick auf Ihre zukünftige Vergangen- neswegs aus Bequemlichkeit, sondern aus dem ernsten Be- heit zu werfen. Ich meine damit, dass nur die zukunfts- streben, die religiöse Tradition dem Zeitgeist des 20. Jahr- trächtigen Momente des gestrigen Tages erwähnenswert hunderts gegenüber standfest zu machen. sind; in der Tat, Ihrem Lebensweg fehlt es wirklich nicht Während die grossen Jeschiwot Osteuropas, die von den an solchen Momenten. Bei dieser feierlichen Gelegenheit Nazis im Weltkrieg vernichtet wurden, das Talmudstu- möchte ich es jedoch keineswegs versäumen, Ihnen und dium nach altem Stil sehr intensiv betrieben, war es die uns allen in Erinnerung zu rufen, dass Ihr eigentlicher Wissenschaft vom Judentum, die sich im Bereich des deut- Name, besser: Ihr Jugendname, Hermann Neumark. ist. schen Judentums entwickelt hatte, um die Schöpfungen Ich bitte um Nachsicht für diese Unhöflichkeit, doch der jüdischen Kultur nach der kritisch-historischen Me- kann ich nicht umhin, denn nichts kann den Grundstock thode zu erforschen und sie der westlichen Begriffswelt Ihrer Persönlichkeit und Ihres Lebensweges besser cha- zugänglich zu machen. Ihr Vater war einer der Vertreter rakterisieren als diese Doppelnamigkeit. Sie sind das klas- und Verehrer dieser dogmenfreien Forschungsmethode. sische Beispiel des kulturellen Doppelgängers, der in zwei Sie selbst vertieften sich ins Studium der jüdischen Kultur Welten nicht nur steht, sondern mit beiden tief verwurzelt an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in ist: in der deutschen und griechischen Klassik einerseits, Berlin, wo Sie die Rabbinerwürde erlangten und gleich- mit der Kultur Israels samt all ihren geschichtlichen Kon- zeitig mit Ihrer Arbeit über Philoni promovierten. Ihre figurationen, von der Bibel bis hin zu Franz Rosenzweig Untersuchung galt dem Frömmigkeitsideal dieses jüdi- und Martin Buber, andererseits. Die deutsche und grie- schen Denkers und dessen griechisch-begrifflicher Um- chisch-lateinische Klassik haben Sie im humanistischen kleidung — ein Thema, zu dem Sie nach vielen Jahren in Gymnasium Ihrer Vaterstadt Duisburg kennengelernt, Ihren hebräischen Arbeiten zurückkehren sollten. 2 und später an den Universitäten Bonn, Berlin und Würz- All dies ereignete sich am Ende der zwanziger und zu burg haben Sie klassische Philologie und Philosophie stu- Beginn der dreissiger Jahre, während denen Sie den trau- diert. Auch der jüdischen Kultur und dem jüdisch-religiö- matischen Umschwung von Hitlers Machtergreifung mit- sen Lebensweg waren Sie seit Ihrer Kindheit verhaftet, erlebten. Für den Grossteil des deutschen Judentums war denn diese gehörten zur Atmosphäre Ihres Elternhauses, dies ein unüberwindlicher Schlag, da sich doch die über- des Heims des liberalen Rabbiners Dr. Neumark zu Duis- wältigende Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft in burg. Ich betone »liberal« im Unterschied zu »orthodox«, Deutschland im Laufe von drei Generationen mit unver- denn die tiefe Neigung Ihres sel. Vaters zum jüdischen wüstlicher Naivität in die Illusion hineingelebt hatte, Kulturgut war sowohl von Liebe als auch von kritischer Deutsche zu sein. Der damit zusammenhängende Assimi- Distanz getragen. War es doch Ihr Vater selbst, der sich den Weg zu einer undogmatischen selektiven Haltung der i H. Neumark, Die Verwendung griechischer und jüdischer Motive in den Gedanken Philons über die Stellung Gottes zu seinen Freunden, Diss. phil. Würzburg 1937. Erweiterter Text einer Ansprache, gehalten auf einer Feier der Univer- 2 Philons Homilien über die Gottesfurcht und Liebe in ihrem Verhältnis sität Tel-Aviv zum 70. Geburtstag von Prof. Amir am 8. 12. 1981. zu den palästinischen Midraschim (hebr.), in: Zion 30 (1965), 47-60.

128 IM 15 lationsprozess, der besonders während der Weimarer Re- rael dank der Masseneinwanderung aus Europa und aus publik sehr besorgniserregende Ausmasse annahm, den Ländern des Islam innerhalb weniger Jahre von erschütterte den physischen Bestand des deutschen Juden- 600 000 Seelen (am Ende des Befreiungskrieges) auf tums, das im Begriff stand, sich völlig im deutschen zweieinhalb Millionen angewachsen war. Das Netz der Volkstum zu verlieren. Erwachsenenbildung, das sich während jenen schicksal- Für Sie war der NS-Alpdruck kein Todesstoss, denn die haften und entbehrungsreichen Jahren herausbildete, die zionistische Kunde fand schon früh Eingang in Ihr Eltern- sogenannten Ulpanim, sollte einen Grossteil dieser Men- haus. Deshalb zogen Sie zusammen mit Ihrem Bruder und schen erfassen und ihnen während der ersten Jahre die le- Ihrer Schwester unverzüglich die Konsequenzen aus der bendige hebräische Sprache zusammen mit den Grundbe- neuen Situation und kehrten nach Beendigung Ihres Stu- griffen der jüdischen Tradition, Kultur und Landeskunde diums ins Land Ihrer Väter zurück, damals noch Palästina Israels vermitteln. Die Lernenden waren teilweise Überle- genannt, heute Israel. In der Tat war dies für Sie keine bende des Holocaust, die nach den Jahren des Schreckens »Auswanderung«, sondern Rückkehr zu Ihrem innersten mit letzter Verzweiflung das Land ihrer Väter erreicht Wesen oder »Aufstieg, Alija«, wie wir die Einwanderung hatten, teils ganze Gemeinden, die aus primitiv-orientali- ins Land Israel hebräisch nennen. Der materielle Existenz- schen Verhältnissen in die rauhe Wirklichkeit des Israel kampf war während jener Jahre sehr schwer, denn bis der fünfziger Jahre hineingeschleudert wurden, wo sie zum Ende der dreissiger Jahre stand die wirtschaftliche jahrelang in elenden Zeltlagern, den sogenannten Ma'aba- Infrastruktur noch auf sehr schwachen Füssen. Ich erinne- rot, hausend ihre messianischen Erwartungen mit sehr bit- re mich, Sie zum ersten Mal kurz nach Ihrer Einwande- teren Lebenserfahrungen vertauschen mussten. Kurz, die rung — ich meine, es sei Anfang der vierziger Jahre gewe- Ulpanim sollten aus den formlosen Massen aus aller Her- sen — im Lesesaal der Universitätsbibliothek mit einer ren Ländern ein Volk schmieden, oder besser: sie auf den grossen Kartothek angetroffen zu haben, als Sie über das Weg der Volkwerdung führen. Dieses so weit gesteckte Thema »Die Askese in der jüdischen Religionsphiloso- Ziel der damals begonnenen Erwachsenenbildung, die phie« arbeiteten. Dies soll jedoch nicht besagen, dass Sie mittlerweile längst feste Formen angenommen hat, konnte sich sofort ins Glashaus der Akademie begeben hätten. sich mit den Errungenschaften der landläufigen Erwach- Die hebräische Universität war damals noch von winzi- senenbildung in hochentwickelten Ländern wie z. B. gem Umfang, und an eine Lehrposition war — zumal nach Skandinavien und Holland bei weitem nicht begnügen. Ausbruch des Weltkriegs — nicht zu denken. So »erober- Dort handelt es sich um die Hebung des allgemeinen Bil- ten« Sie sich im Laufe dieses Jahrzehnts, d. h. bis zum dungsniveaus einer insgesamt homogenen Bevölkerung, Anfang der fünfziger Jahre, zwei Gebiete, die für die For- um das Nachholen von in der Jugend Versäumtem, um mung der jungen Kultur des neuen Israel von schwerwie- Fortbildung auf verschiedenen Fachgebieten u. a. m.; gender Bedeutung waren: das Gebiet der Erwachsenenbil- doch in Israel war dies der revolutionierende Katalysator dung, die mit der Masseneinwanderung aus allen Ecken einer neuen Volksgemeinschaft. Die kreative Intelligenz und Enden der Welt während der fünfziger Jahre bedeu- der Lehrer dieser Ulpanim, die im Laufe der Zeit aus den tende und für die Zukunft Israels lebenswichtige Dimen- Reihen der Neueinwanderer selbst Nachschub erhielten, sionen annahm. Das zweite Gebiet, eng damit verbunden, konnte sich nur auf die wachsende Erfahrung stützen, um ist Ihre Übersetzungsarbeit. Ihre akademische Tätigkeit, allmählich Lehrsysteme auszuarbeiten, die den besonde- die sich seit dem Anfang der sechziger Jahre intensiv ent- ren Bedingungen gerecht wurden. Ich erinnere mich der falten sollte, ist organisch aus diesen beiden Wirkungsge- vielen Gespräche mit Ihnen während jener Jahre und der bieten hervorgewachsen und stellt eine Synthese von bei- Begeisterung, mit der Sie immer von den Versuchen spra- den dar: akademischer Unterricht in antiker und moder- chen, diesen Menschen mit Hilfe des Hebräisch-Unter- ner jüdischer Philosophie an den Universitäten Tel-Aviv richts die Grundbegriffe der Kultur Israels mitzuteilen und Jerusalem sowie intensive wissenschaftliche Überset- und sie mit den besonderen Realitäten der jüdischen Exi- zungsarbeit. Auch während dieser jüngsten Periode Ihres stenz vertraut zu machen. Das dialogische Verhältnis, das Lebenslaufes waren Sie sich Ihrer Pflicht der konkreten sich zwischen Ihnen und jenen Menschen anbahnte, hat Wirklichkeit gegenüber stets bewusst. Dies fand und fin- vielen den Weg ins Judentum gezeigt und sie von Einwan- det bis heute seinen Ausdruck in Ihrer Wirksamkeit als derern zu aktiven Bürgern Israels gemacht. Rabbiner und Prediger der Synagogengemeinde »Emeth Wenn ich mich nicht irre, nahmen Sie schon damals Ihren We'emuna« hier in Jerusalem. Nach dem Muster Ihres Nebenberuf als Übersetzer auf. Es fing mit Gelegenheits- grossen Lehrers Leo Baeck versuchen Sie in Ihren Predig- arbeiten an, sollte sich jedoch bald erweitern und ten, die traditionelle Derascha in neue Formen zu giessen, vertiefen. Unter den ersten Werken, denen Sie ein hebräi- indem Sie jenen Partien der Bibel und des Midrasch, die sches Gewand verliehen, ist ein Band von S. Barons »So- sich Ihnen besonders erschliessen, mit dem Blick auf die cial History of the Jewish People« (hebräisch 1961 im uns bewegenden Fragen und die Probleme der Gegenwart Massada-Verlag erschienen). Doch bald entwickelten Sie neue Dimensionen abzugewinnen suchen; doch hierbei sich zum Dolmetsch der deutsch verfassten Literatur der verzichten Sie auch nicht für einen einzigen Moment auf Wissenschaft vom Judentum und der modernen jüdischen die philologisch-kritische Distanz von den Texten. Diese Philosophie. So erschienen Ihre hebräischen Übersetzun- kritische Aufgeschlossenheit den Texten gegenüber, ge- gen von Elbogens klassischem Werk. »Der jüdische Got- paart mit Ihrer Sicht der konkreten Gegenwart, verleiht tesdienst«, Bubers »Königtum Gottes« und ein Band mit Ihren Deraschot die innere Authentizität, die für melodra- einer Auswahl von Bubers Schriften zur Bibel. Ausserdem matische Erbaulichkeit keinen Raum lässt. sammelten und übersetzten Sie die Schriften Hans Lewys, In meinen folgenden Ausführungen möchte ich mit Ihrer des genialen früh verstorbenen Erforschers der jüdischen Tätigkeit auf dem Gebiet der Erwachsenenbildung begin- Hellenistik an der Hebräischen Universität. Auch die nen, danach einige Bemerkungen zu Ihren Übersetzungen Übersetzung einer Auswahl der Schriften Philons ist in machen und schliesslich bei der Beschreibung Ihres wis- diesem Zusammenhang zu erwähnen. Die meisten dieser senschaftlichen und denkerischen Wirkens etwas ausführ- Werke erschienen im Verlag der Jewish Agency »Mossad licher werden. Bialik«, dessen Ziel u. a. die hebräische Übersetzung an- Ins Gebiet der Erwachsenenbildung stiegen Sie Anfang derssprachiger jüdischer Klassik ist. Besondere Anzie- der fünfziger Jahre ein, als die Bevölkerung des Staates Is- hungskraft übte auf Sie Franz Rosenzweig aus. Zuerst er-

IM 16 1 129 schien in Ihrer Übersetzung eine Sammlung seiner »Klei- da, das auch nach dem Verlust der politischen Autonomie neren Schriften«. Der Höhepunkt Ihrer übersetzerischen seinen schöpferischen Elan nicht einbüsste. Letzteres Leistung ist zweifellos die hebräische Übersetzung von erwuchs aus der organischen Verbindung der jüdischen Rosenzweigs »Stern der Erlösung« (1970). Ihre besondere Gemeinschaft Alexandriens mit der umgebenden griechi- geistige Nähe zu Buber und Rosenzweig beruht darauf, schen Kultur. Das rabbinische Judentum bildete die un- dass beide Künstler der deutschen Sprache waren, denen umstrittene Grundlage der jüdischen Geistesgeschichte es vergönnt war, als Bibelübersetzer die Dimensionen der während zweier Jahrtausende; das hellenistische, das aus deutschen Sprache nach dem Vorbild des hebräischen dem Gesichtsfeld der jüdischen Geschichte und des jüdi- Originals zu vertiefen und zu erweitern. Was den »Stern schen Bewusstseins bis zum 19. Jahrhundert völlig ver- der Erlösung« betrifft, so behauptete Gerschom Scholem schwunden war, übte einen tiefgehenden Einfluss auf die seinerzeit, dieses Werk sei unübersetzbar. Sie haben es ge- Entwicklung des Christentums aus; in diesem Zusammen- schafft, indem Sie Ihrerseits die hebräische Sprache, die hang sind besonders die Schriften Philons von Alexandria Dimensionen der hebräischen Philosophensprache, auf zu erwähnen. kühne Weise ausgebaut haben. Für diese Leistung wurden Ihr methodischer Ausgangspunkt zur Skizzierung des gei- Sie mit dem Tchernichowski-Preis, der höchsten Aus- stigen Porträts des hellenistischen Judentums ist eine rein zeichnung für Übersetzungen ins Hebräische, geehrt. philologische Studie über den Begriff Iou5atagog, was Hier ist eine geschichtliche Bemerkung am Platz. Wie all- mit »Judentum« übersetzt werden kann — ein Begriff, der gemein bekannt, wurden die ersten Hauptwerke der jüdi- im rabbinischen Judentum nicht seinesgleichen hat.' Aus schen Religionsphilosophie in der Sprache der arabischen Ihrer Analyse geht hervor, dass dieser Begriff, der erst- Aristoteliker und Platoniker verfasst, da die klassische mals im 2. Makkabäerbuch vorkommt4, ausschliesslich Kultur Israels, die Bibel, der Talmud und die Midraschim, von jüdischen Schriftstellern gebraucht wird. Er bildet das dem philosophischen Denken und der damit verbundenen Gegenstück zu EUrivtoitog (»Hellenismus«), was häufig abstrakten Begriffswelt sehr fern standen. Es war die mit a? 2 opuXta tos = Fremdstämmigkeit, Fremdartigkeit Übersetzerfamilie ibn Tibbon, die im 12. und 13. Jahrhun- (in biblischer Sprache: die Lebensweise der heidnischen dert, die arabisch geschriebenen Werke der grossen jüdi- Völker — derech hagojjim) in Parallele gesetzt wird. schen Religionsphilosophen ins Hebräische übertrug. Sie louSatoitog bezeichnet, wie Sie logischerweise folgern — legten damit die Grundlage einer philosophischen Termi- den vom jüdischen Gesetz bestimmten Lebensweg im Ge- nologie der hebräischen Sprache. Doch dieses bahnbre- gensatz zum Griechentum, das als fremdartige, dem Ju- chende Werk war weit davon entfernt, den sprachlichen dentum entgegengesetzte Lebensform empfunden wurde. Bedürfnissen der Philosophie des 19. und 20. Jahrhun- Hier kristallisierte sich das tiefe Distanzgefühl des helleni- derts zu entsprechen. Nachman Krochmal, der hebräische stischen Juden zu seiner heidnischen Umwelt in zwei po- Hegelianer des 19. Jahrhunderts, eröffnete mit seinem laren Begriffen, dergleichen im Lande Israel, d. h. in der Werk »Führer der Unschlüssigen (unserer) Zeit« eine rabbinischen Literatur jener Tage, überhaupt nicht auf- neue Epoche hebräischer philosophischer Sprache. Doch kommen konnte, da sich die dort entfaltende Volkskultur erst unsere Generation erlebte den Durchbruch zu einer mit einer fremden nicht in dem Masse konfrontiert sah. differenzierten und exakten hebräischen philosophischen Das Bewusstsein der Andersartigkeit der griechisch-heid- Begriffswelt mit der Übersetzung der Werke Platons, Ari- nischen Welt gegenüber liess keinerlei Assimilationsbe- stoteles', Kants, Nietzsches u. a. Unter diesem Aspekt ist strebungen aufkommen, wie dies beim deutschen Juden- Ihr Beitrag zur begrifflichen Erweiterung der hebräischen tum des 19./20. Jahrhunderts der Fall war. Im Gegenteil, Sprache zu bewerten. Doch soll zusätzlich betont werden, waren es doch die antijüdischen Ausbrüche in Alexandria dass diese Leistung den sprachlichen Bereich weit über- und die grosse Revolte der Diaspora gegen Rom steigt, da jede Entscheidung auf diesem Gebiet von weit- (115 - 117 nach der christlichen Ära), die die Gegensätze gehender philosophischer Tragweite ist. Man kann mit Fug und feindlichen Gefühle stetig nährten und verschärften. und Recht behaupten, dass diese Ihre Übersetzung einer So kann wohl behauptet werden, dass die im folgenden zu philosophischen Interpretation Rosenzweigs nahekommt. beschreibende Kultursynthese von einer dünnen intellek- Jetzt zum dritten Kapitel: Ihre wissenschaftliche Tätig- tuellen Oberschicht getragen wurde. Doch die Struktur- keit, die sich während der beiden letzten Jahrzehnte in- änderungen, die das alexandrinische Judentum im Ver- tensiv entfaltet hat. Es waren keine umfassenden vielbän- gleich zum rabbinischen durchmachte, waren nichtsdesto- digen Werke, die sie schrieben, denn an Geschichte als weniger tiefgreifender Art, denn die dünne Schicht der solcher waren Sie nicht interessiert, sondern an deren gei- jüdischen Gebildeten konnte nicht umhin, die griechische stigen Konturen. Wie gesagt, waren es zwei grosse schöp- Philosophie und Literatur zu bewundern, zumal sie bei ferische Perioden, von denen Sie schon von Jugend auf in den griechischen Philosophen Bestrebungen zu entdecken Bann gehalten wurden und die jetzt in mehreren tief- glaubten, die mit denen des jüdischen Monotheismus zu- schürfenden Abhandlungen zur Sprache kamen. Zunächst sammengingen. das hellenistische Judentum in seiner Konfrontation mit In einer Reihe von Studien, die teils um die griechisch ge- dem rabbinischen. Dann die deutsch-jüdische Kultursyn- schriebenen Apokryphen, teils um Philons Werk kreisen, these des 19. und besonders des 20. Jahrhunderts; hier legen Sie die Transformation sowohl griechischer als auch kreiste Ihr Interesse um Gestalten wie Max Wiener, Leo jüdischer Motive unter dem gegenseitigen Einfluss der Baeck, Martin Buber und Franz Rosenzweig. Die beiden beiden Kulturkreise dar. Ich möchte nur vier typische Bei- Erstgenannten waren Ihnen an der Hochschule für die spiele herausgreifen, und zwar Wissenschaft des Judentums als Lehrer schon bekannt, 1) Homer und die Bibel als Ausdrucksmittel im dritten si- während Sie Bubers Bekanntschaft erst hier in Jerusalem byllinischen Buch (hebr.), in: Scripta Classica Israelica machten. 1 (1974), 73 - 89 (im folgenden: Sibyllenbuch); Wie gesagt, das rabbinische und das hellenistische Juden- Der Begriff Iou&atakt6g — zum Selbstverständnis des hellenistischen tum fanden ihre Ausprägung gleichzeitig, während der er- Judentums (hebr.), The Fourth World Congress of Jewish Studies, sten Jahrhunderte — dieses im Lande Israel, jenes in der jü- Vol. 3, Jerusalem 1972, 263-268. Der Verfasser dieses Buches ist ein gewisser Jason von Kyrene, der am dischen Diaspora des ptolemäischen Ägypten. Ersteres Ende des 2. vorchristlichen Jahrhunderts lebte. Die letzte Bearbeitung des war das Erzeugnis der immanenten innerjüdischen Ent- Textes gehört in die 2. Hälfte des 1. vorchristlichen Jahrhunderts; vgl. 0. wicklung im selbständigen jüdischen Gemeinwesen in Ju- Eissfeldt, Einleitung in das AT, 2 1956, 719 f.

130 IM 17 2) Die Allegorie Philons in ihrem Verhältnis zur homeri- sich um die Ablehnung des aktivistischen und politisch schen Allegorie (hebr.), in: EXOAIA 6 (1971), 35-45 orientierten Messianismus. Doch bei Philon erfährt die (im folgenden : Allegorie); messianische Idee eine totale Umdeutung, denn seiner 3) Die messianische Idee im griechischen Judentum, in: platonischen Konzeption zufolge ist die erlöste, die voll- Erlösung und Staat (hebr.), Jerusalem 1979, 61-70 (im endete Welt gleichbedeutend mit der Ideenwelt. Die Tora folgenden: Idee); wird als Nomos umschrieben, der wiederum gleichbedeu- 4) Die Begegnung des biblischen und des philosophischen tend mit dem Logos ist, d. h. mit der reinen Wahrheit. Monotheismus als Grundthema des jüdischen Helle- Folglich ist die Tora das oberste Gesetz, die politeia, des nismus, in: Evangelische Theologie 38 (1978), 1-19 Kosmos; wer sie einhält, ist ein Kosmopolit (Op. mundi (im folgenden: Begegnung). 55 20.25). Die Erlösung zeichnet sich ab als die Abwen- Auf derselben Linie liegen zwei weitere bedeutende Arbei- dung aller Völker von ihren Götzen und die Annahme der ten', doch begnügen wir uns hier mit den oben erwähn- Tora, d. h. des Lebensweges des einen Gottes. Zu guter ten. In der ersten Abhandlung analysieren Sie die Verse Letzt werden sich die Völker an einem Ort versammeln (er 520-544 und 545-572 des dritten sibyllinischen Buches. erwähnt in diesem Zusammenhang Jerusalem nicht, wie Der geschichtliche Hintergrund der Verse scheint die Jes. 2,1-5 !), denn sie werden sich schämen, über ein Volk Zerstörung Korinths durch Rom im Jahre 146 zu sein. In zu herrschen, das besser und vorzüglicher ist als sie selbst. der ersten Gruppe (VV 520-544) beschreibt der Seher in Diese Umformung des jüdischen Messianismus zu einer sehr teilnahmsvollem Stil das furchtbare Los, das Hellas pazifistischen Erlösungsidee wird durch das dritte sibylli- getroffen hat; im folgenden (VV 545-572) ruft er Hellas nische Buch ergänzt, das die oben erwähnte Predigt an zur Busse auf, zur Rückkehr zum wahren Gott, da der Hellas enthält, wo die Menschheit zur Annahme des Mo- Götzendienst dies Unglück verursacht habe. Auf sehr ein- notheismus aufgefordert wird. drucksvolle und überzeugende Weise legen Sie dar, dass Philons Enthistorisierung der messianischen Idee ent- der assoziative Hintergrund des ersten Teils Dtn 28, spricht der Entmythisierung der biblischen Welt in seinen 28-33 ist, wo mit den furchtbaren Strafen gedroht wird, Homilien (s. Allegorie), in denen erzählerische Vorgänge die Israel heimsuchen werden, sollte es von Gott abfallen. der Bibel in abstrakte Begriffe und historische Ereignisse Der Seher überträgt diese Drohung, die gegen Israel ge- in metaphysische Prozesse verwandelt werden — eine Ten- richtet war, auf die hellenistische Welt, die — wie oben denz, die dem rabbinischen Judentum polar entgegenge- schon festgestellt — für die heidnische als solche steht. Die setzt ist, dessen volkstümlicher Charakter die mythologi- Pointe Ihrer Analyse des zweiten Teils (VV 545-572) ist schen und national-religiösen Elemente der Bibel vertiefte die Feststellung, dass die literarischen Anklänge dieser und ausbaute. Hier sind wir bei Ihrem klassischen Essay Verse zum Prooimion der Ilias hinführen. Die Ilias spricht angelangt (s. Begegnung), das den biblischen Monotheis- vom Zorn der Götter, der nur durch die Zerstörung Tro- mus dem hellenistisch-jüdischen gegenüberstellt. In eini- jas beschwichtigt werden kann. In den Augen des jüdi- gen grossen Linien skizzieren Sie dort die geistige Struk- schen Sehers verwandelt sich dieser willkürliche Gerichts- tur beider Welten, deren gegenseitige Schätzung auf spruch der Götter in das gerechte Urteil des einzigen Got- gegenseitigem Missverstehen beruhte, indem jeder jene tes, dessen sühnende Strafe auf das Heil Hellas', d. h. der Eigenschaften des anderen rühmend hervorhebt, die jener Menschheit gerichtet ist. Der eschatologische Optimismus nicht wahrhaben will. Wie erwähnt, die Unterschiede zwi- Israels der Menschheit gegenüber, der die Geschichte als schen beiden Phänomenen sind tief im Bewusstsein beider Heilgeschichte konzipiert, findet hier seinen Ausdruck in Welten verankert. Was den biblischen Monotheismus be- der monotheistischen Umbiegung des Prooimions. Die trifft, so handelt es sich hier um ein allumfassendes Le- hier verkündete Strafe Hellas' fusst auf der Konzeption benssystem, das auf gemeinsamer geschichtlicher Erfah- eines Monotheismus, von dem die Völker abgefallen seien rung fusst, die Errettung und Befreiung Israels aus der und zu dem sie in der eschatologischen Zukunft zurück- ägyptischen Knechtschaft und die Bundesschliessung, de- kehren müssen. Die Zurechtweisung der Völker ob ihres ren Quintessenz die Ausschliesslichkeit des Dienstes am Götzendienstes wird von Ihnen mit Recht als Neuerung Gott Israels ist. 6 Die Intimität der Beziehung Gott- der Bibel gegenüber betont; nach der Bibel selbst ist Göt- Mensch erfordert die anthropomorphe Ausdrucksweise, zendienst der natürliche Zustand der Welt, der nieman- die in der Bibel nie als anstössig empfunden wird. In pola- dem als Sünde angerechnet wird (Dtn 4,22 u. a.). Die Be- rem Gegensatz dazu steht der philosophische Monotheis- gegnung mit der griechischen Kultur erhöhte jedoch Isra- mus, den Philon und seine jüdischen Zeitgenossen von els Erwartung an die Völker, so dass auch ihnen der Göt- der vorsokratischen Philosophie entlehnten: Hier handelt zendienst als Sünde gewertet wurde. es sich in erster Linie um die Erkenntnis des göttlichen Diese Erwartung erweiterte sich in der jüdisch-hellenisti- Einheitsprinzips, d. h. dieser Glaube fusst keineswegs auf schen Umdeutung des biblischen Messianismus (s. Idee) historischen Erfahrungen, vielmehr ist er das Ergebnis des zu einem spiritualisierten Kosmopolitismus, der sich von Nachdenkens, des Suchens nach dem Urgrund. Dieser der geschichtlich-nationalen Grundlage der biblischen Gott, der hinter den konkreten Vorgängen der Erschei- Idee völlig losgelöst hatte. Schon Josephus, dessen anti- nungswelt steht, symbolisiert den Begriff der Einheit, die quitates am kaiserlichen Hof zu Rom verfasst wurden, nach Auflösung aller bestehenden Zusammengesetztheit war bestrebt, die messianischen Motivationen der jüdi- noch übrigbleibt. Dieser Gott offenbart sich nie; er kann schen Freiheitskämpfer gegen den römischen Imperialis- nur in unseren Gedanken erschwungen werden; seinem mus vor seinen Lesern zu verbergen. So entstellt er die unpersönlichen Charakter entspricht das Fehlen der ech- Zeloten zu Räubern und Mördern, indem er die messia- ten Anredbarkeit, also kann er nie Gegenstand des Kultus nische Naherwartung verschwieg, die den aktivistischen werden. Soweit der Mensch das Bedürfnis zur Teilnahme Charakter der Glaubenshaltung dieser Gruppe nährte. an einem Kult hat, steht ihm der polytheistische Volkskult Möglicherweise wollte er hiermit seine jüdischen Brüder zur Verfügung. Die Teilnahme darin findet in der Stoa ih- vor ähnlichen »Illusionen« bewahren und sie dazu veran- re theoretische Rechtfertigung, weil ihrzufolge die Götter lassen, die Tatsache des römischen Imperiums als fried- des Volksglaubens je ein Teilaspekt des wahren Gottes, liebende Bürger hinzunehmen. Bei Josephus handelt es des weltdurchwaltenden Logos, darstellen. Unter dem Einfluss solcher Gedankengänge verwandelt The Figure of Death in the Book of Wisdom, in: JJS 30 (1979), 154-178; sowie der oben Anm. 2 angeführte Aufsatz. 6 Vgl. mein Buch: Die frühe Prophetie Israels (hebr.), Jerusalem 1972.

1M 18 131 sich schon bei Josephus (contra Apionem II 168) die Reli- in die Begegnung mit dem Gott Israels hervorbrechen. So gion Moses' aus der unmittelbaren Erfahrung des anredba- weit meine kurze Skizze Ihrer Arbeiten auf dem Gebiet ren Gottes in eine philosophische Lehre von der theoreti- der jüdischen Hellenistik. In diesen Arbeiten sind Sie der schen Erkenntnis seines geistigen, übersinnlichen Wesens, Philon- und der Midraschforschung verpflichtet; beson- wie die Philosophen aus dem Einheitsbegriff folgerten. ders ist der Einfluss Jizchak Heinemanns erkennbar, so- Doch nach Josephus blieb diese Erkenntnis der esoteri- wohl der seines Buches »Philons griechische und jüdische sche Besitz weniger, weil die Philosophen »nicht den Mut Bildung« (Breslau 1932) als auch der seines hebräischen hatten« (ovu. etöki.triacv), diese Lehre in die für falsche Alterswerkes »Die Wege der Aggada« (Jerusalem 1950). Meinungen voreingenommene Masse hineinzutragen. Ihr besonderer Beitrag besteht in der Zeichnung der gros- Ganz im Gegensatz dazu sei es Moses gelungen, mittels sen Konturen, was Sie jedoch immer mit der philologi- seiner Gesetzgebung seinen Zeitgenossen und den zu- schen Akribeia verbunden haben. künftigen Geschlechtern die Erkenntnis vom wahren Gott Zum Schluss noch einige kurze Betrachtungen zur philo- für alle Zeiten einzupflanzen. Doch gerade diese kultische sophischen Verarbeitung dieser Welt, besonders im Hin- Gesetzgebung, die Opferdienst, Beschneidung, Speisege- blick auf das moderne Judentum, das in Ihrer Überset- bote, Sabbatruhe etc. einschliesst, wird von Poseidonius 7 zung von Werken von Buber, Rosenzweig, Hans Lewy, als späterer Aberglaube abgetan. Da er das biblische Bil- Elbogen, Baron u. a. und in Ihren einschlägigen Abhand- derverbot als Ausdruck der philosophischen Erkenntnis lungen zur Sprache kommt. Der Leitfaden auf diesem Ge- von der Transzendenz Gottes deutet, ist es für ihn un- biet ist Ihre Beschreibung des geistigen Werdegangs Ihres denkbar, der ursprünglichen Lehre Moses' solche »aber- Lehrers Max Wiener (1882 - 1950), der Ihnen von der Ber- gläubischen« Gebote zuzuschreiben. In der parallelen Be- liner Hochschule her bekannt war." Diese Darstellung schreibung des Judentums bei Hekataios von Abderas sprengt den Rahmen einer Biographie, denn dort kommt heisst es, Moses habe keine Kultbilder zugelassen, weil eine Erscheinung zum Ausdruck, die das liberale Juden- Gott nicht menschengestaltig (anthropomorph) sei. Dies tum Deutschlands während der dreissiger Jahre charakte- ist der folgerichtige Schluss aus der Entpersönlichung des risiert. Es sei doch vermerkt, dass die religiös-liberale Gottesbegriffes. Hier wird das Kultgesetz zum ersten Mal Richtung bis zum Anfang des Hitler-Regimes die über- als Problem empfunden, genau wie in der modernen pro- wiegende Mehrheit der deutschen Juden umfasste. Die testantischen Bibelwissenschaft. Jedoch sei betont, dass Wurzeln dieser Richtung gehen auf die Emanzipation zu- des nur ein nach fremden Massstäben in die Bibel hinein- rück, die den Assimilationsprozess einleitete, der während getragenes Problem ist, denn nach ihr kann sich die aus- der Weimarer Republik seinen Höhepunkt erreicht hatte. schliessliche Beziehung zu Gott nur im »Gehen in seinen Die revolutionären Umwälzungen, die die Juden Wegen«, also im Tun seines Gebotes und in der Nachah- Deutschlands im Laufe von zwei Generationen zu einem mung seines Wesens und Charakters ausleben. Diese gewichtigen Faktor auf diversen wissenschaftlichen, litera- Nachahmung fusst geradezu auf der anthropomorphen rischen, künstlerischen und wirtschaftlichen Gebieten her- Gottesvorstellung. Andererseits ist es für die Bibel unmög- anwachsen liessen, waren mit dem schicksalhaften Preis lich, im Götzendienst etwas anderes als Abfall vom wah- der religiösen und nationalen Selbstaufgabe verbunden. ren Gott zu sehen. Doch von der philosophischen Einstel- Die reformatorischen Bestrebungen innerhalb der jüdi- lung der hellenistisch-jüdischen Denker her erscheint der schen Gemeinde, die sich schon während des 19. Jahrhun- biblische Anthropomorphismus zum ersten Mal problema- derts in der Reform- und der liberalen Bewegung anbahn- tisch; mit den Methoden der rationalen Bibelerklärung ten, waren dazu angetan, die jüdische Tradition den neu- der griechischen Philologie sucht jetzt der jüdische Den- en Umständen anzupassen, was natürlich mit weitgehen- ker Aristobulus, von dem nur Fragmente erhalten sind 9, den Verzichtleistungen in der Ausübung der traditionellen den anthropomorphen Charakter der biblischen Aussagen Religionsgesetze verbunden war. Der innere Zerfall der abzubiegen — ähnlich den jüdischen Aristotelikern des jüdischen Gemeinde, der in vielen Fällen zu Mischehe Mittelalters. Doch selbst auf rein philosophischem Gebiet und Taufe führte, ging Hand in Hand mit der Konfessio- — nicht nur in der Bejahung des Religionsgesetzes als aus- nalisierung des Judentums; es hiess, Judentum sei kein schliesslichem Lebensweg Israels — kommt die Eigenstän- ethnischer Begriff, sondern eine Religion, ein religiöses digkeit der jüdisch-hellenistischen Philosophen zum Vor- Bekenntnis, confessio. Viele deutsche Juden verstanden schein. Ich meine in erster Linie den enthusiastisch sich und bezeichneten sich so als »Deutsche mosaischen Glau- überschlagenden Stil Philons, dessen Gegenstand nicht bens«. Auf diesem Hintergrund ist die strikte Ablehnung nur Erkenntnis, sondern Teilhabe an der Gottheit ist. Die- der nationalen Renaissancebewegung, des Zionismus, seit se Teilhabe drängt über alles Begriffliche hinaus zur Selig- dem ersten Auftreten Theodor Herzls in den neunziger keit. Die cüöatgovia übersteigt die rein moralische Be- Jahren zu erklären, das Phänomen der sogenannten Pro- deutung, die ihr in der klassischen Philosophie zukommt, testrabbiner, die sich in einer öffentlichen Erklärung ge- und erweitert sich als Beiwort der Gottgeliebtheit, die gen Herzl aussprachen. Der grösste Vertreter der Ten- zum einzigen Inhalt der Glückseligkeit wird. Stoische denz, die das Judentum mittels spiritualisierender und Tugenden werden in religiöse Güter des Eingefügtseins in universalistischer Reinterpretation seines konkreten die göttliche Liebe umgedeutet» Trotz der Tatsache, Volkscharakters berauben wollte, war der grosse Philo- dass die mythischen Vorstellungen der Bibel zu abstrakten soph Hermann Cohen, der Begründer der Marburger Begriffen umgebogen werden, trotz der Rationalisierung neo-kantianischen Schule. und Spiritualisierung der biblischen Erzählungen konnte Der geistige Werdegang Max Wieners, den Sie zeichnen, und wollte Philon seinem lebendigen biblischen Erbe kei- spiegelt die Gegenbewegung wider, die während der neswegs entsagen. Seine Apologie der Gesetze sowie seine zwanziger Jahre einsetzte, um in den dreissiger Jahren Sehnsucht und sein Verlangen nach dem lebendigen Gott ihren Höhepunkt zu erreichen, d. h. die Rückkehr zur lassen ihn aus seiner verhaltenen abstrakten Begriffswelt organischen und konkreten Konzeption des Judentums, die den Glauben Israels als Kristallisierung der Volkskul- ' Bei Strabo XVI 34 ff.; s. K. Reinhardt, Poseidonios über Ursprung und tur Israels zu verstehen bemüht ist. Dieser Trend führte Entartung, in: Orient und Antike 6. Hekataios bei Diodor, Bibliothek XL 3, 4. " Max Wiener und sein Werk (hebr.), Vorwort zur hebräischen Überset- 9 Aristobulos bei Eusebius, Praeparatio evangelica XI 11,3-12,16. zung von Max Wieners Buch »Jüdische Religion im Zeitalter der Emanzi- 10 Dazu o. in Anm. 1 angeführten Dissertation des Jubilars, 5 ff.; 17 ff. pation«, Jerusalem 1974, 7-34.

132 1 IM 19 zur Annahme und Bejahung der zionistischen Erkenntnis stellt sich unter diesem Aspekt als eine fortlaufende Inter- vom Volkscharakter des Judentums. Doch die Tragik des pretationskette dar, als den immer wiederkehrenden Ver- Schicksals wollte, dass die Erkenntnis zu spät heranreifte; such der Generationen, den Willen Gottes in konkrete dadurch versäumte das jüdische Volk die historische Ge- Formen zu giessen. Wer sich vor diesen monumentalen legenheit, die sich ihm mit der Balfourdeklaration (1917) Bau gestellt sieht, der kann nicht umhin, die einzelnen eröffnet hatte, sein Nationalheim im Lande Israel zu Gesetze und Gebote auf ihre Durchsichtigkeit dem göttli- errichten. Der furchtbare Preis, den das jüdische Volk für chen Willen gegenüber hin zu prüfen. Da erhebt sich je- dieses Versäumnis zu bezahlen hatte, waren die fünf Mil- doch die Frage: Gibt es einen objektiv-verpflichtenden lionen Juden Europas, die von Hitlers Handlangern hin- Massstab für diese selektive Haltung der Halacha gegen- gemordet wurden. über? Hier verweisen Sie auf die subjektive Antwort Franz Wenn ich mich nicht irre, gehörten Sie damals zur jungen Rosenzweigs, der sich, von assimilatorischem Milieu her- Studentengeneration, die von der zionistischen »Konter- kommend, seinen persönlichen Weg ins jüdische Gesetz revolution« ergriffen war, deren Hauptvertreter seit der zurück bahnte. Es ist die Kategorie des Könnens, des per- Jahrhundertwende Martin Buber war, in dessen Schriften sönlichen Angesprochenseins von den diversen Gesetzen, sich ein von Herzls rein politischer Konzeption distanzie- das den göttlichen Ursprung transparent macht. Das Kön- render Kulturzionismus zur Geltung kommt, der die gei- nen verwandelt sich daraufhin in eine religiöse Kategorie, stige und soziale Renaissance des Judentums und des jüdi- die dem einzelnen die Wahl und Einhaltung der Gesetze schen Volkes anstrebt. Ihre eigene Einstellung zum religiö- aufzwingt. So ist die religiöse Entscheidung letztlich dem sen Aspekt des Judentums findet ihren Niederschlag im Willen entzogen und geschieht aus dem Nichtanderskön- klassischen Essay »Meine Einstellung zu den Religionsge- nen.12 Diese Kategorie wirkt sich jedoch bei jedem einzel- setzen«, das in der literarischen Monatsschrift in hebräi- nen auf verschiedene Weisen aus und kann nur als erster scher Sprache »Molad« (Bd. 22, Heft 197-198, S. Schritt zurück zum väterlichen Erbe gewertet werden.

678 -684, Jahrgang 1964) veröffentlicht wurde. Dieses Es- Rosenzweig entwickelte diese Gedanken während der say, das bei Ihnen während vielen gemeinsamen philoso- zwanziger Jahre, als die Assimilation die jüdische Ge- phischen Gesprächen herangereift ist, steht unter dem ent- meinschaft schon weitgehend unterhöhlt hatte. Um sich scheidenden Einfluss des grossen »Baal Teschuwa«, des diesem soziologischen Prozess zu entziehen, konnte sich Rückkehrers zum väterlichen Erbe, Franz Rosenzweig. Rosenzweig nur auf den einzelnen stützen. Diese Proble- Wie er stellen auch Sie die Frage nach der Verbindlichkeit matik hat sich in der Zwischenzeit von Grund auf geän- des traditionellen Religionsgesetzes, der sogenannten Ha- dert. Heute kristallisiert sich hier im Lande Israel eine lacha, eine Frage, die für einen streng orthodoxen Juden neue jüdische Lebensform, oder besser: kristallisieren sich ein Ding der Unmöglichkeit ist, da er alle Vorschriften als neue jüdische Lebensformen heraus unter geschichtlichen den Ausdruck der göttlichen Offenbarung hinnimmt. Um Bedingungen und Verhältnissen, die gesellschaftliche jedoch den religiösen Charakter Ihrer kritischen Frage- Normen erfordern, die sich organisch an die jüdische stellung deutlich zu machen, betonen Sie, dass Sie an den Tradition anreihen. Die persönliche Entscheidung des göttlichen Gesetzgeber glauben, doch unterscheiden Sie einzelnen kann nur auf das Maximum der Tradition aus- zwischen göttlichem Gebot (Mizwa) und gesetzlicher An- gerichtet sein, doch die Geschichte kann die Entscheidung weisung (Halacha). Das erste will als metasprachliche Wil- des einzelnen nicht abwarten. Sie verlangt einen juridisch lensäusserung Gottes verstanden sein, da sich Gott nie verpflichtenden Rahmen, in dessen Umkreis die persönli- und nimmer in einer menschlichen Sprache kundgegeben che Entscheidung gefällt werden soll. Dieser neue Rah- hat; jede Offenbarung Gottes muss zuerst in die menschli- men verleiht alten Gesetzen, die während der zweitau- che Sprache übersetzt werden; d. h. sowohl die Bibel in all sendjährigen Diaspora ihre Lebendigkeit eingebüsst hat- ihren Teilen als auch die weite talmudische Tradition, die ten, wieder neue Verbindlichkeit: ich meine u. a. die sogenannte mündliche Lehre, sind menschliche Werke, Pflicht jedes einzelnen, für diese neu entstehende Ge- d. h. von Menschen übersetzter Wille Gottes, übersetzt in meinschaft mit Einsatz des eigenen Lebens einzustehen, die ihrer Zeit verständliche Sprache, in Gesetze und An- um das Leben dieser und der folgenden Generationen zu weisungen, wie sie den jeweiligen Verhältnissen entspra- sichern. Dies ist die neue Deutung des Verses Lev 18,5: chen. Diese prinzipielle Ablehnung der Verbalinspiration »und lebe dadurch« (gemeint: durch die Einhaltung der bedeutet die totale Relativierung der jüdischen Tradition, göttlichen Gebote). Doch dieses Gebot, dessen religiöser da die »Übersetzer« des göttlichen Willens sich gezwun- Charakter über jeden Zweifel erhaben ist, hängt heute gen sehen, die Offenbarung in die bestehenden Lebens- nicht mehr vom individuellen Können des einzelnen Men- und Gesellschaftsformen, kurz in die historischen Ver- schen ab. Es ist ein gottgezwungenes Müssen, genau wie hältnisse ihrer Zeit und Umwelt einzubauen. Doch gerade der Midrasch die Offenbarung am Sinai umdeutet: Er diese Relativierung eröffnet Wege zu einer neuen religiö- stülpte den Berg über sie wie ein Fass, bis sie die Tora an- sen Wertung der Tradition; zwar ist die Bibel samt der nahmen (bSchabbat 88a). mündlichen Tradition nur menschliche zeit- und ortsge- Andere Beispiele, die in Israel grosse Meinungsverschie- bundene Übersetzung der göttlichen Offenbarung, aber denheiten hervorrufen, sind die öffentliche Sabbat- und nur mittels der Übersetzung ist der göttliche Wille über- Festesruhe oder die Ehegesetzgebung. Die Frage, vor der haupt erkennbar. Die Übersetzung lässt den göttlichen wir uns hier gestellt finden, lautet: Wie kann der jüdische Willen und die Absicht der göttlichen Offenbarung, des Charakter Israels und die Einheit des jüdischen Volkes göttlichen Befehls, durchscheinen. So gibt es Gesetze, wie gesichert werden, ohne die persönliche Freiheit des ein- z. B. die Opfervorschriften, deren historischer und sozia- zelnen zu beeinträchtigen? Wieder ein anderes Beispiel ler Überbau den göttlichen Ursprung für die Mentalität betrifft die Verwirklichungsformen der sozialen Egalität, des modernen Menschen verdeckt, während sich die eine Forderung, die tief in der biblischen und nachbibli- Transparenz anderer Gesetze, wie z. B. der Zehn Gebote schen Gesetzgebung verankert ist. An dieser Stelle seien oder des jährlichen Festzyklus, um nur zwei Beispiele zu die neuen Gesellschaftsformen erwähnt, als auch die so- nennen, dem modernen Bewusstsein unerbittlich auf- ziale Gesetzgebung, die das Gesicht Israels geprägt haben. zwingt; die göttliche Autorität dieser und ähnlicher Ge- setze ist deshalb bindend und verpflichtend. Die jüdische 12 Dazu F. Rosenzweig, Die Bauleute, in: Kleinere Schriften, Berlin 1937, Tradition, von den Uranfängen bis auf den heutigen Tag, 119-121.

1M20 133 All dies sind Fragen von religiöser Bedeutung, die der chentlichen gemeinsamen Talmudstudium, zusammen mit Entscheidung des einzelnen enthoben sind. Hier schliesst meiner Frau, dem »Lernen«, in der Lektüre klassischer, sich der Kreis; hier verwandeln sich intellektuelle Errun- griechischer und hellenistisch-jüdischer Texte und in phi- genschaften in geistige Energie, die in den ewigen Lebens- losophischen Gesprächen seinen Ausdruck fand. Möge es strom Israels einfliesst. Ihnen und uns vergönnt sein, dieses fruchtbare Gespräch Diese Zeilen wollen nicht mehr sein als ein vorläufiger auch in den kommenden Jahrzehnten fortzusetzen — bis Rückblick auf unseren jahrelangen Dialog, der im wö- hundertundzwanzig! III Der Text der Mischna Neue Faksimile-Ausgaben von Mischna-Handschriften und Editionsversuche. Teil I — Einleitung: Die drei vollständigen Mischna-Handschriften Bearbeitet von Dr. Michael Krupp, Jerusalem"

Die Mischna ist nach der Zerstörung des Tempels und schen Entscheidungen fruchtbar zu machen. Er ist es zwei verlorenen Kriegen um die staatliche Unabhängig- auch, dem es gelingt, im Geiste der Intention der Schrift keit der erste grosse Versuch, die Eigenart und die Beson- eine Erstarrung der Schrift in wörtlicher Auslegung ausser derheit des jüdischen Lebensweges zu definieren und um- Kraft zu setzen. fassend festzuhalten. Nach rabbinischem Verständnis gibt Gegen Ende des zweiten Tempels gab es bereits ein ausge- es die schriftliche Tora, die Moses auf dem Berg Sinai von dehntes Gebäude von Gesetzesentscheidungen zu allen Gott mitgeteilt wurde. Zugleich aber erhielt er die mündli- Bereichen des Lebens. Es ist aber schwer zu sagen, wie- che Tora, die nicht aufgeschrieben wurde und von Ge- weit dieses Material gesammelt, in welcher Form geord- schlecht zu Geschlecht seitdem überliefert wird und die net und wieweit es generell anerkannt war. Alles, was wir schriftliche Tora je für ihre Zeit autoritativ auslegt und aus den späteren Quellen wissen, macht es wahrschein- das Leben in der Tora ermöglicht. So wie es in den Sprü- lich, dass die Unterschiede zwischen den beiden Schulen chen der Väter heisst (1,1): Hillel und Schammai gross waren, aber auch innerhalb der Schulen dürfte es keine einheitliche Form der Überlie- »Moses hat die Tora auf dem Sinai empfangen und ferung gegeben haben. Wahrscheinlich gab es eine Kette sie dem Josua überliefert und Josua den Ältesten, verschiedener Überlieferungen, wobei Gruppen von Ge- und die Ältesten den Propheten und die Propheten setzesentscheidungen weniger inhaltlich, sondern nach haben sie den Männern der grossen Versammlung memotechnischen Gesichtspunkten zusammengesetellt überliefert. Diese sprachen drei Dinge aus: Seid vor- waren. sichtig beim Richtspruch, stellt viele Schüler auf und In der Zeit nach der Tempelzerstörung war als einzige macht einen Zaun um die Tora.« grosse Bewegung des Judentums des zweiten Tempels das Dieser Zaun um die Tora, der den Juden davor bewahren Pharisäertum mit seinen verschiedenen Schulen übrigge- will, die Tora unbewusst oder leichtfertig zu übertreten, blieben. Erst in der Zeit der Konsolidierung in der Perio- diese mündliche kanonisierte Lehre für ihre Zeit, will die de des Lehrhauses von Jawne, in den 60 Jahren der friedli- Mischna darstellen. Da die Zeit aber nicht stillsteht und chen Entwicklung und des Aufbaus von der Tempelzer- mit ihr die Entwicklung des menschlichen Miteinanders, störung bis zum Bar-Kochba-Krieg, ist die Lehrform der weil die mündliche Lehre weiter mit den Problemen einer Mischna anzusetzen, die zu der uns bekannten Form der neuen Zeit wachsen und sich verändern muss, wird sie Mischna geführt hat. Das gesamte überlieferte Material dann selbst zum Gegenstand der Erörterung und Diskus- wird in den Lehrhäusern nach inhaltlichen Gesichtspunk- sion, und so entstehen die beiden Talmudim, in Palästina ten zusammengestellt, geordnet, ausgewählt und durch der jerusalemische und in Babylonien der bedeutender ge- neue Entscheidungen in praktischen Gerichtsfällen oder wordene babylonische Talmud. Der Talmud ist mehr als in theoretischer Erörterung angereichert. In der Zeit von nur ein Kommentar zur Mischna, er ist eine Weiterent- Rabban Gamliel von Jawne und Rabbi 'Aqiva dürfte so wicklung der mündlichen Lehre, mit derselben Autorität. das Gerippe unserer Mischna bereits da sein, wobei immer Ähnlich verhält es sich mit den darauf aufbauenden Kom- noch davon ausgegangen werden muss, dass jedes Lehr- pendien, die bis hinein in die Neuzeit immer wieder den haus seine eigene Mischnasammlung hatte. Versuch gemacht haben, die schriftliche Lehre für die Ge- Diese Mehrgleisigkeit hält auch in der Blütezeit der genwart aufzuschliessen. Mischnazusammenstellung, in der Generation nach dem Führt die Mischna sich selbst auf Moses zurück, so sind Bar-Kochba-Aufstand, an. Diese Generation zwischen doch die ersten Anfänge der Mischnaüberlieferung und Rabbi 'Aqiva und Rabbi Jehuda ha Nasi, dem Endredak- die erste Zusammenstellung dieses Materials zu prakti- tor der Mischna, ist nicht nur besonders reich an hervor- schen Zwecken im Dunkeln. Sicherlich sind sie anzusie- ragenden Gelehrten, auch die Gelehrsamkeit, die Diskus- deln in der Zeit der »Männer der grossen Synagoge«, in sion des hervorgebrachten Materials, die Scharfsinnigkeit die Übergangszeit zwischen persischer und hellenistischer der Argumentation ist auf einer bisher nicht gewesenen Herrschaft in Palästina. Auch Einflüsse jüdischer Schrift- Höhe angelangt. Diese Generation diskutierte noch ein- auslegung aus Babylonien sind von Bedeutung gewesen, mal das gesamte Material und ordnete es neu. So gehören stammt doch Hillel der Alte selbst aus Babylonien. Hillel die meisten der in der Mischna genannten Gelehrten die- wirkte in der Zeit Herodes des Grossen vor Christi Ge- ser Generation an, besonders zahlreich werden die fünf burt. Auf ihn werden die ersten hermeneutischen Regeln Hauptschüler Rabbi 'Aqivas genannt, die alle im wesentli- zurückgeführt, mit denen die Schrift ausgelegt wird. Mit chen auf der Mischna ihres Lehrers R. 'Aqiva fussen. Der ihm kommt eine gewisse Schriftgelehrsamkeit auf ihren bedeutendste unter ihnen ist Rabbi Meir, und seine ersten Höhepunkt, die versucht, die Schrift für die prakti- Mischnasammlung wird dann die Vorlage für die End- redaktion des Patriarchen Rabbi Jehuda ha Nasi, in der * Dr. Michael Krupp ist Beauftragter der Ev. Kirche Berlin. rabbinischen Literatur meist nur »Rabbi«, in späterer

134 IM 21 Zeit »der Heilige« genannt. Die Redaktion dürfte um 200 fähr den Umfang der hebräischen Bibel hat, nur mündlich n. Chr. stattgefunden haben. überliefert sein soll. Auf alle Fälle finden wir noch in den Umstritten ist in der Wissenschaft, wie gross der Eigen- nächsten Generationen in Babylonien Leute eines beson- beitrag von Rabbi Jehuda ha Nasi war. Viele der Stellen deren Berufsstandes, die wie die Mischnalehrer selbst in unserer Mischna, die seinen Namen tragen, scheinen Tannaiten heissen und deren Aufgabe es war, auf Anfrage Nachtrag einer späteren Zeit zu sein. Es scheint deutlich die ganze Mischna mündlich parat zu haben. zu sein, dass Rabbi sehr sorgfältig und achtsam mit seinen In der Forschung ist ebenso offen, wieweit die Redaktion Quellen umgegangen ist. Er hat versucht, alte Quellen Rabbis als abgeschlossen zu gelten hat. Gesichert scheint nicht auseinanderzureissen, obwohl nur weniges Material zu sein, dass Rabbi die Mischna im Laufe seines Lebens einer solchen Quelle zum behandelten Problem passte. An noch überarbeitet hat. Auf alle Fälle sind auch nach sei- den vielen Doppelüberlieferungen und dem Material aus- nem Tode von der nächsten Generation — wie schon er- serhalb der Mischna kann man ablesen, dass Rabbi sehr wähnt — Änderungen vorgenommen und Zufügungen ge- häufig das Material unverändert übernahm, auch wenn es macht worden. Schon die Talmudim diskutieren die ver- manchmal von seiner eigenen Meinung abwich. schiedenen Lesarten. Es lassen sich deutlich zwei Haupt- Andererseits zeigt aber auch ein Vergleich mit der Tosef- rezensionen unterscheiden, die aber auch uneinheitlich ta, die besonders das Material enthält, das nicht in die untereinander sind und nur zwei Hauptströme aufzeigen: Mischna aufgenommen und nach Abschluss der Mischna der Mischnatext, wie er in Palästina anerkannt war, und zu einem besonderen Werk zusammengestellt wurde, dass der Mischnatext, wie er in Babylonien anerkannt war. Rabbi in der Auswahl seines Materials sehr sorgfältig und Allerdings haben sich auch die Originaltexte, wie sie ein- kritisch war. Er liess sehr viel Material weg, weil er es mal dem babylonischen und jerusalemischen Talmudim zum Teil als Ballast ansah, als etwas Selbstverständliches, vorgelegen haben, nichts als Ganzes erhalten, denn die das aus der übernommenen Mischna erschlossen werden Talmudhandschriften, die in der Regel den gesamten konnte, oder weil es in seiner Aussage zu kontrovers, zu Mischnatext eines jeden Kapitels an den Anfang der Ge- eindeutig oder ihm zu suspekt erschien. Die Mischna ist mara, der Mischnadiskussion, stellen, haben diesen Text meistens viel gradliniger in der Gedankenführung, für die anscheinend aus anderen Quellen übernommen. Dies ist Praxis besser geordnet und verwendbar als die Tosefta. ein Mischtext aus beiden Typen und nicht identisch mit Häufig fehlt in der Mischna der ausführliche Gang der den kurzen Mischnazitaten, die am Anfang eines jeden Diskussion, der in der Tosefta zu finden ist, und in der neu diskutierten Unterabschnittes stehen, den sogenann- Mischna ist nur das Ergebnis festgehalten. Andererseits ten Pisqaot. Diese Pisqaot scheinen den unverfälschten enthält auch die Mischna an wichtigen Stellen zahlreiche Mischnatext der babylonischen bzw. palästinischen Re- Kontroversen, wohl um ein Abweichen von der akzeptier- zension zu repräsentieren. Leider sind sie nur sehr abgekürzt ten Meinung von vornherein oder bei erneuten Diskussio- vorhanden, besonders im jerusalemischen Talmud, wenn nen abzuwehren. auch in jeder Handschrift verschieden lang, besonders Zusammenfassend kann man sagen, dass die Mischna ein vollständig in den Genizafragmenten des babylonischen bewusst zusammengestelltes Werk ist, das sich bemüht, al- Talmuds. Einige Talmudfragmente aus der Geniza enthal- le Bereiche des Lebens, des Kultus, der religiösen Ver- ten diesen Text auch in der den Abschnitten vorgestellten pflichtungen, des mitmenschlichen Zusammenlebens in Mischna oder — öfter — in den Mischnapartien innerhalb der eigenen Gemeinschaft und gegenüber der fremden der Gemara, ähnlich wie später die Talmuderstdrucke Umwelt zu regeln. Die bewusste Auswahl des Materials Soncino und Bombergi. kommt einer gewissen Kanonisierung gleich. Zum ersten Zusammenfassend und vergröbernd könnte man von vier Mal gelingt es, einen einheitlichen Codex für das gesamte verschiedenen Textüberlieferungen sprechen: Judentum der Antike zusammenzustellen, der von allen a) der Mischnatext, wie er am Anfang eines jeden Kapitels Parteiungen anerkannt wurde. In der 7. Generation nach im Jerusalemer Talmud enthalten ist. Verwandt, zumin- Hillel war es Rabbi Jehuda ha Nasi gelungen, durch seine dest in wenigen Traktaten, ist diesem Text die vollständi- Mischna das Volk zu einen. Die nichtpharisäischen Par- ge Mischnahandschrift Parma (siehe unten); teiungen im Judentum waren durch die nationalen Kata- b) der Mischnatext der vollständigen Mischnahandschrif- strophen untergegangen. Die innerparteilichen Gegensät- ten, besonders Codex Kaufmann und Cambridge (siehe ze zwischen den Schulen Hillel und Schammai waren unten) und der Mischnagenizafragmente; endlich überwunden worden, indem sich im grossen und c) der Mischnatext, der sich am Anfang eines jeden Kapi- ganzen die Hilleliten durchgesetzt hatten. Die Abgren- tels in den alten Talmudhandschriften findet; zung nach aussen hin, zu jüdischen Sektierern', Samarita- d) der Mischnatext, der aus den Pisqaot der Talmudhand- nern und Fremden war abgeschlossen. schriften und Fragmenten rekonstruierbar ist und sich als Strittig ist in der Forschung, ob Rabbi seine Mischna, die Mischnatext in einigen Genizatalmudfragmenten findet für die nachfolgenden Geschlechter dann zu unserer (fragmentarisch erhalten). Mischna wurde, schriftlich niedergelegt oder nur mündlich Die Texte a) und b) gehören zur palästinischen Version, redigiert hat. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass die anderen zur babylonischen. ein solch ausgedehntes Werk wie die Mischna, das unge- Keiner dieser Textüberlieferungen nun ist in den gedruck- ten Mischnaausgaben enthalten. Alle gedruckten Ausga- 1 Christen und Christentum oder auch Jesus kommen expressis verbis in ben gehen auf den Druck Neapel 1492 zurück, der ver- der Mischna noch nicht vor, sondern erst in der talmudischen Literatur. Das mag zweierlei Gründe haben. Einerseits war das Christentum in den mutlich auch der Erstdruck der gesamten Mischna ist; je- beiden ersten nachchristlichen Jahrhunderten sicher nur eine untergeord- denfalls ist kein vollständiges Exemplar aus früherer Zeit, nete Grösse in der Bevölkerungsstruktur Palästinas und sicher nicht es gibt nur frühere Fragmente aus Spanien, erhalten. Die- Hauptproblem bei der Selbstfindung des rabbinischen Judentums. Zum ser Druck, Neapel, enthält den Text der Mischna zusam- anderen wurden Heidenchristen sicher unter die Kategorie Heiden einge- stuft. Ein wirkliches Problem stellten lediglich die Judenchristen dar, die men mit dem ins Hebräisch übersetzten Kommentar des gewissen Grundsätzen des Judentums treu blieben. Sie waren für die Maimonides. Der grösste Teil des arabischen Originals ist Rabbinen Minim (Ketzer). Aber da es eine ganze Anzahl von solch sek- als Autograph erhalten geblieben. Maimonides hat sich tiererischen Gruppen gab, ist es nicht leicht, festzustellen, wann es sich für diesen Kommentar einen besonderen Mischnatext ge- bei der Nennung dieses Namens um Christen gehandelt haben könnte. In der Mischna gibt es jedenfalls keinen einzigen klaren Hinweis auf Chri- schaffen, der eklektisch aus allen Rezensionen auswählt, sten, aber unter Minim werden Judenchristen mit gemeint sein. wobei das Schwergewicht auf der Textüberlieferung b)

IM 22 1 135 liegt, also den Mischnatext der Mischnahandschriften. 54-66, 142-163, 323-333, 445-461 für die Sedarim Na-

Sehr stark eingearbeitet ist aber auch Rezension c), der schim und Nesikin; A. Brody, Tamid, S. 17- 20 für den

Mischnatext der Handschriften des babylonischen Tal- Traktat Tamid; und Goldberg, Ohalot, S. 18 - 24 für den muds. Dieser eklektische Text wurde nun noch einmal Traktat Ohalot; derselbe Schabbat, S. 36- 41, für den sehr stark verändert und neu geordnet in der Zeit, in der Traktat Schabbat. Die sprachlichen Besonderheiten hat der arabische Kommentar ins Hebräische übersetzt wur- am besten Y. Kutscher: [Sprache der Mischna] (Hebrä- de. Diese Übersetzung war eine Gemeinschaftsarbeit von isch) in: Hebrew and Aramaic Studies. Jerusalem 1977, S. Gelehrten, die im 13. Jahrhundert im christlichen Spanien 73-107 und [Grammatikalische Studien zur Sprache der und der Provence lebten. Sie fanden Handschriften mit ei- Mischna (auf Grund Codex Kaufmann)] (Hebräisch), nem verkürzten Mischnatext vor und waren so gezwun- ebenda S. 108-134, erarbeitet. Eine äusserliche Beschrei- gen, den Mischnatext neu zusammenzustellen. Dieser bung bietet auch die Ausgabe des Rav Herzogs Institutes, Text, die Mischna mit dem hebräischen Maimonides- S. 65 f., aus der hier zitiert werden möge: »Enthält die Kommentar, ist nun die wichtigste Vorlage für den Setzer sechs Ordnungen der Mischna (ein Blatt in Keritot ist des Erstdruckes gewesen. Gerade dieser Text stellt also herausgerissen), 286 Blatt, Pergament, Klein-Folio, auf die grösste Vermischung aller Textüberlieferungen dar vorgezeichneten Zeilen. Jedes Blatt enthält 4 Spalten von und ist am wenigsten geeignet, den Text der ursprüngli- 29 - 30 Zeilen Länge . . . Die Schrift ist Quadratschrift und chen Rezension zu ermitteln. Dieser Text des Erstdruckes alt, anscheinend italienisch. Diese Handschrift ist die ist nun durch die christliche Zensur ab der Mitte des 16. wichtigste, und vielleicht die älteste, von allen Mischna- Jahrhunderts immer mehr verstümmelt worden. So wur- handschriften.« Der letzte Satz ist einhellige Meinung al- den z. B. alle Stellen, in denen die verschiedenen hebrä- ler Gelehrten, die diese Handschrift beschrieben haben, ischen Worte für Fremde, Nichtjuden, Samaritaner und darum sei auch auf diese Handschrift in grösserer Aus- ähnliches vorkommen, von der christlichen Zensur in den führlichkeit eingegangen. Begriff umgewandelt »Stern- und Sternbilder-Anbeter«. Herkunft und Alter der Handschrift Anfang dieses Jahrhunderts, als die Zensur endgültig an- nulliert wurde — am spätesten in Russland, dem Land der Schon Krauss (S. 460) hatte als Heimat der Handschrift grossen Musterausgaben der rabbinischen Literatur, ein- Italien angenommen. Die wenigen Gelehrten, die sich schliesslich der Mischna und des Talmuds — wurde ver- überhaupt mit diesem Problem beschäftigt haben, sind sucht, diese Zensurstellen wieder rückgängig zu machen, ihm hierin gefolgt. Allerdings erwähnt Krauss schon in ei- häufig aber ohne Hinzuziehung älterer Drucke geschwei- ner Anmerkung, dass der Orientalist Goldziher der An- ge älterer Handschriften. Das Ergebnis ist ein besonders sicht ist, dass die Handschrift vermutlich in Jemen ge- korrumpierter Text. schrieben ist. (E. Y. Kutscher: leon hazal, in der Jalon- Angesichts dieser Textsituation wäre es das Anliegen einer Festschrift S. 251 hält das für ausgeschlossen, weil die jeden wissenschaftlichen Arbeit an der Mischna gewesen, grammatikalischen Besonderheiten der jemenitischen Tra- zuerst einmal eine kritische Ausgabe der Mischna zu dition widersprechen.) Nun sind Jemen und Italien im frü- schaffen, besonders nach der Entdeckung des ältesten hen Mittelalter dadurch verbunden, dass beide in beson- Mischnamaterials in der Kairoer Geniza gegen Ende des derer Weise sich an den Traditionen Palästinas orientier- vorigen Jahrhunderts. Ehrenwerte Versuche in dieser Rich- ten. Bei Italien trifft das für das 10. und 11. Jahrhundert tung hat es immer wieder gegeben, auch erschienen einige sicher auch auf die hebräische Paläographie zu, über je- brauchbare Einzelausgaben, eine einigermassen brauchba- menitische Handschriften aus dieser frühen Zeit ist zu we- re kritische Ausgabe der Gesamtmischna ist bisher nicht nig bekannt. Leider ist die gesamte Forschung der hebräi- erreicht. Auf Grund dieser Situation sind auch alle Faksi- schen Paläographie erst am Anfang. Zum anderen muss mile-Veröffentlichungen von Handschriften und Frag- natürlich auch gefragt werden, ob Codex Kaufmann menten von grossem Wert. Drei Fragmentensammlungen wirklich aus einer solch frühen Zeit stammen kann. Über zur Mischna wurden in der Zeitschrift Immanuel (Nr. die Zeit der Abschrift lassen sich wenige Gelehrte aus. Ei- nige Bearbeiter der unabgeschlossenen deutschen kriti- 7/1970, S. 68 - 77) von mir seinerzeit veröffentlicht. Hier soll nun ein Überblick gegeben werden über alle Faksimi- schen Mischnaausgabe (die sogenannte Giessener le-Veröffentlichungen von Mischna- und Talmudhand- Mischna) nennen das 15. Jahrhunderte. Die Bildbeigaben schriften (im Talmud ist ja auch der gesamte Mischnatext in den Artikeln Mishna and Manuscripts in der Encyclo- enthalten). Im Anschluss daran sollen die Versuche, zu ei- pedia Judaica schätzen den Codex Kaufmann recht unge- ner kritischen Mischnaausgabe zu kommen, behandelt nau auf die Zeit des 12./14. Jahrhunderts. Kutscher zitiert werden. im oben genannten Aufsatz die Meinung des Paläogra- phen und Typographen M. Spitzer, der für die Hand- Die Mischnahandschriften schrift das 13. Jahrhundert annimmt. Angesichts der 1) Codex Kaufmann Wichtigkeit dieser Textzeugen soll hier ein kurzer paläo- graphischer Abriss zum Codex Kaufmann folgen. Codex Kaufmann, Ungarische Akademie der Wissen- Schriftbild und Buchstabenform haben grosse Verwandt- schaften in Budapest MS. A 50, ehemals im Besitz von schaft mit gewissen Bibelhandschriften, die aus dem David Kaufmann, zum erstenmal als Faksimile-Ausgabe Osten stammen und im 10. oder 11. Jahrhundert geschrie- veröffentlicht von G. Beer, Haag 1929, im verkleinerten ben wurden 3 . Der Text ist in die von Linien begrenzten Massstab bei Mekor Jerusalem 1968. Den Faksimile-Aus- gaben ist ein Inhaltsverzeichnis sowie eine sehr knappe Vermutlich auf Grund einer der frühen Veröffentlichungen dieser Aus- Einleitung vorangestellt. Für wissenschaftliche Zwecke ist gabe P. Fiebig: Rosch ha-Schana. Giessen 1914. Fiebig, der die Hand- immer die Beersche Ausgabe heranzuziehen. Die Qualität schrift oder eine Kopie nicht gesehen hat, erklärt auf S. 110, dass Codex des Jerusalemer Nachdruckes lässt zu wünschen übrig, Kaufmann im 15. Jahrhundert geschrieben wurde, weil eine andere Handschrift, der hebräische Mischnakommentar des Maimonides, Ham- besonders ist die Punktation nicht immer zu erkennen, burg Nr. 18, 1417 (italienisch rabbinische Schrift dieser Zeit) geschrieben ebenso nicht viele der radierten Stellen. wurde und den Vermerk desselben Zensors trägt. Dies ist wohl kaum der Die ersten Hinweise auf die Handschrift finden sich bei richtige Beweis. Vgl. besonders in: Masoreten des Westens II, die Tafeln 12 und 16, ein D. Kaufmann: R. Josef Aschkenas : Der Mischnakritiker Ben-Ascher- und ein Ben-Naftali-Fragment, die im Schriftcharakter und von Safet. In MGWJ 42 (1898), S. 38 - 46. Eine ausführli- in allen Buchstabenformen mit Codex Kaufmann identisch sind. Vermut- che Beschreibung bringt S. Krauss in MGWJ 51 (1907), S. lich stammen beide Fragmente aus Palästina, wie die Schreibung des Alef

136 IM 23 viereckigen Kästen eingetragen, wobei darauf geachtet selbst nicht verstehen können, was er abschrieb. Der wurde, dass er nach links nicht übersteht oder dort freien Punktator war hier sorgfältiger, aber auch er hat noch das Raum lässt. Die Buchstaben sind mitten in die vorgezeich- eine oder andere Fehlende übersehen, oder es stand nicht neten Linien gestellt und nicht an ihnen aufgehängt. Ver- in seiner Vorlage. Auch er scheint den Text nicht immer bessert wurde vom ersten Schreiber nicht am Rande des verstanden zu haben, wie die teilweise falsche Punktation Textes, sondern in demselben und bei grösseren Partien es zeigt, die er allerdings auch aus seiner Vorlage über- unter den Kolumnen in derselben Breite wie diese. Wich- nommen haben wird. tiger aber noch als diese Kennzeichen alter orientalischer Auf alle Fälle haben wir mit der Punktation und den Ver- Bibelhandschriften ist die Art und Weise, wie die einzel- besserungen des Punktators eine zweite Handschrift vor- nen Buchstaben geschrieben werden. Bei einem Vergleich liegen, die einer anderen Rezension angehört. In der Lite- mit der Schilderung von Luski 4 lässt sich feststellen, dass ratur gibt es zwei Hinweise auf die Zugehörigkeit dieser die Schreibweise ausser den einem jedem Schreiber eige- zweiten Handschrift. Rengstorf, Jebamot schreibt auf S. nen Abweichungen mit dem Schriftcharakter dieser Texte 216: »Die Korrekturen stehen stark unter dem Einfluss identisch ist. der (heutigen) Mischna des Jeruschalmi, wie sie uns in a) So findet sich auch bei Codex Kaufmann bei den Buch- dessen Editio princeps, aber auch in der der in Cambridge staben Gimmel, Zain, Tet, Nun, 'Ain (links), Shin (links) befindlichen Mischnahandschrift (Nr. 470, siehe weiter ein kurzer Anstrich (»Kopf«). unten) vorliegt.« Brody hingegen weist in seiner sorgfälti- b) Die Schreibweise ist aus einzelnen Strichen zusammen- gen Arbeit nach, dass der Punktator eine Handschrift vor gesetzt, und die Überkreuzung dieser Striche ist deutlich sich liegen hatte, die den Text repräsentiert, wie er im an den Winkeln feststellbar (Dalet, He, Het, Kaf, Peh). Mischnatext am Kapitelanfang einiger Talmudhandschrif- c) Besonders aber überzeugend ist die antike Schreibweise ten zu finden ist. Für den Traktat Tamid sind das die Tal- des Heh, dessen linker senkrechter Strich das »Dach« des mudhandschriften Oxford 370 und Florenz 1 (1176 ge- Buchstabens in seiner Mitte teils berührt, teils fast berührt, schrieben). Auch Goldberg verweist darauf, dass die Vor- und die ebenfalls alte Form des Jud, das wie ein kleines lage des Punktators eine Handschrift war, die gewissen Re§ aussieht und sehr gross ist, manchmal die Grösse ei- Talmudhandschriften nahestand, ohne diese Nähe weiter nes normalen Buchstabens erreicht. zu spezifizieren'. Auch meine (bisher unveröffentlichten) Aus all diesen Beobachtungen ist anzunehmen, dass die Untersuchungen zum Traktat 'Arakin wiesen in dieselbe Handschrift vermutlich aus Palästina stammt und im 10., Richtung. Die Vorlage war dort einem Text ähnlich, wie er spätestens im 11. Jahrhundert geschrieben wurde. von den Talmund-Handschriften zu 'Arakin Vatican 119, Interessant ist in diesem Zusammenhang bei meiner Beob- Oxford 370, London 402 sowie auch der Mischna- achtung des Mischnatraktates 'Arakin eine Entdeckung, Handschrift Parma 138 repräsentiert wird, nicht aber von dass viele alte Lesarten des Codex Kaufmann mit Lesarten den Talmudhandschriften München 95 und Vatican 120. des R. Josef Aschkenaz übereinstimmen, wie sie sich im Die Besonderheiten der Handschrift Kommentar maleket §elomo finden. Aschkenaz lebte im Die Besonderheiten der Handschrift Kaufmann sind zahl- Jahrhundert in Safed und besass eine punktierte 16. reicher als bei sonst einer Handschrift, die meisten Geni- Mischnahandschrift, die auf über 800 Jahre — also aus zafragmente mit eingeschlossen. Diese Besonderheiten lie- dem 8. Jahrhundert stammend — eingeschätzt wurde. Auf gen in der Bewahrung altertümlicher Formen des palästi- ähnliche Übereinstimmungen verweist auch schon D. nischen Texttypus, und mehr als bei irgendeiner anderen Kaufmann a. a. 0. S. 42 ff. Wenn nicht der Zensurver- Handschrift, einschliesslich vieler Genizafragmente, spie- merk das Vorhandensein der Handschrift in Italien um gelt Codex Kaufmann hin und wieder noch die lebendige, voraussetzte, könnte man dazu verleitet werden, an- 1575 im zweiten Jahrhundert in Palästina gesprochene Sprache zunehmen, dass es sich bei der Handschrift Kaufmann wieder. Zweifelsohne ist Codex Kaufmann der älteste eventuell um die Handschrift des R. Josef Aschkenaz vollständige Mischnatext mit den besten Lesarten, handelt. wenn er auch in der Bewahrung der palästinischen Rezen- Der Punktator sion nicht so rein zu sein scheint wie Codex Cambridge Die Handschrift trägt Bemerkungen, meist Textverbesse- (siehe unten). In Zukunft wird deshalb Codex Kaufmann rungen der Nachträge zahlreicher Hände. Durchgehend als Grundtext einer jeden wissenschaftlichen Ausgabe zu und am zahlreichsten sind aber die Verbesserungen einer gelten haben. Hand, die auch die Punktation des Codex besorgt hat. 2) Codex Parma Zweifellos stammt diese Punktation nicht vom ersten Schreiber, sondern ist wohl einige Jahrhunderte später Parma, Bibliotheca Palatina Nr. 3173 (J. B. de Rossi, Mss. vorgenommen, und zwar übertragen worden von einem codices hebraici, Parma 1803, No. 138) enthält die gesam- punktierten Exemplar, das im Text stärker von Codex te Mischna. Im Faksimiledruck herausgegeben unter dem Kaufmann abwich. Der Punktator hat diese Abweichun- Titel »Mishna Codex Parma (De Rossi 138)« von Kedem gen in den Text von Codex Kaufmann eingetragen, in- Publishing (vertrieben durch Makor), Jerusalem 1970. dem er Buchstaben oder Worte hinzufügte, durchstrich Der Untertitel: »an early vowelized manuscript of the oder in der Weise austauschte, dass er den früheren Text complete Mishna Text« ist nicht korrekt, da nur knapp ausradierte. Häufig hat der Punktator den Text nachge- die erste Hälfte der Handschrift und sporadisch auch spä- tragen, den der erste Kopist aus Unachtsamkeit weggelas- ter einzelne Seiten punktiert sind, von späterer Hand, wie sen hatte. Der erste Kopist ist trotz seiner schönen und man besonders im Vergleich mit den wenigen in anderer sorgfältigen musterhaften Quadratschrift durchaus sehr Weise punktierten Worten sieht, die sich im ganzen Co- sorglos mit seinem Text umgegangen. Vielleicht war auch dex finden, die aber auch nicht vom ersten Kopisten stam- seine Vorlage schon verdorben. Häufig hat er zumindest men, aber vor der generellen Vokalisation punktiert wur- den. Leider ist die Qualität der Ausgabe so minderwertig, und des Heh nahelegen. Zur Form der Buchstaben, nicht aber zum dass man die Punktation nur selten erkennen kann. Aber Schriftcharakter vgl. die Codex Parma ähnliche Schrift der Tafeln 1-16 in: Masoreten des Westens I. auch der Konsonantenbestand ist nicht immer mit Sicher- Mole Luski, [Über den Schriftcharakter des Buches Torat Kohanim, heit auszumachen, weil das Druckbild manchmal ver- MS Vatican No. 66] (Hebräisch). In L. Finkelstein, Sifra. New York 1956, S. 70-77. Ohalot, S. 22 des Vorworts, Schabbat, S. 40f. des Vorwortes.

IM 24 I 137 wischt oder zu schwarz ist. Das Original ist im Gegensatz Buchstabenformen und äusserer Rahmen sind denn auch dazu in hervorragender Erhaltung und Lesbarkeit. typisch orientalisch, und es lassen sich eine Reihe von Der Codex ist sehr summarisch in J. B. de Rossi: Mss. Co- Handschriften aufzeigen, die bis zur Identität den meisten dices hebraici Biblioth. J. B. de Rossi. Parma 1803, I 90 Buchstaben und dem Schriftbild gleichen: und Gabrieli : Manoscritti e carte orientali nelle Bibliote- a) Codex Reuchlin, Karlsruhe Nr. 3 der Badischen Lan- che e negli Archivi d'Italia, Firence 1930, S. 32 beschrie- desbibliothek'°; ben. Das Ausführlichste findet sich bei Brody, S. 22 ff. b) zahlreiche Bibelfragmente aus dem 10. und 11. Jahr- Wichtige Einzelbeobachtungen stehen bei Goldberg, hundert, die in der Geniza Kairo gefunden wurden"; Ohalot S. 28 f. und Schabbat 42 f. der Einleitungen zu den c) eine Reihe anderer Schriften aus der Geniza. Am auf- besagten Traktaten. Eine vollständige äussere Beschrei- fälligsten und beinahe in Buchstabenformen und Schrift- bung des Codex bietet die Ausgabe des makon ha talmud bild identisch ist ein Fragment mit Piutdichtung für den 9. ha jik-a'eli ha alem S. 66 f. 1972 erschien eine gründliche Ab, 16 Seiten, die sich in Cambridge und Oxford befin- Dissertation über die Formenlehre des Codex von N. G. den". Hanemann: »Formenlehre des Mischnischen Hebräisch Besonders das letzte Fragment, aber auch die eigenartige auf Grund der Überlieferung der Handschrift Parma (de Datumsangabe nach Schöpfungsjahr und Tempelzerstö- Rossi 138) Teil 1: Das Verb« (Hebräisch), Jerusalem rung, weisen auf Palästina als Heimatland des Schreibers 1972. von Codex Parma. In dieser Zeit lässt sich die Zeitrech- Paläographie nung nach Jahren der Tempelzerstörung in Palästina häu- fig nachweisen". Auch das für Codex Kaufmann und Par- Die Handschrift ist von mehreren Händen geschrieben ma charakteristische Alef mit linkem senkrechten An- worden6. Nach de Rossi, dem sich alle anderen anschlie- strich, der mit dem Querstrich einen Winkel bildet, ssen, ist die Handschrift im 13. Jahrhundert (nach italieni- scheint ein Kennzeichen der palästinischen Schrift zu schem Sprachgebrauch besser 14. Jahrhundert) geschrie- sein". In Anbetracht der guten und sehr engen Beziehun- ben. Dieses Datum ist aber zu spät angesetzt. Bei einem gen zwischen Palästina und Italien, besonders Süditalien, Vergleich mit dem Codex Hebr. Vaticanus 31; von Ma- kann nicht ganz ausgeschlossen werden, dass die oben er- kor, Jerusalem 1972 unter dem Titel »Torath Cohanim wähnte Schreiberschule vielleicht auch in Süditalien be- (Sifra); Seder Elijahu Rabba and Zutta; Codex Vatican heimatet gewesen sein kann. 31« veröffentlicht, kommt man zu dem Ergebnis, dass Co- dex Parma und Vatican 31 von derselben Schreiberschule Besonderheiten der Schreibung oder Schreiberfamilie 7 angefertigt sind. Schon die völlig Ihrem orientalischen Charakter gemäss ist Codex Parma gleiche äussere Gestaltung der Seiten (2 Spalten mit je 36 eine korrekte Abschrift mit wenig Schreibfehlern und we- Zeilen), aber auch die völlig gleiche Schriftart machen das nigen Homoioteleuta, von denen manche von derselben wahrscheinlich. Ausserdem finden sich dieselben Verzie- Hand wiederhergestellt wurden und andere sich vielleicht rungen bei den Kustoden am Ende einer Lage, dieselben in der Vorlage befanden. Codex Parma hat ähnlich wie Interpunktionszeichen und ähnliches. Auf der ersten Seite Codex Kaufmann recht rein die äusseren Kennzeichen von Codex Parma findet sich dazu noch der Vermerk: des palästinischen Typus bewahrt. [Dieses ist die Mischna der sechs Ordnungen mit Torat Kohanim (Sifra)] und in derselben Schrift darunter: [Sie Die Vokalisation und Interpunktion alle gehören mir Moshe ber' Benjamin Finci], später von Die beiden Formen der Vokalisation wurden besonders seinem Sohn: [Jehuda ber' Mok sorgfältig von Brody S. 23 ff. beschrieben, ähnlich Gold- Dieser Vermerk wurde, nach dem Namen [Finzi] zu berg, Schabbat, S. 42 f. der Einleitung. Brody kommt zu schliessen, in Italien geschrieben, mit der hier erwähnten dem Ergebnis, dass besonders die Vokalisation der zwei- [Torat Kohanim] wird Sifra Vatican 31 gemeint sein, die ten Hand auf alte Traditionen zurückgeht, verwandt mit zu dieser Zeit (13.-15. Jh.) noch eine Handschrift mit »einer Gruppe von Bibel-Handschriften, die dem Reuch- Parma 138 bildete. Aus diesem Grunde findet sich am En- linschen Prophetenkodex nahestehen« und die »von der de von Codex Parma auch keinerlei Notiz über den Ab- vereinheitlichenden Tendenz der tiberianischen Vokalisa- schreiber, während der Anfang von Vatican 31 ganz den Eindruck macht, als sei er die Fortsetzung einer anderen net die Schrift mit »Italian Square«. Nach L. Finkelstein S. 1 kommt Va- Handschrift. Es gibt kein•Titelblatt, sondern über der Sei- tican 31 vermutlich aus Ägypten. 1 ° Faksimiledruck des ganzen Codex in Corpus Codicum Hebraicorum te steht, ganz wie später beim Einsatz von Seder Elijahu, Mediiaevi Pars II. The Pre-Masoretic Bible. Kopenhagen 1956. Geschrie- ein einführender Satz des Schreibers. Vatican 31 ist da- ben von Zerah bar Jehudah im Jahre [4866 nach Erschaffung der Welt tiert, auf Blatt 112 heisst es am Schluss von Sifra: [und und 1018 nach der Zerstörung des Hauses der Pracht, das in unseren Ta- wurde beendet im Jahre 833 nach Erschaffung der Welt gen und bald gebaut werden möge], das ist das Jahr 1106 A.D. Auf S. 430 und 450 finden sich Verzierungen der Lagenverweisworte, die sehr an und eintausend und fünf nach der Zerstörung des Tem- Codex Parma und Vatican 31 erinnern. Nach Luski S. 71 wurde diese pels, der bald und in unseren Tagen aufgebaut werden Handschrift im Osten geschrieben, war aber danach viele Jahre in Italien. möge]. Das ergibt das Jahr 1073 A.D. Damit wäre die Vgl. in Masoreten des Westens II besonders die Tafel 15, ein Ben-Nafta- li-Text. zeitliche Abfassung von Codex Parma gesichert. " Vgl. in Masoreten des Westens II besonders die Tafel 15, ein Ben-Naf- Zu bestimmen bleibt das Herkunftsland des Schreibers. tali-Text. Nach H. Cassuto: Bibliothecae Apostolocae Vaticanae. 12 Ganz abgebildet und beschrieben in Masoreten des Westens I S. 77 ff. Vatican 1956, handelt es sich bei der Schrift von Vatican und Abb. 1-16. Weiteres Material dazu in P. Kahle: The Cairo Geniza. 31 um charactere quadrato orientali 9. Schriftcharakter, Oxford 1959, Abb. 2-4. 13 Vgl. E. Mahler: Handbuch der jüdischen Chronologie. Leipzig 1916, Vgl. Krauss a. a. 0. S. 457, Epstein, Nusah, S. 1233 f. S. 152, und A. Marmorstein: über das Gaonat in Palästina in ZDMG 67 ' Vgl. dazu meinen Aufsatz [Zum Verhältnis zwischen der Mischnahand- (1913) S. 640 und 643. Unter dem Einfluss von Palästina steht auch schrift Parma de Rossi 138 und der Sifra und Seder Elijahu rabba und Ägypten, neben Angaben der Zeitrechnung nach Verträgen und Weltjah- zutta — Handschrift Vatican 31] (Hebräisch). In Tarbiz 49 (1979/80), S. ren findet sich vereinzelt auch die nach Jahren der Tempelzerstörung. 194-196. Vgl. in Masoreten des Westens I S. 7,16 und 61. In der Faksimile-Ausgabe ist diese Seite unleserlich, unscharf, in Spie- 14 Vgl. die Beispiele der palästinischen Quadratschrift bei Birnbaum, be- gelschrift und auf dem Kopf stehend. sonders Nr. 116, ein Brief aus dem Jahre 922. Diese palästinische Form 9 Rätselhaft Brody, Tamid S. 22: »Schöne frankogermanische Quadrat- des Alef ist in Italien, Deutschland und Nordfrankreich übernommen schrift, die Codex Kaufmann ähnlich ist.« Die letzte Bemerkung stimmt. worden, während Spanien die babylonische und ägyptische Tradition Birnbaum bringt in Abb. Nr. 303 eine Seite aus Vatican 31 und bezeich- fortsetzte.

138 IM 25 tion am längsten verschont« blieb. In dieser Vokalisation Zum erstenmal wurde die Handschrift von S. M. Schiller wird nicht streng zwischen Kamez und Patach einerseits Szinessy beschrieben: Catalogue of Hebrew Manuscripts. und Segol und Sere andererseits unterschieden. Häufig III Talmudic Literature, Halakah. Specimen, ohne Jahr, sind Pausaformen. Auffällig ist die Verwendung des Rafe- No. 73, S. 1-12. Codex Cambridge ist bei Brody in Origi- Striches auch über Konsonanten, die nicht zu den Begad- nal verglichen worden; er fand so gut wie keine Abwei- kefat gehören. chungen, so dass Goldberg und andere nur noch den In den vokalisierten Teilen finden sich auch Interpunkta- Druck von Lowe verwendet haben. Brody und Goldberg tionszeichen, die Brody S. 22 folgendermassen beschreibt: beschreiben den Codex und seine Besonderheiten nur sehr »Ein Punkt über der Zeile am Ende der Paragraphen, ein summarisch und kommen zu dem Ergebnis, dass Codex schiefer oder vertikaler Strich über oder unter der Tonsil- Cambridge in der Erhaltung originaler Lesarten weit hin- be am Schluss von grösseren oder kleineren Sinnabschnit- ter den Codices Kaufmann und Parma zurücksteht. ten, und ebendort, aber viel seltener, ein Halbkreis.« Dies Paläographie ist aber nicht konsequent durchgeführt. Die Interpunktion am Ende einer Mischna (Paragraphen) stammt vom ersten Die Schrift ist rabbinisch »mit kursiven Elementen einer Kopisten, sie findet sich durchgehend auch in den nicht sfardischen Hand des 14. - 15. Jahrhunderts«. Der Schrift- vokalisierten Teilen. charakter zeichnet sich aus durch Überlängen der nach oben oder unten herausragenden Buchstaben. Die Buch- Zugehörigkeit zu einer Rezension staben sind häufig Kursiv geschrieben". Nach dem So nahe Codex Parma Codex Kaufmann in Schrift und Schriftbild ist nur auf eine sfardische Hand zu schliessen. Schreibung steht, so gehört er doch nicht zur selben Re- Auf Griechenland als Schreiberland (wie der Katalog es zension. Zwar ist über dieses Problem der Zugehörigkeit annimmt) könnte der Holzeinband aus dem 15. Jahrhun- bisher ernsthaft noch nicht gearbeitet worden, bei Brody dert (Originaleinband?) weisen, der mit Fragmenten grie- S. 22 ff. findet sich aber der Hinweis, dass Codex Parma chischer Patristiker aus dem 11. Jahrhundert eingebunden einen Text repräsentiert, der sich am Kapitelanfang eini- war. Dieser Schluss ist aber ganz und gar nicht zwingend. ger Talmudhandschriften findet, und zwar handelt es sich Schreibung um dieselbe Gruppe, zu der auch die Vorlage des Vokali- sators von Codex Kaufmann zu rechnen ist. Zum selben Der Schreiber ist sehr flüchtig, besonders deutlich an Ergebnis komme ich in meiner Untersuchung zum Trak- zahlreichen Homoioteleuta, die häufig den Sinn an diesen tat 'Arakin, der ja derselben Ordnung angehört wie Trak- Stellen nicht mehr erkennen lassen. Einzelauslassungen tat Tamid. Auf Grund des spärlichen Untersuchungsmate- sind dagegen selten, häufig sind Verschreibungen. Codex rials ist bisher wohl keine grundsätzliche Bestimmung von Cambridge ist die konsequenteste Handschrift in der Codex Parma für die ganze Mischna möglich. Schluss-m-Schreibung bei den Pluralendungen. Im Trak- tat 'Arakin findet sich lediglich in 18 Partizipien, 9 Suffi- 3) Codex Cambridge 470 (II) xen und 3 Pronomina als Endung —n (aber in keinem Sub- Cambridge, University Library Add. 470 (II) enthält die stantiv und Adjektiv). Kaum verwunderlich ist, dass in al- ganze Mischna. len Fällen, in denen Codex Cambridge n aufweist, auch Die Handschrift wurde von W. R. Lowe unter dem Titel fast alle anderen Handschriften n haben. »The Mishna an which the Palestinian Talmud rests« Wenn Codex Cambridge auch in der Schreibung und Cambridge 1883 veröffentlicht. Es handelt sich hierbei um Grammatik sehr viel weniger originelle Formen als die keine Faksimile-Veröffentlichung, sondern um einen zei- beiden zuerst besprochenen Handschriften erhalten hat, lengetreuen Nachdruck, der auch Zeilenfüller, Verschrei- so ist seine Zugehörigkeit zur palästinischen Rezension bungen, Verbesserungen und ähnliches getreu nachzu- unbestritten und in manchen Zügen reiner als die des Co- drucken versucht, gesetzt in Raschischrift, um dem Cha- dex Kaufmann. rakter der kursiven spanischen Schrift möglichst nahe zu kommen. Zwei Traktate wurden von mir mit dem Origi- 15 Vgl. besonders Adler, Abb. 97, Cat. Nr. 2238, S. 82: rein rabbinische nal verglichen, 'Arakin und 'Avoda zara, wobei als Ergeb- Schrift, 1274 in Granada geschrieben; Birnbaum, Nr. 290; Griechisch nis festzuhalten ist, dass bis auf ganz wenige Lese- oder Cursiv, 1469 geschrieben (wohl besser: Griechisch-sfardisch, rabbinisch- Druckfehler der Abdruck korrekt ist. Dieser Abdruck, cursiv); Birnbaum, Nr. 278: ägyptisch sfardische Cursive, 1560 geschrie- und nicht die Handschrift selbst, wurde 1967 vom Mekor ben (nur in dieser Handschrift findet sich noch das für Codex Cambridge typisch cursive Alef, das sich vom Sfardischen unterscheidet, sonst sind Verlag Jerusalem ohne irgendwelche Änderungen neu Schriftcharakter und Buchstabenform weiter entfernt als bei den anderen verlegt. genannten Beispielen).

Yerusalemer Talmud IV, 2: Gebet des Rabbi Jochanan am Tiberias*

»Es möge dein Wille sein, Herr, mein Gott und Gott meiner Väter, dass in unserem Los Liebe, Brüderlichkeit, Frieden und Freundschaft herrschen. Beschere uns ein glückliches Ende, verwirk- liche unsere Hoffnung, erweitere den Kreis der Schüler, bewirke, dass wir uns mit unserem Anteil am Paradies freuen, statte uns aus mit einem guten Herzen und gib uns einen guten Freund. Mögen wir, wenn wir früh aufstehen, unsere Herzenswünsche erfüllt finden; möge die Sehnsucht unserer Seele vor dich kommen, auf dass sie zu unserem Guten verwirklicht wird.«

* 3.-4. Jh.

IM 26 1 139 IV Personenregister IMMANUEL Jahrgang X"/"'"

Aaron (AT) IM 2, 4, 9 Finci, Moshe ber' Benjamin Levi, Rabbi IM 4, 5, 6, 7 Schammai IM 21, 22 Abahu, Rabbi IM 6 IM 25 Lewy, Hans IM 16, 19 Schemuel bar Nachman, Rabbi Abba bar Chanina, Rabbi IM 7 Finkelstein, L. IM 24, 25 Licht, J. IM 2 IM 8 Abimelech (AT) IM 9 Liebermann, Saul IM 4 Schiller, S. M. IM 26 Abraham (AT) IM 8, 9, 12 Gabrieli IM 25 Loewenstam, S. E. IM 2 Schimon ben Lakisch IM 3 Adam (AT) IM 6 Gamliel von Jawhe, Rabban Lot (AT) IM 12 Schimon s. u. Simon Adler IM 26 IM 21 Lot (Töchter, AT) IM 12 Scholem, Gerschom IM 17 Akiba (Ahiva), Rabbi IM 13, Goldberg, Abraham IM 23, Lowe, W. R. IM 26 21 24, 25, 26 Luski, Mode IM 24, 25 Tachlifa aus Cäsarea, Rabbi Albeck, Chanoch IM 14 Goldziher, Ignaz IM 23 IM 6 Alon, Gedaljahu IM 13, 14 Talmon, Shemaryahu IM 14 Amir, Jehoshua IM 15 Mach, Dafna (v. Kries, Angela) Habakuk (AT) IM 9, 12 IM 2 Tanchuma, Rabbi IM 5, 6 Ammon (AT) IM 12 Tveig, A. IM 2 Amos (AT) IM 8, 9 Habakuk IM 5, 9 Mahler, E. IM 25 Apion IM 19 Hanemann, N. G. IM 25 Maimonides s. u. Mose ben Uffenheimer, Benjamin IM 2, Aristobulos IM 19 Harper, W. R. IM 7 Maimon 8, 15, 18 Aristoteles IM 17 Heinemann, Isaak (Jizchak) Makor IM 25 Urbach, Ephraim E. IM 7, 8, As a (AT) IM 14 IM 14 Marmorstein, A. IM 25 10, 11, 13 Asasel IM 9 Hektataios (Hectataeus) von Meir, Rabbi IM 21 Awdimai aus Haifa, Rabbi Abdera IM 19 Micha IM 8 Wiener, Max IM 17, 19 IM 4, 7 Henoch IM 9 Miriam (Mirjam, AT) IM 9 Awihu (AT) IM 2 Herodes der Grosse IM 21 Moab (AT) IM 12 Zerah bar Jehudah IM 25 Herzt, Theodor IM 19, 20 Mose (AT) IM 2, 3, 4, 5, 7, 8, Baal IM 6 Hillel IM 21, 22 9, 10, 11, 12, 13, 19, 21 Baeck, Leo, Rabbiner IM 16, 17 Hitler, Adolf IM 15, 19, 20 Mose ben Maimon IM 22, 23 Bar Kappara, Rabbi IM 7 Homer IM 17 Muffs, Jochanan IM 9 Bibel, Apokryphen, Baron, Salo IM 16, 19 Horowitz, A. IM 6 Hosea (AT) IM 8 Pseudepigraphen, Beer, G. IM 23 Nadaw (AT) IM 2 Ben Ammi Zarfati, Gad IM 9 Natan, Rabbi IM 9 Neues Testament Beyerlin, Walter IM 2 Ibn Tibbon (Übersetzerfamilie) Neumark, David IM 15 Bileam (AT) IM 6, 11, 12 IM 17 Neumark, Hermann s. u. Amir, Birnbaum, S. A. IM 25, 26 Ignatius von Antiochia IM 10 Jehoshua Genesis IM 8, 9, 12, 14 Brody, A. IM 23, 25, 26 Isaak (AT) IM 8 Nietzsche, Friedrich IM 17 Exodus IM 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8, Buber, Martin IM 15, 16, 17, Ismael (AT) IM 12 Noah (AT) IM 14 9, 12, 14 19, 20 Noth, Martin IM 2 Leviticus IM 8, 20 Jakob (AT) IM 8 Numeri IM 8, 9 Cassuto, H. IM 25 Jason von Kyrene IM 17 Paulus, Apostel IM 10, 12, 13 Deuteronomium IM 2, 3, 4, 5, Chanina bar Chama, Rabbi Jehoschua, Rabbi IM 14 6, 7, 9, 12, 18 IM 5 Philon von Alexandria IM 15, Josua IM 7, 21 Jehuda ha Nasi (Jehuda der 16, 17, 18, 19 Chija der Grosse, Rabbi IM 3 Richter IM 11 Fürst), Rabbi IM 21, 22 Plato (Platon) IM 17 Childs, B. S. IM 2 Jeremia (AT) IM 9, 14 I. Samuel IM 9 Cohen, Hermann IM 19 Porter IM 7 Jesaja (AT) IM 8, 18 Poseidonius IM 19 II. Samuel IM 2 Cyrill von Alexandria IM 10 I. Könige IM 6, 8 Jischmael, Rabbi IM 3, 4, 11, Potin, J. IM 14 14 I. Chronik IM 7 Daniel (AT) IM 9 II. Chronik IM 14 Jizchak, Rabbi IM 7 Reinhardt, K. IM 19 Dimai bar Chama IM 4 Jochanan ben Sakkai, Rabban Hiob (Ijob, AT) IM 4, 5 Diodor(us) IM 19 Rengstorf, Karl-Heinrich Psalmen 2, 4, 5, 6, 11, 12, 14 IM 5, 6, 7, 8, 11,14 IM 24 Josef Aschkenaz, Rabbi Sprüche, Buch der (AT) IM 4, Eissfeldt, Otto IM 17 Resch Lakisch, Rabbi IM 6, 7 8 IM 23, 24 Rokeach (Rokeah), David Elasar ben Pedat, Rabbi IM 4, Josephus Flavius IM 18, 19 Kohelet (Prediger) IM 7 13 IM 10 Hohes Lied IM 4, 5 Jossi, der Priester, Rabbi Rosenzweig, Franz IM 15, 16, Elbogen, Ismar IM 16, 19 IM 13 Jesaia IM 2, 3, 6, 8 Elieser ben Hyrkanus, Rabbi 17, 19, 20 Jeremia IM 2 Julian Apostata, Kaiser IM 10, Rossi, J. B. de IM 24, 25 IM 3 11, 12 Hesekiel IM 2, 3 Elija (Elia, Elias, AT) IM 6, 8 Daniel IM 9 Epstein, Jakob Nahum IM 14, Safrai, Shmuel IM 14 Hosea IM 2, 3 25 Kahle, P. IM 25 Samuel (AT) IM 9 Amos IM 2, 8, 9 Esau (AT) IM 12 Kant, Immanuel IM 17 Simai, Rabbi IM 4 Maleachi IM 7 Eusebius IM 19 Kaufmann, David IM 23, 24 Simon (Schimon) ben Elasar II. Makkabäer IM 17 Eva (AT) IM 6 Krauss, Samuel IM 23, 25 IM 12 Jesus Sirach (Ben Sira) IM 11 Krochmal, Nachman, Rabbiner Simon ben Jochai, Rabbi Apostelgeschichte IM 13, 14 Fiebig, P. IM 23 IM 17 IM 5, 8 Römer IM 10, 13 Finci, Jehuda ber' Mole Krupp, Michael IM 21, 25 Socho (AT) IM 7 Galater IM 10 IM 25 Kutscher, Y. IM 23 Spitzer, M. IM 23 I. Petrus IM 10

* Jahresfolge XXXIII/1981 enthält einen Gesamtregisterband für die Jahrgänge I-XXX/1948-1978, für IMMANUEL I-VII/1972-1978. ** In gewissen Zeitabständen soll wiederum auch eine Zusammenstellung der Inhalte der einzelnen Ausgaben erfolgen.

140 1 /M 2 7 Standortangabe zum Systematischen Register über den Inhalt Freiburger Rundbrief Jahrgang XXXIV

Seite Seite I. Aufsätze und Berichte IV. Rundschau 1. Bibel und Theologie 108 1. Bibel und Theologie 110 2. Katechese 108 2. Katechese 110 3. Jüdische Geschichte und Judentum 108 3. Jüdische Geschichte und Judentum 110 4. Kirche und Synagoge 108 4. Kirche und Synagoge 110 5. Ökumene 108 5. Ökumene 6. Christen und Juden 109 6. Christen und Juden 110 7. Deutsche und Juden - Juden und Deutsche 109 7. Deutsche und Juden - Juden und Deutsche 110 8. Verfolgung und Widerstand 109 8. Verfolgung und Widerstand 110 9. Sühne und Wiedergutmachung 109 9. Sühne und Wiedergutmachung 110 10. Staat Israel 109 10. Staat Israel 110 11. Kirche und Christen in Israel - Kirche und Israel 109 11. Kirche und Christen in Israel - Kirche und Israel 12. Deutschland und Israel 109 12. Deutschland und Israel 110 13. Jerusalem und die Hl. Stätten 13. Jerusalem und die HI. Stätten 14. Juden und Araber 109 14. Juden und Araber 110 15. Erzählungen und erzählende Berichte 15. Erzählungen und erzählende Berichte

LM. Tagungen 109 IV./II. Tagungen 110

III. Echo 109 V. Kleine Nachrichten

I. /VI. In memoriam 109 VI. In memoriam

VII. Aus unserer Arbeit 110 I Altenwohnheim für NS-verfolgte Christen 110 II Freiburger Leitlinien zum >Lernprozess Christen Juden<: Eine Brücke über Abgründe der Geschichte 110 VII/2 Katechese 110 VII/8 Verfolgung und Widerstand 110 VII/9 Wiedergutmachung 110 VII/11 Kirche und Christen in Israel - Kirche und Israel 110 VII/12 Deutschland und Israel 110

Wir senden dieses Heft wiederum sämtlichen Religions- Eine etwa beiliegende Zahlkarte bedeutet keine Verpflich- lehrern an höheren und Mittelschulen und solchen Per- tung: Sie ist nur eine technische Erleichterung für solche, sönlichkeiten zu, bei denen wir ein besonderes Interesse die durch einen Unkostenbeitrag unsere sich immer noch für die behandelten Themen annehmen. ausweitende, spendenbedürftige Arbeit schon unterstützt Allen Mitarbeitern, Helfern, Förderern und Interessenten haben und weiter zu fördern wünschen. sagen wir herzlichen Dank. Bitte beachten Sie den Hilferuf (s. oben Seite 2). Die Herausgeber