Sonntag, 25. Juli 2021

15.03 – 17.00 Uhr

Franz Schubert Eine Sendereihe von Christine Lemke-Matwey

Goethes Größe: Die Geschichte einer Fernbeziehung (4/21)

Junger Komponist schickt einem Großdichter seine Lieder, Lieder auf dessen Texte wohlge- merkt, zweimal tut er das, zwei Hefte bringt er auf den Weg – und es passiert: nichts. Der Dichter schweigt. Hat er die Post überhaupt bekommen? Wird er dermaßen zugeschüttet von Angeboten und Avancen aus aller Welt, dass er die Lieder einfach übersieht? Oder hat er Probleme mit jungen Komponisten und ihrer Musik?

Der Dichter heißt Goethe, der Komponist Schubert, zwei, die so grundverschieden sind, dass es eigentlich völlig klar ist, dass sie nicht zueinanderkommen können. Schade ist es trotzdem, irgendwie, bis heute ... „Goethes Größe: die Geschichte einer Fernbeziehung“, das soll heute mein Thema sein.

1 EMI 3‘28 LC: 00110 „“ D 118 7 63040 2 Elisabeth Schumann, Sopran CD 1, Track 21 Gerald Moore, Klavier (1936)

Eine historische Aufnahme, eine Aufnahme aus den Londoner Abbey Road Studios 1936: die Sopranistin Elisabeth Schumann, die Nazi-Deutschland damals schon verlassen hatte, beglei- tet von Gerald Moore am Klavier mit „Gretchen am Spinnrade“.

Schuberts erste Goethe-Vertonung, da ist er 17 Jahre alt, gerade vom Stadtkonvikt geflogen, weil er in Mathematik zu schlecht war, er ist also wieder zuhause in Lichtental, bei der Familie – und frisch in Therese Grob verliebt, eine Sängerin. Aus dieser Lebenssituation erklärt sich vielleicht nicht alles, aber doch viel: der hohe Identifikationsgrad des Komponisten mit dem, was er da komponiert, der selbstbewusste Sprung über die Geschlechtergrenzen hinweg und die Fatalität der Liebe, die für Schubert – so wie er sie in Goethes „Faust“ kennenlernt – nicht unvertraut zu sein scheint. Gretchen geht am Ende vor die Hunde, missbraucht und geschän- det von Heinrich Faust; und mit Therese Grob wird es nichts, Schubert kann ihr keine gesi- cherte Existenz bieten. Sie heiratet schließlich einen Bäckermeister, der kann das.

Was ist das Besondere an „Gretchen am Spinnrade“? Der unbedingte Ausdruck dieses Lie- des, Schuberts Hingabe an das dichterische Wort, das musikalische Spiel mit Regelmäßigkeit und Unregelmäßigkeit, vor allem im Klavier, die herbe Harmonik und überhaupt das Szeni- sche, das geradezu ganzheitliche Umfangen, Umfassen der Gretchen-Gestalt mit der Musik. Dies alles kommt knapp zwei Monate später noch einmal zum Zug, Goethes „Faust“ lässt den Franz Schubert – 4. Folge Seite 2 von 9

jungen Schubert offenbar nicht los, und er komponiert eine Szene daraus: Gretchen im Dom, „unter vielem Volke“, wie es heißt, der Böse Geist hinter ihr.

Es singt Marjana Lipovsek, es spielt Geoffrey Parsons.

2 ARCHIV Franz Schubert 6‘11 ORFEO Szene aus Goethes „Faust“ D 167 LC: 08175 Marjana Lipovsek, Mezzosopran C 159 871 A Geoffrey Parsons, Klavier Track 8 (1988)

Mit einem Ruf nach dem „Fläschchen“ der Nachbarin fällt Gretchen in Ohnmacht. „Ihr Antlitz wenden/ Verklärte von dir ab./ Die Hände dir zu reichen,/ [Schauert's] den Reinen“, raunt der Böse Geist ihr zu. Und Schubert vertont diese Szene aus Goethes „Faust“ 1814 mit packender lyrischer Dramatik, im Hintergrund das „Dies Irae“ des Kirchenchors, vorne Gret- chen und der Geist – wie der Erlkönig und das Kind, auf das er es abgesehen hat: was für eine geniale Ausdrucksstudie!

Johann Wolfgang von Goethe also, Staatsrat in Weimar, Dichterfürst aller Deutschen: was ist das für eine Passion, die Schubert hier hegt? Eine ziemlich individuelle, muss man sagen. In der Schule liest er zwar Cicero, Vergil, Lessing, Klopstock, Salis, Stolberg, Bürger, Claudius, Hölty, Herder und Voß – Goethe aber nur unter ferner liefen. Bis Herbst 1814 vertont Schu- bert kaum etwas anderes als die genannten, höchstens ein bisschen Metastasio kommt noch dazu, dank seines Lehrers Salieri. Dann aber lernt er über Freunde kennen, junge Wiener Intellektuelle, Dichter, Maler, Musiker, Stürmer und Dränger. Und die lesen anders und anderes: neben den Klassikern vor allem zeitgenössische Literatur nämlich. Und Goethe ist ein Zeitgenosse! Natürlich gehört er mit seinen 65 Jahren einer anderen Genera- tion an, natürlich entstammt er völlig anderen Lebenswelten. Die Jungen aber lesen ihn, suchen verstärkt das „Wahre, Gute, Schöne“ in einer Zeit, die Restauration verspricht und rigorose Herrschaftsformen. Das spüren sie lange vor dem Wiener Kongress. Und Schubert spürt das auch. Goethe ist in Lichtental sein Fenster zur Welt, sein Versprechen, dass man als Künstler etwas gelten kann. Für die nächsten drei Lieder nach dem „Gretchen“ jedenfalls bleibt er ihm treu: „Nachtgesang“, „Trost in Tränen“ und „Schäfers Klagelied“.

3 DG Franz Schubert 10‘17 LC: 00173 „Nachtgesang“, „Trost in Tränen“, „Schäfers Klagelied“ 477 8991 D 119 – 121 CD 2, Track 13 Dietrich Fischer-Dieskau, Bariton – 15 Gerald Moore, Klavier (1966)

Dietrich Fischer-Dieskau und Gerald Moore mit drei frühen Goethe-Liedern.

Die Schubert-Goethe/Goethe-Schubert-Themen werden schon ganz am Anfang deutlich: Einsamkeit, Liebesverlust, . Das Inhaltliche ist Schubert wichtiger als das Formale, die Form des jeweiligen Gedichts, und das bleibt bis zum Schluss so (und gilt im Übrigen auch für andere Dichter). Goethe ist der Lyriker, mit dem Schubert sich am längsten von allen

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beschäftigt, von Oktober 1814 nämlich, seinem Durchbruch mit „Gretchen am Spinnrade, bis zu den späten Vertonungen aus „Wilhelm Meister“ im Januar 1826. Ein Lebensbegleiter in der Kunst, wenn man so will, einer, bei dem er sich immer wieder vergewissert. Rein zahlen- mäßig wird Goethe bei den Liedern nur vom Schubert-Freund Johann Baptist Mayrhofer übertroffen, andere, selbst ein Wilhelm Müller, der Dichter der „Schönen Müllerin“ und der „“, bleiben hinter ihm zurück. Und, was viel wichtiger ist: Schubert komponiert oft, was ihn gerade reizt; zur Veröffentlichung aber bestimmt er nur, was auch vor den Freun- den Bestand hat. Bei den Goethe-Liedern sind das ausgesprochen viele. Wenn er also Goethe vertont, dann veröffentlicht er das in der Regel auch. Nicht sofort, aber mit einiger Verläss- lichkeit.

4 Sony Franz Schubert 1‘26 LC: 06868 „Rastlose Liebe“ D 138 88875083882 Mauro Peter, Tenor Track 3 Helmut Deutsch, Klavier (2015)

Der Schweizer Tenor Mauro Peter, eine der Hoffnungen des zeitgenössischen Liedgesangs, mit „Rastlose Liebe“, einer Komposition vom Mai 1815. Hier kann man sehr schön hören und nachvollziehen, wie Schubert kompositorisch vorgeht. Der Musikwissenschaftler Thrasybu- los Georgiades hat das einmal etwas prosaisch „Gerüstbautechnik“ genannt: der harmoni- sche und der motivische Verlauf des Liedes überlappen sich, sie sind fast nie kongruent – und genau das macht hier den Gestus des Rastlosen, Vorwärtsdrängenden aus. Wo die Me- lodie schließt, setzt die Harmonik auf Spannung, und umgekehrt. Bei Goethe heißt das: „Krone des Lebens/ Glück ohne Ruh/ Liebe bist Du!“

Schubert interpretiert dieses Gedicht also mit musikalischen Mitteln, und das kann man durchaus verallgemeinern, auch jenseits der besagten „Gerüstbautechnik“. Schubert ver- wendet bekannte melodische Gesten, rhythmische Charaktere oder harmonische Wendun- gen und tut dies oft in so ungewohnter Weise, dass sich die Hörer fragen: Was ist hier los, warum macht er das so und nicht anders, warum nicht so, wie man es kennt und erwartet? Er macht es so, weil er über das jeweilige Gedicht etwas ganz Spezifisches aussagen möchte. Und das gelingt, meistens jedenfalls. Außerdem wertet Schubert das Klavier auf. Die Klavier- stimme ist nicht mehr nur Begleitung, harmonische Stütze also und rhythmischer Motor, sondern dem Gesang fast ebenbürtig. Eine Art zweite Person. Der Weimarer Musiktheoreti- ker und Komponist Johann Christian Lobe bezeichnet das gegenüber Goethe als „Mitsprache des Gefühls“. Alles im sollte „mitsprechen“, sollte an der Verwirklichung dieses Ideals beteiligt sein, auch das Klavier. Nur leider ist weder Lobe noch Goethe zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass es bereits einen Komponisten gibt, der dieses Ideal verfolgt: Franz Schubert.

Zwei weitere Goethe-Lieder: „An “ und „Nähe des Geliebten“. Der Bariton ist Matthias Goerne, der Pianist Eric Schneider, und hören Sie doch einmal ganz besonders aufs Klavier.

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5 HMC Franz Schubert 5‘35 LC: 07045 „An Mignon“, „Nähe des Geliebten“ 902005 D 160 – 162 Tracks 14 + 19 Matthias Goerne, Bariton Eric Schneider, Klavier (2008)

Das war zuletzt „Nähe des Geliebten“, davor hörten wir „An Mignon“, zwei Lieder vom Feb- ruar 1815. Auffällig ist, dass Schubert selten einzelne Gedichte von Goethe vertont, meist sind es mehrere hintereinander. Als würde er sich in die dichterische Sprache regelrecht ver- senken. „Rastlose Liebe“ hingegen steht für sich, ebenso der „Erlkönig“, Schuberts Opus 1. Goethe macht also den Anfang, und die Opuszahl ist Schuberts Siegel, seine Beglaubigung für das Kunstwerk als Kunstwerk. Die ersten drei Opera gehören geschlossen Goethe-Lie- dern, in op. 4 mischt er erstmals Texte, bevor op. 5 wieder reiner Goethe ist – und erst in op. 6 tauchen andere von ihm bevorzugte Dichter wie Mayrhofer oder Matthias Claudius auf.

Was bedeutet diese Hinwendung zu Goethe, zum Meisterdichter aller Meisterdichter, zum Klassiker aller Klassiker? Zuallererst formuliert sie eine große Furchtlosigkeit und einen An- spruch: Ich, Franz Schubert aus dem Wiener Himmelpfortgrund, bin mir meiner Begabung so sicher, dass ich mich an der Seite der Größten sehe, wo sonst. Und das ist keine Hybris, son- dern eine Art „Gefühlsgewissheit“, so hat Joachim Kaiser das genannt: tief im Inneren weiß man Dinge, ganz ohne sie begründen zu können. Bei Schubert kommt hinzu, dass er kein Revolutionär ist. Er verändert von innen heraus, nicht durch Umstürze. Er kultiviert das Prin- zip der Abweichung – und das zeigt sich eben am besten am Meisterlichen, am klassischen Ebenmaß. Und was im Kleinen, in der Lyrik besonders deutlich wird, das gilt auch fürs Grö- ßere. Etwa für seine dritte Sinfonie, die er an neun Tagen im Frühsommer 1815 schreibt, mit Goethe im Geiste. Heutige Ohren mögen leicht über vieles hinweghören, aber wenn man sich die Partitur genauer anschaut, dann wimmelt es nur so von Unkonventionalitäten, Über- raschungen, Abweichungen. Wiederholungen fehlen, Durchführungen sind zu kurz, zweite Themen übernehmen Aufgaben von ersten, moduliert wird an den „falschen“ Stellen – kurzum: das Regelwerk ist in Bewegung. Der erste Satz, Adagio maestoso – Allegro con brio. Carlos Kleiber und die Wiener Philhar- moniker.

6 DG Franz Schubert 9‘01 LC: 00173 Sinfonie N° 3 D-Dur D 200 449 745- 2 1. Adagio maestoso – Allegro con brio Track 1 Wiener Philharmoniker Ltg.: Carlos Kleiber (1979)

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Der Kopfsatz aus Schuberts dritter Sinfonie in D-Dur D 200.

Und jetzt, aus dem gleichen Frühsommer 1815: ein absolutes Anti-Lied. Schaurig, eindring- lich, von tödlicher Reglosigkeit. Rätselhafte Harmonien, chromatische Abstiege, Stillstände in Text und Musik. Das komponierte Nichts.

7 Sony Franz Schubert 2‘11 LC: 06868 „Meeresstille“ D 216 53104 Brigitte Fassbaender, Mezzosopran Track 2 Cord Garben, Klavier (1993)

„Meeresstille“ nach Goethe, Brigitte Fassbaender wurde begleitet von Cord Garben.

Was für ein extremes Lied! Vor allem: Warum komponiert Schubert eigentlich nur „Meeres- stille“ und nicht auch „Glückliche Fahrt“? Wie Reichardt und Beethoven vor ihm, wie Men- delssohn nach ihm? Goethe stellt beide Gedichte von Anfang an zusammen, das zweite, die „Glückliche Fahrt“, ist gleichsam die Konsequenz aus dem ersten. Bei Schubert fällt diese Konsequenz weg, das Lied selbst sagt, warum. Hier geht es nicht um einen Schiffer, der bei Flaute nicht auslaufen kann aus dem Hafen, hier geht es um Seelenbilder, um Lebens- und Todesängste. Schubert komponiert das mit einer Radikalität, dass er sich das zweite Lied selbst versagt. Der poetische Inhalt schlägt auf den Vorgang des Komponierens selbst zurück.

Zwei, drei Wochen später schreibt er diese drei Goethe-Lieder, und vielleicht wäre es gut, die Radikalität der „Meeresstille“ beim Hören noch etwas nachhallen zu lassen: „Wanderers Nachtlied“ (in der ersten Fassung), „Der Fischer“ und „Erster Verlust“. Noch einmal Brigitte Fassbaender und Cord Garben.

8 Sony Franz Schubert 6‘12 LC: 06868 „Wanderers Nachtlied“ (1), „Der Fischer“, „Erster Verlust“ 53104 D 224 – 226 Tracks 22+ 3 + Brigitte Fassbaender, Mezzosopran 5 Cord Garben, Klavier (1993)

Brigitte Fassbaender und Cord Garben. Goethe-Lieder von Franz Schubert, das ist längst ein eigenes Label. So wie später die Heine-Lieder von Schumann oder die Mörike-Lieder von Hugo Wolf. Jetzt habe ich viel über Schubert gesprochen, wie und warum er überhaupt zu Goethe kommt – und wenig über Goethe. Auf wen trifft Schubert da (virtuell, begegnet sind sich die beiden ja nie)? Goethe und die Musik, das ist ein riesiges Feld, zu dem riesig viel geschrieben und gedacht worden ist. Das kann ich hier nicht alles wiedergeben, daher nur die Eckpfeiler, um die Personenkonstellation besser zu verstehen. Goethe ist musikalisch, als Kind lernt er Klavier- und Cellospielen und gesungen haben soll er auch recht hübsch. Außer- dem komponiert er (allerdings nur ein einziges Mal, wie man weiß) und zeichnet Volkslieder auf. Die Verbindung von Musik und Dichtung interessiert ihn natürlich besonders, Rat holt er sich bei den beiden wichtigsten Musikern in seinem Leben, den Komponisten Johann Friedrich Reichardt und Karl Friedrich Zelter. Sie bilden Goethes musikalischen Horizont –

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und gleichzeitig die Mauer, gegen die nicht nur Schubert prallt, prallen muss, sondern jeder junge, jüngere Komponist, der etwas will. Ein Goethe-Zitat gefällig? „Musik im besten Sinne bedarf weniger der Neuheit, ja vielmehr, je älter sie ist, je gewohnter man an sie ist, desto mehr wirkt sie.“

Was hätte der Herr Staatsrat wohl zu dieser Musik gesagt? Seine ersten drei Violinsonaten schreibt Schubert, der selbst Geiger und Bratscher ist, im Frühjahr 1816, mitten in seiner ersten Goethe-Euphorie also. Erneut strebt er musikalisch hier das Gegenteil von dem an, was Goethe gefiele. Hören Sie den ersten Satz seiner a-Moll Sonate, ein Allegro moderato mit stark experimentellen Zügen. Das liedhafte Hauptthema darf als erstes das Klavier sin- gen, die Modulationen sind sehr kühn, und die Sonatenform deutet Schubert in einer für ihn zukunftsweisenden Art um.

Gidon Kremer und Oleg Maisenberg.

9 DG Franz Schubert 10‘34 LC: 00173 Sonate für Violine und Klavier a-Moll D 385 op. 479 5586 posth. 137/2 CD 20, Track 1 1. Allegro moderato Gidon Kremer, Violine Oleg Maisenberg, Klavier (1993)

Geige und Klavier singen ein von Aufschreien unterbrochenes, melancholisches Lied: der Kopfsatz aus Schuberts früher Violinsonate in a-Moll. Es spielten Gidon Kremer und Oleg Maisenberg.

Hört man diese Musik, hört man Lieder wie „Meeresstille“, dann ist eigentlich völlig klar, dass Schubert und Goethe niemals zueinander gekommen wären. Die beiden Versuche, die Schu- bert unternimmt, um sich bemerkbar zu machen, sind also in sich zum Scheitern verurteilt. Was hätten die beiden gesprochen, wenn sie sich jemals getroffen hätten? Hätte Schubert überhaupt ein Wort über die Lippen bekommen oder wäre er vor Ehrfurcht und Verlegenheit verstummt? So wird zumindest eine seiner Begegnungen mit Beethoven geschildert. Zwei- mal wendet Schubert sich an Goethe, zwei Liederhefte werden nach Weimar geschickt. Das erste bringt Joseph von Spaun auf den Weg, 1816, verknüpft mit dem sicher ungeschickten Wunsch nach einer späteren Veröffentlichung; die zweite Sendung besorgt Schubert selbst, 1825, mit huldvoller Notiz, Widmung und in bereits gedruckter Form. Beide Male geschieht: gar nichts. Die Hefte werden zwar zurückgeschickt, ob Goethe die Lieder je zu Gesicht be- kommen hat, ist aber nicht klar. Und Schubert? Lässt sich nicht entmutigen, im Gegenteil. Er ist sich seiner Sache sicher. „Komponierend mit Goethe gegen Goethe Recht behalten, konnte auch eine Motivation sein“ – so formuliert das Peter Gülke.

10 ORFEO Franz Schubert 6‘04 LC: 08175 „Prometheus“ D 674 C 021821A Kurt Moll, Bass Track 1 Cord Garben, Klavier (1987)

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„Prometheus“ nach Goethe, ein Lied aus dem Herbst 1819, es sang der Bassist Kurt Moll.

Manchmal vertreibt sich die Musikwissenschaft auf lustige Weise die Zeit. Dann legt sie Sta- tistiken darüber an, woraus das perfekte Schubert-Lied besteht, inhaltlich: zu 50 % aus Liebe nämlich, zu 50% aus den Themenkreisen Wehmut, Abend und Nacht, zu 20% aus Wandern und Bewegung, zu 20% aus Wasser, zu 15% aus Tod und zu 10% aus Frühling. Ach ja, und ein Drittel aller Lieder, also 30%, enden mit einer Aporie, mit einem unauflösbaren Widerspruch. Natürlich müssen nicht alle Themen in jedem Lied vertreten sein und sind es auch nicht.

Das Ergebnis dieser Statistik sagt: Wilhelm Müller, der Dichter der „Schönen Müllerin“ und der „Winterreise“, ist für Schubert der Idealfall. Goethe dagegen weicht öfter ab, interessan- terweise mehr in der Form als im Inhalt. Mal „stimmt“ die Anzahl der Strophen bei ihm nicht, mal der Aufbau; dafür ist Goethe extrem verlässlich, was die Liebesthematik in Kombination mit Abendbildern und wehmütigen Stimmungen betrifft. Schubert, wie gesagt – auch das lässt sich feststellen –, sind die Inhalte immer wichtiger als alle formalen Aspekte. Die eine oder andere Ecke oder Kante im Text nimmt er in Kauf, solange die Bandbreite der Emotio- nen stimmt.

Die Erotik in „Geheimes“ zum Beispiel stimmt, ein Gedicht aus Goethes „West-Östlichem Divan“. Viertel-Achtel-Gebundene im Klavier, luftig durch Achtelpausen abgesetzt, Fortepi- ani, Dur-Moll-Wechsel: Nur notdürftig deutet die Musik an, was besser verborgen bliebe. Den Liebesakt, den Herzschlag, das zarte Begehren.

Wir hören zweimal den Bariton Florian Boesch, einmal mit Klavier, einmal mit Orchester.

11 Onyx Franz Schubert 1‘32 LC: 19017 „Geheimes“ D 719 4149 Florian Boesch, Bariton Track 12 Malcolm Martineau (2016)

12 Aparte Franz Schubert 1‘30 LC: 83780 „Geheimes“ D 719 (Arr. v. J. Brahms) 189 Florian Boesch, Bariton Track 4 Concentus Musicus Wien Ltg.: Stefan Gottfried (2018)

Schubert, orchestriert: „Geheimes“ D 719 in einer Bearbeitung von Johannes Brahms, geschrieben für dessen Sängerfreund Julius Stockhausen, der seinerzeit einer der ersten war, der die großen Schubert-Zyklen als Zyklen sang. Was bringt das Orchesterarrangement? Noch ein bisschen mehr Flirren vielleicht, ein bisschen mehr Atmosphäre. Es spielte der Con- centus Musicus Wien unter der Leitung von Stefan Gottfried.

Auf derselben CD findet sich auch die „Unvollendete“, Schuberts h-Moll Sinfonie, und zwar in einer vollendeten Version. Die Ergänzung muss uns hier nicht interessieren, die Verbin- dung aber ist interessant, von Lied und Sinfonie. Ausgehend von der kleinen Zelle, vom Lied,

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in dem und mit dem er experimentieren kann, ist das nämlich genau die Frage, die Schubert umtreibt: wie passt das Kleine ins Große, wie kann das Melos des Liedes für den sinfonischen Prozess fruchtbar gemacht werden? Goethe gibt darüber Aufschluss. Gerne haben die von Schubert bevorzugten Gedichte bei Goethe selbst erzählerischen Charakter, es sind Balladen wie der „Erlkönig“; oder aber sie stehen in einem dramatischen oder epischen Kontext, wie Gretchen im „Faust“ oder der Harfner und Mignon in „Wilhelm Meister“. Das heißt: Das Kleine ist nicht (nur) für sich klein, sondern verweist auf etwas Größeres. Es nimmt den Weg, den Schubert vom Lied zur Sinfonie nimmt, in gewisser Weise voraus. In seiner h-Moll Sinfo- nie jedenfalls findet er auf diese Fragen Antworten, die so radikal sind (und so wenig radikal klingen), dass er erschrickt, vor sich selbst, vor der Musik – und die Sinfonie nicht weiterkom- ponieren kann. Angst vor der eigenen Flughöhe und Courage. Das ist eine Theorie zur Frage, warum das Ganze Fragment geblieben ist. Die Arbeit an der h-Moll Sinfonie ist auf Okto- ber/November 1822 datiert. Darum herum erlebt Schubert mit Goethe so etwas wie seinen letzten Inspirationsfrühling, die „Harfner-Lieder“ entstehen, der „Musensohn“ und anderes. Goethe gelingt es, die Welt ins Gedicht zu holen; Schubert versucht, diese Welt in der Sinfo- nie gleichsam wieder nach außen zu stülpen.

13 Aparte Franz Schubert 14‘06 LC: 83780 Sinfonie Nr. 7 h-Moll „Unvollendete“ D 759 189 1. Allegro moderato Track 8 Concentus Musicus Wien Ltg.: Stefan Gottfried (2018)

Der Concentus Musicus Wien unter Stefan Gottfried, dem Nachfolger von Nikolaus Harnon- court, mit dem ersten Satz aus Schuberts „Unvollendeter“, eine Aufnahme von 2018.

Am 19. Juli 1826 erscheint in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung, die Schubert sehr gewogen ist, eine Besprechung einiger seiner Lieder. Darin heißt es: „Hr. Schubert hat unter der beträchtlichen Anzahl seiner Gesänge beim Klavier mehrere sehr gute und einige treffliche Stücke geliefert. Für das eigentliche Lied scheint er weniger geeignet zu sein als für durchkomponierte Stücke, vierstimmige, oder für eine Stimme mit obligater, wohl auch bis zum Übermaß voller Begleitung. So ist z.B. sein Goethischer Erlkönig zwar ein höchst überla- denes, und, auszuführen, ein gewaltiges Stück Arbeit; aber Geist und Leben überhaupt sowie im Ausdruck eine gewisse geheime Teufelei ist wirklich darin.“ Was meint der Rezensent? Zum einen: dass Schubert das konventionelle Lied ästhetisch längst überholt hat. Zum ande- ren: dass seine frühen Goethe-Lieder einen langen Schatten werfen – im Grunde bis ins Jahr 1826, als Schubert sich noch einmal dem „Wilhelm Meister“ zuwendet, Liegengebliebenes aus den Harfner-Liedern aufgreift und versucht, so etwas wie eine Summe zu ziehen. Mignon steht im Zentrum dieser späten Gesänge aus Goethes Roman, das schwarzhaarige Mädchen in Knabenkleidern, das Kind aus einer inzestuösen Beziehung. Es sind ihre Lieder, die Schu- bert hier singt, voller Melancholie und Lebenstrauer.

Dorothea Röschmann singt begleitet von Malcolm Martineau.

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14 SONY Franz Schubert 10‘07 LC: 06868 Gesänge aus „Wilhelm Meister“ D 877: 88883785952 „Heiß mich nicht reden“, „So lasst mich schei- Tracks 1 – 3 nen“, „Nur wer die Sehnsucht kennt“ Dorothea Röschmann, Sopran Malcolm Martineau, Klavier (2014)

Drei Gesänge aus „Wilhelm Meister“: „Heiß mich nicht reden“, „So lasst mich scheinen“ und zuletzt „Nur wer die Sehnsucht kennt“. Das also sind die letzten Goethe-Texte, die Schubert vertont, im Januar 1826. Sein Leben mit Goethe seit „Gretchen am Spinnrade“ hat sich sehr verändert. Aus dem geschassten Konviktszögling ist ein selbständiger Künstler geworden, seine Musik wird aufgeführt und verlegt, Zeitungen berichten darüber, Erfolge stellen sich ein. Doch Schubert ist krank, und dass es ihm nach wie vor nicht gelingt, eine feste Anstellung zu bekommen, stärkt ihn nicht.

„Goethes Größe: Die Geschichte einer Fernbeziehung“, das war heute mein Thema. In einer Woche wird es hier um die anderen Dichter gehen, die Schubert vertont hat, um Mayrhofer, Müller, Schober & Co., seine Freunde. Ich bin Christine Lemke-Matwey und schicke Ihnen nun den „Musensohn“ mit auf den Weg in den Sonntagabend, den Inbegriff des Schubert- Liedes schlechthin und ein treffliches Selbstbildnis des Komponisten in Goethes Worten. Es singt André Schuen.

15 Avi Franz Schubert 2‘03 LC: 15080 „Der Musensohn“ D 764 8553373 André Schuen, Bariton Track 7 Daniel Heide, Klavier (2017)

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