Die Unschlagbare Paralympics-Gewinnerin Esther Vergeer
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DAS MAGAZIN 4.2012 G 14661 Deutschland 3,70 Euro Österreich 4,30 Euro 4 197077 903702 04 Spezial: Sexualität Schluss mit den Tabus! Alexander Kluge Auslaufmodell Mensch? Metal-Festival Wacken rockt alle Paralympics-Gewinnerin Esther Vergeer Die Unschlagbare 001_AM0412_final.indd 1 07.09.12 16:18 Menschen Die Unschlagbare Seit fast zehn Jahren hat Esther Vergeer kein Tennis-Match mehr verloren. Kürzlich gewann Sie in London wieder paralympisches Gold. Was macht Sie so stark? p Seite 76 Belgrad auf den zweiten Blick In der serbischen Metropole führen Menschen mit Behinderung Touristengruppen auf eine sehr persönliche und sinnliche Weise durch ihre Stadt. p Seite 80 ´ Eine Win-Wohn-Situation Ältere Menschen bieten günstigen Wohnraum, Studierende ihre Unterstützung im Alltag: ein Pakt auf Gegenseitigkeit. p Seite 86 Besser als ihr Ruf Über Pfl egeeltern wird nur dann berichtet, wenn es einen neuen Skandal gibt. Was die anderen tagein tagaus leisten, bleibt meist unerwähnt. p Seite 90 Köpfe p Seite 94 „ Ich sehe überall Fortschritt: In meinem Team, im Training, bei Esther Vergeer, Pro´ -Tennisspielerin FOTO: FOTO: ZEITENSPIEGEL der Technik.“ 74 Menschen 4/2011 Menschen 4/2012 75 074-075_Aufmacher_Menschen.indd 74 07.09.12 15:51 074-075_Aufmacher_Menschen.indd 75 07.09.12 15:51 Paralympics Die Unschlagbare Seit 13 Jahren führt sie die Weltrangliste im Rollstuhltennis an. Seit fast einem Jahr- zehnt hat sie kein einziges Spiel verloren. Die Niederländerin Esther Vergeer ist die überlegenste Profi sportlerin der Welt. Bei den Paralympischen Spielen in London holte sie gerade ihre Goldmedaillen Nummer sechs und sieben. Tex t Julius Schophoff Foto Lukas Coch/Zeitenspiegel Tennis wird im Kopf entschieden. Je mehr auf dem Spiel steht, desto besser kann sich Esther Vergeer konzentrieren. Am Ende zeigt das Phänomen Esther Vergeer, dass auch sie nur ein steht die 31-jährige Niederländerin ununterbrochen an der Spitze erteilte sie ihren Gegnerinnen die Höchststrafe: 6:0, 6:0. Auch im wachen, offenen Blick und ein hübsches Gesicht, doch beim Hand- Mensch ist. Gerade hat sie das Rollstuhltennis-Finale der Paralympi- der Weltrangliste; seit fast zehn Jahren verlor sie kein einziges Spiel; Doppel führt Vergeer die Weltrangliste an. Einen Tag nach dem Ein- schlag ist man froh, dass sie nicht ernst macht: Ihre Handteller sind schen Spiele in London gewonnen, ungefährdet und souverän, nun das Paralympische Finale war ihr 470. Einzelsieg in Folge. „She owns zel gewinnt sie in London auch das Doppelfi nale, an der Seite ihrer riesig, ihre Oberarme sind nicht weniger imposant als die der Wil- hält sie mit tränennassen Augen ihre Goldmedaille in die Kamera. her sport!“ schreibt die New York Times. Der britische Observer Landsfrau Marjolein Buis – Goldmedaille Nummer sieben für die liams-Schwestern. Im Wohnzimmer sitzt ihr Freund Marijan, 33, „Der Druck war so groß“, sagt sie, „jeder hat erwartet, dass ich Gold fragt: „Ist sie die größte Sportlerin der Welt?“ erfolgreichste Rollstuhltennis-Spielerin aller Zeiten. Physiotherapeut der Nationalmannschaft; gegenüber liegt das Kin- gewinne. Aber es war eine Menge Arbeit, ich musste hart trainieren, Vergeer besiegt ihre Gegnerinnen nicht einfach, sie deklassiert sie. derzimmer, für Marijans vierjährige Tochter. „Unser Teilzeit-Kind“, um oben zu bleiben. Viele Leute vergessen das!“ Das 6:0, 6:3 im Finale von London gegen ihre Landsfrau Aniek van Was macht diese Frau so gut? Ein halbes Jahr vor den Paralympi- sagt Vergeer, „mit ihr kann ich schon mal üben.“ Dass Vergeer auf Schuld daran, dass Vergeers Siege selbstverständlich erscheinen, ist Koot, Nummer zwei der Welt, war dabei eher ein Ausrutscher. In schen Spielen öffnet Vergeer ihre Wohnungstür in ihrer Heimat- natürlichem Wege Kinder bekommt, ist so wahrscheinlich wie bei sie selbst. Oder besser: ihre unheimliche Serie. Seit über 13 Jahren sechs ihrer acht Grand-Slam-Finals vor den Paralympischen Spielen stadt Woerden, 20 Kilometer westlich von Utrecht. Sie hat einen jeder anderen Frau. p 76 Menschen 4/2012 Menschen 4/2012 77 B0(1B7HQQLVLQGG B0(1B7HQQLVLQGG wenn sie platzen, schießt Blut in ihren Kopf. Schritt, den der deutsche Tennisverband sagen? Was werden die Medien sagen? Wird Dann blickt sie durch ein Panoramafenster Die komplizierte Operation geht schief. Als DTB erst 2009 vollzog. So gibt es in dem meine Gegnerin weinen? Werde ich weinen? auf den See in ihrem Heimatort und erzählt, die Achtjährige aus der Narkose erwacht, ist Land, das ein Fünftel der Einwohner Da fällt ihr auf, dass sie noch nicht verloren wie sie vor ein paar Jahren hierher zog: Sie sie unterhalb des dritten Lendenwirbels ge- Deutschlands hat, fünf Mal so viele Spieler. hat: Sie muss noch aufschlagen. Der einzige wollte in keinem der vielen ebenerdigen lähmt. Das zahlt sich aus: Seit Rollstuhltennis 1992 Gedanke, den sie dann noch zulässt, ist: Der Bungalows wohnen, sondern im einzigen Duschen, Anziehen, ein Glas aus dem paralympische Disziplin wurde, standen Ball muss im Feld landen und auf Homans Hochhaus der Siedlung. Ursprünglich hatte Schrank holen, nichts ist mehr so wie früher. ausnahmslos niederländische Spielerinnen Rückhand gehen. Genau das tut er, der Re- sie auf eine Wohnung in der neunten Etage Während die anderen Versteck spielen, wird im Einzelfi nale. Diesmal in London holten turn fl iegt ins Netz und wenige Minuten spä- geboten, doch als der Käufer der zehnten, sie angestarrt und ausgefragt. Nur beim sie Gold, Silber und Bronze. ter gewinnt sie Gold im Tiebreak. der obersten Etage, nicht zahlen konnte, Sport guckt sie niemand schief an. In der „Ihr größter Vorteil ist ihre mentale Stär- schlug sie zu. Sie liebt diese Aussicht, sagt Turnhalle fühlt sie sich frei, lernt umzufallen Auf dem Treppchen saßen sie nah beieinan- ke“, sagt Nationaltrainer Marc Kalkman, „die sie. Und das Gefühl, niemanden über sich zu und alleine wieder aufzustehen. Schnell wird der – doch zwischen Vergeer und den ande- Fähigkeit, sich zu fokussieren. Da ist sie allen haben. p man auf ihr Talent aufmerksam, ihren Ehr- ren Spielerinnen liegen Welten. Warum? anderen weit voraus.“ Nicht nur den Kolle- geiz, ihren Willen. Als sie elf ist, klopft der Auch ihre Konkurrentinnen trainieren hart, ginnen im Rollstuhl: Star-Coach Sven Rollstuhl-Basketball-Verein an; mit 16 Jah- führen ein professionelles Sportlerleben. Ei- Groeneveld, der in den Neunzigern Legen- Auf der Internetseite ren gewinnt sie als jüngstes Teammitglied die nige von ihnen, sagt Vergeer, seien physisch den wie Monica Seles und Arantxa Sánchez www.menschen-das-magazin.de können Europameisterschaft 1997. Doch sie mag es und spielerisch genau so stark wie sie, im Vicario trainierte, der außerdem Caroline Sie diesen Beitrag kommentieren und nicht, von Mitspielerinnen abhängig zu sein, Training spielten sie auf Augenhöhe. „Aber Wozniacki in die Weltspitze fü hrte, trainiert weiterempfehlen. gibt das Basketballspiel auf und fl iegt mit 17 wenn das Spiel beginnt, wenn Punkte gezählt heute auch Esther Vergeer. Und das nicht zu- zu ihrem ersten großen Tennis-Turnier, den werden, verlieren sie den Faden. Ich weiß letzt, um von ihr zu lernen: „Ich möchte her- US Open 1998 in San Diego. Sie erreicht als auch nicht, warum.“ Bei Vergeer ist es genau ausfi nden, was sie so gut macht und es, wenn ungesetzte Außenseiterin das Finale gegen anders herum: Je wichtiger der Ball, desto möglich, den anderen beibringen“, sagt er. Links zum Thema die damalige Nummer eins – und gewinnt. besser spielt sie ihn – so wie im Finale der Das Phänomen Esther Vergeer – ganz er- Esther Vergeers Website: Kurz darauf siegt sie auch beim Tennis Mas- Paralympischen Spiele von Peking 2008. gründen wird es auch der Startrainer nicht. www.esthervergeer.nl/ Extremlage: Stützräder vorne und hinten am Rollstuhl verhindern das Umkippen. ters, so wie seitdem jedes Jahr, 14 Mal bereits. Damals liegt Vergeer im entscheidenden Doch man ahnt, was sie so erfolgreich macht, Vergeer trainiert hart für den Erfolg, min- dritten Satz 4:5 und 30:40 zurück, Matchball wenn sie in ihrer Küche sitzt, lächelnd an Alles zum internationalen Rollstuhltennis destens fünf Mal in der Woche, vier Stunden für ihre Gegnerin Korie Homan. Für einen einem Kaffee nippt und sagt: „Ich bin dank- auf der Seite der International Tennis Ein Pokalzimmer sucht man in der Woh- die Rollstuhltennis-Turniere noch weitge- am Tag, Kraftübungen, Bewegungstraining, Moment beginnt sie, nachzudenken: Was, bar für mein Schicksal. Sonst wäre ich viel- Federation (ITF): www.itftennis.com nung vergeblich, ihre Goldmedaillen aus hend abgeschottet; seit ein paar Jahren spie- Mentaltraining. Doch die meiste Zeit ver- wenn ich verliere? Was werden meine Eltern leicht eine ganz gewöhnliche Dreißigjährige.“ Sydney, Athen und Peking liegen in einem len Vergeer und ihre Kollegen bei fast allen bringt sie im Tennis-Rollstuhl. Die schräg Karton unterm Bett im Haus ihrer Eltern. großen Turnieren im Vorprogramm der Su- gestellten Räder machen ihn beweglicher, ein Erfolge der Vergangenheit scheinen ihr we- perstars. So kommen nicht mehr nur die üb- zusätzliches Stützrad hindert ihn daran, nig zu bedeuten. Immer noch präsent ist ihr lichen paar Handvoll Zuschauer, sondern beim Aufschlag hinten überzukippen. Die Die Paralympischen Spiele von London dagegen ihre letzte Niederlage bei den Aust- Hunderte. Trotzdem, sagt sie, gäbe es noch Bälle, die sonst Rocktaschen ausbeulen, Noch nie gab es so viele Teilnehmer ralian Open im Januar 2003. „Ich war nicht viel zu tun in ihrem Sport, in dem kaum klemmen bei ihr zwischen den Speichen. Die (4200 Athleten aus 166 Ländern), so viele vorbereitet“, sagt sie, und man spürt, dass die mehr als ein Tausendstel des Preisgelds ge- Regeln des Spiels sind dieselben, mit einer Zuschauer (2,7 Millionen) und eine so Geschichte sie nach wie vor wurmt. „Ich fl og zahlt wird, das Spieler ohne Behinderung Ausnahme: Der Ball darf zweimal aufkom- ausführliche Fernseh-Berichterstattung. vom holländischen Winter in den australi- bekommen. Ein Sport, von dem niemand men, nur der erste muss im Feld landen. Die deutsche Mannschaft holte 18 Mal schen Sommer, war nicht daran gewöhnt, wirklich leben kann.