Österreich – 1945 bis heute I

Die Regierungschefs der Zweiten Republik: obere Reihe: (Staatskanzler) (SPÖ) 1945; (ab nun Bundeskanzler) (ÖVP) bis 1953; Julius Raab (ÖVP) bis 1961; Alfons Gor- bach (ÖVP) bis 1964; Josef Klaus (ÖVP) bis 1970; Bruno Kreisky (SPÖ) bis 1983 untere Reihe: Fred Sinowatz (SPÖ) bis 1986; Franz Vranitzky (SPÖ) bis 1997; Viktor Klima (SPÖ) bis 2000; Wolfgang Schüssel (ÖVP) bis 2007; Alfred Gusenbauer (SPÖ) bis 2008; Werner Faymann (SPÖ) ab 2008

1945 Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920 tritt wieder in Die Zweite Republik Kraft; 1. Kontrollabkommen – Festlegung der vier alliierten Besatzungszonen; Einsetzung des Alliierten Rates; Aner- Die Geschichte Österreichs in der 2. Hälfte des kennung der provisorischen Staatsregierung; Wiederein- 20. Jahrhunderts lässt sich in folgende Abschnitte führung des Schillings; erste Wahlen im November gliedern: 1946 Erstes Verstaatlichungsgesetz (Schwerindustrie); Gruber- De-Gasperi-Abkommen über Südtirol 1) die Periode der durch die Besatzung einge- 1947 Zweites Verstaatlichungsgesetz (Elektrizitätswirtschaft) schränkten Souveränität 1945–55; 1948 Marshallplanabkommen USA – Österreich 1955 Moskauer Memorandum; Österreichischer Staatsvertrag; 2) die Fortsetzung der Großen Koalition bis Bundesgesetz zur „immerwährenden Neutralität“ 1966; Österreichs Beitritt zur UNO 3) die Alleinregierung der ÖVP bis 1970; 1956 Ungarnaufstand; Österreich nimmt Flüchtlinge auf. 1968 Niederschlagung des „Prager Frühlings“ durch Truppen 4) die Alleinregierungen der SPÖ 1970–83 (Ära des Warschauer Pakts Kreisky); 1970–1983 Ära Kreisky – SPÖ-Alleinregierung 1984 Kraftwerksgegner besetzen die Hainburger Au. 5) die Koalitionsregierungen 1983–94; 1985 Volksbegehren gegen Atomstrom (Zwentendorf) 1994 Volksabstimmung über EU-Beitritt; Unterzeichnung des 6) die Mitgliedschaft in der Europäischen Union Beitritts auf Korfu seit 1995. 1995 Österreich wird EU-Mitglied. 1997 Teilnahme Österreichs am Schengener Abkommen (Österreich Lexikon: www.aeiou.at) 1998 EU-Präsidentschaft Österreichs 2000 „Die Wende“: blau-schwarze Koalition; EU-Sanktionen ab 2007 SPÖ-ÖVP-Koalitionen

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25283 NG_8_Kern.indb 1 04.08.2010 11:31:52 Uhr 1. Der Weg zum Staatsvertrag

Die politische Wiedererrichtung Österreichs 2 Die „Gründerväter“ Noch vor der Kapitulation des Deutschen Reiches (am 8. Mai 1945) e hatte sich in Österreich unter Karl Renner r am 27. April 1945 eine provisorische Regierung gebildet. Der Sozialdemokrat war den Westmächten allerdings nicht ganz geheuer; er hatte 1938 für den gestimmt, seine demokratische Gesinnung wur- de daher kurzfristig von den Westmächten infrage gestellt. Doch der sowjetische Besatzungskommandant von Wien, Marschall Fjodor Iwanovitsch Tolbuchin, akzeptierte die provisorische Regierung ohne Widerspruch.

▶ Die Zweite Republik Die Vertreter von ÖVP, SPÖ und KPÖ erließen am 27. April 1945 eine „Unab- hängigkeitserklärung“. Am gleichen Tag wurde unter Staatskanzler Karl Renner die „Provisorische Staatsregierung“ gebildet, eine Konzentrationsregierung, be- stehend aus 10 Mitgliedern der SPÖ, 9 der ÖVP und 7 der KPÖ. Diese Regierung wurde zunächst nur von der Sowjetunion anerkannt, die Briten waren skeptisch. Am gleichen Tag proklamierte Karl Renner die Selbstständigkeit Österreichs – 29. April 1945 – Theodor Körner und unter Berufung auf die Moskauer Deklaration t, in der Österreich als erstes Karl Renner auf dem Weg ins Parlament Opfer der Angriffspolitik Hitlers dargestellt und seine Befreiung von deutscher 3 Die Moskauer Deklaration Herrschaft angestrebt wurde. Mit Renner unterzeichneten Adolf Schärf, Leopold Kunschak und Johann Koplenig. Dieser 27. April 1945 gilt offi ziell als die Ge- Am 30. Oktober 1943 verabschie- burtsstunde der Zweiten Republik. dete die Außenministerkonferenz Die Regierungsarbeit begann unter britischem Protest. Am 1. Mai 1945 stell- der Alliierten in Moskau – Clark te das Verfassungs-Überleitungsgesetz den verfassungsmäßigen Rechtsstaat in der Hull (USA), Anthony Eden (GB), Art, wie er vor dem 5. März 1933 bestanden hatte, wieder her. Am 8. Mai 1945 Wjatscheslaw M. Molotow (UdSSR) kapitulierte das Deutsche Reich, und die Wiener Regierung erließ das Gesetz über – die Moskauer Deklaration; sie gilt das Verbot der NSDAP. Alle NS-Parteiorganisationen wurden aufgelöst, ihre Mit- als ein Grunddokument der Zweiten glieder registrierungspfl ichtig, eine „Auferlegung von Sühnefolgen“ wurde verfügt. Republik. Entschädigungen für Enteignungen und Unterstützungen für Verfolgte wurden ab 1946 ausbezahlt u. „The Government of the United Die Verfügungsgewalt der neuen österreichischen Regierung reichte anfangs Kingdom, the and the United States of America are agreed nicht über die von der Roten Armee besetzten Gebiete hinaus. Im Herbst 1945 fan- that Austria, the fi rst free country den zwei Länderkonferenzen statt, an denen maßgebliche Länderpolitiker teilnah- to fall victim to Hitlerite aggression, men. Dabei wurde die Erweiterung der Regierung durch westliche Vertrauensleute shall be liberated from German do- besprochen. Als Karl Renner Karl Gruber zum Unterstaatssekretär berief, gelang mination. They regard the annexa- es ihm, den Vorwurf, die „Provisorische Staatsregierung“ sei eine „sowjetische Ma- tion imposed upon Austria by Ger- rionettenregierung“, zu entkräftigen. Karl Gruber galt als Vertreter des Westens. many on March 15, 1938 as null Schrittweise konnte nun die Regierung Renner die Anerkennung durch den Alliier- and void. They consider themselves ten Kontrollrat gewinnen und vor allem das Misstrauen der Briten beseitigen. in no way bound by any changes Am 25. November 1945 fanden schließlich die ersten Nationalratswahlen effected in Austria since that date. seit 1930 statt: Dabei erhielt die KPÖ vier von 165 Mandaten, die SPÖ 76 Man- They declare that they wish to see reestablished a free and independant date und die ÖVP 85 Sitze (und damit die absolute Mehrheit im Nationalrat). Es Austria, and thereby to open the way wurde wieder eine Konzentrationsregierung gebildet. ÖVP-Obmann Leopold for the Austrian people themselves, Figl wurde Bundeskanzler, SPÖ-Vorsitzender Adolf Schärf Vizekanzler und Karl to fi nd that political and economic Renner wurde Bundespräsident. security which is the only basis for lasting peace. Austria is reminded, ▶ Die vier alliierten Zonen however, that she has a responsibi- lity which she cannot evade for par- Österreich war in vier Besatzungszonen i aufgeteilt. Die Enns bildete die ticipation in the war on the side of Trennlinie zwischen westlichem und östlichem Einfl ussgebiet. Im Bewusstsein vie- Hitlerite Germany, and that in the fi - ler Nachkriegsösterreicherinnen und -österreicher teilte sich dadurch das Land, nal settlement account will inevitab- obwohl es vier Besatzungszonen gab, in eine östliche „sowjetische“ und eine west- ly be taken of her own contribution liche „freie“ Zone. Die Hauptstadt Wien lag inmitten der sowjetischen Besatzungs- to her liberation.“ zone, sie war viergeteilt und unterstand den Militärkommandanturen der Ameri- (Robert H. Keyserling, Austria in the kaner, Briten, Franzosen und Sowjets. World War II, 1988, S. 207f.)

2 Österreich – 1945 bis heute

25283 NG_8_Kern.indb 2 04.08.2010 11:31:56 Uhr Die politische Wiederrichtung Österreichs

1 Die Bilanz des Schreckens 4 Entschädigungen

„Die nationalsozialistische Schreckensherrschaft und der Krieg hatten eine grausige „Während den Kriegsgefangenen, Bilanz hinterlassen. Die nüchternen Zahlen, die wohl eher Untergrenzen darstellen, Bombengeschädigten, Kriegsinvaliden können das Ausmaß nur andeuten: etwa 247 000 österreichische Militärtote, minde- und Hinterbliebenen selbstverständ- stens 120 000 Österreicher, die in Haft, Konzentrationslagern und Euthanasieprogram- lich Unterstützungen und Renten ge- währt wurden, entschloß man sich nur men umgekommen und ermordet worden waren, und etwa […] 30 000 Ziviltote, die zögernd und in viel geringerer Höhe Luftangriffen und Kriegshandlungen auf österreichischem Boden zum Opfer gefallen zu Leistungen für die direkten Opfer waren. des NS-Regimes, um jeden Verdacht Von den etwa […] 190 000 österreichischen Juden war etwa […] 130 000 die ‚Aus- der ‚Mitschuld‘ Österreichs abzuwei- wanderung‘ oder besser wohl Flucht geglückt. Diese Möglichkeit bestand vor allem sen und die Formel von Österreich für jüngere und vermögendere Juden, kaum aber für mittellose. Insgesamt wurden als erstem ‚Opfer‘ der nationalsozia- 65 459 österreichische Juden während der NS-Herrschaft umgebracht: davon 1576 listischen Aggression zu bekräftigen. in deutschen Konzentrationslagern, 46 791 direkt in Vernichtungslagern, 16 692 in Besonders große Schwierigkeiten hin- Vernichtungslagern, nachdem sie aus Österreich vertrieben worden und in anderen sichtlich der Durchsetzung von Ent- europäischen Ländern wieder unter deutsche Herrschaft geraten waren, der Rest auf schädigungen hatten neben den Juden jene Personen, die von nationalsozia- andere gewaltsame Art. Auch mehr als die Hälfte der etwa 11 000 österreichischen listischen Gerichten aus vordergrün- Roma und Sinti wurde ermordet. […] dig kriminellen Gründen verurteilt Die nationalsozialistische Herrschaft, der Krieg und das Kriegsende hatten die größ- worden waren, aber auch die Slowe- te Wanderungs- und Fluchtwelle ausgelöst, die Österreich je über sich ergehen lassen nen, Roma und Sinti, die Zwangsste- mußte. […] 1,2 Millionen deutsche Soldaten, die in Österreich kapituliert hatten, mehr rilisierten, die Homosexuellen, die Be- als 1 Million Besatzungssoldaten, eine halbe Million Angehörige von Fremdarmeen aus hinderten und psychisch Kranken und Ungarn, Kroatien und der Ukraine und 400 000 volksdeutsche Flüchtlinge und Vertrie- alle, die als ‚asozial‘ und sozial nicht bene sowie 200 000 Reichsdeutsche, die als Beamte, Parteifunktionäre, Arbeiter oder angepaßt verurteilt, eingesperrt oder Evakuierte [aus zerbombten deutschen Städten], nach Österreich gekommen waren, sonst geschädigt worden waren. Ins- zusammen mit etwa 590 000 fremdsprachigen, als DPs (‚displaced persons‘) bezeichneten gesamt wurden für Leistungen nach dem Opferfürsorgegesetz zwischen Zwangsdeportierten, befreiten KZ-Häftlingen, ausländischen Juden und ehemaligen Kriegs- 1946 und 1987 etwa 6,4 Milliarden gefangenen standen rund 6 Millionen Österreichern gegenüber. […] Schilling ausgegeben, davon 4,9 Mil- Es kam zu erheblichen sozialen Spannungen, die aus allgemeiner und in der natio- liarden für Renten und Heilfürsorge nalsozialistischen Zeit speziell geschürten Fremdenfeindlichkeit herrührten, sich an den und etwa 700 Millionen für Entschä- Lebensmittelzuteilungen entzündeten, die für die in Lagern ausgemergelten Personen digungen. Für drei Hilfsfonds und das teilweise höher sein mußten, als sie für österreichische Staatsangehörige verfügbar wa- Abgeltungsfondsgesetz stellte die ös- ren, und nicht zuletzt auch wegen der Rolle der Fremden am Arbeitsmarkt eskalierten terreichische Bundesregierung ins- [ausuferten]. Zuerst erregte es Unwillen, daß sie nicht zu arbeiten brauchten oder nicht gesamt 1 760 Millionen Schilling zur bereit waren, für ihre ehemaligen Ausbeuter zu arbeiten. Später führte es zu Unmut, Verfügung, wobei die Bundesrepublik daß sie arbeiteten und, so hieß es, den Einheimischen die Arbeit wegnähmen. […]“ Deutschland […] sich mit insgesamt 600 Millionen Schilling beteiligte.“ (R. Sandgruber: Ökonomie und Politik, 1995, S. 441, S. 442f.) (R. Sandgruber: Ökonomie und Politik, 1995, S. 442) 1. Skizzieren Sie die Errichtung der Zweiten Repu- 5 Die vier alliierten Besatzungszonen blik und charakterisieren Sie kurz die beteiligten Besetzung von Österreich und Wien Persönlichkeiten. Wien 2. Kommentieren Sie die Moskauer Deklaration. USA Welche Schlussfolgerungen wurden und wer- Großbritannien den hinsichtlich der Mitschuld Österreichs an Frankreich NIEDERÖSTERREICH den Verbrechen des Nationalsozialismus da- UdSSR WIEN raus gezogen? OBER- Linz 3. Diskutieren Sie das Problem der Entschä- St. Pölten Wien Grenze der Stadt Wien, beschlossen am 29. 11. 1945, ÖSTERREICH D digungsleistungen. Wie beurteilen Sie den in Kraft ab 1. 9. 1954 Eisenstadt N A Sachverhalt aus heutiger Sicht? Kommentie- Salzburg L ren Sie die Haltung der Sowjetunion, die alles N Bregenz E geraubte Beutegut als „Entschädigung“ für die Innsbruck G von deutschen Truppen angerichteten Schä- VORARL- STEIERMARK R BERG TIROL SALZBURG U den per Staatsgesetz zu sowjetischem Eigen- Graz B tum erklärte. KÄRNTEN Klagenfurt 4. Welche Folgen für das zivile Leben hatte Ihrer Sowjetischer Zonenplan (endgültig, 4. 4. 1945) Meinung nach die Teilung Österreichs in vier Besatzungszonen? Die endgültige Zonenregelung nach dem sowjetischen Vorschlag erfolgte am 4. April 1945.

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25283 NG_8_Kern.indb 3 04.08.2010 11:32:01 Uhr 1. Der Weg zum Staatsvertrag

Österreich unter den Alliierten 1 Der Marshallplan

▶ Wirtschaftlicher Neubeginn Der Ausbau der Industriebetriebe während der NS-Zeit hatte den wirtschaftlichen Neustart nach 1945 positiv beeinfl usst, wie am Beispiel der Werkzeugmaschinen im Maschinenbau ersichtlich wird: Im Jahr 1937 gab es fast 9 000 Stück, die Zahl stieg bis 1945 auf rund 18 000 und 1945 nach den sowjetischen Demonta- gen exis tierten 1946 nur mehr knapp über 7 000. Es dauerte lange, bis sich die vor allem in Westösterreich (das von Kriegsschäden weniger betroffen war als der Osten) gut ausgebauten Industriebetriebe wieder erholen konnten. Zunächst mussten die „Siegermächte“ die Bevölkerung buchstäblich vor dem Verhungern bewahren. Rettung brachte der Marshallplan (ERP – European Recovery Program) e, ein amerikanisches Hilfsprogramm für den Wiederaufbau Westeuropas nach 1945, benannt nach seinem Initiator, George C. Marshall (US-Außenminister und Nobelpreisträger). Aufgrund des am 2. Juli 1948 unterzeichneten Vertrages ge- langten Geld- und Sachwerte aus den USA ins Land. Für Österreich als „besonders betroffenes Land“ waren 137 US$ pro Kopf vorgesehen – zum Vergleich: Für die 2 „Deutsches Eigentum“ spätere BRD wurden pro Kopf nur 19 US$ berechnet! Vertragsgemäß musste Österreich das sogenannte „Deutsche Eigentum“ r „Die Großmächte hatten in der Pots- an die Besatzungsmächte übergeben. Aber während die West-Alliierten dieses in damer Konferenz (Sommer 1945) die österreichische Verwaltung rückführten, baute die Sowjetunion in Ostösterrei- festgelegt, daß Österreich keine ch zur Verwaltung ihres Vermögens ein eigenes Wirtschaftsimperium, die USIA Reparationen zahlen müsse, daß (russ. Uprawlenije Sowetskogo Imuschtschestwaw Awstrii) t, auf. Dieser mäch- aber das Deutsche Eigentum in den tige Block mit etwa 40 000 Beschäftigten (1950) agierte nicht nur außerhalb der jeweiligen Zonen den Besatzungs- mächten zufalle. Das sah zunächst österreichischen Gesetze, sondern auch als zentrale Machtbasis und Finanzie- harmlos aus. Doch die Dimension rungsgrundlage der KPÖ. wird sichtbar, wenn man erkennt, u Im schrecklichen Hungerwinter 1946 / 47 bekam Österreich 60 % der offi - daß 62 Prozent des gesamteuropä- ziellen Lebensmittelrationen aus UNRRA-Lieferungen (United Nations Relief and ischen Deutschen Eigentums in Ös- Rehabilitation Administration); ohne Hilfe des US-Kongresses hätte Österreichs terreich situiert war. Was sollte nun Bevölkerung kaum überlebt. als Deutsches Eigentum gelten? Die Die Öffentlichkeit nahm die Amerikaner als die Gebenden wahr, die Sowjets Österreicher argumentierten restrik- als die Nehmenden. Österreichs Lage war wirtschaftlich kritisch. Wie würde sich tiv – alles, was 1938 in deutschen die westliche Wirtschaftshilfe politisch auswirken, war eine Teilung der Einfl uss- Händen war; die Sowjets argumen- Sphären (von vielen an der Demarkationslinie befürchtet) realistisch? Würde tierten expansiv – alles, was 1945 ‚deutsch‘ war, das heißt einschließ- der „Eiserne Vorhang“ an der Enns niedergehen? (Das Bild „Eiserner Vorhang“ lich der massiven NS-Industriali- stammt aus der Theaterwelt und bedeutet hier „unüberwindbare Grenze“.) sierungen, alles, was durch Druck oder Versprechungen, selbst durch ▶ Die politische Position Österreichs Arisierungen, in die Fangarme des deutschen Kapitals gekommen war. Ursprünglich wollten sich die politisch Verantwortlichen auf breiter Basis, in einer Da die Sowjets die Macht hatten, Konzentrationsregierung, den Herausforderungen der neu gegründeten Zweiten setzten sie sich durch. Von den 70 Republik stellen und den Wiederaufbau gemeinsam bewältigen. Österreich be- verstaatlichten Betrieben fi elen 29 fand sich in einer zwiespältigen Situation. Es war „befreit“, aber nicht „frei“. auf Grundlage des berüchtigten Be- Jede Staatsbürgerin / Jeder Staatsbürger hatte eine in den drei Sprachen der Besat- fehls Nr. 17 in den Besitz der UdSSR zungsmächte abgefasste Identitätskarte mit sich zu führen, um sich gegebenen- [...]. Wiederum ist daran zu erinnern: falls und vor allem beim Wechsel von der West- in die Ostzone auszuweisen. Die Was in Österreich als ökonomische Katastrophe empfunden wurde, war Krise zwischen den Sowjets und den USA erstarrte zum Dauerzustand. i aus der Sicht der Sowjetunion eine Auf Karl Renner folgte 1945 Leopold Figl als Bundeskanzler einer neuen Entschädigung für die Zerstörung Koalitionsregierung. Die Lage war schwierig. Die Feindbilder des beginnenden des russischen Kapitalstockes wäh- Kalten Krieges verschonten auch Österreich nicht. Man polarisierte: Kommunis- rend des Zweiten Weltkrieges.“ mus hier, Kapitalismus dort – beides je nach Sichtweise das Böse schlechthin! Angst bedrohte die demokratische Gesprächskultur und das Konsensbewusst- (E. Hanisch: Der lange Schatten des sein. Staates, 1994, S. 412)

4 Österreich – 1945 bis heute

25283 NG_8_Kern.indb 4 04.08.2010 11:32:05 Uhr Österreich unter den Alliierten

3 Befehl Nr. 17 5 Leopold Figl

1945 erließ die Sowjetische Militärverwaltung in Deutschland als Zeichen der Regierungshoheit eine Reihe von „Befehlen“, die für den gesamten Besatzungsraum (Österreich eingeschlossen) Gültigkeit hatten (Auszug – Abschnitt 1):

„Befehl Nr. 17 des Obersten Chefs der Sowjetischen Militärverwaltung in Deutschland betreffend die Einsetzung von deutschen Zentralverwaltungen in der sowjetischen Besatzungszone vom 27. Juli 1945

Zwecks Entwicklung der Wirtschaft und Wiederherstellung des Verkehrs- und Nachrichtenwesens, der Gesundheitsfürsorge und Volkserziehung in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands befehle ich [Georgi Konstantinowitsch Schukow]: 1. Folgende deutschen Zentralverwaltungen sind in der sowjetischen Besatzungszone zum 10. 8. 1945 zu bilden: DI Leopold Figl (1902–1965) des Verkehrswesens – zur Leitung und Verwaltung der Eisenbahndirektionen und der Wasserwege; stammte aus einer niederöster- des Nachrichtenwesens – zur Leitung des Post-, Telegrafen- und Telefonverkehrs; reichischen Bauernfamilie und der Brennstoffi ndustrie – zur Leitung sämtlicher Betriebe der Kohlenindustrie, der Kohlengruben, zählte in den Jahren des natio- des Tagebaus, der Brikettfabriken, der Werke für fl üssigen Brennstoff und Gas. Ferner hat diese Verwal- nalsozialistischen Machtausbaus tung den innerdeutschen Absatz der Produktion dieser Betriebe zur Aufgabe; zu den schärfsten Gegnern des Anschlusses Österreichs an das des Handels und der Versorgung – zur Leitung und Organisation der Handels- und Beschaffungs- Deutsche Reich. Er schloss sich fi rmen, Ämter und Betriebe, zur Sicherstellung der Beschaffung landwirtschaftlicher Erzeugnisse, zu einer antinationalsozialistischen deren Verarbeitung und Aufbewahrung, zur Bewirtschaftung der Lebensmittel und Industriewaren und Untergrundorganisation an. Im Versorgung der Bevölkerung damit sowie zur Entwicklung des Handels; März 1938 wurde Figl verhaf- der Industrie – zur Leitung der Wiederherstellung und Inbetriebnahme sämtlicher Industriebe- tet und mit führenden Politikern triebe; des Schuschnigg-Regimes, mit der Landwirtschaft – zur Leitung und Verwaltung der Land- und Forstwirtschaft sowie der Betriebe Sozialdemokraten, Kommunisten der landwirtschaftlichen Industrie; und Juden, am 1. April 1938 mit der Finanzen – zur Leitung sämtlicher Bank- und Kreditunternehmen; dem sogenannten „Prominenten- Transport“ in das KZ Dachau der Arbeit und Sozialfürsorge – zur Regulierung der Löhne, Einsetzung der Arbeitskräfte, auch der deportiert. 1943 kam er nach be- Ingenieure und Techniker, zur Leitung der Gewerkschaften und der Ämter für Sozialfürsorge; harrlichen Interventionen seiner des Gesundheitswesens – zur Leitung der Ämter für Gesundheitsfürsorge, der medizinischen Institu- Frau frei, wurde jedoch nach dem tionen und Lehranstalten sowie der Betriebe der medizinischen Industrie; misslungenen Attentat auf Adolf der Volksbildung – zur Leitung der Schulen, der Kinderheime und Kindergärten, der Lehranstalten Hitler am 20. Juli 1944 erneut sowie der anderen Bildungseinrichtungen; als mutmaßlicher Oppositioneller der Justiz – zur Leitung sämtlicher Staatsanwaltschaften, Gerichte und Justizorgane.“ verhaftet und zum Tode verurteilt. Der Einmarsch der Roten Armee (Zit. nach: Ingo Münch: Dokumente des geteilten Deutschland, KRÖNER 391, 2005) in den ersten Apriltagen bewahrte ihn vor der Hinrichtung. Figl war Staatssekretär in Renners 4 „Weihnachtswünsche“ Leopold Figls provisorischer Regierung (April bis Oktober 1945) und ab 1945 erster Bundeskanzler der Zwei- „Ich kann Euch zu Weihnachten nichts geben, ich kann Euch für den Christbaum, wenn ihr überhaupt ten Republik. Nach dem knappen einen habt, keine Kerzen geben, kein Stück Brot, keine Kohle, kein Glas zum Einschneiden. Wir haben Wahlsieg der ÖVP 1953 scheiterte nichts. Ich kann Euch nur bitten, glaubt an dieses Österreich!“ sein Versuch, ein weiteres Koaliti- onskabinett zu bilden. Julius Raab (Zit. nach: Die amerikanische Besatzung in Oberösterreich; das von dieser Rede erhaltene Tondokument wurde wurde Bundeskanzler, Figl Außen- allerdings einige Jahre später aufgenommen, da 1945 kein Tonband mitlief.) minister und als solcher mitver- antwortlich für den Staatsvertrag.

1. Geben Sie einen Überblick über die Besatzungszeit Österreichs. Be- 4. Welche wirtschaftliche Bedeutung messen Sie der Rückgabe des so- schreiben Sie die wirtschaftlichen und politischen Bestrebungen des genannten „Deutschen Eigentums“ an die Alliierten bei? Versuchen Neubeginns. Sie eine Einschätzung. 2. Kommentieren Sie den Befehl Nr. 17 und diskutieren Sie die Begriff e 5. Wie beurteilen Sie die politische Position Österreichs nach 1945? „befreit“ und „frei“. Welche ideologisch-politischen Folgerungen kön- Welche möglichen Ängste können Sie – rückblickend – ausmachen? nen Sie daraus ableiten? Wie nimmt sich das „Gespenst des Kommunismus“ aus heutiger 3. Informieren Sie sich über die Hintergründe des Marshallplans: Wie Sicht aus? und auf wessen Betreiben kam er zustande, welche Auswirkung auf 6. Was sagen die „Weihnachtswünsche“ Leopold Figls für Sie aus? Ent- den Wiederaufbau Österreichs können Sie ihm zuschreiben? werfen Sie ein Stimmungsbild.

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25283 NG_8_Kern.indb 5 04.08.2010 11:32:11 Uhr 1. Der Weg zum Staatsvertrag

Vom Arbeiterstreik zum Staatsvertrag 3 Staatsvertrag / Teil I

Die hohen Kosten des Koreakrieges veranlassten 1950 die USA, die Marshallplan- Der Österreichische Staatsvertrag Hilfe zu kürzen, und die österreichische Regierung beschloss ein die Arbeitneh- wurde am 15. Mai 1955 im Mar- mer schwer belastendes Lohn- und Preisabkommen (das vierte seit 1945). Gegen morsaal von Schloss Belvedere von diese Belastungen gingen Kommunisten und auch nicht kommunistische Arbei- den Vertretern der alliierten Besat- tergruppen gemeinsam auf die Straße e. Den Demonstrationen folgten Krawalle, zungsmächte USA, der Sowjetunion, die von sozialistischen Kommandos unter der Leitung von Franz Olah r nieder- Frankreichs und Großbritanniens so- geschlagen wurden; am 6. Oktober 1950 brach der Streik zusammen. wie der österreichischen Regierung unterzeichnet und trat am 27. Juli Die Sowjetunion hatte nicht eingegriffen. Eine Volksdemokratie im Osten Ös- 1955 offi ziell inkraft. terreichs (nach dem Beispiel Ungarns) war nun nicht mehr denkbar – Österreichs Im Folgenden die politisch wich- Weg führte zum Staatsvertrag. tigen Punkte von Teil I: Die von der KPÖ befürchtete Benachteiligung der arbeitenden Menschen war ausgeblieben, vielmehr wirkte sich der weltweite Konjunkturaufschwung positiv Teil I auf die österreichische Wirtschaft aus. Nur die Bemühungen um Unabhängigkeit Politische und territoriale Bestim- stießen vorläufi g auf taube Ohren. Hartnäckigen Widerstand gab es seitens der mungen Sowjetunion. Österreichs Memoranden (Denkschriften) an die UNO, auch ohne Staatsvertrag die volle Souveränität zu erhalten, fanden (am 20. Dezember 1953) Artikel 1 Wiederherstellung Österreichs als zwar allgemeine Zustimmung, die UdSSR jedoch nahm den UNO-Beschluss nicht freier und unabhängiger Staat zur Kenntnis. Artikel 2 ▶ Überzeugungsarbeit Wahrung der Unabhängigkeit Österreichs Darüber hinaus sorgte unter Bundeskanzler Julius Raab eine Umbesetzung im Außenministerium für eine neue Ausgangssituation bei den Verhandlungen. Der Artikel 3 amerikafreundliche Außenminister Karl Gruber wurde durch den früheren Bun- Anerkennung der Unabhängigkeit deskanzler Leopold Figl ersetzt. Ein Jahr später (1954) nahmen Figl und Staats- Österreichs durch Deutschland sekretär Bruno Kreisky an der Außenministerkonferenz der Besatzungsmächte in Berlin als Partner teil. Artikel 4 Das „deutsche Problem“ schien für die USA und die Sowjetunion untrennbar Verbot des Anschlusses mit der österreichischen Frage verknüpft. Das Trauma „Anschluss“ musste erledigt Artikel 5 und die politische wie wirtschaftliche Position Österreichs geklärt werden. Osten Grenzen Österreichs wie Westen waren skeptisch gegenüber einer separaten „österreichischen“ Lösung: Ein neutraler Gürtel von Schweden über Finnland bis nach Jugoslawien und Öster- Artikel 6 reich war aus sowjetischer Sicht zweifellos interessant. Aus westlicher Perspektive Menschenrechte aber hätte ein neutrales Österreich die militärische Nord-Süd-Verbindung innerhalb der NATO unterbrochen – ein kritischer Punkt. Artikel 7 Rechte der slowenischen und kroa- tischen Minderheiten ▶ Der Staatsvertrag Im Februar 1954 wurde der Regierung Raab-Schärf angedeutet, dass die UdSSR Artikel 8 einem Staatsvertrag t zustimmen würde, wenn Österreich bereit wäre, einen An- Demokratische Einrichtungen schluss an Deutschland auszuschließen und keine Militärbündnisse einzugehen. Artikel 9 Der in Osteuropa als Gegenstück zur NATO im Entstehen begriffene Warschauer Aufl ösung nazistischer Organisa- Pakt ließ eine aus der Schweiz und Österreich bestehende neutrale Zone strategisch tionen wünschenswert erscheinen. Bruno Kreisky empfahl eine Neutralitätserklärung nach Schweizer Muster. Die Sowjets hätten die Neutralität gern im Staatsvertrag Artikel 10 verankert. Die österreichischen Verhandler konnten sie jedoch davon überzeugen, Besondere Bestimmungen über die dass nur ein souveräner Staat seine rechtlich verbindliche Neutralität beschließen Gesetzgebung kann, wenn also die vier Großmächte die Unverletzlichkeit der österreichischen Grenzen garantierten. Das führte dazu, dass das Neutralitätsgesetz vom freien und Artikel 11 souveränen Staat Österreich beschlossen werden sollte. Anerkennung der Friedensverträge Am 15. Mai 1955 unterzeichneten die Außenminister der vier „Siegermächte“ (Staatsvertrag betreffend die Wieder- und Österreichs im Prunksaal des Oberen Belvederes in Wien das Vertragswerk herstellung eines unabhängigen und u i. demokratischen Österreich, StF: BGBl. Nr. 152/1955)

6 Österreich – 1945 bis heute

25283 NG_8_Kern.indb 6 04.08.2010 11:32:15 Uhr Vom Arbeiterstreik zum Staatsvertrag

2 Franz Olah 1 SPÖ-Plakat zu den Streikunruhen im Oktober 1950

Franz Olah (1910–2009), war zwischen 1933 und 1945 mehrfach inhaf- tiert und im KZ, war 1949–1957 Vorsitzen- der der sozialdemokra- tischen Bau- und Holz- arbeitergewerkschaft; war 1950 entscheidend an der Niederschlagung des kommunistischen Streiks beteiligt; 1969 wegen Missbrauchs von Gewerkschaftsgeldern gerichtlich verurteilt und aus der Partei ausge- schlossen.

4 Der Staatsvertrag 5 „Österreich ist frei“

Der Vertrag bei der Ausstellung auf der Schallaburg, Niederöster- „Österreich ist frei!“ Der österreichische Außenminister Leopold Figl (Mitte) prä- reich 2005; die letzte Unterschriftsseite zeigt die Signaturen von sentiert das unterzeichnete Dokument vom Balkon des Oberen Belvederes; der John Foster Dulles (Außenminister USA), Llewellyn E. Thompson legendäre Ausspruch Figls fi el übrigens im roten Marmorsaal im Inneren des Bel- Jr. (Hochkommissar und Botschafter der USA), Antoine Pinay vederes nach der Unterzeichnung. (französischer Außenminister), Roger Lalouette (Stellvertretender Hochkommissar und französischer Gesandter) und Leopold Figl (österreichischer Außenminister).

1. Fassen Sie die Ereignisse auf dem Weg zum Österreichischen Staats- 4. Versuchen Sie eine „Jubeldarstellung“ in journalistischem Stil über die vertrag zusammen. Skizzieren Sie die Verhandlungsschritte und nen- Präsentation des unterzeichneten Staatsvertrages vom Balkon des nen Sie die daran maßgeblich beteiligten Personen. Belvederes in Wien; diskutieren Sie in der Klasse / Gruppe darüber. 2. Stichwort „Streikunruhen 1950“: Welche Ursachen, Befürchtungen Welcher Art können damals die Hoff nungen der Österreicherinnen und Reaktionen können Sie feststellen? und Österreicher gewesen sein? Haben sich diese erfüllt? 3. Kommentieren Sie die wichtigsten Punkte des Staatsvertrages; sehen Sie Bezugspunkte zur heutigen Politik – wenn ja, welche?

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