Realistisch in Den Osten Blicken: Belarus Nach Der Ukraine-Krise Und Die Neuausrichtung Der Westlichen Politik
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SIRIUS 2017; 1(2): 177–190 Robert Helbig* Realistisch in den Osten blicken: Belarus nach der Ukraine-Krise und die Neuausrichtung der westlichen Politik DOI 10.1515/sirius-2017-0032 1 Einführung Kurzfassung: Belarus ist an der europäischen Integration nicht ernsthaft interessiert. Es hat sich in der Ver- Der seit 1994 regierende Präsident von Belarus Aljaksandr gangenheit der EU nur zugewandt, um Druck auf die rus- Lukaschenka hat die Grundprinzipien der Außenpolitik sische Regierung zu erzeugen. Nicht einmal die Ukraine- seines Landes im Jahr 2008 wie folgt beschrieben: Krise hat die außenpolitische Situation des Landes „Die Außenpolitik von Belarus basiert auf drei Grundprinzipien: grundlegend geändert, das strukturell von Russland ab- politische Souveränität, wirtschaftliche Offenheit und gleiche hängig geblieben ist. Allerdings konnte Präsident Aljak- partnerschaftliche Beziehungen zu anderen Ländern. Die ‚Gol- sandr Lukaschenka seine Macht festigen und die aktuelle dene Regelʼ unserer Außenpolitik bleibt Multivektorialität […]. Wirtschaftskrise eröffnet ihm die Chance, das Land öko- Wir sind sehr daran interessiert, mit dem Westen zusammen- 1 nomisch zu diversifizieren. Lukaschenkas gewonnenes zuarbeiten, vor allem mit der EU […].“ Selbstvertrauen und der dringende Bedarf an wirt- Lukaschenka hat diese Strategie bisher nicht ernsthaft schaftlicher Umstrukturierung haben die Tür für den verfolgt. Zwar hat sich seine Regierung zeitweilig dem Westen geöffnet, seine Belarus-Politik neu aufzustellen Westen zugewandt, um Druck auf Moskau auszuüben, und dessen Streben nach strategischer Diversifizierung zu aber Belarus bleibt strukturell von Russland abhängig. unterstützen, um von Russland größere Unabhängigkeit Lukaschenka unterhält engere Beziehungen zu Moskau zu erlangen. als zu Brüssel. Obwohl die Ukraine-Krise die strategische Schlüsselwörter: Belarus, Russland, Europäische Union, Situation von Belarus nicht grundlegend geändert hat, Nachbarschaftspolitik haben die Ereignisse Lukaschenka die Möglichkeit ge- boten, seine Macht intern zu festigen und extern etwas Minsk is not seriously interested in European Abstract: mehr Spielraum zu gewinnen. Die gegenwärtige Wirt- integration. Lukaschenka has merely been capitalizing on schaftskrise, die mindestens teilweise auf die Sanktionen Brusselsʼ competitive relationship with Moscow by turn- des Westens gegenüber Russland zurückzuführen ist, hat ing to the EU as a bargaining chip with the Kremlin. The dabei bewirkt, dass in Minsk die Motivation zur Diver- Ukraine Crisis has not served as a game changer because sifizierung der belarussischen Außenbeziehungen ge- Belarus remains structurally dependent on Russia. How- stiegen ist. ever, the Ukraine Crisis has helped Lukashenko to con- Auf diese Entwicklung könnte der Westen – Europa solidate his power, while the current economic crisis re- und die USA – mit einer Öffnung gegenüber Belarus rea- inforced Minskʼs motivation to diversify its foreign rela- gieren und dabei Lukaschenka als Partner und Belarus als tions. Lukashenkoʼs renewed confidence and Belarusʼ dire ein unabhängiges Land behandeln, ohne dessen enge need for economic restructuring have opened the door for Partnerschaft mit Russland infrage zu stellen. Das bela- the West to reframe its Belarus policy and to enable Be- russische Streben nach größerer Unabhängigkeit und die larus achieving strategic diversification on its way to- Versuche, sich wirtschaftlich und politisch zu diver- wards greater independence from Russia. sifizieren, könnten Europa und die USA durch eine engere Keywords: Belarus, Russia, European Union, Zusammenarbeit mit dem land in between unterstützen. Neighborhood policy Wie weit kann der Westen dabei gehen? Und wo sollten die Schwerpunkte liegen? 1 Aljaksandr Lukaschenka: Rede an BSU Studenten, Presseerklä- * Kontaktperson: Robert Helbig, Doktorand an der Universität der rung des Belarussischen Präsidenten Nummer 49929, 12. Februar Bundeswehr München, E-Mail: [email protected] 2008, www.president.gov.by/. 178 Robert Helbig Diese Fragen werden in drei Schritten beantwortet: Im trolliert formal die belarussische Luftwaffe.3 Die Streit- ersten Abschnitt wird zunächst die außenpolitische Stra- kräfte des Landes sind de facto Teil des russischen Mili- tegie von Belarus dahingehend analysiert, ob und inwie- tärs, im Falle eines militärischen Einsatzes als Folge weit Lukaschenkas Engagement mit Blick auf den Westen westlicher Aggression würde Russland die belarussischen ein Streben nach Unabhängigkeit oder nur ein taktisches Kräfte als Teil seiner Truppen behandeln.4 Russland un- Manöver gegenüber dem Kreml darstellt. Während sich terhält zwei militärische Einrichtungen – aber keine for- der zweite Teil auf die Konsequenzen der Ukraine-Krise mellen Basen – auf belarussischem Boden5 und die Ver- für Belarus und Lukaschenkas Politik konzentriert, wer- teidigungsindustrie von Belarus bleibt strukturell von den anschließend die Chancen für Europa und die USA für Russland abhängig, da die Firmen größtenteils auf die den Fall aufgezeigt, dass sie ihre Politik gegenüber Minsk Rolle als Subunternehmer beschränkt sind6. Die russische neu aufstellen wollen. Kontrolle über das Militär wird allerdings durch die bela- russische Verfassung eingeschränkt, die einen Einsatz der eigenen Streitkräfte im Ausland verbietet.7 2 Die strukturelle Abhängigkeit Neben der militärischen besteht auch eine starke ökonomische Abhängigkeit von Russland. Etwa 40 Pro- vom Kreml zent der belarussischen Exporte gehen dorthin.8 Ganze Industriezweige, wie der landwirtschaftliche Maschinen- Von allen postsowjetischen Staaten bleibt Belarus wohl bau, sind abhängig von der Nachfrage aus Russland. Bei- am stärksten mit Russland verbunden. Als Lukaschenka spielsweise konnte Belarus im Jahr 2011 Traktoren für über 1994 an die Macht gekommen ist, institutionalisierte er 870 Milliarden US-Dollar – etwa 6 Prozent der gesamten seine politischen, militärischen und wirtschaftlichen Be- Exporte – an Russland verkaufen, weil den Landwirten ziehungen zum Kreml, insbesondere durch die Mitglied- dort günstige Leasingbedingungen angeboten werden. schaft in der Russisch-Weißrussischen Union, der Ge- Auch stellen russische Banken Vorzugskredite für Unter- meinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), der Organisa- nehmen zur Verfügung, die belarussische Industrie- tion des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) und produkte erwerben. Diese Banken kontrollieren zudem der Eurasischen Wirtschaftsunion (EAWU). ein Viertel des belarussischen Bankensektors und bleiben Die enge Beziehung zu Moskau wird oft durch die die wichtigste Devisenquelle für das Land. Darüber hinaus gemeinsam empfundene Bedrohung einer expandier- werden große Teile der belarussischen Petrochemie- und enden NATO nach Osteuropa erklärt.2 Die These in diesem Telekommunikationssektoren von russischen Institutio- Aufsatz lautet, dass die Allianz zwischen Belarus und nen kontrolliert.9 Russland auf einer anderen Grundlage steht: Zum einen Die belarussische Abhängigkeit ist vor allem auch im ist Belarus aufgrund der früheren Integration aus der Energiesektor sichtbar, zumal Russland seinen Einfluss Sowjetzeit wirtschaftlich und gesellschaftlich auf das 2011/2012 noch vergrößert hat, indem es sich exklusive Engste mit Russland verbunden. Zum anderen verfolgt Rechte für die Erdgasversorgung und die Kontrolle über Lukaschenka primär die Ziele des Machterhalts und der das Transit- und Verteilungssystem gesichert hat. Aller- Maximierung der damit verbundenen ökonomischen Er- dings muss hinzugefügt werden, dass Belarus noch den träge. Diese Ziele erscheinen ihm am besten erreichbar größten Anteil seiner Öl-Infrastruktur besitzt.10 Russland durch die politische und wirtschaftliche Unterstützung hat aber ein Monopol auf belarussische Gasimporte und des „großen Bruders“. Die Beziehungen zum Westen die- kontrolliert 90 Prozent der Ölversorgung.11 Der russische nen immer nur als Hebel, um von Moskau Zugeständnisse Gaskonzern Gazprom verwaltet fast das gesamte Pipeli- zu erhalten. Lukaschenkas Motivation, sich mit Russland zu ver- bünden, führte zur Gründung der Russisch-Weiß- 3 Wierzbowska-Miazga 2013, 29. russischen Union, einem einzigartigen Konstrukt eines 4 Silitski 2011. 5 vagen politischen Bündnisses, in dem sich beide Länder Bohdan/Gumer 2016, 20. 6 Wierzbowska-Miazga 2013, 30. gegenseitig diplomatisch unterstützen. Diese Union ist 7 Marin 2013, 25. faktisch eine militärische Allianz mit einem gemeinsamen 8 Ministry of Foreign Affairs of the Republic of Belarus 2016. Kommando. Heute ist das belarussische Heereskomman- 9 Wierzbowska-Miazga 2013, 18–22. do vollständig in das russische integriert, der Kreml kon- 10 Ibid, 16. 11 Vadzim Smok: Belarus Struggles To Reduce Energy Dependence On Russia, Belarus Digest, 1. Februar 2016, www.belarusdigest.com/ 2 Szyszlo 2003; Paznyak 2003; Rontoyanni 2003. story/belarus-struggles-reduce-energy-dependence-russia-24413. Belarus nach der Ukraine-Krise und die Neuausrichtung der westlichen Politik 179 nenetz in Belarus12 und Russland hat den Bau des ein- sames Währungsprojekt mit Moskau, obwohl er dieses zigen belarussischen Atomkraftwerks übernommen, das anfänglich im Jahr 2000 als politisches Ziel erklärt hatte.17 2019 in Betrieb gehen soll13. Während Russland durch den Lukaschenka verfolgt also nicht das Ziel, den Integ- Bau der Nord-Stream-Pipeline seine Abhängigkeit von rationsprozess mit Russland voranzutreiben, sondern belarussischen Transitrouten abbauen konnte, war Be- durch eine Allianz wirtschaftliche Gewinne