21. Jahrgang November 2020 € 6,90 8424

11 Schmerz und Schuld Missbrauch und evangelische Kirche christoph butterwegge Corona – ein soziales Desaster manfred gailus Der NS-Theologe Gerhard Kittel yauheniya danilovich Belarus und die Kirchen Ein Liederbuch mit vierundzwanzig Liedern für den Morgen, den Tag und den Abend, beinahe alle neu arrangiert, etliche neu textiert – einige aus dem Englischen, aus sehr unterschiedlichen Epochen und Kontexten, andere aus dem Brunnen der deutschen Lyrik – von Hermann Hesse, Joseph von Eichen dorff oder Gerhard Schöne – andere aus dem »Great American Songbook« oder Klassiker heutiger Popularmusik – wie etwa Leonard Cohens »Halleluja« oder »Ol’55« von Tom Waits. Für vier Stimmen gesetzt, von Paul Klees Engeln begleitet.

Lieder und Songs von Heinrich Albert, Leonhard Cohen, Marvin Gay, Christian Lahusen, Gerhard Schöne, Tom Waits und anderen

Lieb, Leid und Zeit und Ewigkeit Liederbuch für alle Tage Herausgegeben von Klaus-Martin Bresgott und Johann Hinrich Claussen 86 Seiten, mit vier Illustrationen ISBN: 978-0-000-00231-9 Vertrieb: Kulturbüro des Rates der EKD E-Mail: [email protected] Schutzgebühr: 5 Euro (Abgabe ab vier Exemplaren)

EKD-Liederbuch_Anzeige-E01.indd 1 03.10.20 14:29 editorial

Herausgegeben von Heinrich Bedford-Strohm Wolfgang Huber Ilse Junkermann Isolde Karle Annette Kurschus Ulrich Lilie Friederike Nüssel Christoph Schwöbel Christiane Tietz Gerhard Ulrich Michael Weinrich

Liebe Leserin, lieber Leser,

„alle müssen sich an ihre Zusagen halten. Das, was uns versprochen wird, muss auch umgesetzt werden.“ Diese klare Forderung an die evangelische Kirche stellt Katharina Kracht, die als Jugendliche im Konfirmandenunter- richt von einem Pfarrer missbraucht wurde. Heute setzt sie sich ein für die Opfer sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche. Aber wie steht es mit der Aufarbeitung dieses Themas? Wie weit sind EKD und Landeskir- chen auf diesem Weg gekommen? Die Bilanz fällt zwiespältig aus, zeigt eine Recherche, die Teil unseres Schwerpunktes zum Missbrauch in der evange- lischen Kirche ist. Mehr darüber lesen Sie ab Seite 26.

Um ein anderes Schuldthema der Kirchengeschichte geht es in einem Text des Historikers Manfred Gailus über den renommierten Tübinger Neutesta- mentler Gerhard Kittel (1888 – 1948). Dieser war ein glühender Judenfeind und bezeichnete das Judentum als „Krankheit am deutschen Volkskörper“. Reue zeigte er nach dem Krieg nicht und sein Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament (ThWNT) zählte noch lange für Generationen von Studie- renden zum Standardwerk. Den Text von Manfred Gailus finden Sie ab Seite 50.

Nicht um Schuld, aber um Gewissensfragen geht es beim Thema assistierter Suizid, das nicht erst seit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes ethi- sche Diskussionen prägt. Doch wie soll das Personal in Pflegeheimen reagie- ren, wenn ein Patient den Wunsch nach Selbsttötung äußert? Die Evange- lische Heimstiftung in , Trägerin von 145 Pflegeeinrichtungen, will mit einem Papier Orientierung bieten. Möglicherweise ein Modell für all die anderen Einrichtungen in evangelischer Trägerschaft, die sich tagtäglich zu diesem Thema positionieren müssen? Lesen Sie dazu den Text von Thomas Mäule ab Seite 15.

Auch wenn das alles keine leichten Themen sind, wünschen wir Ihnen eine anregende Lektüre. Kommen Sie gesund durch diese Monate!

Stephan Kosch

11/2020 zeitzeichen 3 Selbstbestimmt bis zum Ende

Wie sollen Mitarbeitende in Pflegeeinrich- tung reagieren, wenn sie mit dem Wunsch nach assistiertem Suizid konfrontiert werden? Thomas Mäule von der Evangelischen Heim- stiftung in Stuttgart beschreibt mögliche Lösungen. 15 Foto: akg-images Foto: 22 Reformierter Neuerer In Deutschland wurde er von der reformierten Minderheit zu Leb- zeiten bewundert, aber während des 20. Jahrhunderts kaum noch rezipiert. Hans-Georg Ulrichs stellt den niederländischen Theo- logen und Politiker Abraham Kuyper vor, der am 8. November

Foto: epd/Dethard Hilbig Foto: 1920 starb.

gesellschaft störfall 8 christoph butterwegge 25 klaus-peter lüdke Virus der Ungleichheit Josef als Vorbild für geschlechtliche Vielfalt

kolumne sexueller missbrauch 11 heinrich bedford-strohm 28 christoph fleischmann Für Luther war’s Sekundenschlaf Kirche kann es nicht allein 31 thomas klatt Politik Von außen nachgefragt 12 yauheniya danilovich 34 lilith becker Kirche und Zivilgesellschaft in Belarus Macht der Worte, Macht der Kirche 15 thomas mäule 38 gespräch mit christoph meyns Das Karlsruher Sterbehilfeurteil und die Pflegeheime „Viele blinde Flecken“ 18 kurzinterview mit hilke rebenstorf Kirche in der Zivilgesellschaft kultur 42 jürgen kaiser kommentar Landesausstellung in Mainz 19 reinhard mawick Rom verbietet gemeinsames Abendmahl

das projekt 20 stefanie sippel —— und die Juden Titelseite: Foto: akg/Gerhard Gepp (geboren 1940), theologie Zerrissenheit. 22 hans-georg ulrichs Gestaltung: Christiane Dunkel-Koberg Erinnerung an Abraham Kuyper

4 zeitzeichen 11/2020 Sexueller Missbrauch

Vor zwei Jahren begann mit der aufsehenerre- genden Präsentation des Elf-Punkte-Plans auf der Synode in Würzburg die systematische Aufarbeitung von Missbrauch und sexualisierter Gewalt im Bereich der evangelischen Kirche. Was ist seitdem auf den Weg gebracht worden? Und was bleibt noch zu tun? Darum geht es im November-Schwerpunkt. 26 Foto: Jordan Siegel Foto:

Unter der Brücke von Kabul

53 Mit drei Millionen Drogenabhängigen hat Afghanistan eine hohe Quote. Eine Dosis Heroin kostet zwei Dollar, so viel wie ein Brot. Die vierzigjährige Laila Haidari hat es sich zur Aufgabe gemacht, mit einer Unterkunft und einem Restaurant diese Menschen zu unter-

Foto: epd/NorbertFoto: Neetz stützen.

kirche 63 gregor bloch Ulrich Nembach: Predigen heute 45 thomas krüger 64 rainer kessler Kirche und Werbung Edda Lechner: Jesus – Marx – und ich 50 manfred gailus 65 burkard hotz Gerhard Kittel – frommer Christ und Antisemit Ingo Klaer: Alles, was mein ist, ist dein 67 kathrin jütte reportage Ute Gause: Töchter Sareptas 68 udo feist 53 andrea jeska (text) · jordan siegel (fotos) Delphine Horvilleur: Überlegungen zur Frage Laila Haidari und die Drogenabhängigen in Kabul des Antisemitismus 68 stephan kosch rezensionen Christian Berg: Ist Nachhaltigkeit utopisch? Musik 61 klaus-martin bresgott Orlando di Lasso: Mehrstimmige Motetten 61 udo feist 66 Autoren 6 Magazin Bob Dylan: Rough and Rowdy Ways 64 Buchtipps 72 Notabene Hörbuch 62 kathrin jütte 3 Editorial 71 Notizen Erich Maria Remarque: Die Nacht von Lissabon 69 Filmtipps 70 Personen Bücher 67 Impressum 73 Punktum 62 holm tetens 48 Klartext 73 Veranstaltungen Hubert Halbfas: Kann ein Christ Atheist sein? Kann ein Atheist Christ sein? 72 Kulturtour 74 Vorschau 63 thomas söding 59 Leserbriefe Markus Spieker: Jesus. Eine Weltgeschichte

11/2020 zeitzeichen 5 magazin

Dramaturg erzählt Bundeswehr will Bibel mit Playmobil Ausstellung fördern Der Literaturwissenschaft- Die Bundeswehr will die im ler Michael Sommer will neuen Potsdamer Garnison- binnen eines Jahres die kirchturm geplante Aus- Geschichten der Bibel auf stellung mit 350 000 Euro Youtube nacherzählen. Die fördern. Ein entsprechen- Darsteller sind dabei Play- der Betrag sei im Haushalts- mobilfiguren. 66 Videos entwurf für 2021 enthalten, sollen entstehen, teilte das sagte ein Sprecher des Bun- Gemeinschaftswerk der desverteidigungsministeri- Evangelischen Publizistik ums. Die Dauerausstellung (GEP) mit. Sommer ist solle nach bisherigen Pla- für seinen Youtube-Kanal nungen zentrale historische

Foto: akg/Universal Pictures „Sommers Weltliteratur Themen „im Beziehungs- to go“ bekannt, auf dem er dreieck Kirche, Militär Klassiker der Literatur mit und Staat in Deutschland“ „Weltweit Remarque“ Playmobilfiguren als Kurz- aufnehmen, hieß es in version nachspielt. Beliebt Medienberichten. Ziel der Anlässlich des 50. Todestages Erich Maria Remarques sei sind die Videos vor allem Ausstellung auf einer Fläche es an der Zeit, eine Bilanz der internationalen Wirkung bei Schülern. Der Drama- von 300 Quadratmetern des Schriftstellers zu ziehen – das betont man im „Erich turg erhielt 2018 für seinen sei, zur Beschäftigung mit Maria Remarque-Friedenszentrum“ in Osnabrück: Wel- Kanal den Grimme Online der Geschichte des histo- chen Stellenwert nimmt sein Werk – auch über „Im Wes- Award. Das evangelische rischen Ortes anzuregen. ten nichts Neues“ (siehe oben) hinaus – heute in unter- Contentnetzwerk „yeet“ Geplant sei eine einmalige schiedlichen Kulturen ein? In welchen Zusammenhängen hat Sommer nun als neuen Zuwendung für eine Dauer- werden seine humanistischen Positionen und sein Einsatz Sinnfluencer gewonnen. ausstellung. für Frieden und Toleranz heute aktualisiert? Die Sonder- ausstellung „Weltweit Remarque“, die noch bis zum 22. Juni 2021, dem 123. Geburtstag Remarques, zu sehen ist, wird sich dieser Frage aus unterschiedlichen Perspek- tiven nähern. Dazu gehören die Verbreitung seiner Schrif- ten, die Präsenz Remarques in unterschiedlichen Medien von Literatur und Film über Musik und Graphic Novel bis hin zu Blogs und Diskussionsforen (siehe Seite 62).

100 Jahre Wichern-Verlag

Am 1. Oktober 2020 feierte der protestantisch geprägte Berliner Wichern-Verlag sein 100-jähriges Bestehen. Von den Nachkriegswirren in den 1920er-Jahren über die Zeit des Nationalsozialismus, der Teilung von Land, und Kirche in Ost und West bis zu Wiedervereinigung und digitaler Revolution, Klima- und Corona-Krise habe der christliche Verlag gesellschaftliche Umbrüche erlebt und publizistisch begleitet, teilte der Verlag mit. Benannt nach dem Theologen, Sozialreformer und Vater der Diakonie, Johann Hinrich Wichern, wurde der Verlag am 1. Okto- ber 1920 durch den Central-Ausschuß für Innere Mission gegründet. Unter der Leitung von Pfarrer Gerhard Füllkrug erschienen praxisnahe Publikationen zum Thema Fürsorge. Von 1930 bis 1937 leitete Friedrich Wittig den Verlag und machte ihn durch Veröffentlichungen bekannt, die sich gegen die nationalsozialistische Weltanschauung richte- ten. Die Verlagsarbeit war Einschränkungen unterworfen,

wurde jedoch, bis auf die Kriegszeit, nicht eingestellt. Foto: akg-images

6 zeitzeichen 11/2020 magazin

Kardinal Lehmann hat auch versagt Im katholischen Bistum Mainz haben Verantwort- liche in der Vergangenheit offenbar viele Fälle von sexuellem Missbrauch ver- tuscht und ein hartes Vorge- hen gegen die Täter ver- hindert. Fehlverhalten der Bistumsleitung habe es bis in die Amtszeit von Kardinal Karl Lehmann (1983 – 2016) hinein gegeben, sagte der Regensburger Rechtsanwalt Ulrich Weber in Mainz. Als Leiter einer unabhängi- gen Untersuchung stellte er den Zwischenbericht eines mehrjährigen Aufar- beitungsprojekts vor und appellierte an Betroffene und Wissensträger, sich weiter bei ihm zu melden. Nach Prüfung teils geheimer Akten und über 100 Ge- sprächen mit Betroffenen gehe er für den Zeitraum zwischen 1945 und 2019 von mindestens 273 Beschul- digten und 422 Opfern von Missbrauch und sexuellen Grenzverletzungen aus.

Aktion Autofasten endet nach 22 Jahren Die jährliche Aktion Auto- fasten geht nach 22 Jahren zu Ende. „Wir sind darüber

alles andere als glücklich“, Foto: Edvard Munch, Das weinende Mädchen, 1909, LWL-Museum für Kunst und Kultur sagte der evangelische Pfar- rer Hans Jürgen Gärtner für den Trägerkreis der Aktion Liebe, Schmerz und Ekstase im Museum in Saarbrücken. „Allerdings haben sich aufgrund der Neid und Wut, Liebe und Hass, Begehren und Eifersucht – die künstlerische Ausein- finanziellen Unwägbarkei- andersetzung mit diesen starken Gefühlen reicht bis in die Antike zurück. In der Aus- ten, die die Corona-Krise für stellung „Passion Leidenschaft. Die Kunst der großen Gefühle“ (noch bis 14. Februar die Träger der Aktion zeigt, 2021) schlägt das LWL-Museum für Kunst und Kultur in Münster zum ersten Mal mit gleich mehrere Kirchen und 200 Exponaten einen Bogen bis in die heutige Zeit, vom Kindermord in Bethlehem bis Bistümer aus der Aktion für zur aggressiven Propaganda von US-Präsident Donald Trump. „Gefühle prägen unsere 2021 zurückgezogen oder Gesellschaft und unser Miteinander. In Krisenzeiten, wie aktuell der Corona-Pandemie, ihre Unterstützung gekürzt.“ begleiten uns Angst und Schmerz oder auch Wut und Hoffnung“, erklärt Matthias Löb, Daher sei für 2021 die Aktion Direktor des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL). „Die Ausstellung soll die Autofasten nicht mehr zu Besucher emotional berühren und ihnen vor Augen führen, dass große Gefühle zeitlos finanzieren gewesen. sind.“

11/2020 zeitzeichen 7 gesellschaft Armut

Virus der Ungleichheit Die Covid-19-Pandemie trifft die Armen deutlich stärker als die Reichen

christoph butterwegge

Das neue Coronavirus hat die Kluft tatsächlich in Bezug auf die Infektiosität aber auch das Morbiditäts- und Mortali- zwischen Arm und Reich in Deutschland von Coronaviren, im Hinblick auf das tätsrisiko von Arbeitslosen, sozial Abge- und weltweit vertieft. Doch Verursacher Infektionsrisiko allerdings nicht. So traf hängten und Armen war deutlich höher die Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 als das von Reichen. der Ungleichheit sei nicht das Virus, zwar alle Bewohner und Bewohnerinnen Das als SARS-CoV-2 bezeichnete sondern das bestehende Wirtschafts- der Bundesrepublik, aber keineswegs alle Virus hat die Kluft zwischen Arm und und Gesellschaftssystem, meint gleichermaßen. Je nach Arbeitsbedingun- Reich sowie die zwischen verschiedenen Christoph Butterwegge, Armutsforscher gen, Wohnverhältnissen und Gesund- Bevölkerungsschichten bestehenden In- und emeritierter Professor für heitszustand waren sie ganz unterschied- teressengegensätze deutlicher hervortre- Politikwissenschaft an der Uni Köln. lich betroffen. ten lassen, während sie der Lockdown, Wegen der niedrigen Lebenserwar- die ihm folgende Wirtschaftskrise und Die Bekämpfung der Pandemie und tung von Armen, die rund zehn Jahre ge- die staatlichen Rettungsmaßnahmen ihrer wirtschaftlichen Folgen habe diese ringer ist als die von Reichen, gilt selbst noch vertieft haben. Eigentlicher Verur- Ungleichheit nochmals verschärft. in einer wohlhabenden Gesellschaft wie sacher der Ungleichheit ist deshalb nicht unserer die zynische Faustregel: Wer arm etwa das neuartige Coronavirus, sondern ei oberflächlicher Betrachtung ist, muss früher sterben. Während der das bestehende Wirtschafts- und Gesell- Bscheint es so, als ob vor einem Virus Covid-19-Pandemie galt: Wer arm ist, schaftssystem, in welchem die soziale Po- alle Menschen gleich seien. Das stimmt muss eher sterben, denn das Infektions-, larisierung strukturell angelegt und durch

8 zeitzeichen 11/2020 Armut gesellschaft

Wohlständigkeit all ihrer Mitglieder, ein Absatzmärkten sowie die als Reaktion großer Teil der Bevölkerung nicht einmal auf die Pandemie behördlich verordnete für wenige Wochen ohne seine unge- Schließung von Geschäften, Gaststätten, schmälerten Regeleinkünfte auskommt. Hotels, Clubs, Kinos, Theatern und an- Durch monatelange Kontaktverbote, deren Einrichtungen hatten erhebliche Ausgangsbeschränkungen und Einrich- wirtschaftliche Einbußen für die dort tungsschließungen wurde die ohnehin Tätigen, aber auch eine Konkurswelle brüchige Lebensgrundlage der ärmsten und Entlassungen im großen Stil zur Menschen (Bettler und Bettlerinnen, Folge. Die mit Verzögerung einsetzende, Pfandsammler und Verkäuferinnen von als größte Rezession seit dem Zweiten Straßenzeitungen) zerstört, weil fehlende Weltkrieg geltende Krise warf nicht bloß Passanten und die Furcht der verbliebe- ein Schlaglicht auf die hierzulande be- nen davor, sich zu infizieren, manchmal stehende Ungleichheit, verschärfte sie in zum Totalausfall der Einnahmen führten, Teilbereichen vielmehr noch. Einerseits was stärkere Verelendungstendenzen blieben Kurzarbeit für über sieben Mil- in diesem Sozialmilieu nach sich zog. Die finanzielle Belastung von Transfer- Hedgefonds und leistungsbeziehern, Kleinstrentnerinnen Finanzkonglomerate können als und Geflüchteten nahm durch die Schlie- ßung der meisten Lebensmitteltafeln wei- Gewinner der Krise gelten. ter zu. Mit den bakteriell ausgelösten Epide- lionen Beschäftigte, Insolvenzen klei- mien, die Deutschland im 19. Jahrhundert nerer und mittlerer Unternehmen sowie heimsuchten – Cholera, Tuberkulose und massenhafte Entlassungen (etwa in der Typhus –, hat die Covid-19-Erkrankung Gastronomie, der Touristik und der Luft- gemeinsam, die Immun- und Einkom- fahrtindustrie) nicht aus, andererseits rea- mensschwächsten am stärksten zu tref- lisierten Großkonzerne krisenresistenter fen. Sozial bedingte Vorerkrankungen Branchen (zum Beispiel die Lebensmittel- wie Adipositas (Fettleibigkeit), Asthma, Discounter, Drogeriemärkte, Versandhan-

Foto: dpa/Arne DedertFoto: Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) del, Lieferdienste, Digitalwirtschaft und Weil die Tafeln und andere Ausgabe- oder COPD (Raucherlunge), katastro- Pharmaindustrie) in der Corona-Krise so- stellen für Lebensmittel an Bedürftige phale Arbeitsbedingungen (etwa in der gar Extraprofite. Es war ein großer Unter- während des Lockdowns geschlossen Fleischindustrie) sowie beengte und hy- schied, ob man ein Reisebüro betrieb oder gienisch bedenkliche Wohnverhältnisse Besitzer eines Baumarktes war, der nicht waren, entstanden in vielen erhöhten das Risiko für eine Infektion geschlossen werden musste und während Städten solche Gabenzäune mit mit SARS-CoV-2 und für einen schweren des Lockdowns boomte. Lebensmittelspenden. Covid-19-Krankheitsverlauf. Zwar brachen die Aktienkurse nach Zu den Hauptleidtragenden gehörten Ausbruch der Covid-19-Pandemie in den wachsenden Einfluss des Neolibera- Obdach- und Wohnungslose, aber auch Deutschland wie an sämtlichen Börsen lismus als einem politisch-ideologischen andere Bewohner und Bewohnerinnen der Welt (vorübergehend) ein, drama- Ungleichheitsvirus drastisch verstärkt von Gemeinschaftsunterkünften wie tische Verluste erlitten aber vor allem worden ist. Strafgefangene, Geflüchtete und (süd-) Kleinaktionäre, die generell zu Panik- osteuropäische Werkvertragsarbeiter reaktionen und überhasteten Verkäufen Zerstörte Lebensgrundlage und -arbeiterinnen der Subunternehmen neigen. Hedgefonds und Finanzkonglo- deutscher Fleischfabriken, nichtdeut- merate wie BlackRock wetteten hingegen Die von ökonomischen, sozialen und sche Saisonarbeiterinnen, Migranten sogar mittels Leerverkäufen erfolgreich politischen Verwerfungen begleitete ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, auf fallende Aktienkurse und verdienten Covid-19-Pandemie hat das Phänomen Menschen mit Behinderungen, Pflege- an den Einbußen der Kleinanleger, wes- der Ungleichheit, das ein Kardinalpro- bedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, halb sie als „Gewinner der Krise“, so der blem der Bundesrepublik, wenn nicht der Erwerbslose, Geringverdienerinnen, Journalist und Buchautor Jens Berger, gel- ganzen Menschheit ist, wie unter einem Kleinstrentner und Transferleistungs- ten können. Großinvestoren dürften die Brennglas sichtbar gemacht. Wie nie zu- bezieher (Empfänger von Arbeitslosen- Gunst der Stunde außerdem für Ergän- vor nach dem Zweiten Weltkrieg wurde geld II, Sozialgeld, Grundsicherung im zungskäufe zu relativ niedrigen Kursen erkennbar, dass trotz eines verhältnismä- Alter und bei Erwerbsminderung sowie genutzt und davon profitiert haben, dass ßig hohen Lebens- und Sozialstandards Asylbewerberleistungen). der Kurstrend in Erwartung eines volu- des Landes sowie entgegen allen Beteu- Die durch das Coronavirus be- minösen Konjunkturprogramms bald erungen, die Bundesrepublik sei eine wirkte Zerstörung von Lieferketten und wieder nach oben zeigte. Viele kleine „klassenlose“ Gesellschaft mit gesicherter Vertriebsstrukturen, der Verlust von Einzelhändler und -händlerinnen haben

11/2020 zeitzeichen 9 gesellschaft Armut

wegen der Schließung ihrer Läden und Überziehungszinsen zahlen mussten. indem man die strenge Vermögensprü- ausbleibender Kunden hingegen ihre Hingegen wurden jene Personen, denen fung für sie vorübergehend aussetzte Existenzgrundlage verloren. Wahrschein- die Banken oder Anteile daran gehören, und ein halbes Jahr lang die Angemes- lich hat sich die Kluft zwischen Arm und dadurch noch reicher. senheit der Wohnung stillschweigend Reich nicht zuletzt deshalb am Ende wei- Bund, Länder und Gemeinden ha- voraussetzte, erhielten langjährige Hartz- ter vertieft. ben in der Corona-Krise nach kurzem IV-Bezieher/innen selbst dann keinen Unter dem Druck der Corona-Krise, Zögern fast über Nacht mehr als 1,5 Bil- Ernährungszuschlag, wenn ihre Kinder die zu Einkommensverlusten durch Kurz- lionen Euro für direkte Finanzhilfen, während der wochenlangen KiTa- und arbeit, Arbeitslosigkeit und Bankrotten Bürgschaften und Kredite mobilisiert. Schulschließungen zuhause verpflegt geführt hat, kauften mehr Familien bei Letztere wurden über die Kreditanstalt werden mussten, anstatt wie sonst kosten- Lebensmittel-Discountern ein, um Geld für Wiederaufbau (KfW) abgewickelt frei die Gemeinschaftsverpflegung in der zu sparen, wodurch die Eigentümer von und kamen in erster Linie großen Un- öffentlichen Betreuungseinrichtung zu Ladenketten wie Aldi Nord und Aldi ternehmen zugute, während kleine und Süd, die ohnehin zu den vermögendsten mittlere Unternehmen mit einmaligen Die staatlichen Kredite Deutschen gehören, noch reicher gewor- Zuschüssen unterstützt wurden, die lau- und Bürgschaften kamen den sein dürften. Schon vorher wurde fende Betriebskosten decken, aber nicht das Privatvermögen von Dieter Schwarz, zur Bestreitung des Lebensunterhalts vor allem großen dem Besitzer von Lidl und Kaufland, mit verwendet werden durften. Während Unternehmen zugute. 41,5 Milliarden Euro veranschlagt. Laut zahlreiche Unternehmen, darunter auch einem „Die 1 000 reichsten Deutschen“ solche mit einer robusten Kapitalausstat- nutzen. Später konnte das Mittagessen überschriebenen Artikel in der Welt am tung, von der Bereitschaft des Staates zu auf Kosten des Staates nach Hause gelie- Sonntag (20. September 2020) ist es wäh- einer hohen Neuverschuldung (Abschied fert werden, wozu die Träger der besagten rend der vergangenen zwölf Monate um von der Schwarzen Null und den Restrik- Einrichtungen allerdings meist gar nicht 300 Millionen Euro auf 41,8 Milliarden tionen der Schuldenbremse) profitierten, in der Lage waren. Die entstandenen Euro gewachsen. mussten sich die Finanzschwachen, verg- Mehrkosten wurden den Eltern im Trans- lichen mit den Hilfsmaßnahmen für die ferleistungsbezug nicht erstattet, wie sie Privileg Homeoffice Wirtschaft, bescheiden. auch häufig keine digitalen Endgeräte und Selbst die beiden „Sozialschutz- keinen WLAN-Zugang für das digitale Je höher die berufliche Position oder Pakete“ der CDU/CSU/SPD-Koalition „Homeschooling“ hatten. der soziale Status eines Menschen ist, wiesen eine verteilungspolitische Schiefla- Zwar wurde das Kurzarbeitergeld vo- umso leichter kann er auch zuhause ar- ge auf. Während der Arbeitslosengeld-II- rübergehend auf 70 oder 77 Prozent (mit beiten, denn es geht in diesem Fall eher Bezug für von der Corona-Krise gebeu- Kind) nach drei Monaten und auf 80 oder um Bildschirmarbeit oder eine Bürotä- telte Soloselbstständige, Honorarkräfte 87 Prozent (mit Kind) nach sechs Mona- tigkeit. Im digitalen Homeoffice ließ sich und Kleinunternehmer erleichtert wurde, ten angehoben, sofern die Arbeitszeit das Betreuungsproblem leichter lösen, welches entstand, als Kindertagesstätten, Schulen und Pflegedienste schlossen. Während hauptsächlich Erwerbstätige im oberen Einkommensbereich und mit einem hohen Bildungsabschluss darauf zurückgreifen konnten, fehlte Beschäf- tigten im Niedriglohnsektor diese Mög- lichkeit, sich um ihre Kinder oder pflege- bedürftige Angehörige zu kümmern, fast durchgängig. Beschäftigte mit geringem Einkommen und niedrigem Bildungs- stand hatten daher bei der Arbeit auch ein höheres Ansteckungsrisiko. Infolge der Corona-Krise sind zu- letzt vermutlich auch mehr Girokonten von prekär Beschäftigten, Soloselbst- ständigen, Kurzarbeitern und Kleinst- unternehmerinnen ins Minus gerutscht, weshalb gerade die finanzschwächs- ten Kontoinhaber hohe Dispo- und

Zahlreiche kleinere Läden mussten wegen des Lockdowns schließen.

10 zeitzeichen 11/2020 kolumne

um mindestens 50 Prozent reduziert war. Außerdem erweiterte der Gesetzgeber heinrich bedford-strohm – gleichfalls befristet – die Hinzuver- dienstmöglichkeiten für Kurzarbeiter. Sinnvoller wäre jedoch die Schaffung Für Luther war’s Sekundenschlaf eines Mindestkurzarbeitergeldes gewe- sen, wie es den CDU-Sozialausschüssen Wie Bibeltexte die Angst vor dem Tod nehmen vorschwebte, weil Geringverdienende davon stärker betroffen waren und mehr Über den Tod spricht man nicht gerne. Bildern vom Leben nach dem Tod, profitiert hätten als Besserverdienende. Und wo er uns real begegnet, stellt sich der in der Bibel zu finden ist. Das leicht ein Gefühl ein, das irgendwo Weizenkorn, das sterben muss, damit Nicht verteilungsgerecht zwischen Verunsicherung, Ohnmacht etwas Neues daraus wachsen kann und Grauen angesiedelt ist. Oder es (Johannes 12). Die neue Erde und der Auch das Konjunktur- und Krisenbe- ist eine Mischung aus neue Himmel, in dem wältigungspaket sowie das „Zukunftspa- allem. Die Bilder, die das alle Tränen abgewischt ket“ der Großen Koalition waren nicht in der Corona-Zeit in mir sind und alles neu wird verteilungsgerecht. Überproportional am meisten wachgerufen (Offenbarung 21). Die profitieren dürften bei den vom Bun- haben, waren die Leichen, Auferstehung der Toten desfinanzministerium veranschlagten die in New York von Ga- am jüngsten Tag Ausgaben in Höhe von 130 Milliarden belstaplern in Kühllaster (1. Thessalonicher 4). Euro die Wirtschaft, Unternehmen und gehoben wurden, weil kein Es sind Bilder für etwas, Besserverdienende. Je umsatzstärker (und Platz in Kliniken oder Be- was kein Mensch in vermutlich auch größer und kapitalkräf- stattungsinstituten mehr seinem irdischen Leben tiger) ein Unternehmen ist, umso stärker war. Tote kennen wir fast sehen oder gar beweisen

profitiert es von der befristeten Mehr- nur noch aus dem Fernse- Foto: privat kann. Aber sich auf die- wertsteuersenkung. Bei der Ausweitung hen – am meisten aus Kri- se Bilder einzulassen, ist des steuerlichen Verlustrücktrags, der mis. Bei einer Kinderuni-Vorlesung an nicht weniger rational als zu glauben, Einführung einer degressiven Abschrei- der Universität Bamberg zum Thema dass wir nach dem irdischen Leben ins bung für Abnutzung (AfA) mit einem „Ist Sterben wirklich so schlimm?“ habe Nichts entgleiten. höheren Faktor und maximal 25 Prozent ich vor Jahren einmal gefragt, wer schon Martin Luther hat den Übergang vom pro Jahr für bewegliche Wirtschaftsgü- einmal eine echte Leiche gesehen hat. irdischen ins ewige Leben einmal mit ter des Anlagevermögens 2020/21 und Von den 150 Kindern meldeten sich nur der Erfahrung des Sekundenschlafs der unbefristeten „Modernisierung“ des zwei. Der eine hatte im Museum eine verglichen. Für einen Moment ver- Körperschaftsteuerrechts (Einführung Moorleiche gesehen, die andere war schwimmt die Kategorie der Zeit. eines Optionsmodells zur Körperschaft- ein Aussiedlerkind und hatte, noch in So – sagt Luther – ist es auch mit dem steuer für Personengesellschaften) handelt Kasachstan, ihren toten Opa gesehen. Leben nach dem Tod. Wenn die Toten es sich um drei teure Steuergeschenke für Könnte es sein, dass uns gerade bei am Jüngsten Tag von Christus aufer- die Unternehmern. diesem Thema der Schatz der alten weckt werden, dann wissen sie nicht, Eltern bekamen im Herbst 2020 mit Texte der Bibel einen neuen Horizont wie lange sie geschlafen haben: „Sobald einer sechsmonatigen Verspätung in zwei eröffnen kann? „Lehre uns bedenken, die Augen sich schließen, wirst du auf- Raten 300 Euro pro Kind, die bei hö- dass wir sterben müssen, auf dass wir erweckt werden. Tausend Jahre werden heren Einkommen mit dem steuerlichen klug werden!“ – heißt es in Psalm 90. sein gleich als du ein halbes Stündlein Kinderfreibetrag verrechnet werden. Mein Lieblingskinderbild, das gerahmt geschlafen hast. Gleich wie wir nachts Zwar half dieser „Corona-Kinderbonus“ neben meinem Schreibtisch hängt, hat … nicht wissen, wie lange wir geschla- armen Familien etwas, weil er nicht auf zwei Bildhälften. Auf der Linken in fen haben, so sind noch vielmehr im die Transferleistung angerechnet wird. kühlen Blautönen ein Bett mit einem Tod tausend Jahre schnell weg. Ehe Ausländische Eltern, die als Geduldete Menschen drin. Und auf der Rechten sich einer umsieht, ist er schon ein keinen Anspruch auf Kindergeld hatten, ist ein Mensch zu sehen, der von hel- schöner Engel.“ gingen jedoch ebenso leer aus wie Flücht- lem Licht umgeben ist. Einer meiner Uncle Bob hat das per Eilpost in die lingsfamilien, die sich noch im Asylver- Söhne hat es gemalt, als sein geliebter USA geschickte Bild seines Großnef- fahren befinden. Großonkel „Uncle Bob“ weit weg in fen übrigens noch zu sehen bekom- den USA im Sterben lag. Vielleicht men. Kurz danach ist er friedlich hatte ich ihm aus der Bibel vorgelesen. eingeschlafen. „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir literatur nachfolgt, der wird nicht wandeln in —­— Christoph Butterwegge: Ungleichheit in der Finsternis, sondern wird das Licht Heinrich Bedford-Strohm ist Landesbi- der Klassengesellschaft. Papyrossa-Verlag, des Lebens haben“ (Johannes 8,12). schof in München, ekd-Ratsvorsitzen-

Foto: dpa/Reuhl Foto: Köln 2020, 183 Seiten, Euro 14,90. Es ist ein ungeheurer Reichtum von der und Herausgeber von zeitzeichen.

11/2020 zeitzeichen 11 politik Belarus

„Menschen genannt zu werden“ Die zivilgesellschaftliche Rolle der Kirchen in Belarus ist vielschichtig und teilweise unklar

yauheniya danilovich

Die Kirchen in Belarus befinden Das Sprichwort „Mein Haus ist am bereits vor den Präsidentschaftswahlen sich derzeit in einem Stresstest. Sie Rande, ich weiß nichts“ am 9. August 2020 nimmt man in Bela- sind sowohl seitens des Regimes als drückte rus eine neue Entwicklung wahr, so dass lange Zeit bildlich die Einstellung(Моя хата der с eher das Gegenteil zutreffend ist: Immer auch seitens der Zivilgesellschaft meistenкраю, я Menschen ничего неin Belarus знаю) zur Mit- mehr Menschen sehen sich in der Pflicht, herausgefordert, sich zu den Protesten gestaltung des gesellschaftlichen Zusam- ihre Einstellung und Meinung zur poli- um die Präsidentschaftswahlen zu menlebens, insbesondere auf politischer tischen Situation im Land kundzutun. positionieren. Wie reagierten sie bislang Ebene, aus. Seit den Protesten nach und Sie zeigen Zivilcourage, obwohl sie dafür auf die Geschehnisse? Eine Analyse der Theologin Yauheniya Danilovich.

Wer geht denn dort?

Wer geht denn dort, wer geht denn dort in so riesiger Schar? – Die Weißruthenen (Belarussen).

Und was tragen sie da einher auf den ma- geren Schultern, die Hände voll Blut, an den Füßen Bastschuhe? – Ihr Unrecht.

Und wohin tragen sie dieses ganze Unrecht, Und wohin tragen sie ihr Unrecht zur Schau? – In die ganze Welt.

Wer hat sie – nicht nur eine Million – gelehrt, dieses Unrecht so einherzutragen, hat erweckt sie vom Schlaf? – Die Not, der Kummer.

Und was, was wünschen sie, diese seit Ewigkeit Verachteten, diese Blinden, Tauben? – Menschen genannt zu werden.

Janka Kupała, 1905 – 1907

n den vergangenen Jahren wurde die Si- Ituation der Zivilgesellschaft in Belarus wenig beachtet und in den ausländischen Medien selten darüber berichtet. Eine Ausnahme waren die Präsidentschafts- wahlen, bei denen in wenigen Sätzen über den Wahlsieg von Lukaschenko gespro- chen wurde, der der „letzte Diktator“ Eu- ropas sei und Belarus mit „eiserner Hand“

seit mehr als zwei Jahrzehnten regiere. dpa/Natalia Fedosenko Foto:

12 zeitzeichen 11/2020 Belarus politik

entlassen, verhaftet oder bestraft werden, darunter sehr kreative, beharrlich und verschiedene Empfehlungen ausgespro- ihnen körperliche und andere Formen der geduldig. Das Ausmaß der Proteste in chen, doch die meisten waren nicht ver- Gewalt drohen können. Dabei betonen Belarus ist in der jüngsten Geschichte pflichtend. Es gab keinen Lockdown, viele, dass sie eigentlich nicht politisch des Landes beispiellos. Mit den Worten keine Mundschutzpflicht, die Grenzen sind, dass sie sich früher nicht für Politik von Kupa a, „tragen sie (die Menschen) blieben geöffnet, Kitas und Schulen ha- interessiert haben. Doch jetzt wollen sie ihr Unrecht zur Schau“, „in so riesiger ben ihre Arbeit fortgesetzt, Sportverans- normal leben, eben „Menschen genannt Schar“, „inł die ganze Welt“. taltungen fanden statt. werden“. Sie betonen, dass sie keine Revo- Die Menschen waren auf sich selbst lution, keine Gewalt, keinen Krieg wollen. Regierung versagt angewiesen. Sie haben sich selbstständig Das Ziel der Opposition ist, „ein lebens- in die soziale Distanz begeben, haben wertes Land“ Die Corona-Pandemie hat die Proteste Kinder nicht in die Kitas und Schulen aufzubauen. der Menschen noch angefacht. Denn auch geschickt, haben sich eigenverantwortlich Die friedlichen(страна Protestierenden, для жизни) die die staatlichen Maßnahmen zur Eindäm- für die Arbeit im Homeoffice entschieden aus unterschiedlichen Bevölkerungs- mung der Pandemie sind in den Augen und die Konsequenzen dessen getragen. schichten, Berufs- und Altersgruppen der Protestierenden unzureichend: Vom Zudem haben sie den Ärztinnen und stammen, setzen zahlreiche Mittel ein, Gesundheitsministerium wurden zwar Ärzten bei der Beschaffung von Schutz- mitteln geholfen, die an vielen Orten nicht ausreichend vorhanden waren. Kurz: Die Regierung hat in den Augen der Menschen versagt und das Problem ignoriert. Der Umgang einiger Kirchen mit der Pandemie war ähnlich. So hat die Bela- russische Orthodoxe Kirche zu Ostern keine Kirchen geschlossen. Sie hat zwar die Vorschriften zur Eindämmung der Pandemie an die Gemeinden und Klöster

Das Kloster zu Ehren der Heiligen Elisabeth in Minsk wurde zu einem Corona-Hotspot.

weitergeleitet, aber ob diese sie einhielten, war denen selbst überlassen. Einige Orte wurden aufgrund der Nichteinhaltung der Vorschriften zu Hotspots der Verbrei- tung; ein Beispiel dafür ist das Kloster zu Ehren der Heiligen Elisabeth in Minsk. Überhaupt befinden sich die Kirchen in Belarus derzeit in einem Stresstest. Sie sind sowohl seitens des Regimes als auch seitens der Zivilgesellschaft heraus- gefordert, sich zu den Protesten um die Präsidentschaftswahlen zu positionie- ren. Wie reagierten sie bislang auf die Geschehnisse? Am 15. August wandte sich die Sy- node der Belarussischen Orthodoxen Kirche mit einer Stellungnahme an ihre

Metropolit Pavel hat verletzte Demonstranten im Krankenhaus besucht – wenige Tage später legte er sein Amt nieder und wurde durch die Synode in eine andere russische Diözese versetzt.

11/2020 zeitzeichen 13 politik Belarus

Gläubigen, in der sie kategorisch Gewalt, ökumenischen und interreligiösen For- Haltung lag. Auch seine offene Kommu- Folter, Demütigung, grundlose Festnah- maten etwa in Grodno und Minsk, Pa- nikation in Bezug auf die Gefahr des Co- men, Extremismus in allen Formen und kete für die Verhafteten, seelsorgliche ronavirus und seine Bemühungen um eine Lüge verurteilte. Zugleich rief sie die Betreuung der Angehörigen und aus dialogbasierte Zusammenarbeit zwischen Menschen dazu auf, die Konfrontation zu der Haft Entlassenen waren weitere Ak- dem Bischof und den Priestern haben ihn beenden. Einen Tag später kritisierte Erz- tionen, die von Laien und Geistlichen offenbar die Rückendeckung durch die bischof Artemi (Kishhenko) von Grodno organisiert und durchgeführt wurden. Kirchenoberen gekostet. in seiner Predigt die Polizeigewalt gegen Allerdings ist von einer geschlossenen Gleichwohl geht in der Gesellschaft Menschen scharf. Haltung seitens der kirchlichen Hie- eine intensive Diskussion um die zivilge- Diese Predigt rief große Resonanz rarchie gegen das Regime (noch) nicht sellschaftliche Rolle der Kirchen weiter. hervor, auch Lukaschenko reagierte. Als zu sprechen. Es entsteht der Eindruck, Derzeit sind unter den christlichen Ak- er am 22. August Grodno besuchte, rief dass die Kirche wochenlang zwischen teuren zwei Tendenzen wahrzunehmen: er die Geistlichen in seiner Rede dazu auf, dem Druck des Regimes einerseits und Die einen wollen die politische „Neutra- sich um ihre Angelegenheiten zu küm- den Erwartungen und Bedürfnissen der lität“ der Kirchen verteidigen, forciert mern und sich nicht in die Politik einzu- Gläubigen andererseits hindurch manö- durch eine offene Forderung seitens des mischen. Lukaschenko machte auch klar, vrierte und zugleich nach einer klaren Regimes an die Kirchen, sich nicht in die dass der Staat das Verhalten der Kirche Haltung suchte. „politischen“ Angelegenheiten einzu- nicht gleichgültig beobachten werde. mischen. Doch ist es dann nicht eine Mit- Die Rede zeigte offenbar Wirkung. „Christliche Vision“ wirkung an den Taten des Regimes durch Drei Tage später legte das Oberhaupt eine latente Zustimmung? der Belarussischen Orthodoxen Kirche, Zugleich scheinen die Ökumene und Die anderen engagierten Christen Metropolit Pavel (Ponomarew), sein Amt das Engagement der Laien in der Kir- beanspruchen für sich zwar ebenso po- nieder und wurde durch die Synode in che immer wichtiger zu werden: Am 19. litische Neutralität. Doch diese Neutra- eine andere russische Diözese versetzt. August 2020 wurde die Arbeit des von lität bedeutet für sie kein urteilsfreies Vorher hatte er verletzte Demonstranten Swetlana Tichanowskaja initiierten Ko- Heraushalten, sondern die Deutung der im Krankenhaus besucht. ordinierungsrats aufgenommen. Er hat gesellschaftlichen Ereignisse aus christ- Hinzu kam weiterer staatlicher Terror: das Ziel, die politische Krise auf der Ba- licher Sicht. Die Vertreterinnen und Am 26. August sperrten Spezialeinsatz- sis des Verfassungsrechts zu überwinden. Vertreter dieser Position kritisieren es, kräfte Protestierende in einer katholischen Einige christliche Mitglieder des Koor- wenn zentrale christliche Werte vehe- Kirche im Zentrum von Minsk ein, wäh- dinierungsrats haben sich zur interkon- ment und systematisch mit Füßen getre- fessionellen Arbeitsgruppe „Christliche ten werden. Am 31. August verweigerten Vision“ („ “) Diese Christen protestieren in allen Beamte dem Erzbischof grundlos zusammengeschlossen. Fällen der Verachtung der Menschen- Seit derХристианское Gründung haben видение sie eine würde durch den Staat, bei der Anwen- die Rückreise nach Belarus. Reihe von Stellungnahmen veröffentlicht, dung von Gewalt gegenüber friedlich dazu gehört unter anderem die Solidari- protestierenden Menschen, bei staatli- rend dort ein Gottesdienst stattfand. Die- sierung mit Erzpriester Vladimir Droby- cher Falsifikation (Lüge), bei offensicht- ses Vorgehen kritisierte der katholische shevsky aus Gomel, der selbst Mitglied lichem Unrecht in den Gerichten, bei Er- Erzbischof Tadeusz Kondrusiewicz einen des Koordinierungsrates und der Arbeits- pressung und Einschüchterung, Folter Tag danach scharf, weil damit die Religi- gruppe „Christliche Vision“ ist. und Totschlag. Diese Taten werden klar onsfreiheit verletzt wurde. Er äußerte sich Drobyshevsky wurde bekannt durch und deutlich aus christlicher Perspekti- in einem Interview mit einem polnischen seinen Einzelstreik mit dem Plakat „Been- ve verurteilt. Vom Regime wird das als christlichen Sender auch kritisch zum det die Gewalt!“ und durch die Teilnahme „politische“ Positionierung interpretiert, Wahlergebnis in Belarus. an einer Kundgebung mit dem Protest- was zugleich seine Forderung nach einer Die Reaktion des Staates folgte auf plakat „Auf jede Wirkung entsteht eine Nicht-Einmischung der Kirchen legiti- dem Fuß: Am 31. August verweigerten Gegenwirkung“ – ein Satz, der auf das mieren soll. die Grenzschutzbeamten dem Erzbischof Dritte Newtonsche Gesetz zurückgreift. Es ist offensichtlich: In den vergange- grundlos die Rückreise nach Belarus, ob- Erzpriester Vladimir wurde am 18. Sep- nen Monaten haben zentrale Themen wie wohl er belarussischer Staatsbürger ist. tember für zehn Tage inhaftiert, danach Freiheit, Solidarität, die Gleichberechti- Später wurde das damit begründet, dass aber nicht entlassen, sondern zu weiteren gung von Mann und Frau und grundle- sein Pass ungültig sei. Sehr viele Men- 15 Tagen Haft verurteilt. gende Werte mit dem Fokus auf der Wür- schen sehen darin unmittelbare Repres- Es sieht nicht danach aus, dass der de des Menschen in Belarus eine neue sionen der Regierung gegen die Kirche, Erzpriester sehr viel Unterstützung von Relevanz bekommen. Die christlichen die, immerhin, nicht still bleibt. der Kirchenhierarchie erhält: Schon am 1. Kirchen in Belarus, aber auch hier in Die Kirchen sind derzeit zivilgesell- August war er von seiner Diözese entlas- Deutschland, müssen ihre Perspektiven schaftlich sehr aktiv – und es ist klar, sen worden, offiziell aus disziplinarischen deutlich und transparent in den gesell- wo sie stehen: Gemeinsame Gebete Gründen. Er selbst vermutet, dass das schaftlichen Diskurs einbringen. So dass mit anschließenden Prozessionen in an seiner kritischen, hinterfragenden ihr Haus nicht am Rande stehen bleibt.

14 zeitzeichen 11/2020 Assistierter Suizid politik Foto: epd/Werner Krüper epd/Werner Foto: Den Willen respektieren Was das Karlsruher Sterbehilfeurteil für die Ethik in Pflegeheimen bedeutet

thomas mäule

Wie weit kann die Begleitung von ch mag nicht mehr!“, „Ich möchte ster- wohlwollend. Sind es Ängste, Einsam- sterbewilligen Menschen gehen? Vor Iben!“, „Ich wäre froh, es wäre endlich keits- und Sinnlosigkeitsgefühle, Schmer- dieser Frage stehen die Mitarbeitenden vorbei!“ Jede dieser Äußerungen formu- zen, Atemnot, Erstickungsangst? Ist es in Pflegeeinrichtungen, wenn liert den Sterbewunsch anders. Oft sind die zunehmende Pflegebedürftigkeit, die Worte nicht eindeutig, mit denen ein Therapiemüdigkeit und die Vorstellung, Bewohner den assistierten Suizid Mensch seine existenzielle Not im Mo- eine Last für andere zu sein? Welchen für sich in Erwägung ziehen. ment ausdrückt. Da geht es ums Hinhö- Weg die Gedankengänge nehmen werden, Die Evangelische Heimstiftung ren. Vor jedem Suizid(versuch) steht die ist im Moment der Erstäußerung selten in Stuttgart, Trägerin von 145 Sehnsucht, die Alltagswirklichkeit zu entschieden. Pflegeeinrichtungen, will ihrem überschreiten. „Wenn wir jemandem hel- Personal mit einem Positionspapier fen wollen“, so der Philosoph Søren Kier- Wichtiges Gut kegaard, „müssen wir zunächst herausfin- Orientierung bieten. Thomas Mäule, den, wo er steht. Das ist das Geheimnis Der gedachte „letzte Ausweg“ im Leiter der Stabsstelle Theologie und der Fürsorge.“ Das bedeutet, Menschen Sinne des assistierten Suizids ist – Er- Ethik der Heimstiftung, beschreibt die in ihren Wünschen, Nöten und Sorgen fahrung und Statistik zufolge – eher Hintergründe. zuzuhören. Urteilsfrei, aufmerksam und selten. Unsicherheit und die Suche nach

11/2020 zeitzeichen 15 politik Assistierter Suizid

Wegbegleitern sind häufig Beweggrün- „Selbstbestimmung (ist) immer nur Auf diese besonders vulnerable Si- de. Im Vordergrund steht das Bemühen, bedingt möglich und Autonomie (ist) tuation ist das Autonomiekonzept des Menschen in existenziellen Grenzsitua- immer nur relative Autonomie.“ Selbst- Gesetzgebers nicht abgestimmt. Das ist tionen zu verstehen. Sie so zu begleiten, bestimmung besteht aus einem komplex – mit Dietrich Korsch (zz 4/2020) – eine dass sie ermutigt und befähigt werden, verwobenen Netz verschiedener Fak- der Schwächen des Karlsruher Urteils. herauszufinden, was sie selber eigent- toren: soziale Beziehungen, persönliche Es lässt das persönliche Umfeld des Ster- lich wollen. Die Frage, wann es Zeit sein Befindlichkeiten, kulturelle und religiöse benden außer Acht. Die Angehörigen ge- könnte, sein Leben zu beschließen, kann Prägungen. Das Ich ist niemals bloß ein raten aus dem Blick. Abschied und Tod letztlich nur individuell beantwortet wer- einzelnes Ich, es besteht aus vielen „Ichs“ sind aber nicht nur für den Sterbenden den. Jedes Postulieren von Kriterien, die und vielen „Wirs“. Ein Bewohner ent- selber, sondern auch für dessen Angehö- für alle zu gelten haben, wäre anmaßend. scheidet nie „autark“. Seine Autonomie rige von einschneidender Bedeutung. Ih- Vielmehr geht es darum, in einer offenen ist immer relational. nen wird nicht nur die Entscheidung der und geduldigen Gesprächskultur eine Selbstbestimmung ist mehr als ein Sterbewilligen zugemutet, sondern auch subjektiv angemessene Antwort zu fin- völlig unabhängiges aktives Gestalten. die Erwartung, diese anzuerkennen. Eine den und diesen autonomen Willen klar Zu ihr kann auch die Fähigkeit gehören, vom Bewohner gewünschte gemeinschaft- zu kommunizieren. Dinge hinzunehmen und geschehen zu liche Entscheidungsfindung unter Einbe- Selbstbestimmung ist für alle Be- lassen. Sich bewusst gestalten lassen von zug von Angehören und Freunden ist zu wohner ein wichtiges Gut. Was aber ist Umständen, Situationen und Personen. respektieren. Autonomie am Lebensende? Selbstbe- Bewusst angenommene Abhängigkeit stimmung eröffnet nicht nur Gestaltungs- kann bedeuten, dass Menschen – gerade Nicht überfordern spielraum, es nimmt den Betroffenen auch im hohen Lebensalter – sich entschieden in die Pflicht. „Wie, wann und wo will ich haben, auf andere zu vertrauen. Und die- Selbstbestimmung darf nicht als sterben?“ Diese Fragen zu stellen und zu ses Vertrauen in die bestmögliche Lei- Überforderung empfunden werden. Die entscheiden bringt einen Freiheitsgewinn, denslinderung – durch andere Personen Evangelische Heimstiftung hat als großer aber auch eine Verantwortung mit sich, und Institutionen – eingelöst wissen. Altenhilfeträger ein Positionspapier (Link die gerade für hochbetagte Menschen in Überforderung münden kann. Die

Ein Bewohner entscheidet nie „autark“. Seine Autonomie ist immer relational.

mögliche Zumutung liegt nicht in der Fähigkeit, sich selbstständig ein Urteil zu bilden und zu kommunizieren. Sie ist existenzieller Natur – angesichts der völ- lig normalen menschlichen Ambivalenz gegenüber Sterben und Tod. Menschen können in Grenzsituationen geraten, in denen für sie nicht klar ist, was sie ei- gentlich wollen. Sie können im Tod den Freund und den Feind zugleich erblicken, ihn meiden und ersehnen. Für viele Hoch- altrige steht nicht (mehr) der Wunsch im Vordergrund, aktive Gestalter des eigenen Sterbens zu sein. Die meisten möchten in vertrauensvollen Beziehungen mit Arzt und Angehörigen gemeinsam abwägen und entscheiden.

Komplexes Netz

Selbstbestimmung geht weit über das Recht hinaus, den eigenen Todeszeit- punkt bestimmen zu können. Zu Recht betonen Jacob Joussen und Isolde Kar-

le in der Juni-Ausgabe von zeitzeichen: epd/Dethard Hilbig Foto:

16 zeitzeichen 11/2020 Assistierter Suizid politik

am Ende des Textes) vorgelegt, das die soll mich in den letzten Lebenstagen und Versorgung von unheilbar Kranken, ge- Wichtigkeit betont, Rahmenbedingungen Stunden begleiten? Von wem möchte ich hört – nach dem Hospiz- und Palliativ- zu schaffen, damit Autonomie sich mög- bewusst Abschied nehmen? Kann eine gesetz – zum Versorgungsauftrag in der lichst wirksam entfalten kann und beste- seelsorgliche Begleitung für mich von Altenhilfe. Die Heimstiftung versteht hende Selbstgestaltungskompetenzen Bedeutung sein? Wie lange sollen lebens- Suizidhilfe als Nothilfe im Einzelfall. möglichst lange erhalten bleiben – und erhaltende Maßnahmen aufrechterhalten Nämlich dann, wenn für den betreffenden seien diese noch so gering – und dass werden? Was ergibt sich daraus für meine Menschen jede andere zur Verfügung konkrete Wünsche und Werte respektiert jetzige Entscheidung? stehende Möglichkeit eine noch größere werden. Kritische und widersprüchliche Dem Urteil des Bundesverfassungs- Belastung bedeuten würde. Dieser Fall Problemlagen lassen sich in sogenannten gerichts zufolge soll jeder Mensch das kann aber immer nur ein Grenzfall sein. Ethischen Fallbesprechungen klären, ei- Recht und die Freiheit haben, am Ort sei- Das Positionspapier macht deutlich, dass ner Methode zur Entscheidungsfindung es nicht zur Aufgabe der Pflege gehört, in herausfordernden Situationen. Auch Die Heimstiftung von sich aus Suizidhilfe anzubieten und gesundheitliche Versorgungsplanungen versteht Suizidhilfe durchzuführen. können hilfreich sein, etwa die Erstellung „Niemand kann verpflichtet werden, einer Patientenverfügung, die als wert- als Nothilfe Suizidhilfe zu leisten“, betont zu Recht volle Möglichkeit zum Gespräch genutzt im Einzelfall. der evangelische Theologe Dietrich werden kann. Auf dem Weg zur Klarheit Korsch. Der Pflege darf nicht die Lösung können Bewohner sich Fragen stellen ner Wahl in Würde zu leben und zu ster- von Problemen übertragen werden, die in wie: Habe ich mein Leben so gelebt, dass ben. Zur Wahrung dieser Würde gehört den Verantwortungsbereich anderer fällt. ich lebenssatt geworden bin? Kann ich in das Recht, an der Ausübung der Selbst- Dazu gibt das Papier der Heimstiftung Dankbarkeit loslassen („abdanken“)? Was bestimmung nicht gehindert zu werden. eine klare Position vor und stärkt den konkret möchte ich noch erleben? Habe Dies gilt unabhängig davon, welche Ein- Mitarbeitenden den Rücken. ich Angst vor dem Tod oder Schmerzen, stellung zum Thema „assistierter Suizid“ Als Orientierung gilt: „Bleibt nach vor Atemnot oder anderen Leiden? Wer jeweils bei dem Träger, der Einrichtung sorgfältiger Information und Abklärung oder dem jeweiligen Mitarbeiter besteht. ein selbstbestimmter Wunsch nach Su- Nun können und dürfen „Menschenwür- izidhilfe bestehen, wird der Wille des de“ und „Selbstbestimmung“ nicht gleich- Betroffenen respektiert, auch wenn er gesetzt werden: als sei die Möglichkeit im Widerspruch zu den eigenen Werten eines assistierten Suizids das Mittel zum steht. Die Klärung der letzten Schritte Erhalt der Würde. erfolgt ausschließlich durch den Bewoh- Selbstbestimmung ist ein unverzicht- ner selbst. Der letzte Akt der zum Tod barer Aspekt der Menschenwürde. Eine führenden Handlung ist in jedem Fall alleinige Fokussierung auf Selbstbestim- durch die sterbewillige Person selbst mung und Autonomie birgt die Gefahr, durchzuführen.“ menschliche Würde von der Fähigkeit Im Grundverständnis der Heimstif- abhängig zu machen, über sein Leben tung hat jeder Mensch in jeder Lebens- selbstständig entscheiden zu können. phase einen eigenen Wert und eine eigene Würde. Im praktischen Handeln soll der Wert und Würde Bewohner durch die Art von Pflege und Begleitung erleben, dass er mit und trotz Genau das widerspricht dem Gedan- seiner Entscheidung wertvoll um seiner ken der unverlierbaren Würde. Die enge selbst willen ist. Er soll wissen, dass Leben Verbindung von Selbstbestimmung und bis zuletzt in der Einrichtung möglich ist. Selbsttötung kann dazu führen, dass der Auch im Zustand hochgradiger Verletz- Suizid als letzter Ausdruck menschlicher lichkeit behält das Leben seinen Wert und Autonomie gesehen wird. Eine solche seine Würde. Selbstbestimmung manife- Sicht verschleiert aber, dass Selbsttötung stiert sich nicht nur im assistierten Suizid, oft Ausdruck großer Einsamkeit und sondern auch im Entschluss, in bewusst tiefer Unfreiheit ist. Oder dass Suizid angenommener Abhängigkeit, bis zum als empfundene Pflicht zur „Entlastung“ letzten Atemzug zu leben. von Mitbetroffenen ins Auge gefasst wird. Nicht Suizidhilfe, sondern Pallia- tive Care, also die umfassende pflegende information Das Positionspapier der Heimstiftung ist Nicht Suizidhilfe, sondern palliative zu finden unter https://www.ev-heimstif- Pflege gehört zum Versorgungsauf- tung.de/fileadmin/default/Ueber-uns/Ethik/ trag in der Altenhilfe. Positionspapier_Assistierter_Suizid.pdf

11/2020 zeitzeichen 17 kurzinterview Zivilgesellschaft

Offene Räume Neue Studie: Wie sich evangelische Kirchengemeinden in der Zivilgesellschaft engagieren

zeitzeichen: Frau Dr. Rebenstorf: hilke rebenstorf: Zum einen ihr Hauptanliegen der von Ihnen durchge- spezifisches Menschenbild und der führten Studie „Überraschend offen“ ist, eigene Wertekanon. „Gesinnungs- die zivilgesellschaftlichen Aufgaben und organisationen“ wie Parteien oder Funktionen von Kirchengemeinden im So- Gewerkschaften haben ebenfalls ein zialraum aufzudecken. Welche Funktionen Anliegen, das wertegebunden ist. Die nehmen Kirchengemeinden wahr? Kirchen sind da spezieller Art, weil sie viele Mitglieder und Ressourcen hilke rebenstorf: Wir haben fünf haben, die aktiviert werden können, Funktionen identifiziert, die in Abhän- und weil sie überall präsent sind. gigkeit von den konkreten Sozialräu- men auftreten. Die Kompensations- Die parochiale Struktur der evangelischen

funktion, wenn es zum Beispiel auf Kirchen in Deutschland steht zunehmend privat Foto: dem Dorf keine Kneipe mehr gibt, in in der Kritik. Vor dem Hintergrund Ihrer der man sich nach einer Beerdigung Studie liest sie sich wie ein Vorteil. —­—­ zum Trauercafé treffen kann oder Ver- Hilke Rebenstorf arbeitet als eine zusammenkommen. Da öffnen hilke rebenstorf: Auf jeden Fall. wissenschaftliche Referentin am Kirchengemeinden ihre Räume. Die Bereits in der Studie „Freiraum und Sozialwissenschaftlichen Institut Integrationsfunktion ist altbekannt, Innovationsdruck“ zeigte sich das der EKD. Die Schwerpunkte der Gemeinden bringen unterschiedliche deutlich. Wenn nach allen anderen habilitierten Soziologin sind Kir- Menschen zusammen. Eine Herausfor- öffentlichen Einrichtungen auch noch chen- und Religionssoziologie. derung ist die Moderationsfunktion. die Kirche geht, empfinden das die Da, wo es Konflikte gibt, zum Beispiel Menschen als Verrat, auch wenn sie um eine Flüchtlingsunterkunft, den nicht gläubig sind. Sicherlich kann es de trifft. Diese Gemeinden darf man Moscheebau oder in der Stadtplanung. nicht überall das Vollangebot geben. nicht überfordern, indem man etwas Bei der Intervention greift die Gemein- Gerade in den Städten braucht es Mo- von ihnen verlangt, was schlechter- de tatsächlich in Debatten im Stadtteil delle der Zusammenarbeit. Aber mit dings nicht möglich ist. Wenn man ein. Und die Sozialisationsfunktion der Offenheit, den Räumlichkeiten, jedoch in einer Gegend lebt, in der nehmen alle zivilgesellschaftlichen mit den Initiativen und Kooperationen die Menschen es gewohnt sind, sich Gruppen wahr. Durch ihr Engagement im Sozialraum, der flächendeckenden einzumischen, werden diese das auch lernen die Leute, sich und Projekte zu Präsenz hat die evangelische Kirche ein in der Gemeinde und aus der Ge- organisieren, miteinander zu verhan- Alleinstellungsmerkmal. Das aufs Spiel meinde heraus tun. deln und Kompromisse zu schließen. zu setzen, wäre nach unseren Erkennt- nissen gefährlich. Was sind die Voraussetzungen, unter denen Wie werden die Kirchengemeinden von den sich evangelische Kirchengemeinden der anderen Akteuren wahrgenommen? Welche Rolle spielt das Umfeld beim zivil- Zivilgesellschaft öffnen? gesellschaftlichen Engagement der Kirchen- hilke rebenstorf: Gemeinden, die gemeinden? hilke rebenstorf: Wir unterscheiden offen sind und sich einbringen, wer- zwischen internen und externen Be- den je nach Umgebung in der Fremd- hilke rebenstorf: Das Umfeld sollte dingungen, letztere spiegeln sich im wahrnehmung unterschiedlich gese- man nicht unterschätzen. Das Paro- oben erwähntem Umfeld. Intern ist hen. Es kommt vor, dass das Religiöse chialprinzip bringt es mit sich, dass zum einen die Selbstwahrnehmung komplett übersehen wird. Es gibt aber Kirchenmitglieder und Ehrenamtliche der Gemeinde, also ihr Profil, von Be- auch Fälle, in denen das Engagement in einem bestimmten Quartier mit deutung. Sieht diese sich überhaupt als Ausdruck religiöser Authentizität eigenem Profil wohnen. Kirchen- als eine Organisation oder Akteurin verstanden wird. gemeinden sind Spiegel, die diese an, die mit der Außenwelt Kontakt Sozialräume abbilden. Deshalb kann haben sollte? Dahinter steht die Frage Das ist sicher ein Unterschied zu anderen man nicht erwarten, dass man in einer nach dem Verhältnis von Kirche und zivilgesellschaftlichen Gruppen. Gibt es Gegend, in der es kaum Aktivitäten Gesellschaft. Versteht sie sich als weitere? gibt, auf eine aktive Kirchengemein- ein Teil der Gesellschaft oder als ein

18 zeitzeichen 11/2020 kommentar

Gegenüber? Ferner ist die Organisa- tionslogik eine Grundvoraussetzung. In einer Bottom-up-Struktur trauen Wie lange noch? sich Leute eher, initiativ zu werden Rom verbietet wiederum gemeinsames Abendmahl und nach draußen zu gehen, als in der Top-down-Struktur. Es hängt davon ab, wie lebendig eine Gemeinde ist, reinhard mawick ob man sich regelmäßig begegnet, miteinander spricht. Wichtig ist, dass Bald sechzig Jahre ist es her, dass Jo- Jüngster Tiefpunkt: Die schroffe nicht alles an die Pfarrperson dele- hannes XXIII. das Zweite Vatikanische Ablehnung der geplanten einmaligen giert oder die Gemeinde von einem Konzil einberief, jenes Treffen voller eucharistischen Gastfreundschaft beim starken Vorsitzenden im Presbyte- Hoffnung, das von 1962 – 1965 die Ökumenischen Kirchentag (ÖRK) rium dominiert wird. Die Gruppen römisch-katholische Weltkirche wirk- 2021 und des bereits im Frühjahr sollten eigenverantwortlich arbeiten, lich reformieren wollte: veröffentlichten Papiers sich aber rückkoppeln. Sie sollte ankommen bei des Ökumenischen Eine weitere Voraussetzung sind die den Menschen in ihrer Arbeitskreises evange- Ressourcen der Kirchengemeinden. heutigen Lebenswirklich- lischer und katholischer Räume als Treffpunkt, ein Sekretariat, keit. Ein Konzil, auf dem Theologen seitens der technische Ausstattung, aktive Men- damals junge Theologen römischen Glaubens- schen. Wer nichts davon hat, ist in wie Joseph Ratzinger und kongregation. Dass sich seiner Relevanz beschränkt. Hans Küng beide noch als die Verantwortlichen progressiv galten. des ÖRK davon un- Wagen Sie noch einen Ausblick auf die Es gab Reformen, wenn beeindruckt zeigen, Konsequenzen, die eine zivilgesellschaftliche auch zunächst nur litur- ist löblich. Aber wie

Öffnung von Kirchengemeinden haben kann? gische, und bis Mitte der Foto: Rolf Zöllner soll es weitergehen mit 1970er-Jahre wuchs aller- dem Katholizismus in hilke rebenstorf: Nur so bleiben die orten das Gefühl: „Es geht weiter, das Deutschland? Horst Hirschler, ehe- Kirchengemeinden gesellschaftlich ist erst der Anfang, bald wird beispiels- mals Leitender Bischof der deutschen relevant. Wenn sie sich nicht öffnen, weise der Zölibat fallen.“ So hörte Lutheraner, schrieb Ende 2017 in werden sie an den Rand gedrängt. es jedenfalls der Autor dieser Zeilen zeitzeichen 2017/11: „(K)atholischerseits Die Menschen werden sie nur noch Mitte der 1980er-Jahre von einem cha- herrscht immer noch eine Substanz- als Betvereine wahrnehmen. Und da rismatischen Priester, der jedoch schon ontologie, während wir seit Luther auch die evangelische Kirche schauen damals nach einigen Jahren Pontifikat eine durchs Wort geprägte ,relationale muss, nicht noch mehr Mitglieder zu des konservativen Papstes Johannes Ontologie‘ haben.“ Dieser Gegensatz verlieren, muss sie attraktiv bleiben. Pauls II. erkennen musste: „Wir haben müsse aufs Sorgfältigste bedacht Das ist sie nicht, wenn sie sich in ihre uns getäuscht.“ werden, denn „wir benutzen dieselben Kirchenräume zurückzieht. Seitdem sind wieder mehr als drei Begriffe und meinen eine ganz andere Jahrzehnte vergangen: Auf 26 Jahre Wirklichkeit damit.“ Was hat Sie bei der Arbeit an Ihrer Studie Johannes Paul folgten acht Jahre Bene- In jüngster Zeit sind in Deutschland am meisten überrascht? dikt, und seit 2013, seit sieben Jahren, mit dem Synodalen Weg und Maria 2.0 ist nun Papst Franziskus im Amt. Ein reformhungrige Institutionen und hilke rebenstorf: Überrascht hat Papst, der – so die Legende – mit den Bewegungen entstanden. Doch was mich wirklich die Offenheit. Viele Worten „Der Karneval ist vorbei“ von genau wollen sie erreichen, wenn der Menschen scheuen sich ja zu sagen, Anfang an gegen das überkommene deutsche Episkopat in Gänze zu wirk- sie seien Christ oder gar gläubig, weil vatikanische Hofzeremoniell stritt und lichen Änderungen nicht bereit scheint sie fürchten, in Erklärungszwang zu der mit Einfachheit, Bescheidenheit und, selbst wenn es anders wäre, sowie- geraten. Die Offenheit und Unvorein- und Charisma viele Menschen in sei- so das „Njet“ aus Rom folgte? Zudem genommenheit der zivilgesellschaft- nen Bann zieht. „Nun aber muss sich verdichtet sich der Eindruck, dass der lichen Akteure haben mich in den doch endlich etwas bewegen“, dachten von Hirschler 2017 pointierte Gegen- Interviews überrascht. Ebenso, wie viele. Doch es geschah und geschieht satz im kirchlichen Seinsverständnis offen Kirchengemeinden dafür waren, … nichts. Jedenfalls nichts, was die zunehmend auch diese katholischen ihre Räume zu öffnen, auch für Diskus- seit dem Zweiten Vatikanum geweckte Reformaktivisten von der Glaubens- sionsveranstaltungen. Diese Bereit- Sehnsucht des ökumenisch engagierten kongregation und vom Papst trennt. So schaft, aufeinander zuzugehen, fand und sich zunehmend religiös autonom- drängt sich dem interessierten und ich außerordentlich beeindruckend. selbstbewusst verstehenden Teils des engagierten Beobachter die Frage auf: katholischen Kirchenvolks – zum Wie lange wollen die Reformhungrigen Das Gespräch führte Kathrin Jütte am Beispiel in Deutschland – ernsthaft noch in, mit und unter römischem 6. Oktober 2020. stillen könnte. Primat verharren?

11/2020 zeitzeichen 19 das projekt Systematische Theologie

Dreieinig schon im Alten Testament Stefanie Sippel zeigt, warum der Theologe Karl Barth die Judenmission ablehnte

Die Berliner Pfarrerin Stefanie Sippel (42) hat das Verhältnis des Jahrhunderttheologen Karl Barth zum Judentum untersucht. Ihre Doktorarbeit könnte auch den Umgang mit der umstrittenen Bewegung der „Messianischen Juden“ verändern.

it 16 Jahren ging ich ein Jahr lang Min den USA zur Schule. Meine Gastfamilie war in einer evangelikalen Gemeinde engagiert, die zu keiner De- nomination gehörte. Die Erfahrungen in den USA bewogen mich, Nordameri- kanistik zu studieren. Ich tat das an der Freien Universität (FU) in Berlin, weil das Fach dort breit angelegt war. So konn- te ich dort zum Beispiel ein Seminar über den Fundamentalismus belegen. Weil ich für den Magister Artium noch ein Fach brauchte, studierte ich an

der FU auch Theologie. Durch Profes- Zöllner Rolf Foto: sor Michael Weinrich, den Herausgeber von zeitzeichen, kam ich mit der Theo- auf den Grund gehen. Ich schrieb sie, als der erwählte Mensch. Mit ihm sind die logie Friedrich-Wilhelm Marquardts meine beiden Kinder im Bett lagen. Nach Juden schon vor der Schöpfung erwählt (1928 – 2002) in Berührung, der ja ein Theologiestudium an der Berliner Hum- worden. Und Nichtchristen haben einen wichtiger evangelischer Vertreter im boldt-Universität und Vikariat setzte ich Zugang zu diesem Gott durch den Juden christlich-jüdischen Dialog war. Nachdem die Arbeit an meiner Dissertation wäh- Jesus Christus. ich mein Studium an der FU mit einer rend des Pfarramts fort und beendete sie. Dass Barth den Gott, den das Alte Magisterarbeit über den Theologen Karl Die Hauptquelle für meine Arbeit war Testament bezeugt, mit dem dreieinigen Barth beendet hatte, begann ich mit einer die KD. Daneben habe ich in der Barth- gleichsetzt, den die Kirche bekennt, systematisch-theologischen Doktorarbeit. Gesamtausgabe gelesen, was er bei Verans- klingt vereinnahmend. Und der Ein- Sie ist jüngst unter dem Titel Die große taltungen zum Verhältnis von Judentum druck verstärkt sich, wenn Barth wünscht, Unmöglichkeit. Karl Barths Abweisung der und Christentum und zur Judenmission dass die Juden Jesus Christus als wahren Judenmission erschienen. gesagt hat. Für Barths Denken ist zentral, Mensch und wahren Gott anerkennen. Nach der Geburt meines ersten Kin- dass sich Gottes Gnade in Jesus Christus Aber im Laufe meiner Doktorarbeit habe des in der Elternzeit wollte ich an der ich gesehen, dass Barths Gedanken für Theologie dranbleiben und las Barths In Jesus Christus das Verhältnis von Juden und Christen großes Werk, die Kirchliche Dogmatik sind die Juden schon nachhaltiger sind als die Auffassung, (KD). Ich entdeckte: Barth lehnt einer- vor der Schöpfung dass Jesus Christus mit der Erwählung seits die Judenmission ab, also die Be- Israels nichts zu tun hat. Wenn der drei- mühung von Christen, dass sich Juden erwählt worden. einige Gott Israel schon vor der Schöp- taufen lassen und Kirchenmitglieder wer- fung in Jesus Christus erwählt und mit den. Denn Gott hat sich den Juden voll- offenbart. Und das heißt, für ihn gibt es ihm dann seinen Bund geschlossen hat, ständig offenbart. Andererseits wünscht keinen anderen Gott als den dreieinigen. gibt es nämlich keinen Grund, die Juden Barth, dass die Juden Jesus Christus als Dieser wird schon im Alten Testament zu missionieren und für den christlichen Gottes Sohn anerkennen. Dieser Span- bezeugt. Und er offenbart sich in Jesus Glauben und den Übertritt zur Kirche zu nung wollte ich in meiner Doktorarbeit Christus als der erwählende Gott und gewinnen.

20 zeitzeichen 11/2020 Systematische Theologie das projekt

In der „Gemeinde Unter der Rubrik die Juden nicht stärker als den „Messianischen Juden“, Menschen, Gottes“ haben Juden „Das Projekt“ berichten die Christen. Er sieht bei die Juden bleiben und zugleich Jesus als (auch diejenigen, die Wissenschaftlerinnen und beiden Glaubensdefizite, Messias anerkennen, ohne sich taufen zu keiner jüdischen Ge- Wissenschaftler in die für Menschen eben lassen und der Kirche beizutreten. Von meinde angehören) und zeitzeichen über ihre typisch sind. Barth aus kann man für sie mehr Ver- Christen unterschied- Forschungs­­­arbeiten. Für Barth handelt der ständnis aufbringen, als das in der Kirche liche Aufgaben. Sie sollen dreieinige Gott schon im der Fall ist. einander ein Zeugnis von Alten Testament. Auch das Barth geht davon aus, dass sich der Gott geben. Christen scheitern wirkt auf den ersten Blick wie historische Jesus als Gott verstanden hat, daran, begehen eine Sünde, weil sie es eine Vereinnahmung der Juden, die es obwohl das die Evangelien nicht ohne nicht aushalten, dass Juden von Gott in der Kirchengeschichte immer gege- Weiteres nahelegen. Hier zeigt sich, dass erwählt sind, und neigen daher zum An- ben hat. Aber das Gegenteil ist der Fall: Barth sehr dogmatisch denkt. Das prägt tijudaismus oder gar zum Antisemitismus Wenn der Gott, der sich in Jesus Christus sein Verständnis der Bibel stärker als die und lassen ihn auch außerhalb der Kirche offenbart, schon im Alten Testament be- historisch-kritische Methode. zu. Und Juden scheitern daran, begehen zeugt wird, erübrigen sich Diskussionen Barths Auffassung, dass schon vor der eine Sünde, weil sie zwar an Gott glau- und Versuche von christlichen Theologen, Schöpfung das Evangelium da war, die ben, aber nicht daran, dass Jesus Christus diesen Teil der Bibel zu relativieren oder Versöhnung Gottes mit dem Menschen, auferstanden und wahrer Mensch und gar aus dem Kanon zu entfernen. die sich in Kreuz und Auferstehung offen- wahrer Gott ist. Außerdem zeugt Barths Sicht von in- bart, empfinde ich als befreiend. Denn das Barth vertritt die Überzeugung, tellektueller Redlichkeit: Denn wer in der zeigt: Der Mensch wirkt an der Versöh- dass Gott die Juden, seinen „Augapfel“ Kirche Psalmen betet oder auf der Kan- nung nicht mit, sondern empfängt sie – (Sacharja 2, 12), mehr liebt als die Chris- zel ein Buch wie Jesaja auslegt, tut das ja als Gnade. ten. Aber die Christen haben im Unter- nicht von einem neutralen Standpunkt schied zu ihnen die Offenbarung Gottes aus oder gar als Jude, sondern als Christ, in Jesus Christus verstanden, dass in mit dem Glauben an Jesus Christus im Aufgezeichnet von Jürgen Wandel Kreuz und Auferstehung die Versöhnung Hinterkopf oder Herzen. Gottes mit den Menschen in besonderer Ich schätze an Barths differenzierter Weise sichtbar wird. Diese Sichtbarkeit Verhältnisbestimmung, dass sie die enge, literatur von Gottes Gnade übersehen die Juden unauflösliche Gemeinschaft von Juden Stefanie Sippel: Die große Unmöglichkeit. nach Barths Auffassung. Und so verste- und Christen betont – und gleichzeitig Karl Barths Abweisung der Judenmission. hen sie ihren eigenen Glauben nicht rich- über Unterschiede nicht hinweggeht. Ich Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Göttin- tig. Aber hier ist wichtig: Barth kritisiert sehe bei ihm auch Schnittmengen mit gen 2020, 253 Seiten, Euro 60,–.

Für Sie reingeschaut

zeichen

... ist die Zeitschrift der Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste (ASF). Sie erscheint dreimal im Jahr. Wer nicht Mitglied ist, kann sie gegen eine Spende von zehn Euro bekommen. Sühnezeichen schickt seit 1958 jedes Jahr rund hundert junge Frauen und Männer in Länder, die die hitlerdeutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg besetzt hatte oder wo Überlebende des NS-Terrors sonst leben. Die ASF-Freiwil- ligen sind ein Jahr lang in Gedenkstätten, jüdischen Gemeinden und sozialen Einrichtungen tätig. In jeder Ausgabe von zeichen berichten Freiwillige von ihrer Arbeit. In der jüngsten Ausgabe schildert eine junge Frau ihre Tätigkeit in einem Altersheim in Nordnorwegen, wo die Wehrmacht auf dem Rückzug „verbrannte Erde“ hinterließ. Und ein andere Freiwillige berichtet, was sie im Holocaustmuseum von Skokie im US-Bundesstaat Illinois tut. Schwerpunkt des Heftes ist das Thema Gender mit einem besonde- ren Fokus auf Lesben und Transfrauen.

Weitere Informationen: www.asf-ev.de

11/2020 zeitzeichen 21 theologie Calvinismus

Wo er auftrat, gab es Krach Vor hundert Jahren starb Abraham Kuyper, der Begründer des Neocalvinismus

hans-georg ulrichs

Er hatte zu Lebzeiten eine große Anhängerschaft und erbitterte Gegner, nach seinem Tod entwickelten seine Schüler ihre eigene Orthodoxie, doch galt er seit etwa fünfzig Jahren als überholt. In Deutschland wurde er von der reformierten Minderheit zu Lebzeiten bewundert. Hans-Georg Ulrichs, Kenner der Geschichte des reformierten Protestantismus, stellt den niederländischen Theologen und Politiker Abraham Kuyper vor, der am 8. November 1920 starb.

braham Kuyper, Ideengeber einer Achristlichen Demokratie in refor- mierter Tradition, gilt als „eine der be- merkenswertesten Persönlichkeiten in der christlichen Geschichte des 19. Jahr- hunderts“ – so Hugh McLeod in seiner bedeutenden globalen Christentumsge- schichte im Kapitel „Die Morgenröte der Demokratie“. Aber weder in den theolo- gischen und kirchlichen Kontexten noch in den politikwissenschaftlichen Dis- kursen Deutschlands ist Kuyper aktuell präsent. Nicht nur niederländischen Zeitge- nossen galt Abraham Kuyper um 1900 als bedeutendster und bekanntester Niederländer. Er war eine europäische Gestalt von Format. Sein Biogramm

Abraham Kuyper galt um 1900 als bedeutendster und bekanntester Niederländer.

liest sich fulminant: 1837 in einem kon- servativen Pfarrhaus geboren, erringt er mit dem Studium bereits einige akade- mische Erfolge. Der ersten Pfarrstelle im ländlichen Beesd mit beginnenden

Abraham Kuyper,

gezeichnet von Jan Veth. akg-images Foto:

22 zeitzeichen 11/2020 Calvinismus theologie

kirchlich-theologischen Profilierungen aus der Frühphase des niederländischen schließlich in den USA, habe die Freiheit (seit 1863) folgt ein Pfarramt in der Calvinismus. in allen Bereichen des Lebens gesiegt und Großstadt Utrecht mit wachsender auch Kuyper verstand sich als deren zu großartigem Fortgang geführt. politischer Prominenz (seit 1867). Sprachrohr, oder besser: Lautsprecher. Schließlich wird Kuyper in Amster- Einerseits verhalf er den bis dahin eher Pflicht zum Handeln dam (seit 1870) als Initiator einer kirch- unpolitischen reformierten Christen zu lichen und zivilgesellschaftlichen Be- politischer Partizipation und gesellschaft- Kuypers Gedankengang lässt sich, wegung weithin bekannt, nicht nur als licher Emanzipation, andererseits konnte vom Kopf auf die Füße gestellt, etwa so Pfarrer, Kirchenfunktionär und Theologe, er mit deren massiver Unterstützung eine zusammenfassen: Die Freiheit gelte für sondern gerade auch durch die öffentliche einzigartige politische Karriere verfolgen. alle Menschen und umfasse die Pflicht Wirksamkeit als konfessioneller Journa- Kuypers „Antirevolutionäre Partei“ ist die zum Handeln. Freiheit des Denkens und list einer Tages- und Wochenzeitung, als erste moderne Partei der Niederlande. Handelns finde ihre diese Prinzipien wah- politischer Fürsprecher für die gesell- „Antirevolutionär“ war das Prinzip seiner rende Form in der Demokratie, die keine schaftliche Emanzipation breiter Bevöl- ganzen Weltanschauung, sah er doch in Hierarchie kenne. Die Demokratie sei kerungsschichten, als spiritus rector einer der Französischen Revolution von 1789 gekennzeichnet von Pluralität und einem Universitätsgründung (Vrije Universiteit eine verhängnisvolle Selbstermächtigung Wettstreit der Meinungen. Dadurch sei Amsterdam 1880), als Parteigründer und des Menschen, der ohne Gott sein Maß die Souveränität im eigenen Lebenskreis Politiker, der nach mehreren Legislatur- verlöre. der gesellschaftlichen Gruppen – später perioden in Parlamenten und Kabinetten Kuyper ahnte bereits vor dem 20. durchaus missverstanden als Begründung bis auf den Stuhl des Premierministers Jahrhundert die Ambivalenzen der Auf- für die weltanschauliche „Versäulung“ der Niederlande gelangte (1901 – 1905). klärung. Kuypers öffentliches Wirken hat der niederländischen Gesellschaft oder Auch nach der für ihn enttäuschenden Jeroen Koch, der eine kritische Biografie gar für die südafrikanische Apartheid Wahl 1905 blieb Kuyper eine wahrnehm- aus einer Außenperspektive verfasst hat, – gesichert, die in den Sphären frei von bare öffentliche Person und wirkte poli- so pointiert: Wo Kuyper auftrat, gab es Bevormundung auch des Staates und tisch, gesellschaftlich und theologisch Krach. Kuyper trennte sich von frühen der Religionsinstitutionen agieren. Der weit in die kommenden Jahrzehnte des politischen Weggenossen, von Theolo- Staat habe sich selbst zu begrenzen, da 20. Jahrhunderts hinein, vor allem in den gen, die dann doch seinen Vorstellungen die Sphären über eine von Gott geschaf- Niederlanden und in den USA. Kuyper nicht entsprachen; im politisch-gesell- fene Eigenwürde verfügten. Das ganze starb 1920. schaftlichen Diskurs suchte er zumeist Abraham Kuyper begann seine Kar- grundsätzliche Differenzen auszuma- Kuyper argumentierte von der riere im kirchlichen Mainstream-Mili- chen und konnte Auseinandersetzungen Grundlage der Souveränität Gottes eu, entwickelte sich dann aber rasch zu journalistisch flankiert eskalieren lassen. einem Gegner der vorherrschenden „mo- Seine „Weltanschauung“ spitzte Kuy- hin zur Freiheit des Menschen. dernen“ Theologie, wobei er besonders per zu, um sie selbstbewusst in einer von scharf gegen die Elitenherrschaft bürger- ihm geforderten und geförderten plu- Leben, der ganze Kosmos sei von Gott licher Liberaler kämpfte, die in Gesell- ralen Demokratie vertreten zu können. geschaffen und deshalb auch der Ort sei- schaft, Staat und Kirche ihre Mehrheiten Sein Œuvre ist umfassend, manches, wie nes bewahrenden Handelns. Die Idee der zu sichern verstanden. Weder im Staat etwa seine späte Staatslehre, ist wenig re- „allgemeinen Gnade“ weiß Gott auch in noch in der Kirche gab es gleiche Wahl- zipiert, über Jahrzehnte hinweg hat er mit den Bezügen außerhalb der – christlichen rechte; auf der einen Seite war die große gedanklichen Modulen gearbeitet. Des- – Religion erfahrbar am Werk: Um Gottes Mehrheit der Bürger auf Grund des Zen- halb ist sein Gedankengebäude durchaus willen ist diese Welt kein verlorener Pla- suswahlrechts von politischer Partizipati- mit einer kleineren Schrift erfasst, näm- net. Kuypers Gottesbild ist geprägt von on ausgeschlossen, auf der anderen Seite lich mit den Stone lectures, die er 1898 in einer absoluten Souveränität Gottes. waren Frauen auch in der Kirche nicht Princeton gehalten hat – Amerika war Kuyper argumentierte von der Grund- stimmberechtigt. sein Sehnsuchtsort von Freiheit, Demo- lage der Souveränität Gottes hin zur Frei- kratie, Pluralität, Wettstreit von Welt- heit des Menschen, so wie es ganz ähnlich Ein Lautsprecher anschauungen und der Begegnung von auch der späte Karl Barth tun sollte. Er Menschen. ist geprägt vom konfessionstypischen Über Jahrzehnte ging der von Kuyper In diesen sechs Vorlesungen beschäf- „Aktivismus“ des reformierten Protestan- mit befeuerte Streit nicht zuletzt um die tigte er sich mit dem Beitrag des Calvinis- tismus, der die Welt gestalten will. Aber Frage konfessioneller Schulen, die von mus zu den jeweils eigenständigen „Sphä- Kuyper war eben so wenig wie etwa Karl den liberalen Eliten verhindert werden ren“ Religion, Politik, Wissenschaft und Barth der Orthodoxe, für den ihn manche sollten. Von kirchlich-gesellschaftlichen Kunst. In einem zeittypisch erhöhten Ton Zeitgenossen und manche späten Vereh- Opponenten für deren Arbeit gewonnen, zeigt er im großen historischen Entwick- rer gerne hielten. entwickelte Kuyper eine Idealvorstellung lungsbogen die modernisierende Kraft Kuyper war vielmehr ein Transformer der calvinistischen Niederlande und des Calvinismus auf. Wo der Calvinismus und Reformulierer reformierter Freiheits- benutzte für die Mobilisierung großer geherrscht habe, beginnend in Genf, dann traditionen, wie der nordamerikanische

Foto: akg-images Foto: Gruppen den Begriff der „kleinen Leute“ in den Niederlanden, in England und Rechtshistoriker John Witte in seinem

11/2020 zeitzeichen 23 theologie Calvinismus

Werk Reformation der Rechte ausführt. später sollte dann auch Barth pointiert Fehler von wenigen späteren Kuyperi- Trotz seiner anti-aufklärerischen und vom Zusammenhang der Souveränität anern schnell bei der Hand ist und man anti-liberalen Attitüden, die historisch Gottes und der Freiheit des Menschen sich diese Figur von historischem Format verstanden ohnehin emanzipativ gegen sprechen. eher auf Distanz halten will, nämlich den verhärtete Machtstrukturen intendiert In der zurückliegenden Generation theopolitischen Akteur, der früher als waren, erscheint Kuyper in manchem kam es zu einer deutlichen Verschiebung die meisten evangelischen Theologen ein moderner als Moderne und liberaler als in der Rezeption von Kuypers Erbe. Wur- überzeugter Demokrat und Republikaner Liberale. de das Jubiläum zum 150. Geburtstag gewesen ist und die staatliche Machtpo- Der Gottesgedanke ist für ihn der Kuypers 1987 noch nahezu ausschließ- litik wie auch das Recht des Stärkeren Garant dafür, dass weder Ideologen noch lich von einem kleiner werdenden Kreis verabscheute. Kuyper erinnert den protes- der Staat die Herrschaft über Menschen getreuer Adepten begangen, fasste man tantischen Mainstream seiner Zeit wie in erlangen dürfen. Der Calvinismus, so 1998 zum 100. Jubiläum der Stone lec- der Gegenwart daran, dass Theologie Kuyper, verstehe alle Menschen gleich tures auch innerhalb der Kuyper-Szene auch anders in gesellschaftlichen Bezügen unmittelbar zu Gott und Gott gleich al- den Mut, sich Kuyper kritisch zu nä- gedacht werden kann. len Menschen gegenüber. Daraus folge hern und produktiv weiterzudenken. einerseits, dass es keiner vermittelnden In vom niederländischen Calvinismus Befreiungstheologische Relektüren Instanz bedürfe, und andererseits, dass mitgeprägten Südafrika eigneten sich alle Menschen als gleich anzusehen seien. Befreiungstheologen den vermeintlichen Wer nun wird das Kuyper-Bild der Zu- „Aus diesem Grund verurteilt der Calvi- „Apartheidstheologen“ Kuyper an. Allan kunft malen? Gewiss weniger die Kuyper- nismus nicht nur alle Sklaverei und Kaste- Boesak bekannte von sich: „I am a spiritu- Orthodoxen als diejenigen, die befrei- neinteilung, sondern ebenso entschieden al child of the Abraham Kuyper who was ungstheologische Relektüren wagen. alle verdeckte Sklaverei der Frau und der clear that ‘as a man I stand, free and bold, Jeroen Kochs kritische Biografie hat Kuy- Armen, richtet sich gegen alle Hierarchie per den gruppenidentifikatorischen Fän- unter Menschen ... Darum musste der „Wer als Christ gen von orthodoxen Kuyperianern ent- Calvinismus konsequent in der demokra- in dieser Welt handeln wunden und hat dadurch bleibende tischen Auffassung des Lebens seinen Verdienste. Rechtzeitig zum diesjährigen Ausdruck finden, musste die Freiheit der will, lese Abraham Jubiläum ist in den Niederlanden mit Jo- Völker proklamieren und konnte nicht ru- Kuyper.“ han Snels Buch Die sieben Leben des Abra- hen, ehe von Obrigkeits wegen und im ge- ham Kuyper („De zeven levens van Abra- sellschaftlichen Leben jeder, der Mensch over against the most powerful of my fel- ham Kuyper“) eine frische Relektüre war, nur weil er Mensch war, d.h. als Ge- low men … in the sphere of the state I do gewagt worden. Er malt Kuyper als schil- schöpf, nach dem Bilde Gottes erschaffen, not yield or bow to anyone who is a man, lernde, umfassend gebildete Figur, der es geehrt, gezählt und gerechnet wurde.“ as I am.’” In den USA waren und sind es um Emanzipation und Befreiung der Während in den Niederlanden, in den nicht zuletzt Repräsentanten einer public Menschen und um den offenen Diskurs USA, in Südafrika und anderswo Kuyper theology, die in Kuyper einen ihrer frühen gegangen sei. Kuyper sei ein Ur-Demokrat rezipiert wurde, fand seine Weltanschau- Vorgänger sehen. Max Stackhouse gab gewesen. Von ihm ist in Kirche und Ge- ung in Deutschland kaum Beachtung. seinen Studierenden mit: „Wer Gott lo- sellschaft in für die Demokratie schwie- Zum einen beherrschten nur wenige die ben will, muss Karl Barth lesen. Aber wer rigen Zeiten durchaus zu lernen. niederländische Sprache; nur wenige als Christ in dieser Welt handeln will, lese Schriften, aber immerhin die Stone lec- Abraham Kuyper.“ Ein ganzes Milieu und tures, wurden ins Deutsche übersetzt. unterschwellig auch Teile der nordameri- Zum anderen gab es Übertragungsfehler. kanischen Gesellschaft sind von diesem Bei „Volk“ denkt Kuyper beispielsweise Gedankengut frommen Freiheitspathos’ literatur nicht an eine eigenständige schöpfungs- geprägt, wie die Liste der Träger und Jeroen Koch: Abraham Kuyper. Een bio- theologische Entität wie im deutschen Trägerinnen des „Kuyper-Prize“ zeigt, grafie, Amsterdam 2006. „Nationalprotestantismus“, sondern vor wo etwa die grandiose Schriftstellerin James D. Bratt: Abraham Kuyper. Mo- allem an die „kleinen Leute“, die um po- Marilynne Robinson neben christlichen dern Calvinist, Christian Democrat. litische Teilhabe streiten. Menschenrechtsaktivisten zu finden ist. Grand Rapids/M. 2013. Die bisherigen Aktivitäten zum Kuy- Hans-Georg Ulrichs: Abraham Kuyper Vergällte Freiheit per-Jahr 2020 leiden wie so Vieles unter als Ideologe des Calvinismus – neu gele- den Auswirkungen der Covid-19-Pande- sen, Bielefeld 2019. Deutsche Reformierte orientierten mie. Weltweit mussten Konferenzen ab- Johan Snel: De zeven levens van Abra- sich spätestens ab 1930 stark an Karl gesagt werden. Ein im September in Göt- ham Kuyper, Portret van een ongrijpbaar Barth, dessen frühe Sympathien für Ku- tingen stattgefundener Studientag stellte staatsman, Amsterdam 2020. yper sie nicht wahrnahmen, sondern ihm da schon eine Ausnahme dar. Gerade für Im Frühjahr 2021 erscheinen Abraham folgten, als niederländische, deutsche und deutsche Kontexte, wo Kuyper kaum Kuypers Stone lectures unter dem Titel Schweizer Kuyper-Anhänger ihm diesen studiert wurde, gilt, dass man mit Kritik Calvinismus neu ediert bei Vandenhoeck Theologen der Freiheit vergällten. Erst und mit einem Verweis auf offenkundige & Ruprecht in Göttingen.

24 zeitzeichen 11/2020 störfall

Warum kein Prinzessinnenkleid? Josef als Vorbild: vom Umgang mit geschlechtlicher Vielfalt in der Kirche klaus-peter lüdke

osefs Träume und Traumdeutungen Sind wir in einer heteronormativ ge- von Brüsten und Schoß! Die Segnungen Jsind Gottesgaben, an denen Josefs Ge- prägten Kirche bereit, sie so anzunehmen deines Vaters wuchsen an die Segnungen schwister keinen Gefallen finden. Sollten und zu lieben, wie sie sind? Sind wir Ra- der ewigen Berge, an die Lust der Welt- sie sich wie die Garben vor der Garbe hel- und Jakob-Menschen, die vielleicht zeit-Höhn – sie mögen sich senken auf Josefs verneigen oder wie Sonne, Mond um das Anderssein eines Josefs Haupt.“ und elf Sterne vor dem schillernden Stern Menschen Trauer empfin- Kein intergeschlechtli- Josef? Es geht selten gut, wenn sich ältere den, um dann doch ent- ches Kind, das männliche Geschwister und Eltern dem jüngeren schieden zu ihnen zu ste- und weibliche Körperan- Kind unterordnen sollen. Doch eine an- hen? Sind wir eine Kirche, teile in sich vereint, hat dere Gottesgabe macht ihnen noch mehr die verantwortungsvolle sich dafür entschieden. zu schaffen. Eltern darin unterstützt, Kein transidentes Kind, Josef, 17 Jahre alt, erlebt sich nicht zu ihrem intergeschlecht- dessen Gehirn sich in ei- als Junge, sondern als Mädchen. Die lichen, transidenten oder ner anderen geschlechtli- biblische Erzählung schildert das ein- queeren Kind zu stehen? chen Ausprägung entwi- drücklich. Josefs Vater fertigt seinem Haben wir den Mut, wie ckelt hat als der Rest des

17-jährigen Kind ein Kleid an. Beim „bun- Jakob und Rahel, Kinder Foto: privat Körpers, hat sich diese ten Rock“ in der Lutherbibel denken viele mit einer außergewöhn- Geschlechtsidentität aus- Predigende an farbenfrohe, orientalische lichen geschlechtlichen Identität an- gesucht. Wer sich keinem Geschlecht Kleidung. Doch im hebräischen Urtext zunehmen und als Gemeinde ein Ja zu zuordnen kann oder sich nur von Men- trägt Josef ein Ketonät Passim. Im 2. Buch dieser queeren Familie zum Ausdruck zu schen des gleichen Geschlechts angezo- Samuel 13,18f wird solch ein Ärmelkleid bringen? gen fühlt, hat sich nicht gegen den Willen näher beschrieben: „Solche Kleider tru- Während Gott ein Ja zu Josefs Trans- des Schöpfers dafür entschieden. Allen gen des Königs Töchter.“ Es ist identität gefunden hat, wurde Josef wurde ihre Geschlechtsidentität gegeben. ein Prinzessinnenkleid. Jakob ausgerechnet von seinen Ge- Die Josefs-Geschichte lehrt uns, Men- fertigt das Prinzessinnen- schwistern sexuell ge- schen mit jeder geschlechtlichen Identität kleid für Josef. demütigt, ausgezogen, anzunehmen, auch in der Kirchengemein- Ein Junge, der mit „Sprossender beinahe umgebracht, de. Es wäre schlimm, wenn es ihnen bei 17 Jahren Prinzes- Fruchtstock verkauft und ver- uns so erginge wie der 17-jährigen Josef sinnenkleider anzieht, am Quell, sklavt. Ich bewundere im Kreise ihrer Geschwister. Sie hatten ein Vater, der das aktiv Josef für ihre über- anfangs große Schwierigkeiten mit ihrer unterstützt, da geht es Tochtergespross menschliche Kraft, ih- transidenten Schwester. Gott aber führte um die außergewöhn- schwingt sich ren Geschwistern am sie über viele Jahre hinweg auf einen Weg liche Identität des Kin- mauerhinan.“ Ende versöhnlich ent- zur Annahme und Versöhnung. Es ist des, die von seinen Eltern gegenzutreten. Nach der höchste Zeit, dass auch wir uns voller gemeinsam anerkannt wird. glücklichen Zusammenfüh- Annahme und Respekt vor unseren Ge- Auch Josefs Mutter schenkt im rung Josefs mit ihrem alten Vater schwistern mit außergewöhnlicher Ge- Sternentraum ihrem Kind Ehrerbietung. Jakob, spricht dieser in 1. Mose 49 Josef schlechtsidentität und sexueller Orientie- Doch sie ist in biblischer Tradition ge- einen Segen zu, der über weite Strecken rung verneigen. paart mit Trauer: Rahel weint um ihre klingt, als sei er einer Frau zugesprochen. Kinder (Jeremia 31,15), sie weint um ihre Martin Buber und Franz Rosenzweig vergewaltigte Tochter Dina, weint über stellen sich in ihrer Übersetzung der bild- den Hass der Brüder, der sich gegen Josef lichen Umschreibung weiblicher Frucht- —­— wendet. Sie weint um ihr scheinbar um- barkeit, der weiblich-hügeligen Körper- Klaus-Peter Lüdke ist Pfarrer der Evan- gekommenes Kind, vielleicht aber auch landschaft und der Benennung Josefs als gelischen in Württemberg, schon zuvor um ihr Bild von Josef als Jun- eine der Töchter (Benot) Jakobs: „Spros- Vorstandsmitglied im Trans-Kinder- gen und jungen Mann, von dem sie sich sender Fruchtstock Josef, sprossender Netz e. V. und Autor: „Jesus liebt Trans*. aufgrund dessen weiblicher Transidentität Fruchtstock am Quell, Tochtergespross Transidentität in Familie und Kirchge- verabschieden musste. schwingt sich mauerhinan … Segnungen meinde“ ist 2020 in erweiterter Fassung Wie gehen wir mit Menschen im des Himmels von droben, Segnungen des auch auf Englisch erschienen: „Jesus Spektrum geschlechtlicher Vielfalt um? Wirbels, der drunten lagert, Segnungen Loves Trans*“ (Kindle).

11/2020 zeitzeichen 25 christoph fleischmann thomas klatt lilith becker Auf dem Weg Kontakt schwierig Wir zeigen Gesicht Die evangelischen Kirchen segelten Es ist als Journalist nicht leicht, Mitglieder des Betroffenenrates beim Thema Missbrauch lange bei Landeskirchen das Thema der EKD erzählen ihre Geschichte im katholischen Windschatten. Missbrauch zu recherchieren. und beharren auf Mitwirkung. Seite 28 Seite 31 Seite 34

26 zeitzeichen 11/2020 thema: missbrauch

Missbrauch und evangelische Kirche Vor zwei Jahren auf der EKD-Synode in Würzburg (Bild links)begann mit der Präsentation des Elf-Punkte-Plans die systematische Aufarbeitung von Missbrauch und sexualisierter Gewalt im Raum der evangelischen Kirche. Was wurde seitdem auf den Weg gebracht? Wie werden Betroffene mit einbezogen? Was bleibt noch zu tun? Und warum ist die evangelische Kirche auch als

Foto: epd/NorbertFoto: Neetz Institution schuldig geworden?

interview „Viele blinde Flecken“ Ein Gespräch mit Landesbischof Christoph Meyns über die Verantwortung der Kirche. Seite 41

11/2020 zeitzeichen 27 missbrauch Bilanz

Kirche kann es nicht allein Aufarbeitung von Missbrauch und sexualisierter Gewalt – eine erste Bilanz

christoph fleischmann Foto: Aufarbeitungskommission/Christine Fenzl Foto: Zwar sind die Augen der Öffentlichkeit beim Thema „Als Vertreterin der Kirche Schuld angenommen Missbrauch häufig zuerst auf die katholische Kirche und getragen“ – Bischöfin Kirsten Fehrs beim gerichtet, doch natürlich existiert das Problem auch bei den Hearing zu „Kirchen und ihre Aufarbeitung sexuellen Protestanten, und immer deutlicher wird das der EKD Kindesmissbrauchs“ im Juni 2018 in Berlin. und den Landeskirchen auch bewusst. Aber es ist noch ein Synode im November 2010, dass die Missbrauchsfälle eher eine weiter Weg, meint der Theologe und Journalist Frage in der katholischen Kirche gewesen seien „mit wenigen Christoph Fleischmann, der das Thema schon länger Fällen auch bei uns“. genau beobachtet. Das Hearing im Juni 2018 hatte viele produktive Folgen für die Evangelische Kirche: Es wurde ein Beauftragtenrat zum er Anstoß kam von außen – und er kam heftig. Das Hea- Schutz vor sexualisierter Gewalt auf EKD-Ebene gegründet, und Dring zu „Kirchen und ihre Aufarbeitung sexuellen Kindes- das Thema wurde im November 2018 auf der Synode behandelt: missbrauchs“ im Juni 2018, organisiert von der auf Bundestags- Kirsten Fehrs erzählte dort eindringlich von ihrer Erfahrung auf beschluss hin eingesetzten Unabhängigen Aufarbeitungskom- dem Hearing und sprach von der Schuld der Kirche: „Wir haben mission: Beide großen Kirchen waren geladen, und von Seiten uns gegenüber uns anvertrauten Menschen schuldig gemacht. der EKD wurde die Bischöfin der Nordkirche, Kirsten Fehrs, Auch als Institution. Weil wir ihnen den Schutz nicht gewährten, benannt, an dem Treffen teilzunehmen. Fehrs hat dort ange- den sie dringend brauchten.“ Ein Handlungsplan wurde auf der sichts der Fragen und des Zorns vieler Missbrauchsbetroffener Synode verabschiedet, der die Standards innerhalb der EKD zu angemessen reagiert: Sie hat, anders als ihr Gegenüber auf ka- dem Thema vereinheitlichen sollte. Außerdem wurde beschlos- tholischer Seite, Bischof Stephan Ackermann, Wut ausgehalten, sen, eine große wissenschaftliche Studie zur institutionellen Empathie gezeigt und weiteres Handeln der Kirche versprochen. Aufarbeitung der Missbrauchsfälle EKD-weit anzugehen. Theologisch könnte man sagen: Sie hat als Vertreterin der Kirche Aber das Hearing vom Juni hatte auch zwei Demütigungen Schuld angenommen und getragen. bereitgehalten für die Protestanten: Man stand in der Öffent- Was ihr persönlich überzeugender Auftritt aber nicht ver- lichkeit auf einmal schlechter da als die katholische Kirche – und decken konnte, war die Tatsache, dass die evangelische Kirche das beim Thema Missbrauch, das doch Fragen wie Zölibat, Hie- strukturell weniger vorzuweisen hatte als die katholische Kirche rarchie und Sexualmoral in der Kirche berührt; also Themen, bei in Deutschland: Es gab bis dato keine Missbrauchsbeauftrag- denen Protestanten stolz sind, dass sie hier deutlich aufgeklärter ten auf EKD-Ebene, es gab keine verlässlichen Zahlen zu Miss- und moderner unterwegs sind als die katholischen Glaubensge- brauchsfällen, geschweige denn eine wissenschaftliche Studie, schwister. diese zu ermitteln, und nicht einmal alle Landeskirchen hatten Genau diesen Stolz brachte der ehemalige Ratsvorsitzende eigene Präventionsbeauftragte. Die Landeskirchen waren auf der EKD, Wolfgang Huber, kurz vor der Synode 2018 in einem recht unterschiedlichem Stand bei den Themen Missbrauchsprä- Interview zum Ausdruck, wenn er mit dem Verweis auf die vention und Aufarbeitung. Auf EKD-Ebene war das Thema vor genannten Themen erklärte, dass das Problem sexueller Miss- allem aufgrund eines skandalösen Falles des EKD-Disziplinarge- brauch im evangelischen Bereich „nicht die gleiche Dramatik“ richtshofes aufgeschlagen: Die Synode von 2014 hatte daraufhin habe, weil es dort nicht dieselben strukturellen Voraussetzungen eine Änderung des Disziplinarrechtes beschlossen. für Missbrauch gebe wie in der katholischen Kirche. Als im Jahr 2010 eine Welle von Aufdeckungen von Miss- Diese Zuversicht, dass es mit Missbrauchsfällen im Protes- brauchsfällen durch die Republik ging, die auch evangelische tantismus nicht so schlimm stehe wie bei den Katholiken, ist Einrichtungen und Gemeinden betraf und unter anderem zum freilich empirisch bisher nicht erwiesen. Wenige Wochen vor Rücktritt von Bischöfin Maria Jepsen führte, tat man auf Seiten dem Interview mit Wolfgang Huber hatte die FAZ eine Unter- der EKD so, als sei sexueller Missbrauch vornehmlich ein ka- suchung des Ulmer Psychiaters und Missbrauchsforschers Jörg tholisches Problem. Die damalige Präses der Synode der EKD, Fegert bekannt gemacht. Bei einer zufälligen Bevölkerungsstich- Katrin Göring-Eckardt, erklärte in einem WDR-Interview zur probe war Missbrauch in evangelischen Einrichtungen genauso

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häufig berichtet worden wie Missbrauchserfahrungen im katho- Zwei Dinge konnte man in den vergangenen Jahren bei der lischen Kontext. Hochgerechnet hätten demnach über 100 000 katholischen Kirche lernen: Eine Institution kann das eigene Menschen in Deutschland in der näheren oder ferneren Vergan- Versagen nicht selbst rückhaltlos aufklären; dafür braucht es ex- genheit Missbrauch in evangelischen Einrichtungen erlebt. So terne Fachleute mit Zugriff auf alle verfügbaren Informationen. lange keine valideren Zahlen zur Verfügung stehen, sollte man Und: Eine wissenschaftliche Untersuchung ist noch keine Auf- also nicht von einer anderen „Dramatik“ oder Häufigkeit von arbeitung. Aufarbeitung bedeutet, dass Missbrauchsbetroffene Missbrauch im evangelischen Bereich ausgehen. die Informationen bekommen, die für sie wichtig sind, um ihre Die andere Demütigung, die das Hearing 2018 bereithielt, Geschichte und deren Hintergründe zu verstehen. Und dass sich war die Tatsache, dass mit der Unabhängigen Aufarbeitungs- die Institution für ihr Versagen in irgendeiner Form verantwortet. kommission eine staatliche Stelle der Kirche mit einem gewissen Dafür braucht es nicht nur weisungsungebundene Kommissi- Nachdruck Handlungsempfehlungen zum Thema Missbrauch- onen, wie sie die Gewaltschutzrichtlinie vorsieht, sondern eine saufarbeitung machte. Solche politischen Empfehlungen oder gar Vorgaben des Staates an die Kirchen sind im Staat-Kirche- Eine Institution kann nicht alleine aufklären, sondern Verhältnis der Bundesrepublik eher ungewöhnlich. Und im braucht immer externe Hilfe. Protestantismus fehlen wohl auch Kategorien, eine staatliche Kontrollfunktion gegenüber der Kirche positiv zu würdigen: institutionell und personell unabhängige Stelle, die auch das Viele Theologinnen und Theologen gehen davon aus, dass die Recht zu Nachforschungen hat, die also nicht nur, wie es die Kirche ein Wächteramt gegenüber dem Staat habe, das sie immer EKD-Richtlinie reichlich paternalistisch beschreibt, „auf Wunsch dann ausübe, wenn der Staat grundlegende Standards der Hu- Betroffener Gespräche führt, ihre Erfahrungen und Geschichte manität zu verlassen droht. Dass es auch umgekehrt sein könnte, würdigt und Leistungen für erlittenes Unrecht zuspricht“. dass auch der Staat dem kirchlichen Rad in die Speichen fallen Kerstin Claus, eine von Missbrauch in der evangelischen Kir- könnte und müsste, weil die Kirche Menschen nicht gerecht che Betroffene, hat die Herausforderung der Aufarbeitung bei wird, das kommt in der protes-tantischen Selbstwahrnehmung ihrer Rede auf der EKD-Synode 2019 in Dresden so beschrie- wohl schlicht nicht vor. ben: „Sie werden merken, dass Sie einen Wesenskern aufgeben müssen, der kirchliche Arbeit immer wieder prägt: Sie werden Ein gewisser Druck

Vielleicht erklärt das auch die Kommunikationsblockaden, die zwischen dem Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM), Johannes-Wilhelm Rö- Auslandsdienst in Istanbul / Türkei rig, und der EKD-Spitze im Juni dieses Jahres offenbar gewor- Für die Evangelische Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei in Istanbul sucht den sind: Ein letter of intent des EKD-Bevollmächtigten Martin die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) zum 1. August 2021 für die Dauer von Dutzmann zeigte, dass es wohl einen gewissen Druck von Seiten zunächst 6 Jahren eine*n Pfarrer*in / ein Pfarrpaar. des UBSKM gegeben hatte. Denn überraschend erklärte sich Sie finden Informationen über die Gemeinde unter: www.evkituerkei.org die EKD bereit, nun doch zeitnah über unabhängige Aufarbei- Die Evangelische Gemeinde deutscher Sprache in der Türkei ist über 175 Jahre alt. Kaufleute, tungskommissionen zu verhandeln, obwohl das bisher auf der die aus Deutschland nach Konstantinopel gekommen waren, gründeten hier im Jahr 1843 eine Evangelische Gemeinde. Von Anfang an engagierte sich diese auf dem Gebiet der kirchlichen Agenda für die Zeit nach Beendigung einer großen Sozialarbeit. Bis heute liegt das Zentrum der Gemeinde mit der Kirche in Beyoglu, Istanbul. wissenschaftlichen Studie angesetzt war. Im Sinne der Kirchengemeinde erwarten wir: Dass sich Rörig hier durchgesetzt hat, ist ein Segen für die . Pastoralen Dienst in Istanbul und Ankara . Stärkung der Mitgliedsbindung und Förderung des Gemeindeaufbaus Kirche, denn die unabhängige Aufarbeitung vor Ort ist ein De- . Zusammenarbeit mit den deutschen Schulen am Ort, inkl. Erteilung von Religions- und Ethikunterricht siderat in den vielfältigen Maßnahmen, die die EKD in Folge . Pflege der ökumenischen Beziehungen zu den einheimischen und ausländischen Kirchen der Synode von 2018 angestoßen hat. Die von der Kirchen- und Gemeinden, Betreuung von Besuchergruppen und politischen Delegationen . Zusammenarbeit mit den deutschen Auslandsvertretungen (Botschaft und General- konferenz erarbeitete und vom Rat der EKD im Oktober 2019 konsulate) sowie Kulturmittlern (Goethe-Institut, Deutsches Archäologisches Institut, beschlossene Gewaltschutzrichtlinie ist in rekordverdächtigem politische Stiftungen u. a.) . Sehr gute englische Sprachkenntnisse; Kenntnisse der türkischen Sprache sind von Vorteil Tempo in weniger als einem Jahr entstanden: Auch wenn eine (ein von der EKD finanzierter Intensivkurs in Türkisch wird vor Dienstbeginn angeboten) Richtlinie von den einzelnen Landeskirchen mit Anpassungen Gesucht wird ein*e Pfarrer*in / ein Pfarrpaar mit 1. und 2. theologischem Examen und mit öffentlich-rechtlicher Anstellung in einer der Gliedkirchen der EKD sowie mehrjähriger umgesetzt werden kann, also in ihrem Wortlaut nicht verbindlich Erfahrung in der Leitung eines Gemeindepfarramtes. Die Besoldung richtet sich nach den ist, sollen damit eine gewisse Vereinheitlichung von Präventi- Bestimmungen der EKD. Ausschreibungsunterlagen und ausführliche Informationen erhalten Sie online unter: onsmaßnahmen und Interventionsstandards und die Zahlung www.ekd.de/auslandspfarrstellen von Anerkennungsleistungen erreicht werden. Aber tatsächlich Für weitere Informationen stehen Ihnen OKR Martin Pühn (Tel. 0511/2796-234, martin.puehn@ kommt der Punkt der Aufarbeitung dort zu kurz. In der Gewalt- ekd.de) sowie Frau Birgit Schmidt (Tel. 0511/2796-226, [email protected]) zur Verfügung. schutzrichtlinie heißt es schlicht: Einrichtungsleitungen sollen Ihre Bewerbung richten Sie bitte bis zum 30. November 2020 an: Evangelische Kirche in Deutschland für ihren Bereich „Ursachen, Geschichte und Folgen sexualisier- Kirchenamt der EKD / HA IV Postfach 21 02 20, 30402 Hannover ter Gewalt aufarbeiten, wenn das Ausmaß des Unrechts durch E-Mail: [email protected] Mitarbeitende dazu Anlass bietet“.

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Ihre Deutungshoheit aufgeben müssen. Stattdessen werden Sie gendliche vorbereitet. So lange aber diese Studie nicht vorliegt, sich tatsächlich auf die vielfältigen Perspektiven Betroffener ein- sollte niemand die Probleme unterschätzen. lassen müssen.“ Wenn Betroffene nicht nur unverbindlich gehört Sexueller Missbrauch hat in der evangelischen Kirche sicher werden, sondern mitentscheiden dürfen, fällt Kirche aus der Pre- ein anderes Gesicht als in der katholischen, aber er ist nicht weni- diger- und Helfer-Rolle: Dann kommt es darauf an, diejenigen ger „dramatisch“: Auch wenn evangelische Pfarrpersonen theolo- zu hören und sich zu ihnen in ein Verhältnis zu setzen, denen gisch nicht kategorial von Laien unterschieden sind, hatten und von der eigenen Institution Unrecht getan wurde. Damit verwies haben sie oft noch eine dem katholischen Priester vergleichbare Claus zugleich auf ein zweites Versäumnis: Die Gewaltschutz- Autorität und Machtstellung vor Ort; vielleicht haben offene richtlinie hat, anders als das Modell der Aufarbeitungskommis- und „moderne“ Pfarrer die sogar mehr als konservative Priester. sionen von Rörig, nirgends eine verbindliche Beteiligung von Auch ohne katholisches Kirchenrecht schützt das Beamten- Betroffenen geregelt. Der Betroffenenbeirat auf EKD-Ebene, Dienstrecht die Pfarrpersonen und hat oftmals eine adäquate der im September dieses Jahres zum ersten Mal zusammentrat, Ahndung von Missbrauchsfällen verhindert. Auch ohne die kann das nicht für alle Landeskirchen ersetzen. enge Bindung von Bischof und Priester haben im evangelischen Die große wissenschaftliche Studie, die nun auf den Weg Bereich Kumpanei unter Amtsgeschwis-tern und billige Gnade gebracht worden ist, ist hilfreich und notwendig, um die spezi- die Verfolgung von Missbrauchstaten verhindert. fisch protestantischen Strukturen und Bedingungen von Miss- brauch schärfer zu erkennen. Leider wird sie keine Hell-Zahl Schwarze Pädagogik aller möglichen Missbrauchsopfer ermitteln, wie es die MHG- Studie der katholischen Kirche (wenn auch unvollständig) getan In den Heimen der Diakonie herrschte auch ohne katholische hat. Jede Zahl, die sich aus Akten und möglichen anderen Infor- Sexualmoral dieselbe schwarze Pädagogik wie in Ordenseinrich- mationen ermitteln lässt, ist zu niedrig, aber dennoch ist eine tungen, die pädosexuelle Übergriffe erleichterte. Und statt des belegbare Zahl als Mindestgröße des Grauens nicht unwichtig: Zölibats hatten die Protestanten in ihr Bild des Pfarrers inte- Sie kann verhindern, dass das Problem unterschätzt wird. Die griert, dass der unter den Mädchen seiner ersten Gemeinde derzeit (Anfang Oktober) von der EKD mitgeteilte Zahl von seine Ehefrau findet: So lange die Braut bei der Heirat 18 Jahre 869 Menschen, die sich bei den sogenannten Unabhängigen oder älter war, fragte keiner, was davor geschah. Und statt des Zölibats haben evangelische Pfarrer – horribile dictu – oftmals Die aktuell ermittelte Zahl der Betroffenen eigene Kinder: Auch die Pfarrfamilie kann zum Ort des Grauens ist ungeeignet, die Dimension einzuschätzen. werden. Und last but not least: Auch wenn die Protestanten theolo- Kommissionen gemeldet und um Anerkennung ihres Leides gisch ein anderes Verständnis von der „heiligen Kirche“ haben, nachgesucht haben, ist völlig ungeeignet, die Dimension des haben sie oftmals genauso wie in der katholischen Kirche die Phänomens Missbrauch einzuschätzen. Sie erlaubt aber Vielen Verbrechen „diskret“ behandelt, um den Ruf der Institution in der evangelischen Kirche die Illusion, es sei vielleicht nicht nicht zu gefährden. Nein, es besteht wahrlich kein Grund zu so schlimm wie bei den Katholiken. irgendeiner Überheblichkeit. In der Tat soll es auch eine neue große Dunkelfeldstudie ge- So bleibt ein Schatten über allen Beteuerungen, dass man das ben, weil die erwähnte Studie von Jörg Fegert einen zu kleinen Thema Missbrauch in der evangelischen Kirche endlich ernst Kreis an befragten Probanden hatte, so dass eine gewisse Un- nehme und es oben bei den Kirchenleitungen angekommen sei. schärfe in den Ergebnissen möglich ist. Die neue Dunkelfeld- Geht es am Ende auch wieder darum, das Ansehen der Institu- studie wird gemeinsam mit anderen gesellschaftlichen Gruppen tion zu retten? Dabei wissen Protestanten, dass die Kirche nicht im Nationalen Rat gegen sexuelle Gewalt gegen Kinder und Ju- perfekt ist und auch nicht sein muss, so wenig wie die einzelnen Gläubigen. Dies Wissen sollte es allen zum Thema Engagierten ermöglichen, Hilfe von außen anzunehmen. Ohne diese Hilfe wird eine Aufarbeitung institutioneller Schuld nicht gelingen. Ja mehr noch: Protestanten glauben, dass das Heil „extra nos“, von außerhalb ihrer selbst, zu ihnen kommt. Wenn man das ernst nimmt, dann wären all die Missbrauchs- überlebenden, die sich überhaupt noch an Kirche wenden, auch und gerade mit ihren hartnäckigen Forderungen nach Aufklä- rung und Gerechtigkeit, ein Segen für die Kirche. Vielleicht kommt Gottes Segen auch durch Katholiken, die in manchen Dingen schon weiter sind in der Missbrauchs-Aufarbeitung, oder in Form eines staatlichen Missbrauchsbeauftragten, wie sich ja auch das Hearing der Aufarbeitungskommission bereits als Segen erwiesen hat. Die evangelische Kirche wird es jeden- falls allein nicht schaffen.

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Von außen nachgefragt Missbrauch und evangelische Kirche – eine mühsame Recherche thomas klatt

Der Berliner Journalist Thomas Klatt hatte fen – handeln“, eine Initiative der evangelischen Gliedkirchen den Auftrag, den Stand der Aufarbeitung und die und der Diakonie gegen sexualisierte Gewalt, der Elf-Punkte- strukturelle Aufstellung der EKD und verschiedener Handlungsplan der EKD zur systematischen Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt, das „Ergänzende Hilfesy- Landeskirchen in Sachen sexueller Missbrauch stem im institutionellen Bereich“, „Arbeitshilfen, Broschüren als Medienvertreter abzufragen. Seine Bilanz fällt und weitere Materialien“, die Vereinbarung zur Umsetzung zwiespältig aus. der Empfehlungen des Runden Tisches Sexueller Kindesmiss- brauch mit dem Unabhängigen Beauftragten der Bundesregie- ls der Autor für diese Recherche angefragt wurde, ahnte rung von 2016. Dann aktuelle Pressemitteilungen: „Die Evan- Aer, dass es in Sachen Transparenz und Vergleichbarkeit zu gelische Kirche in Deutschland (EKD) beschließt umfassende Unklarheiten kommen wird. Wurden doch alle evangelischen Aufarbeitungsstudie“ oder „EKD setzt Schritte zu Aufarbei- Landeskirchen von ihm nicht zum ersten Mal angefragt, wie tung und Prävention von Fällen sexualisierter Gewalt fort“. sie mit sexuellem Missbrauch in den eigenen Reihen umgehen. Die Summe beeindruckt. Gibt es klar erreichbare Ansprechpersonen? Wie viele Fälle wurden gemeldet? Wie ist das Thema über den Webauftritt Katholiken in Vorreiterolle der Kirchen oder durch andere Kommunikationsmaßnahmen positioniert? Erneut antworteten nur wenige landeskirchliche Immer wieder wird von hohen Kirchenvertretern betont, Pressestellen direkt, die meisten verwiesen auf die EKD, die in wie wichtig bei der Aufklärung auch die kritische Begleitung Sachen Missbrauch offensichtlich die Kommunikationshoheit und das Korrektiv der Medien sei. Da wäre vielleicht eine zu- behalten möchte. sätzliche Internet-Kachel „EKD in der Presse“ oder „EKD in Was von außen recherchierbar ist, sind die Webauftritte der Kritik“ wünschenswert. Dann nämlich würden Interessier- der EKD und der Landeskirchen. Eine vergleichende Stichpro- te und erst recht Hilfesuchende erfahren, dass der Unabhän- be Mitte September. Fast schon vorbildlich zu nennen: www. gige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs ekd.de. Auf der Startseite wird leicht auffindbar die Kachel (UBSKM), Johannes-Wilhelm Rörig, das EKD-Engagement „Prävention. Aktiv gegen sexualisierte Gewalt“ angeboten: nicht für optimal hält. Denn die Katholische Kirche unter- „Die evangelischen Landeskirchen sind sich ihrer Verantwor- schrieb schon Mitte 2020 eine „Gemeinsame Erklärung über tung bewusst, wirksame Maßnahmen zur Prävention und In- verbindliche Kriterien und Standards für eine unabhängige tervention bei sexualisierter Gewalt durch kirchliche Mitarbei- Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch“. terinnen und Mitarbeiter zu ergreifen.“ Die Evangelische Kirche konnte sich zu diesem Zeitpunkt Weiter geht es mit schnell zu findenden Informationen nur zu einem „letter of intent“ durchringen, und das auch nur, über Prävention – Intervention – Hilfe: Aktiv gegen sexu- weil Betroffene und der Beauftragte Druck machten. In Bezug alisierte Gewalt. Dann der „Bericht des Beauftragtenrates auf die unabhängige Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“ und die „Zentrale An- sei die Katholische Kirche in Deutschland anders als die Evan- laufstelle help“. Hierzu erläutert die EKD-Pressestelle: „Die gelische in einer Vorreiterrolle, kritisierte Rörig deutlich. Und: kostenlose Beratung ist unabhängig, anonym und unterliegt Es sei nicht klar, ob wirklich alle Landeskirchen die Aufarbei- der Schweigepflicht. In den vergangenen zwölf Monaten er- tung im gleichen Maß wollten. reichten die „Zentrale Anlaufstelle.help“ über 500 Anrufe. Da- Auch bei der EKD-zentralen Anlaufstelle help gibt es Kri- von waren bislang circa 13 Prozent klar zuzuordnen als Anrufe tik, etwa von Kerstin Claus, evangelisches Mitglied im Betrof- von betroffenen Menschen aus dem evangelischen und diako- fenenrat beim UBSKM. Sie findet allein schon den Titel an- nischen Kontext, viele Anrufe erfolgten von generell Ratsu- maßend, weil sie nicht wüsste, wem hier geholfen werde, den chenden und Interessierten“. Betroffenen oder der Kirche, dass sie endlich eine Anlaufstelle Weiter geht es auf www.ekd.de mit „Ansprechpersonen für vorweisen könne. Wer sich an die EKD-Anlaufstelle wende, Missbrauchsopfer“, „Fachstelle Sexualisierte Gewalt“, „Evan- stehe in der Gefahr, überrumpelt zu werden, weil man letzt- gelische Beratungsstelle Diakaonie“ (Rechtschreibfehler auf endlich wieder auf die kirchlichen Strukturen verwiesen werde der EKD-Seite!), „Hilfetelefon Sexueller Missbrauch“, „Be- und nicht in der außerkirchlichen Begleitung bleiben könne. troffenenbeirat“, „Beauftragtenrat zum Schutz vor sexualisier- Zu der nun groß angekündigten Studie kritisiert Claus, dass ter Gewalt“, ein Link zum Unabhängigen Beauftragten der erste Ergebnisse frühestens in drei Jahren vorlägen, aber den Bundesregierung Johannes-Wilhelm Rörig, „hinschauen – hel- heute Betroffenen nicht helfen würden. Solche vielleicht auch

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konstruktiv zu verstehende Kritik sucht man auf www.ekd.de garantiert, dass mein Vertrauensvorschuss nicht nach hinten vergebens. losgeht? Kerstin Claus zumindest weiß über solche Fälle zu Fast schon dramatisch bis peinlich in Sachen Missbrauch berichten. Weiter geht es bei www.ekbo.de mit Links etwa zum muss man jedoch den Webauftritt mancher Landeskirchen UBSKM oder zum bundesweiten Präventionsnetzwerk „Kein nennen: In der Kirchengemeinde Ahrensburg nördlich von Täter werden!“, das bundesweite Hilfetelefon Sexueller Miss- Hamburg wurde vor zehn Jahren erstmals auch im evange- brauch und EKD-help! Ein Mischmasch aus kircheninternen lischen Bereich der sexuelle Missbrauch an Kindern und Ju- und -externen Beratungsangeboten, der für Betroffene unter gendlichen ruchbar. Darüber stürzte die damalige Hambur- Umständen schwer zu durchschauen ist. ger Bischöfin Maria Jepsen. Ihre Nachfolgerin Kerstin Fehrs setzte sich seitdem an die Spitze der protestantischen Aufklä- Nicht durchsichtig rung. Doch gerade auf www.nordkirche.de finden sich erstaunli- cherweise beim ersten Aufruf keine direkten Hinweise auf das Ähnlich sieht es auch auf den Webseiten anderer Landes- Thema. kirchen aus: Die hessisch-nassauische Seite www.ekhn.de bietet Gibt man die Suchbegriffe „Gewalt Sex“ ein, kommen zu- neben Präventionsbroschüren und Infomaterialien Ansprech- erst Artikel über die Gefährdung junger Frauen und Mädchen partner in der Kirchenverwaltung sowie regionale in den jewei- bei Naturkatastrophen oder „Drei Fragen an eine bloggende ligen Dekanaten an. Auch hier ist nicht durchsichtig, worin die Pastorin“. Erst an Position acht tröpfeln erste Informationen: Unabhängigkeit besteht. Kurhessen-Waldeck (www.Ekkw.de) „EKD richtet Ansprechstelle für Betroffene sexualisierter verweist neben den landeskirchlich regionalen Stellen, in der Gewalt ein“, und Position zehn: „Nordkirche führt Gesetz Regel psychologische Beratungsstellen diakonischer Werke, auch auf profane Beratungsangebote hin, etwa pro familia, Beim Suchbegriff „Gewalt Sex“ Opfer- und Zeugenhilfe Kassel oder Wildwasser Marburg. kommen „Drei Fragen an eine bloggende Pastorin“. Zudem wird seelsorglicher Beistand angeboten. Die Evangelische Kirche im Rheinland nennt als Ansprech- gegen sexualisierte Gewalt ein“. Top-Themen werden anders stelle die Evangelische Hauptstelle für Familien- und Lebens- behandelt. Dabei schreibt die EKD-Pressestelle: „Betroffene beratung und empfiehlt die Lektüre „Die Zeit heilt keineswegs (können sich, T. K.) für eine Erstberatung auch an die Unab- alle Wunden“ mit weiteren Beratungs-Links etwa zur EKD, hängige Ansprechstelle (UNA) wenden, betrieben von der kir- und bei www.landeskirche-schaumburg-lippe.de kann man sich chen-externen Fachberatungsstelle Wendepunkt e. V.“ – nur neben Hilfshinweisen und kircheninternen Ansprechpartnern muss man die erst mal finden. immerhin den 52-minütigen Vortrag von Bischöfin Kerstin www.Lippische-landeskirche.de bringt es sogar fertig, gar Fehrs auf der EKD-Synode 2019 ansehen. Auf www.landeskir- nicht auf das Thema einzugehen. Mangels Suchfunktion che-braunschweig.de wiederum findet man dagegen eine einzige kann auch nicht danach gesucht werden. www.Ekbo.de ist auf Pfarrerin als Ansprechpartnerin. den ersten Blick besser aufgestellt. Unter „Seelsorge – Hilfe Die mitteldeutsche Kirche hält auf www.ekmd.de ein An- bei Missbrauch und Missbrauchsverdacht“ zeigt Berlin-Bran- tragsformular auf Hilfeleistungen vor. Als Beraterin wird eine denburg-schlesische Oberlausitz als einzige Landeskirche ein emotionales Ansprechvideo der zuständigen Generalsuperin- tendentin: „Wir bringen jeden Fall zur Anzeige, wir wollen zu- hören und alles tun. Vertrauen Sie uns, bitte melden Sie sich.“ Darauf folgt ein Hinweis mit Foto auf die „Unabhängige ex- terne Beraterin“, eine Sozialarbeiterin, die jedoch, wenn man reden möchte, telefonisch nur je zwei mal zwei Stunden in der Woche erreichbar ist. In Abwesenheits- oder Urlaubszeiten werde man unter Wahrung der Anonymität weitergeleitet, und zwar an landeskirchliche Oberkirchenräte im Konsistorium. Wie aber bitte ist damit die Unabhängigkeit gewahrt? Beispiel: Ich wurde als Jugendlicher Opfer eines Pfarrers und arbeite heute im religionspädagogischen Bereich, kämpfe glei- chermaßen mit meinem Job wie mit meinem Trauma und soll mich nun meinem Dienstvorgesetzten anvertrauen, der die- sen Pfarrer eventuell noch gut aus Studienzeiten kennt? Wer

Die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs, Sprecherin des Beauftragtenrates der Evangelischen Kirche in Deutsch- land (EKD), gibt ihren Bericht vor der Synode in Dresden, November 2019.

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Frau angegeben, die immerhin eine Mobilfunknummer und Bild, was die Auffindbarkeit, Zuständigkeit und Unabhängig- keine Kirchen-E-Mailadresse hat. Aber ob und wie sie unab- keit von Beratungs- und Hilfsangeboten angeht. hängig arbeitet, wird nicht erklärt. Bei den Sachsen findet man Zur Gesamtbilanz schreibt die EKD-Pressestelle am 20. auf www.evlks.de erst nach einiger Zeit „Prävention, Interven- September 2020, dass noch im November 2019 den Unab- tion und Hilfe bei sexualisierter Gewalt“. Die Ansprechstelle hängigen Kommissionen der Landeskirchen 785 Fälle sexu- für Fälle sexualisierter Gewalt befindet sich im Landeskir- alisierter Gewalt im Raum der Evangelischen Kirche und der chenamt! Wo da die Unabhängigkeit von der „Täterorganisati- Diakonie vorlagen. Seitdem haben sich weitere 86 Personen ge- on Kirche“ sein soll, ist auch hier nicht erkennbar. meldet, so dass nunmehr 869 Fälle für den Zeitraum von 1950 Ähnlich bei www.bayern-evangelisch.de. Die Ansprechpart- bis heute bekannt sind. Ob sich diese 86 Opfer trotz oder we- ner sitzen im Landeskirchenamt. Neben einer Pfarrerin eine gen des vielfältigen, aber vermeintlich verwirrenden Beratungs- Juristin und ein Jurist, die nur per Mail erreichbar sind. Das angebotes gemeldet haben, kann nicht beantwortet werden. wirkt wenig einfühlsam. Vielleicht möchte man ja erst einmal Und weiter heißt es: „Von sehr wenigen Ausnahmen abge- eine menschliche Stimme hören und telefonieren? sehen, haben bislang alle betroffenen Menschen, die sich an Die württembergische Kirche bietet unter www.elk-wue. die Unabhängigen Kommissionen gewandt haben, Anerken- de direkten Zugang an, auch zu einer unabhängigen zentralen nungsleistungen erhalten. Seit 2012 sind von 16 Landeskir- Ansprechstelle nebst der Möglichkeit der anwaltlichen Erstbe- chen [sic! Vier Landeskirchen haben ihre Daten verweigert!] ratung. Die Webseite www.ekiba.de bietet das Merkblatt „Leis- tungen in Anerkennung des Leids für Opfer sexuellen Miss- Opfervertreter fordern Entschädigungen brauchs in Gemeinden und Einrichtungen der Evangelischen bis in den sechsstelligen Bereich hinein. Landeskirche in Baden und ihrer Diakonie“. Und es gibt ein Vertrauenstelefon für Missbrauchsfälle, an dem am anderen insgesamt 7,4 Millionen Euro an diesen materiellen Leistun- Ende ein Psychotherapeut für Gespräche sitzt, der von kirch- gen erbracht worden – neben der Beteiligung der Evange- lichen Strukturen unabhängig zu sein scheint. Das überzeugt. lischen Kirche am Ergänzenden Hilfesystem, am Fonds Heim- Gerade bei der badischen Anlaufstelle hätten sich überpropor- erziehung und an der Stiftung Anerkennung und Hilfe mit tional viele Opfer gemeldet, sagt die evangelische Betroffenen- einer Summe von 74,8 Millionen Euro.“ Vertreterin Kerstin Claus. Wenn es die Badener aber so gut Diese Anerkennungsleistungen stellten aber keine Ent- machen, warum tun es ihnen die Geschwister in den anderen schädigungszahlungen oder Schadensersatz dar, so die EKD- 19 Landeskirchen nicht gleich? Pressestelle. Denn wenn man sich die Diskussionen anschaut, müsste diese Entschädigung für durch Kirchenvertreter zer- Verwirrendes Bild störte Biografien unter Umständen um einiges höher aus- fallen, in Einzelfällen weit bis in den sechsstelligen Bereich Auch zehn Jahre nach dem ersten überregionalen Öffent- hinein, wie Opfervertreter immer wieder betonen. Aber es lich-Werden sexualisierten Kindesmissbrauchs in der evange- gebe nun auch das Ziel der Vereinheitlichung, heißt es wei- lischen Kirche bietet sich Außenstehenden ein verwirrendes ter aus der EKD-Pressestelle: „Derzeit erarbeiten Fachleute in den Landeskirchen auf der Basis von schon beschlossenen Eckpunkten Verfahrensregelungen, nach denen die Arbeit der Unabhängigen Kommissionen in den Landeskirchen in Bezug auf die individuellen Anerkennungsleistungen vereinheitlicht werden soll.“ Es gibt noch einen Weg „finanzieller Buße“, nämlich die Anerkennung nach dem Opferentschädigungsgesetz, wonach sich das staatliche Versorgungsamt die hohen Entschädigungs- summen von der jeweiligen Landeskirche rückerstatten lässt. Da ist der EKD-Pressestelle auf erste Anfrage hin kein Fall be- kannt. Würde die Kirche allerdings die Medien aufmerksamer beobachten, wüsste sie, dass es einen solchen Fall mindestens einmal bereits in der bayerischen Landeskirche gegeben hat. Nähere Informationen dazu verweigert das Pressereferat dort bis heute. Fazit Ende 2020: Trotz allen Bemühens, das Thema des se- xualisierten Missbrauchs in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aufzuklären und präventiv zu arbeiten – bei der Transparenz, Vereinheitlichung, aber eben auch bei der Koo- peration mit Pressevertretern hat die Evangelische Kirche in

Foto: epd-bild/HeikeFoto: Lyding Deutschland noch einige Arbeit vor sich.

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Macht der Worte, Macht der Kirche Was Mitglieder aus dem Betroffenenbeirat der EKD erfahren haben

lilith becker

Vor einigen Wochen konstituierte sich der der Institution, die ihr half, mit den Menschen in der evange- Betroffenenbeirat der EKD, der künftig an der Aufarbeitung lischen Kirche ins Gespräch zu kommen. von Missbrauch und dem Aufbau einer besseren Prävention Heute, und auch schon seit einigen Jahren, stehen auf www. ekd.de die Namen aller Ansprechpersonen, an die sich Men- maßgeblich beteiligt werden soll. Die Journalistin Lilith schen wenden können, denen sexualisierte Gewalt oder Miss- Becker stellt fünf der zwölf Mitglieder vor und zeichnet ein handlungen in Einrichtungen der Kirche widerfahren sind (sie- erstes Stimmungsbild des neugeschaffenen Gremiums. he Seite 31). Bei den allermeisten war bis vor kurzem weder ein Foto zu sehen noch eine kurze Vorstellung der Personen: „Wir- uerst nannte sie sich Karla, später Katarina Sörensen, ken sie authentisch? Sind das Menschen, mit denen eine betrof- Zheute heißt sie „Katharina Kracht“. Der letzte Name ist fene Person reden möchte?“, fragt Katharina Kracht. der, den sie von Geburt an trägt. Die anderen Namen waren Katharina Kracht gehört zum ersten Betroffenenbeirat der in den vergangenen Jahren ihr Schutzschild, das sie unsichtbar EKD. Sie nennt dort ihren wahren Namen, lässt ihren Schutz- machte – sie beschützte, wenn sie versuchte, mit den Men- schild sinken – und erwartet dasselbe nun von den Strukturen schen in den schwer durchschaubaren Strukturen der evange- und den Menschen in der evangelischen Kirche. „Ich bleibe lischen Kirche zu kommunizieren. aber weiterhin misstrauisch”, sagt sie. Sie hat den Wunsch, Katharina Kracht ist im Rahmen des Konfirmandenunter- dass die Strukturen in der evangelischen Kirche sichtbar für richts von einem Pfarrer missbraucht worden, der das Ganze Betroffene werden. Dafür helfen nur Transparenz und einheit- „Beziehung“ nannte. Sie hat mehr als zwanzig Jahre gebraucht, liche Standards: „Beispielsweise erwarte ich, dass kirchliche bis sie begriffen hatte, was ihr geschehen war, und sie in der Mitarbeiter, die sich mit Betroffenen auseinandersetzen, in der Lage war, den Pfarrer bei der Kirche anzuzeigen. Sie suchte Lage sind, mit traumatisierten Menschen umzugehen. Dafür sich eine Begleiterin aus einer Fachberatungsstelle außerhalb brauchen sie Fortbildungen, und zwar möglichst externe.“ Neben sichtbaren Ansprechpersonen, transparenten und einheitlichen Strukturen fordert Katharina Kracht vor allem Verbindlichkeit: „Alle müssen sich an ihre Zusagen halten. Das, was uns versprochen wird, muss auch umgesetzt werden.“

Lebenslanges Leiden

Detlev Zander hat einen Verein gegründet: Das „Netzwerk BetroffenenForum“. Seine Kindheit erlebte er in einem gewalt- tätigen Umfeld in der evangelischen Brüdergemeinde Korntal in Baden-Württemberg. Bis heute rufen ihn Menschen an, die es nach der Gewalt, die sie erlebt haben, nicht geschafft haben, ein eigenständiges Leben zu führen. Die Folgen eines Traumas können lebenslanges Leiden sein, Erwerbsunfähigkeit oder Drogensucht. „Da rufen mich auch Menschen an, die eine klare und einfache Ansprache brauchen“, sagt Detlev Zander, „Menschen, die es infolge der Gewalter- fahrungen ihrer Kindheit nicht geschafft haben, überhaupt eine Ausbildung zu machen.“ Die EKD und die Landeskirchen wollen für die Transparenz ihrer Leistungen einen Katalog vorlegen, der festlegt, welcher Betroffene für welches Ausmaß der widerfahrenen Gewalt wie viel Geld bekommt. Dieses Geld oder diese Sach-leistungen fallen dann unter die Formulierung „Leistungen für die Aner- Foto: Tristan Vankann Tristan Foto: kennung erlittenen Leides“. Katharina Kracht: „Kirchliche Mitarbeiter brauchen Warum ist es wichtig, dass unter die Zusage der Zahlung Fortbildungen, und zwar möglichst externe.“ einer „Leistung für die Anerkennung des erlittenen Leides“

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geschrieben wird: „Das ist eine einmalige und freiwillige Zah- lung“? Wer soll das verstehen und fühlt sich dann in seinem Leid gesehen, fragt Detlev Zander? Kirchenjuristen könnten das selbstverständlich erklären, warum es nicht „Entschädigungs- zahlung“ heiße. Aber Detlev Zander muss es Menschen erklären, die nichts mit Juristensprache anfangen können; die nicht einsehen, wa- rum da stehen sollte, dass die Kirchen freiwillig zahlen. Detlev Zander verlangt, dass die Kirchen öffentlich und gegenüber den Betroffenen Klartext sprechen: „Unter unserem Dach wurden Menschen vergewaltigt und misshandelt“, diese Ver- antwortung wirklich zu übernehmen, bedeute auch, dass die Übernahme der Verantwortung für die Betroffenen nichts mehr mit Freiwilligkeit zu tun habe.

Wenig gute Therapieplätze

Henning Stein hat vier Kinder. Eines davon ist als Kind in einer Behinderteneinrichtung misshandelt worden. „Seit wir unsere Geschichte Anfang der 2000er-Jahre öffentlich ge- macht haben, kommen viele Menschen auf uns zu, die uns da-

von erzählen, wie sie durch andere Menschen erniedrigt und Janine FellhauerFoto: vergewaltigt worden sind“, erzählt Henning Stein. In diesen Detlev Zander: „Mich rufen Menschen an, die eine klare beinahe zwei Jahrzehnten, in denen sich Henning Stein und und einfache Ansprache brauchen.“ seine Frau für einen angemessenen Umgang mit ihnen und ih- rem Sohn bemühen, ist ihnen deutlich geworden, wie schwer Auch in der Kirche werde bisher vor allem über Prävention es Menschen haben, die von anderen zu Opfern gemacht wer- geredet. Aber: „Was weiß die Kirche über uns Betroffene? Was den und von da an Hilfe benötigen. bietet sie den Leuten? Sie haben entgangene Ausbildungs- Obwohl Henning Stein Arzt ist und seine Frau Kranken- chancen, Therapiebedarf. Die Institution Kirche muss sagen: schwester, sie beide also vom Fach sind, war es ihnen kaum Wir helfen jeder und jedem Einzelnen“, sagt Henning Stein. möglich, angemessene Therapien für ihren Sohn zu bekom- Die Menschen in den Kirchen müssen lernen, dass Fehler pas- men. „Es ist so unsäglich schwer, Unterstützung für seine An- sieren. „Wir sind Menschen, auch wenn unsere Institution von gehörigen zu bekommen“, sagt Henning Stein. Zum einen: Gott gegeben ist.“ Weil sich die Einrichtung, in der ihr Sohn geschädigt worden Sexualisierte Gewalt ist ein alltägliches Phänomen, das hat ist, dagegen wehrte und die Familie Stein entfernte – anstatt Henning Stein in den vergangenen zwei Jahrzehnten gelernt – sich der Täter zu entledigen. Zum anderen, weil es in Deutsch- nicht nur, aber auch in Einrichtungen für Menschen mit Be- land zu wenige gute Therapieplätze für Betroffene gibt – die hinderungen: „Eltern behinderter Kinder müssen wissen, dass dann auch noch für viele nicht zu bezahlen sind. die Wahrscheinlichkeit eines Missbrauchs ihres Kindes in Ein- richtungen besonders hoch ist“, sagt Henning Stein. Früher habe es diese „Engramme“ gegeben, also Bilder, die Im September 2020 hat der Betroffenenbeirat der sich im Gedächtnis des Menschen festsetzen: Täter, das sei der EKD das erste Mal getagt. Zwölf Mitglieder sind böse Mann im Wald. Der Missbraucher, ein Pädophiler. „Wir von einer Jury ausgewählt und vom EKD-Rat für vier Jahre berufen worden. Die Beteiligung von Das Risiko für Machtmissbrauch ist umso größer, Betroffenen an der Prävention, Aufarbeitung und je elitärer eine Einrichtung ist. Hilfe ist der erste von insgesamt elf Punkten eines Handlungsplans für die Aufarbeitung sexualisierter wissen heute“, sagt Henning Stein, „das stimmt so nicht: Das Gewalt in der evangelischen Kirche, den die Syno- meiste ist Machtmissbrauch, meistens im nahen Umfeld. Se- de der EKD im Herbst 2018 beschlossen hatte. Der xualisierte Gewalt ist eine Pandemie.“ Sie passiere alltäglich an Betroffenenrat soll Betroffene strukturiert an Pro- vielen Orten. zessen beteiligen, für die der Beauftragtenrat zum Das Risiko sei umso größer, je elitärer eine Einrichtung ist. Schutz vor sexualisierter Gewalt in der evangelischen Überall dort, wo das Machtungleichgewicht zwischen Men- Kirche verantwortlich ist; Sprecherin dieses Gremi- schen groß ist, sei es einfach für Täterinnen und Täter, sich ums ist die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs. auszuleben. „Kloster Ettal, Regensburger Domspatzen, Ca- nisius-Kolleg, Odenwaldschule – jeder Ort, der von sich sagt,

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er ist toll, ist prädestiniert für sexualisierte Gewalt.“ Henning zu dessen Gemeinde der Kindergarten gehörte, um ein persön- Stein hat sich schon auf höchster politischer Ebene für Betrof- liches Gespräch mit den betroffenen Eltern gebeten. Es kam fene engagiert. Er war Mitglied am Runden Tisch zur Aufar- nur Unglück dabei heraus: Die anwesenden Eltern erzählten, die beitung des sexuellen Kindesmissbrauchs, den Bundes- und Pfarrerin und der Pfarrer glaubten ihnen nicht, die gesamte Run- Landesregierungen initiiert hatten, und anschließend im Be- de war verstört und fühlte sich ohnmächtig. Stattdessen kam es troffenenbeirat des Fonds Sexueller Missbrauch, einem ergän- zu einem feierlichen öffentlichen Verabschiedungsgottesdienst zenden Hilfesystem für Missbrauchsopfer. für die beschuldigten Erzieherinnen und Erzieher, den Blank als Auch auf höchster kirchlicher Ebene möchte sich Henning „bestürzend, enttäuschend und für mich als Kirchenglied zutiefst Stein dafür einsetzen, dass Machtverhältnisse und Strukturen, beschämend“ empfand. „Leider erst hinterher wurde mir klar, die den Missbrauch systematisch unter den Tisch kehren, auf- dass die Gemeinde zu befangen ist, um uns eine Hilfe zu sein“, gedeckt und vermieden werden. „Positiv stimmt mich, dass wir sagt Nicolai Blank im Rückblick. mit Kirchenleitungen heute reden können; das war auch schon Das Konsistorium der EKBO hat Nicolai Blank als abweh- anders.“ rend wahrgenommen. „Ich möchte diese unendliche Geschichte beenden“, sagte ein Mitglied des Konsistoriums ihm in einem Gespräch. Auch hier wurde den Eltern nicht geglaubt, im Ge- genteil: Die öffentliche Darstellung der Geschehnisse seitens der EKBO führte sogar zu einer monatelangen rechtlichen Auseinandersetzung zwischen Kirche und Eltern. Eine poli- zeiliche Befragung der zwei- bis fünfjährigen Kinder schlossen die Behörden „aus Fürsorgegründen“ aus, da die Kinder nicht vernehmungsfähig seien. Nicht die Täter verließen den evangelischen Kitaverbund, sondern die geschädigten Eltern und Kinder gingen. Teilweise zogen sie sogar um und suchten sich einen neuen Lebensmit- telpunkt in einem anderen Stadtteil. Das Ganze ist erst drei Jahre her, und der Schmerz, wie seine evangelische Kirche mit ihm und den anderen Eltern umgegangen ist, bewegt Nicolai Blank bis heute. „Ich bin Sohn eines Pfarrers, die Kirche ist ein Teil meiner Identität“, sagt er. Er weiß, dass die Umkehr der Opfer in Täter eine alltägliche Systematik in unserem Land ist. Im Betroffenenrat will er sich dafür einsetzen, dass sich das verändert. Als Kind und Jugendlicher fühlte sich Matthias Schwarz schuldig. Der evangelische Pfarrer hatte sich an ihm ver- gangen: Hatte er das einfach zugelassen und war selbst schuld? Wer sollte ihm vergeben? „Ich habe sehr lange dafür gebraucht zu sortieren, dass ich Opfer bin und der andere Täter“, sagt

Foto: Larissa Faerber Foto: Matthias Schwarz. Heute ist er selbst evangelischer Pfarrer in Henning Stein: „Es ist so unsäglich schwer, Unterstützung der Wetterau. Seine eigene Geschichte hat ihn Vieles gelehrt: für seine Angehörigen zu bekommen.“ zum Beispiel, den Begriff des Opfers neu zu definieren. „Op- fer bedeutet üblicherweise: Jemand ist passiv und wehrlos, ein „Dafür möchte ich erstmal Beweise sehen“, sagte die Pfarre- Opfer erträgt mit Geduld und Ruhe das, was ihm auferlegt rin, die sich die Berichte von mehreren Familien angehört hatte, wird.“ So sieht er sich nicht mehr – und möchte deshalb auch wie deren Kinder in der evangelischen KiTa misshandelt worden für andere die Besetzung des Opferbegriffs verändern. sein sollten. Der Pfarrer, der auch bei diesem Gespräch dabei Gemeinsam mit einer weiteren Pfarrerin im neu gegründe- war, sagte, „die Kinder haben manchmal aber auch eine lebhafte ten Betroffenenbeirat möchte er dazu beitragen, theologische Fantasie“. Zudem betonte die kirchliche Trägerin auf den Eltern- Ansätze weiterzuverfolgen, die Menschen gerecht werden, abenden, welch schlimme Konsequenzen Missbrauchsanzeigen deren Leben im herkömmlichen Sinne von anderen als „nicht für die Erzieherinnen und Erzieher hätten. gelungen“ bezeichnet werden könnte. Er denke dabei an gute Ansätze wie beispielsweise den einer Theologie der Verletz- Zutiefst beschämend lichkeit. „Ich sehe mich nicht als Loser, laufe nicht mit einem groß- Nicolai Blank jedenfalls glaubt den Berichten der Kinder, aus en L auf der Stirn durch die Gegend“, sagt Matthias Schwarz. denen hervorgeht, dass sie in der evangelischen KiTa in Berlin Sein Ziel sei es zu erreichen, dass die Gremien, mit denen sie zu Schaden gekommen sind. Er hatte den evangelischen Pfarrer, für die Aufarbeitung sexualisierter Gewalt als Betroffenenbei-

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der EKD trafen, waren auch einige Mitglieder des Beauftrag- tenrates zum Schutz vor sexualisierter Gewalt der EKD anwe- send. Der Landesbischof Christoph Meyns aus Braunschweig ist einer von ihnen (siehe Seite 41). Er habe gesagt, dass in ihm viel Abwehr entstehe, wenn er die Geschichten der Betroffenen „Ich kann für mich selbst trennen zwischen der Institution Kirche und dem Vertrauen auf Gott.“

höre; diese spüre er auch bei anderen Menschen auf der Lei- tungsebene. Er habe zugegeben, dass in ihm der Reflex sei, dass aufgedeckte Missbrauchsfälle möglichst ohne Schaden für die Institution abliefen. Sowohl Matthias Schwarz als auch andere Mitglieder des Betroffenenbeirates rechnen dem Landesbischof diese ehrliche Bemerkung hoch an. „Wenn wir das voneinander wissen und ehrlich zugeben, kann unsere Zusammenarbeit gelingen“, sagt Matthias Schwarz. Er möchte als Mensch, der selbst von einem Amtsträger der evangelischen Kirche geschädigt worden ist, auch Ansprechpartner für Menschen sein, die Angst haben oder nicht wissen, wie sie sich mit den Gewalterfahrungen in ihrer Lebens- geschichte an die Kirche wenden können. Wie konnte er eigentlich Pfarrer werden, aufgrund seiner eigenen Erfahrungen? Davon möchte er gerne einmal mehr er- zählen, doch so viel sagt er schon jetzt: „Mir bedeutet mein

Foto: Rolf Zöllner Rolf Foto: Glaube viel – und ich kann für mich selbst trennen zwischen der Nicolai Blank: „Hinterher wurde mir klar, dass die Institution Kirche und dem Vertrauen auf Gott.“ Gemeinde zu befangen ist, um uns eine Hilfe zu sein.“ rat zusammenarbeiten, für ihre Sprache, ihre Deutungen und Begriffe sensibilisiert werden – so, dass Worte wie Schuld, Vergebung und Opfer im theologischen Diskurs neu bewertet werden können. Als einer von zwei Mitgliedern des Betroffe- nenbeirates war Matthias Schwarz kürzlich beim Treffen der Leitungen der Unabhängigen Kommissionen der Landeskir- chen in Hannover dabei, die unter anderem über einen einheit- lichen Katalog für ihre Zahlungen an Betroffene diskutieren wollen.

Informationsdefizit bisher groß

Dass die Betroffenen-Vertreter bei diesem Treffen und bei dem Treffen der Präventions-, Interventions- und Hilfekon- ferenz der EKD (kurz: PIH-K, wo sich die Vertretungen der Ansprechstellen aller Landeskirchen treffen) dabei sein wer- den, haben sie im September gegenüber dem Beauftragtenrat durchgesetzt. Sie möchten, sagt Matthias Schwarz, auch wenn sie als letztes Vorhaben aus dem Elf-Punkte-Plan der Bischöfin Kirsten Fehrs umgesetzt worden sind, nicht nur „ein Feigen- blatt“ für die evangelische Kirche sein. Bisher sei das Informa- tionsdefizit noch groß, doch über die Teilnahme an allen wich- tigen Treffen wollen sich die Betroffenen schnell einarbeiten und mitgestalten können. Julia Stroh Foto: Als sich die Mitglieder des Betroffenenbeirates Mitte Sep- Matthias Schwarz: „Ich habe sehr lange dafür gebraucht tember zum ersten Mal in Hannover im Verwaltungsgebäude zu sortieren, dass ich Opfer bin und der andere Täter“.

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„Viele blinde Flecken“ Christoph Meyns, Mitglied im EKD-Beauftragtenrat, zieht eine erste Bilanz und benennt weitere Aufgaben der Aufarbeitung sexualisierter Gewalt im Raum der evangelischen Kirche

zeitzeichen: Herr Landesbischof Meyns, christoph meyns: Bei aktuellen wann sind Sie im Bereich Ihrer braun- Fällen haben wir ein geregeltes Ver- schweigischen Landeskirche dem Thema fahren. Wenn im Bereich unserer Missbrauch beziehungsweise sexualisierter Landeskirche ein Vorwurf erhoben Gewalt das erste Mal begegnet? wird, werden Vorgesetzte und Perso- nalreferat tätig. Wir prüfen die Vor- christoph meyns: In meinem zwei- fälle. Sie werden selbstverständlich ten Amtsjahr 2015. Mich hat ein unabhängig von ihrer strafrechtlichen Geschwisterpaar besucht, das in Relevanz der Staatsanwaltschaft den 1960er-Jahren als Heimkinder in gemeldet. Parallel dazu werden auch mehreren Einrichtungen in Deutsch- unterhalb der Schwelle des Straf- land sexualisierte Gewalt erlitten rechts die notwendigen dienst- oder

hat, unter anderem auch in Braunla- arbeitsrechtlichen Schritte unternom- dpa Foto: ge. Sie wollten auf das Thema auf- men. Bei Pfarrerinnen und Pfarrern merksam machen. Es war zugleich eröffnen wir ein Disziplinarverfahren. —­—­ auch ein Teil ihrer persönlichen Es ruht, solange der Staat ermittelt. Christoph Meyns, 58, ist seit 2014 Aufarbeitung. Nach einem Freispruch oder einer Landesbischof der Evangelisch- Verurteilung nehmen wir es dann lutherischen Landeskirche in Wie hat sich die Begegnung gestaltet? wieder auf. Bei privatrechtlich Ange- Braunschweig. Zuvor war der ge- stellten schöpfen wir alle Möglich- bürtige Bad Segeberger viele Jahre christoph meyns: Ich habe lange mit keiten des Arbeitsrechts bis hin zur Gemeindepastor in Nordfriesland, den Betroffenen gesprochen. Wir fristlosen Kündigung aus. ab 2007 Beauftragter der Nor- sind dann anschließend gemeinsam delbischen Kirchenleitung für die zu dem Heim gefahren, in dem sie Und wie verhält es sich bei den sehr weit Evaluation des Nordelbischen eine Zeit lang gelebt haben. Die bei- zurückliegenden Fällen? Reformprozesses und ab 2012 den haben mich dann ein halbes Jahr Referent für Theologie und Pub- später noch einmal besucht. christoph meyns: Bei sehr weit lizistik im Kirchenamt der Nord- zurückliegenden Fällen werden wir kirche in Kiel. Meyns ist seit 2016 Sind Ihnen in Ihren Amtsjahren Fälle meist durch einen Brief der Betrof- Beauftragter des Rates der EKD aus Ihrer Landeskirche bekannt fenen an uns informiert. In der Regel für den Kontakt zu den Kommu- geworden? hatten sie vorher vertraulichen Kon- nitäten und seit 2018 Mitglied im takt zu einer Pastoralpsychologin EKD-Beauftragtenrat zum Schutz christoph meyns: Wir wissen von unserer Landeskirche, die wir als An- vor sexualisierter Gewalt. sieben Fällen aus den 1950er- bis sprechperson beauftragt haben, oder 1970er-Jahren. Sie sind alle an die zu der neuen zentralen Ansprechstel- Unabhängige Kommission überwie- le der EKD. Melden sich Menschen che, oder denken Sie, das muss noch besser sen worden, die für uns und andere bei uns, prüfen wir weitere Schritte werden? Landeskirchen in Niedersachsen wie etwa Disziplinarverfahren und tätig ist. Sie hat Anerkennungs- und geben den Fall weiter an die Unab- christoph meyns: Wir sind auf dem Unterstützungsleistungen in unter- hängige Kommission. Die Mitglieder Weg. Die Einrichtung der Unabhän- schiedlicher Höhe zuerkannt. Vier der der Kommission kommen dann mit gigen Kommission 2011 war ein erster betreffenden Personen waren ehema- den Betroffenen ins Gespräch, prü- Meilenstein. Insofern liegt das Au- lige Heimkinder, drei Fälle betrafen fen den Fall und entscheiden über genmerk in meiner Landeskirche im die verfasste Kirche. mögliche materielle und immaterielle Moment verstärkt auf den Themen Leistungen. Prävention und Intervention. Beson- Was müssen Betroffene konkret tun, wenn ders wichtig ist uns der Schutz von sie im Bereich Ihrer Landeskirche Fälle von Es mag in diesem Zusammenhang ein Kindern und Jugendlichen auf Freizei- Missbrauch beziehungsweise sexualisierter unpassendes Wort sein, aber sind Sie „zu- ten. Hier ist seit 2010 viel geschehen. Gewalt melden wollen, damit der oder die frieden“ mit dem Stand der Aufarbeitung Dazu gehören Führungszeugnisse, Täter belangt werden? und dem Prozedere im Bereich Ihrer Kir- eine Selbstverpflichtungserklärung

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für ehrenamtliche Mitarbeitende worden. Seitdem setzen wir den von Vor einem Jahr auf der Synode in Dresden und ein Interventionsplan. Vor jeder der Synode der EKD verabschiedeten hat die Sprecherin des EKD-Beauftrag- Freizeit wird noch mal ins Gedächtnis Elf-Punkte-Plan Schritt für Schritt um. tenrates, Bischöfin Kirsten Fehrs, in ihrem gerufen: Was ist sexualisierte Ge- Wir tagen monatlich und sind dar- Bericht von einem persönlichen Lernpro- walt, was ist übergriffiges Verhalten? über hinaus wöchentlich per E-Mail gramm gesprochen, das sie absolviert habe. Worauf muss ich achten in meinem miteinander im Kontakt, denn es gibt Haben Sie auch sowas erfahren? Verhalten, um Grenzen nicht zu ver- viele Fragen und Themen zu bespre- letzen? Woran merke ich, wenn etwas chen. Aktuell hatten wir kürzlich das christoph meyns: Das ist mir genau- „passiert“ ist? Wie gehe ich dann vor? so gegangen. Man wird konfrontiert In einem nächsten Schritt werden „Wir brauchen die mit den eigenen Abwehrmechanis- wir verstärkt Pfarrerschaft und Kir- Perspektive der Betroffenen, men, weil sexueller Missbrauch ein chenmusiker/innen im Umgang mit solch monströser Zivilisationsbruch dem Thema schulen. In den nächsten denn eine Institution hat ist, dass man erst einmal denkt: Das Jahren wird es dann darum gehen, viele blinde Flecken.“ kann doch nicht wahr sein. Und wenn die Gewaltschutz-Richtlinie der EKD man dann den Betroffenen gegen- Schritt für Schritt konsequent umzu- erste Treffen mit dem Betroffenen- übersteht und ihnen zuhört, wird setzen. beirat (siehe Seite 34). Ich bin sehr dank- man gewahr, dass es Realität ist. Es bar, dass Betroffene und Angehörige ist eine emotionale Herausforderung Sie sind Mitglied im Beauftragtenrat von Betroffenen sich bereitgefunden und ein emotionaler Lernprozess, der EKD zum Schutz vor sexualisierter haben, mit uns gemeinsam dieses das überhaupt an sich heranzulassen. Gewalt. Wie sieht Ihre Arbeit konkret Thema zu bearbeiten, denn wir brau- Man muss lernen, sich den Betrof- aus? chen unbedingt ihre Perspektive, weil fenen und ihrem Leid zu stellen und es so viele blinde Flecken gibt, auf andererseits zugleich wieder auf die christoph meyns: Wir sind Ende die eine Institution von selbst nicht Handlungsebene zu kommen und 2018 vom Rat der EKD eingesetzt kommt. sich fragen, was wir dafür tun können,

WECHSEL WO Verlag Klüter / Suhrkamp Fotografie Stefan

JOHANN RT HINRICH CLAUSSEN MITT WO CH Kulturbeauftragter des Rates der EKD 4 . 11. 2020, 18 UHR IM GESPRÄCH MIT zeitzeichen-Salon Eine Veranstaltungsreihe Redaktion zeitzeichen des Kulturbüros Jebensstraße 3 des Rates der EKD 10623 Berlin in Kooperation mit dem SVENJA LEIBER Direkt am Bahnhof Zoo Magazin zeitzeichen. Schriftstellerin, Werner-Bergengruen-Preis, Alfred- Döblin-Stipendium, Arno-Reinfrank-Literaturpreis u. a. Informationen: [email protected]

EKD-Wortwechsel-Leiber-Einladung-Anzeige-RZ01.indd 1 07.09.20 11:47 11/2020 zeitzeichen 39 interview Missbrauch

dass im Raum der evangelischen Kir- fahren gegen die Täter eröffnen oder che so etwas nicht geschehen kann. arbeitsrechtliche Schritte einleiten. Das ist ein ständiger Kreislauf und ein ständiges Lernen. Halten Sie es für angemessen, dass es im Disziplinarrecht gar keine Verjährung gibt? Was löst es bei Ihnen aus, dass das, was auf der Handlungsebene erreicht wird, den christoph meyns: Ja, ich halte das Betroffenen nicht reicht? für angemessen, weil das Treuever- hältnis, das durch die Ordination christoph meyns: EKD und Lan- und die Verbeamtung begründet ist, deskirchen haben nach 2010 viele lebenslang gilt. Unsere Pfarrerinnen Maßnahmen in den Bereichen Aufar- und Pfarrer sind an ihre Ordination beitung, Intervention und Prävention gebunden, und dann muss es eine ergriffen. Da sind wir auf einem guten Möglichkeit geben, Verhalten, das Weg. Darüber hinaus hat der Beauf- dem Ordinationsgelübde eklatant tragtenrat inzwischen den Elf-Punkte- widerspricht, entsprechend zu sank- Plan der EKD von 2018 fast vollständig tionieren, im Extremfall bis hin zur umgesetzt. Aber natürlich müssen weitere Schritte folgen. Wir werden Eines gehört jedoch den begonnenen Weg konsequent immer dazu: weitergehen. Wir müssen uns immer wieder von Betroffenen anfragen las- der Missbrauch sen und uns ehrlich darum bemühen, von Macht. umzusetzen, was sich umsetzen lässt. kompletten Entfernung aus dem Ein spezifisches Thema ist die kirchliche Dienst unter Verlust von Bezügen und Gerichtsbarkeit. Dieses System Versorgungsansprüchen, auch über der kirchlichen Disziplinargerichtsbarkeit den Ruhestand hinaus. scheint nicht unbedingt für derartige Fälle geschaffen. Die EKD hat nun beschlossen, eine wis- senschaftliche Studie in Auftrag zu geben. christoph meyns: Zum einen gilt das Das stößt bei den Betroffenen auf Kritik, Disziplinarrecht nur für Kirchenbe- die sich eine deutlichere Aufarbeitung amte und Pfarrerinnen und Pfarrer. wünschen. Es umfasst nicht privatrechtlich An- gestellte, also Diakone, Kirchenmu- christoph meyns: Sinn der Studie

sikerinnen oder Ehrenamtliche. Zum ist, täterschützende Strukturen und akg-images Foto: anderen zielt das Disziplinarrecht Risiken zu analysieren, um für die Prä- nicht auf den Umgang mit den Be- vention daraus zu lernen. Wir müssen troffenen, sondern ausschließlich mit die strukturellen Faktoren erfassen, dem Täter. Es soll das Vertrauen in die die im Raum der evangelischen Kirche seiten des Täters oder der Institution, Institution schützen. Deswegen steht eine Rolle spielen! Das ist ein Teil in deren Verantwortungsbereich der das Verhältnis zwischen dem Täter der Aufarbeitung. Man kann das eine Übergriff stattfand, Schmerzensgeld und der Institution im Mittelpunkt, nicht gegen das andere ausspielen, oder Schadensersatz zusteht. Die nicht das Verhältnis der Institution beides gehört zusammen. meisten Fälle, die bekannt werden, zum Betroffenen. sind jedoch schon lange verjährt, die Entschädigungen für erlittenes Unrecht sind Täter oft verstorben. Wir sprechen Insofern ist das für Aufarbeitung und Be- ein heikles Thema. Immer wieder gibt es die deshalb von individuellen Anerken- wältigung sexualisierter Gewalt gar nicht Klage der Betroffenen, dass die Kirchen kei- nungs- und Unterstützungsleistungen das geeignete Mittel, oder? ne Entschädigung zahlen wollen. Ist dieser im Rahmen der institutionellen Ver- Eindruck richtig? antwortung von Kirche und Diakonie. christoph meyns: So ist es, und des- Wir können nichts entschädigen, wegen haben wir eben die Unabhän- christoph meyns: Die Frage von auch weil wir das, was geschehen ist, gigen Kommissionen geschaffen, bei Entschädigungen betrifft zunächst nicht ungeschehen machen können. deren Arbeit die Betroffenen und ihre einmal staatliche Verfahren. Bei Aber wir können versuchen, das Leid Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. aktuellen Fällen prüft ein Zivilgericht zu lindern. Dafür wurden Betroffenen Trotzdem werden wir, wo immer mög- im Rahmen einer intensiven Beweis- von Kirche und Diakonie seit 2010 ins- lich, parallel dazu ein Disziplinarver- aufnahme, ob dem Betroffenen von- gesamt 74,8 Millionen Euro im Rah-

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christoph meyns: Das könnte ein ist. Es steht uns gut an, da demütig Problem gewesen sein. Ich selbst habe zu bleiben. In den kirchlichen Hei- den Umgang mit dem Thema Sexua- men ist das Gleiche passiert wie in lität im Rahmen der evangelischen Ju- den staatlichen. Es hätte eigentlich gendarbeit in den 1970er-Jahren aller- in der verfassten Kirche keine Form dings als befreiend erlebt, ohne dass von Übergriffigkeit geben dürfen, es es zu Übergriffen gekommen wäre. hat sie aber gegeben. Wir müssen Eines gehört jedoch immer dazu: Der Missbrauch von Macht durch die „Wir sind eine Kirche im Schatten Schaffung von geschlossenen Milieus, des Kreuzes, die zu permanenter der Aufbau von Abhängigkeitsverhält- nissen und die perfide Manipulation Umkehr aufgerufen ist.“ von Menschen, und dazu kann auch eine bestimmte Form von Sexualmo- uns also weiterhin bemühen, die ral instrumentalisiert werden. Gerechtigkeit, die für alle gilt, bei uns im kirchlichen Raum immer besser zu Ziel des Prozesses der Aufarbeitung ist, verwirklichen. dass möglichst viele Betroffene nachträglich Anerkennung erfahren und mit schlimmen Gibt es für Sie auch eine theologische Widerfahrnissen besser leben können. Begründung? Warum ist die Kirche dazu besonders ver- pflichtet, mehr als andere gesellschaftliche christoph meyns: Aus dem Evange- Organisationen wie zum Beispiel in Schule lium ergibt sich der Anspruch, sich in und Sport? den Dienst der Nächstenliebe neh- men zu lassen. Der innere Halt, den christoph meyns: Alle gesell- wir im Wort Gottes finden, zeigt sich schaftlichen Institutionen sind dazu in unserer Lebenshaltung und in un- verpflichtet, sich diesem Thema zu serem äußeren Verhalten. Was nützt stellen, vergangenes Leid anzuerken- es, das Evangelium zu verkündigen, nen, aufzuarbeiten und geeignete wenn wir nicht selbst glauben, was Präventionsstrategien zu entwickeln. wir predigen, und nicht leben, was wir Ich hoffe, dass das, was wir als evan- glauben? gelische und katholische Kirche tun, dazu beiträgt, das Thema insgesamt Was wäre Ihr Wunsch, wo die EKD und gesellschaftlich zu enttabuisieren. die Landeskirchen in fünf Jahren stehen Für uns als Kirche gilt darüber hinaus: sollten, sowohl im Bereich der Prävention Der Auftrag zur Verkündigung des als auch bei der Bewältigung des Unrechts? Kasemir Malewitsch (1879 – 1935): Evangeliums impliziert die Verpflich- „Symbolistische Figur“ 1928/30. tung zur Glaubwürdigkeit im kirchli- christoph meyns: Ich hoffe, dass wir chen Handeln. Daraus ergibt sich für den Weg konsequent weitergehen, men des Ergänzenden Hilfesystems, mich der Anspruch, alles zu tun, um den wir angefangen haben. Wenn wir des Fonds Heimerziehung und der einen Widerspruch zwischen Wort die elf Punkte umgesetzt haben, müs- Stiftung „Anerkennung und Hilfe“ für und Tat zu verhindern. Und wenn sen wir neu wahrnehmen, was dann Kinder und Jugendliche in stationären man ihn, wie im Falle geschehenen dran ist. Da hoffe ich sehr auf die Einrichtungen der Behindertenhilfe Unrechts, nicht verhindern konnte, Ergebnisse der Studie. Entscheidend und der Psychiatrie sowie 7,4 Milli- dann müssen wir das aufarbeiten ist, dass es gelingt, das Thema „Sexu- onen Euro von den Unabhängigen und die notwendigen Konsequenzen alisierte Gewalt“ als Teil der kirchli- Kommissionen zuerkannt. daraus ziehen. chen Arbeit fest zu implementieren und alle, die in der Kirche mitarbeiten, Der Kulturbeauftragte der EKD, Johann Muss die Kirche besonders aufmerksam sein, dafür zu sensibilisieren. Die Arbeit an Hinrich Claussen, hat 2019 in der ZEIT weil sie eben doch einer „besseren Gerechtig- der Prävention sexualisierter Gewalt mit Blick auf die Vorfälle in Ahrensburg keit“ (Matthäus 5,20) verpflichtet ist? muss selbstverständlicher Bestandteil in den 1980er-Jahren geschrieben, dass der kirchlichen Arbeit sein und weiter „gerade das Versprechen einer zeitgemäßen, christoph meyns: Ich würde das, gestärkt werden. unverklemmten, offenen Sexualmoral an worum es geht, ungern „bessere manchen Orten zum Tor für postautoritäre Gerechtigkeit“ nennen. Wir sind eine Das Gespräch führten Kathrin Jütte und Missbrauchsysteme wurde“. Wie sehen Sie Kirche im Schatten des Kreuzes, die Reinhard Mawick am 24. September in das? zur permanenten Umkehr aufgerufen Wolfenbüttel.

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Eine einmalige Schatzkammer Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht: von Karl dem Großen bis Friedrich Barbarossa

jürgen kaiser

Wie in einem begehbaren Die Kaiser herrschten nicht allein. Kostbarkeiten zusammengetragen, die Geschichtsbuch werden in Mainz derzeit Ihre Macht ruhte, bildlich gesprochen, alleine selten und zusammen noch nie die Kaisergeschlechter gezeigt, die das auf Säulen: zunächst auf dem Papst, dann zu sehen waren. Die Große Heidelber- auch auf den Bischöfen, Erzbischöfen ger Liederhandschrift Codex Manesse Mittelalter prägten. Jürgen Kaiser hat und Fürsten. Dabei spielten auch Äbte, ist darunter – auf ihrer Hitliste der bes- das Landesmuseum mit der Schau Grafen, Ritter und Bürger eine Rolle. Sie ten Minnesänger der Welt ist Walther besucht. alle waren miteinander in einem großen von der Vogelweide erst unter Nummer Netzwerk verknüpft und verbunden, das 42 zu finden –, das Armreliquiar Karls arolinger, Ottonen, Salier und Stau- sich immer wieder veränderte und andere des Großen, das Adelheidkreuz von der Kfer. Mit Karl dem Großen begannen Machtknoten bildete. Reichenau und die Weingartner Welfen- die Kaisergeschlechter, die das Mittelalter Wie in einem begehbaren Geschichts- chronik. Der Cappenberger Kopf stellt gestalteten. Und von denen viele Men- buch ist das bis zum 18. April 2021 im vermutlich Kaiser Barbarossa dar und schen nur ein, wenn überhaupt, verblass- Landesmuseum in Mainz zu sehen und ist das erste weltliche Herrscherporträt tes Wissen aus fernen Geschichtsunter- zu bestaunen. Denn die Museumsgestal- seit der Antike. Und: die Goldene Bulle, richtszeiten haben. Dennoch bestimmten ter um Stefanie Hahn und Thomas Metz also das Grundgesetz des Heiligen Rö- diese Geschlechter Europa. Unser Euro- haben für die Ausstellung „Die Kaiser mischen Reiches Deutscher Nation bis pa, bis heute. und die Säulen ihrer Macht“ aus Europa 1806 – um nur einige zu nennen. Viele Fotos: Radek BruneckyFotos: Blick in die Landesausstellung: das Adelheidkreuz Reichenau aus dem 11. Jahrhundert.

42 zeitzeichen 11/2020 Kaiserausstellung kultur

dieser Schätze sind damit der Öffentlich- die diese Stadtentwicklungen auslösten. – SchUM – zusammenschlossen und in keit zum ersten Mal seit Jahren und viele Kein Wunder also, dass die Staufer in regem Austausch miteinander standen. auch zum letzten Mal auf Jahre hin – aus ihren Kämpfen mit den Päpsten Städ- Die Juden waren Kaufleute und direkt konservatorischen Gründen – zu sehen. te gründeten und förderten und so mit dem Kaiser unterstellt. Das macht die Ausstellung einmalig. den Bürgern und ihren Rechten – Stadt- Die Ausstellung liefert nicht nur ein Erfolg erzeugt Neid Bild der Mächtigen. Neunzig Prozent der Bevölkerung waren Bauern – immer mehr Da es allen Christen von der Kirche davon Unfreie, also Leibeigene. An der aus verboten war, mit Geld zu handeln Steuerlast des Bauern Gundals wird und Zinsen zu nehmen, waren sie das dargestellt. Aus dem Güter- die Bankiers in den aufstreben- verzeichnis des Lorscher Co- den Städten. Wer expandieren dex von 1170, das ebenfalls im wollte, brauchte Geld. Christen Original zu sehen ist, wissen durften es nehmen, aber nicht wir genau, was er abzuliefern damit handeln. Ohne Geld hatte. Selbst für seine Ehefrau aber gab es keine wirtschaft- durfte er sich nicht selbst ent- liche Entwicklung. Auch hier scheiden – die bestimmte ihm zeigt die Ausstellung das Le- sein Herr. ben der jüdischen Gemeinden. Nicht vergessen wurde die Ihr Aufblühen – aber auch die Rolle der Kaiserinnen. Mit 16 immer wieder aufbrechenden Jahren zur Königin von Deutsch- Verfolgungen. Denn der Erfolg land gewählt, mit 25 Jahren Rö- erzeugte Neid und Hass. Wurden mische Kaiserin. Das war keine die jüdischen Bewohner erschlagen Seltenheit. Liebe spielte keine Rolle, und brannten ihre Häuser, so brann- geheiratet und geschieden wurde nach po- ten auch die Schuldscheine und die Zeu- litischem Kalkül der Männer. Außerdem gen. So einfach war das zu Zeiten der starben viele Frauen bei der Geburt der Kreuzzüge. Kinder. Aber auch Kaiser starben früh, luft macht frei, auch von kirchlicher Un- Ironie und Spott waren schon immer und die Kaiserwitwe übernahm nun die terdrückung – ein Gegengewicht zur Kir- das Ventil bei so viel Pracht und Macht. Vormundschaft über den zukünftigen che schufen. Der politische Witz und das Kabarett Kaiser. So bei Otto III. Der war drei Jahre Diese drei Städte hätten sich aber leben davon. Die Mailänder hassten Kai- alt, als sein Vater starb. Die Kaiserinnen nicht so schnell und groß entwickelt, ser Barbarossa. Der unterstützte zwar wussten ihre Macht zu nutzen. Etwas hätte es ihre jüdischen Gemeinden nicht die Städte, gründete viele neue. Aber ganz Persönliches zeigt die Ausstellung: gegeben. Gerade in diesen drei Städten wehe, wenn die Bürger zu selbstbewusst die Totenkrone von Kaiserin Gisela von blühte das jüdische Leben. Einmalig ist, wurden. Dann gab es Krieg. Besonders Schwaben, die Frau von Kaiser Konrad dass die jüdischen Gemeinden dieser drei mit den italienischen Städten tat er sich II. Auf ihrer Krone steht ihr Kosename Städte sich zu einem Gemeindeverband schwer. In Italien trägt er bis heute den „Gisle“. Spitznamen „Städtezerstörer“. Mailand hasste er so wie die Bürger ihn, er zer- Gegengewicht zur Kirche störte es 1162 und vertrieb die gesamte Bevölkerung. Herrschaft braucht Raum. Dieser Die Mailänder bauten die Stadt wie- Raum war über Hunderte von Jahren der auf, besiegten Barbarossa, und die das Land am Rhein, mit seinen Städ- Stadt wuchs enorm. An ihren Toren lie- ten Mainz, Worms, Speyer. In diesen ßen sie zwei Spottreliefs anbringen – zur aufstrebenden Städten wurden aus Bi- Abwehr von Feinden und bösen Geis- schöfen mächtige Erzbischöfe, welche tern, zum Lachen für die Bewohner und die Kaiser als Unterstützung brauchten. zur Verhöhnung von Kaiser Barbarossa Für oder auch gegen den Papst. Und für und Kaiserin Beatrix. Und zwar deftig. und auch gegen die immer mächtiger Der mächtige Kaiser wird auf einem über werdenden Fürsten, die schließlich als einen Meter hohen Steinrelief, das einst Kurfürsten die zukünftigen Kaiser bis 1806 wählten. Gut gemachte 3D-Filme zeigen auf parallelen Monitoren die Die Große Mainzer Adlerfibel (oben), Entwicklung dieser drei Städte im Jahr Mainz, 975 – 1025. 800 und im Jahr 1200. Man erkennt die Cappenberger Kopf (unten), Dynamik und politische Sprengkraft, Hildesheim, 1150 – 1171.

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Das Armreliquiar Karls des Großen, Maasgebiet, 1165 – 1173.

direkt am Stadttor von Mailand ange- Wer vor den vielen Vitrinen und Kost- erzählt wird. Die Personen in Schwarz-Weiß bracht war, dargestellt als einer, der es barkeiten kapituliert, der sei auf den Ein- – fast in japanischer Mangatechnik skizziert mit gekreuzten Beinen nicht mehr auf gangsbereich jedes Saales verwiesen. Denn – sind vor farbigem Hintergrund animiert. die Toilette schafft, die Kaiserin mit ent- dort ist jeweils ein großes Wandbild, das die Manch ein Betrachter hätte sich gewünscht, blößter Brust hebt ihren Rock hoch und jeweilige Kaiserdynastie erklärt. Ganz wich- dass einst sein Geschichtsunterricht auch so rasiert sich die Scham. In der Ausstellung tig und wertvoll: Es ist auch jeweils ein gro- einfach zu begreifen gewesen wäre. zu sehen, wenn auch etwas schamhaft ver- ßer TV-Bildschirm vorhanden, in dem in Kleiner Tipp: Vor den Bildschirmen ist steckt, man muss die beiden Originale einfacher Sprache in Skizzen eine animier- auch die einzige Möglichkeit, sich hinzuset- schon suchen. te Bildergeschichte über die jeweilige Zeit zen – ansonsten Klappstuhl am Eingang mitnehmen. Das wird alles zusammen zur gleichen Zeit nicht mehr woanders zu sehen sein. Aber: sehr eng und dicht zusammen. Und, um die Kostbarkeiten zu schonen, al- les sehr dunkel. Leider sind die Schilder an den Ausstellungsvitrinen kaum zu lesen. Ein Stern der in Trotzdem: eine ausgezeichnete Ausstellung, mit Glanz und Gloria. die Herzen leuchtet... informationen „Die Kaiser und die Säulen ihrer Macht. Von Karl dem Großen bis Friedrich Bar- barossa“ zu sehen bis zum 18. April 2021 im Landesmuseum Mainz, Große Bleiche 49–51, Mainz. Von Dienstag bis Sonn- tag ab zehn Uhr geöffnet. Wegen Corona empfiehlt sich, das Online-Ticket zu nut- zen. Wer mit Familie anreist, dem sei die parallel stattfindende Mitmachausstellung „Ritter, Bauer, Edeldame“ empfohlen. In sieben Themenbereichen können Kinder www.herrnhuter-sterne.de ab dem siebten Lebensjahr mittelalterli- ches Leben ausprobieren.

44 zeitzeichen 11/2020 Werbung und PR kirche Foto: epd/Renate Meinhardt epd/Renate Foto: Ein Plakat der großangelegten EKD-Imagekampagne 2002.

„Volles Konto an Liebe“ Werbung und PR sind für die evangelische Kirche längst kein Teufelszeug mehr

thomas krüger

Vor fünfzig Jahren bildete ls sich am 16. November 1970 Mitar- Ziel der Neugründung war es, ei- sich der erste überregionale Abeiter von 17 evangelischen Einrich- ne Struktur für den Ideenaustausch zu Zusammenschluss kirchlicher tungen in der katholischen Bischofsstadt schaffen, Fortbildung zu organisieren Werbefachleute, später bekannt Fulda trafen, schrieben sie ein Stück und vor allem die Gemeindebasis bes- Geschichte. Die Pfarrer und Diakone aus ser und preiswerter mit Plakaten und als „Kooperation Werbedienst“. volksmissionarischen Ämtern, Öffent- anderen Werbemitteln für Schaukästen Werbung und Öffentlichkeitsarbeit lichkeitsstellen, landeskirchlichen Wer- oder Gemeindebriefe zu bedienen. Der der evangelischen Kirche in bediensten und dem Diakonischen Werk Arbeitskreis sei „aus der Not heraus“ eigener Sache waren damals noch der EKD gründeten den „Evangelischen entstanden, sagt Herbert Kirchmeyer umstritten – heute genießen sie breite Arbeitskreis für Werbung und Public Re- vom Amt für Gemeindedienst in Nürn- Anerkennung als Teil kirchlicher lations“. Damit schlossen sich vor fünf- berg nach einem Blick ins Archiv: Da die zig Jahren erstmals bundesweit Vertreter EKD die Finanzierung der Vorläufer- Publizistik. Der Journalist dieses kirchlichen Arbeitszweiges zusam- organisation „Vocamus“ („Wir rufen“), Thomas Krüger zeichnet die men, dessen Existenzberechtigung zu je- eines Vereins von Kirchenvertretern Entwicklung nach. ner Zeit noch angezweifelt wurde. und Werbefachleuten, wegen „fehlender

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gesamtkirchlicher Bedeutung“ abgelehnt Plattformen für die Verkündigung des hatte, griffen Landeskirchen und Diako- Evangeliums zu finden. Und es gab die nie zur Eigeninitiative. reale Nachfrage aus den Gemeinden nach Ab 1971 brachte der Arbeitskreis praktischen Hilfen für die publizistische unter dem Titel „Evangelischer Werbe- Arbeit vor Ort. dienst“ über drei Jahrzehnte eine Zeit- In seinem 1961 erschienenen Buch schrift mit Arbeitshilfen, Produktvor- Die Werbung der Kirche fand Waldemar stellungen und fachlicher Beratung her- Wilken, Leiter des kurz zuvor gegründe- aus. Ein Bestellkatalog mit Werbeartikeln ten Amtes für Öffentlichkeitsdienst der kam hinzu, der als „KOMM-Katalog“ bis Hamburgischen Landeskirche (AfÖ), heute existiert – seit über 15 Jahren nun eine Kompromissformel: „Werbung ist auch online. Der Zusammenschluss war nicht Verkündigung. … Werbung hat eine auch eine Triebfeder für die Gründung vermittelnde und dienende Aufgabe. Sie

des Gemeinschaftswerkes der Evangeli- hört an der Kirchentür auf.“ Wilken, ein epd/Jens Schulze Foto: schen Publizistik (GEP) 1974 in Frank- Pionier kirchlicher Werbearbeit, hatte be- furt am Main, das seither die kirchlichen reits zuvor im Evangelischen Männerwerk überlassen, und distanzierte sich zugleich Akteure in verschiedenen Medienberei- Hamburg einen „Arbeitskreis für Wer- von dieser Haltung. chen vernetzt. bung und volksmissionarisches Schrift- Heßlers Äußerung dokumentiert „Dass das GEP auch einen Fachbe- tum“ installiert. Auch in Ostdeutschland den in den 1980er-Jahren einsetzenden reich ,Werbung und Public Relations‘ er- tat sich was: Das Berliner Sonntagsblatt be- Sinneswandel. „Schwindende Beteili- hielt, war umstritten“, berichtet Holger richtete 1956 über eine erste Rüstzeit zur gung am kirchlichen Leben zeigte, dass Tremel, der viele Jahre diesen Bereich im Schaukastengestaltung in Dresden. man Kirche in der Öffentlichkeit einla- Gemeinschaftswerk leitete. Zwar hatte Den Dialog zwischen Kirchen und dend präsentieren muss“, berichtet der es in Deutschland bereits Anfang der Werbung beförderte damals die Evange- Theologe und Soziologe Tremel. Auch 1920er-Jahre erste theologische Überle- lische Akademie Tutzing. Nachdem ein die PR-Branche hatte sich gewandelt: Öf- gungen gegeben, ob und wie Kirche für führender Werbefachmann den Kirchen fentlichkeitsarbeit wurde nicht mehr als sich werben solle. Doch diesen zarten vorgeworfen hatte, sie verstünden nicht, Marketing-Instrument angesehen, son- Pflänzchen hatte Professor Karl Barth den sich der Mittel der modernen Werbung dern sollte einen Dialog mit ihren Ziel- Garaus gemacht, als er 1930 – gemünzt zu bedienen, lud die Akademie beide gruppen herstellen. „Dieser Ansatz traf auf die Selbstdarstellung der evangeli- Seiten zu Werbetagungen ein. Daraus sich mit dem Anspruch der Kirche, durch schen Kirche in der Weimarer Republik entstand eine aufsehenerregende Initia- Kommunikation Gemeinschaft zu ermög- tive: Die Leser der Bild-Zeitung staun- lichen“, sagt der Experte. „Es galt nun, Innerhalb von zwanzig Jahren stieg ten 1961 nicht schlecht, als wöchentlich theologisch zu begründen, warum Öffent- der Anteil der Gemeinden mit Anzeigen mit dem Spruch „Jeder hat ein lichkeitsarbeit nicht nur zu akzeptieren, volles Konto an Liebe“ erschienen. Ein sondern für Kirche auch notwendig ist.“ Gemeindebrief von 20 auf 90 Prozent. Jahr lang stellte der Verlag kostenlos Platz Gemeinsam mit dem Marketingdirektor für Annoncen zur Verfügung, in denen von McCann Erickson, Peter Carlberg, – formulierte: „Die Kirche kann nicht Kirchenvertreter und Werbefachleute langjähriger Vorsitzender des Fachaus- Propaganda treiben. Die Kirche kann zur Nächstenliebe und zum Nachdenken schusses Öffentlichkeitsarbeit beim GEP, sich nicht selbst wollen, bauen, rühmen über Alltagsfragen aufriefen. Aus dieser öffnete Tremel die Türen für den Dialog wie alle Anderen … Man kann nicht Gott Aktion ging 1962 der Verein „Vocamus“ mit Praktischen Theologen wie Henning dienen und mit dem Teufel und der Welt hervor, der Vorläufer des Werbedienstes; Schröer und Rainer Volp. solche Rückversicherungen eingehen.“ mehrere landeskirchliche Werbestellen entstanden ebenfalls in jenen Jahren. 1 000 Fachleute ausgebildet Manipulative Praktiken? Im 1974 neu gegründeten Gemein- schaftswerk der Evangelischen Publizis- Mit Fachdiskussionen und Work- Dieses Verdikt gegen Propaganda tik – kurz GEP – hatte der Fachbereich shops, mit Grund- und Aufbaukursen, wurde noch in der Nachkriegszeit lange „Werbung und Public Relations“ zunächst später den berufsbegleitenden Studien- von Theologen herangezogen, um ihre keinen leichten Stand – so Holger Tremel, gängen Öffentlichkeitsarbeit (ab 1990, Ablehnung moderner Werbung zu un- der 1981 die Leitung der späteren Abtei- seit 2016 beim AfÖ in Hamburg ange- termauern. Zudem hatte in den 1950er- lung Öffentlichkeitsarbeit übernahm. Aus siedelt) und Fundraising (seit 2000 in Jahren das Buch von Vance Packard Die anderen Fachbereichen sei teilweise der der vom GEP mitgegründeten Fund- geheimen Verführer große Wirkung in aka- Öffentlichkeitsarbeit der Status als Pub- raising-Akademie) sowie Initiativen zu demischen Kreisen – der Autor geißelte lizistik abgesprochen worden. Auch der Modellprojekten beförderte das GEP die darin scharf manipulative Praktiken der damalige GEP-Direktor Hans-Wolfgang Professionalisierung und Anerkennung Produktwerbung. Andererseits gab es Heßler räumte 1982 ein, er und andere dieses Arbeitszweiges. In den Studien- insbesondere aus volksmissionarischer hätten Werbung und PR allenfalls „eine gängen wurden seither mehr als tausend Sicht die Hoffnung, durch Werbung neue Chance als Fehlfarbe von Publizistik“ Fachleute ausgebildet, von denen etliche

46 zeitzeichen 11/2020 Werbung und PR kirche

Der damalige EKD-Ratsvorsitzende „Luther-Bonbons“, mit denen Gemeinden Manfred Kock und die damalige seit über zehn Jahren für den Reformati- Hannoversche Landesbischöfin onstag werben. Zu den Verkaufsschlagern zählt auch der zum „Jahr der Taufe“ von Margot Käßmann und das Plakat der der westfälischen Kirche herausgebrach- EKD-weiten Sonntagskampagne 1999. te Waschhandschuh mit der Aufschrift „Gottesgeschenk“. motivieren wollte. Anders geartet war in den 1990er-Jahren die von GEP und EKD „Kooperation Werbedienst“ entwickelte Initiative „Brücken bauen“, bei der es auf Kirchenkreis-Ebene um die Die eigene Zeitschrift des Werbe- Erhöhung der Akzeptanz von Kirche, die dienstes erlebte 2000 als KOMM-Maga- Stärkung kommunikativer Kompetenz zin einen Relaunch und ging schließlich ihrer Mitarbeiter, eine Verbesserung von im Gemeindebrief – Magazin für Öffentlich- Diensten und Angeboten und die Entde- keitsarbeit auf. Die personelle „Kooperati- später Leitungsfunktionen übernom- ckung des Glaubens ging. on Werbedienst“ von Öffentlichkeitsar- men haben. Eigene Presse- und Öffent- 1993 war die Kampagne „misch dich beitern mehrerer Landeskirchen bestand lichkeitsstellen sind heute von der EKD ein“ des Stadtkirchenverbandes Köln die fort – zuletzt waren Württemberg, Bay- bis in die Kirchenkreise nicht mehr weg- erste im evangelischen Bereich mit einem ern, Westfalen, die Nordkirche und Han- zudenken; vielerorts werben inzwischen Millionen-Etat. Mit Aktionszeitungen, nover beteiligt. Ausgerechnet im fünf- Fundraising-Spezialisten um Mittel für Plakaten, Anzeigen und Verkehrsmittel- zigsten Jahr ihres Bestehens hat sie sich kirchliche Projekte. werbung trat die Kirche in den Dialog mit Auch die klassischen Instrumente den Bürgern und stellte eine bessere in- 1993 sorgte „misch dich ein“ gemeindlicher Öffentlichkeitsarbeit er- terne und externe Kommunikation in den im Stadtkirchenverband Köln lebten eine Aufwertung. Dazu trugen Mittelpunkt. Auch die EKD entdeckte GEP-Studien zu Gemeindebriefen oder das Instrument Kampagne für sich, warb für bundesweites Aufsehen. Schaukästen erheblich bei. Der Anteil der zum Beispiel gemeinsam mit den Landes- Kirchengemeinden mit einem eigenen Ge- kirchen 1999 und 2007 für den Schutz nun aufgelöst – die bisherige Struktur meindebrief stieg von den 1970er-Jahren des Sonntages. Im Vorlauf zum 500. Re- mit mehreren Herausgebern und Produ- bis Ende der 1990er-Jahre von einem formationsjubiläum fanden Themenjahre zenten sei zu aufwändig gewesen, erklärt Drittel bis auf über neunzig Prozent und wie etwa das „Jahr der Taufe“ 2011 breite Kirchmeyer. die Qualität nahm zu. Dazu trug auch das Aufmerksamkeit. Doch als Vertriebsschiene für kirchli- Werkbuch Gemeindebrief bei, 1998 gemein- Der Evangelische Werbedienst hat che Werbemittel gibt es den Werbedienst sam vom Evangelischen Werbedienst mit zusammen mit dem GEP nicht nur für weiter. Der Evangelische Presseverband dem GEP herausgegeben, sowie ein Jahr die Grundausstattung der Gemeinden Westfalen-Lippe hat die Marke samt On- später ein auf CD gepresster „Illu-Pool“ mit Werbemitteln gesorgt, sondern auch line-Shop und Printkatalog übernommen mit Grafiken, Cartoons und Zeichnungen. überregionale Aktionen begleitet, so etwa und sorgt auch für neue Produkte. Noch immer zählen gedruckte Gemeinde- 2002 die EKD-Imagekampagne „Lassen Herbert Kirchmeyer, der bis Oktober briefe zu den wichtigsten Informations- Sie uns gemeinsam Antworten finden“ im bayerischen Amt für Gemeindedienst quellen über das kirchliche Leben vor Ort. oder die „Sonntags-Initiative“. Die von tätig war, sieht den Auftrag der Gründer In den 1980er-Jahren entstanden ers- der hannoverschen Landeskirche angesto- des Werbedienstes von vor fünfzig Jahren te Öffentlichkeitsinitiativen und Kam- ßene Aktion „Advent ist im Dezember“ als erfüllt an: „Die Öffentlichkeitsarbeit pagnen, die das GEP zum Teil selbst entwickelte sich bald zur bundesweiten ist in der Kirche anerkannt, tritt professi- mit angestoßen und begleitet hat. Auch Kampagne – unterstützt vom Werbe- onell auf und wird von außen wahrgenom- die evangelische Fastenaktion „Sieben dienst mit Plakaten und Broschüren. „Der men.“ Was es aber noch bräuchte, sei ein Wochen ohne“ mit inzwischen Millio- Werbedienst war und ist eine der Säulen Kreativ-Pool, ein zentrales Kampagnen- nen Teilnehmern hat ihren Ursprung in evangelischer Öffentlichkeitsarbeit“, sagt büro der Kirche. Der Direktor des GEP, dieser Zeit. Entwickelt und aufs Gleis der Diakon Herbert Kirchmeyer, der viele Jörg Bollmann, lobt die Fähigkeit der gesetzt vom AfÖ in Nordelbien, wurde Jahre in der „Kooperation Werbedienst“ Kirche zu wirkungsvollen Öffentlichkeit- sie aufgrund der bundesweiten Resonanz mitarbeitete. sinitiativen, ist aber in einem Punkt skep- vom GEP übernommen und bis heute Vierteljährlich traf sich der Redak- tisch: Der finanzielle und personelle Auf- weitergeführt. tionsbeirat des Werbedienstes, in dem wand für eine dauerhafte Präsenz mit ei- Große Presseresonanz erhielt 1986 auch das GEP vertreten war, und begut- ner Kampagne sei erheblich, sagte er im die Pforzheimer Kampagne „Einladung achtete neue Vorschläge für Werbearti- März dem Evangelischen Pressedienst. Die in die Kirche – Einladung zum Glauben“, kel im KOMM-Katalog. „Das war ein größte Herausforderung sieht Bollmann die auf dem Kinospot „Manager gegen regelrechter Produkt-TÜV“, so Kirch- aktuell in der Stärkung der Öffentlich- Wahnsinn“ basierte und distanzierte meyer. Stark nachgefragt sind zum Bei- keitsarbeit in digitalen Kanälen wie Face- Kirchenmitglieder zu neuem Engagement spiel die vom AfÖ Hamburg kreierten book, Twitter und YouTube.

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Heilsamer Stachel

jürgen wandel

Die Auslegung des Gleichnisses fällt Hund oder Sauhund? selbst Theologen nicht leicht. Mit dem griechischen Wort für „klug“ werden im vorletzter sonntag des Neuen Testament Leute bezeichnet, die kirchenjahres, 15. november sich auf das Hereinbrechen des Reiches

Gottes einstellen. Man kann das Gleich- privat Foto: nis vom ungerechten Verwalter also als Jürgen Wandel Und der Herr lobte den unge- Mahnung verstehen, dass Menschen ein- rechten Verwalter, weil er klug mal vor Gott ihre Bücher offenlegen und gehandelt hatte. (Lukas 16,8) sich dafür verantworten müssen, dass sie (1891 – 1959). Die Szene spielt in dem den „Besitz verschleudert“ haben, den Dorf Cookham, in dem er lange wohn- Gott ihnen anvertraut hat. Und da reicht te und das er als ein „Paradies“ erlebte. Hund isser scho!“ Mit dieser Redens- es nicht aus, Fehlverhalten, Versäumnisse Die dargestellten Personen tragen Zü- A art drücken Bayern augenzwinkernd und Irrtümer zuzugeben und zu bereuen. ge von Verwandten, Freunden und Bewunderung für ein Schlitzohr aus. Vielmehr sollten Menschen klug sein wie Nachbarn. „Hund“ ist hier genauso wenig eine Belei- der Verwalter und versuchen, den Scha- Jedes Mal, wenn ich die Tate Gallery digung, wie wenn man jemand als „Fuchs“ den, den sie verursacht haben, zu bereini- im Londoner Stadtteil Pimlico besuche, bezeichnet. Als „Hund“ werden in Bayern gen oder zu minimieren. Nur – sein Ver- verweile ich vor dem Gemälde. Die Auf- mitunter aber auch Politiker gelobt, die es halten hat einen Schönheitsfehler. Denn erstehungsszene, die in helles Licht ge- mit der Moral nicht so genau nehmen und er handelt nur aus Eigennutz. taucht ist, fasziniert und berührt mich. sogar das Recht beugen. Die Grenze zwi- Aber Gottes Gnade ist größer, als es Sie nimmt dem Tod etwas von seinem schen dem „Hund“ und dem „Sauhund“ sich Menschen vorstellen können. Und das Schrecken. Ich liebe englische Dörfer, re- ist also fließend. strapaziert das Gerechtigkeitsempfinden. ale und fiktive. Es muss schön sein, dort Ähnlich wie das Lob des „Hundes“ zu neuem Leben zu erwachen, zu bleiben wirkt auf heutige Betrachter, wenn „der und Ruhe und Frieden zu genießen. Herr“ in dem Gleichnis einem Verwalter Aber das Gemälde befördert die fal- kluges Handeln bescheinigt, den die Lu- sche Vorstellung, dass Auferstehung die therbibel „ungerecht“ nennt und die Zür- Sein in Gott Wiederherstellung des alten – mit Paulus cher Bibel „gerissen“. Der Verwalter wird gesprochen – „natürlichen“ Leibes be- beschuldigt, dass er schlecht gewirtschaftet deutet. Diese Auffassung findet sich un- hat. Das will sein Arbeitgeber, der „reiche totensonntag, 22. november ter Christen und dient Atheisten dazu, Mann“, der wahrscheinlich ein Großgrund- den christlichen Glauben als Humbug besitzer war, überprüfen. Er verlangt Ein- abzutun. sicht in die Bücher, und der Untergebene Es wird gesät ein natürlicher Aber genauso fragwürdig ist eine an- fürchtet Entlassung und Verarmung, wenn Leib und wird auferstehen ein dere Jenseitsvorstellung: dass der Leib sein Fehlverhalten rauskommt. Aber er geistlicher Leib. verwest, die Seele aber weiterlebt. Auf steckt den Kopf nicht in den Sand, sondern (1. Korinther 15,44) die Bibel Alten und Neuen Testamentes, nimmt sein Schicksal in die Hand, frisiert auch auf Paulus kann sie sich nicht beru- die Bilanzen mit Hilfe der Schuldner seines fen. Denn er hält an einer Auferstehung Arbeitgebers, erlässt ihnen einen Teil der ie Gräber, die die Kirche der Heili- des Leibes fest. Und das bedeutet nichts Schulden und erkauft so ihr Wohlwollen. Dgen Dreieinigkeit von Cookham an anderes als Auferstehung des Menschen. Ist der Verwalter nun ein „Hund“, wie der Themse umgeben, sind offen. Frauen Denn ein Mensch besteht aus Leib und ihn Bayern bewundern, oder ein „Sau- und Männer schauen über den Rand der Seele. Beide sind untrennbar miteinander hund“, der die Kündigung, eine Klage auf Gruben und Sarkophage. Oder sie sind verwoben und beeinflussen einander. Schadensersatz und Verachtung verdient gerade herausgeklettert und lehnen sich Aber wie sieht nun der „geistliche hat? Ein Lob wäre doch nur angemessen, erschöpft an einen Grabstein. Und da- Leib“ aus, von dem Paulus schreibt? Und wenn der Verwalter seine Fehler beken- zwischen sitzen Gott Vater, Jesus und die wo befindet er sich? In Gott. Mehr lässt nen, bereuen und eine Wiedergutma- Heiligen. sich nicht sagen. Und mehr muss man chung im Rahmen seiner Möglichkeiten Gemalt hat das Gemälde The Resurrec- auch nicht wissen. Natürlich darf man sich versprechen würde. Oder? tion (Die Auferstehung) Stanley Spencer von Bildern wie Spencers Resurrection zum

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Träumen anregen und ermutigen lassen. „Sanftmütigkeit“ noch „Barmherzigkeit“ ihm, als sei er „ganz und gar neugeboren Aber der eigentliche Trost, den der christ- auszeichnen, sondern das Tragen von und durch offene Pforten in das Paradies liche Glaube schenkt, besteht darin, dass Waffen und die Todesstrafe gutheißen. selbst eingetreten“. So entwickelte sich der wir nicht ins Nichts hinein sterben, son- Die Gewaltgeschichte des Chris- Augustinermönch zum Reformator, der dern in den Gott, von dem Paulus nach tentums ist gut erforscht und bekannt. eine gewaltige Veränderung der Kirche der Überlieferung der Apostelgeschichte Weniger bekannt sind dagegen – leider und der Welt bewirkte. Und dem anglika- (17,28) bekannte: „In ihm leben, weben – Kirchen und Christen, die dem Frie- nischen Pfarrer John Wesley (1703 – 1791) und sind wir.“ defürsten Jesus nachfolgten. Wer weiß wurde es „seltsam warm ums Herz“, als er schon, dass kurz nach Beginn des Ersten bei einer Versammlung Luthers Vorrede Weltkriegs, vom 1. bis zum 3. August 1914 zum Römerbrief hörte. Schließlich wurde Christen aus zwölf Ländern in Konstanz der Engländer zum Gründer der Metho- am Bodensee zusammenkamen und „die distenkirche, die den Protestantismus und Umdenken bewirkt Kirchen aller Länder“ aufforderten, „ihren die Gesellschaften Großbritanniens und Einfluß auf Volk, Volksvertretung und der USA stark beeinflusst hat. Regierung“ zu nutzen, „gute und freund- In der Regel vollzieht sich „das Kom- 1. advent, 29. november schaftliche Beziehungen zwischen den men des Herrn“ weniger dramatisch und Völkern herzustellen“ und „den Zustand deutlich. Ja, manchmal ist es nicht einmal gegenseitigen Vertrauens“ zu schaffen, zu erkennen. Nach der Überlieferung Du Tochter Zion, freue dich „den zu erstreben das Christentum die des Matthäusevangeliums (25, 31 – 46) sehr und du Tochter Jerusa- Menschheit gelehrt hat“. sagt Jesus beim „Weltgericht“ zu den lem jauchze! Siehe, dein König Natürlich ist es nicht einfach, die „Gerechten“, was sie Hungrigen, Frem- kommt zu dir … und reitet auf Bergpredigt umzusetzen. Und so haben den, Armen und Gefangenen Gutes getan Theologen und Nichttheologen aus un- hätten, „das habt ihr mir getan“. Und die einem Esel … Der Kriegsbogen terschiedlichen Gründen oft versucht, sie Pointe der Geschichte ist: Die Angespro- soll zerbrochen werden. Denn zu relativieren. Aber Gott sei Dank ist chenen hatten gar nicht gemerkt, dass sie er wird Frieden gebieten den die Bergpredigt ein Stachel geblieben, Jesus in seinen „geringsten Brüdern“ be- Völkern, und seine Herrschaft der Christen immer wieder gepikst und gegnet waren. wird sein von einem Meer zum zum Nach- und Umdenken veranlasst hat. Im Kirchenjahr gibt es Zeiten, in So übt der Friedefürst Jesus seine Macht denen „das Kommen des Herrn“ beson- andern. (Sacharja 9,9 – 10) aus und verhindert, dass das Christentum ders zu spüren ist. In der Weihnachtszeit zu einer Religion verkommt, die Gewalt gehen Menschen oft liebevoller mitein- n diese Verheißung knüpfen die befördert und rechtfertigt. ander um als sonst. Oder sie bemühen APalmsonntagsgeschichte (die Erzäh- sich zumindest darum. Es wird mehr ge- lung von Jesu Einzug in Jerusalem) und spendet für die „geringsten Brüder“ Jesu, Adventschoräle wie „Tochter Zion“ an. in unserem Land und weltweit. Und vor Denn Christen sehen in Jesus den von Weihnachten werden keine Strafbeschei- Sacharja prophezeiten Friedefürst. Mal so, mal so de zugestellt und Gefangene oft vorzei- Juden hat das nie eingeleuchtet. Sie tig entlassen. Auch darin lässt sich „das können darauf hinweisen, dass „von ei- Kommen des Herrn“ erkennen, der Liebe nem Meer zum andern“, das heißt: dass 2. advent, 6. dezember und Barmherzigkeit verkündigt und prak- auf der ganzen Welt nur teilweise Friede tiziert hat. herrscht und Rüstungsgüter eher expor- Selbst in einem stark entkirchlichten tiert und eingesetzt als verschrottet wer- So seid nun geduldig, Brüder Land wie England zieht es die Leute wäh- den. Und glauben Christen wirklich, dass und Schwestern, bis zum Kom- rend der Adventszeit in die Kirchen, zu Jesus der Friedefürst ist? Auf der einen men des Herrn. (Jakobus 5,7) den Carol Services, Gottesdiensten, in de- Seite sangen sie im Advent, „Sanftmütig- nen Carols, Advents- und Weihnachtslie- keit ist sein Gefährt“ und „sein Zepter ist der, gesungen werden. Und an Weihnach- Barmherzigkeit“. Auf der anderen Seite anchmal geschieht das „Kommen ten platzen die Kirchen wie in Deutsch- hatten in evangelischen Kirchen (von an- Mdes Herrn“ auf ungewöhnliche und land aus allen Nähten. Das hat mit Tradi- deren ganz zu schweigen) Patriarchen das sogar unmittelbare Weise. Paulus hörte tion und Gewohnheit zu tun. Aber nicht Sagen, für die „Sanftmütigkeit“ eine Ei- – nach der Überlieferung der Apostelge- nur. Worte der Bibel wie die Weihnachts- genschaft von Frauen und verweiblichten schichte – vor Damaskus Jesu Stimme. So geschichte, altvertraute Weisen, Lichter Männern war. In kirchlichen Einrichtun- wurde aus dem Verfolger der Christen der und Kerzen, die in der Dunkelheit leuch- gen war es lange üblich, Kinder zu ver- Apostel, der Nichtjuden für das Chris- ten, schenken Geborgenheit trotz Not prügeln oder noch schlimmer zu misshan- tentum gewann und den Grundstein für und Tod. Auch dies lässt sich als „das deln. Und in den USA wählen die meisten eine Weltreligion legte. Als Martin Luther Kommen des Herrn“ deuten, der Gottver- Christen, die sich als „wiedergeboren“ be- im Turmzimmer des Schwarzen Klosters trauen und Nächstenliebe gepredigt und zeichnen, Politiker, die sich weder durch zu Wittenberg den Römerbrief las, war es verkörpert hat.

11/2020 zeitzeichen 49 kirche Judenfeindschaft Foto: Tobias-Bild Universitätsbibliothek Tübingen Tobias-Bild Foto: Frommer Christ und Antisemit zugleich Der Tübinger Theologe und „Judenforscher” Gerhard Kittel

manfred gailus

Der renommierte Tübinger Der renommierte Tübinger Neutesta- im Rahmen der Gesamtwissenschaft” Neutestamentler Gerhard Kittel mentler Gerhard Kittel (1888 – 1948) war urteilte Kittel: Das Judentum sei eine (1888 – 1948) war ein glühender gewiss ein frommer Christ. Als neutes- Krankheit am deutschen Volkskörper, tamentlicher Theologe bekannte er sich deren Schwere es nicht erlaube, sich einer Judenfeind. Sein Lebenswerk war das leidenschaftlich antijüdisch und nannte „romantischen Harmonisierung und Idea- Theologische Wörterbuch zum Neuen das Neue Testament wiederholt das „an- lisierung” hinzugeben. Sobald die Juden- Testament (ThWNT) – Generationen von tijüdischste Buch der ganzen Welt”. Als forschung aufhöre, „ihren Gegenstand als Theologiestudentinnen und -studenten völkisch denkender Zeitgenosse der Hit- Ab-Art, als Un-Art, als Krankheit und als haben mit diesem Standardwerk lerzeit äußerte er sich gleichzeitig explizit Pervertierung zu sehen”, vergehe sie sich gearbeitet. Über einen Theologen, der antisemitisch. Sein frommes Christsein an ihrer Bestimmung, Dienerin an der möchte ich ihm, der biografisch aus dem Erkenntnis der Natur, des Echten und auch nach dem Krieg nie Reue zeigte, schwäbischen Pietismus stammte, nicht Gesunden zu sein. Gerade wegen seiner schreibt der Historiker Manfred Gailus. absprechen. Doch sein veritabler Antise- Singularität und „wesenhaften Pervertie- mitismus lässt sich ebenso wenig in Zwei- rung echten Völkerdaseins” sei eine ei- hristen, so ist heute oft zu hören fel ziehen. genständige wissenschaftliche Judaistik Cund zu lesen, könnten nicht zugleich In seiner 1942 verfassten Denk- notwendig. Nur auf der Grundlage einer Antisemiten sein. Diese These ist falsch. schrift über die „Stellung der Judaistik zielsicheren Judaistik werde es möglich

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Gerhard Kittel (1888 – 1948) mit nahm damit die Nürnberger Rassenge- des antiken Judentums nahm er an allen seiner Frau – eines der wenigen erhal- setze (September 1935) geistig vorweg. vier Jahrestagungen dieser Einrichtung tenen Fotos des Theologen, der das Von einem expliziten Rassenantisemitis- (1936 – 1939) teil und publizierte durch- mus führender NS-Ideologen grenzte er gängig in deren antisemitischer Schrif- Judentum gut kannte und dennoch sich vorsichtig ab und trat für einen nach tenreihe. Auf einer Begleitveranstaltung abgrundtief hasste. seiner Ansicht ‚besseren’, einen wissen- zur Münchener Ausstellung „Der ewige schaftlich fundierteren und stärker christ- sein, die wesenhafte Erscheinung des Ju- lich inspirierten Antisemitismus ein. Als „Ehrengast des Führers” dentums zu bestimmen und die „jüdische Kittels Werk war vielschichtig. Es nahm Kittel am Nürnberger Gefahr” zu bannen. gab den genuin theologischen Forscher Kittel schrieb diese Zeilen im vierten mit wissenschaftlichen Beiträgen zum Reichsparteitag 1938 teil. Kriegsjahr 1942, als der Holocaust in vol- Frühchristentum und antiken Judentum, lem Gange war und die jährliche Zahl jü- die international Anerkennung fanden. Jude” referierte Kittel im Dezember 1937 discher Opfer ihren Zenit erreichte. Man Es gab den ordinierten Theologen, der über „Die rassische Entwicklung des Ju- möchte Kittels soeben zitierte Positionen seinen Christenglauben von der Kirchen- dentums”. Als „Ehrengast des Führers” ungern auf das Konto eines christlichen kanzel verkündete. Es gab den völkisch- nahm er am Nürnberger Reichsparteitag Antijudaismus buchen. politischen „Judenforscher”, der sich in 1938 teil. Kollaboration mit Hitlerpartei und NS- Im Dezember 1941 verfasste Kittel ein Mit 33 Jahren Professor Staat begab. Gutachten über den in Berlin inhaftierten Eigentliches Zentrum seines Lebens- Pariser Attentäter Herschel Grynszpan Geboren 1888 in Breslau als Sohn des werks war jedoch das Theologische Wörter- und stellte dessen Pariser Gewalttat vom aus Württemberg stammenden renom- buch zum Neuen Testament (ThWNT), des- November 1938 als die Tat eines vom in- mierten Alttestamentlers Rudolf Kittel, sen erste vier Bände unter seiner Heraus- ternationalen Weltjudentum gesteuerten trat Gerhard Kittel früh in die Fußstapfen geberschaft von 1933 bis 1942 erschienen. „Talmudjuden“ dar. In einem Artikel über seines Vaters: Theologiestudium, Promoti- Generationen von Theologiestudenten das „talmudische Denken und das Juden- on, Habilitation – das alles ging sehr rasch (und bald nach dem Krieg auch -studen- tum” (publiziert Oktober 1941) schrieb vonstatten, mit 33 Jahren war er Professor Kittel: „Talmudisch gedacht ist der Jude für Neues Testament in Greifswald, wenig Kittel entfaltet allein der eigentliche Mensch, der diesen später (1926) Inhaber des Schlatter-Lehr- ein christliches Namen verdient. Der Nichtjude verhält stuhls in Tübingen. Wie so viele Protes- „Überlegenheitsnarrativ” sich zum Juden wie die Spreu zum Wei- tanten hatte auch Kittel 1933, im Jahr des zen, wie der Staub zur Perle, wie die Fehl- Machtantritts Hitlers, sein genuin pro- gegenüber dem Judentum. geburt zum lebenden Kind, wie das Tier testantisches Erlebnis: Eintritt in die NS- zum Menschen. Selbst der Hund verdient DAP, Mitwirken bei den antisemitischen tinnen) haben mit diesem Standardwerk noch den Vorzug vor dem Nichtjuden.” Deutschen Christen, dazu rege Publizistik gearbeitet. Aus naheliegenden Gründen im völkischen Zeitgeist. steht die Frage im Raum, inwieweit sich Vorbereiter des Holocaust Kittels Büchlein „Die Judenfrage” (Ju- Kittels dezidierter Antijudaismus und ni 1933) kann als eine der einflussreichs- sein völkischer Antisemitismus in den Erst Anfang 1943, so Kittel nach dem ten protestantischen Stellungnahmen Beiträgen des ThWNT niedergeschla- Krieg, habe er durch seinen auf Kriegsur- der Epoche gelten. Auch der Christ, so gen haben. Die jüngste Analyse des Pa- laub in Tübingen weilenden Sohn Eber- meinte er, müsse seinen Platz in der aktu- derborner Theologen Martin Leutzsch hard von den systematischen Judentötun- ellen Front des antisemitischen Kampfes weist nach, dass dezidierter Antisemitis- gen im Osten erfahren. Tätigen Anteil am haben. Wenngleich er einen Rassebegriff mus in den wissenschaftlichen Beiträgen Holocaust nahm Kittel gewiss nicht. Und nur sparsam und eher implizit verwen- nur marginal vorkommt. Durchgängig sei auf die Schreckensnachrichten aus dem dete, so beklagte er in dieser Schrift wie das Wörterbuch jedoch von einem struk- Osten dürfte er entsetzt reagiert haben. in vielen künftigen Publikationen eine turellen modernen christlichen Antijuda- Zu den geistigen Vorbereitern des Holo- unheilvolle „Blut- und Rassenmischung” ismus durchdrungen, um ein christliches caust wird man den Tübinger Theologen in Deutschland und erkannte darin ein „Überlegenheitsnarrativ” gegenüber dem indessen zählen müssen. „Gift”, das die „Zersetzung” des deut- Judentum zu entfalten. Am 3. Mai 1945 nahm die in Tübin- schen Volkes seit der Judenemanzipation gen eingerückte französische Besatzungs- des 18. Jahrhunderts bewirkt habe und nur Kollaboration mit dem NS-Regime macht acht Professoren der Eberhard- durch eine harte völkische Politik wieder Karls-Universität in Haft, darunter auch korrigiert werden könne. Durch die Tau- Kittels politisch-ideologische Kolla- Gerhard Kittel. Halbjährige Gefängnis- fe, so betonte der Theologe, werde ein boration mit dem NS-Regime kam vor al- zeit, Lagerhaft für belastete NS-Täter in übertrittswilliger Jude nicht Deutscher, lem durch Mitarbeit in der „Forschungs- Balingen und Zwangsaufenthalt in Beu- sondern bleibe ein „Judenchrist”. abteilung Judenfrage” des führenden NS- ron mit Arbeitserlaubnis für die Kloster- Kittel votierte schon 1933 für ein Ver- Historikers Walter Frank zum Ausdruck. bibliothek – erst im Februar 1948 konnte bot christlich-jüdischer Mischehen und Als renommierter Theologe und Experte Kittel nach Tübingen zurückkehren. Auf

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seine Tübinger Professur verzichtete er, im Reinen. Er habe, so schrieb er 1946, Scholder schwer mit dem beschwiegenen verlangte jedoch ein angemessenes Ruhe- nicht einem einzigen Juden auch nur ein Thema. In seinem großen 900-Seiten- gehalt und wünschte, die Herausgabe des Haar gekrümmt. Vielmehr habe er der Werk über „Die Kirchen und das Dritte ThWNT fortsetzen zu dürfen. Am 11. Juli NS-Weltanschauung und ihrem „Vulgär- Reich” (1977) erwähnt er Kittel lediglich 1948 verstarb der Theologe nach schwerer antisemitismus” als mutiger christlicher einmal marginal in den Anmerkungen. Es Krankheit im Alter von 59 Jahren. Kittel Bekenner widersprochen und in diesem waren Scholders damalige Assistentin Le- starb nicht an innerer Gebrochenheit oder kritischen Sinn in der Partei gewirkt. Mit onore Siegele-Wenschkewitz und der US- seelischer Zerknirschung. diesem Widerstand habe er viel riskiert, amerikanische Historiker Robert P. Das gegen ihn eingeleitete Spruch- wiederholt sei ihm mit Konzentrations- Ericksen, die sich zeitgleich seit den spä- kammerverfahren kam zu seinen Lebzei- lager gedroht worden. ten 1970er-Jahren des tabuisierten The- ten nicht mehr zum Abschluss. Nach La- mas annahmen. Siegele-Wenschkewitz ge der Dinge und im Vergleich mit ande- Kein Haar gekrümmt wagte sich dabei offenbar zu früh zu weit ren „Fällen” wäre er wohl freigesprochen vor mit ihrer couragierten Aufarbeitung worden. In seiner Rechtfertigungsschrift Über den „Fall Kittel” ist zu Nach- – und büßte damit eine Hochschulkarri- kriegszeiten viel geschwiegen worden. ere als Kirchenhistorikerin an den deut- Kittel zeigte Der württembergische Landesbischof schen Theologischen Fakultäten ein. nur geringe Spuren , zugleich erster Ratsvor- sitzender der EKD, verteidigte den Theo- subjektiver Schuldeinsicht. logen in einem „Gutachten” 1947 gegen Anschuldigungen und urteilte, es habe literatur „Meine Verteidigung” (1946) finden sich zum kirchlich-theologischen Lehrauftrag Manfred Gailus/Clemens Vollnhals lediglich geringe Spuren einer subjektiven Professor Kittels gehört, die „göttlichen (Hg.), Christlicher Antisemitismus im Schuldeinsicht. Er bekannte Mitschuld an Ursachen der Verwerfung des Volkes Is- 20. Jahrhundert. Der Tübinger Theolo- der allgemeinen Katastrophe der Deut- rael” aufzuzeigen. ge und „Judenforscher“ Gerhard Kittel. schen. Individuell fühlte er sich indes- Noch in den 1970er-Jahren tat sich der Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen sen als gläubiger Christ mit sich selbst Tübinger Kirchenhistoriker Klaus 2020. Foto: Wikimedia/NARA Foto: Im Juli 1945 sichtet ein Rabbiner im Keller des „Instituts zur Erforschung der Judenfrage“ gestohlene Thorarollen. An diesem Institut hatte Kittel gearbeitet.

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„Liebe Mutter“ Laila Haidari setzt sich in Kabul für Drogenabhängige ein

andrea jeska (text) · jordan siegel (fotos)

Afghanistan hat die welthöchste und in ihren Augen die Qual der Sucht. Afghanistan hat die welthöchste Quote an Drogenabhängigen, rund Die meisten scheinen uralt und sind doch Quote an Drogenabhängigen, rund drei drei Millionen sollen es sein. noch jung. Wer hier landet, ist verdammt. Millionen sollen es laut einer Schätzung Es sei denn, Laila Haidari kommt. Wenn der Vereinten Nationen sein, das sind drei Laila Haidari holt Drogenabhängige in sie zu den Junkies von Kabul unter die Prozent der Bevölkerung. Fast die Hälfte Kabul von der Straße und gibt ihnen Brücke kriecht, dann rufen sie: „Liebe davon sind Frauen. Eine Dosis Heroin neue Hoffnung. Jordan Siegel Mutter.“ Sie reichen ihr die Hand, vor- kostet zwei Dollar, so viel wie ein Brot. und Andrea Jeska sind nach sichtig führen sie sie ins Halbdunkel, Seit Beginn des Krieges, den die Ameri- Afghanistan gereist. bevor sie sie umringen mit ihren Klagen kaner gegen die Taliban führen, hat die von Hunger, Ekzemen, Erschöpfung, Verzweiflung. „Hab doch Mitleid“, bitten Seit Beginn des Krieges hat die nter der Charai-Mazari-Brücke liegt sie, wenn Laila ihnen unter dieser Brücke Opiumproduktion am Hindukusch Udas Schattenreich von Kabul. Im wieder mal eine Standpauke hält, warum Halbdunkel des niedrigen Brückenbo- sie ihr Leben nicht ändern, nicht zu ihr einen Höchststand erreicht. gens hausen jene, die das Leben in einer kommen, um endlich frei zu sein von der Kriegszone ausgespuckt hat. Der lang- Sucht nach Heroin und Crystal. Fort von Opiumproduktion im Land am Hindu- sam dahinkriechende Kabul-Fluss trägt diesem Ort der Verdammten, der Fäkali- kusch einen Höchststand erreicht, ist Schlamm, Müll und Fäkalien heran. Im enbrühe, in der sie leben. Oder wenn sie dort einer der weltweit größten Absatz- Schlamm liegen Männer, auf ihren Ge- schweigend ihren Entschuldigungen zu- märkte entstanden. Mit dem vornehm- sichtern der Schorf von Hautkrankheiten hört, warum sie wieder rückfällig wurden. lich im Süden – in den von den Taliban

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An der Rückseite von Lailas Restaurant liegt ein Garten, in dem sich Gäste ausruhen können. Eine Gruppe von Männern versucht, im Rehabilitationszentrum zu entgif- ten und von den Drogen loszukommen.

sie auch Abgeordnete und Minister, am liebsten die von Kabuls Ministerium für Drogenbekämpfung. In regelmäßigen Ab- ständen, meist, wenn sie rettungslos ver- kontrollierten Provinzen Helmand und kräftig mit am Opiumhandel, korrupte schuldet ist, bittet sie dort um Geld und Kandahar – angebauten Schlafmohn Strukturen und Clanwirtschaft begüns- Hilfe. Doch beides erhält sie selten. Fast finanzieren diese ihren Terror, den sie tigen ein mafiöses Netzwerk. fünftausend Drogenabhängige hat Hai- gegen die Amerikaner und gegen die Laila Haidari ist vierzig Jahre alt. Ei- dari in den vergangenen zehn Jahren aus Bevölkerung ausüben. Sie erheben auf ne kleine Frau mit einem runden Gesicht der Hölle unter der Brücke und von den den Anbau Steuer und Schutzgelder. Der und energischen Bewegungen. Es kommt Straßen der afghanischen Hauptstadt Ka- amerikanische Geheimdienst schätzt die vor, dass sie beim Autofahren lauthals bul geholt, ungefähr fünfzig pro Monat. jährlichen Einnahmen auf 200 Millionen Männer beschimpft, die rücksichtslos Sie hat sie in ein Haus gebracht, in dem Dollar. Doch auch die Regierung verdient drängeln. Wenn es sein muss, beschimpft sie sich waschen und schlafen können, sie

54 zeitzeichen 11/2020 hat ihnen die verlausten Haare scheren verarbeitet wird, sind bislang gescheitert, einem Jurastudium und der Scheidung lassen, ihnen saubere Kleidung, Essen, trotz vieler Milliarden, die vor allem die von ihrem Mann zog sie 2009 nach Ka- Gebete, Aktivitäten, vor allem aber eine USA dafür ausgaben. 2018, im Jahr 17 des bul. „Ich wollte einfach kein Flüchtling neue Würde und so etwas wie Liebe gege- Krieges der Amerikaner gegen die Taliban mehr sein.“ Ihr Bruder Hamid lebte be- ben, die einer strengen Mutter. Fordernd und das Drogengeld, wuchs der Anbau reits in der afghanischen Hauptstadt, und beschützend zugleich. Die meisten, von Schlafmohn um 63 Prozent. die ihr aus dem Halbdunkel unter der Laila Haidari wuchs in Pakistan auf, Laila Haidari hat Brücke in ihr Haus folgten, waren nach dahin floh ihre Familie vor den Taliban. erfahrene Hilflosigkeit ein paar Tagen wieder weg. Doch die, die Mit zwölf Jahren wurde sie verlobt, mit 13 blieben, hatten eine gute Chance, wenigs- verheiratet, mit 14 Jahren Mutter. Nichts in Stärke verwandelt. tens den Entzug zu schaffen, wenigstens davon aus eigenem Willen. Mit 16 be- zu der Einsicht zu gelangen, im tiefsten gann sie, sich politisch zu betätigen, half doch er war unauffindbar. Haidari wusste, Morast des Lebens zu stecken. anderen afghanischen Flüchtlingen, nahm er ist drogenabhängig. So beschloss sie, an Protesten gegen Menschenrechtsver- ihr eigenes Hilfswerk zu gründen. Sie Mutter mit 14 Jahren letzungen und Korruption teil. Mit 18 nannte es „mothertrust“, entsprechend landete sie im Gefängnis, ihr Mann, ein ihrer Überzeugung, dass Fürsorge, Liebe Alle Versuche der amerikanischen und Mullah, holte sie nach vierzig Tagen dank und Unterstützung schon der halbe Ent- der afghanischen Regierung, den Anbau seiner Verbindungen dort wieder heraus. zug sind. Sie mietete zwei Häuser: eines von Schlafmohn zu unterbinden, aus dem Haidari hat die erfahrene Hilflosigkeit in für Frauen, eines für Männer. Sie vernetz- Opium gewonnen und im Land zu Heroin Stärke verwandelt. Nach drei Kindern, te sich mit Narcotics Anonymous, einer

11/2020 zeitzeichen 55 Im Restaurant Taj Begum in Kabul finden ehemals Drogenabhängige Arbeit und Anerkennung.

nach dem Prinzip der anonymen Alkoho- letzteren die ersteren. Sie hat Schulden Last sie erdrückt. Wo beginnt ein geschei- liker aufgebauten Selbsthilfegruppe. Und beim Lebensmittelhändler, beim Was- terter Staat? Für Laila Haidari beginnt er benutzte deren Zwölf-Stufen-Programm serwerk, beim Stromanbieter. Sie wird um dort, wo es keine Hilfe für die Opfer gibt für ihre Organisation. einen erneuten Aufschub bitten müssen. und für Menschlichkeit kein Raum bleibt. International blieb ihr Engagement Für sie sind der Krieg und die Korruption Kräutertee gegen Kälte nicht unbemerkt. Der amerikanische Fo- innerhalb der Regierung verantwortlich tograf Steve McCurry war vor einigen für die hohe Zahl an Abhängigen. Viele Um all das finanzieren zu können, Jahren bei ihr und hat sie fotografiert. in ihrer Obhut sind traumatisiert, wurden hat Haidari ein Restaurant eröffnet. Taj Eine kanadische Filmemacherin hat eine gefoltert oder verletzt. Viele sind HIV- Begum heißt es, steht mitten in Kabul. Dokumentation über sie gedreht: Leila at infiziert. Viele haben eine lange Reihe Das Personal des Restaurants besteht aus the bridge. Auch afghanische Zeitungen von Gewalterfahrungen hinter sich. Im- ehemaligen Abhängigen. Haidari sitzt berichten. Und doch behauptet Haida- mer wieder wird sie am Telefon oder in müde im Nebenzimmer und raucht zu ri, sie zahle bis heute alles aus eigener den sozialen Medien bedroht, entweder viele Zigaretten, trinkt Kräutertee gegen Tasche, was sich nicht überprüfen und von Fundamentalisten, die behaupten, die Kälte. Die Gäste kommen erst in ein nicht widerlegen lässt. Ob nun wahr oder sie sei eine schlechte Frau, die sich mit paar Stunden, und sie hat den Ofen noch nicht, wie groß die Aufgabe ist, die sie Kriminellen und Prostituierten umgebe. nicht angemacht. Sie muss sparen. Vor ihr sich auflud, merkt man an dem Unsteten, Oder von der Drogenmafia, der ihre Öf- auf dem Tisch liegt ein Block, auf dem Gehetzten, das sie umgibt, als müsse sie fentlichkeitarbeit nicht passt. 2013 hat sie sie Einnahmen und Ausgaben des Mo- allen Dingen einen Schritt voraus sein, als daher ihre damals noch minderjährigen nats notiert. Wie meist überschreiten die müsse sie schnell genug laufen, bevor die Kinder zu Verwandten nach Deutschland

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Männerhaus steht am Rande von Kabul, werden sie nicht wieder alles kaputt ma- in einem Stadtteil, in dem die arme Be- chen. Doch sie habe erkannt, welch ein völkerung wohnt. Die riesigen Protzvil- Irrtum dieser Gedanke sei. „Jeder Mensch len, die sich all jene bauen, die mit den hat das Recht, seinen eigenen Weg zu su- Drogen Reichtümer verdienen, findet chen.“ Für sich hat sie ein Bild gefunden, man hier nicht. Wer hier wohnt, weiß nur das diesem Ort entspricht, an den sie wie- zu gut, wie das Leben am Rande des Ab- der und wieder zurückkehrt, um den Ver- grunds ist. lorenen wenigstens Barmherzigkeit, war- mes Essen, Seife, Salbe gegen die Haut- Spuren in den Seelen krankheiten zu bringen. „Eine Brücke“, sagt sie, „ergreift auch keinen Menschen Khadir M., 35 Jahre alt, ist einer der am Arm und zieht ihn auf die andere Sei- Bewohner. Seit drei Monaten ist er dort, te. Er muss sie schon aus sich selber über- er kam selber zu Haidari und bat um Hil- queren.“ fe. Elfmal hatte er zuvor den kalten Ent- zug geschafft – und wurde jedes Mal wie- der rückfällig. Auch bei Haidari gibt es kein Methadon und keinen begleitenden Arzt für den Entzug, aber jeder, der in ih- rem Haus wohnt, hat einen Mentor, einen Begleiter durch die schlimme Zeit. Dass er diesmal bislang clean blieb, schreibt Khadir M. der Tatsache zu, dass ihm Haidari das Prinzip der Abhängigkeit er- klärte. Er habe seine Ängste erkannt und seine Schwächen. Zu Hause warten Frau und Kinder auf ihn, doch er glaubt, noch Zeit zu brauchen. Zwanzig Jahre Sucht, sagt er, hätten Spuren in den Seelen sei- ner Frau und der Kinder hinterlassen. Er wolle nur als geheilter Mann wieder mit ihnen leben. Für das Zusammenleben im Haus gibt es strenge Regeln. Wer hinausgeht und wiederkommt, wird durchsucht. Diskri- minierung oder gar verbale oder andere Gewalt sind Grund für einen Rauswurf. Jeden Morgen und jeden Abend sagen geschickt, nachdem ein religiös motivier- sie zusammen das Mantra der Selbsthil- ter Mob ihr Restaurant angriff. Als un- fe, von einem Gott, der ihnen die Gelas- begleitete Flüchtlinge gelangten die drei senheit geben soll, die Dinge zu akzep- Geschwister über die Balkanroute nach tieren, die sie nicht ändern können, und den Mut, zu ändern, was sich ändern lässt. Haidari ist allein So einfach, wie es sich anhört, ist es in all diesem, allerdings nicht. Auch unter Laila Hai- daris Schützlingen ist die Rückfallquote eine kleine Frau gegen hoch. Nicht für jeden findet sie Arbeit. eine schreckliche Welt. Nicht jeder wird wieder in seiner Fami- lie willkommen geheißen, und ein Mann Europa. „Natürlich hat es mir das Herz ohne familiären Rückhalt ist in Kabul ein gebrochen“, sagt Haidari. „Aber sollte ich verlorener Mann. meine Arbeit hier aufgeben?“ Haidari selbst hat nicht wieder gehei- In Haidaris Männerhaus ist Waschtag. ratet. Sie ist allein in all diesem, eine klei- Zwölf kahlköpfige, ziemlich hagere Män- ne Frau gegen eine große, schreckliche ner schrubben im Hof in einem Bottich Welt. Am Anfang, wird sie irgendwann ihre Kleidung. Die besteht aus orangenen im Gespräch sagen, dachte sie, wenn sie Bevor Gäste kommen, wischt ein Anzügen, die aussehen, als seien sie von die Elenden aufnimmt, wenn sie ihnen ehemaliger Drogenabhängiger der Hare-Krishna-Sekte ausgeliehen. Das hilft, von der Droge loszukommen, dann den Boden.

11/2020 zeitzeichen 57 leserbriefe

Zeugnis hen. Es ist also nicht mehr von einer „Sonst geht es der Kirche wie dem Kategorienverwechslung zwischen Umweltschützer, dessen moralisch fun- Wissenschaft und Glaube zu sprechen, dierte Kritik an dem profitorientierten Gunther Britz aus Saarwellingen sondern von einem grundsätzlichen Konzern folgenlos bleibt.“ Wären etwa zu Gerhard Wegner „Familie ist Fehlen der Kategorie Glaube. Das ist Umweltschützer besser beraten, wenn entscheidend“ (zz 8/220): etwas anderes, als was Berger zu sehen sie sich auf das Unternehmen einlassen meint. Darum geht sein gutmeinender und sich an dessen Philosophie orien- Ja, Christsein, erst recht (offizielle) Ratschlag, der „Christenmensch habe tieren würden? Da sage ich: Eure Stim- Kirchenmitgliedschaft ist heute alles vor- und fürsorglich auf Gott zu blicken me im Konzert der gesellschaftlichen andere als selbstverständlich; der „so- und seinen Intellekt zu gebrauchen“, Systeme möchte ich nicht missen, liebe ziale Druck“ ist weg, das reichte wohl in die Leere. Man müsste formulieren: Umweltschützer – selbst wenn sie schon, und das sollte uns sehr nach- Wo kein Glaube ist, tritt eine Leere an wenig Resonanz hat. Genau das steht denklich machen. Entscheidend für die die Stelle, die eben den Glauben nicht der Kirche auch gut an. Zukunft des christlichen Glaubens wird ausfüllen oder ersetzen kann, auch Gerd Bohlen nach all meinen Erfahrungen nur das wenn das durch Faktengläubigkeit sug- „Zeugnis des gläubigen Vorlebens“ (K. geriert wird. Es gälte nämlich, gerade Rahner) sein, nicht nur in der Familie, angesichts einer gesamtgesellschaft- Befremdet und dies gerade auch bei Jugendlichen, lichen Krise wie der vorliegenden, bei denen nicht ohne Grund der Be- diesen Blick auf Gott erst wieder zu griff „echt“ ganz vorne steht. Und, wie etablieren, zu suchen und zu schulen. Bernhard Reich, Kirchenmusikdirektor schon das Neue Testament mahnt, Hier haben Kirchen und Theologen in Calw, zu Stephan Kosch „Relevanz, „Salz der Erde“ (Mt 5, 13) müssen wir sträflich versagt, indem man nämlich Resonanz, Regentanz“ (zz 9/2020): sein – mehr als bisher! Damit werden keine theologischen Fragen stellte und wir uns bei vielen unbeliebt machen; keine glaubensmäßigen Ratschläge den Wie differenziert man eine Anwendung das wird wahrscheinlich auch nicht die Menschen anbot, sondern sklavisch die des viel verwendeten Wortes von der Volkskirche (soweit es die überhaupt Ideen und Vorgaben der Wissenschaft Systemrelevanz auf kirchliche Arbeit noch gibt) retten, wohl aber die Zu- umzusetzen versuchte. und deren Relevanz für Staat und Ge- kunft des Glaubens und der Kirche. Michael Baumann sellschaft sehen muss, hat der Autor Gunther Britz einleuchtend dargelegt. Befremdet bin ich jedoch über das Ausblenden eines Zu kurz gesprungen großen Bereichs der Verkündigung, Leere wenn er diese auf „Wort, Schrift und Bild“ reduziert und feststellt, dass Gerd Bohlen aus Leer zu Stephan während der Corona-Beschränkungen Michael Baumann, Pfarrer in Kosch „Relevanz, Resonaz, Regentanz“ „weiterhin gepredigt, gebetet, nachge- Wiesendangen, zu Adrian Berger (zz 9/2020): dacht, Abendmahl gefeiert, das Evange- „Das Orakel der Wissenschaft“ lium verkündet“ wurde. Dass während (zz 9/2020): Durchaus hilfreich ist die Einordnung des Lockdowns gemeinsames Singen der Frage der Systemrelevanz in vor- nicht möglich war, hat innerhalb der In der heutigen, komplett säkularisier- handene Systemtheorien. So wird die EKD nicht nur einen großen Bereich ten und nachchristlichen Gesellschaft Thematik mit Hilfe von Niklas Luhmann der Verkündigung ausgeschlossen hat in weiten Teilen die Wissenschaft aufgedröselt, um schließlich bei Hart- und wesentliche Elemente der gottes- alle anderen Sichtweisen auf die Wirk- mut Rosas Resonanztheorie zu landen. dienstlichen Feier verhindert, sondern lichkeit falsifiziert – oder wir haben Der Ansatz ist zur Zeit en vogue. Aber auch circa 30.000 Musikensembles mit sie das tun lassen. Wir leben in einer da tut sich schon eine Akzentverschie- 500.000 Mitgliedern unmittelbar be- reduktionistischen Zeit. Das bringt die bung auf, als dass Rosa in seiner neu- troffen und verstummen lassen (Zahlen Radikalität des verbreiteten Agnosti- esten Publikation gerade das Moment aus der EKD-Statistik). Wie sieht es mit zismus zum Ausdruck (Berger spricht der „Unverfügbarkeit“ der Resonanz- vom „praktischen Atheismus“, was die erfahrung stark gemacht hat. Gänzlich Sache aber nicht klarer macht). Dieser zu kurz gesprungen scheint mir aber Leserbriefe geben die Meinungen­ ist basal und strukturell in der west- das gewählte Beispiel des Konfliktes der Leserinnen und Leser wie- lichen Gesellschaft verbreitet. Anders zwischen einem börsennotierten Öl- der – nicht die der Redaktion. gesagt: Dem modernen Menschen ist konzern und engagierten Umweltschüt- Kürzun­gen müssen wir uns vor- der Glaube grundsätzlich abhanden zern. Kosch mutmaßt, dass in der Kir- behalten – und leider können wir gekommen und genommen worden. che umso mehr Resonanz erzeugt wird, nur einen Teil der Zuschriften ver­ Das hat schon der luzide Hans Urs von je mehr sich das kirchliche Handeln an öffentlichen. Balthasar in der beginnenden Moderne diesen (gemeint sind die verschiedenen [email protected] und ihrer tragischen Geschichte gese- gesellschaftlichen Systeme) orientiert.

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der gottesdienstlichen Relevanz des ner Meinung nach werden vielerorts Fünfhundert Jahre nach Luthers Schrift Singens der Gemeinde und der vielen jedoch die falschen Schlüsse daraus über das allgemeine Priestertum aller Musik-Ensembles aus, die wöchentlich gezogen. Eigentlich müssten auf allen Glaubenden ist unsere Kirche immer durch Musik verkündigen? Hauptsa- verantwortlichen Ebenen der Evange- noch viel zu pfarrerzentriert! Es muss che, es wird gepredigt? Und wie sieht lischen Kirche in Deutschland sämtliche bald Schluss sein mit jeglicher Form es mit der gesellschaftlichen Relevanz Alarmglocken läuten, wenn wir be- von Pfarrherrlichkeit und Amtsdenken! von über 60.000 kirchenmusikalischen denken, dass die Zahl der Pfarrerinnen (…) Die „Elf Leitsätze“ gehen in die Veranstaltungen mit bis zu 7,5 Milli- und Pfarrer in den kommenden Jahren richtige Richtung, auch wenn sie noch onen Zuhörenden aus, die weit über drastisch abnehmen wird! Auch in nicht konkret genug werden. den Personenkreis hinausreichen, die unserem Beruf schlägt der demogra- Jan Fragner mehr oder weniger regelmäßig Gottes- phische Wandel voll durch. Die große dienste besuchen? Pensionierungswelle kommt erst noch. Bernhard Reich Gleichzeitig kommen zu wenige junge Merkwürdig Kolleginnen und Kollegen nach. Zwar sinkt gleichzeitig außerdem die Zahl Richtige Richtung der Kirchenmitglieder. Doch trotzdem Dr. Hans-Gerd Krabbe, Pfarrer i. R. in kann die Arbeit nicht auf immer we- Achern, zur Debatte um die niger Schultern verteilt werden. Die „Elf Leitsätze“: Jan Fragner, Pfarrer in Wuppertal, Pfarrerinnen und Pfarrer werden diese zur Debatte um die „Elf Leitsätze“: Identifikationsrolle in Zukunft nicht Will sich Kirche, will sich die EKD mehr so wahrnehmen können wie frü- selbst abschaffen? Erahnen die elf Mit- Gleich in mehreren Beiträgen wird her. Um es klar zu sagen: Die Zukunft glieder des „Z-Teams“ um den EKD- Kritik geübt an dem EKD-Papier „Elf der Kirche liegt nicht im Hauptamt! Das Vizepräsidenten Thies Gundlach, die Leitsätze – Kirche auf gutem Grund“. EKD-Papier hebt meiner Meinung nach Landesbischöfe und Kirchenführer an Vor allem wird kritisiert, dass „die ganz bewusst keine besondere Berufs- seiner Seite, was sie mit den „Elf Leit- Pfarrerinnen und Pfarrer“ darin nicht gruppe hervor, und das zu Recht. Erin- sätzen“ anrichten? Wissen sie (noch), vorkommen. Zur Argumentation wird nert sei an Barmen IV: „Die verschie- dass sich Kirche Jesu Christi von unten die letzte EKD-Mitgliedschaftsstudie denen Ämter in der Kirche begründen her aufbaut, von den Ortsgemeinden herangezogen, nach der sich mehr als keine Herrschaft der einen über die her? Und dass jede Schwächung der drei Viertel der evangelischen Kirchen- anderen, sondern die Ausübung des der Ortsgemeinden schließlich auch die EKD mitglieder über eine Pfarrperson mit ganzen Gemeinde anvertrauten und schwächt? Wissen Sie, wer die Finanz- ihrer Kirchengemeinde identifizieren. befohlenen Dienstes.“ Das sogenannte mittel aufbringt, von der (auch) die EKD Das mag ja sein, dass die damalige „Z-Team“ befindet sich meiner Mei- lebt? Wohin denn soll der Zug zukünftig Studie das herausgefunden hat. Mei- nung nach genau in dieser Tradition. fahren? Aus den Bahnhöfen der Orts- gemeinden heraus – doch wohin? Was dann, wenn Gottesdienste nicht mehr Bitte ausschneiden und im Briefumschlag senden an: ABONNEMENTBESTELLUNG oder immer weniger an jedem Sonntag Gemeinschaftswerk der ev. Publizistik an jedem Ort stattfinden, wenn immer Kundenservice zeitzeichen mehr Sonn- und Feiertag-Gottesdienste Postfach 50 05 50 60494 Frankfurt am Main in Regional- und Mittelpunkt-Kirchen Fax 069 / 580 98-226 zentralisiert werden? Wenn die Par- Ich bestelle zeitzeichen ochie zerschlagen und die Gemeinde * als Print-Abonnement für 78,00 € im Jahr an andere Orte verlagert wird? Weiß * als online-Abonnement für 46,80 € im Jahr derjenige, der „Attacken auf die Orts- Der Bezug ist jederzeit kündbar. Alle Preise inkl. MwSt. und Versand – die Preise gelten in Europa. gemeinde“ (Gerhard Wegner) reitet, Bitte liefern Sie zeitzeichen an: was er tut? Welchen Schaden er anrich- tet? Wie zerstörerisch er wirkt? Wer wollte das wollen? Wie lieblos werden Nachname | Vorname in den „Elf Leitsätzen“ Ortsgemeinden und Gemeindepfarrer bedacht und zu Straße | Hausnummer Unrecht herabgewürdigt. Von der „Ver- einskirche“ ist die Rede, von „parochi- PLZ | Ort alen Strukturen, die ihre dominierende Ich bezahle nach Erhalt der Rechnung. Hinweis zu AGB, Datenschutz und Widerrufs- Stellung … verlieren, die sich wandeln recht unter: http://zeitzeichen.net/fileadmin/download/agb_zeitzeichen_16.pdf werden“ – doch von Jesus Christus als dem einen Herrn der Kirche („der seine

Datum | Unterschrift des neuen Abonnenten Gemeinde sammelt, schützt und erhält“, so der Heidelberger Katechismus in Ant-

11/2020 zeitzeichen 59 leserbriefe

wort 54) und vom Wirken des Heiligen nun selbst vor der Frage: Soll ich aus Bedford-Strohm war es, welche mich Geistes findet sich in den „Leitsätzen“ dieser EKD (Kirche seit 2015) austreten, dazu animiert hat, dieses Interview kein Wort. Auffällig, merkwürdig! obwohl ich 1980 zum Pfarrer in der aufmerksam zu lesen. Dabei beein- Hans-Gerd Krabbe ELKWü ordiniert wurde? Austreten, druckt es mich, wie er in Gott sowohl rechtzeitig vor der totalen Machtergrei- die Allmacht wie auch die Ohnmacht fung der Ökonomen? Über den Zentra- sieht, welche sich in der Menschwer- Austritt aus gutem Grund lismus der Reichskirche in der NS-Zeit dung Jesu offenbart hat. Der Mensch hat mich 1969 Heinrich Steitz in Mainz neigt doch dazu, entweder an die Kraft eindrücklich belehrt, die EKD-Spitzen Gottes zu glauben oder aufgrund seiner Dr. Reinhard Schmidt-Rost, 2020 lassen solche Kenntnis vermissen. eigenen Wünsche und Vorstellungen, Professor em. in Bonn, zur Debatte Das stimmt bedenklich. welche oft nicht in Erfüllung gehen, um die „Elf Leitsätze“: Reinhard Schmidt-Rost an der Existenz Gottes zu zweifeln. Ist diese Erkenntnis, dass die Allmacht und Über siebzig Jahre Erfahrungen mit Kir- die Ohnmacht Gottes zusammengehö- che in Deutschland enthalten viel Bit- Beeindruckend ren nicht elementar notwendig, damit teres über Austritte von Hochverbun- wir die Ausstrahlungskraft und den denen, Studenten, MitarbeiterInnen, authentisch gelehrten Glauben emp- Angehörigen, die sich am Gehabe Fritz Häuselmann aus Rothenfluh/ fangen? Im Gegensatz zur Konfessions- einzelner Pfarrer*innen oder kirchen- Schweiz zum Interview mit Heinrich zugehörigkeit und zur Anzahl der Mit- leitender Personen und Gremien, dem Bedford-Strohm „Alles ist auf dem glieder sind die Charaktereigenschaften Auftreten der „Institution“ insgesamt, Prüfstand“ (zz 9/2020) wohl von primärer Bedeutung. Gott ist so ärgerten, dass sie ihre Landeskirche nicht daran interessiert, die Menschen verließen, in der sie intensiv mitgewirkt „Wir müssen Abschied nehmen von zu irgendetwas zu nötigen. Er macht hatten. Wenn ich die „Elf Leitsätze“ mit einem Bild von Gott als einem, der alles uns in Jesus Christus ein einmaliges ihrer unternehmerischen Herrschafts- unter Kontrolle hat.“ Diese Aussage Angebot. sprache auf mich wirken lasse, stehe ich des EKD-Ratsvorsitzenden Heinrich Fritz Häuselmann

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60 zeitzeichen 11/2020 Musik rezensionen

Sirach, Psalm 3, 17 und 119) – di Lassos Jetzt ist er bereits 79 und die Sorge Erhebend Vermächtnis der Spätzeit auf: fein aus- um seinen nahen Tod naheliegend. In den Orlando di Lassos Vokalmusik gearbeitete, öfter in Hoch- und Tiefchor zehn Songs von Rough and Rowdy Ways, ausbalancierte dialogische Strukturen, darunter das recht unverstellte Intro I madrigalesk aufgefächerte Bögen, affekt- Contain Multitudes, spielt der öfters eine Orlando di Lasso: reiche Textziselierung … berauschend Rolle, aber, wie Dylan in einem seiner sel- Inferno. schön – auch im Lamento. Dabei nimmt tenen Interviews einem New York Times- Cappella man ein mit dieser Musik und ihrem me- Kollegen sagte, der triggere ihn gar nicht. Amsterdam, lismatischen Puls scheinbar urvertrautes Es sei eher das Ende der Menschheit, das Daniel Reuss. harmonia Ensemble wahr, das dicht und transpa- er fürchte. Entsprechend klarsichtig und mundi, 2020. rent zugleich, leuchtend und schatten- schonungslos ist auch das Album, das, reich in einem zu musizieren vermag. etwa in dem im Netz vorab veröffentlich- Einzig der strömend fließende Klang ten Murder Most Foul zum Mord an John selbst fällt aus der madrigalesken Mo- F. Kennedy, ebenso in die Vergangenheit er „göttliche Orlando“, wie ihn einst derne zurück in ganzheitlich polyphones ausgreift, wie es mit dieser Folie die Ge- DKollege Pierre de Ronsard nannte, Weben, das manch rhythmischer Finesse genwart desillusioniert auf den Punkt ist eine Ohrenweide für alle Alte-Musik- die Kraft nimmt. Aber das ist nicht ent- bringt. Wer Falsch-Klischee-mäßig ein Fans. Während sich vor allem seine der- scheidend. Die in den Einzelstimmen Statement zu dem vom einem Cop zu ben Madrigale wie „matona mia cara“, die exzellent besetzte und mit einem beste- Tode gefolterten George Floyd erwartet, den eher geringen Teil seines Oeuvres chend geschmeidigen Chorklang aufwar- darf zwischen den Zeilen lesen. Doch ausmachen, im kleineren Ensemble- und tende Cappella macht diese Stunde der Dylan wiederholt sich nicht. In Hurrica- Kirchenchorbereich großer Beliebtheit er- Erkenntnis zu einer erhebend tiefen. ne wusste er bereits 1976: „If you’re black freuen, ist sein geistliches Werk – ungleich klaus-martin bresgott you might as well not show up on the komplexer – eher den Könnern unter den street/Unless you want to draw the heat.“ Kammerchören vorbehalten und wird un- Keine Botschaften also, aber knietie- gleich seltener aufgeführt. fes Erzählen zu gewieft schattiertem, mal Der Kosmos der Meisterschaft Or- sachtem, mal ruppigem Blues, Talking, lando di Lassos aber verlangt Chorklang, Container Boogie und zarten Meditationen seiner räumlicher Auffassung, Intonation und großartigen Band. Die ersten Schritte plastischer Präsenz viel ab. Und der Kos- Bob Dylans neuste CD ins Wasser fallen leicht, dann können wir mos dieser CD – eine große Klage am rausschwimmen, viele Tage, endlos weit. Bob Dylan: Ende eines großen Lebens – tut dies in Rough and Ufergedanken werden gegenstandslos, der Klage über das Labyrinth der Welt Rowdy Ways. dieser Horizont bleibt wahr, hart und un- und ihre Tücken, über die Zeit und ihre Columbia verstanden. Egal. Hier findet dichtes ge- Vergänglichkeit, doppelt. „Omnia Tem- Records/Sony, schichtengesättigtes Erzählen statt (nicht 2020. pus habent“ ist die große, starke, die CD von ungefähr gilt Calliope, der Muse des eröffnende Motette. Dieses „Alles hat Epos, in Mothers of Muses die Leidenschaft seine Zeit“ steht über der Auswahl und des lyrischen Ichs). zeigt einen Komponisten am Ende seines Dylan kreiert Resonanzräume in stu- Lebens auf der Höhe seiner Kunst – zwi- pender Gleichzeitigkeit, die sich und uns schen Einsicht und Resignation, zwischen eine Botschaften, dafür Beobach- zwischen der Antike und brutaler Gegen- Zweifel und Ergebung. Ktungen, Mythen, Geschichte, An- wart nichts vormachen, verlässlich scho- Die Höhe dieser Kunst spiegelt sich in spielungen, in famoser Musik zu Songs nungslos Herz zeigen, Wärme, Weisheit, der Modernität seiner Kompositionen, in verwoben, für die er berühmt ist. So bleibt Wut und lässige Verweigerung. Seine denen er sich gekonnt dem Madrigalstil Bob Dylan sich und uns auch auf seinem Stimme ist klar, fest. Und die Lyrics sei- öffnet. Damit zeichnet er klingend vor, (gefühlt) 115. Album seit 1962 treu: „Don’t en ihm wie in Trance zugeflossen. Stream was wenig später Claudio Monteverdi follow leaders/watch the parking meters.“ of Consciousness mit enormer Spannkraft, und Heinrich Schütz in der Wort-Ton-Be- Behaltet die Parkuhren im Auge! Rough Wachheit und Reichweite: ein Hochamt ziehung brillant umzusetzen vermögen. and Rowdy Ways ist endlich purer Stoff des Sagbaren, groovy und gehaltvoll. Von hier scheint die Cappella Ams- nach acht Jahren ohne (siehe zz 12/2012), Und nicht bloß Protestanten mögen da terdam ihren Weg genommen zu haben: für blutige Neulinge so tauglich wie für an das Paulus-Wort denken, wonach der Wie aus vorvergangener Zeit lässt sie alte Hasen. Drei Alben mit Coverversi- Glaube aus dem Hören komme. Sinn und zunächst die alte Antiphon „Media vita onen aus dem American Songbook, die Relevanz begegnen hier so skeptisch wie in morte sumus“ erklingen, um kontras- hier unerwähnt blieben, lagen dazwi- überzeugend körperlich. Da lassen sich tierend den polyphonen Stil mit gewich- schen und die überaus dylaneske Posse Scheiben von abschneiden: Brot für viele tendem Kontrapunkt in Erinnerung zu um den lange nicht abgeholten Litera- Tage, keine Botschaften. Bloß Haltung: rufen. Dann blitzt – auch in der lasten- turnobelpreis. Fight the power? Kann man Crossing The Rubicon. den Schwere der Texte (Prediger 3, Jesus so machen. udo feist

11/2020 zeitzeichen 61 rezensionen Hörbuch/Bücher

„paulinische Theologie“ nennt, gegründet Ergreifend Provokation sieht. Jesuanisches Christentum ist radi- Remarque: Flucht aus Europa Christentum und Kirchenkritik kale „Reich-Gottes-Praxis“ egalitärer und solidarischer Mitmenschlichkeit. Jesuani- Erich Maria sches Christentum lässt sich nach Halbfas Hubertus Remarque: Halbfas: bei historisch-kritischer Lektüre vor allem Die Nacht Kann ein aus den synoptischen Evangelien rekon- von Lissabon. Christ Atheist struieren und dem „historischen“ Jesus Der Audio sein? Kann ein Verlag, zuschreiben. Wenn man die caritative Le- Atheist Christ Berlin 2020, sein? bensform des jesuanischen Christentum zwei CDs, Patmos Verlag, als etwas begreift, was sich ohne jeden 106 Minuten. Ostfildern 2020, metaphysischen Transzendenzbezug im 217 Seiten, diesseitigen Leben zwischen Geburt und Euro 25,–. as Kreischen der Möwen, das Tuten Tod abspielt, dann mutet das jesuanische Dder Schiffe, der leicht säuselnde Christentum dem gutwilligen und lern- Wind und das ruhige Meeresrauschen – bereiten Atheisten nichts zu, was er nicht die maritime Idylle in den ersten Minuten unterschreiben könnte. des Literaturhörspiels Die Nacht von Lis- Kann umgekehrt ein Christ Atheist sabon kommt an ihr jähes Ende mit dem sein? Nach Halbfas wird „ausschließlich Einstieg in die Geschichte. Es ist die von ubertus Halbfas ist als mutiger ka- die ‚Reich-Gottes-Praxis‘ überdauern, so- Flucht, Vertreibung und einer großen Htholischer Theologe bekannt, der weit sie gelebt wird“. Nicht überdauern Liebe. Sie dokumentiert die jahrzehntelan- schon lange mit seiner Kirche im Streit werde das „Christentum paulinischer ge Auseinandersetzung des Exil-Schrift- liegt und diesen Streit seit Jahrzehnten Theologie“, an dem Halbfas kein gutes stellers Erich Maria Remarque mit dem in seinen Publikationen beherzt fortsetzt. Haar lässt. Er kritisiert die paulinische Verdrängen und Vergessen. Er, dessen Sein neuestes Buch liest sich wie eine Art Theologie als eine Erfindung des Pau- Bücher 1933 von den Nazis öffentlich ver- Bilanz dieser Auseinandersetzung, in der lus, der sich um den historischen Jesus brannt wurden, verließ Deutschland schon Halbfas noch einmal das Grundsätzliche in keiner Weise schere. Vielmehr hypo- 1932 und wird 1938 ausgebürgert. Sein seiner Auffassung vom Christentum und stasiere Paulus Christus mythologisch fünfzigster Todestag, der sich in diesem seiner Kirchenkritik prägnant zusammen- als ein transzendentes Himmelswesen, Herbst jährt, bietet Muße, diese von Silke fasst und verteidigt. von dem Christen glauben sollen, dass Hildebrandt mit leisen Einspielungen im Diese bilanzierende Selbstverteidi- Christus für die Sünde der Menschen Hintergrund inszenierte und exquisit aus- gung schlägt sich nicht zuletzt in aus- am Kreuz gestorben und von den Toten gestattete Gemeinschaftsproduktion von führlichen Selbstzitaten nieder. Von auferstanden sei. Wer wie Halbfas einen WDR und Radio Bremen zu hören. dieser Anlage her enthält das Buch kaum solchen Christenglauben verabschieden 1942, im Hafen von Lissabon, drückt etwas, was man nicht schon anderswo bei will, räumt damit die letzten Hürden Josef Schwarz, die mit Max von Pufendorf Halbfas gelesen hätte. Aber der fehlende beiseite, die einen Atheisten daran hin- ausgezeichnet besetzte erzählende Haupt- Neuigkeitswert ändert nichts daran, dass dern könnten, „jesuanischer“ Christ zu figur, einem namenlosen Mann zwei Fahr- das Buch sich durch viele bedenkenswer- sein. Aber nochmals kritisch andershe- karten für eine Schiffspassage nach New te, kluge Überlegungen empfiehlt. Auch rum nachgefragt: Kann auch ein Christ York in die Hand. Einzige Bedingung: wer nicht allem, was Halbfas grundsätz- Atheist sein? Dieser, gesprochen von Max Simoni- lich überlegt, zustimmt, wird doch noch Das diesseitige jesuanische Chris- schek, soll ihm eine Nacht lang zuhören, einmal daran erinnert, wie schlecht es tentum ist, wie gesagt, atheistisch adap- wenn er seine Geschichte von Verhaftung, in diesem Falle der katholischen Kirche tierbar. Das nimmt ihm nichts von sei- Flucht, Liebe und „Exilkoller“ erzählt. Die ansteht, wenn das kirchliche „Lehramt“, ner provokanten Radikalität. Aber die beiden Männer ziehen durch die Bars, es statt völlig legitime Überlegungen in ih- christliche Heilszusage wird halbiert und entspinnt sich eine dichte Stimmung. Die rer theologisch-wissenschaftlichen Selbst- entschärft, wird sie nur weltimmanent ver- zurückhaltend eingesetzte Musik, kompo- reflexion erörtern zu lassen, lieber dem ortet und begrenzt. Das Christentum ist niert von Julia Klomfaß und Magdalena Kritiker das „Maul verbietet“ und ihn aus radikaler. Zu Recht wird die Heilszusage Graça, unterstreicht mit ihrem Akkorde- ihren eigenen Reihen verbannt. des Christentums von den meisten so ge- on und den Streichern die melancholische, Halbfas lässt seine Kritik an gewissen deutet, dass sie alle Toten einbezieht. Die nahezu trostlose Atmosphäre. Spielarten des Christentums auf die zwei Übel und Leiden und auch der Tod wer- Und doch ermöglicht das verzweifelte Titelfragen abzielen, ob Christen Atheis- den für jeden Menschen nicht das letzte Schicksal von Schwarz und seiner Frau ten und Atheisten Christen sein können. Wort behalten. Christlicher Glaube ohne Helen (Lisa Hrdina) die Rettung für das Seiner zweifach bejahenden Antwort antizipierende Hoffnung auf die Aufer- unbekannte Paar. Hoffnung und Verzweif- liegt eine fundamentale Unterscheidung weckung der Toten, auf die Versöhnung lung, ein tragisches Duo, in dieser erstmals zugrunde. Halbfas setzt das jesuanische der Menschen miteinander und mit Gott als Hörspiel gestalteten Exilerzählung. Christentum von allen anderen Chris- ist auch „jesuanisch“ kaum denkbar. Wir kathrin jütte tentümern ab, die er auf dem, was er haben gute Gründe, dem historischen

62 zeitzeichen 11/2020 Bücher rezensionen

Jesus die eschatologische Hoffnung auf – soweit es um die Plausibilisierung der werden kleingeredet. Welche Perspekti- die Auferweckung der Toten als Heilszu- Jesusgeschichten geht und um die Veran- ven die Evangelien ein- und ausblenden, sage Gottes zuzuschreiben. So betrachtet schaulichung eines heilsgeschichtlichen wird nicht erörtert. Die Kategorie der aber stehen wichtige Begriffe paulinischer Narrativs, dass Jesus am „Nullpunkt“ in Erinnerung, die neue Wege der Jesusfor- Theologie weiterhin auf der Tagesord- die Welt gekommen ist, dem göttlichen schung zeigt, wird nicht genutzt. nung: der Bezug auf eine metaphysische „Meisterplan“ gemäß, als es weder mit So liegen tausend Seiten „Weltge- Wirklichkeit jenseits der empirischen Er- dem Judentum weiterging noch mit Herr- schichte“ im Namen Jesu vor, die in der fahrungswelt, die Auferweckung der To- schern wie Herodes und das Imperium Sprache von heute eine uralte Tradition ten und anderes. Daran wird ein Atheist Romanum nur eine Scheinblüte erlebte. wiederbeleben: die Evangelienharmonie. nicht glauben wollen, aber ein „Jesuaner“ Spieker ist ein bekannter Journalist thomas söding sehr wohl. Insofern kann ein Atheist nur und Sachbuchautor. Aufgewachsen ist ein halber Christ sein und ein Christ nur er in einem evangelischen Pfarrhaus, das, ein halber Atheist. wie er in entwaffnender Offenheit be- holm tetens kennt, immer noch „in“ ihm ist. Er hat viel gelesen, viel nachgedacht – und sich Aktualisiert? dann seinen eigenen Reim auf die Über- lieferung wie die Bibelkritik der Mo- Über das Predigen heute derne gemacht: mit dem Ergebnis, dass Ulrich Nembach: Farbig Jesus im Wesentlichen genauso gewesen Predigen heute. ist, wie er der kirchlichen Überlieferung Neue Evangelienharmonie Kohlhammer entspricht. Verlag, In einem ersten Teil charakterisiert Stuttgart 2020, Markus Spieker: 292 Seiten, Jesus. Spieker die Welt, in die Jesus hineinge- Euro 26,–. Eine Welt- kommen ist: zwischen Juden, Griechen geschichte. und Römern. Im dritten Teil zeichnet er, Fontis Verlag, von der Auferstehung her, nach, welche Basel 2020, 1004 Seiten, Wirkungsgeschichte Jesus ausgelöst hat. Euro 30,–. Die Bibel in der Hand, deutet Spieker zweitausend Jahre Weltgeschichte – mit all dem Schönen, das im Neuen Testa- ment angelegt ist, und all dem Schreck- lichen, das die Bibel vorausgesehen hat: und mit einer Hoffnung über jeden Tag ie soll man predigen? Die Beant- hinaus. Wwortung dieser Frage gehört zu Im Zentrum des Buches steht eine Je- den Grundaufgaben der Homiletik. In susbiografie, wie sie farbiger kaum sein seinem Buch Predigen heute hat Ulrich ie Geschichte Jesu sei für ihn „die könnte. „Retter“ ist sie überschrieben, Nembach dazu erneut seine Vorstellungen Dgrößte Geschichte aller Zeiten“, be- weil die Heilssendung Jesu im Zentrum vorgelegt. Dabei handelt es sich um die kennt Markus Spieker im Vorwort – und steht. Sein Leben wird geschildert, seine überarbeitete und aktualisierte Neuauf- sehr viele werden ihm zustimmen. „Jesus Verkündigung charakterisiert, seine Pas- lage des gleichnamigen Werks von 1996. war belastbar, konditionsstark, taff“, heißt sion nacherzählt. Immer wird klar, dass Dass es dem emeritierten Göttinger es, wo Jesus als öffentliche Person einge- Jesus nur von Gott her und auf ihn hin Praktischen Theologen um mehr als das führt wird – und einige werden sich fra- verstanden werden kann. Immer werden rechte Predigen geht, wird bereits im Vor- gen, woher der Autor das weiß. markinische, lukanische, matthäische und wort ersichtlich: „Eine Reform braucht Die Spannung zwischen beiden Sät- johanneische Überlieferungen zusam- die Kirche, zugespitzt gesagt eine neue zen macht den Reiz des Buches aus – und mengespielt: ein „Best of“ der Evangelien. Reformation. Dabei kann die Predigt zeigt sein Problem. Es ist im besten Sinn Das ist Stärke und Schwäche zu- helfen.“ Angesichts der Drohszenarien des Wortes evangelikal: Es orientiert sich gleich. Spieker widersteht der Versu- zur Zukunft der Kirche will Nembach an den Evangelien – und zwar an allen chung, Pseudo-Sensationen zu kreieren, mit dem Werk zugleich in eine „positive vieren. Es ist mit einem gläubigen Her- die immer nur Projektionen mit kurzer Zukunft“ weisen. Dafür begreift er die zen geschrieben – und folgt der Maxime Halbwertzeit sind: Revolutionär, Guru, Nutzbarmachung der digitalen Welt als Jesu in der Übersetzung Martin Lu- Weiser, Therapeut. Er reduziert die „ech- Schlüssel. Auf diesem Feld zeigt sich der thers: „Wes das Herz voll ist, des geht ten“ Jesusworte auch nicht auf „Amen“ Autor als Initiator der „Göttinger Predig- der Mund über“ (Lukas 6,45). Es sucht und „Abba“. Aber die Schwierigkeiten, ten im Internet“ (GPI) bereits seit 1997 einen frischen Ton, der die Aktualität die sich einer wissenschaftlich fundier- als Vorreiter. und Attraktivität der Jesusgeschichte hö- ten Rekonstruktion in den Weg stellen, Der erste von drei Teilen befasst sich ren lässt – und ist sich für Jargon nicht scheinen kaum der Rede wert zu sein. Die mit „Grundfragen zur Predigt“. Hier be- zu schade. Es ist historisch interessiert Widersprüche zwischen den Evangelien stimmt Nembach „Gemeinschaft“ als die

11/2020 zeitzeichen 63 buchtipps

Globale Perspektive Grundlage der Predigt. Dabei setzt er bei über die Kanzelgeschichte“ ist ungewöhn- Harald Roth: Nie wegsehen. der Gemeinschaft von Gott und Mensch lich, aber interessant. Ein Leitfaden zur Dietz Verlag, Bonn 2020, an, die er heilsgeschichtlich rekonstruiert Predigtarbeit und ein Anhang mit Skiz- 288 Seiten, Euro 22,–. und auf die Predigt bezieht: „Die Aufga- zen für Radiogottesdienste schließen das be der Predigt ist das Berichten und Er- Buch ab. „Im Alltag schauen wir zu oft weg. Weg- sehen ist jedoch Gift für die Demokratie zählen von der Gemeinschaft von Gott Insgesamt handelt es sich um ein und das gesellschaftliche Leben“, schreibt und Mensch.“ Die in diesem Abschnitt Werk, das trotz einiger lesenswerter Harald Roth im Vorwort. Deshalb vereint unvermittelte skizzenhafte Postulierung Abschnitte hinter seinen selbst erweck- er in dem von ihm herausgegebenen Band dogmatischer Topoi weiß jedoch sowohl ten Erwartungen bleibt – leider auch in Prominente, Künstlerinnen, Schriftsteller, in ihrem Duktus als auch in ihrem Gehalt formaler Hinsicht. Das Buch ist das, was Journalisten und Wissenschaftlerinnen, wenig zu überzeugen. Anders sieht es mit das Vorwort andeutet: ein interessantes die der Meinung sind, dass man nie weg- der Übertragung des Gemeinschaftsbe- Predigthilfsmittel. sehen darf. Sie dokumentieren, dass Mit- griffs auf das Predigtgeschehen aus. Der gregor bloch gefühl und Zivilcourage grundlegend sind von Nembach zentral ausgeführte Ansatz, für unsere Gesellschaft und unser Zusam- menleben. In ihren Texten, mit dabei auch die Predigt sei „Teilen“, genauer „Teil- der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bed- Geben und Teil-Nehmen durch Reden ford-Strohm und Diakoniepräsident Ulrich und Hören“, insbesondere bei den Er- Lilie, beschreiben sie mutige Beispiele für fahrungsdimensionen „Freud und Leid“, Für Gerechtigkeit beherztes Eingreifen und Einmischen. ist bedenkenswert. Lesenswert sind auch die Abschnitte zum gesellschaftlichen Edda Lechners Erinnerungen Wandel, dem Predigt und Kirche unter- Zur Ruhe kommen Edda Lechner: legen sind. Margot Käßmann: Stärkende Stille. Jesus – Marx – Der zweite, umfangreichste Teil be- Herder Verlag, Freiburg 2020, und ich. fasst sich mit der „Aktuellen Predigtar- Lit Verlag, 150 Seiten, Euro 24,–. beit“. Darin bilden „Internetpredigten“, Berlin 2020, 419 Seiten, Innehalten und Stille genießen, gerade die das Themenfeld „Freud und Leid“, der Corona-Zeit dieses Frühjahrs hat gezeigt, Euro 34,90. wie still es um uns herum und in den Predigttext sowie Ausführungen zur Straßen werden kann. Für die einen eine „heutigen Diskussionslage der Predigt- gespenstische Stille, für die anderen eine probleme“ die Schwerpunkte, wobei bei Wohltat, zu lang hetzten sie schon durch letzterem neuere Modelle wie zum Bei- ihre Leben. Margot Käßmann nimmt sich spiel die dramaturgische Homiletik gar in der ihr eigenen Art des Themas an: nicht in den Fokus genommen werden. persönlich, biblisch und hoffnungsfreu- Bezugnehmend auf das Vorwort er- dig. Sie beschreibt die Stille des heiligen regt der Abschnitt zu den Internetpredig- Raumes, aber auch die musikalische und ten das größte Interesse. Nembach betont astorin Edda Groth – nach ihrer Hei- die tröstende. Und sie legt die letzte dabei, bisweilen polemisch, die Defizite in rat Edda Lechner – war in den auf- Stille aus. Ihr neues Buch ist auch eine P Augenweide, illustriert mit schwarz-weiß der praktischen Umsetzung und homile- geregten Jahren nach 1968 bundesweit gehaltenen Fotos von Andreas Helm und tischen Reflexion in diesem Bereich. Eine bekannt. Die Illustrierte Quick listete sie mit ästhetischer Typografie. Ausnahme bilden für ihn die GPI, die der im Dezember 1974 unter dem Titel „Pfar- Begründer wenig bescheiden als „Vorrei- rer, die dem Terror dienen“ in einer Reihe Zeitpanorama ter und Wegweiser für die Theologie und mit Helmut Gollwitzer, und kirchliche Praxis“ herausstellt. Enttäu- Dorothee Sölle auf. Zu diesem Zeitpunkt Ljudmila Ulitzkaja: Jakobsleiter. schend ist jedoch, dass Nembach schein- war Edda Groth, Pastorin in Hamburg, Deutscher Taschenbuch Verlag, bar nur schriftliche Formen von Internet- gerade aus der Kirche ausgetreten und München 2020, 603 Seiten, predigten vor Augen stehen. Ob er damit hatte damit ihr Pfarramt verloren. Jetzt hat Euro 14,90. dem Internet in Zeiten von Youtube und die inzwischen über 80-Jährige ein Buch Die im Nachlass ihrer Großeltern ent- Co. gerecht wird, darf bezweifelt werden. vorgelegt, in dem sie ihre Entwicklung deckten fünfhundert Briefe aus den Jahren Neue Formen, wie Livestream-Predigten, von der Bauerntochter aus Dithmarschen 1911 bis 1954 bilden den Grundstock und kommen in diesem Werk gar nicht in den über das Theologiestudium bis zur Or- das Narrativ dieser russischen Lebens- und Familiengeschichte, die Ljudmila Blick. So sehr dem Autor bei der Hervor- dination 1967, die gerade erst für Frauen Ulitzkaja aufgeschrieben und literarisch hebung der Relevanz von Internetpredig- möglich geworden war, und zum Pfarramt verarbeitet hat. Es ist eine Erzählung von ten beizupflichten ist, wird der Anspruch und dem schließlichen Kirchenaustritt Einsamkeit und Solidarität, von Liebe und des Werks dadurch untergraben. nachzeichnet. Treuebruch, ein Zeitpanorama und eines Den Schluss bildet der dritte Teil zur Lechners Buch bietet keine wissen- der Emanzipation. Ulitzkaja, die zu den „Geschichte der Predigt“. Die Ausführun- schaftliche Analyse, sondern die eigene wichtigsten zeitgenössischen Schriftstel- gen reichen zwar nur bis zu Schleierma- Sicht der Dinge. Es ist reich mit Fotos lerinnen Russlands gehört, ist ein großar- cher, haben dafür aber die katholische Pre- illustriert, die das Geschehen eben- tiges und faktenreiches Buch gelungen. digt integriert. Der gebotene „Überblick so lebendig vor Augen führen wie die

64 zeitzeichen 11/2020 buchtipps

wiedergegebenen Dokumente: Flug- den hohen Preis des sofortigen Verlusts Ikone des Widerstands schriften, Protokolle, Briefe, Stellung- sämtlicher Bezüge und Versorgungsan- Maren Gottschalk: Sophie Scholl. nahmen und Ähnliches. Obwohl Edda sprüche bezahlten. Verlag C. H. Beck, München 2020, Lechner immer benennt, wer gegen sie Edda Lechner schreibt: „Ich hatte mei- 348 Seiten, Euro 24,–. war und wer auf ihrer Seite stand, muss nen Glauben verloren.“ Als Gründe führt Wenn sich im Mai 2021 der 100. Geburts- man das Buch nicht als Abrechnung mit sie „die Wissenschaft, die politische Er- tag von Sophie Scholl jährt, werden sich den Gegnern lesen – vom Bischof bis zu kenntnis und die eigene Erfahrung“ an. einige Biografen ihrem Leben und Wirken Kirchenältesten, Gemeindemitarbeitern Welchen Anteil daran die Kirche in ihrer als Mitglied der Weißen Rose widmen. und einigen Kollegen. Leitung, im Kollegenkreis und in der Ge- Den Anfang macht die Historikerin Maren Man spürt dem Bericht noch nach meinde hatte, erörtert sie nicht. Sie steht Gottschalk, die schon vor einigen Jahren fünfzig Jahren nach, mit wie viel Engage- dazu, dass den endgültigen Bruch sie die Lebensgeschichte Scholls aufgeschrie- ment und Überzeugung Edda Groth Pas- selbst als persönliche Entscheidung voll- ben hat. Anhand bisher unveröffentlichter torin war. Die Menschen, mit denen sie zu zogen hat. In ihrer späteren politischen Quellen und Zeitzeugengespräche hat sie sich weiter mit Scholl beschäftigt, tun hatte, waren ihr ans Herz gewachsen. Arbeit, die sie bis zum Landesvorsitz die sich im Laufe der Zeit immer stärker Entsprechend groß war die Verletzung, von PDS und der Linken in Schleswig- gegen den Nationalsozialismus stellte und wenn diese Arbeit behindert und diffa- Holstein führte, blieb sie bis heute dem 1942 in den aktiven Widerstand ging. Im miert und sie als Pastorin disziplinarisch Ziel treu, „in dieser Welt für Gerech- Februar 1943 wird sie mit nur 21 Jahren belangt wurde. Immer wieder klingt die tigkeit einzutreten“, auch da gegen alle hingerichtet. „Nur wenn wir verstehen, Enttäuschung durch, dass von kirchen- Widerstände. wie Sophie Scholl dachte, wie modern leitender Seite die inhaltliche Auseinan- Wer damals schon dabei war, stößt in und frei sie war, aber auch wie kompliziert dersetzung verweigert wurde. Bei vielen dem Buch auf viele Fragen, die noch der und selbstquälerisch …, können wir ihre Konflikten handelte es sich, wie Lechner Klärung bedürfen. Die Jüngeren erhalten Leistung für den deutschen Widerstand würdigen“, schreibt Gottschalk. Dazu bemerkt, um kleinliches Geplänkel. Aber Einblick in eine Zeit, die die Gegenwart leistet ihre neue Biografie einen hervorra- im Ganzen war die Konstellation so, dass mehr geprägt hat, als den meisten bewusst genden Beitrag. sie für Edda Groth nur mit dem völligen ist. Bruch gelöst werden konnte. rainer kessler Am Schluss schreibt Edda Lechner, Schmerzvoll ihr Ziel sei immer gewesen, „in dieser Lisa Olstein: Weh. Hanser Verlag, Welt für Gerechtigkeit einzutreten“. Die- München 2020, 159 Seiten, Euro 20,–. ses Ziel führt bereits die Schülerin dazu, Lisa Olsteins Metier ist eigentlich die kirchliche Jugendarbeit anzustoßen. Im Textentdeckungen Lyrik und Weh ihr erstes Sachbuch. Die Vikariat wird die pädagogische Leiden- US-Amerikanerin leidet, wie mehr als schaft befeuert und geformt. Hier finden Deutsche Nachkriegsgeschichte zwölf Millionen Menschen in Deutsch- aber auch schon erste Auseinandersetzun- land, an chronischen Schmerzen. In ihrem Ingo Klaer: Buch versucht sie, sich dem Schmerz gen statt, besonders um die Frauenordi- Alles, was über Farben zu nähern, bemüht römische nation. Für die Gemeindearbeit wird der mein ist, Dichter und Philosophen oder die Bio- Stuttgarter Kirchentag 1969 mit dem ist dein. grafie des Wortes. Sie steigt ein in Filme Motto „Hungern nach Gerechtigkeit“ Verlag Günter oder TV-Serien und in die Kunst. Ein Oettel, poetischer, sehr persönlicher Blick auf ein prägend. Die junge Pastorin betreibt eine Görlitz/Zittau antiautoritäre Jugendarbeit mit dem Ziel, 2019, 328 Seiten, ergreifendes Thema. kritische Menschen zu bilden. Sie gelangt Euro 24,–. zu der Ansicht, dass dies im Kapitalismus Über Babel zum Scheitern verurteilt ist, und will an Kenah Cusanit: Babel. Deutscher ihre Stelle eine antikapitalistische Erzie- Taschenbuch Verlag, München 2020, hung setzen. Theoretisch orientiert sie 267 Seiten, Euro 11,90. sich am Marxismus, politisch arbeitet sie Als Taschenbuch erschienen ist jüngst mit dem Kommunistischen Bund West- der im vergangenen Jahr veröffentlichte deutschland zusammen. Roman Babel. Ausgegraben hat das „Tor Als der Konflikt eskaliert, lehnt Ed- as für ein lesefreundliches Buch Gottes“ der Architekt Robert Koldewey, da Groth zusammen mit ihrem Kollegen Wvoller biblisch-theologischer Ent- von 1899 bis 1917, im Auftrag der Deut- und späteren Ehemann Helmut Lechner deckungen und homiletischer Anregungen schen Orientgesellschaft. Dieser ist auch alles Taktieren ab. Beide kommen zu dem legen hier Johannes Heidler und Christian die Hauptfigur in dem Debutroman von Schluss, dass sie in der Kirche keine Zu- Möller als Herausgeber vor! Sie präsentie- Kenah Cusanit. Babel ist keine Forscher- kunft haben. Zugleich gelangen sie zu der ren damit aus dem theologischen Schaf- biografie, eher eine verdichtete Moment- Erkenntnis, dass sie „nicht mehr an Gott fen von Ingo Klaer (1937 – 2016) einen aufnahme: Historisch und archäologisch kenntnisreich und unterhaltsam im bes- und das Evangelium glauben konnten“. breiten Querschnitt in 23 ganz unter- ten Sinn. Und sie dokumentiert das Fun- Da war der Austritt aus der Kirche ein schiedlichen und doch zugleich innerlich dament, auf dem wir stehen und leben. konsequenter Schritt, für den die beiden zentrierten Einzelbeiträgen und bringen

11/2020 zeitzeichen 65 An dieser Ausgabe haben rezensionen Bücher mitgearbeitet:

Lilith Becker Redakteurin bei evangelisch.de, Frankfurt/Main damit – auch der zeitversetzten deutschen Einsichten und Erkenntnisse gewinnt, Dr. Heinrich Bedford-Strohm Nachkriegsgeschichte seit 1945 geschul- die häufig quer zu den derzeit üblichen Landesbischof der ELKiB und det – eine ganz eigenständige Stimme in Auslegungen liegen. Dabei ist für ihn die Ratsvorsitzender der EKD, München den gegenwärtigen theologischen Diskurs Schrift im Alten Testament und Neuen Dr. Gregor Bloch Vikar, Detmold ein. Testament ein Ganzes, was in den drei Klaus-Martin Bresgott Ingo Klaer war von 1963 bis 1965 Re- alttestamentlichen und in den sieben Germanist, Kunsthistoriker und Musiker, petent am Sprachenkonvikt in Ost-Berlin neutestamentlichen Studien sehr schön Berlin und erschloss sich dort gemeinsam mit illustriert wird. Auch die Studie, die sich Dr. Christoph Butterwegge dem späteren Tübinger Theologiepro- der Analyse der kirchlichen Passionslieder Professor em. für Politikwissenschaft, Köln fessor Eberhard Jüngel eine Form syste- auf die in ihnen zur Sprache gebrachten Dr. Yauheniya Danilovich matischer Theologie, die sich bewusst als Deutungen des Leidens und Sterbens Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Praktische Theologie an der Universität „konsequente Exegese“ verstand. Später Jesu widmet, fügt sich gut in die zehn Münster lehrte Klaer erst am Sprachenkonvikt, biblischen Studien ein und ergänzt sie Dr. Manfred Gailus dann zwanzig Jahre als Dozent für Sys- im Blick auf die kirchlich-geistliche Wir- Apl. Professor für Neuere Geschichte tematische Theologie am Katechetischen kungsgeschichte biblisch-theologischer an der Technischen Universität Berlin Oberseminar in Naumburg. Hier wirkte Aussagen. Udo Feist er als profilierter Lehrer der Theologie Die christologische Dimension, die Autor, Dortmund in der DDR, in der ihm die Bibel zum sich in Textentdeckungen gleichsam von Christoph Fleischmann „Zeugnis der Kommunikation zwischen innen heraus erschließt, ist der systema- Theologe und Journalist, Köln Gott und Mensch“ wurde. Daher war es tische Schlüssel für das ganze Buch und Burkard Hotz Pfarrer i. R., Wiesloch für Klaer auch wesentliche Aufgabe der gibt seinen 23 Beiträgen die sympathische Andrea Jeska Theologie, den Menschen zur Teilnah- theologisch-geistliche Zentrierung. So Journalistin, Cismar me an dieser fundamentalen Kommu- wird die durchaus herausfordernde Lektü- Jürgen Kaiser nikationsgemeinschaft zu befähigen. In re der biblischen Textanalysen immer wie- Pfarrer i. R., Stuttgart Naumburg prägte er Generationen von der mit echter Entdeckerfreude belohnt. Dr. Rainer Kessler Theologiestudenten und bereitete sie Nun hat die Auswahl der Beiträge im Professor em. für Altes Testament, aufs kirchliche Predigtamt in einer athe- Buch von Ingo Klaer in ihren drei Teilen Frankfurt/Main istischen Gesellschaft vor. noch einen zweiten inneren Zusammen- Thomas Klatt Von Ingo Klaers Forschen und Den- hang, der seine Lektüre zu einem Weg des Theologie und Journalist, Berlin ken mehr zu erfahren, dazu dient jetzt das Verstehens in praktischer Absicht werden Thomas Krüger Journalist, Minden zweite Buch Alles, was mein ist, ist dein in lässt. Es ist ein Weg von der Analyse bib- Klaus-Peter Lüdke hervorragender Weise, wobei sich seine lischer Texte über acht Predigtmeditatio- Pfarrer, Altensteig Beiträge sowohl auf die Zeit vor als auch nen bis hin zu fünf Predigten. Und auch Dr. Thomas Mäule nach der friedlichen Revolution von 1989 dieser Zusammenhang ist nicht willkür- Leiter der Stabsstelle „Theologie und Ethik“ verteilen und zum Teil erst nach Klaers lich, sondern eignet wesentlich dem theo- der Evangelischen Heimstiftung, Stuttgart Emeritierung entstanden sind. Klaers logischen Denken Klaers. Dr. Christoph Meyns exegetisch-systematische Studien, die Denn wem die Bibel als einzigartiges Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Braunschweig thematisch und umfänglich den größten Zeugnis der Kommunikation zwischen Teil des Buches ausmachen, entfalten an- Gott und Mensch gilt, der kann sich bei Dr. Hilke Rebenstorf Wissenschaftliche Referentin schaulich die theologische Arbeitsweise ihrer Auslegung nicht auf die Textanalyse am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD, des Autors. beschränken, nein, zu dieser Kommuni- Hannover Sie ist durch präzise Strukturanalysen kationsgemeinschaft zwischen Gott und Jordan Siegel der behandelten Texte gekennzeichnet, Mensch will befähigt und eingeladen Fotografin, Israel auf denen aufbauend Klaer überraschend werden. Dr. Thomas Söding Professor für Neues Testament originelle und zugleich gut begründete burkard hotz an der Universität Bochum Dr. Holm Tetens Professor em. für Philosophie, Berlin Dr. Hans-Georg Ulrichs Pfarrer und Kirchenhistoriker, Karlsruhe Bestellservice für Bücher Sie haben die Möglichkeit, alle Bücher zu bestellen, die in unserem Heft ­vorgestellt werden (in Rezensionen, Buchtipps und Anzeigen).

Montag bis Donnerstag zeitzeichen-Service 8–16.30 Uhr Lesertelefon (069) 58098-173 Freitag Servicetelefon zeitEvangelischezeichen Kommentare zu Religion und Gesellschaft Emil-von-Behring-Straße 3 8–14.30 Uhr 0521/9440 -145 60439 Frankfurt am Main [email protected] Montag bis Freitag: 9 – 16 Uhr

66 zeitzeichen 11/2020 impressum Bücher rezensionen zeitzeichen ist die Nachfolgepublikation von: „Evangelische Kommentare“, „Die Zeichen der Zeit/Lutherische Monatshefte“ und „Reformierte Kirchenzeitung“. issn 1616-4164 Herausgegeben von bedeutete nie ‚Kadavergehorsam‘, sondern Heinrich Bedford-Strohm, München Schatzkammer ein Absehen von eigenen Bedürfnislagen Wolfgang Huber, Berlin Drei Diakonissen und Sarepta gegenüber Gott als Letztinstanz.“ Ilse Junkermann, Leipzig So setzte Emilie Heuser zum Beispiel Isolde Karle, Bochum durch, nicht als Frau Oberin angespro- Annette Kurschus, Bielefeld Ute Gause: Ulrich Lilie, Berlin Töchter chen zu werden, sondern als „Schwester Friederike Nüssel, Heidelberg Sareptas. Emilie“. Auch mit dem Tragen ihrer Kai- Christoph Schwöbel, St. Andrews/Schottland Evangelische serswerther Kleidung bezwang sie den Christiane Tietz, Zürich Verlagsanstalt. Anstaltspastor Friedrich Simon. Sie bau- Leipzig 2020, Gerhard Ulrich, Kappeln/Schlei te die Infrastruktur der Schwesternschaft Michael Weinrich, Bochum 296 Seiten, Euro 22,–. auf, organisierte die Pflege und übernahm Redaktion mit der inneren Verwaltung des Mutter- Reinhard Mawick (Chefredakteur) Philipp Gessler hauses eine umfangreiche Verantwortung. Kathrin Jütte Als sie starb, standen „530 eingesegnete Stephan Kosch Diakonissen, 206 Hilfsschwestern und 92 Ständiger Mitarbeiter: Jürgen Wandel Probeschwestern, in Summa 828 Arbeits- Sekretariat: Claudia Hollwedel, Diana Zschauer kräfte im Dienst Sareptas“. Abo-Marketing: Bernd Hummel Anders Anna Siebel (1874 – 1975). Jebensstraße 3, 10623 Berlin Sie arbeitete als Gemeindeschwester im Tel. 0 30/310 01 13 00, Fax 030/310 01 18 00 E-Mail: [email protected] iakonissenleben in Biografien? Was Ruhrgebiet. Als Ansprechpartnerin in Internet: www.zeitzeichen.net Dseltsam fern anmutet, entfaltet sich ihrer Gemeindestation und durch ihre Beratende Mitarbeiter während der Lektüre von Töchter Sareptas Hausbesuche war sie als Diakonisse vom Johann Hinrich Claussen (Berlin), als reizvolles Stück Zeit- und Frauenge- Krankenbesuch bis zur Sterbebegleitung Johanna Haberer ­(Erlangen), Klaas Huizing schichte. Ute Gause, Bochumer Profes- eingebunden und Teil des öffentlichen ­(Würzburg), Jürgen Israel (Berlin), sorin für Reformationsgeschichte und Lebens. Die Dritte ist Liese Hoefer Reinhard ­Lassek (Celle) Neuere Kirchengeschichte, hat mit bis- (1920 – 2009), die als diplomierte Psycho- Träger her nicht ausgewertetem Archivmaterial login und promovierte Lehrerin für evan- zeitzeichen gGmbH einen eindrucksvollen Weg gewählt, die gelische Theologie sicher eine Ausnahme Geschäftsführer: Reinhard Mawick Jebensstraße 3, 10623 Berlin Geschichte der Bielefelder Diakonissen- in der Schwesternschaft darstellte. „Aber Vorsitzender des Verwaltungsrates: Dietrich Bauer anstalt Sarepta aufzuschreiben: Anhand an ihr wird deutlich, dass gesellschaftli- Verlag und Anzeigen dreier Lebensgeschichten der „Töchter che und politische Reformimpulse in die Gemeinschaftswerk der Sareptas“, die Gause erarbeitet hat, zeigt Gemeinschaft des Mutterhauses hinein- Evangelischen Publizistik gGmbH, sie die Entstehung und Transformation wirkten“, schreibt Ute Gause. Emil-von-Behring-Straße 3, der Diakonissenschaft. Sie rückt aber auch Kurzweilig, lehrreich, fesselnd macht 60439 Frankfurt am Main drei Frauen in den Mittelpunkt, die als die Kirchenhistorikerin Biografien sicht- Telefon 069/580 98-0, Fax 069/580 98-363 Anzeigen: m-public „Verkörperung eines authentischen evan- bar, die nicht auf Entfaltung und Selbst- Anzeigenleitung: Yvonne Christoph gelischen Christentums“ als Vorsteherin, verwirklichung ausgerichtet sind. Die Tel. 030/325 32 14 32, E-Mail: [email protected] Gemeindeschwester und als Lehrerin im aber, wie der Untertitel andeutet, ihr Mediaberatung: Karin Dommermuth-Hoffmann Kindergartenseminar gearbeitet haben. „Diakonissenleben zwischen Selbstver- Tel. 02 61/39 49 53 36 Da ist zum Beispiel Emilie Heuser leugnung und Selbstbehauptung“ immer E-Mail: [email protected], www.m-public.de (1822 – 1898). Sie ist die erste Vorstehe- mit dem „Leitmotiv christlich fundierten rin der Diakonissenanstalt. 1853 tritt sie unabhängigen Handelns“ gelebt haben. Abonnement-Verwaltung Postfach 50 05 50, 60439 Frankfurt in den Dienst der Kaiserswerther Diako- Gause gibt die Form vor, die sich nicht Tel. 069/580 98-191, Fax 069/580 98-226 nie, eröffnet ein Hospital in Alexandria, mit der Nacherzählung von Lebensstatio- E-Mail: [email protected] arbeitet als Apothekenschwester, wechselt nen begnügt, sondern das Wirken der Di- Zeitzeichen erscheint monatlich und kann über nach Jerusalem, Beirut und nach Sidon. akonissen zu einem unverzichtbaren Teil jede Buchhandlung oder direkt vom Verlag Eine qualifizierte Ausbildung und lang- der Frauengeschichte addiert. Gleichzei- ­bezogen werden. Das Jahresabonnement kostet jährige Berufserfahrung ebneten ihr 1869 tig beschreibt sie Phasen der Entwicklung eur 78,00 (inkl. Versandkosten). Ruheständler, den Weg in die Leitung des Bielefelder des Diakonissenmutterhauses Sarepta. Studierende, Vikare und Auszubildende erhalten bei Direktbezug Nach­lässe. ­Einzelheft eur 6,90. Diakonissenhauses. Zurückhaltendes Als Fazit heißt es bei ihr: „Die Fül- Preisänderungen vorbehalten. Auftreten paarte sich mit einem erheb- le der Quellen und Materialien, die Zeitzeichen im Daisy-Format für blinde und lichen Durchsetzungsvermögen für die Einblicke in das Leben der Schwestern ­sehbehinderte Menschen. Tel. 05 61/72 98 71 61 Sache. Solche Phänomene müssen gerade über 150 Jahre ihrer wechselvollen Ge- oder per E-Mail: [email protected] eine Kirchenhistorikerin und Gender- schichte gewähren, sind eine Schatz- Satz forscherin wie Ute Gause interessieren. kammer der Frauengeschichte und -er- Raphael Zinser, verbum-berlin.de „Selbstverleugnung wurde zum Lebens- fahrungen.“ Und sie sind in jedem Fall Druck konzept von Emilie Heuser“, schreibt biografiewürdig. Strube Druck & Medien oHG Gause. Trotzdem: „Selbstverleugnung kathrin jütte Stimmerswiesen 3 34587 Felsberg

11/2020 zeitzeichen 67 rezensionen Bücher

Abwendung feiert bis heute das Purim- Uneindeutigkeit fest. Der Kern ihrer Denunziation beim Notwendig Neuer Antisemitismus persischen König: Sie gefährdeten Staat Lebenswohl statt Nachhaltigkeit und Macht. Ihr Selbstverständnis und Glaube seien zersetzend, verkörperten Delphine Christian Berg: Horvilleur: Fraglichkeit und Zweifel in anarchisch Ist Nachhaltig- Überlegungen aufrührerischer Weise. keit utopisch? zur Frage des Horvilleur lässt das Selbstbild des Oekom Verlag, Antisemitis- „erwählten Volkes“, das sogar die eigene München 2020, mus. 460 Seiten, Hanser Verlag, Erwählung bezweifelt, aus den Texten Euro 32,–. Berlin 2020, heraus faszinierend lebendig werden und 141 Seiten, reflektiert darin, wie beunruhigend solch Euro 18,–. ein „Vielleicht“ wirkt: Das Bekenntnis zu Fraglichkeit und die Abwehr von Verab- solutierungen bringen jene, die genau das nicht aushalten, zum Toben, auch wenn sie dem teils diametral widersprechende Verleumdungen wie die bis heute grassie- rende von der Weltverschwörung erfin- iglaf Drostes Sätze zum Thema den. Diese und weitere Linien jüdischer st Nachhaltigkeit utopisch? Ja, sagt W„Mit Rechtsradikalen reden“ bleibt Reflexion zieht sie exemplarisch und in- Ieiner, der sich seit fast 20 Jahren mit nichts hinzuzufügen: „Das Schicksal von tellektuell wie erzählerisch fesselnd aus. dem Thema beschäftigt und jetzt ein Nazis ist mir komplett gleichgültig; ob Als Kern von Antisemitismus kommt so tiefschürfendes Buch zum Thema ver- sie hungern, frieren, bettnässen, schlecht die existentielle Unfähigkeit in den Blick, öffentlicht hat, das der Komplexität des träumen usw. geht mich nichts an. Was mit der Fragilität des Lebens umzugehen, Themas gerecht wird. Christian Berg mich an ihnen interessiert, ist nur eins: so sehr sich auch Einzelaspekte wie Pro- war unter anderem bei der Softwarefirma daß man sie hindert, das zu tun, was sie bleme mit Selbstwert und Männlichkeit SAP für Nachhaltigkeit zuständig, lehrt eben tun, wenn man sie nicht hindert.“ Für oder Machtfixierung nennen lassen. als Honorarprofessor für Nachhaltigkeit Antisemiten gilt das nicht minder. Der Hass zielt stets auf die Uneindeu- und globalen Wandel an der Technischen In ihren „Überlegungen zur Frage des tigkeit. Denn das Judentum sei nach dem Universität Clausthal und ist Mitglied des Antisemitismus“ blickt Delphine Horvil- Verlust des zweiten Tempels ein Phäno- deutschen Präsidiums des Club of Rome. leur ausschließlich darauf, wie ihn die so men ständiger neuer Deutung und fast Warum verweist so ein Experte die Nach- Gehassten selbst verstehen. Die liberale notorisch von Vorläufigkeit und letztlich haltigkeit ins Reich der Utopie? „Nach- französische Rabbinerin bringt dazu dem angenommenen Zweifel her geprägt. haltigkeit zu erreichen ist (…) utopisch Texte aus Bibel und Talmud versiert zum Genau das können „Reiche“, Staaten, Ge- – und zwar in doppeltem Sinn: Es wird Sprechen, hört genau hin, verbindet sie. sellschaften, auf stupide Eindeutigkeit zum einen nie möglich sein, mit Sicherheit Oder anders: Sie legt sie luzide aus, wo- angelegte Ideologien oder Individuen als zu wissen, dass der Zustand der Nachhal- bei sie unter den modernen Begriff auch vitalen und oft humorigen Gegenentwurf tigkeit erreicht ist, zum anderen aber ist es den historisch älteren Judenhass fasst, was nicht neben sich ertragen, zeigt er doch dringlicher denn je, dass die Menschheit zwar anachronistisch, aber stimmig ist. entlarvend, dass und wie es eben auch an- ihr Handeln am Ideal der Nachhaltigkeit In der Bibel heißen Juden zunächst stets ders geht. ausrichtet.“ Klingt ein wenig widersprüch- „Kinder Israels“, also von Jakob, dem seit Wie Horvilleur dies aus biblischer lich, ist es aber nicht, sondern vor allem seinem Ringen mit Gott Hinkenden, der und rabbinischer Literatur heraus entwi- entlastend. anders als der virile erstgeborene Zwil- ckelt, ist anregend, triftig und, ganz ohne Denn die Bedürfnisse der gegenwär- lingsbruder schon von Mutterleibe an Statistiken und Umfragen, sozialpsycho- tigen Generation zu befriedigen, ohne der Unfertige, vorerst noch nicht Ange- logisch frappant überzeugend. Das gilt die der künftigen Generationen zu ge- kommene sei. auch von den Brücken, die sie von hieraus fährden, so die gängigste Definition von Den Gegensatz deutet sie prinzipiell: zu feministischen Positionen schlägt, und Nachhaltigkeit durch die Brundtland- „Die Welt der Endlichkeit will über das ihren kritischen Anmerkungen zu aktu- Kommission aus dem Jahr 1987, dieser Vielleicht triumphieren. Mit Jakob und ellen Identitätsdiskursen. Ihr Essay will Anspruch kann ja schon deshalb nicht Esau prallen zwei Kulturen aufeinander, zwar keine Proselyten machen, doch wer wirklich erfüllt werden, weil wir die Be- Ganzheit und Unendlichkeit.“ Da, wo eh überlegt, könnte hier in Versuchung dürfnisse der kommenden Generationen ein Jude ist, ist fortan der Antisemit nie geraten – so sehr Delphine Horvilleur nicht kennen. Und auch die Folgen unse- weit, wie sie am jungen biblischen Buch innerhalb des vielstimmigen jüdischen res Handelns nicht bis ins Letzte über- Ester zeigt. Dort werden die „Kinder Is- Orchesters eben auch bloß eine ist. Aber blicken können. Das führt schnell zur raels“ unabhängig von Genealogie und fraglos eine, auf die zu hören anregend Überforderung und zu Frustrationen, sei Geographie erstmals Juden genannt und und bereichernd ist. es beim eigenen Konsumverhalten, sei es Ziel eines geplanten Pogroms. Dessen udo feist auf höchster politischer Ebene.

68 zeitzeichen 11/2020 Empfohlen von streamingtipps Empfohlen von Pfarrer Christian Engels, Leiter des Filmkulturellen Zentrums der EKD, Frankfurt/Berlin.

Also, was ist zu tun? Bergs Antwort: The Crown, Staffel 4 Nicht ständig danach fragen, wie wir noch God save the Queen – das mögen sich nachhaltiger leben und handeln können, die Macher dieser Serie denken. Denn sondern danach, warum wir es nicht tun. das Leben von Elizabeth II. ist nicht nur Das ist der Ausgangspunkt des ersten die Basis des Films „The Queen“, für den Teils des Buches, in dem Berg sehr präzi- Helen Mirren den Oscar bekam, sondern se eine Vielzahl von Barrieren beschreibt: jetzt schon für die vierte Staffel von „The kognitive Begrenzungen, moralische Be- Crown“, in der eine andere Oscarpreis- trägerin die Monarchin spielt, Olivia Col- schränkungen, soziale Barrieren, Markt- man. Englische Geschichte wird hier zum versagen der Wirtschaft, fehlende poli- Familienalbum, in dem sich Aufnahmen tische Steuerung, rechtliche Schwierig- von Churchill, Kennedy oder Prinzessin Netflix keiten, die Fragmentierung von Wissen Diana finden, immer verbunden mit Ab 15. November und Verantwortung, der Zeitgeist mit all einer Anekdote. Die Serie ist wunderbar 10 Folgen zwischen 45 und 60 Minuten seiner Beschleunigung und seinem Kon- für Liebhaber von „Downton Abbey“, sumismus. Schon alleine diese Auflistung hervorragend gespielt, gut geschrieben der Unterkapitel zeigt, wie anspruchsvoll und gespielt, immer ein bisschen über- Berg sein Buch anlegt. Das macht es nicht trieben, wie der Klatsch über die Königs- familie unter den Hofangestellten. immer leicht, es zu lesen, ist aber tatsäch- lich notwendig, denn alles hängt ja mit allem zusammen und globale, komplexe Krisen kann man nur mit einem solchen Small Axe Denken sinnvoll beschreiben. „12 years a slave“ ist ein Klassiker über Und entsprechend ist auch die Lösung Rassismus und über die Sklaverei in den keine simple Aufgabe. Nur das Agieren USA vor dem Bürgerkrieg. Regisseur unterschiedlichster Akteure auf verschie- Steve McQueen beschäftigt sich in sei- denen Ebenen kann zu dem führen, was nem neuen Projekt mit dem Rassismus Christian Berg als neues Ziel ausgibt: in der jüngeren Vergangenheit und in Großbritannien. 1970 wurden schwarze „Futeranity“, ein vom Autor gebildetes Aktivisten für die Gleichberechtigung Kunstwort aus „Future of terra and hu- zu Unrecht wegen des Verdachts auf manity“, für das er die Übersetzung „Le- Drogenhandel angeklagt. Ihr Prozess benswohl“ anbietet. Man kann über den zeigte, dass die britische Polizei aus ras- Auf Prime Video Begriff streiten, muss man aber nicht, sistischen Gründen handelte. McQueen Ab 20. November denn die Idee dahinter ist ja schlüssig. kam in seinen bisherigen Filmen den Fünf Folgen „‘Nachhaltig‘ wird damit von seinem Abgründen in Menschen schmerzlich Letzgültigkeitsanspruch befreit und kann nahe und in den Nachrichten der letzten wieder unbefangener (…) verwendet wer- Wochen wurde deutlich, wie aktuell dieser Blick in die 1970er-Jahre ist, auch den. Maßnahmen oder Prinzipien können in Deutschland. und werden als mehr oder weniger zu diskutieren sein – doch wird das tägliche Handeln entlastet, weil die Orientierung an Prinzipien Komplexität reduziert.“ The good fight Das Buch ist also alles andere als ein Es ist die ideale Serie zur Wahl in den weiterer schlichter Ratgeber für einen USA. Eine liberale Anwältin ist 2016 ent- nachhaltigen Lebensstil, auch wenn es setzt über die Wahl Donald Trumps und Hinweise in dieser Richtung enthält. engagiert sich mit allen Kräften gegen Gerade für religiös geprägte Menschen ihn. Nach und nach wird ihr klar, dass der Präsident und sein Umfeld kein Maß finden sich immer wieder auch Anknüp- und keine Menschlichkeit mehr kennen. fungspunkte, etwa wenn es um Kontem- „The good fight“ ist ein Spin-off der plation und Achtsamkeit geht als dem erfolgreichen Serie „The good wife.“ Die Boden, auf dem ein Leben mit weniger Fortsetzung übertreibt gelegentlich die Ressourcenverbrauch gedeihen kann. So Satire auf Trump bis zur Albernheit, aber Auf Prime Video etwas in einem Buch zu lesen und eini- es gibt kaum eine bessere Möglichkeit, Vier Staffeln deutsch ge Seiten später eine von systemischem um die Hilflosigkeit und die Verzweif- Insgesamt 44 Folgen à ca. 45 Minuten Denken geprägte Analyse zu finden, das lung des liberalen Amerikas angesichts spannt einen weiten Bogen, fordert und der Veränderungen in den vergangenen vier Jahren kennenzulernen. Die vierte fördert komplexes Denken. Aber ohne Staffel gibt es jetzt auf Deutsch, und in das wird es nicht gehen. den USA wird jetzt bereits die fünfte stephan kosch Staffel ausgestrahlt. Good stuff!

11/2020 zeitzeichen 69 personen

Pfalz: Erstmals Frau an und war Beauftragter Kirchenpräsident an der Spitze des Rates für das Führen wiedergewählt angezeigt und Leiten innerhalb der EKD. Joachim Liebig (62), seit 2009 Kirchenpräsident der Filmverleih anhaltinischen Landeskir- Von Westfalen ins che, ist mit 34 von 36 Stim- Kirchengemeinden EKD-Kirchenamt men für weitere sechs Jahre können bis zum 31. wiedergewählt worden. März die Fernsehdo- Pfarrer Bernd Tiggemann, Die Landeskirche ist mit kumentation der ARD Leiter der Stabsstelle rund 29 700 Mitgliedern „Wir schicken ein Kommunikation im westfä- die kleinste Mitgliedskirche Schiff“ kostenlos vor- lischen Landeskirchenamt, der EKD. führen. Gezeigt wird übernimmt diese Position das Engagement der am 1. Dezember im Kir- EKD und ihres Rats-

Foto: Klaus LandryFoto: chenamt der EKD. Der Sachsen: Neue vorsitzenden Heinrich 49-Jährige folgt Michael Pressesprecherin Bedford-Strohm, mit Mit Dorothee Wüst (55) Brinkmann (48) nach, der Hilfe eines Schiffes steht erstmals in der Ge- zur Deutschen Bahn ge- Kirchenrätin Tabea Köbsch Flüchtlinge im Mittel- schichte eine Frau an der wechselt ist und die Kom- ist neue Pressesprecherin meer vor dem Ertrin- Spitze der pfälzischen Lan- munikation für den Perso- der sächsischen Landeskir- ken zu retten. Weitere deskirche. Die Bildungsde- nenverkehr leitet. che. Die 44-Jährige wird im Informationen: info@ zernentin der Landeskirche Landeskirchenamt weiter- ekd.de. folgt am 1. März Kirchen- hin die Stabsstelle Kommu- präsident Christian Schad Theologe leitet nikation und Koordination (62) nach, der in den Ru- Berliner Akademie leiten. Der bisherige Pres- ger von Birgit Klostermeier hestand tritt. Wüst erhielt sesprecher Matthias Oelke (60), die sich als Organisa- im dritten Wahlgang 36 (61) wird mit einem halben tionsberaterin in Göttingen von 68 abgegebenen Stim- Dienstumfang in der Pres- niedergelassen hat. men. Damit hat sie sich in sestelle arbeiten. der Landessynode gegen Oberkirchenrätin Marianne Synodenpräsidentin Wagner und Landesdiako- Bayern: Finanzchef wiedergewählt niepfarrer Albrecht Bähr legt Amt nieder durchgesetzt. Bähr war Annekathrin Preidel, die seit nach dem zweiten Wahl- Der für die Finanzen der sechs Jahren Präsidentin der gang ausgeschieden. Die bayerischen Landeskirche bayerischen Landessynode pfälzische Landeskirche hat zuständige Oberkirchenrat ist, ist mit 93 von 105 Stim- rund 500 000 Mitglieder. Erich Theodor Barzen hat men wiedergewählt wor-

Foto: dpa/Ulrich BaumgartenFoto: sein Amt am 1. November den. Die 63-Jährige gehört aus persönlichen Gründen der Synodalgruppe „Offene Wechsel bei den Christoph Markschies niedergelegt. Die reguläre Kirche“ an. Unternehmern (57), Professor für Antikes Amtszeit des 53-Jährigen Christentum an der evange- hätte bis Anfang 2023 ge- Der Leipziger Unterneh- lisch-theologischen Fakultät dauert. Und eine Verlänge- Augsburg zeichnet mer Friedhelm Wachs, der der Humboldt-Universität rung wäre möglich gewesen. Bischöfe aus bisher stellvertretender Berlin, leitet seit 1. Oktober Vorsitzender des Arbeits- die Berlin-Brandenbur- Der EKD-Ratsvorsitzende kreises Evangelischer Un- gische Akademie der Wis- Neuer Regionalbischof Heinrich Bedford-Strohm ternehmer (AEU) war, ist senschaften, die aus der für Osnabrück und der Münchner Erz- neuer Vorsitzender der Or- berühmten Preußischen bischof und frühere ganisation. Der 57-Jährige Akademie der Wissen- Der Personalausschuss der Vorsitzende der Bischofs- ist Nachfolger von Peter schaften hervorgegangen hannoverschen Landes- konferenz Reinhard Marx Barrenstein (69). Dieser ist. Markschies wurde 2001 kirche hat den Göttinger sind mit dem Augsburger war von 1980 bis 2007 für mit dem renommierten Superintendenten Friedrich Friedenspreis ausgezeich- die Beratungsfirma McKin- Leibnizpreis der Deutschen Selter zum Regionalbischof net worden. Damit wurde sey tätig. Von 2003 bis 2015 Forschungsgemeinschaft von Osnabrück berufen. ihr Ökumene-Engagement gehörte er der EKD-Synode ausgezeichnet. Der 58-Jährige ist Nachfol- gewürdigt.

70 zeitzeichen 11/2020 notizen

Streit über Gastfreundschaft Trotz der Kritik des Vati- kans wollen die Veranstal- ter des 3. Ökumenischen Kirchentages, der vom 12. bis 16. Mai in Frankfurt am Main stattfindet, Gast- freundschaft beim Abend- mahl ermöglichen. Der römisch-katholische Kir- chentagspräsident Thomas Sternberg betonte, man plane keine Interzelebrati- on, aber „die persönliche Gewissensentscheidung“ werde „eine große Rolle spielen“. In einem Brief an den Vorsitzenden der katholischen Bischofskon- ferenz Georg Bätzing hatte die Glaubenskongregation

des Vatikans die Möglich- dpa/Jörg Carstensen Foto: keit einer wechselseitigen Drei Heilige Königinnen besuchten zu Epiphanias 2020 das Berliner Abgeordnetenhaus. Teilnahme von Protes- tanten und Katholiken am Abendmahl strikt abge- König Melchior: schwarz, dümmlich, wulstige Lippen lehnt (siehe Seite 19). Im Ulmer Münster wird dieses Jahr vor Weihnachten nicht wie üblich die Krippe mit den „Heiligen Drei Königen“ aufgestellt. Stein des Anstoßes ist der schwarzhäutige König Nachtragshaushalt Melchior. Gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung betonte Dekan Ernst-Wilhelm in Hessen-Nassau Gohl, es gehe „nicht um den schwarzen König“, sondern „die Art und Weise der Dar- stellung“. Der Ulmer Melchior hat einen dümmlichen Gesichtsausdruck, ist dick, hat Die hessen-nassauische wulstige Lippen und trägt Goldreifen an den nackten Fußknöcheln. Wie mit der Figur Landessynode hat einen künftig umgegangen wird, soll nach Weihnachten in Ruhe öffentlich diskutiert werden. Nachtragshaushalt mit Die Krippe, die der Bildhauer Martin Scheible (1873 – 1954) schuf, wurde vor rund 30 Jah- Aufwendungen von 690 ren von einer Familie mit der Auflage gestiftet, sie jährlich ab dem 1. Advent im Münster Millionen Euro im lau- auszustellen. Das Aufstellen von Krippen in Kirchen ist eine durch den Jesuitenorden fenden Jahr verabschiedet. beförderte katholische Tradition, die erst ab dem 19. Jahrhundert im deutschen Protes- Wegen der Corona-Seuche tantismus populärer wurde. rechnet die Landeskirche, die das Rhein-Main-Gebiet umfasst, in diesem Jahr mit Landesbischöfin: Kultursteuer statt Kirchensteuer? Mindereinnahmen von 60 Millionen Euro. Darunter In ihrem Bericht vor der Synode der norddeutschen Landeskirche hat Landesbischöfin sind alleine 50 Millionen Kristina Kühnbaum-Schmidt gesagt, sie könne sich zur Finanzierung der Kirche statt der Euro weniger Kirchen- Kirchensteuer eine Kultursteuer wie in Italien vorstellen. Sie äußerte die Vermutung, steuern als ursprünglich dass die Kirchensteuer ein Grund für die vielen Kirchenaustritte ist. „100 Jahre nach Ein- geplant. Die Deckungslücke führung des Modells (der Kirchensteuer, zz) sollten wir es vielleicht ändern, wenn es eher soll durch Sparmaßnah- Probleme hervorruft als löst“, sagte die Bischöfin. men, Plankorrekturen und aus Rücklagen ausgeglichen werden. Die Zuweisungen Freikirche: Geringfügiges Wachstum aus Gemeinden und Deka- naten sind von den aktu- Der Bund Freier evangelischer Gemeinden ist nach eigenen Angaben zwischen 2018 ellen Sparauflagen weitge- (41 700 Mitglieder) und 2019 (43 127 Mitglieder) geringfügig gewachsen. Von den 500 hend ausgenommen. Ortsgemeinden hat eine im Schnitt 86 Mitglieder.

11/2020 zeitzeichen 71 kulturtour notabene

• „Wir sollten nicht davon abge- Handwerk statt Mundwerk halten werden, unser volles Talent zu entfalten und das beizutragen, Bildende Kunst jenseits von Feuilleton und Markt was wir zur Gesellschaft beitragen könnten, weil wir in eine bestimm- te Form gedrückt werden. Weil wir klaus-martin bresgott zu einer Gruppe gehören, die histo- risch immer Gegenstand von Dis- rei Generationen Bronzeskulpturen, sind ertastbare Momente körperlicher kriminierung war“, sagte in einem DMalerei, Grafiken und Bildteppiche Unmittelbarkeit und visionärer, versonne- Interview einst die Feministin und – drei Generationen künstlerisches Hand- ner wie verschmitzter Realität des Alltäg- US-Richterin Ruth Bader Ginsburg werk, das aus der Zeit in die Zeit sieht lichen. Diese Stärke offenbaren die hier (1933 – 2020), die als zweite Frau und sich darin zeigt: mit individuell er- zur Schau gestellten Werke: Spannend ist überhaupt dem Supreme Court der fassten, konkret in den Blick genommenen hier vieles; das vertraute, sich gegenseitig USA angehörte. Momenten des Sichtbaren. Raum gewährende Nebeneinander der Diese besondere, Traditionen, Gene- Gattungen: Malerei und Teppichkunst • In seiner 1996 erschienen Au- rationen und Ambitionen präsentierende an den Wänden, Plastik im Raum. tobiografie Vierzig Jahre schrieb Ausstellung ist derzeit am Rande der Spannend ist ebenso der an die Tra- der Schriftsteller Günter de Bruyn Stadt in der Galerie Panther Art Foundry dition anknüpfende, im Detail ungeheuer (1926 – 2020) über die Stasiakten, die in Berlin-Weißensee zu sehen. aufwendige Umgang mit den Materialien seine Tätigkeit als IM dokumentier- Präsentiert werden dort derzeit die – Bronze, Ton, Papier und Wolle – und ten: „Auch bei wiederholter Lektüre Weisen ihrer Zunft: die vor allem als Tep- deren Gestaltwerdung im Sehen und Er- kommen Angst und Scham wieder, pichkünstlerin bekannte Ingeborg Flierl tasten. Großartig etwa Wilfried Fitzen- und es quält mich das Misstrauen (geboren 1926), der Bildhauer Wilfried reiters „Stehender“ (1970), Marco Flierls in meinem Erinnerungsvermögen, Fitzenreiter (1932 – 2008) und der Bild- „Sitzende“ (2008), Pjotr Kowalskis „Mi- das offensichtlich in den inzwischen hauer und Grafiker Hans Scheib (geboren notauros“ (2020) und Moreen Vogels vergangenen Jahren schönfärbend 1949) – die Gestandenen: die Bildhauer „Pferdeengel“ (2017). und entlastend tätig gewesen war. und Kunstgießer Alberto Lescay (ge- Ihrer Hände Werk ist nicht en vogue Ohne Kenntnis der Akten hätte ich boren 1950) und Marco Flierl (geboren für Feuilleton und Markt. Ihre Kunst diese Episode anders berichtet. Ich 1963), vielen als Schöpfer der Bronzetür misst sich an subkutaner Fühlbarkeit, die wäre guten Gewissens schonender in der Wittenberger Schlosskirche be- Sehen in Staunen wandelt. Ähnlich ist mit mir umgegangen, weil einiges, kannt – ein auf den Weg Gekommener: es bei zwei anderen, in Entstehung und was mich belastet, verdrängt oder Piotr Kowalski (geboren 1962) – und drei Handschrift gänzlich unterschiedlichen, vergessen war.“ tastend das Eiland erstürmende Junge: in ihrer Kraft aber einander verwandten Frieder Sailer (geboren 1996), Alejandro Werken: Ingeborg Flierls Gobelin „La- • Der Journalist und Satiriker Her- Lescay (geboren 1987) und Moreen Vogel byrinth mit Hindernissen“ (1986) und bert Feuerstein (1937 – 2020) zog (geboren 1985). Frieder Sailers Zeichnung „Portrait eines bereits vor einigen Jahren in einem Sie alle sind Schöpfer im langwierigen Irren“ (2016). Interview mit Spiegel-Online folgen- Prozess des Formens und Gestaltens, des Die Ausstellung zeigt und vereint auf de Lebensbilanz: „Ich glaube, ich Verwerfens und Prüfens, des Bildens und gelungene Art vieles: die allem multime- habe mich in meinem Leben doch ans Licht Bringens – Schöpfer, die dem dialen und hightechbasierten Kunstbe- zu sehr treiben lassen und zu wenig Vagen und dem Wort Paroli bieten mit trieb zum Trotz unbeirrbare Orientierung darauf geachtet, was ich wirklich dem Werk ihrer Hände in der symbioti- an der Tradition in Fertigkeit und Mate- selbst will. Ich habe das fast nie schen Form von Schauen und Schaffen. rial, das reifende Greifen nach der eigenen zugelassen. Ich dachte immer, die Jedes der in der Panther Art Foundry aus- künstlerischen Wirklichkeit im Vertrauen anderen wissen es besser. Das wäre gestellten Werke wartet sehr konkret auf. auf die lernend schaffende Hand und den der einzige Grund zu sagen: Ach, Jedes drängt aus der Sichtbarmachung in inneren Kompass, dem Markt, Menge hätte ich doch ein ganz anderes die Sichtbarwerdung für die Betrachten- und Medien keine Götter sind. So schafft Leben gelebt. Aber das ist ebenso den. Auf Resonanz. Auf Auseinanderset- diese Ausstellung den erkenntnisreichen lächerlich wie überflüssig ...“ zung. Das ist für die äußeren Ansprüche Mehrwert, wie sehr die handwerkliche an die Bildenden Künste zunächst nichts Meisterschaft der geistig-ästhetischen • Und dann war da noch der legen- Ungewöhnliches. Aber ist es erwartbar? ebenbürtig ist. däre Rockgitarrist Eddie van Halen, Oft ist sie Opfer ihrer Oberfläche und der ebenfalls kürzlich verstarb. Ein flink und geräuschvoll überlagernder Panther Galerie, Friesickestraße 17, 13086 ihm zugeschriebenes Zitat könnte Deutungen. Oft wird das Handwerk vom Berlin; Dienstag und Mittwoch von 9 bis als musikalisches Vermächtnis Mundwerk erlegt. Das hier Sicht- und 15 Uhr/Donnerstag und Freitag von 17 bis dienen: „Zur Hölle mit den Regeln. Spürbare entzieht sich dem. Es ruht in 20 Uhr sowie nach Vereinbarung per Mail Wenn es gut klingt, dann ist es der Form und lugt in der Stille hervor. Es [email protected]. das!“

72 zeitzeichen 11/2020 aktuelle veranstaltungen punktum

Mehr als das, sich mit dem Bibliodrama, was Ökonomen lehren bei dem man aus sich raus- Käfer mit Klassik gehen muss, schwerer als Traditionen, Mentalitäten, Frauen. Diese Tagung, die in stephan kosch Weltanschauungen und Meierzhagen im Sauerland herrschende Lehrmeinungen stattfindet, ist auf zwölf Als aufgeklärter Protestant bin ich ein Freund der Wissen- bestimmen politisches und Männer begrenzt. schaft, was ja in diesen Tagen nicht ganz selbstverständ- wirtschaftliches Handeln. Was tun und lassen in Kri- lich ist. Deshalb habe ich mich gefreut, als ich kürzlich als Diese Tagung zeigt, wie senzeiten? Männer-Biblio- Proband zu einem Forschungsprojekt eingeladen wurde. „Narrative“ das Geschehen drama zu 4. Mose 21, 4-9 Das Thema: Wie sehr hängt unser Geschmackserlebnis in der Wirtschaft und die Be- 27. bis 29. November, Evangeli- beim Essen von der Umgebung und der Einstellung ab, in/ richterstattung darüber prä- sche Akademie Villigst, Telefon: mit der wir essen? Das Experiment: Die Probanden saßen gen. Und es wird gefragt, wie 02304/75 53 25, E-Mail: sarah. an kleinen Tischlein, vor sich auf verschiedenfarbigen Narrative auch der Verände- [email protected], Feldern mehrere kleine Schüsseln mit Essen, meist ir- rung dienen können. Anmel- www.kircheundgesellschaft.de gendein kleingeraspeltes Gemüse, was genau war nicht zu deschluss: 13. November. definieren. Sehr klar zu erkennen auf einem der hinteren Ökonomische Narrative im Wir sind Felder hingegen die Schüssel mit Insekten, kleine Käfer, Kontext von Krisen die Anderen hellbraun geröstet. Muss man die essen? Mal sehen … 27. bis 29. November, Evan- Der Anfang ist harmlos, man soll sich aus dem ersten Feld gelische Akademie Tutzing, Die Lesbentagungen in Bad ein Schälchen nehmen, kosten und aufschreiben, woran Telefon: 08158/25 11 25, Fax: Boll haben zur Emanzipation man denkt. Schmeckt säuerlich, wie Mixed Pickles, ganz 08158/99 64 25, E-Mail: spehr@ lesbischer Frauen in Kirche klar der Party-Geschmack der Kindheit in den 1970ern. ev-akademie-tutzing.de, www. und Gesellschaft beigetra- Jetzt wird es etwas komplizierter. Mit welcher Einstellung ev-akademie-tutzing.de gen. Zum Programm der esse ich? Geht es mir vor allem um Gesundheit? Genuss? diesjährigen Tagung gehört Oder ist essen vor allem politisch? Ich muss mich für eine Gefahr oder Chance der Austausch von Erfah- der Karten entscheiden und die dazugehörige Information für die Freiheit? rungen und Informationen über die vor mir stehenden Goji-Beeren auf der Rückseite in Kleingruppen. Vorträge lesen. Aha, die sind gesund, Superfood, rein damit. Le- Diese Tagung geht online erinnern an die Situation cker! Natürlich will ich auch wissen, was auf den anderen und in der Evangelischen von Lesben in der DDR, und Karten steht, und drehe die Politik-Karte um. Da erfährt Akademie im westfälischen eine Muslimin erzählt, wie man unschöne Dinge über die Arbeitsbedingungen in Schwerte der Frage nach, wo sie aufgewachsen ist. Be- China, unter denen diese Beeren produziert wurden. Man heute totalitäre Tendenzen sucht werden in Bad Boll das hält ein und findet, dass die Beeren doch ziemlich süß zu beobachten sind. Dabei Schwefelbad, das Grab des schmecken, eigentlich zu süß … Aufschreiben, das bringt soll beleuchtet werden, in- religiösen Sozialisten Chris- die Forschung voran! wiefern die Digitalisierung toph Blumhardt und ein De- So geht es weiter, mal soll ich mir vorstellen, dass ich ein die Freiheit des Einzelnen meterbauernhof. Die Main- Tier bin (ich bin ein Tiger und happse alles einfach weg) gefährdet oder fördert. zer Hochschulpfarrerin Kers- und dann ein anderes Tier (jetzt bin ich eine Schlange und Totalitarismus in neuen tin Söderblom interpretiert zischel den Sellerie ganz genüsslich über meine gespaltene Gewändern? eine Erzählung des Alten und Zunge). Dann setze ich mir einen Kopfhörer auf und erle- 27. bis 28. November, Evangeli- des Neuen Testamentes aus be – nicht wirklich überraschend –, dass Essen mit klassi- sche Akademie Villigst, Telefon: einer queeren Perspektive. scher Musik im Ohr besser schmeckt als mit Heavy Metal 02304/75 53 46, Fax: 02304/75 Sie hat bei Fulbert Steffensky oder Verkehrslärm. Und nun die Käfer. Die muss ich nicht 53 18, E-Mail: sarah.wittfeld@ über „Die Bedeutung von essen, es stehen ja noch andere unverdächtigere Dinge kircheundgesellschaft.de, christlicher Religion in der darum herum. Aber ich möchte meinen Forschergeist be- www.kircheundgesellschaft.de Lebensgeschichte lesbischer weisen und greife zu. Denn man weiß ja: Wenn wir mehr Frauen“ promoviert. Anmel- Insekten essen würden, wäre das besser für den Planeten Ich bin Mose, deschluss: 30. November. und die Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung. Sie Du bist das Volk Wir sind die Anderen. Les- schmecken nussig, knusprig, ein wenig wie Bucheckern, bische und queere Frauen allerdings im Abgang etwas trocken. Aber man könnte Im Bibliodrama wird eine – Mitgestalterinnen einer sich daran gewöhnen. biblische Erzählung nachge- offenen Gesellschaft Plötzlich grummelt es im Magen. Doch das ignoriere ich, spielt. Dabei identifizieren 11. bis 13. Dezember, Evan- ist doch alles nur eine Frage des Umfeldes und der Einstel- sich die Teilnehmer mit den gelische Akademie Bad Boll, lung. Beim nächsten Mahl werde ich zu den Käfern ein- jeweiligen Figuren. Sie wer- Telefon: 07164/792 11, E-Mail: fach Klassik hören, den Hummelflug vielleicht. Und dann den auf diese Weise vom erika.beckert@ev-akademie- stelle ich mir vor, ich sei eine Schlange. Und wenn dann Text berührt und erfahren boll.de, www.ev-akademie- meine Giftzähne den Panzer zerknacken … das wird ein mehr über sich. Männer tun boll.de Fest.

11/2020 zeitzeichen 73 vorschau

In der nächsten Ausgabe

Zeichen des Judenhasses

Wie mit dem Schandmal der „Juden- sau“ an der Wittenberger Schloss- kirche umgegangen werden soll, ist juristisch noch immer nicht geklärt. Darüber hinaus gibt es viele weitere Darstellungen in deutschen Kirchen, in denen Juden und ihr Glaube ab- gewertet und verhöhnt werden. Die Journalistin Barbara Schneider hat einige solcher Kirchen besucht und beschreibt den unterschiedlichen Umgang mit dem problematischen Erbe.

Evangelische Publizistik, wohin?

Mit der Forderung nach einer radi- Foto: dpa/Sebastian Willnow kalen Neuaufstellung der evange- lischen Publizistik hat die Erlanger Die Zeit und wir Medienwissenschaftlerin Johanna Haberer in zz 10/2020 für Aufregung Zum Jahreswechsel nähern wir uns in unserem Dezemberschwerpunkt gesorgt. Jörg Bollmann, Direktor des dem komplexen Thema „Zeit“ – der Wissenschaftsjournalist Reinhard Gemeinschaftswerks der Evange- Lassek führt in die naturwissenschaftlichen Definitionen und Dimensionen lischen Publizistik (GEP) in Frankfurt/ des Themas ein. Zu den Vorstellungen von Zeit in den unterschiedlichen Main, spinnt den Diskussionsfaden in Religionen schreibt die Religionswissenschaftlerin Adelheid Herrmann- zeitzeichen weiter. Pfandt; den speziellen christlichen Blick auf das Ende der Zeit in der Ewig- keit beschreibt der Systematische Theologe Markus Mühling. Und der Zeitforscher Karlheinz Geißler stellt mit einem Blick auf unsere Gegenwart Bonhoeffers Vermächtnis fest: „Die Uhr kann gehen!“ Im Interview erläutert der Psychologe und Humanbiologe Marc Wittmann, wie unsere Hirnstrukturen und die Erfah- Am Ende des Gedenkjahres anlässlich rungen von Zeit zusammenhängen. des Todes Dietrich Bonhoeffers vor 75 Jahren würdigt der Heidelberger Systematische Theologe Michael Welker „Sanctorum Communio“, die in seinen Augen „geniale“ Disserta- tion des 24-jährigen Bonhoeffer und entwirft davon ausgehend neue Per- spektiven auf das Spätwerk des 1945 von den Nazis im KZ Flossenbürg ermordeten Theologen.

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