Unverkäufliche Leseprobe

Ilko-Sascha Kowalczuk Endspiel Die Revolution von 1989 in der DDR

602 Seiten, Gebunden ISBN: 978-3-406-58357-5

© Verlag C.H.Beck oHG, München Am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR 377 spielten «Büromikado»: Wer sich zuerst bewegt, könnte der große Verlie- rer sein. Mielke war längst am Ende der Karriereleiter angelangt, Krenz und Schabowski hatten noch einiges vor. Die verinnerlichte kommunis- tische Kaderideologie brachte sie gar nicht auf die Idee, eigenständig zu agieren oder gar Vorschläge zu unterbreiten, die die bisherige Politik in Frage stellen könnten. Das SED-Politbüro zog sich so den Zorn der eigenen Parteibasis zu. Austritte und Neuaufnahmen hielten sich bis Ende August zwar fast die Waage (1. 1.–31. 8. 1989: 31 216 Neuaufnahmen gegenüber 36 534 Streichun- gen, Ausschlüssen, davon 1900 wegen «Hetze») und fielen weder statis- tisch ins Gewicht noch war der Unterschied zu den Jahren zuvor gravie- rend. Die Stimmung an der Parteibasis aber war auf einem bedenklichen Tiefpunkt angelangt. Vor allem das laute Schweigen der Parteiführung verunsicherte viele Mitglieder. Am 23. September 1989 kam es live im DDR-Fernsehen zu einem kleinen Eklat, der vielen Parteigenossen, aber nicht nur ihnen, aus der Seele gesprochen schien: Die Entertainerin Helga Hahnemann, eine echte Berliner Schnauze, die große Popularität genoss, moderierte gemeinsam mit dem Leipziger Opernsänger Gunter Emmer- lich am 23. September die 100. Sendung von «Ein Kessel Buntes». In einem vorher nicht verabredeten Sketch sagte Hahnemann zu Emmerlich: «Wir sind nicht die einzige Fehlbesetzung in dieser Zeit.» Das Publikum ap- plaudierte stürmisch, ebenso als Frank Schöbel sang: «Wir brauchen keine Lügen mehr». Bei der Wiederholung im Fernsehen einige Tage spä- ter fehlten beide Stellen.

Am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR

Am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR Ein Jahr lang hatte die SED den 40. Jahrestag der DDR-Gründung am 7. Oktober vorbereitet und das Land mit einer Propagandaschlacht nach der anderen überzogen. Das Land war aufgewühlt und erregt, aber aus ganz anderen Gründen. Es drohten Demonstrationen und Aufstände. In Prag saßen Tausende Menschen in der bundesdeutschen Botschaft fest, in Warschau nochmals über 800, aus Ungarn flohen immer noch Tag für Tag Hunderte DDR-Menschen über Österreich in die Bundesrepublik. Vor allem in Prag drohte eine Katastrophe, die Versorgung der Menschen war kaum noch zu bewerkstelligen. Am 29. September 1989 um 17.00 Uhr unterrichtete Erich Honecker am Rande einer Festveranstaltung zum 378 Kapitel II: Von der Gesellschafts- zur Diktaturkrise

40. Gründungstag der Volksrepublik China in der Deutschen Staatsoper das SED-Politbüro, dass in einer einmaligen Aktion die in den beiden Botschaften befindlichen Menschen mit Zügen der Deutschen Reichs- bahn über DDR-Territorium in die Bundesrepublik ausreisen dürften. Eine Offerte von Rechtsanwalt Vogel an die Flüchtlinge, in die DDR zu- rückzukehren und garantiert innerhalb von sechs Monaten ausreisen zu können, nahmen in Prag nur 72 Personen und in Warschau nur ein Mann an. Horst Neubauer, ständiger DDR-Vertreter in Bonn, unterrichtete Kanzleramtsminister Seiters von dem Beschluss. Er bat um die «Berliner Lösung», d. h. nach Abreise des letzten DDR-Bürgers sollten die Botschaf- ten geschlossen bleiben, was aber nicht geschah. Am 30. September eilten Genscher und Seiters abends nach Prag, wo vom Balkon der Botschaft der Bundesaußenminister seine berühmten Sätze zur bevorstehenden Aus- reise sagte, die im Jubelgeschrei der Tausenden untergingen. Noch heute erzeugen die Fernsehbilder bei vielen Menschen Gänsehaut und lassen Tränen in die Augen schießen. Der ursprünglich aus Halle stammende Genscher erklärte später, dies sei der bewegendste Augenblick seiner poli- tischen Karriere gewesen. Der erkrankte Kanzler Kohl musste diese politi- sche Sternstunde seinem nicht geliebten Kontrahenten überlassen. Kurz nach 19.00 Uhr verkündete Genscher die Ausreise. Die Menschen wurden in DDR- und CSSR-Bussen, was bei vielen für Unruhe sorgte, zum Bahn- hof gebracht. An einem bereitgestellten Bus prangte noch der etwas deplazierte Slogan «Dynamo Dresden grüßt seine Fans». Zwischen 21.00 und 22.00 Uhr fuhr der erste Sonderzug los, es folgten von Prag aus fünf weitere, der letzte morgens um 8.30 Uhr. In jedem Zug saßen ranghohe bundesdeutsche Beamte, die den Menschen bei der Fahrt durch die DDR ihre Angst nehmen sollten. Etwa 4700 verließen von Prag und 809 von Warschau aus die DDR. Entgegen den Vereinbarungen nahmen die MfS- Offiziere in der DDR den Ausreisenden nur die Personaldokumente ab, gaben ihnen aber keine Ausbürgerungsdokumente in die Hand, so dass die Menschen in der Bundesrepublik ohne offizielle Ausweisdokumente ankamen. Tausende Kräfte von MfS, Polizei und NVA hatten die Strecke und die Bahnhöfe innerhalb der DDR von Blockierern geräumt. Dennoch gelang es einzelnen Fluchtwilligen, noch in der DDR unter Lebensgefahr auf die fahrenden Züge aufzuspringen. Franz Bertele schildert in einem Bericht die Fahrt von Warschau nach Helmstedt: «Mit Annäherung an die Am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR 379

DDR wurde die Stimmung im Zug gespannter, die Nervosität stieg. Nach Überschreiten der Grenze zur DDR hielt der Zug für eine längere Zeit außerhalb des Bahnhofs /Oder, wobei er von zwei Güterzügen (…) von der Öffentlichkeit abgeschirmt wurde. Hinter den Güterzügen patrouillierten -Leute. (…) Anschließend durchfuhren wir den völlig leergeräumten Bahnhof Frankfurt/Oder (…), auch die Straßen der In- nenstadt um den Bahnhof waren offenbar abgeriegelt, denn auch hier zeigte sich (…) niemand auf der Straße. Kurz hinter Frankfurt/Oder wurde der Zug erstmals von Straßen, Gärten und Häusern aus freundlich begrüßt. Offenbar war der Zug von vielen Menschen erwartet worden. Immer wieder standen (…) Gruppen in der Nähe der Bahngleise, die (…) ihm freundlich zuwinkten. Nur ganz wenige zeigten durch eine entspre- chende Gestik ihre Ablehnung. (…) ältere Frauen sah man häufig wei- nend Abschied winken. (…) Der Empfang in Helmstedt durch Minister- präsident Albrecht, Bundestagspräsidentin Süssmuth und mehr als 1000 begeisterte Zuschauer war überwältigend. Unserer DDR-Gäste, nunmehr Bundesbürger, fielen sich und uns um den Hals. Es waren bewegende Szenen.»133 Es ist viel darüber gerätselt worden, warum Honecker die Züge über DDR-Territorium fahren ließ. Zwei Gründe waren ausschlaggebend. Zum einen glaubte die SED-Spitze, damit Stärke zu demonstrieren. DDR-Bürger werden aus der DDR-Staatsbürgerschaft in der DDR und nicht in einem Drittland entlassen. Das ist die übliche Interpretation, die nicht falsch, aber nur halb richtig ist. Wichtiger scheint der zweite, bis- lang übersehene Aspekt: weder SED noch MfS wussten genau, wer die insgesamt 5500 Menschen eigentlich waren. Deshalb versprachen sie, in der DDR förmliche Ausbürgerungsdokumente auszuteilen. Sie unterlie- ßen dies, sammelten aber alle Personaldokumente ein und konnte so die Ausgereisten genau identifizieren. Zugleich gestatteten sie nahen Fami- lienangehörigen die unverzügliche Nachreise in die Bundesrepublik, um so Druck abzulassen und nicht eventuell Gruppenproteste dieser Perso- nen zu provozieren. Sicherheitspolitisch – SED und MfS hatten ihr Ende nicht vor Augen – war diese Aktion herrschaftslogisch. Moralisch erwies sie sich als völlig verfehlt und brachte nur noch mehr Menschen gegen das Regime auf. Am gleichen Abend (1. 10.) wurde der «Demokratische Aufbruch» in der Ostberliner Wohnung von Ehrhart und inoffiziell 380 Kapitel II: Von der Gesellschafts- zur Diktaturkrise gegründet. Denn die eigentliche Gründungsversammlung verhinderte ein Großaufgebot an Polizei- und Sicherheitskräften, da die etwa 80 Teilneh- mer weder zur Samaritergemeinde von kamen, wo sie die Adresse der Gründungsversammlung erfahren sollten, noch zur Woh- nung Neuberts, die auch rasch abgesperrt worden war. Die offizielle Gründung fand dann am 29./30. Oktober statt. Pahnke, Eppelmann und Neubert lancierten aber die Meldung, die Gründung sei erfolgt, um so die Arbeitsfähigkeit des «Demokratischen Aufbruchs» zu demonstrieren. Der Aufruf enthielt die Punkte, die von «Demokratie Jetzt» und vom «Neuen Forum» bekannt waren, sprach sich strikt gegen die herrschenden SED- Verhältnisse und für eine deutliche Trennung von Staat und «Partei(en)» aus. Er war konkreter als der Aufruf vom «Neuen Forum» und ließ mehr als «Demokratie Jetzt» offen, ob es sich künftig beim «Demokratischen Aufbruch» um eine Bürgerbewegung, eine Vereinigung oder eine Partei handeln würde. An Schärfe und Eindeutigkeit reichte auch er nicht an die SDP heran. Deutlicher als andere bekannten sich die Gründer um Richter, Eppelmann, Neubert, Nooke, Schorlemmer, Falcke, Pahnke und Schnur zur «sozialistischen Gesellschaftsordnung auf demokratischer Basis» und gegen «kapitalistische Verhältnisse».134 Er galt anfangs als «Pfaffenpartei», weshalb am 17. Dezember 1989 ausgerechnet Wolfgang Schnur (IM «Tors- ten») zum ersten Vorsitzenden gewählt wurde. Der Rechtsanwalt sollte diesen Eindruck zerstreuen. Die Dominanz von Theologen beim «Demo- kratischen Aufbruch» und bei der SDP ist als Folge der SED-Gesell- schaftspolitik historisch bereits erklärt worden. Unsinnig sind kritische Einlassungen dazu aber selbst ohne diese Kenntnisse: sie wären nur von Belang, wenn sich nachweisen ließe, dass diese Theologen andere be- reitwillige Bürger am Handeln gehindert hätten. Davon konnte aber im September und Anfang Oktober keine Rede sein. Sie gehörten zu den Mutigen, die als Erste aus der Deckung kamen und sie gehörten zu den wenigen, die in der Öffentlichkeit freie Reden halten konnten. Am Montag, den 2. Oktober, die Augen der Öffentlichkeit richteten sich wieder nach Leipzig, befanden sich unterdessen neuerlich 1000 Men- schen auf dem Botschaftsgelände in Prag. Mehrfach hatten SED-Reprä- sentanten wie Krenz und Axen in den letzten Tagen die Chinesen für ihr Vorgehen gegen die «Konterrevolutionäre» gelobt. Ein ND-Kommentar stachelte die aufgeheizte Atmosphäre noch an. Darin hieß es am selben Tag: Die Ausgereisten «haben durch ihr Verhalten die moralischen Werte Am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR 381 mit Füßen getreten und sich selbst aus unserer Gesellschaft ausgegrenzt. Man sollte ihnen deshalb keine Träne nachweinen.» Die meisten Men- schen zeigten sich fassungslos angesichts dieser Kaltherzigkeit. Fast jeder kannte mittlerweile welche, die in den letzten Monaten «verschwunden» waren. Die Jugend verließ das Land. Wie konnte man in dieser Situation nur solche Sätze als staatsamtliche Meldung herausgeben, fragten sich Millionen, darunter Hunderttausende Parteimitglieder. Honecker per- sönlich, wie später zu erfahren war, hatte den letzten Satz mit den Tränen handschriftlich in den «ADN-Kommentar» hineingeschrieben. Jan Car- pentier, Fernsehjournalist bei «elf99», offenbarte sich als Witzbold. Er schrieb sein erstes Flugblatt – in der «Jungen Welt»: «An alle in der DDR! Anleitung zum Handeln!» Der kurze Text bestand aus Honecker-Sät- zen, die dessen Reformwilligkeit aufzeigen sollten. Carpentier kom- mentierte: «– und der hat seine Argumente nicht in Wandlitz an die Dorfkirchentür genagelt. Der Text ist millionenfach gedruckt und also millionenfach nachzulesen (…).» Die Oppositionellen seien Westerfin- dungen, befand Carpentier, Flüchtlinge nur noch würdelose Gesellen. Die Zukunft sehe rosig aus.135 Seit dem frühen Morgen zog das Innenministerium derweil unge- wohnt viele Polizei- und Kampfgruppenverbände in Leipzig zusammen. Aus anderen Bezirken kamen zur Unterstützung Einheiten der Bereit- schaftspolizei. Nach den Ereignissen der letzten Tage erwartete das MfS einen höheren Zulauf zum Montagsgebet als eine Woche zuvor. Etwa eine halbe Stunde vor Beginn um 17.00 Uhr musste die Nikolaikirche wegen Überfüllung geschlossen werden. Erstmals öffnete eine zweite Kirche ihre Pforten. Am Friedensgebet in der Nikolaikirche nahmen etwa 2000 bis 2500 Menschen teil. Als sie nach der Veranstaltung herauskamen, warte- ten dort bereits 3000 bis 4000 weitere. Viele Menschen hatten angesichts der Polizeipräsenz und der drohenden Worte der letzten Tage Angst. Erst- mals waren die Rufe «Wir bleiben hier» deutlich lauter als «Wir wollen raus». Die Menschen riefen außerdem «Neues Forum zulassen», «Gorbi, Gorbi», «Freiheit für die Gefangenen» oder «Jetzt oder nie». Tausende Menschen demonstrierten in der Innenstadt, die Angaben schwanken zwischen 8000 und 25 000. Die Polizeikräfte agierten erstmals in voller Kampfausrüstung mit Schild, Schlagstöcken, Helmen und Hunden. Leip- zig erlebte die größte oppositionelle Demonstration seit dem 17. Juni 1953. Am Abend begann in der Ostberliner Gethsemanekirche eine Mahn- 382 Kapitel II: Von der Gesellschafts- zur Diktaturkrise wache für die politischen Häftlinge. Die Mahnwache initiierten junge Männer und Frauen, teilweise noch Jugendliche, aus verschiedenen Grup- pen, die handeln wollten. Sie verteilten ein Flugblatt mit Informationen, auf dem als erster Satz ein Biermann-Zitat stand: «Ihr löscht das Feuer mit Benzin. Ihr löscht den Brand nicht mehr.» Auch in vielen anderen Städten fanden Fürbittandachten und Informationsveranstaltungen statt, die größte mit über 1300 Teilnehmer in . Vom «Neuen Forum» wurden zwei neue Papiere bekannt. In dem einen ging es um Organi- sationsfragen, das andere war ein «Offener Problemkatalog», womit die gesellschaftliche Diskussion über Wirtschafts-, Ökologie-, Kultur-, Bil- dungs- und Wissenschaftsfragen angeregt werden sollte. Die Verfasser sprachen auch rechtliche Fragen an und schlugen konkret vor, sämtliche politischen Straftatbestände aus dem zu tilgen, damit «oppositionelles Handeln nicht mehr kriminalisiert werden kann».136 Am Abend des 3. Oktober hielten sich in der Prager Botschaft bereits wieder etwa 6000 und in der unmittelbaren Umgebung 2000 Menschen auf, außerdem waren 3–4000 Menschen auf dem Weg nach Prag.137 Egon Krenz als zuständiger ZK-Sekretär für Sicherheitsfragen unterbreitete an diesem Tag Honecker drei Handlungsvorschläge: «Eine Ideallösung gibt es nicht.» 1. die Bundesregierung erkennt die DDR-Staatsbürgerschaft an und anschließend würden die Reisemöglichkeiten erweitert; 2. zeitweilige Schließung aller Grenzen; 3. sofortige Mitteilung, jeder könne ab sofort reisen, wohin er wolle und jeder könne die DDR verlassen und wieder einreisen. Die 3. Variante galt als nicht «zweckmäßig», der augenblickliche Verlust läge sicher bei Hunderttausenden von Menschen. «Die 1. Variante hätte vor allem propagandistischen Effekt, würde aber kaum zu einer Lö- sung führen.» Und schließlich steht in dem Papier: «Die 2. Variante könnte die Lage im Inneren bis zur Nichtmehrbeherrschbarkeit anheizen. Außerdem müssten alle Grenzen abgeriegelt werden (Einsatz der Land- streitkräfte und der Kampfgruppen wären nötig …).»138 Krenz schrieb: «Ich würde die zweite Variante empfehlen.» Wollte er einen Bürgerkrieg heraufbeschwören? Wollte er Honecker so in Bedrängnis bringen, dass dieser zwangsläufig zurücktreten musste? War der Druck aus Prag zu groß geworden, wo die Regierung immer stärker in Bedrängnis geriet? Was lief hinter den geschlossen Türen ab? Krenz hat in seiner Autobiographie, mit der er sich nachträglich zum Reformer zu stilisieren suchte, nicht nur diese Episode unerwähnt gelassen, sondern auch noch die Abläufe so dar- Am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR 383 gestellt, als hätte er damit gar nichts zu tun, weil er friedlich in China weilte.139 Honecker jedenfalls zeichnete noch am selben Tag mit der Be- merkung «zurück zur Aussprache» ab, der Regierung der CSSR aber wurde unverzüglich mitgeteilt, ab 17.00 Uhr schließe die DDR ihre Gren- zen zum Nachbarland, was man in Prag begrüßte. Am nächsten Morgen erst bestätigte das SED-Politbüro, die «Grenze gegenüber der CSSR und der VR Polen ist in ihrer Gesamtlänge unter Kontrolle zu nehmen».140 Verantwortlich dafür: Verteidigungsminister Keßler, Staatssicherheitsmi- nister Mielke und Innenminister Dickel. Krenz und Honecker versuchten, die DDR hermetisch abzuriegeln. Die Menschen zeigten sich entrüstet, geschockt, ungläubig. Wohin sollte das alles noch führen? Zur gleichen Zeit entschied das SED-Politbüro, die Menschen in der Prager Botschaft abermals über DDR-Gebiet in die Bundesrepublik aus- reisen zu lassen. Noch am 3. Oktober verbreitete sich diese Kunde wie ein Lauffeuer. Der niederländische Liedermacher Herman van Veen, der in der DDR außerordentlich beliebt war und von dem Amiga zwei Lizenz- platten herausgebracht hatte, gab am 4. Oktober in Ost- ein Kon- zert, in dem er mehrfach die innenpolitischen Verhältnisse in der DDR unter dem tosenden Beifall der etwa 5000 vorwiegend jungen Leute kom- mentierte. In einem fiktiven Telefongespräch fragte ihn seine Oma, ob es in der DDR auch eine Königin gebe, nein, antwortete er, aber einen Kö- nig. Bei uns macht die Königin alles für das Volk, der König hier macht was er will. In einem Alptraum schilderte er, wie er ausreisen möchte, ihn aber ein Polizist mit der Waffe daran hindere. Auch solche «Einmischun- gen» trugen dazu bei, dass die Menschen darüber nachdachten, was sie selbst tun könnten.

Was nach dem SED-Beschluss zu den Botschaften folgte, ist schon oft detailliert beschrieben worden. Am 3. Oktober hinderten Grenzbeamte allein am Übergang Bad Schandau mindestens 1400 Menschen an der Weiterfahrt nach Prag. Die Stimmung war enorm aufgeheizt. Die meisten fuhren nach Dresden zurück, um dort die weiteren Ereignisse abzuwar- ten. Als die Nachricht kam, am 4. Oktober kämen neue Sonderzüge mit Flüchtlingen aus Prag, sammelten sich erst Hunderte, dann Tausende am Hauptbahnhof. Viele glaubten, es sei die letzte Chance, aus der DDR herauszukommen. Allerdings waren unter den zwischenzeitlich 20 000 Menschen (Polizei-Schätzung)141 nicht nur Ausreisewillige aus der ganzen 384 Kapitel II: Von der Gesellschafts- zur Diktaturkrise

DDR, sondern auch Dresdner Protestpotential. Es kam zu stundenlangen Schlachten, Zerstörungen, zum Einsatz von Wasserwerfern («Arbeiter- waschmaschine») und Tränengas. Modrow forderte NVA-Kräfte an. Seit Anfang des Jahres hatten sich nicht nur die Kampfgruppen verstärkt auf bürgerkriegsähnliche Zustände vorbereitet, es waren auch innerhalb der Armee Spezialeinheiten ausgebildet worden, die Aufstände im Inneren niederschlagen sollten. Insgesamt handelte es sich um 179 Hundertschaf- ten, die erst am 11. November «wieder in die militärische Struktur aufge- nommen» wurden.142 In den Räumen Leipzig, Dresden und Berlin waren Anfang Oktober jeweils rund 30 dieser Hundertschaften zusammengezo- gen worden, auch bei Plauen und Karl-Marx-Stadt. In Dresden kamen in der Nacht vom 4. zum 5. Oktober einige dieser irregulären, auf freiwilliger Basis gebildeten Armeeeinsatztruppen neben Tausenden Polizisten, Feuerwehrmännern und MfS-Kräften zum Einsatz. Die Bilanz war ver- heerend: Verletzte in einem bislang nicht gekannten Ausmaß, ein halb zerstörter Bahnhof und Bahnhofsvorplatz, an diesem und den nächsten Tagen bis 11. Oktober über 1300 Festnahmen, von denen 428 erst im De- zember 1989 wieder frei kamen. Und nicht nur in Dresden, sondern auch in anderen Städten wie Plauen, Reichenbach, Freiberg, Werdau, Bad Brambach oder Karl-Marx-Stadt kam es zu Auseinandersetzungen und Festnahmen. Erst Tage später wurde bekannt, dass in den Zuführungs- punkten systematisch brutale Gewalt und erniedrigende Demütigungen gegen schutz- und wehrlose Menschen angewandt worden waren. Dresden kam nicht mehr zur Ruhe, auch in den nächsten Tagen fanden Demonstrationen mit Tausenden Teilnehmern und gewalttätigen Ausein- andersetzungen statt. Zudem kam es am 5. und 6. Oktober zu ersten klei- neren Demonstrationen in Magdeburg, Potsdam und einigen anderen Städten. Fast überall erfolgten Zuführungen. Die insgesamt 19 Sonderzüge aus Prag mit 8012 Menschen erreichten unterdessen am 5. Oktober nach nervenaufreibenden Verspätungen, bedingt durch Gleisbesetzungen und die Dresdner Unruhen, die Bundesrepublik. 643 kamen erneut aus War- schau hinzu. Die Bilder glücklicher Gesichter gingen um die Welt. Das MfS hatte den knapp 9000 Menschen wiederum ihre Personalausweise abgenommen, ohne Ausbürgerungsurkunden auszustellen. Die Daten verteilte das MfS auf die Bezirke, um herauszufinden, wer die Ausgereis- ten waren. Nur eine kleine Minderheit war älter als 40 Jahre, die meisten sogar unter 30. Die Mehrheit war gut ausgebildet, verdiente nach DDR- Am Vorabend des 40. Jahrestages der DDR 385

Verhältnissen nicht schlecht, hatte keinen Ausreiseantrag gestellt und war bislang politisch nicht «negativ» aufgefallen. Anhand von zwei Bezirken (Leipzig, Magdeburg) ist geprüft worden, ob das MfS die Chance nutzte, IM im Westen zu platzieren, bzw. ob sich MfS-Kader und SED-Funktio- näre unter den Flüchtlingen befanden. Zumindest für die zwei Bezirke kann das ausgeschlossen werden. Aufgrund der raschen Entwicklung scheint dies auch für die anderen Bezirke eher unwahrscheinlich zu sein. Am Dresdner Hauptbahnhof versammelten sich nicht nur Ausreise- willige, sondern zahlreiche Menschen, die nicht ausreisen wollten. Meh- rere junge Männer, die schon bei den Protesten gegen das Reinstsilizium- werk Dresden-Gittersee dabei gewesen waren, gaben zu Protokoll, sie hätten sich an den Unruhen beteiligt, um eine «gleiche Situation wie am 17. 6. 1953 zu schaffen».143 Rufe nach «Deutschland, Deutschland» und «Deutschland-Fahnen» gehörten zu dieser unfriedlichen Nacht wie selbstverständlich dazu. Außerhalb Dresdens spielten die Ereignisse eine große Rolle, viele Men- schen diskutierten sie, waren entsetzt und aufgewühlt über die Brutalität – auf beiden Seiten. Die wenigen Fernsehbilder blieben unscharf, man er- kannte kaum, was eigentlich geschah. Die SED-Propaganda verbreitete Schauermärchen, so etwa von gewissenlosen Müttern und Vätern, die ihre Kinderwagen auf die Gleise gestellt hätten, um die Züge anzuhalten und mitfahren zu können. Anders als mit den Verhafteten in Leipzig oder frü- her Ost-Berlin stellte sich keine landesweite Solidarität mit den Festge- nommenen ein. Die vorherrschende Meinung außerhalb Dresdens blieb weithin ablehnend – es waren «nur» Ausreisewillige. Die harten Polizei- übergriffe wurden kritisiert – in vielen Kirchen auch außerhalb Dresdens Zeitzeugenberichte bestürzt zur Kenntnis genommen –, aber die Demons- tranten, von denen allgemein angenommen wurde, sie seien «nur» wegen ihrer Ausreise dort in so großer Zahl gewesen, nicht weniger. Am Abend ist in der Ostberliner Gethsemanekirche ein Flugblatt verteilt worden: «Das NEUE FORUM wendet sich eindringlich an alle, die mit ihm sympathisie- ren: Gewalt ist kein Mittel der politischen Auseinandersetzung! Lasst Euch nicht provozieren! Wir haben nichts zu tun mit rechtsradikalen und anti- kommunistischen Tendenzen! Wir wollen den besonnenen Dialog, ernstes Nachdenken über unsere Zukunft, keine blinden Aktionen. Angesichts der gegenwärtigen kritischen Situation rufen wir alle Menschen in der DDR zu verantwortungsvollem, solidarischen Denken und Handeln auf.»144 Bis 386 Kapitel II: Von der Gesellschafts- zur Diktaturkrise heute ist nicht geklärt, wer es genau in Umlauf setzte, es kam aber aus Ber- liner Kreisen des «Neuen Forums».145 Der Ton irritierte, die impliziten Be- hauptungen, die Begriffe wie «rechtsradikal» und «antikommunistisch» erzeugten, erschreckten nicht wenige Menschen. Und was waren «blinde Aktionen»? Das Flugblatt enthielt nicht nur diese Distanzierungen, son- dern deutete auch bereits an, was sich heute nur noch bruchstückhaft nachweisen lässt: Überall gab es neben Kirchenmitarbeitern auch Opposi- tionelle, die von Demonstrationen abrieten und Straßenaktionen als sinn- los ansahen. Auch in diesen Tagen ging politisch ein nachhaltiger Riss durch die Ge- sellschaft: die Oppositionellen, die im Land etwas verändern wollten, auf der einen Seite, und die Hoffnungslosen, die nur noch wegwollten, auf der anderen. Beide Gruppen pochten auf die Einhaltung der Menschenrechte, die einen wollten sie erkämpfen, die anderen sie sofort haben. Beide An- sätze waren legitim. Öffentlich einräumen konnten beide Seiten aber nicht, dass sie eigentlich auf der gleichen Seite der Barrikade standen. Im gesamten Oktober flüchteten 57 000 Menschen, 30 600 durften offi- ziell ausreisen.

7. Oktober 1989: Der 40. Jahrestag der DDR

7. Oktober 1989: Der 40. Jahrestag der DDR Der 7. Oktober nahm aus drei Gründen schon im Vorfeld eine besondere Stellung ein. Die SED bereitete mit großem Pomp die Feierlichkeiten zum 40. DDR-Jahrestag vor. Die Opposition erwartete, dass die SED danach ungleich härter vorgehen würde. Und der 7. Oktober fiel zusammen mit der monatlichen Wahlprotestdemonstration in Ost-Berlin. Die Gerüchte- küchen brodelten. Die Menschen lebten in einer kaum noch erträglichen Anspannung. Dies galt für alle Seiten. Noch immer blieben Millionen pas- siv. Hunderttausende waren bereit, aktiv das System zu verteidigen. Und die Zahl der offenen Gegner und Oppositionellen erwies sich immer noch als gering. In der Millionenstadt Ost-Berlin kamen zu den täglichen Ver- anstaltungen in mehreren Kirchen insgesamt 3000, 4000, 5000 Menschen. In den anderen großen Städten sah es prozentual nicht viel besser aus. Dresden und Leipzig spiegelten die tatsächliche Aktionsbereitschaft im Land nicht. In den allermeisten Städten, das darf man nicht vergessen, fand bis zu diesem Zeitpunkt gar nichts statt. Eine Demonstration am 30. September in der Kleinstadt Arnstadt mit 200 bis 800 Teilnehmern