Catherine Destivelle Eine

Fraugeht ihren Weg

Sie erhielt als erste Frau den Piolet d’Or für ihr Lebenswerk. Sie prägte das Bild der starken Frau im Alpinismus auf sympathi- sche Weise. Und zeigte dann, dass es im Leben noch mehr gibt als kleine Griffe und steile Wände. Text: Nadine Regel

in Schritt zu weit. Freier Fall. Nach zwanzig Metern hängt die junge Kletterin verletzt im Seil. EWas war geschehen? Catherine Destivelle erinnert sich nicht mehr genau. Sie mutmaßt. Nach der 1700-Meter-Wand an einem bis dahin unbestiegenen Berg in der Antarktis wollte sie ein Gipfelfoto schießen. Alles war weiß, der Schnee um sie herum, der Himmel, das Wolkenmeer, das sie und den Gipfel umhüllte. Sie trat zurück und es war geschehen. Ihr Bergpartner Érik Decamp hatte das Duo zuvor noch mit ei- nem Eisgerät abgesichert. Und konnte sie retten. „Ich fühlte mich so schuldig“, sagt

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Catherine Destivelle 25 Jahre später am Te- Bouldern initiiert, im wilden Alpinismus lefon – weil ihr der Unfall nicht beim Klet- sozialisiert, durch Sportklettern perfekti- tern, sondern beim Fotografieren passierte. oniert – und dann die Ernte an den gro- Scham, Schuld, Pein. Das sind Gefühle, ßen Wänden. die man von einer Frau ihres Kalibers Mit zwölf Jahren fing sie an. Bouldern in nicht erwartet. Catherine Destivelle ist Fontainebleau, die französischen Kletterge- eine Ausnahmeerscheinung im Bergsport. biete, die Verdonschlucht und natürlich Sylvie Chappaz, Érik Decamp (2) Im Jahr 2020 wurde sie als erste Frau mit das damals noch wesentlich ernstere Klet- Fotos: dem Piolet d’Or für ihr Lebenswerk aus­ tern in den Alpen. Bereits mit 16 wiederhol- gezeichnet, quasi dem Oscar des Bergstei- te sie in den Dauphiné-Alpen zwei der gens. Damit folgt sie auf Legenden wie schwierigsten Klassiker am l’Olan und an , Reinhold Messner und Jeff der Ailefroide; mit 17 Jahren durchstieg sie Lowe. „Ich habe mich am Anfang ein wenig die „Amerikanische Direkte“ am Dru. „Top­ geschämt“, sagt die Sechzigjährige. Weil sie rope bin ich nie geklettert“, sagt sie. Ihre viel weniger geleistet habe als die anderen. Freunde seien alle zehn Jahre älter als sie Viel weniger Spuren hinterlassen habe. In gewesen und die richtigen zum richtigen Wirklichkeit hat sie das Bild der starken Zeitpunkt. Sie ließen sie vorsteigen. Das Frau im Alpinismus medienpräsent ge- habe ihr mentale Stärke gegeben. „Wenn prägt wie keine andere vor ihr. du führst, dann hast du viel mehr Emotio- Catherine Destivelle wuchs in der Nähe nen, es ist viel schwieriger“, sagt sie. Man von Paris auf. Klettern, das war für sie als müsse seine Ängste überwinden. „Ich habe Kind zuerst Mittel zum Zweck. Sie wollte erst sehr spät herausgefunden, dass ich Schafhirtin werden. Und dafür musste eine der ersten Frauen war, die so stark man auf Felsen klettern können. „Meinen klettern“, sagt die gelernte Physiotherapeu- eigentlichen Traum habe ich dann aus tin. Damals gab es keine Magazine, keine den Augen verloren, klettern hat mir ein- Fotos. „Klettern war unter dem Radar“, sagt fach zu gut gefallen“, sagt sie und lacht. sie. Erst mit 25 Jahren habe sie erkannt, Wenn sie lacht, dann ist es ein ehrliches „dass ich Pionierin war“ – und dann war sie Lachen. Ein Lachen, das aus ihr heraus- es, die auf den Magazinen zu sehen war. platzt. Das auch mal schambehaftet ist, Dazu trug sicher bei, dass damals das weil sie ihrem Englisch nicht vertraut. Aus Sportklettern im Aufwind war und zuneh- der Fast-Hirtin wurde eine der besten mend Öffentlichkeit fand. „La Destivelle“ Kletterinnen ihrer Zeit. Mit einem berg­ kletterte auf Fotos und in Filmen, auch „La Destivelle“ am Dru: In elf sportlichen Lebenslauf, der gewunden er- mal im hautengen Lycra-Outfit mit Rü- einsamen Tagen legte Cathe- scheint und doch seine Logik hat: beim ckenausschnitt. Der Stil der 1980er Jahre, rine Destivelle ihre Soloroute durch die Westwand. Auch die Shishapangma-Südwand bot ihr eine angemessene Aufgabe – und großes Abenteuer.

DAV 4/2021 43 auch andere Topkletterinnen wie oder Isabelle Patissier zeigten Haut – aber auch Stärke. Die damals aufkom- menden Wettbewerbe, mit getrennter Wertung für Frauen und Männer, gaben den Frauen eine Bühne. Destivelle hatte zuerst ein Manifest gegen Kletterwett- kämpfe unterschrieben, nahm dann aber doch teil und gewann gleich 1985 den ersten Wettkampf in Bardonecchia. In freundschaftlicher Konkurrenz prägten sie und die US-Amerikanerin Lynn Hill den Wettkampfsport in den Achtzigern – und sie lebten ihr Können am Fels aus. Desti- velle war es, die als erste Frau in den zehn-

Ob bei den ersten Wett- CATHERINE DESTIVELLE kämpfen (Sport Roccia * 24.7.1960, ORAN (ALGERIEN) 1985) oder im Sportklettern (Samizdat, Cimai, IX+/X-): HIGHLIGHTS Catherine Destivelle prägte › 1985/1986: jeweils Gewinn beim „Sport Roccia“ ihren Sport – auch mit in Bardonecchia, dazwischen Beckenbruch durch ikonischen Bildern. Heute Gletscherspaltensturz. möchte sie ihre Leiden- › 1988: Chouca (8a+), Buoux – erste X- einer Frau schaft an die junge Generation weitergeben. › 1990: Trango Tower (6251 m), „Slowenenroute“ (800 m, VIII+), zweite freie Begehung › 1991: Petit Dru Westwand, „Destivelle“ (800 m, VIII, A5), Solo-Erstbegehung in elf Tagen › 1992/1993/1994: Die drei großen Nordwände solo im Winter: (Heckmair, 17 Std.), (Walkerpfeiler), (Bonatti, turm besteigen? Kann jede. Für sie Destivelle hatte damit die drei großen erste Wiederholung) sei es wichtig, sich jederzeit im Nordwände solo im Winter komplettiert › 1995: Shishapangma (8027 m) Südwestwand, Spiegel ansehen zu können – ohne – als erste Frau, und für sich selbst. „Kurtyka/Troillet/Loretan“ Scham. Ein Projekt nur deshalb „Ich wollte mir noch einmal selbst be- EHRUNGEN auszuwählen, weil es noch keine weisen, dass ich eine Alpinistin bin“, sagt › 1992: Nationaler › 2008: Albert Mountain „Frauenbegehung“ hat, war nicht sie über jene Zeit. Und es auch den ande- Verdienstorden Award ihr Ding. Sie spielte auf Augenhöhe ren beweisen, die meinten, sie sei in ihrem › 2007: Ritterin der › 2020: Piolet d’Or Carrière Ehrenlegion „Prix Walter Bonatti“ mit den Männern, ging ihre eige- Leben „nur“ Wettkampfkletterin gewesen. nen Wege, auch völlig neue. In den Deshalb zog es sie aus den Alpen auch zu 1990er Jahren zog sie mit ihrem den Bergen der Welt. 1990 gelang ihr mit ten Grad vorstieß, mit der Route „Chouca“ Sportkletterkönnen wieder in die großen die zweite freie Begehung der (X-) in Buoux. Wände: Bonattipfeiler solo in vier Stun- Slowenenroute am Nameless Tower (6251 Als Erste. Frau. Sie wollte nie auf ihr den. Eine eigene Route in der Dru-West- m) in Pakistan. Sie versuchte sich am Frausein reduziert werden. Schon gar wand, solo in elf Tagen. Die Eiger-Nord- Westpfeiler des Makalu, an der Anna­ nicht, was ihre Leistung anging. „Für mich wand free solo im Winter. Onsight, in 17 purna-Südwand, am Latok-Nordgrat, den ist es viel wichtiger, Anerkennung von der Stunden. So was mache sie stolz. Ganz zu ganz großen Brocken; an der Shishapang- Kletter-Gemeinschaft zu bekommen als schweigen von den Winter-Solos am Wal- ma (8027 m) wiederholte sie die Kurty- von der Öffentlichkeit“, sagt sie. Den Eiffel- kerpfeiler und an der „Bonatti“ in der Mat- ka-Route durch die Südwand. Die Zeit an terhorn-Nordwand – es war die erste Wie- den Achttausendern im Himalaya sei eine derholung dieser Route überhaupt. Und

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später von dort ausfliegen. Alles ohne antwortung für ihr neuestes Projekt, dem Archiv Destivelle Archiv Schmerzmittel. „Ich wollte wach und auf- zur Zeit ihr Ehrgeiz hauptsächlich gilt. Fotos: merksam bleiben“, sagt sie. Sie musste sich Seit sieben Jahren leitet Destivelle einen auf ihre Rettung fokussieren. Und ihrem kleinen Buchverlag, Les Éditions du Mont- Retter helfen. Blanc. Sie hat schon hundert Bücher veröf- Noch im selben Jahr heiratete sie Érik fentlicht, alle mit Bezug zum Klettern oder Decamp. Ein Jahr später kam ihr Sohn den Bergen. Zwei Bücher liegen ihr beson- Victor zur Welt. „Ich war so glücklich dar- ders am Herzen. Kinderbücher, in denen über, dass es meinen Sohn gab, dass ich sie ihre Leidenschaft fürs Klettern und den ihn nicht alleine lassen wollte“, sagt sie. Sie Alpinismus vermittelt. „Viele Leute denken, hörte mit allem auf, was ihr vorher wich- dass wir Kletterer verrückt sind – das sind tig war. Schwierige Projekte in den Bergen, wir aber nicht“, sagt sie und lacht. Dieses Klettern, Expeditionen. Das Verlangen gab Mal bestärkend. Für sie war Klettern schon es zu der Zeit nicht (vielleicht mal abgese- als Mädchen Inspiration und Zuflucht zu- hen vom gesicherten Solo in der Has- gleich. Sie konnte sich so in ihre eigene se-Brandler an der Großen Zinne 1999). „Ich Welt flüchten und aufhören mit dem habe ihn jeden Tag von der Schule abge- Nachdenken. „Beim Gehen kannst du den- besondere für sie gewesen. „Ich habe mich holt“, sagt sie und vergleicht sich selbst ken, beim Laufen auch noch, aber beim da wegen der Höhe sehr verletzlich ge- mit einer Glucke. Nicht aus Angst, ihm Klettern ist das nicht möglich“, sagt sie. fühlt“, sagt sie. Auch wenn sie „nicht viel“ könne etwas passieren. „Ich wollte einfach Fühlt sie sich als Vorbild für Frauen? erreicht hätte, sei sie trotzdem sehr glück- bei ihm sein“, sagt „Nein“, sagt sie, aber lich damit gewesen – und stolz auf sich: Destivelle. Victor ist viele Frauen hätten „Es war viel mehr Abenteuer als die Sa- heute 23 Jahre alt Klettern war ihr ihr gesagt, dass sie chen, die ich in den Alpen gemacht habe.“ und studiert Posaune. sie dazu inspiriert Dann kam das Jahr 1996. Und ihr Verlangen Inspiration hätte, in die Berge Wenn man Fotos von Destivelle von nach den großen Er- zu gehen. Das sei heute und damals betrachtet, fällt einem lebnissen am Berg – und Zuflucht nicht ihre Intention auf, dass sie sich nicht verändert hat. Kur- wie steht es heute da- gewesen, aber es zes Haar, frisches Gesicht, schlanke Ge- rum? Sie lebt in der Nähe von . freue sie natürlich. „Somit bin ich am stalt. Gräbt man etwas tiefer, spürt man Der Winter sei sehr gut gewesen – sie sei Ende nicht nur für mich klettern gegan- es, den Schlag, den ihr der Unfall damals viele Skitouren gegangen. Vergangene Wo- gen, sondern auch für andere“, sagt Desti- in der Antarktis versetzt hat. Im zwanzig che war sie zum Klettern in Südfrankreich. velle. Dass nun mehr Frauen in den Ber- Meter langen freien Fall kam ihr der Ge- „Zum Spaß“, sagt sie. Und auch, um mal die gen unterwegs sind und es auch mehr danke: „Nun sterbe ich.“ Als sie zum Stop- Weite des Meeres zu genießen. Nur auf Bergführerinnen gibt, findet sie richtig pen kam, bemerkte sie erst nach einem Nachhaken lässt sie raus, dass die Skitou- und wichtig. „Das macht das Bergsteigen Moment, dass der Schnee sich um sie rot ren schon mal 1800 Höhenmeter haben irgendwie menschlicher“, sagt sie. Es sei verfärbt hatte. Sie hatte einen offenen und 7a (VIII) onsight geht, „wenn’s nicht zu etwas ganz anderes, einer Frau zu folgen Bruch am rechten Bein erlitten. Zu zweit anstrengend ist, die Arme sind nicht mehr als einem Mann. Das zeige, dass die Berge allein in der Schneewüste. Erst seilten sie so stark“. Sie macht eben ihr Ding, nicht nicht nur für starke Männer sind. Son- und ihr Partner Érik Decamp sich 16 Stun- für andere. Aber ab und zu kämen sie, die- dern auch für starke Frauen. Für Pionie­ den über die 1700 Meter hohe Wand ab. se neuen Ideen, gespeist aus Träumen frü- rinnen wie Catherine Destivelle – und für Mit einem 50-Meter-Seil. Am Bergfuß herer Jahre, die sie noch nicht ganz aufge- jede Frau, die an ihrer selbst gestellten musste Decamp sie zurücklassen, um im ben will. Wünsche. Mehr nicht. Sagt sie. sportlichen Aufgabe wächst. Basislager einen Schlitten zu holen, mit Obwohl sie sich noch sehr fit fühle. dem er sie dorthin ziehen konnte. Ein Mit sechzig Jahren hätten noch vie- Nadine Regel empfand die Gespräche Hubschrauber konnte sie erst zwei Tage le Bergsteiger einen Piolet d’Or ge- mit Catherine Destivelle als sehr bereichernd – aber auch berührend, wonnen. Doch dann wechselt sie das weil sie sich so schwer damit getan Thema und beruft sich auf ihre Ver- hat, ihre großen Erfolge anzunehmen.

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