DAS BILD MAX STIHNERS IN DER DEUTSCHEN LITERATUR

UM DIE MITTS DES 19. JAHRHUNDERTS

DISSERTATION

Presented in Partial Fulfillment of the Requirements for the Degree Doctor of Philosophy in the Graduate School of the Ohio State University

3y RENE SBDN TAUBE, M« A., Lie. Chem., Dr. Chem.

x*)!'!or>nr

The Ohio State University 1958

Approved by

— tCL, — Adviser Department of German INHALTSVERZEICHNIS

Einleitung 1

Bettina v. Arnim, Die Aufloesung des Einzigen dnrch den Menschen 33

Robert Giseke, Moderne Titanen 69

Wilhelm Jordan, Demiurgos. Ein Mysterium 107

G. Fr. Daumer, Das Christentum und sein Urheber. Mit Beziehung auf ftenan, Schenkel, Strauss, Bauer, Feuerbach, Ruge, Stirner und die gesammte moderne Negation 1 39

Zusammenfassung 170

Ausgewaehltes Verzeichnis der in dieser Arbeit erwaehnten Schriften 181

Autobiography 185

ii Einleitung

Es ist nicht leicht, sich genauere Belehrung zu verschaffen ueber das Werk des deutschen Philosophers Johann Kaspar Schmidt, genannt Max Stimer (1806-1856), und ueber die Bedeutung und Wir- kung seines Hauptwerkes, Per Einzige und sein Eieentum (1845, schon

Ende 1844 erschienen).^ Selbst um die Beschaffbarkeit der Stirner- schen Texte steht es misslieh, Schon fuer die Leser des 19. Jahr- hunder*ts bot die Textfrage gewisse durch Zensurschwierigkeiten ver- staerkte Probleme: sehr Viele lernten offenkundig Stirners Worte, 2 oft wohl ausschliesslich, aus Quellen zweiter Hand kennen, so vor allem aus den etwas ungenauen Auszuegen in Arnold Ruges Buch Unsre letzten zehn Jahre. dem zweiten Teil von Ruges Zwei Jahre in Paris

(1846). Inzwischen hat sich die Lage nicht betraechtlich verbes- sert. Auch in groesseren Bibliotheken ist Stirners Hauptwerk nicht gerade haeufig zu finden, seine anderen Schriften nur sehr selten.

Max Stirner, Der Einzige und sein Eicentum (Leipzig: 0. Wigand, 1845; 2. lufl. 1882; 3 . Aufl. 1901); im Folgenden ndt "E.u.s.E." be- zeichnet. In den Neuauflagen ist die Widmung "Meinem Liebchen I-larie Daehnhai'dt" fortgelassen. Zitiert wird nach der dritten, im Original- verlag erschienenen Auflage, die sonst nur in Orthographie und For­ mat von der ersten abweicht. Zum bequemeren Vergleich sei erwaehnt, dass die Seitenzahlen der 1. und 3* Auflage ziemlich genau in der Proportion 5*4 stehen.

^ Vgl. auch das Daumer-Kapitel der vorliegenden Arbeit. Daumer, der Stirners Werk zweifellos aus erster Hand kannte, zitiert um 1864 den E.u.s.E. nach Ruges Darstellung, was um 1850 eher die Re­ gel als die Ausnahme war. Die Textabweichungen sind ein sicheres Merkmal, an dem erkannt werden kann, ob nach Stirner oder nach Ruges Exzerpten zitiert wird. Daumer zitiert bei der Beurteilung Stirners uebrigens ausdruecklich Ruges Buch.

1 2 3 Eine kritische Gesamtausgabe existiert nicht; abgesehen von einer spaeten Auflage der englischen Uebersetzung (von St. Byington) be- sitzt meines Wissens keine Ausgabe des E.u.s.E. auch nur die Andeu- tung eines Index. Selbst wissenschaftliche Arbeiten, die in Deutsch- h land erschienen, bedienten sich oft der Reclam-Ausgabe des

E.u.s.E.. - dieses ungewoehnliche Verfahren war und ist im Falle 5 Stirners etwas "Gewoehnliches".

Leider steht es um die Darstellungen und Interpretationen der

^ Wieviele und welche Artikel in radikalen Journalen aus der Fe- der Stirners stammen, wird wohl nie mehr genau festzustellen sein. Ein Beispiel fuer die Schwierigkeiten, mit denen die Stirner-For- schung im allgemeinen, der kuenftige Herausgeber Stirners im beson- deren zu rechnen hat, liefert der Umfang der 2. Auflage von Max Stirners Kleinere Schriften (ed. John Henry Kackay, 191^); die 1. Auflage (Berlin, 1898) enthielt sieben Essays Stirners, darun- ter einen zweifelhaften. Die Tim ein Vielfaches vermehrte 2. Auf­ lage wurde noetig, als Stirnerische Essays zweifelsfrei identifi- ziert werden konnten, z.B. in Broekhaus1 Leipziger Allgemeine Zeitung. deren Leitung uebrigens einmal Stirner angeboten worden war (vgl. K.Glossy, "Literarische Geheimberichte aus dem Vormaerz", Jahrbuch der Grillparzer-Gesellschaft XXIII, Wien, 1912, S.8 ). Selbst ein so gruendlicher Arbeiter wie H.H. Houben, dem als Lek- tor des Verlages Broekhaus die Reehnungsbuecher etc. des Verlages zugaenglich waren, hatte noch kurz vorher keine Evidenz fuer die Mitarbeit Stirners an der Zeitung finden koennen. (Vgl. besonders das Vorwort zur 3. Auflage von I-Iackays Stirner-Biographie, 191^* sowie Gustav Mayer, "Stirner als Publizist", Frankfurter Zeitung. h.10.19120

^ Die erste (anfangs der 90-er Jahre erschienene) Reclam-Aus­ gabe besass eine Einleitung von Paul Lauterbach (ein Pseudonym). 35 Jahre spaeter erschien eine neue Ausgabe, diesmal mit einer Ein*> leitung von Mackay.

•* Vgl. etwa Bueckling, "Der Einzige und der Staat bei Stirner und Marx", Schmollers Jahrbuecher hh/IV, 1920, Fussnote S.125*. der Au- tor zitiert "wie ueblich, nach der fast allein zugaenglichen Re- clamausgabe". 3

Stirnerschen Ideen im allgemeinen noch viel schlimmer. Allerdings

ist besonders seit den 90-er Jahren - also der Zeit, wo Stirner

posthum eine grosse, aber nicht sehr nachhaltige Beruehmtheit be-

schieden wurde - eine Anzahl wissenschaftlicher und vor allem nichtwissenschaftlicher Arbeiten erschienen, die sich mehr oder minder ausfuehrlich und speziell mit Stirner befassen.^ Dieses Cor­ pus der Stirner-Forschung ist jedoch nicht besonders umfangreich, auch teils schwer zugaenglich, und oft vom Standpunkt des Histo- rikers ganz wertlos und irrefuehrend. Als interpretative Versuche moegen einzelne dieser Schriften - die oft Stirners Text ungenau zitieren, irrige Behauptungen oder Druckfehler aelterer Quellen unversehens weiterschleppen, und mehrfach selbst die Namen anderer

Stirner-Forscher unrichtig wiedergeben^ — vielleicht einiges In- teresse verdienen, das freilich schon durch den Mangel histori- scher Einfuehlung und genauer Kenntnis wieder gemindert wird. Die unkritische Benutzung der meisten jener Schriften ist rundweg be- denklich; und die Stirner-Forscher selbst haben es bisher nur sel- ten versaeumt, die unleugbare Tatsache zu beklagen, dass das vor-

Ein Ueberblick ueber die umfangreicheren und die recht zahl- reichen kleineren oder pamphletartigen Veroeffentlichungen lehrt, dass Stirner auf eine widerspruchsvolle Weise interpretiert worden ist, wie wohl kaum je ein anderer Philosoph (vielleicht den ihm wesensverwandten Macchiaveili ausgenommen). Die Problemstellungen lassen sich jedoch meist auf eine der 4 folgenden historischen Ver- gleiche reduzieren: Stirner und der Anarchismus; Stirner und Nietzsche; Stirner und Marx; Stirner und die Freiwirtsehaft. 7 Einzig um den Leser zu warnen sei hier ohne weitere Namensnen- nung bemerkt, dass selbst in den Bibliographien bedeutender Philo- sophiegeschichten, Enzyklopaedien und literarischer "Iandbuecher derlei falsche Autorennamen auftauehen. Und einzig zur Bequemlich- keit des Lesers sei hier eine nicht falsche, aber irrefuehrende bibliographische Angabe erlaeutert, die meines Wissens sonst im- handene Corpus der Stirnerforsehung im allgemeinen keine Grund-

lage bietet, auf der sich weiterbauen liesse. Um sich eines Nae-

heren zu vergewissern, wird man die tatsaechlichen Angaben - und

erst recht die Interpretationen - der meisten jener Schriften nicht

hinnehmen duerfen, ohne sich selbst der freilich langwierigen Ar­ beit zu unterziehen, an Hand von Dokumenten des 19. Jahrhunderts

den Spuren Stirners genauer nachzuforschen. Abgesehen von den

grundlegenden Arbeiten einiger Maenner, besonders John Henry

Mackays und Gustav Mayers, hat dies die Stirner-Forschung zu tun unterlassen; die Folge war meist ein voelliges Verkennen von Stir­ ners Einfluss und Abhaengigkeit, und, wo nicht falsche, dann doch in ihren historischen Proportionen vergriffene Interpretationen.

Das Dunkel zu erhellen, das das Phaenomen Stirner schon seit sei- nen Lebzeiten umgibt, ist eine schwere, aber bisher noch kaum be- gonnene Aufgabe.

Eine schwere Aufgabe: angesichts des dichten Schleiers des Ge-

heimnisses, welchen das 19. Jahrhundert oft auf die Ideen Stirners, und welchen Stirner selbst so erfolgreich auf sein eigenes Leben warf; und angesichts unserer - nicht bloss im Falle Stirners - noch recht lueckenhaften Kenntnis der Geschichte des Links- oder

Junghegelianismus. Was an dem Phaenomen Stirner als ausreichend

mer in unbenutzbarer Form geboten wird: "H. Sveistrup, Stirner als Soziologe (’Von Buechern und Bibliotheken')" bezieht sich auf einen Artikel in dem Sammelband: Gustav Abb, ed. Von Bue­ chern und Bibliotheken... Ernst Kuhnert als Abschiedsgabe dar- gebracht (Berlin, 1928), und einigermassen sicher erforscht gelten kann, ist fast aus- schliesslich das Biographische. Das Verdienst hieran gebuehrt dem deutschen Dichter, Stirner-Apostel und Anarehisten John Henry

Mackay (186^-1933). dessen Name zu Recht mit dem Stirners zugleieh genannt zu werden pflegt. Seine Stirner-Biographie^ ist bis heute

Ausgangspunkt, Schwerpunkt und Iioehepunkt der Stirner-Forschung in

Einem und wird dies notwendig auch in Zukunft bleiben. In mueh- seliger, fast zehnjaehriger Arbeit (1889/98) hat Kackay das Material gesammelt, das seine grundlegende und fast erschoepfende Biographie

Stirners bietet. Und doch war das unvermeidliche Resultat seiner

Forschung nicht mehr als eine unglaublich kaergliche Anzahl von

Nachrichten ueber einige Lebensjahre des Mannes "Stirner", dessen

Identitaet und Wirken schon der sonst so gewitzten Polizei Fried­ rich Wilhelms IV. verborgen geblieben war.^ Spaeteren Biographen

Ueber Mackay liegt eine umfangreiche Arbeit vor: Thomas A. Riley, "John Henry Mackay, Germany’s Anarcliist Poet" (Diss. Harvard, W). 9 John Henry Kackay, Max Stirner. sein Leben und sein Werk (1, Auflage 1898; 2. Auflage 1910; 3. Jrrivat- 1 Auflage 191^). Das Werk wird hier im Folgenden als 11M.-3.11 bezeichnet; wo nicht anders ange- geben, ist die 2. Auflage gemeint. - Mackay veroeffentlichte im Dienste Stirners eine grosse Anzahl von Werken, so besonders Max Stirners Kleinere Schriften (vgl. Fussnote 3)»

Waehrend die Berliner Polizei leicht imstande war, ihre Ge- heimalcten ueber andere und viel "harmlosere" Junghegelianer mit Ma­ terial zu fuellen, blieb der geheime Polizeiakt, der in Berliner Ortnographie die Aufschrift "Styrna" trug, so gut wie leer. Schon Anfang 18^2, als sich die Polizei fuer den Autor eines von Stirner verfassten Artikels in der Rheinischen Zeitung interessierte und verschiedene Berliner Lehrer namens Schmidt verdaechtigte, wusste sie von Johann Kaspar Schmidt, einem Herrn von "gesetztem Alter", "nur Gutes" in Erfahrung zu bringen (vgl. Gustav Mayer, "Die An- Stirners blieb kauri etwas anderes uebrig, als Mackays Material

- nicht immer sorgfaeltig - auszuschlachten. Wissenschaftlich

ernstzunehmende Beitraege zur Stirner-Forschung gibt es nach - und

vor - Mackay fast nicht; im Wesentlichen sind nur noch mehrere

Schriften des marxistischen Gelehrten Gustav Mayer von Bedeutung,

der die unschaetzbare biographische und die zu Unrecht stark un-

terschaetzte philosophisch-interpretative Arbeit Mackays kritisch

ergaenzt.

Die gruendliche und wenigstens im Biographischen doch recht unergiebige Arbeit dieser beiden Maenner deutet auf mehr als eine

Schwierigkeit der Stirner-Forschung. Dass Stirner, "der radikalste aller Denker", wie er fast ausnahmslos genannt wird, - der Philo-

soph des ungehemraten Egoismus, der extremste "Nihilist", Atheist,

Anti-Metaphysiker und Vertreter des pEychologischen Hedonismus - unstreitig die anopymste, unbekannteste Persoenlichkeit der moder- nen Xulturgeschichte ist, ist ein wohl nicht mehr abzuaendemdes

Paradoxon, mit dem man sich vielleicht ganz gut abfinden koennte.

faenge des politischen Radikalismus im vormaerzlichen Preussen ... Unbekanntes von Stirner", Zeitschrift fuer Politik 6, 1913» S.54). Nebenbei scheinen die oesterreicliischen Polizeispitzel etwas ge- nauer Bescheid gex-msst zu haben (vgl. auch Glossys "Geheimberich- te".)

Von tlayers Stirner-Arbeiten seien besonders hervorgehoben: "Die Junghegelianer undder preussische Staat", Historische Zeit- schrift 121 (1920), S. '413-WiQ; ferner seine bereits (FN 3 und 10) erwaehnten Arbeiten in der Frankfurter Zeitung. 4.10.1912, und in der Zeitschrift fuer Politik 6 , (1913), S. 1-113. Rein biographische Fakten sind eben nicht allzu wichtig. Anders steht es um die nicht minder schwer zu erfassende "Biographie" der Stirnerischen Ideen. Ohne laengere Ausfuehrung sei hier be- tont, dass gruendliche Untersuchungen ueber die Wechselbeziehun- gen zwischen den Ideen Stirners und denen seines Jahrhunderts - und nicht bloss zum besseren Verstaendnis der letzteren - nottun.

Rudimentaere Ansaetze zu derlei Untersuchungen sind auf einigen

Spezialgebieten recht haeufig gemacht worden. Aber nur wenige sind genau und foerderlich genug (wie G. Mayers Untersuchungen ueber gewisse Zusamraenhaenge zwischen Stirner und seinen junghege- lianischen Vorgaengem), um bleibende Beachtung zu verdienen; die bis heute oft vernommene Klage, dass naehere Untersuchungen ueber 12 den Einfluss Stirners auf Marx und Nietzsche noch immer fehlten, ist sehr berechtigt, - obgleich gerade ueber jene beiden Beziehun- gen ziemlich viel geschrieben worden ist.^ Ideengeschichtliche

Studien, die selbst von einer solchen sehr spezifischen Beziehung

12 So etwas von H. Arvon, "Une polemique inconnue: Marx et Stirner", Les Temps Modernes VII (Sept, 1951)» 509-536,

Besonders in den zwei Dezennien seit 1890, als Stirner und Nietzsche gleichzeitig beruehmt wurden, befasste sich die For- schung gern mit der Frage, ob Nietzsche, in dessen Schriften der Name Stirners nie erwaehnt wird, Stirners Philosophie gekannt haette, - eine Frage, die schliesslich zweifelsfrei bejaht werden konnte auf Grund anderer Zeugnisse. (Vgl, Franz Overbeck in Neue Rundschau 1906/1, S, 227 f,» sowie Karl Joel in Zukunft 59 D-907], S, 3R f., sowie C,A, Bernoulli, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Jena 1908, I, 1^9 ff.) 8

Stirners ausgehen, koennten grosses und allgemeines Interesse be-

sitzen. Solche Erwartungen scheinen aus den Beraerkungen eines

amerikanischen Gelehrten zu sprechen, mit denen er seine Bespre-

chung des umfangreichen Werkes (Die deutsche Ideologie) einleitet, welches Marx, Engels und Hess gegen einige andere Junghegelianer und ganz besonders gegen Stirner richteten:

It is not generally known that wrote a book on Stirner. And those who do knowr are usually puzzled as to why the toughminded precursor of Nietzsche should have been called Sankt Max or Der Heilige Max...But a more fundamental question must be answered first, wly was it necessary to write a book...against Stirner at all? Only some indications of the Zeiteeschichte of the days in which it was composed can make quite intelligible in what way the critical discussion of Stirner marks an important stage in the intellectual development of Marx. And yet the most striking thing about this book is that the issues which Stirner raised and Marx met, like many others previously dis­ cussed, have a definite relevance to the conflict of ideas and attitudes in the contemporary world in Europe and America to-day. Indeed, we might even say that this is due to the fact that Stirner and Marx are here discussing the fundamental problems of any possible system of ethics or public morality.-^

Dies mag vielleicht etwas uebertrieben klingen. Doch da das

sehr beschraenkte Thema der vorliegenden Arbeit weder Grund

noch Raum zur Unbescheidenheit bietet, glaubt auch ihr Verfas-

ser hier - und zwar auf Grund seiner Voruntersuchungen - die

Ueberzeugung aussprechen zu duerfen, dass ideengeschichtliche

Untersuchungen sowohl ueber den Einfluss wie ueber die Abhaen-

gigkeit Stirners noch sehr viel mehr leisten koennten, als etwa

^ Sidney Hook, From Hegel to Marx (London, 1938), 165 bloss die Luecken in unserer Kenntnis Stirners oder einiger ande­ rer Philosophen auszufuellen: der oft nur unklar erkannte und be- wertete Entwicklungsgang, den gewisse Ideenkomplexe - Individua­ lists» Anarchists, Caesarismus, Nihilists, vielleicht auch Sa- tanists - im 19. Jahrhundert nahmen, wuerde dadurch sichtbarer und verstaendlicher werden.

"Den Einfluss der Weltanschauung Max Stirner7 s bis in unsere

Zeit zu verfolgen...wird aeusserst schwierig sein", warnt Mackay mit Recht (M.-B..20). Es gilt eben nicht nur, abseitsliegende Do- kuraente und Texte aufzutreiben, deren Quellenwert von vorneherein verttet werden kann, es heisst auch fast aufs Geratewohl neuen

Indizien nachzuspueren, neue Einfluesse zu wittern, den Lauf unter- irdischer und unvertteter geistiger Stroeme zu erraten, - und dies auf Gebieten, die der Forschung oft wenig zugaenglich und vertraut sind. Die Hauptschwierigkeit liegt aber in dem manchmal erzwungenen, oft vorsichtigen und meist betroffenen Schweigen, das nur allzu Viele bewahrten, die nachweislich Stirners Ideen

- und zuweilen sogar ihn persoenlich - wohl kannten. IS Dies

Schweigen hat auch dazu beigetragen, die irrige, im Wesentlichen

IS J Einige auffaellige Beispiele hierfuer bieten: der Junghege- lianer Bruno Bauer - der engste persoenliche Freund Stirners und neben Feuerbach das Hauptobjekt von Stirners philosophischen Angriffen - erwaehnt in seinen zahlreichen Schriften Stirner nirgends, wie Mackay festgestellt hat.- Nietzsches betroffenes Schweigen ist schon erwaehnt worden (Fl’J 13). - Der Hegelianer Karl Rosenkranz erwaehnt in seiner Alnhabetischen Bibliograohie der Hegelschen Schule (1861) den Namen Stirners nicht, obgleich Rosenkranz’ Tagebuch viel von den Berliner Junghegelianern spricht und seit 18^2 Stirner, dessen fruehe Artikel, darunter eine Be- 10 von Mackay selbst geteilte und sonst nur selten bezweifelte Auf- fassung zu naehren, Stirner sei bis 1889, als er von Mackey "wie- derentdeckt" wurde, gaenzlich verschollen gewesen, Hier sei dazu nur bemerkt, dass eine naehere historische Untersuchung die enor- men Verdienste Kackays um die Popularisierung Stirners gebuehrend wuerdigen, aber auch feststellen muss, dass bis dahin Stirner (vor allein in Deutschland, Russland, Amerika, und vielleicht auch Frank- reich) durchaus nicht unbekannt war - wahrscheinlich viel bekann- ter, als er es heute ueberall zu sein scheint und dass er da- mals keineswegs als gaenzlich verschollen gait, Besonders die nicht-deutschen Autoren, die damals seinen Namen oder seine Ideen bloss im Voruebergehen erwaehnten, hielten es fast immer fuer un- noetig, weitere Erlaeuterungen ueber Stirner beizufuegen. Gar fuer radikale und - wie auch Mackay wusste - fuer anarchistische Denker war Stirner eine Art von Beruehmtheit. Auch gait er schon in den 16 80-er Jahren und frueher als einer der auslaendischen Autoren, die "die russische Aufklaerung der 60-er Jahre" (den "Nihilismus") zutiefst beeinflusst hatten.

sprechung eines Werks von Rosenlcranz, und schliesslich den E.u,s,E. mehrfach erwaehnt, - Uebrigens weigerte sich Stirners Witwe (Marie Daehnhardt) in den 90-er Jahren aufs Allerentschiedenste, Mackay irgendwelche Auskuenfte ueber Stirner zu geben.

So schon in G.B. Arnaudo, II Nihilismo: come e nato..„ (2, Auflage, Torino 1879; 1880 ins Franzoesische uebersetzt), oder in dem sehr umfangreichen franzoesischen Werk, das Th»Funck-Brentano ueber die "deutschen Sophisten" (besonders Kant und Stirner) und ihre Beziehung zu den "russischen Nihilisten" schrieb, Les Sophistes Allemands et les Nihilistes Russes (Paris, 188?), 11

Das nur scheinbar vollstaendige Schweigen der Zeitgenossen

hat sogar einige weniger Forscher dazu verleitet, unter Berufung

auf die geringe Zahl der zeitgenoessischen Besprechungen in Zei-

tungen und Zeitschriften und auf die bekannte Aufhebung eines an-

faenglichen Verbotes des E.u.s.E. am Druckorte, dem Staate Sach­

sen, die nackweislich richtige Behauptung Mackays anzuzweifeln,

dass zumindest zur Zeit des Erscheinens des E.u.s.E. das Werk und 17 sein Autor eine notorische Beruehmtheit erlangt haetten. Bis vor

kurzem wusste die Forschung eben nichts oder wenig ueber die gro-

teske Geschichte der Zensurschwierigkeiten, die einer oeffentli- 18 chen Verbreitung des Stirnerschen Werkes im Viege standen: die meisten deutschen und, wie es scheint, auch einige auslaendische

Regierungen hatten entweder seine Lektuere ueberhaupt verboten,

oder doch seinen buchhaendlerischen Vertrieb, oder zumindest alle

kommerziellen Anzeigen und kritischen Besprechungen. Erst 1924 hat

der Literaturwissenschaftler und Schriftsteller H. H. Houben die

fast vollstaendige Darstellung und Erklaerung jener Zensurverbote

So in der alten Dissertation von H. Schultheiss (Greifs- wald, 19055 2. Auflage Leipzig, 1922, R. Dedo ed.)j auch Fritz Mauthner, Per Atheismus und seine Geschichte im Abendlande. IV (Stuttgart, 1923J, S. 212, greift Schultheiss' nur durch ungemein fluechtige Nachforschungen gestuetzte Argumente gegen Mackay auf. An anderer Stelle (Erinnerungen I, 1918, S. 225; in Artikelform schon 1904 erschienen) vermutet Mauthner freilich, dass ihm die ersten Ideen zu seiner eigenen Sprachkritik schon in den 70-er Jah­ ren dOT-ch Beruehrung mit Stirners Ideen gekommen sein koennten. 18 Selbst die M.-B. weiss in ihren ersten beiden Auflagen noch nichts von einem Zensurverbote des E.u.s.E.; ihre dritte Auflage erwaehnt (und dies auch nur mit einer gewissen Reserve) bloss die Verbote in Preussen, Kurhessen und Mecklemburg-Schwerin (M.-B.. 3. Aufl., S. 127 f.). 12 19 in Deutschland und im daenischen Holstein geliefert. Dera-

nach uaren sie ein von der preussischen Regierung lancierter Ver-

suchsballon fuer hochpolitische Hegemonie-Intriguen, - was uebri-

gens schon seinerzeit eine der begreiflicherweise wenig zahlrei- 20 chen deutschen Besprechungen des E.u.s.E. angedeutet hatte.

Wenn hier das Thema "Stirner und die Polizeizensur" beruehrt wurde, so ist dies nicht bloss in der Absicht geschehen, eine partielle Ursache des Dunkels um Stirner anzudeuten oder zu ueber- treiben, noch gar in der Absicht, erneut die Probleme, aber auch die Unkenntnis und die daraus entspringenden wilden Hypothesen der Stirner-Forschung zu unterstreichen. Ob Zufall oder nicht, es laesst sich aus jenem Thema vielleicht noch etwas anderes ler- nen. Um dies zu erklaeren, seien hier zunaechst einige aeltere

Quellen zitiert, aus denen die Stirner-Forschung schon vor Houbens

- nebenbei auch weiterhin kaum beachteten - Resumee der Zensur-

■*•9 h .H. Houben, Verbotene Literatur. (Berlin, 1924), I, 577 ff» 20 Die in Leipzig (bei Broekhaus) erschienenen Blaetter fuer litterarische Unterhaltung vom 5«/6. Februar 1846 (144 ff. und S.147 f*) brachten eine anonyme - mit "28" unterzeichnete - Be- sprechung des E.u.s.E.. die so beginnt: "Das vorliegende Buch hat ein eigentuemliches Schicksal gehabt. Es hat die Aufmerksamkeit der Staatsregierungen auf sich gezogen..." Dieser Passus wird erst recht verstaendlich im Lichte von Houbens Darstellung der langen Kabinettsfehden um das Verbot des E.u.s.E.. das von Preussen als Mittel einer politischen Kampagne eifrig betrieben wurde. (Vgl. auch das Zitat aus K, Glossy auf S. 14). - Als Sachsen das anfaeng- liche Verbot widerrief, versprach die Brockhaussche Alle:emein& Presszeitung (8 . Nov. 1844) den Zensurentscheid zu veroeffentlichen, was aber nie geschah (Mackay). 13

frage die Belehrung oder wenigstens den Verdacht haette schoepfen

koennen, dass Stirners Werk polizeilich verboten gewesen war.

Hierbei sollen natuerlich nur Quellen genannt werden, in denen

ausdruecklich. nicht andeutungsweise, von einem Verbot die Rede ist.

Als Fuerst Pueckler-Muskau, der damals auf dem Hoehepunkt

seines Ruhmes stehende Schriftsteller, nach laengerer Abwesenheit

im Ausland im Herbst 1846 nach Berlin kehrte, fiel ihm der E.u.s.E.

in die Haende, - eine "Mine. Schmidt", vermutlich Stirners Frau,

hatte es ihm zugesandt. Pueckler war von dem Buch hingerissen, er-

bat sich aber zur Kontrolle die Meinung seines Freundes Varnhagen v. Ense. Qieser trug unter dem 29.10.1846 in sein Tagebuch den

Vermerk ein: "Pueckler sendet mir das Buch 'Der Einzige und sein

Eigentum. Von Max Stirner' (Leipzig 1845). Es ist verboten". Die-

se Stelle nun findet sich in dem bereits 1863 veroeffentlichten 21 Band der Varnhagenschen Tagebuecher. Weiterhin erschien im Jah- 22 re 1901 im Euphorion ein Artikel von Ludwig Geiger, worin u.a.

Karl Sieveking, der in den 40-er Jahren ein Buergermeister von

Hamburg und Praesident der dortigen Zensurkommission war, als

einsichtiger, mutiger, und selbststaendiger Mann geruehmt wird.

21 Die Veroeffentlichung gerade des 3» und 4. Bandes der Varnha­ genschen Tagebuecher trugen der Herausgeberin Ludmilla Assing, der Nichte Varnhagens, eine gerichtliche Verfolgung ein, die viel Staub aufwirbelte und, wie Pueckler-Muskau meinte, jenen Baenden nur tau- sende neue Leser zufuehren wuerde.

22 Ludwig Geiger, "Zur Geschichte der Heineschen Schriften", Euphorion VIII (1901), 33? - 3*»0. 14

Als Beweis hierfuer zitiert Geiger einen Brief Sievekings

(15.11.1844) ueber Stirners Buch, das anzuzeigen oder zu bespre-

chen der Hamburger Senat den Zeitungen der freien Stadt untersagt

hatte. Ferner veroeffentlichte im Jahre 1912 Karl Glossy in den

Jahrbuechern der Grillparzergesellschaft (Bd, 21-23) seine Unter-

suchung, "Literarische Geheimberichte aus dem Vormaerz", worin, neber anderen Hinweisen auf Stirner und seine Bekanntheit, ueber

den E.u.s.E. auch Folgendes zu lesen ist:

In Oesterreich wurde diese Schrift am 4. Dezember 1844 "wegen ihres in religioeser, sittlicher und sozialer Beziehung hoechst verwerflichen Inhaltes" mit dem strengsten Verbot (damnatur nec erga schedam) belegt, nachdem Metternich von dem preussischen Gesandten zu Wien verstaendigt worden war, dass diese hoechst ver- werfliche Durckschrift in saemtlichen Provinzen der preussischen Monarchie sowie im Koenigreich Sachsen mit Beschlag belegt worden sei. ^

In all diesen mehr oder minder fruehen Belegen fuer die Zen-

surschwierigkeiten des E.u.s.E. finden wir nur Hamen von Autoren

^ Karl Glossy, a.a.O., XXIII, 92. - Das ziemlich allgemeine Verbot des E.u.s.E. mag einer der Gruende gewesen sein, warum Stirners Ideen haeufig nur aus Quellen zweiter Hand bekannt wur- den. Dass andererseits das Verbot eines Buches nur ein Anreiz mehr war, es zu lesen. und dass es nebenbei durch den vorhandenen internationalen und eintraeglichen Handel mit illegalen Buechern unschwer umgangen werden konnte, bedarf wohl keines weiteren Nachweises. Dem erstgenannten Umstande trug die oesterreichi- sche Zensur sogar Rechnung, indem sie zwischen Schriften unter- schied, die zwar verboten waren, aber - gegen die Verpflichtung, das Werk nicht weiterzugeben - von gewissen Persoenlichkeiten ge- lesen werden durften, und Schriften, die gaenzlich verboten wa­ ren; Buecher der ersten Gruppe wurden mit "erga schedam" zensiert, sdfche der zweiten Gruppe (zu der der E.u.s.E. gehoerte) mit "Damnatur nec erga schedam". (Vgl. Karl Biedermann, Mein Leben und ein Stueck Zeitgeschichte I, Breslau, 1886, 119). - In Sachsen, dem Buecherzentrum Deutschlands, wurde bekanntlich das Verbot des E.u.s.E. wieder aufgehoben. 15

und Zeitschriften, die dem Philosophie-Historiker kaum, aber um-

so mehr dem Literaturforscher vertraut sind. Was jedoch hier,

bei der Zensurfrage, vielleicht Zufall war, scheint nur ein Teil

einer sonst regelmaessig zu beobachtenden Erscheinung zu sein.

Um es kurz zu sagen: Nachforschungen betreffs Stirner sind bisher nur auf dem Gebiete - und im Rahmen - der Philosophie, der Po­

litik (Anarchismus), der Nationaloekonomie und der Soziologie an-

gestellt worden. Doch das von der bisherigen Forschung vernach- laessigte Gebiet der Literatur, besonders der deutschen und russischen, scheint der Stirner-Forschung ein neues und zumindest quantitativ vielversprechendes Feld zu bieten.

Dies ist nur soheinbar verwunderlich. Es ist ja schon auf- faellig, dass es gerade ein Bichter - Mackay - war, der das Mei-

ste zum Ruhm und zur Kenntnis Stirners beigetragen hat; oder dass

(wie einige Erwaehnungen in der vorliegenden Arbeit vielleicht verraten) die Namen von Literaten, Literaturwissenschaftlern und

Literaturzeitungen innerhalb der Stirner-Forschung eine betraecht- liche Rolle spielen und in dem Quellenmaterial selbst haeufig 2U auftauchen. Nicht bloss fasste das Deutschland des 19. Jahrhun-

Oh. Fuer Mackays biographische Forschung boten die Autobio- graphien zweier Bichter (Fr. Bodenstedt, Alfred Keissner) wich- tige Anhaltspunkbe; ueber eine muendliehe Mitteilung des Dichters W. Jordan an Mackay, vgl. das Jordan-Kapitel dieser Arbeit, FN 7«- Und nicht nur einige Dichter haben der bisherigen Forschung Quel- len fuer das Studium Stirners eroeffnet; auch Literaturpaepste wie Rud. v. Gottschall - ein Freund und etwas widerwilliger Bewun- derer Stirners, der spaeter noch Mackay hilfreiche Angaben machen konnte - haben allezeit sogar sehr entschieden zur Verbreitung von Stirners Namen beigetragen. (Gottschall war auch der anonyme derts den Begriff "Literatur" in viel weiterem Sinn als dem heute ueblichen, auf die "schoene Literatur" beschraenkten; Ausbildung,

Belesenheit und Interessen waren damals tatsaechlich noch ver- zweigter, uebergreifender. Viele Dichter und Literaturkritiker, besonders die der Generation des Vormaerz angehoerigen, waren gleichzeitig auch philosophische Publizisten und - besonders ehe politische Parteien offiziell organisiert wurden, aber auch spaeter - prominente politische "Parteifuehrer". Andererseits spielten wieder die literarischen Interessen der junghegeliani- schen Philosophen in der Geschichte der deutschen Literaturkritik . 25 eine (z.B. von Gutzkow beklagte) grosse Rolle, So konnte es

Verfasser der ersten praezisen, lexikalischen Stirner-"Biographie" er veroeffentlichte sie im ersten Heft der "Neuen Folge" der Mo- natsschrift Unsere Zeit [1865], deren Herausgeber er war und die als laufender Nachtrag zum Brockhausischen Lexikon diente). - Da der Name des vielgelesenen und vieluebersetzten franzoesischen "Gerinanisten" St.-Rene Taillandier noch erwaehnt werden muss (vgl. das Giseke-Kapitel), so sei hier vermerkt, dass auch dieser "Li- teraturpapst" Stirners Ideen und Namen ziemlich haeufig erwaehnt, wenn auch mit weniger Beharrlichkeit und Sympathie als Gottschall.

^5 in Anbetracht frueherer Bemerkungen ueber den Einfluss Stirners in Russland sei hier bemerkt, dass die Identitaet Phi- losoph— Dichter— Literaturkritiker— Politiker dort seit den J+O-er Jahren meist x^johl noch viel enger war als in Deutschland bis zu jenem Zeitpunkt. - Ferner sei erwaehnt, dass nicht erst die "russischen Aufklaerer der 60-er Jahre" (die "Nihilisten") von Stirner beeinflusst wurden (so Tschernyschevsky selbst), sondern dass schon die "Aufklaerer der 40-er Jahre" (die "Freunde des We- stens") ueber Stirner gruendlich Bescheid wussten, - und nicht minder ihre Gegner, die "Slavophilen" (ueber Chomjakoff und Stir­ ner 'vgl. etwa Thomas G. Kasaryk, The Spirit of Russia. London und New York, 1919. I, 261). Schliesslich scheint auch die von Mackay inspirierte Stirner-Renaissance der 90-er Jahre in Russland einen starken Nachhall gefunden zu haben; auch sind unter den (xim 1900 beginnenden) fremdspracliigen Uebersetzungen des E.u.s.E. die rus­ sischen weitaus am zahlreichsten. 17 kaum ausbleiben, dass besonders die Dichter der Jahrhundertmitte, die selbst oft Junghegelianer gewesen waren, blieben, oder wurden, sich mit Stirner befassten. Aber der.Faden der ausdruecklichen oder unmissverstaendlichen "Stirner-Belege in der deutschen Li­ teratur" reisst ueberhaupt nicht ab; er laeuft erst von den - meist liberalen - ehemaligen "Mitgliedern" des "Jungen Deutschlands" bis zu den - meist sozialistischen oder zuweilen anarchistisc’nen -

Vertretern des Naturalismus, um hier, nur noch verstaerkt durch den Einschlag der gleichzeitigen Stirner-Renaissance, wieder einen

Knotenpunkt zu bilden und dann zur - caesarischen oder anarchisti- schen - Seelenkunst und spaeter noch zum Expressionismus weiterzu- 26 27 laufen. hTenn wir sozusagen in Stimerischer Zeitrechnung un- terscheiden muessen zwischen den Jahren "vor Mackay" und "nach

Mackay", so wird die Zeitspanne "vor Mackay" (d.h, vom Ende des

Jahres 1844, als der E.u.s.E. erschien, bis zum Fruehling 1889,

26 Der staerkste Einfluss Stimerischer Ideen ist erwartungsge- maess in den Schriften und belletristischen Werken des spaeten Naturalismus und der fruehen Seelenkunst festzustellen. Anstatt bekannterer Beispiele aus jener Zeit sei die Schrift von Oskar Pa- nizza hier erwaehnt, Der Illusionismus und die Rettung der Per- soenlichkeit. Skizze einer Weltanschauung (Leipzig, 1895)* Diese Schrift - die mit den ironischen Worten beginnt: "Der Materjalis- raus [sie] war eine schoene Zeit I " - ist "Dem Andenken Max Stirner's ..." gewidmet. (Da eines der Mottos des Werkes von Meister Eck- hart stammt, sei hier auch erwaehnt, dass der Expressionist Lud­ wig Rubiner in Meister Eckhart und Stirner die Hoehepunkte des deutschen Geistes sah; aehnlich sind in Felix Hollaenders Roman Der Wee des Thomas Truck - geschrieben von 1893 bis 1901 - Stirner und Angelus Silesius die geistigen Bahnbrecher.)

^ Eine solche "Zeitrechnung" existiert wirklich. Rolf Engert hielt am "26. November 76 nach Stirners Einzigem" einen Vortrag ueber "Die Freiwirtschaft", der zu Erfurt 1921 gedruckt wurde. 18 als Mackay in aufsehenerregenden Aufrufen in der Weltpresse um

Material fuer seine geplante Stirner-Biographie bat) fast auf einige Wochen genau durch zwei, wenn auch wenig bedeutsame Essays deutscher Dichter umgrenzt: einer von Gutzkow, der andere von

Hermann Conradi,

Gutzkows Artikel (ein spaeter Nekrolog auf Varnhagens Schwa- ger J.D. Assing) ist vielleicht die erste Veroeffentlichung ueber- haupt, die von dem kuerzlich erschienenen Werke Stirners Notiz nahm, wenn auch ohne direkte Namensnennung; ersehien doch der

Artikel in Wuerttemberg, zu einer Zeit, wo Ministerialkabinette 28 noch um das Verbot des E.u.s.E. kaempften. Fruehere Erwaehnun- gen des E.u.s.E. finden sich zwar haeufig, sind aber durchaus privater Natur und erschlenen erst spaeter im Druck, Soweit Do- kumente aus jener Zeit uns ueberhaupt in gedruckter Form zugaeng- lich sind, tauchen um die Jahreswende 184^/45 sonst nur in Korre- spondenzen und Tagebuechern und in diplomatisehen Akten, knappe oder ausfuehrliche Bemerkungen ueber den E.u.s.E. auf. Bemerkun- gen, die auf seine rasche Verbreitung und Beruehmtheit schliessen lassen, sind da ebenfalls recht haeufig; der Umstand, dass an den

"Assing, Vamhagen's Schwager. Briefliches an den Herausge- ber, von Karl Gutzkow", Das Neue Eurooa. ed. A. Lewald (Stuttgart) 18^5/1* Heft 2, 1? ff. - Gutzkows Worte - "wie Sie werden gelesen haben..." - beziehen sich wohl kaum auf eine noch fruehere, oef- fentlich erschienene Arbeit. - Gutzkow verschwieg den verpoenten Namen Stirners und seines Buches jedenfalls aus Vorsicht, vielleicht aber auch aus Widerwillen (vgl. seine Bemerkungen ueber den "Egois- mus"). - Houbens Darstellung der Zensurverbote des E.u.s.E. gibt uebrigens nicht an, ob das Werk in Wuerttemberg schliesslich verbo­ ten wurde. 19 betreffenden Orten, z.B. Preussen, das Werk bereits verboten war, 29 tat dem keinen Abbruch, Es sei uebrigens vermerkt, dass - bei aller, durch die Unzugaenglichkeit anderer Dolcumente bedingten

Schiefheit unseres Urteils - wohl nicht nur zufaellig jene frue- hen Privatmitteilungen anscheinen vor allem von Hegelianern aller 30 Schattierungen ausgingen, von K. Rosenkranz und Rudolf Haym bis

Marx und Engels (vgl, auch die Namen in Fussnote 29), Erst gegen

Ende Januar 1845 setzen die oeffentlichen Erwaehnungen und Anspie- lungen ein: Besprechungen sind selten, Polemiken viel haeufiger,

9 in Berlin, wo das Buch laengst verboten war, lernte um die Jahreswende 1844/45, oder vielleicht etwas frueher, der spaetere Philosophie-Historiker Rudolf Haym den E.u.s.E. kennen. - Schon "im Herbst" 1844 las Ruge das Buch in Paris. - Feuerbach, der schon frueher eine Gegenschrift gegen den E.u.s.E. entworfen hat- te, troestet sich am 13.12,1844 in einem Brief an seinen Bruder ueber den "momentanen Triumph" Stirners, der ihn, Feuerbach, doch wohl nur aus Ruhmsucht angegriffen haette. - Am 19.11.1844 schreibt Engels aus Barmen in einem ungemein interessanten, weil des widerwilligen Lobes vollen Briefe an Marx in Paris: "Du wirst von dem Stirnerschen Buche...gehoert haben, wenn es noch nicht da ist. Wigand [der Verleger Stirners] schickte mir die Aushaengebogen, die ich mit nach Koeln nahm und bei Hess liess."- Moses Hess, der "Vater des deutschen Koramunismus", der laut En­ gels im November 1844 den E.u.s.E. noch nicht "ernst nahm", sah bald - wie nachweislich auch andere Sozialisten, und zuletzt auch Marx - das Werk Stirners als ein Buch an, das durch seinen Ein- fluss den Sozialisraus gefaehrdete; so entschloss er sich im Ja­ nuar 1845 zu einer oeffentlichen Gegenschrift, die jedoch erst im Fruehjahr erschien und gar erst im Juli ausgegeben wurde (Die letzten Philosophen. Darmstadt, 1845).

3® Da Rudolf Haym eine der fruehesten nachweisbaren Beruehmt- heiten unter den Lesern des E.u.s.E. ist, da aber m.W. sein Name in den Beleg-Listen etc, der Stirner-Forschung nie vorkommt, sei hier auf Ausgewaehlter Briefwechsel Rudolf Havms. ed. H. Rosen­ berg (Berlin und Leipzig, 1930) S. 26, verwiesen, sowie auch auf Hayms Artikel "Philosophic" in der Allgemeinen Encvklopaedie.... ed. Srsch und Gruber, Abt. 3* Bd. 24 (Leipzig, 1848), 1-231, be­ sonders 215 et pass. 20 so besonders in den sozialistischen Journalen (Hess' Gesell- 31 schaftsspiegel. etc.). Gutzkows polemische Anspielung auf den E.u.s.E. erschien nun in dem fuer die zweite Januarwoche be- stimmten, aber schon am 16. Dezember 1844 vertriebenen Heft von

A. Lewalds Wochenschrift Das Neue Buropa. Der Artikel beginnt so:

J.D. Assing ... ist jetzt zwei Jahre tot. Der Egois- raus unserer Zeit, den, wie Sie werden gelesen haben, so eben jemand in Leipzig zum Mittelpunkt eines neuen gesellschaftlichen Systems gemacht hat, hat ... auch verhindert, dass bisher ueber diesen eigentuemlichen Mann einige oeffentliche Worte zum Vorschein kamen.

Die recht gewaltsam untergebrachte Anspielung auf Stirner ist auf- faellig: sie verraet jedenfalls etwas ueber den Ruf, den der

E.u.s.E. schon erlsngt hatte, - und wohl auch etwas ueber Gutz­ kows Empoerung.

^ Puer das wichtige und komplizierte Thema "Stirner und der Frueh- sozialismus" liegt schon deshalb ein recht umfangreiches Quellenma- terial vor, weil viele fuehrende Sozialisten (Hess - vgl. FN 29 Weidemeyer, wahrscheinlich Buergers, etc.) schon ziemlich frueh in Stirner einen gefaehrliehen Gegener sahen, dessen Ideen bei "Kommunisten" und Handwerkem Einfluss gewannen. Vgl. etwa Der Gesellschaftssniegel I (Elberfeld,1844/45), Heft 6 , 96, oder auch spaeter Weidemeyers Brief an Marx, 30*4.1845 (bei Mehring, Aus dem literarischen Nachlass von Marx ... II, 346). Das Ergebnis des Kampfes war schliesslich Die deutsche Ideologie von Marx, Engels und Hess, - Marx musste mehrfach, unter Hinweis auf die Stirner- Gefahr, zur Fertigstellung des umfangreichen Werkes angetrieben werden (in vollstaendiger Form erschien es erst 1932, im Rahmen der Kritischen Gesamtausgabe von Marx-Engels)• Ausser in den der- maligen Briefen, Artikeln und Werken von Hess, Engels, und Marx findet sich ein ergiebiges Quellenmaterial in den sozialistischen Zeitschriften jener Epoche (besonders Hess' Gesellschaftsspiegel, auch Luenings Westphaelisches Dampfboot. femer Karl Gruens Trxer- sche Zeitung etc.), sowie in den Dokumenten, die die Schweizer Handwerkervereine betreffen. 21

Conradis Artikel wiederum ("Zum Begriffe der induktiven Li- teraturpsychologik") erschien im Fruehjahr 1889 in der Mainummer B2 der Zeitschrift Die Gesellschaft." Er wurde also wohl geschrieben, ehe Mackays Aufrufe erschienen, deren fruehester laut dem Mackay- 33 Biographen Riley am 4. Mai 1889 veroeffentlicht wurde. Wie wann Conradi tatsaechlich zu Stirner gelangte, kann uns hier nicht 3k naeher beschaeftigen. Dass es kaum durch Mackay gewesen sein konnte, ergibt sich u,a. aus folgenden Ueberlegungen: Mackay und

Conradi waren eine Zeitlang, wohl seit Mitte der 80-er Jahre, enge

Freunde gewesen; doch zu jener Zeit wusste Mackay noch nichts von

Stirner. Von 1887 bis 1891 befand sich Mackay im Ausland, und

32 h . Conradi, "Zum Begriffe der induktiven Literaturpsycholo- gik", Die Gesellschaft (1889), S. 697-711. Die Erwaehnung Stirners auf S. 705. 33 In der deutsch-amerikanischen Zeitschrift Der arme Teufel, die der Anarchist Robert Reitzel in Detroit herausgab.

3^ Da Conradis Artikel eine Bemerkung Rud. v. Gottschalls ueber Stirner zitiert, sei hier Folgendes erwaehnt: Gottschall, der einst mit Stirner und nun mit Conradi befreundet war, hatte Conradi zu seinem Biographen ausersehen. Unter dem hierfuer noetigen Material, das er Conradi uebermittelte, mochten sich auch Angaben ueber Gottschalls Jugend und somit ueber seinen Freund Stirner befun- den haben. - Es ist uebrigens behauptet worden, Conradi haette be- reits als Gymnasiast 1883/8^ den E.u.s.E. gelesen; dies ist durch- au.s moeglich, doch ist mir die obendrein anopyme Zeugenaussage an sich aus verschiedenen Gruenden verdaechtig (vgl. H. Conradi, Saemtliche Schriften [Muenchen und Leipzig 1911], I, Einlei- tung, LXXXIII Fussnote, und CXIX). 22

hier erst lernte er zunaechst (Sommer 1887) den Namen Stirners

kennen; den E.u.s.E. selbst las er erst mahr als ein Jahr spaeter, wohl im Winter 1888. In einem 1889 erschienen Artikel erwaehnt 35 nun Conradi Mackay als seinen "Busenfreund a.D." Das genaue

Datum des Bruches zwischen den Beiden laesst sich allerdings an-

scheinend nicht genau ermitteln.

Warum die Dichter um die Jahrhundertmitte, zur Zeit des

Junghegelianismus, sich mit Stirner beschaeftigten, ist schon

(S. 16 f.) zu erklaeren versucht worden. Warum ein Dichter wie

Mackay spaeter zum "Wiederentdecker" Stirners wurde, warum seine

dichtenden ’and nicht-dichtenden Zeitgenossen eine "Stirner-Re-

naissance1' erlebten, dies hatte ziemlich aehnliche, naemlich we-

sentlich politische Ursachen. Doch mag hier eine ausfuehrlichere, wenn auch allgemeine Erlaeuterung am Platze sein.

Schon gegen Ende der 80-er Jahre bedurfte es nicht gerade der 36 Fuehrung Mackays, um zu Stirner zu gelangen. Besonders wer an

politischen Fragen interessiert war - und das war fast jedermann, und besonders auch die deutschen "realistischen" Literaten - konn­

te damals auch ohne Zutun Mackays, und aus aehnlichen Gruenden und

35 H. Conradi, Saemtliche Schriften. II, 79*

Eduard v. Hartmann, der "Philosoph des Unbewussten", versuch- te spaeter, fuer sich den Titel des "Wiederentdeckers" Stirners zu beanspruchen, und zwar auf Grund seiner verschiedenen Hinweise auf Stirner, wie sie sich besonders in seiner populaeren Philosophie des Unbewussten (1. Auflage 1869) oder in seiner PhaenomenoloEie des sittlichen Bewusstseins (1879) vorfanden. 23 auf aehnlichen Wegen wie er selbst, ziemlich leicht auf Stirner gestossen sein, Im Laufe und besonders gegen Ende der 80-er

Jahre war Stirners Name zumindest immer haeufiger zu lesen und wahrscheinlich auch zu hoeren, - wie es freilich scheint, im Aus- land wohl mehr noch als in Deutschland, Ein sogar relativ fruehes

Symptom hierfuer ist zweifellos auch die 2. Auflage des E.u.s.E. selbst, die nun, 1882, endlich noetig oder ratsam geworden war.

Die Ursache des Anschwellens dieser "Stirner-Neugier" in den

80-er Jahren (und erst recht in der spaeteren Stirner-Renais- sance) ergibt sich schon aus dem Charakter der meisten Stirner-

Belege, die damals, und erst recht spaeter, erschienen. Die rund

25 Jahre dauernde Terroristenhysterie in Europa - aehnlich in

Amerika, Haymarket-Riot 1886 - hatte in jenen Jahren einen ihrer

Hoehepunkte erreicht, und der Anarc’nismus stand in Bluete. Be- lehrung, besonders historische Belehrung ueber Nihilismus und 37 Anarchismus wurde von Freund und Feind gesucht, teils in aelte- ren Schriften, teils in der Flut von meist mehr sensationellen als emstzunehmenden neuen Broschueren und Waelzern. Wie schon frueher erwaehnt, betonten diese neuen Veroeffentlichungen mehr- fach die Rolle, die Stirner z.B. fuer den russischen Nihilismus gespielt hatte oder im zeitgenoessischen Anarchismus spielen koennte. Von eben solchen Assoziationen fuehrt sogar eine gerade

Die Anarchisten selbst waren an dem Nachweis eines "Corpus" der Anarchistenliteratur interessiert, - nicht zuletzt, weil So- zialdemokraten und Kommunisten ihnen gern das Fehlen eines solchen vorwarfen. (Vgl. z.B. die Dlskussion ueber das Thema "Anarchismus 2k

Linie in die Stimer-Renaissance der 90-er Jahre hinein; ohne die wachsende Popularitaet^® und Unpopularitaet des Anarchisms waeren weder Mackay noch seine Zeitgenossen so eifrige Stirner-

Leser geworden. In den 80-er Jahren hatte man intensiv, aber so- zusagen aufs Geratewohl Richtungsweiser gesucht, urn Stellung zum

Anarchismus oder auch, wie dies 1888 bei Mackay der Fall war, in- nerhalb des Anarchismus zu gewinnen, Als Mackay und Georg Brandes fast gleichzeitig zwei solche Richtungsweiser - Stirner und Nietz­ sche - zu popularisieren begannen, fiel ihre Propaganda auf frucht- baren Boden: die sogenannten "Individual!sten" Stirner und Nietz­ sche verdankten ihren ersten grossen Ruhm vor allem der Aktualitaet der "Anarchisten-Frage". Tatsaechlich wurden Stirner (bis heute)

oder Kommunismus? 11 Gefuehrt von Paul Grottkau und Joh. Host am 2k. Kaj 188** in Chicago. Chicago 188^, S, 38 f, und S, k$.) - Ueber das "fast zitternde Entzuecken", mit dem Mackay selbst er- fuhr, dass es Wegweiser zum Anarchismus gaebe (1888), darunter Stirner, vgl. Riley, a.a.O.. S, 12?, 171, et pass.

3® Kurz nachdem der spaetere Anthroposoph Rudolf Steiner die Redaktion des Kagazins fuer Literatur uebernahm, und zu einer Zeit, da die Erbitterung gegen den "Terrorismus" besonders hoch gestie- gen war, erklaerte er sich in einera offenen Brief an I'lackay, den er in dieser Zeitschrift veroeffentlichte, zum Anarchisten; be- greiflicherweise verlor das Mag.f.Lit. sofort den groessten Teil seiner Abbonnenten. (Dieser offene Brief, Mag.f.Lit.. 30. Sept. 1898, wurde von Hackay in seinem Pamphlet Sind Anarchisten Hoar­ der? , 1 8 9 9 i wieder abgedruckt.) 25

und Nietzsche (bis etwa 1910) fast immer als Anarchisten-Apostel 39 verherrlicht, bekaerapft, geleugnet und vor allem - beruehmt.

Die Rolle, die die Literatur in jener Entwicklung spielte, war be-

deutend; und wohl raehr noch als fuer die Gebiete der Politik oder

Philosophie gilt fuer die deutsche Literatur die Feststellung, dass

sie in den 90-er Jahren ira Banne jener "Findung des Individualismus"

stand, und dass sie in der gaengig gewordenen Schlagwort-Trias

"Anarc’nismus-Stirner-Nietzsche" erleichtert die Etuetzen der neuen

Weltanschauung begruesste, die schon in den 80-er Jahren die Radi-

kalen der Politik und Literatur tastend zu erfassen strebten. "Die

Rettung der Persoenlichkeit", wie 0. Panizza seine "den Manen

Stimers" gewidmete Schrift (1895) betitelte, koennte als das Mot­

to jener Epoche gelten, in der nicht nur der politische Anarchismus,

sondern auch die Avantgarde der Literatur mit wachsender Selbst-

sicherheit die frueher massgebenden Ideen - Sozialisirtus, Natural!s- 40 ntus, Materialismus, Determinismus - abschuettelte. Gerade fuer

39 Von Anarchisten wurde Nietzsche auch noch lange nach 1910 als Weggenosse betrachtet. Nietzsche selbst verwahrte sich schon 1885 brieflich dagegen, mit dem "greulichen Anarchisten" Eugen Duehring zusammen gelobt zu werden. 40 Wenn im Obigen der Versuch gemacht wurde, die "Suche nach dem anarchischen Individualismus"als Phaenomen zu charakterisieren, das sich gleichmaessig auf die 80-er und 90-er Jahre erstreckte, so soli damit keineswegs ein fuehlbarer Unterschied verwischt werden. Es ist zwar meistens ein frondierendes Suchen von Radikalen, ein Suchen nach einer "realistischen", unmetaphysischen und irreligioe- sen Weltanschauung, ein Rebellieren gegen bestehende Ordnung, Normen und kythen; doch gait der Kampf in den 80-er Jahren wohl vor allem dem reaktionaeren Absolutismus, in den 9 0 -er Jahren ganz offensicht- lich vor allem dem eben maechtig gewordenen marxistischen Determi­ nismus. Gerade zur Zeit der Stirner-Renaissance waii’de Friedrichs- 26 jene Epochs, die fuer den Stirnerforscher wohl die interessanteste ist, ist es dem Historiker unmoeglich, seine Forschungen bloss auf ein Spezialgebiet zu beschraenken: hier ist es wirklich noetig, gleichzeitig die Entwicklung von Philosophie, Politik und Literatur zu verfolgen, ~ so wie es zweifellos auch fuer den Literaturhisto- riker geboten scheint, einen Blick auf die philosophische und poli- tische Entwicklung der 90-er Jahre zu werfen.

Die vorliegende Arbeit will sich nun mit gewissen Zusammenhaen- gen zwischen Stirner und der deutschen Literatur beschaeftigen, frei- lich auf einea weniger komplizierten und weniger interessanten Boden als dem der 80-er und 90-er Jahre. Da noch keinerlei entsprechende

Vorarbeiten vorliegen, schien ein bescheidener und engumgrenzter Be- ginn das einzige Richtige zu sein; an Hand einiger Texte, die sich auf eindeutige und nicht allzusehr in die Ferne weisende Art mit Stir­ ner befassen, sollten jene Zusammenhaenge spezifisch aufgezeigt wer­ den. Historische Ausblicke und Exkurse konnten und sollten dabei auch nicht ganz vermieden werden, doch blieb das Hauptziel, die konkreten und individuellen "Bilder" Stirners nachzuzeichnen, die uns aus je-

hagen der Sitz einer sich bald zum internationalen Zirkel ausweiten- den Gruppe von Ex-Naturalisten, und zugleich - und nicht zufaellig - das Zentruia des deutschen Anarchismus, d.h. der von der sozialdemo- kratischen Partei abgefallenen und seit dem Erfurter Parteitag (1891) teilweise ausgestossenen "Jungen", - worunter sich eben mehrere jener Literaten befanden, die nun auch dem Naturalismus abschworen. Ein ironisches Spiegelbild jener Ex-Sozialisten und Ex-Naturalisten gibt Arno Holz1 Komoedie Sozialaristokraten (1896), zu deren Figuren vor allem Bruno Wille, Mackay, Przybyszewski, wohl auch Baginski -"Sproe- dowski?" - u. A. Paten standen. Mackay stand den Friedriehshagenern nahe, unter denen Stirner populaer wurde oder war. Gustav Landauer. der das erste Journal der "Jungen" - Der Sozialist (Friedrichshagen) - zuerst inoffiziell, dann offiziell redigierte, war ein grosser Stirner- Bewunderer. 27 nen Texten entgegenblicken. Der Ausdruck "Bild" ist hier mit

Vorbedacht gewaehlt, schon um den auf Dreidimensionales deuten- den literaturwissenschaftlichen Ausdruck "Gestalt" zu vermeiden.

VJas auf die Frage: "Wie hat ein Dichter einen Philosophen aufge- fasst?" als Antwort zusammenrinnt, wird wohl selten als eine phi- losophische Definition oder eine kuenstlerische Gestalt zu be- zeichnen sein; Dilettantisches und Visionaeres, Richtiges und Fal- sches, der Philosoph und seine Ideen werden wohl gleicherrnassen ineinander verfliessen. Der Ausdruck "Bild" nun soli den Leser bestaendig daran erinnem, dass unsere Arbeit solch verschwimmen- de Vorstellungen, solch ein Mittelding zwischen Philosophie und

Dichtung vorzufinden gewaertig sein muss.

Bei der Wahl der zu untersuchenden Texte waren verschiedene

Gesichtspunlcte massgebend. Es ist schon erstaunlich, dass es ueber- haupt eine solche Wahl gab; bei beniehmteren Philosophen als

Stirner, bei Philosophen, die obendrein einen betraechtlichen

Einfluss auf die deutsche Literatur ausuebten, - etwa Shaftes­ bury, Nietzsche, Kant, etc. - duerfte sich ein solch persoenli- ches "Bild" viel weniger leicht auffinden lassen. Ira Falle Stir­ ner lassen sich solche "Bilder" am leichtesten in der Literatur um 1850 und wieder inn 1895 herura nachweisen. Um nun auch wenig- stens gewisse und vielleicht nicht unfruchtbare historische Zusam- menhaenge aufzuspueren, sofern sie zu bemerken waeren, wurden hier

Texte aus einem relativ kleinen Zeitabschnitt gewaehlt; und so soil sich diese Arbeit mit dem "Bild Stimers in der deutschen Litera­ tur um die Kitte des 19. Jahrhunderts" beschaeftigen. Um dieses 28

"Bild" von verschiedenen Seiten zu beleuchten, wurden ganz verschie-

denartige Produkte deutscher Belletristen untersucht: ein philoso-

phischer Dialog von Bettina von Arnim, ein Roman von Robert Giseke,

ein episcbes "Mysterium" von Wilhelm Jordan, und ein theologisch-

philosophiegeschichtlicher Essay von Georg Friedrich Darner. Selbst

von der Literaturwissenschaft - von der Stirner-Forschung gar nicht

zu reden - sind zwei dieser Werke ueberhaupt noch nicht beachtet worden; ueber das dritte (Gisekes Roman Moderne Tltanen) liegen

nur wenige und kurze Besprechungen aus der Zeit der Veroeffentli-

chung vor; und endlich scheint das Stirner-Bild des vierten Werkes

(Jordans Demiurgos) bisher noch nicht untersucht worden zu sein.

Es sei erneut betont, dass es nicht das Hauptziel der vorlie-

genden Arbeit war, historische Zusammenhaenge zwischen den einzelnen

Stirner-Bildern aufzudecken oder zu wahren. Doch sei nicht vserschwie-

gen, dass der Verfasser gerne seine Wahl weiterhin so beschraenkt

haette, dass daraus als kongruentes Resultat ein moeglichst einheit-

liches Stirner-Bild hervorgegangen waers, und dass er daher einige

Bedenken trug, auch Bettinas Schrift hier zu behandeln, die von vorne-

herein nicht zu den anderen Werken zu passen versprach. Immerhin

koennte das Bettina-Eapitel durch Kontrastwirkung zumindest einen

erlaeuternden Auftakt zu den folgenden Kapiteln, besonders dem Daumer-

Kapitel liefern. Doch ist schon hier eine Vorbemerkung noetig ueber

einen Begriff, an dem sich der Hauptgegensatz zwischen Bettinas

Essay und den Werken der anderen drei Autoren immer wieder offenbart.

Da wegen gewisser Zitate fuer diesen Begriff der heute leicht miss- 29 deutbare Ausdruck "Humanismus" benutzt werden wird, ist eine vorlaeu- fige Verstaendigung ueber diesen Ausdruck am Platze.

Unter "Humanismus" wird hier eine anthropozentrische, atheisti- sche mad im Grunde hedonistische Ethik verstanden, :'m besonderen die ethischen Prinzipien der Junghegelianer unter Ausschluss Stirners, sofern nicht ausdruecklich anders angegeben wird. Dieser uns heute entfremdete Sprachgebrauch entspricht der Auffassung, die um die

Mitte des 19. Jahrhunderts mit dem Wort "Humanismus" meistens verbun- den wurde. Zuweilen wurde das Wort in noch engerem Sinne verstanden, als Bezeichnung fuer spezifische philosophische Systeme einzelner

Junghegelianer, vor allem als "Humanismus Ruges" oder "Humanismus

Bruno Bauers". Stirner selbst verwendet Worte wie "die Humanen" so- wohl im weiteren wie im engeren Sinne, wobei er im letzten Fall aus­ druecklich Bruno Bauer meint. Es war ja der diesem Ausdruck zugrunde-

liegende, oben definierte Begriff der "menschlichen Philosophie",dem

Stirners Kampf gait, getreu dem Motto zum ersten Teil des E.u.s.E.:

Per Mensch ist dem Menschen das hoechste Wesen, sagt Feuer­ bach. Der Mensch ist nun erst gefunden. sagt Bruno Bauer. Sehen Wir Uns denn dieses hoechste Wesen und diesen neuen Fund an. (E.u.s.E.. S. 10)

Bemerkt sei, dass die Gleichsetzung von Humanismus und Junghegelia-

nismus nicht nur in Deutschland gelaeufig war. So bemerkt etwa

St.-Rene Taillandier ueber den Helden von Berthold Auerbachs Roman

Ueues Lebeni "La philosophie des humanistes l ’a enivre"; doch sei der

Held wenigstens nicht "jusqu1 au nihilisme de M. Stirner" gelangt.^-

^ St.-Rene Taillandier, "Mouvement litteraire de l'Allemagne. I. Le roman et les romanciers", Revue des deux mondes. 1853/1, 52A u. 526. 30

Der nur scheinbar verwirrende Umstand muss ferner erwaehnt werden, dass Stirner, der da3 junghegelianische Frinzip des Hu­ manismus bekaempfte, dennoch haeufig,als unleugbarer Spross des / 2 Junghegelianiamus, auch Belbst als Humanist angesehen wurde.

Diese Interpretation wird bei den vier Autoren unserer Arbeit zu bemerken sein; von Bettina abgesehen, lag ihnen vor allem daran, Stirner als beschaemenden Repraesentanten des Humanismus hinzustellen. Eine gewisse Begruendung fuer diese Auffassung liegt in dem Doppelcharakter von Stirners Philosophic: Stirner erseheint zunaechst als Gegner des Humanismus, dessen Unzulaeng- lichkeiten er besonders am Junghegelianismus und an den von die- sem beeinflussten zeitgenoessischen Freiheitsbewegungen (Kommu- nismus, politischer Liberalismus) kritisiert; sodann aber prae- sentiert sich Stirner auch als der sozusagen ultrahumanistische, extreme Fortsetzer der junghegelianischen Emanzipationsbestrebun- gen. Da er in dieser Rolle, und vor allem in dieser Rolle, in alien vier zu behandelnden Stirner-Bildern erseheint, sei hier

42 Wieder finden wir auch im Franzoesischen denselben Sprach- gebrauch, oder vielleicht genauer, dieselbe Interpretation. So schreibt Taillandier in einer den anarehistischen Junghegelianer Karl Gruen betreffenden Abhandlung: "Apres M. Feuerbach, un logi- cien plus resolu, M. Stirner, est venu demontrer que cette religion de I ’humanite est encore une capucinade (Pfaffentfaum) ... et qu1 enfin ... il n'y a d'autres droits que les droits de 1'individu; homo sibi Deus ... M. Feuerbach et M. Stirner inaugurent 1'ere feconde ou l'homme, se connaissant enfin, fondera son eternel empire ..."O'L'atheisme allemand et le socialisme francais", Revue des deux mondes. 1&48/IV, 300 f.) 31 wenigstens ein Zeugnis von Stirner selbst angefuehrt, dass jene Auf- fassung vom "Humanisten Stirner" als nicht voellig unberechtigt erscheinen laesst. Das folgenden Zitat stammt aus Stirners Verteidi- gungsschrift gegen Feuerbach, Hess und Szeliga, in der er sich ueber so manches populaere Missverstaendnis betreffs seiner Philo3ophie verbreitet:

Es ist noetig, noch ein Wort ueber den Menschen zu sagen. Wie es scheint, ist Stirners Buch gegen den Menschen ge- schrieben. Dadurch, wie auch durch das Wort Egoist hat er sich die schlimmsten Urteile zugezogen oder die hart- naeckigsten Vorurteile rege geraacht. - Ja, es ist wirk- lich gegen den Menschen geschrieben, und gleichwohl haette Stirner auf dasselbe Ziel losgehen koennen, ohne die Leute so arg vor den Kopf zu stossen, wenn er die Kehrseite herausgewendet und gesagt haette: er schreibe gegen den Unmenschen, Nur haette er dann selbst die Schuld getra- gen, wenn man ihn in entgegengesetzter, naemlich senti- mentaler Weise missverstanden und in die Reihe derer ge- stellt haette, welche fuer den "wahren Menschen" ihre St inane erheben.4-3

Stirner fuehrt seinen Kampf gegen Abstraktionen und Normen, gegen den Begriff "des Menschen" so gut wie gegen die Begriffe "des Un- menschen" oder "des Ichs".

Wir koennen nun unsere Einzeluntersuchungen beginnen. In den letzten Bemerkungen wurde freilich schon Spaeteres vorweggenommen und festgestellt, dass sich unser Thema vielleicht auch so formu- lieren liesse: Inwieweit nahmen einige Zeitgenossen Stirners sei­ nen egoistischen Amoralismus zum Kriterium fuer alle humanistische

^ M[ax]SCirner] , "Rezensenten Stirners", zit. nach Kleinere Schriften. 1. Aufl., S. 135. 32

Ethik? Doch muessen wir hier vdeder einen Schritt zurueckgehen und, getreu dem Titel der Arbeit, bloss fragen: Wie spiegelte sich das Phaenomen Stirner in den Augen einiger zeitgenoessi- scher Dichter? Was bedeutete ihnen der angeblich schnell Ver- schollene? Bettina von Arnim, Die Aufloesung des Einzigen durch den Menschen

Um die letzte Jahrhundertmit te waxen es begreiflicherweise vor allem die Gegner des philosophischen und politischen Radikalismus, die Stirner als typischen Repraesentanten des Junghegelianismus hin-

stellten. Der nackte Egoismus und Amoralismus des E.u.s.E. war ihnen

ein Spiegelbild, das klarstellte und blosstellte, was sich hinter

dem zeitgenoessischen Radikalismus - seiner "anthropologischen"

Philosophie, seinem "humanen Liberalismus" - eigentlich verbarg.

Welche Wichtigkeit dies enthuellende "Spiegelbild" Stirners hatte, wird sich noch bei unserer spaeteren Besprechung der "Stirner-Bilder"

erweisen, welche die Ex-Radikalen Giseke, Jordan und Daumer entwarfen.

Bei Jordan und besonders bei Daumer dient es dazu, nicht bloss den

Junghegelianismus, sondern fuer alle Zeiten jedes wider den Stachel

loekende Denken, jedes Streben nach einer "humanistischen", atheisti-

schen Ethik zu verdaminen.^

Eine aehnliche weittragende historische Bedeutung wurde Stirner, als Repraesentanten des Junghegelianismus, auch schon vor Jordan und Daumer beigemessen, und zwar besonders in theologischen Streitschrif- ten, wie sie z.B. die geplante Berufung Eduard Zellers nach Bern her- vorrief. Hierbei sollte im Auge behalten werden, dass derlei Schrif- ten es erstens gern vermieden, das Wort "atheistisch" zu benutzen und statt dessen lieber eine der ueblichen Umschreibungen anwendeten ("auf- klaererisch", "humanistisch" und vor allem "pantheistisch"), und dass sie es im allgemeinen vorzogen, den Namen Stirners nicht oder nur fluechtig zu erwaehnen. Ein gutes Beispiel hierfuer bietet etwa J. P. Romang, Ueber Unglauben, Pietismus und Wissenschaft (Bern und Zuerich, 1859), S. U7 f., wo ohne Namensnennung, aber ganz eindeutig, erst auf Eichte und dann auf Stirner angespielt wird. - So kam es, dass der junghegelianische "Pantheismus" zum historischen Gjpfelpunkt aller atheistischen Ethik, und Stirner zum Pantheisten kat1 exochen erklaert

33 3h

Doch nicht bloss die Anti-Radikalen fassten Stirner, den

"Diabolus in Philosophia", als einen kompromittierenden Weggenossen des Junghegelianismus aufj die Radikalen selbst dachten kaum anders.

Die Aufnahme, die der E.u.s.E. bei der "1ortschrittlichen Partei" des Vormaerz fand, laesst sich leicht auf eine ziemlich allgemein- gueltige Weise beschreiben: Gewoehnlich erweckte Stirners Buch eine steigende Betretenheit oder Bekuemmertheit; man liess sich nur ungern herbei, zu Stirners in jeder Hinsicht "bedenklichem" Werk Stellung zu nehmen; man urteilte mit Einsilbigkeit und Unsicherheit, zaudemd, mit Sinschraenkungen und Aevisionen. Man bewunderte widerwillig, oder man distanzierte sich mit Bedenklichkeiten und Aengstlichkeiten aller Art, mit Zoegern, sogar mit einem gewissen Streben nach Anonymi- taet. Rein aeusserliche Gruende der diplomatischen Vorsicht hatten an dieser Verlegehheit natuerlich Teil, nicht minder aber innere Ver- wirrtheit und Erschuetterungj man fuehlte sich aeusserlich kompromit- tiert und innerlich betroffen. Stirners Werk stiess die Radikalen ab und zog sie an, es zwang sie zu nachdenklichen Umwertungen, zu werden konnte; vgl. besonders Anon. [_Theodor Rohmer^ , Kritik des Got- tesbegriffes in den gegenwaertigen Weltansichten, 3". Aufl. (Noerd- lingen, 1857), S. 18 ffj oder auch J. P. Romang, Der neueste Pan- theismus oder die junghegelsche Weltanschauung nach ihren theoreti- schen Grundlagen und praktischen Konsequenzen (Zuerich und Bern, I8I4 8 ), S. 20 ff. und S. sowie die Gegenschrift von A. E. Biedermann, "Unsere junghegelsche Weltanschauung oder der sogenannte neuste Pan- theismus", Die Kirche der Gegenwart. Eine Monatsschrift fuer die reformierte Schweiz, V (Zuerich, 18U9), U ff. und 72.

^ Ein interessantes Beispiel fuer diese fast allgemeine Betroffenheit bietet P'euerbach, dessen "pfaeffische" Halbheiten von Stirner ja aus- druecklich und nachdruecklich angeprangert worden waren. Feuerbachs erste Reaktion auf den E.u.s.E. bestand darin, den Impalct der Stirner- schen Kritik abzuleugnen und dafuer Stirners eigene, dem Junghegelia­ nismus seltsam verwandte Ideen ueberschwaenglich zu loben: "im Spaet- jjahr" 18UU schreibt er an seinen Bruder betreffs Stirner und dessen Buch, es sei "ein hoechst geistreiches und geniales Werk und hat die 35

Revisionen und zu einer meist unbehaglichen Selbsterkenntnis: das

Werk, das die Hintergruende jeder Emanzipationslust aufdeckte, das die Halbheiten des zeitgenoessischen Radikalismus verlachte und doch nur noch die letzten Konsequenzen aus eben diesem humanisti- schen Radikalismus zu ziehen schien, erweckte auch bei den extrem- sten Junghegelianern solch gemischte Gefuehle, wie sie - ein uner- wuenschtes Spiegelbild hervorzurufen pflegt.

Diese Sachlage erzeugte freilich nicht immer eine Atmosphaere der Verlegenheit, des Zauderns und der Betroffenheit, die zuweilen in grell flackernde Gehaessigkeit umschlug. Die auffaelligste Aus- nahme in dieser Beziehung ist vielleicht eine oeffentliche Ausein- andersetzung mit Stirner, die so gut wie keine Befangenheit verraet und alles eher als einsilbig war. Es handelt sich um einen sehr rhapsodischen philosophischen Dialog, "Die Aufloesung des Einzigen durch den Menschen", der 18U7 im U. Bande von Wigands Zeitschrift

Die Epigonen (Leipzig) erschien; er war von "der Frau von Arnim"

Y/ahrheit des Egoismus ... fuer sich ... Ich gebe ihm Recht bis auf Eines: im Wesen trifft er mich nicht. Er ist gleichwohl der genial- ste und freieste Schriftsteller, den ich kennengelernt ..." (W.Bolin, Ludwig Feuerbach ..., 2. Auflage, Stuttgart, 1891, S. 106). Feuer- bach wusste damals" offenbar selbst noch nicht, was ihn staerker be- ruehrt hatte; Stirners eigene Lehre des Egoismus, oder Stirners Kritik der Feuerbachschen "tuistischen" "anthropologischen Philo- sophie". Noch im Jahre 18UU entwarf der verwirrte Feuerbach ein "Offenes Sendschreiben" an Stirner, - es blieb ein Fragment. Aber noch im selben Jahr begann der Stachel der Stimerschen Kritik zu wirken, wie Feuerbachs Briefe an den Bruder verraten. Vielleicht entstand damals schon sein Artikel, "Ueber das Wesen des Christen- tums in Beziehung auf den Einzigen und sein Eigentum", den er anomym in Wigands Vierteljahrsschrift 18U5/II veroeffentlichte, den er aber wenig spaeter wieder mit "hoechst kritischem" Bedenken betrachtete. Dass Feuerbachs spaetere Schriften von Stirner beeinflusst waren, hat u.a. schon Rudolf Haym betont. 36 unterzeichnet .3

Wie man wohl vermuten duerfte, ist dieser Artikel Bettinas keine sorgfaeltige philosophische Arbeit, - trotz der feierlichen

Hegelschen Schulterminologie des Titels und trotz der formellen

Weise, in der sich Bettina als Verfasserin nennt. Der Artikel

erweckt eher den Eindruck, als habe Bettina alle wichtigen und

irrelevanten Randbemerkungen, die sie in ihr Handexemplar des

E.u.s»E. eingetragen haben mochte, einfach der Reihe nach abgeschrie-

ben und nur gelegentlich ausgearbeitet. Die Hauptmaengel ihrer oft

ruehrend unbeholfenen, zuweilen kindisch albernen Schrift springen

meist peinlich in die Augen: relative Duerftigkeit des Inhalts bei

ungewoehnlich grossem Umfang, verlegene Wiederholungen, nebulose

oder dilettantische Gedankenbrocken und Missverstaendnisse, und ein

schludriger, manchmal unverstaendlicher Stil.^4 Und doch tragen

diese Schwaechen fast dazu bei, den Blick des Lesers zu schaerfen

fuer gewisse Vorzuege der Arbeit, fuer deren Unbefangenheit. Im

3 Frau [Bettina] v. Arnim, "Die Aufloesung des Einzigen durch den Menschen", Epigonen IV (Leipzig, 181)7), 189-231. Im Folgenden wird der Artikel als "Auf1." zitiert. Er befindet sich nicht in Oehlkes Gesamtausgabe der Werke Bettinas (Berlin, 1920/22).

^ Als Beispiel fuer eine sehr ungeschlachte, wenn auch nicht unver- staendliche Stelle sei Folgendes zitiert: "Durch die von dem Staate, als oberstem Richter ueber jedes Unrecht, aller Selbsthilfe als etwas Unsittlichem, wo nur die verwirrendste Ungerechtigkeit daraus ent- stehen kann, erklaerte Feindschaft wird dies fuer ihm dem Staate als gesetzlich undsanktioniert erklaerte Verfahren erst sittlich."(Aufl., S. 200). Bettina springt uebrigens auch mit Stirners Text, den sie mit Angabe der Seitenzahlen "zitiert", oft sehr frei um, manchmal bis zur Unverstaendlichkeitj vgl. etwa S. 63, oder folgende Stelle: "Per Einzige, S. I4.I6 . Es ist Keiner fuer mich eine Respektsperson, sondern lediglich ein Gegenstand, fuer den ich Teilnahme habe. Und wenn ich ihn gebrauchen kann, so verstaendige ich wohl und vereinige mich mit ihm, zu einer ^ervielfaeltigung meiner Kraft. So aber ist 37

Wesentlichen erhebt Bettina zwar immer aufs Neue nur einen einzigen

Einwand gegen Stirner; aber dieses eine, oft ungeschickt hingemalte und ausgemalte Fragezeichen steht am richtigen Platz: dort, wo

Stirner eine nur vage Antwort zu geben scheint - betreffs der latenten

Gefaehrlichkeit der egoistischen Amoral. Und in diesem Hauptpunkt ist Bettinas Aufsatz, so konfus er sonst auch sein mag, durchaus kon-

sistent; konsistent mit seinen eigenen Hauptvoraussetzungen, wie auch mit den Voraussetzungen Stimers, denen Bettina im Ue sent lie hen zu- stimmt.^ Und so versucht Bettina eben auch in jenem kritischen

Punkt, ohne viel Hilfskonstruktionen oder Y/idersprueche, Stirner auf

Grund seiner eigenen Anschauungen - weniger zu widerlegen, als zu korrigieren und vermeintlich noch zu uebertrumpfen. Auch koennte

sie ein Verein." (Auf 1., S. 246). Diese Stelle komprimiert und vari- iert etwa eine drittel Seite des E.u.s.E. (S. 322) auf irrefuehrende Yfeise: Stirner polemisiert - mit Akzenten, die Bettina ebenfalls unter- drueckt hat - gegen die Begriffe der menschlichen "Gesellschaft" und "Gemeinschaft", fuer die der "Humanismus" Bruno Bauers Respekt ver- lange; die von Stirner dagegen postulierte Gemeinsamkeit, die Egoisten verbinden koenne, ist keine respektfordernde "Gesellschaft" oder "Gemeinschaft", sondern ein "Verein" von Egoisten ("In dieser Genein- samkeit sehe Ich durchaus nichts anderes, als eine Multiplikation meiner Kraft, und nur so lange sie Heine vervielfachte Kraft ist, behalte Ich sie bei. So aber ist sie ein - Verein"). Aus Bettinas Version dieser Stelle laesst sich keinesfalls Stimers Gedanke her- auslesen, dass eine bestimmte Gemeinsamkeit ein "Verein" heissen duerfe und muesse, und dass dieser Verein nur so lange existiere, als er die Gevra.lt und Kraft des Einzelnen erhoehe.

5 Dass Bettina dem E.u.s.E. nicht ganz unbefangen gegenuebertrat, versteht sich wohl von selbst. Das Wek bereitete ihr offensicht- lich doch einiges Unbehagen, wie die fortgesetzte, manchmal flehent- liche Wiederholung von Argumenten und Ausrufungen verraet, die auf den kritischen Hauptpunkt des Artikels - Stirners Gleichgueltigkeit gegen "Unrecht" und bestialischen Lebenskampf - Bezug nehmen. We gen dieses Unbehagens, wegen der Laenge und des besonderen Aufbaus der Schrift ist es verstaendlich, dass Bettina an vielen, oft sehr irrele­ vanten DetaiIs des E.u.s.E. herumkritisiert, freilich ohne dabei sich selbst zu widersprechen. 38 zugunsten von Bettinas bisher unbeachtet gebliebenem Artikel noch geltend gemacht werden, dass ihm ein gewisses aeusseres Interesse zulcommt: Kritiken, die den E.u.s.E, nicht nur so unbefangen, sondern im Wesentlichen so beifaellig imd so ausfuehrlich beurteilen, wie dies Bettinas Schrift tut, lassen sich in der ganzen Stirner-Litera­ tur nicht sehr oft nachweisen.

Eine Vorbemerkung mag am Platze sein ueber den scheinbar be- fremdliehen Umstand, dass die Micht-Philosophin Bettina dem radikal- sten aller radikalen Denker einen wesentlich beipflichtenden und langen Aufsatz widmete, der ausserhalb Preussens, in der offiziellen /. Zeitschrift der junghegelschen Philosophie veroeffentlicht wurde.

YJer die - freilich nicht allzu bekannten und in neuerer Zeit auch oefters vertuschten^ - Sympathien gebuehrend in Anschlag bringt,

Der Umstand, dass Bettinas Arbeit in einer sehr radikalen Zeit­ schrift - eben dem Sprachrohr des Ruge-Feuerbachschen Junghegelia­ nismus - erschien, hat zweifelLos dazu beigetragen, dass die Bettina- Forschung den Artikel bisher vernachlaessigte, ja bis 1908 nichts von dessen Existenz wusste. (Otto Mallon, "Bibliographische Bemer- kungen zu Bettina von Arnims saemtlichen Werken", Zeitschrift fuer deutsche Philologie 56, hh9, sieht in einem Artikel von Leopold Rirschberg in der Frankfurter Zeitung, 1 8 . 8 . 1 9 0 8 , den ersten Hin- weis auf Bettinas Schrift.) Aber'abgesehen von einigen fluechtigen Erwaehnungen wurde Bettinas Artikel auch von der Stimer-Forschung ignoriert, die doch mit Wigands Epigonen, und gerade deren I*. Band, sehr vertraut sein sollte. Fuer die Stirner-Forschung ist Bettinas Essay freilich weit weniger interessant als fuer die Bettina-For- schung; der Philosophiehistoriker und der Literaturhistoriker haben Recht, den Artikel ganz verschieden zu beurteilen; und die Stirner- forscher haben ihn auch, uebrigens schon vor 1908 (so Hermann Schult- heiss, vgl. Einleitung, FN 17) als philosophisch unbedeutend abgetan. Joseph Koerner hingegen (Bibliographisches Handbuch des deutschen Schrifttums, 3* Aufl., Bern, 19U9* S. 398) haelt ihn fuer bemerkens- wert und beklagt das Fehlen jeglicher Untersuchung darueber.

^ Einsprueche gegen solche V e r s u c h e , den Radikalismus Bettinas geflissentlich zu versdieiern, haben auch nicht gefehlt. So hat 39 die Bettina seit 1833, seit ihrem Auftreten als Schriftstellerin mit

den Radikalen aller Schattierungen wechselseitig verbanden, wird sich ueber die unleugbare Tatsache nicht sehr verwundern, dass Bettina

in ihrem Stirner-Artikel einen egoistischen Humanismus propagiert,

den sie ausdruecklich, wenn auch faktisch wohl irrig, als eine Ver- bindung der Ideen Stirners und Bruno Bauers definiert. Was an dem

Artikel wirklich befremdlich sein koennte, ist hoechstens der fast

unerklaerliche aeussere Umstand, dass eine umfangreiche Abhandlung,

die gerade solche Anschauungen vertrat, in Wigands Epigonen ver-

oeffentlicht werden konnte. Dies im Einzelnen auszufuehren, wuerde

freilich ungebuehrlich viel Raurn beanspruchen; daher seien hier nur

ohne weiteres einige Hauptpunkte festgehalten. 'ligand hatte die

Epigonen ausdruecklich zur "Tribuene" fuer Ruge und dessen junghegel-

schen "Humanismus" bestimmt, - diese Zeitschrift sollte der Boden

werden, auf dem sich nun sehr unverhuellt ein neuentstandener innerer

Parteikampf im junghegelschen Lager abspielte. In den frueheren Zeit-

schriften, die Wigand Ruge zur Verfuegung gestellt hatte (Deutsche

Jahrbuecher, Wigands Vierteljahrsschrlft) gait der Kampf vor allem

der reaktionaeren Romantik, andererseits auch schon dem Konmiunismus;

z.B. 0. Mallon in einem spezifischen Falle - bei der Schrift An die aufgeloeste preussische Nationalversammlung, die Bettina unter einem Pseudonym veroeffentlich'be - gegen den Literaturforscher R. Steig und gegen die Nachkommenschaft der Familie v. Arnim den behutsamen aber deutlichen Vorwurf gerichtet, man verschleiere Bettinas Autoren- schaft wissentlich. Ausfuehrlichere Belege zu jenen und aehnlichen, sogar sehr schmutzigen Verdunklungsversuchen finden sich z.B. bei Ursula Puerschel, Bettina von Arnims Polenbroschuere (Berlin, 19%k), S. 75-81. Uo und gegen letzteren rief Huge g e m Stirner und dessen Egoismus als

Kronzeugen an. In den Epigonen jedoch herrschte ein neuer Ton: diese Zeitschrift richtete ihren Kampf ausdruecklich auch noch gegen einen neuen Feind, gegen die "Sophisten", - und darunter verstand

Ruge und seine Gefolgschaft (Kuno Fischer, Wigand) vor allem Stirner, in zweiter Linie wohl auch Bruno Bauer. Da nun aettina seit Jahren den Bruedern Bauer nahe stand, - nie die Radikalen und auch die O Behoerden vermuten mussten, sehr nahe stand; da Bettinas Artikel

Stirner und auch Baier lobte, auch die Kommunisten gegen Stirner eher in Schutz nahm, auch von Ruge und Feuerbach, die in den Epigonen propagiert wurden, keine Notiz nahm; da Ruge, wie uebrigens fast alle

^ Eine zusammenfassende Darstellung der Beziehungen Bettinas zur "Keiligen Familie" (den Bruedern Bauer und ihrem Kreis) fehlt noch; unter den Bettina-Forschern hat sich wohl nur Ludwig Geiger damit eingehender, und sehr vorsichtig, befasst. Welchen Eindruck es auf die Radikalen machte, dass Bettina sogar eines ihrer Werke (begreif- licherweise das "ideologisch" denkbar unverfaenglichste, den Frueh- lingskranz) in dem "exklusiven" Verlage Egbert Bauers erseheinen liess, laesst sich leicht erraten: in diesem Verlage, der uebrigens mit dem Gelde von Stirners reicher Frau finanziert worden war, er- schienen sonst nur Zeitschriften und Schriften, die der Bauerschen "kritischen Kritik" gewidmet waren. Noch im Rueckblick auf den Vor- maerz schreibt Robert Springer, einst der Herausgeber einer der populaersten radikalen Zeitschriften, der Lokomotive: Egbert Bauer habe "die Buecher seiner Brueder und einige Schriften der Bettina" verlegt (R. Springer, Berlins Strassen, Kneipen und Clubs im Jahre I8I4.8 , Berlin, 1850, S. 205). Ob Bettina wirklich, wie dort angege- ben, mehr als ein Werk (anonym oder pseudonym) bei Egbert Bauer er- scheinen liess, bleibe dahingestellt. Ihre bedenklicheren Schriften haette Bettina - m e dies bei ihrem Koenigsbuch der Fall war - wohl einem weniger anruechigen Verleger anvertrauen muessen; denn wie alien Beteiligten klar war, hatten die Behoerden Bettinas zuerst anonym erschienenen, aber voellig harmlosen Fruehlingskranz einzig aus dem Grunde mit Zensurverbot belegt, um den Verleger Bauer und Bettinas Verhaeltnis zu den Bruedern Bauer zu bestrafen. (Vgl. auch Houben, Verbotene Literatur, I, U0, oder L. Geiger, Bettina v. Arnim und Friedrich Wilhelm IV, , 1902, S. £8 f.) Radikalen, den Schriften Bettinas zwar groesste Hochachtung zollte, sie aber doch zur "Literatur des Volks" rechnete, zur "oppositic-- nellen Literatur von populaerem" (also nicht philosophischem) Charak- 9 ter: so bleibt es aus alien diesen Gruenden sonderbar und schwer er- klaerlich, warum "der Tuerhueter der Hegelschen Philosophie, der grimme Ruge" oder Wigand es zuliessen, dass Bettinas Artikel in den

Epigonen - der Stirner und Bauer feindlichen Tribuene der junghegel- schen Philosophie - veroeffentlicht wurde.

Wenden wir uns nun zu dem Artikel selbst. Der Form nach besteht er fast gaenzlich aus einem Dialog zwischen "dem Einzigen" und "dem

Menschen", d.h. aus Stirners Text und Bettinas Kommentar dazu. "Der

Sinzige" macht seine Bemerkungen, "der Mensch" gibt zustimmende, ab- lehnende oder abschweifende Antworten. Was dem "Einzigen" in den

Mund gelegt wird, sind kurze Bruchstuecke aus dem E.u.s.S., die in derselben Reihenfolge geboten werden, wie sie in Stirners »»erk erscheinen auch sind diese Zitate immer mit Verweisen auf die entsprechenden Sei- tenzahlen der 1. Auflage des E.u.s.E. versehen.^ Dennoch ist es oft

schwer, sich aus den Reden des "Einzigen" - ohne Hinzuziehung des

Stirnerschen Originaltextes - eine Vorstellung von Stirners Ideen,

oder gar dem Aufbau seines Werkes, zu machen. Dies liegt teils daran,

9 A. Ruge, Gesammelte Schriften VI, 97 f*

Diese Seitenverweise Bettinas auf die 1. Auflage des E.u.s.E. werden im Folgenden ausgelassenj wie durchwegs wird auch hier nur nach der 3» Auflage des E.u.slE. zitiert. Ebensowenig wird Bettinas Ortho- graphie beibehalten, woril aber ihre oft eigentuemliche Interpunktion. Wo Bettinas "Einziger" spricht, muss bedacht werden, dass seine Worte fast nie genau den Worten des E.u.s.E. entsprechen; doch sollen nur wichtigere Abweichungen in Engsnoten naeher bezeichnet vrerden. dass Bettina sehr haeufig nicht wortgetreu, oefters aber selbst nicht sinngetreu zitiert, - ein kaum verstaendliches, sogar gram- mat ikalisch entstelltes Zitat ist schon (FN U) wiedergegeben worden.

Hinzu kommt noch Bettinas immer willkuerliche, zuweilen irrefuehrende

Art des Zitierens, das beliebig sprunghafte oder zoegernde Tempo, mit dem sich ihr Kommentar vorwaertsbewegt. Furze, an sich schon aus dem

Zusammenhang gerissene Bruchstuecke des E.u.s.E. werden, unterbrochen et?ra durch eine kurze Bemerkung des "Menschen", dicht hintereinander vorgebracht und wohl auch im Zusammenhang behandelt, obgleich sie in

Stirners Buch weit auseinanderliegenden Abschnitten und Gedankenkrei- sen angehoeren moegenj auch zeigt es Bettina nie an, wenn und wie sie eine laengere Stelle Stirners in ein kurzes Zitat zusammenstreicht.

Und schliesslich fehlt bei manchen Zitaten der sehr noetige Hinweis, dass Stirner da nur ironisch im Namen seiner Gegner spreche oder sie zitiere, nicht aber seine eigene Meinung ausdrueclce; an einigen Stel- len hat dies sogar Bettina selbst uebersehen. Nur einmal wird einer der so von Stirner zitierten Gegner, naemlich Bruno Bauer, auch in

Bettinas Dialog als besondere redende Figur eingefuehrt (unter den

Namen "Der Human-Liberale", "Der Humane" und "Der Kritiker").

Bettina predigt im Namen Stirners gegen Stirner einen Egoismus, der besser, naemlich naturrechtlich und sozial, begruendet ist. Sie will einen materialistischen, utilitaristischen, rationalistischen

Egoismus zur Grundlage der Ethik erheben: Nutzen und Frieden - in diesen sieht Bettina offenkundig das Summum Bonum - werden allerdings nur durch den Egoismus gewaehrleistet, aber durch einen Egoismus, der U3 aufgeklaert und gewitzt genug ist, die materiellen Beauerfnisse und

Schwaechen des Menschen in Betracht zu ziehen. Dieser Streit um

einen friedlich-sozialen Egoismus durchzieht Bettinas Artikel m e ein roter Faden, Aron seinem anfaenglich etwas dunkel scheinenden Motto

an - "Der Mensch ist nicht bloss eine Idee,/ Er ist auch von erdigen

Stoffen" - bis zu den Schlussworten:

Das Resultat vom Buche des Einzigen ist also: Dass der Ein- zige fuer die Idee des Ichs nur ein Gesetz des Menschen kennt, naemlich: den freien Willen zu -jedes [sic] Vorteil, welches er, wie es beim Geist allein wohl richtig waere, bis zum aergsten Kampfe ausgedehnt wissen mil, waehrend wir doch einen materiellen zerbrechlichen Koerper haben. - ... Dass er eben so einer Idee zu Liebe, oder aus Unkenntnis den Sinn vieler Worte falsch gebraucht und auf diese Weise sie bekaempft, z.B. "Recht, Freiheit, Beruf", so gut wie "der Mensch", dass sein Widerspruch gegen den Denkprozess, den er bei Br. Bauer sehr richtig bestreitet, Nichts sagt, weil er ihn selbst in diesem Buche als einziges Mittel mit grosser Folgerichtigkeit anwendet ... Er bringt aber das Ich des Menschen zur richtigen Wuerdigung ... Muessten alle Menschen nur das stereotype Ebenbild eines guten Menschen sein, so waere wohl an einem Exemplars genug. Es ist ein Beweis unserer Zukunft. Ein Fehler bleibt es aber inuner, dass er den Kampf unter Menschen fuer noetig haelt, indem er hoechstens das Vereinen kennt, aber kein Recht. - ’.Venn nun Bruno Bauer die Idee fuer das erste haelt, und das Ich und alien Egoismus der gemeinsamen Geschichte geopfert wissen mil, so verbinde man Beider Ansichten, so wird wohl das Richtige herauskommen.H

Auf1., S. 250 f . - Bettinas hier etwas gekuerzt wiedergegebene Echlussworte bilden zwar kein striktes Resumee ihres Artikels; wichtige Themen des Artikels (Kommunismus) bleiben unerwaehnt, nebensaechliche Themen (Zukunft des Menschengeschlechts) werden beruehrt. Dennoch ist auch hier das Leitmotiv des ganzen Artikels deutlich vernehmbar: Stir­ ner verkenne das wahrhaft egoistische IVesen des Rechts und hielte daher den "aergsten Kampf" unter Menschen fuer "noetig" 5 Stirner sei eben, trotz seines Kampfes gegen den abstrakten Idealismus, selbst noch in einer fixen Idee, der "Idee des Ichs" befangen; sein Empirismus und Egoismus muesse verstaerkt werden. - Erwaehnt sei, dass Bettina in ih- ren Schlussworten, wie auch sonst, wissentlich einige irrefuehrende Be- hauptungen und hendungen vorbringt; Stirner ist, wie Bettina sonst genau weiss, natuerlich nicht "der" Einzigej usw. HH

Betrachten wir nun Bettinas Hauptanliegen, ihren Kampf zugunsten eines "humanen" Egoismus, im Einzelnen. Mehr oder minder direkte

Belege sind ueber Bettinas ganzen Artikel verstreut; die deutlich- sten und ausfue’nrlichsten finden sich aber, wie ganz erklaerlich, dort, wo Bettina jene drei Abschnitte des E.u.s.E. behandelt, die

"Der humane Liberalismus", "Meine Macht" und "Mein Verkehr" beti- telt sind. Bettinas Kommentare zu diesen Abschnitten bilden tat- saechlich den wichtigsten Teil ihrer Arbeit; und diesen Teil, an

Umfang etwa ein Drittel des ganzen Artikels, wird auch unsere Be- sprechung vor allem zu beruecksichtigen haben.

Ein laengeres Zitat verdeutliche zunaechst, wie sich Bettina die "Verbindung" von Egoismus und Humanismus so ungefaehr denkt; es handelt sich um einen Kommentar zu einer Stelle, wo Stirner ge­ gen die Prediger der "Menschheit" und "der allgemeinen Vernunft"

- speziell Feuerbach und den Kommunisten Hess - polemisiert:

Der Einzige; Allein in den eigentlichen Fehler der Reli­ gion, dem Menschen eine "Bestimmung" zu geben, verfallen jene Kritiker nicht minder, indem auch sie ihn goettlich, menschlich u. dgl. wissen wollen; Sittlichkeit, Freiheit und humanitaet u.s.w. sei sein We sen. - Der Mensch: Das ist eben der Menschen ihre egoistische Eigenheit, dass sie einen Unterschied zwischen unseren Handlungen machen, und dass sie das sehr loben, und als unsere wahre Bestiinuiung hinstellen, was sie Allen als wohltaetig und nuetzlich erkannt haben. - Der Einzige: Denn das Religioese besteht in der Unzufr.iedenheit mit dem gegenwaertigen Menschen, d.h. in der Aufstellung einer zu erstrebenden "Vollkommen- heit" . - Der Mensch: Das ist purer egoistischer Vorteil, den man von uns verlangt, wir sollen andere Menschen nicht misshandeln, sondern wohltun [sic]. - Der Einzige; Die Be- strebungen der Neuzeit zielen dahin, das Ideal des "freien Menschen" aufzustellen. - Der Mensch: Die Tatsache, die Wirklichkeit kann nicht zum Ideal werden. - Der Einzige; Die Geschichte sucht den Menschen: er aber ist Ich, Du, Wir. - Der Mensch: Jal - Der Einzige: Gesucht als ein mysterioeses Wesen, als das Goettliche, erst als der Gott, dann als der Mensch (die Menschlichkeit, Humanitaet und Menschheit), wird er gefunden, als der Einzelne, der Endliche, der Einzige. - Der Mensch: Der Mensch und Menschlichkeit ist nicht dasselbe, aber der Mensch und der Einzige, wenn es kein Stein, ein Hahn, ein Rosenstrauch, oder sonst Etwas ist, kann dasselbe sein. - Der Einzige: Tor, der Du eine einzige Menschheit bist, dass Du Dich aufspreizest, fuer eine andere, als Du selbst bist, ieben zu wollen. - Der Mensch: Tor, das nennt man ja nur das Bewusst- sein von sich selbst haben. Nach diesem Bewusstsein suchen wir, und haben es gefunden. Wir haben unseren freien Willen, unsere Einzigkeit, unseren Egoismus durch unsere Ueberlegung gestaerkt. Vorteilssucht, ohne Ueberlegung, ist wie ein Hund, der nach dem Spiegelbild des Fleisches schnappt, das er im Munde traegt. Es ist auch einzig, aber huendisch einsig, tierisch einzig ...12

Wie fast jedes laengere oder selbst kurze Exzerpt aus Bettinas Artikel verraet auch das vorliegende schon mehrere der obersten Kriterien, die die schliessliche Vereinigung der Ideen Stirners und der Humanisten ermoeglichen sollen, ja von denen Bettinas Denken ueberhaupt auszu- gehen scheint; denn bei alien Abschweifungen und Widerspruechen, in denen sich ihr Artikel besonders zu Anfang ergeht, geben jene immer aufs neue auftauchenden Kriterien dem Artikel einen entschiedenen

Charakter, der sich in meist aggressivem Anti-Idealismus, im Betonen eines utilitaristischen Eudaemonismus und eines sehr materialistischen

Egoismus aeussert. Jene obersten Kriterien sind nun: Der Materialis- mus, meist in einer "krassen" Form, als Magen-Materialismus; der Empi- rismus, das "Probenmaessige", wie Bettina gern sagt; der soziale Uti- litarismus;!^ und. der Rationalismus Die von Bettina angestrebte

239 f. Die betreffenden, von Bettina fast ganz genau zitierten Ausfuehrungen des "Einzigen" in E.u.s.E., S. 2lj.8-25>l. 13 Wenn weiterhin von Bettinas "Utilitarismus" gesprochen wird, so ist damit ein sozialer Utilitarismus gemeint, denn auf einen solchen hat es Bettina eigentlich abgesehen. Stirners Utilitarismus hingegen ist un-sozial. - Die Woerter "Vorteil" und "Nutzen" kommen in Bettinas Artikel vielleicht noch haeufiger vor als das Wort "Egoismus". U6

Synthese von Egoismus und Humanismus aehnelt daher im Prinzip - denn im Detail wird Bettina sehr vage - gewissen Philosophien, wie sie bei der Auflclaerung des 18. und der junghegelschen "neuen Auf- klaerung" des 19. Jahrhunderts mehrfach anzutreffen sind; vor allem lS wohl dem Utilitarismus Benthams.

Dabei unterscheidet Bettina nicht zwischen Ausdruecken wie "Vernunft", "Verstand", "Denken", "Ueberdenken", "Ueberlegung", "Bewusstsein". Die egoistisch bedachte Ratio bezeichnet sie beson­ ders gern mit "Selbstbewusstsein". - In unserer Arbeit wird "Rationa- lismus" als Gegensatz zum Irrationalismus, nicht zum Empirismus auf- gefasst. lB Es ist interessant, Bettinas schliessliche Synthese von Egois­ mus und Humanismus mit einem sehr aehnlichen synthetischen Programme zu vergleichen, worin Stirner selbst mit Bentham zusammengestellt wurde. Es handelt sich um das ziemlich ausfuehrliche philosophische Programm, das Engels an Marx sandte, als er durch die Lektuere des E.u.s.E. in ziemlich begeisterte Erregung versetzt worden war. Der einzige Unterschied zwischen Bettina und Engels besteht in der Beleuch- tung, in der sie Stirners Egoismus sehen: Bettina fuerchtet und betont Stirners Voluntarismus und setzt seinem "Willensegoismus" ihren "Ver- standesegoismus" gegenueber; Engels sieht bei Stirner gerade einen "Verstandesegoismus" und postuliert dagegen einen "Egoismus des Her­ zens". Ansonsten koennten Engels' konzise -^Hisfuehrungen fuer eine Inhaltsangabe von Bettinas verworrenem Artikel gelten: "Das Prinzip des edlen Stirner ... ist der Egoismus Benthams, nur nach der einen Seite hin konsequenter, nach der anderen weniger konsequent durch- gefuehrt. Konsequenter, weil St[irner] den einzelnen als Atheist auch ueber Gott stellt ... kurz, weil St auf den Schultern des deutschen Idealismus steht, in Materialismus und Empirismus umgeschlagener Idealist, wo Bentham einfach Empiriker ist ... Darum ist das Ding aber wichtig ... Wir muessen ... indem wir es umkehren, darauf fort- bauen ... Aber was an dem Prinzip wahr ist, muessen wir auch aufnehmen. Und wahr ist daran allerdings, dass wir erst eine Sache zu unsrer eigenen, egoistischen Sache machen muessen, ehe wir etwas dafuer tun koennen ... der F[euerbach]sche 'Mensch' ist von Gott abgeleitet, F ist von Gott auf den Menschen gekommen... Der wahre Weg, zum 'Menschen' zu kommen, ist der umgekehrte. Wir muessen vom Ich, vom empirischen, leibhaftigen Individuum ausgehen, um nicht, wie Stirner, drin stecken zu bleiben, sondern uns von da aus zu 'dem Menschen' zu erheben ... Kurz, wir muessen vom Empirismus und Materialismus ausgehen, wenn unsre Gedanken und namentlich unser 'Mensch' etwas wahres sein sollen; wir muessen das Allgemeine vom Einzelnen ableiten, nicht aus sich selbst oder aus der Luft A la Hegel. Das sind alles Trivialitaeten, die sich von selbst verstehen, die von Feuerbach schon einzeln gesagt U7 Im Namen jener Kriterien kommentiert Bettina den Text des

E.u.s.E., fast ohne - zuweilen auch ganz ohne - auf Inhalt und

Zusammenhang des spezifischen Stirnerschen Textes Ruecksicht zu nehmen. Zu einem, freilich nur sehr kleinen Teil liegt die Schuld daran an dem E.u.s.E. selbst, der im Grunde aus einer Reihe von raffinierten und gar nicht langweiligen Variationen ueber einige wenige Hauptthemen besteht. Bettinas nicht ganz so kurzvreiliger

Artikel besteht aber offensichtlich wohl ganz aus alten Randnotizen, die dieselben Bem.erkungen endlos -wiederholen. Ihre oft trivialen

Bemerkungen enthalten allzuhaeufig kaum mehr als vage zusammenge- wuerfelte Kombinationen ihrer Lieblingsschlagwoerter, oder deren

Aequivalente, hinter denen sich natuerlich immer Bettinas vier

Hauptthemen bemerkbar machen. Folgende Dinge werden immer wieder, und zwar lobend erwaehnt: Egoismus, Vorteil, Bestehen, (Selbst-)Er- haltung, Sicherheit, Leben, "irklichkeit, Natur (nicht immer lobend),

Notwendigkeit, Koerper, Magen, Lust, Befriedigung, Bequemlichkeit,

Vernunft, Denken, Urteil, (Selbst-)Bewusstsein, Verstand, Verstaen- digung, Recht. Tadelnd werden immer wieder erwaehnt: Wesen, Idee,

Geist, Unvernunft, Wahnsinn, Krankheit, ^illen, Zwang, Unrecht,

Bruegel, Kampf, (Selbst-)Zerstoerung.^ Hand in Hand mit diesem sind ... Wenn aber da^ leibhaftige Individuum die wahre Basis ... ist fuer unsren 'Menschen', so ist auch selbstredend der Egoismus - natuer­ lich nicht der Stirnersche Verstandesegoismus allein, sondern auch der Egoismus des Herzens - Ausgangspunkt fuer unsre Kenschenliebe, sonst schwebt sie in der Luft." (Marx-Engels, Saemtliche V.erke, hist.-krit. Jiusgabe, Abt. 3, Bd. 1,$. 6 f.)

^ Eine Ursache fuer den monotonen, oft gehaltleeren und vagen Charalcter dieser Kommentare muss wohl in Bettinas offenkundiger Ab- sicht gesucht werden, sich moeglichst oft auf Stirner zu berufen und U8 repetitiven und implizierenden Verfahren geht ein kritisches Versteck- spiel, das Bettina mit Stirner treibt. Es besteht einesteils aus un- gerechtfertigten oder uebertriebenen Insinuationen, die letztlich auf eine Polemik gegen den "Willen" hinauslaufen; und andererseits aus einer merklichen Zurueckhaltung an vielen Stellen, wo Bettina energisch gegen Stirner protestieren muesste. Es faellt auf, dass Bettina es moeglichst vermeidet, irgendwo ausdruecklich einen Grundsatz Stirners zu bestreiten; ein schwieriges Unterfangen, da sie doch mit Stirners

Text Zwiesprac'ne haelt. Dermoch umgeht sie es offensichtlich, den

Namen des "Einzigen" zu nennen, wo es zu tadeln gilt, und spricht lieber mit "wenn" und "aber" von den "Unvernuenftigen”, vom "Unmensch" usw. Auch den Tadel selbst impliziert sie lieber und wiederholt der- lei Implikationen bis zum Ueberdruss; geradezu typisch ist ihre Manier, ihren Ausfuehrungen einen implicite tadelnden oder warnenden Zusatz anzuhaengen, wobei sehr haeufig auf den Zusammenhang, sei es mit Stir­ ner, sei es mit Bettinas eigenen vorangehenden Worten, wenig Rueck­ sicht genommen wird. Man kann daher mit einiger Sicherheit darauf rechnen, dass Bettina, wo sie etwa Stirner gegen die Idealisten ver- teidigt, ihre Bemerkungen mit einem Zusatz versieht, "man'1 duerfe

"aber" keineswegs unvernuenftig, nachteilig, zerstoererisch handeln.

Andererseits fuegt sie haeufig auch dort, wo sie etwa das Naturrecht gegen den "Unmenschen" verteidigt, noch hinzu, dass der Egoismus allem und daher auch der blinden Willkuer vorangehe. daher eine direkte Kritik Stirners moeglichst zu vermeiden: jene all- gemein gehaltenen und wiederholten Implikationen ersparen es ihr, oefter als unbedingt noetig gegen Stirner auf bestimmte Weise Stellung zu nehmen. U9

Es ist begreiflich, dass es dabei ohne Widersprueche nicht abgeht. Bettina, die durchwegs bestrebt ist, sich als getreuer

Apostel des Keisters Stirner auszuweisen, verschleiert mehr vor sich selbst als vor dem Leser die '•i-'atsache, dass "der Egoismus des Ein­ zigen" eben doch nicht, wie sie behauptet, der Egoismus ist, den sie selbst empfiehlt, sondern, wie sie impliziert, etwas Anderes, Bedroh- liches. Ungemein bezeichnend sind Bettinas haeufige, auch an ganz unpassenden Etellen vorgebrachte Berufungen auf "den Egoismus, wie inn der Einzige versteht"; sie lobt diesen Egoismus sogar dort, wo sie ihn ausnahmsweise als "Willen" definiert (Aufl., S. 238), obwohl sie sonst gerade vor dem souveraenen, oder wie sie es lieber ansieht, dem "unvemuenftigen" Willen des "Einzigen" die groesste Angst hat.

Ben "Egoismus, wie ihn der Einzige versteht" definiert Bettina frei- lich sonst in dem utilitaristisch und rationalistisch verharmlosten

I *7 Binne, in dem sie selbst den Egoismus aufgefasst wissen will; und aus Loyalitaet bringt sie die Forme1 auch selbst dort unter, wo sie gegen den "Unmenschen" oder gar ausdruecklich gegen den "Einzigen" linwaende erhebt. So z.B. als sie sich beklagt, dass "uns der Einzige selbst keine ... Ueberlegung" zutraue und daher statt des Hechts einen

"unbewussten Kampf, als ersten Vorteil" empfehle; aber:

... gerade der Egoismus, so wie ihn der Einzige versteht, traegt das festeste Band fuer den Menschen in sich ... Zum Vorteil vereinigen wir uns, nie zum Nachteil. (Aufl., S. 226)

An den oben erwaehnten vier Kriterien misst nun Bettina die

Ideen Stirners und seiner Gegner. Stirners Philosophie bewaehrt sich

^ Vgl. etwa das Zitat auf S. 5>0. 5o dabei, wenn auch nicht gaenzlich; es bewaehrt sich sein Egoismus, den

^ettina utilitaristisch und rational einschraeriken moechte, nicht aber sein irrationaler Voluntarisinus, den sie ins "Lebens-gefaehrliche" uebertreibt, und sein Idealismus, den sie rundweg erfindet. Vor jenen

Kriterien versagt andererseits die Philosophie der Humanisten, wenig- stens soweit sie in der ueblichen ethisch-normativen und idealistischen

Einkleidung erscheint. Betrachten wir etwa, wie Bettinas "Mensch" gerade die ^useinandersetzung zwischen Stirner und Bauer kommentiert.

Letzterer spricht hier unter den Namen "der Human-Liberale" und "der

Humane"] er hat gerade den eigennuetzigen Egoismus verdammt und

"gaenzliche Uninteressiertheit" verlangt:

Per Mensch: Auf jeden Fall wird die Natur vom Menschen vom Humanen auch falsch ausgelegt. Denn nach des Einzigen Aus- legung von egoistisch hat Dieser Recht, der Mensch ist immer egoistisch. Er, der Einzige, versteht darunter aber nur, dass man weiss, was man tut, dass man auf seinen Nutzen sieht. Der humane Liberate will aber, dass man als Mensch nur begeistert oder besessen sei. Dagegen hat der Einzige in sofern Unrecht, dass egoistisch nur sein kann, wenn man bei seinem egoistischen Vorteil nicht auf den Nachteil eines Anderen dabei achtet. - Der Humane; Wirf alles Aparte von Dir, kritisiere es wegl ... sei Mensch, Nichts als Mensch1 Mach Deine Menschlichkeit gegen jede beschraenken- de Bestimmung geltend, mach Dich ... zum Menschen ... und frei, ... erkenne ... Dein ... Wesen. - Der Mensch; Den Menschen in einem besonderen festen Begrifx als Vorbild ... aufzustellen, waere auch falsch, sondern sei Du selbst, d.h. so wie Deine Natur nur irgend befbrdert werden kann, aber nicht, dass Du Dich selbst zerstoerst ... "Menschsein" schliesst aber nur die Bedingung in sich: als mit Vernunft und dem Sinn fuer Gerechtigkeit begabt, keinem Anderen Gewalt anzutun, sondern den Weg aufzufinden, der sich und ihm Genuege leistet ... Dass es dafuer immer sehr gerechte Entscheidungen gibt, muss man nur erst wissen ... das Gesetz der Gerechtigkeit ist eben die Hilfe fuer den edlen Egoismus. (Aufl., S. 205 f. - E.u.s.E., S. 130)

Beachtenswert ist hier u.a., dass Bettinas "Mensch" den Egoismus

"nur" im Rahmen des Utilitarismus gelten laesst und sich dabei wieder Si auf den "Einzigen" beruft; dass andererseits unterstellt wird, Stir­ ners utilitaristischer, aber doch schaedlicher Egoismus "koenne" nicht anders als ruecksichtslos sein, und muesse und koenne mit einem rational aufgeklaerten Prinzip der Gerechtigkeit in Verbindung ge- bracht werden.

Eine unegoistische, idealistische soziale Bindung, wie sie Bauer verlange, bedeutet nur "Zwang" und "Aufopferung" (Aufl., S. 208); der

Egoismus hingegen koenne aus sich heraus ganz leicht sozial, humanis- tisch gemacht werden; der "Egoismus, wie ihn der Einzige versteht" sei jedenfalls utilitaristisch. Wuerde er sich noch rationalistisch auf seine eigenen utilitaristischen Absichten besinnen, so waere das

Ziel des Humanismus erreicht: wozu

... so we it ausschiiesslich unvernuenftig sein wollen, dass wir unsere Lebens-Vorteile, nach denen wir streben, gerade aufgeben? ... Der Mensch will nur bewusste, vernuenftige Vorteilssucht fuer All' und Jeden ... "Menschlich sein" kann nur so viel heissen, als "ungebunden sein", "einzig sein" bis zum Eigenen oder dem Nachteil eines Anderen. (Aufl.,S. 208)

Das Primaere ist der Egoismus; ihm gegenueber ist das menschliche, soziale Zusammenleben nur eine "gezwungene, notwendige" Gemeinschaft

(Aufl., S. 2U6 et pass.), aber dennoch auch eine Naturtatsache, - ja

ein mit dem Egoismus identisches Faktum; "uns umschliesst schon ein

Band, das der notwendigen Gemeinschaft, das der Vorteilssucht"

(Aufl., S. 207). Dies erlegt dem Egoismus gewisse egoistische Ver-

pflichtungen, Naturrechte auf, oder genauer, dies gibt ihm nur eine neue und bessere Form und sogar vermehrte Gewalt; nur erst "im Verein mit alien Anderen" waechst "unsere Gewalt und unser Vorteil ... man moechte sagen ins Unendliche" (Aufl., S. 217). Fuer das aufgeklaerte 52

Auge ist der auf dem Egoismus statt auf dem Idealismus basierte

Humanismus identisch mit dem Egoismus:

Der SinzIge: Nicht wie ich das allgemein Menschliche realisiere, braucht meine Aufgabe zu sein, sondern wie ich mir selbst genuege. - Der Mensch: Beides faellt aber zusammen.lo

Die Synthese von Stirner und "Bauer" bedeutet einen ziemlich voll-

staendigen Sieg Stirners ueber seine Gegner. Um zu ihrer "Synthese"

zu gelangen, verlangt Bettina, was Stirner verlangte. Ganz allge­

mein fordert sie, die humanistischen "Gefuehlsmenschen" muessten

sich ihrer idealistischen Spekulation auf Altruisraus, auf das Prinzip

der "Liebe"^ entschlagen. Sie gibt Stirner Recht: "Nun das ist

vrahr, erst muss der Egoismus befriedigt werden, dann konamt die Liebe"

(Aufl., S. 2U2), oder noch bezeichnender:

Gewinnsucht fuer Alle, mag Allem voraufgehen. Dann aber kommt das Billigkeits-, Abwaegungs-, Schaetzungs-, Beur- teilungs- oder Gerechtigkeitsprinzip. Nachher erst das Liebesprinzip. (Aufl., S. 209)

Solange die Philosophie des Humanismus den Egoismus verleugne oder

ablehne, ist sie falsch und idealistisch. Stirner nannte Bauers

System der "Kritik" die "vollendetste Sozialtheorie", weil sie

"das Liebesprinzip des Christentums, das wahre Sozialprinzip" am

reinsten darstelle. Eine zweifelhafte Empfehlung, - Bettinas "Mensch"

hat ganz andere Anschauungen ueber die Prinzipien einer richtigen

Sozialtheorie:

Aufl., S. 222. - E.u.s.E., S. 186. - Vgl. auch Zitat auf S. U5.

^ Der von Comte gepraegte Ausdruck "Altruismus" war damals noch nicht bekannt. Im allgemeinen wurde der Gegensatz zum Egoismus als "Liebe" bezeichnet (so auch meistens bei Stirner), zuweilen auch anders, sogar als "Kommunismus". 53

Vl'ird der Egoismus, so wie ihn der Einzige versteht; "der eigene Trieb, jede Lust zur eigenen Befriedigung, jede Per- soenlichkeit, jede Einzigkeit", unterdrueckt, so ist die Sozialkritik nicht die vollendetste, und muss noch eine gefunden werden, die nicht wegschneidet, sondern richtig zusammenfuegt.20

Das ricbtige Prinzip ist natuerlich der Egoismus; "Durch den Egoisten wird die menschliche Gesellschaft erst werden." (Aufl., S. 221)

Da Bettina Stirner mit dem Humanismus "zusammenfuegen" will, hoert sie es nicht gem, dass Stirner in allerdings sehr grosszuegi- 21 ger Logik jede humanistische Ethik gar mit Religion gleichsetzt.

Der Humanismus, wenigstens in seiner egoistisch-reinen Form, sei

materialistisch; seine sozialen Postulate basierten nicht auf dem

Glauben, sondern auf der empirischen Wirklichkeit:

Der Mensch; Glauben gehoert schon zum Ideellen, also zum Hnwirklichen; darum keine Verwirrung. Ich bitte. Der Mensch kann nur bei der Wirklichkeit in Betracht kommen, und dafuer wird sich schon ein gemeinsamer Hut zum Lusammenleben fin- den ... Wenn wir Mensch sagen, so umfasst das jeden sogenann- ten Einzigen ... VJir gehen damit von der Natur aus ... Es ist das kein Geist, wobei wir uns aus gewissen Eigenschaften eine Idee gemacht haben, das Allerheiligste. (Aufl., S. 209)

Der "Mensch" verteidigt hier in erster Linie sich selbst; er, der auf-

geklaerte egoistische Humanist, hat im empirischen Egoismus, im "so-

genannten Einzigen", die natuerliche Basis fuer das "Zusammenleben"

gefunden; er hat nicht den Fehler begangen, den Stirner an den Huma-

nisten, besonders an de.r "anthropologischen Philosophie" Feuerbachs

pp) Aufl., S. 207. Die hier erscheinende Definition des "Egoismus, wie ihn der Einzige versteht" ist natuerlich keine Stirnersche Defini­ tion, sondern Bettinas Interpretation.

? *1 Eine Gleichsetzung, die, wohl besonders seit Nietzsche, bis heute in populaeren Ausdruecken wie "saekularisierte Ethik", "Secular Human­ ism" etc. fortlebt. 5U und dem "humanen Liberalismus" Bauers geruegt hatte, naemlich den

Fehler, "religioes" zu denken, d.h. philosophische Attribute ("Eigen- schaften") zu hypostatieren. Dennoch spricht Bettinas "Mensch" hier* wie auch sonst mehrfach, wo es gilt, gegen Stirners Kritiken Front zu machen, im Plural ("wir"), um seine Solidaritaet mit seinen "idea- listisch" humanistischen Vorgaengern auszudruecken. An einer anderen

Stelie nimmt Bettina denn auch ausdruecklich den "Liberalismus" im allgemeinen gegen aehnliche Vorwuerfe Stirners in Schutz: Stirner, der den Humanismus oft als "Liberalismus" schlechthin bezeichnet, 22 verspottet diesen als "menschliche Religion"; Bettinas"Mensch" pro- testiert, es gaebe keine "menschliche Religion":

... weshalb der Liberalismus wohl nicht als Glaubenssache oder Religion ausgegeben werden kann. Alles, was hierbei festzuhalten und anzuerkennen ist, kommt nicht als Phanta- siestueck, als eine Idee in Betracht, sondern ist die Vtfirk— lichkeit oder ihr entnommen, und muss daraus bewiesen werden ... Mensch allein bezeichnet nicht einen ... Beruf ... und ist da gar keine Religion, sondern nur ein Bischen Ueber- legung noetig. - Per Einzige: Der Liberalismus prophezeit... einen Glauben, der seinen Feuereifer beweisen wird. - Der Mensch: Das soil nur heissen: "aehnlich" dem Glauben, aber durch klares Bewusstsein unterstuetzten Feuereifer zeigen ■wird. 23

Nur im Aeusserlichen aehnle der Humanismus der Religion. Ohne es frei- lich selbst zu wissen, seien die Philosophen des Humanismus (etwa Bauer, dessen VJorte der "Einzige" hier zitierte) doch weniger "pfaeffisch" als Stirner wahrhaben wolle. Ihnen fehle allerdings noch das ratio-

pp "Der Mensch" ist "das Prinzip des Liberalismus" (E.u.s.E., 127 f). 23 Aufl., S. 219. Die ungenau wiedergegebenen Worte des "Einzigen" (E.u.s.E., S. 180) sind ein von Stirner genau belegtes Zitat nach Bruno Bauer. Vielleicht um ihre Solidaritaet mit den Humanisten im allgemei­ nen anzudeuten, erwaehnt Bettina nicht, dass hier Bauer spricht, dessen Namen sie doch sonst recht gern nennt. 55 nale, "lclare Bewusstsein", "ein Bischen Ueberlegung" und eine ent- schieden gegen "das Ideelle, also Unwirkliche" gerichtete Denkweise,

- aber wie noch gezeigt werden wird, verfehlt Bettina selten hervor- zuheben, dass es auch und gerade Stirner an all dem mangle. Sei erst jenes klare "Bewusstsein" einmal vorhanden, so werde der wahre Kern des Humanismus gefunden und anerkannt werden: statt des idealistisch- religioesen "Wesen des Menschen", statt der ethisch-normativen "Be- stimmung des Menschen" werde dann das egoistische Wesen der empiri­ schen Menschen in seine Rechte und Pflichten eingesetzt werden.^4

Die Reinigung der Ideen der Humanisten, ihre "Synthetisierung" mit den gleichfalls gereinigten Ideen Stirners, vor allem aber die

Reinigung des Egoismus Stirners, ist ein Prozess der Aufklaerung.

Laut Bettina habe dieser auch wohl schon begonnen, doch duerfe man sich dabei nicht durch die alten Irrtuemer ablenken lassen; nicht durch den Spuk des vermeintlichen "Menschen" der idealistischen

Humanisten, vor allem aber nicht durch die Brutalitaet Stirners:

Darum, weil wir erst jetzt zum Bewusstsein unseres Wesens kommen, weil unsere Entwicklung endlich dahin gefuehrt hat, unser vernuenftiges Bewusstsein als das hoechste und erste anzuerkennen, wodurch wir allein faehig sind: alles Uebrige uns anzueignenj ueber aHe Stoffe, z.B. Opium, Aether, Schnaps zu herrschen; die eigenen, unbaendigen und krankhaften Wallun- gen zu beurteilen und zu maessigen; darum sollen vdr den faelschlich sogenannten Menschen, der sich nicht selbst ange- hoert ...[nicht als]einen richtigen Menschen, hier auf der Srde noch anerkennen ... von dem hier auf der Erde verlangt wird, dass er mit seinem notwenhigen Koerper sich erhalten will und kann. (Aufl., S. 220)

^ Es sei vermerkt, dass Bettina, wo sie auf den aufgeklaerten Zukunftsegoisten zu sprechen kommt, vor lauter Rationalismus ihre gewoehnliche Abneigung gegen "idealistische Nomenklatur" vergisst und zuweilen von einem "Wesen", naemlich "unserem Wesen" spricht, das sie freilich eindeutig vom idealistisch postulierenden "Wesen des Menschen" unterscheidet. So etwa Aufl., S. 209 et pass. 56

Es bleibe als unwesentlich dahingestellt, ob z.B, eine solche Stelle nicht etwa noch mehr an die Aufklaerung des 18. Jahrhunderts erin- nert, als an die "neue Aufklaerung", den Junghegelianismus, den

Bettina natuerlich in ihrer ganzen Schrift vor allem im Sinne hat.

Auf jeden Fall muss betont werden, dass Bettinas Rationalismus nicht im Dienste metaphysischer Spekulation, sondern immer in Dienste des

Egoismus und Materialismus steht. Er ist aufklaererisch, unspekula-

tiv und pragmatisch. Baher setzt Bettina auch fast immer den Empi-

rismus als kontrollierendes Kriterium ueber den Rationalismus und

diesen wieder ueber das Rechts-"Gefuehl". Letzteres muss durch unse­

re "bewusste Vemunft" "gerechtfertigt" werden; diese aber darf nicht 25 abstrakt sein, sondern muss "Anwendung" finden koennen. Bettinas

Rationalismus dient nur zum Erkennen des wirklichen Sachverhalts, be­

sonders des wahren Vorteils, - ganz besonders des wahren, egoistischen

Rechts auf Selbsterhaltungs "Fuer unsere Selbsterhaltung sind wir

immer Dienstleute, auch als Iche. Auf diese Weise sind wir Dienst-

maenner des Denkens." (Aufl., S. 2 I4.8 ) Man vergleiche demgegenueber

einen Satz Stirners (den Bettina uebrigens nicht wiedergibt):

Ueber der Pforte Unserer Zeit steht nicht jenes apollinische: 'Erkenne Dich selbst', sondern ein: Verwerte Diehl TB~.u.s.E., S. 32$)

25 Aufl., S. 199. - Eine StelUe , wo Bettina den Rationalismus nicht nur, wie immer, ueber das Gefuehl, sondern selbst ueber den Empirismus (das "Probenmaessige") zu stellen scheint, waere z.B. ihre Bemerkung zu Stirners Kritik an Proudhon: "Wenn Proudhon wirk- lich so probenmaessig, ohne Bewusstsein der inneren Scheidungsgrenze verfaehrt, und mit seinem Gefuehl in der Praxis sich durchhelfen will, also ohne die inneren Gruende des Rechts zu kennen, etwa mit den Wor- ten 'es ist unbillig', so ist er allerdings noch auf einem sehr kind- lichen, anfaenglichen TWeg. Er kann sich selbst noch nicht Rechen- schaft geben ..." (Auf loe sung, S. 2Ls,l). 57

Alle unrichtigen und richtigen, andeutenden und offenen Kritiken

Bettinas, all ihre Verteidigung von Hationalismus, Utilitarismus,

Materialismus und Bmpirismus drehen sich letztlich nur tun die Frage, ob im iJamen der Vernunft der Schutz fuer den Egoismus, oder ob im

Namen des Willens das selbstherrliche "Verbrauchen" des Egoismus die richtige Schlussfolgerung aus Stirners Philosophie sein solle; Bettina will rationale Selbsterhaitung, Stirner will "Selbstverbrauch" und

"Selbstgenuss". Recht und Rationalismus gegen Willkuer und sadisti- schen Wahnsinn, - diese Auseinandersetzung ist im Grunde das Theraa von Bettinas Essay, derm sie dabei aus Sorge fuer das I.ienschenrecht gerade den Voluntarismus Stirners ueberbetont und weiterhin Stirner zum Irrationalisten und gar Idealisten macht, so duerfte dies vor allem auf den Umstand zurueckzufuehren sein, dass Stirner .iedes Recht als bloss verkappten "ilerrscherwillen" betrachtet (E.u.s JS.. S. 190 et pass.). Fuer Bettina soil der Wille unter dem Rechte liegen, waehrend er fuer otirner maslciert din Rechte und als offen egoistischer

».ille ueber dem Rechte liegt. In diesen Faellen, fuerchtet Bettina , ist keine Selbsterhaltung moeglich: dann gelte "das Recht ... vom

Einzigen, 'die Macht' des Kampfes" (Aufl.. S. 24-0). Und daher laeuft ihr Bestreben darauf hinaus, Recht und Willen zu trennen und gegen- ueberzusetzen, derm

... die erste Frage ist allerdings immer, ob Jemand den Kampf will ... Fuer Menschen gibt es also noch einen Unterschied von herrschendem Willen und gerneinsam anerkannten Rechts- grenzen ... (Aufl.. S . 229 f •)

Bettinas aufklaererische Bestrebungen zielen derm auch offensichtlich

kaum auf die Reinigung des spekulativen Humanismus, kaum auf die "Syn­ these" von otirner und Bauer; sie gelten vor allem der Reinigimg von 58

Stirners Egoismus, der "Aufloesung" und Baendigung seines ruecksichts- losen Willens. Zwar hat der "Einzige" ueber seine humanistischen

Gegner gesiegt; nun laesst Bettina ihn gegen sich selbst kaempfen: der "Egoismus, wie ihn der Einzige versteht" muss gegen den "Einzigen" selbst verteidigt werden. Den "ultrahumanistischen" Aspekt des "Ein­ zigen" verlegt Bettina in den "Menschen", der jenen Egoismus "versteht" und in dessen Namen den "Einzigen" zur rationalen Selbstbesinnung auf- fordert. Der "Einzige", der tatsaechlich als der geistige Urahn des

"Menschen" gelten kann, tritt uns in den insinuierenden Kommentaren des "Menschen" als ein "Bild des Einzigen" entgegen: einerseits zeich- net ihn Bettina als das Modell des ultrahumanistischen "Menschen"; andererseits als die "antihumanistische", vor allem irrationale und voluntaristische Haelfte Stirners, - als den Verrueckten und den moerderischen "Unmenschen" also.

Typisch fuer den ganzen Artikel ist eine Stelle, die sich an eine lobende Beiaerkung ueber den Egoismus "nach des Einzigen Sinn" unmittelbar anschliesst:

Wie aber, wenn das Ich sich den Hals abschneiden vri.ll? also, wenn es nicht egoistisch ist. Es gehoert auch zum. Ich. Ich halte es aber fuer ein verruecktes Ich, eben so wie fuer ein unmenschliches Ich. Oh begreife! die Freiheit des Men­ schen geht nicht ueber seinen Egoismus. (Aufl.. S. 222)

Natuerlich hat "der Mensch" weniger vor dem selbstmoerderischen als vor dem moerderischen "Unmenschen" Angst; wie der wahrhaft egoistische

"Mensch" mehrfach betcnt, will er vor allem sich selbst schuetzen.

Und er vermutet, dass der "Selbstverbrauch" des "Einzigen" gar zum

Sadismus fuehren koennte: 59

Der Einzige: Ich will an Dir Nichts anerkennen oder respek- tieren . .. sondern Dich verbrauchen ... An Dir entdeclce ich die Gabe, mir das Leben zu erheitern, daher waehle ich Dich zum Gefaehrten. - Per Mensch: An Dir entdeclce ich die Gabe, dass Du blutest, wenn man Dich sticht, also schneide ich Dir die Adern auf. Es ist mein Vergnuegen, koennte man sagen. Ich verbrauche Dich. Doch da ist wohl noch ein Unterschied. (Aufl.. S. 211. - E.u.sJi.. S. 143)

Und so erinnert "der Mensch" den "Einzigen" immer aufs Neue: "das

Unmenschliche ist niemals etwas Egoistisches ... man inuss sich nuetzen wollen, nur nicht auf Kosten Anderer" (Aufl.. S. 2 0 3 ); und umgekehrt sei der Egoismus "nach des Einzigen Sinn" keinesfalls, "nie"

willkuerlich-zerstoererisch: "Oh, begreifeJ Die Freiheit des Menschen geht nicht ueber seinen Egoismus"; oder "Ich ist nie zuegellos ...

Zuegellcs geht es im Kampfe unter. Ich ist, um zu bestehen, den Geset-

zen des Vorteils unterworfen" (Aufl.. 3.231); oder "Ich bin nicht und

nie ein Knecht rneines Willens, sondern der Knecht meines natuerlichen,

egoistischen Vorteils" (Aufl.. S. 230), - und dies heisst wiederum, ein Knecht des "Denkens" (S. 56).

Mit dem egoistischen "Denken", dem "Vorteil" und dessen "egoisti­ schen, natuerlichen" "Gesetzen" gedenkt Bettiha, den "Willen" und das

"verrueckte sowie unmenschliche Ich" zu sozialem Verhalten ueberreden

zukoennen. Die Natur ist egoistisch und kennt daher keinen schaed- lichen Willen:

Nur die willenlose Natur mit ihren unwandelbaren Gesetzen des Beduerfnisses zu bestehen und zu werden und aehnlich so mit jedem Menschen, will ich erfassen und mich danach leiten koennen. (Aufl., S. 212)

Die Vernunft hingegen haengt mit Egoismus und Naturrecht aufs innigste

zusammen: 6o

Per Einzige: Das Recht soil nach liberaler Vorstellungsweise fuer Mich verbindlich sein, weil es durch die menschliche Vernunft so eingesetzt ist, gegen welche meine Vernunft die Unvernunft ist ... - Der Mensch; Wer von diesen Naturbe- grenzungen abweichen will, von dem kann man allerdings sagen, er ist unvernuenftig ... Die allgemeine menschliche Vernunft sind aber nur die im Menschen zum Bewusstsein gebrachten Naturgesetze ... (Aufl., S. 233* - E.u.s.E., S. 210.)

Die rationale Beschraenkung des Willens ist keine Unterwerfung, sondern eine Erhoehung, naernlich Sicherung des Egoismus: "Freiheit ... ist also, den Willenszwang anderer Menschen los zu sein" (Aufl., S. 213).

Der egoistisch-rationale Mensch, "der seiner gegebenen Natur nach leben will", handelt also "im hoechsten, einsichtsvollsten Egoismus", wenn er seinen Willen in die sozialen Grenzen des Naturrechts fuegt:

Der Einzelne ist kein Feind der rechten Allgemeinheit des richtigen Bandes, aber die Unkenntnis des wahren Recht.es... die gewaltige Blindheit. Dies Unbewusstsein ist der Feind. (Aufl., S. 237.)

Und so versucht Bettina unaufhoerlich, den "Einzigen" ueber das

"richtige Recht" aufzulclaeren, das ausnahmslos alien Egoisten zugute 2 6 komme. Der "Mensch", der "ein Ueberdenken, ein Selbstbewusstsein von seinen Handlungen hat" und daher "einzig egoistisch" ist, versucht dem "kranken und verrueckten" Friedensstoerer zu erklaeren:

Um also nicht in einem Kampfe mit Dir unterzugehen, muessen wir gewisse Eigenheiten, und dem entsprechende Verpflichtungen,

Obgleich Bettina einmal erwaehnt, dass "immer dem einen genom- men wird, was dem anderen zu geben ist" (Aufl., S. 215>), so besteht sie doch immer darauf, dass ihre "gezwungene Gemeinschaft" ausnahmslos alle Menschen umfassen muesse - selbst das kleinste Kind gewaehrt ja einen "Nutzen (Aufl., S. 227) - und dass das rationale Egoistenrecht "immer gerechte" Loesungen der Konflikte finden werde (vgl. S. 5o). Betreffs ihrer eigenen egoistischen Nutzgemeinschaft meint sie immer, es werde sich schon alles regeln (Aufl., S. 205 et pass.); bei Stir­ ners "Verein von Egoisten" will sie dagegen im Detail wissen, wie da die Verstaendigung eigentlich zugehen solle (Aufl., S. 2b2 et pass.). 61

als allgenie ia zu achtende Mens cheore chte zum Be?/usstsein bringen. Es ist hier von keinem ersten Zustand die Rede ... sondern davon, dass mein und unser beiderseitiges Leben und Bestehen davon abhaengt ... Baas Du Alles sein und Alles haben willst, und dabei keine vernuenftige, selbstbewusste Grenze gelten laesst, die Dein, mindestens mein Bestehen sichert, das geht nicht. Verbrauchen kann ich mich von Dir nicht lassen. Ich bin auch einzig. (Aufl.. S. 21l)

Bettina ist konziliant genug, in ihrem Bystem des Schutzes fuer den

Egoismus auch dem 'willen einen rational und rechtlich begrenzten 27 Platz einzuraeumen. Diesen so beschraehkten Willen nennt sie, im Gsgensatz zu Stirners rechtlosem "eigenen VJillen", entv.eder

"unseren Willen" oder, im Sinne des Stirnerschen Gegensatzes zwischen

"Eigenheit" und "Freiheit", auch den "freien Willen".^ Um es sich und Stirner nur ja recht zu machen, stellt sie ein synthetisches

Prograinm auf, zu dem die Haelfte ihrer Lieblingsschlagworte herhalten muss:

Ich will eben meine Eigenheit auslassen koennen. Ich will meine liraefte nicht dem Willen eines Anderen unterworfen wissen ... Im Menschen erkenne ich ... den freien V.'illen an, der nicht ... einem unbewussten Drang unterworfen ist, son­ dern seinem Urteil sich ueberlaesst ... Das ist der Gedanke, den das Wort der Mensch umschliesst, dass sie [sic] zu der Aufgabe, hier auf der Erde, immer gluecklicher und bequemer ihrem Naturtrieb nach zu bestehen, zu ihrem eigonsuechtigen notwendigen Vorteil sich mit ihrem freien Willen vereinigen koennen. (Aufl., B. 212 f.)

^ oelbst "Macht" und "Gewalt", die Stirner als Manifestationen des Willens ruehmt, laesst Bettina gelegentlich, natuerlich in recht- licher Begrenzung, gelten: "Du hat einen Magen; Du hast Beduerfnissej Du hast nach Deiner Bemuehung, diese zu befriedigen, auch Deine Macht und Deine Macht zu sein und zu bleiben" (Aufl.. S. 210); oder "Gewalt ist schon etwas v/ert. Gewalt ohne unser Recht, d.h. unser wahres Recht kann nur zu unserm Schaden sein." (Aufl.. S. 217)

Mit dem theologischen "freien willen" hat dies natuerlich nicht das Geringste zu tun, wie aus all dem bereits Ausgefuehrten wohl her- vorgeht. 62

Die "Angrenzungen oder natuerlichen Gesetze", die Bettina gewahrt

wissen will, liessen sich "auch begreifen unter dem Titel 'Allumfas-

sende Bedingungen fuer die groesstmoeglichen Vorteile unserer freien

Viillensnaturen:" (Aufl.. S. 229 )• Dieses materialistisch-utilitaris-

tisch-empirisch-rational-freiwillige Egoistenrecht sei freilich bisher

noch nicht richtig verstanden worden; so wenig wie Sokrates oder seine

Richter davon ein "Bewusstsein" gehabt haetten, so wenig seien die

Menschen bisher "zum Bewusstsein, um sich selbst Grenzen zu stecken,

aber nicht Gespenster" (Aufl.. 3. 236 und 235) gelangt:

Wenn von "ewigem Menschenrecht" die Rede 1st, so kann es doch erst jetzt mit Bewusstsein vom Menschen entwickelt sein. Es macht sich also ... wie "ein Mann", der sich selbst leitet, gegen ein Kind geltend ... (Aufloesung. S. 224 )

Es laesst sich begreifen, dass Bettina schliesslich den volunta-

ristischen und irrationalen "Einzigen" noch zum Idealisten stempelt.

Denn wie seltsam-unklar Bettina auch zuweilen ueber das egoistische

Menschenrecht spricht, es ist jedenfalls auf Materialismus gegruendet: der menschenzerstoerende "Unmensch" muesse "bedenken, dass wir auf der

Erde leben und einen Koerper dazu noetig haben" (Aufl.. S. 220). "Der

Mensch ist nicht bloss eine Idee, er ist auch von erdigen Btoffen",

lautet das Motto des Essays. "Das Recht ... vom Einzigen" aber ist

"die Macht des Kampfes" (S. 57); dieses sein einziges "Gesetz" der

Macht, so resumiert Bettina in den 3clilus3worten ihres Aufsatzes, wolle der "Einzige" bis zum "aergsten Kampf" ausgedehnt wissen, "wie

es beim Geist allein wohl richtig waere" (3. 43). Besonders stark

treten Bettinas Vorwuerfe gegen den wahnsinnig-wirklichiceitsfremden

Idealiemus des "Einzigen" am Ende ihres Essays hervor (Aufl., 3. 248 f.) 63

An jener Stella, wo der ’’Einzige" gegen den Be griff der"Wahrheit" sowie gegen die junghegelianische "Kritik" polemisiert, die alle

Begriffe in "menschliche" und ’’unmenschliche" zerlege, beruft sich

"der Mensch" mit verzweifelter Monotonie auf seinen eigenen, fast 29 raechanischen Materialismus und seinen ethischen Relativismus.

East in jedem Satz kommt das Wort "Wirklichkeit" (als Kriterium der "Vnahrheit") vor; selbst die "Kritik" der Junghegelianer wird dabei als wesentlich empirisch hingestellt. Stirner hingegen sei wesentlich idealistisch, er sei von einer wohl gar originalitaets- suechtigen "Ichheits-Idee" besessen. In diesem fortstroemenden

Verzweiflungserguss veraendert Bettina - vielleicht unbewusst - einmal auch den Text Stirners auf sehr bezeichnende Weise: sie laesst den "Einzigen" sagen: "Nicht der Mensch ist das Mass vom allem, sondern das [sic] Ich ist dieses Llass."Ber Ausdruck "das

Ich" wuerde zwar noch lange nicht den Idealismus Stirners beweisen, aber stirner scheint ihn ueberhaupt zu vermeiden und hat ihn an der betreffenden Stelle auch gar nicht benutzt. Die Btelle heisst bei

Stirner tatsaechlich: "... dass nicht der Mensch das Mass von allem, 30 sondern dass Ich dieses Mass sei"I [Meine Unterstreichung].

' "Das Denken der falschen Ideen wird uns allerdings beherrschen, aber um zu dem Kichtigen zu kommen, muessen wir ... probenmaessig ver- fahren ... Das ist eben unsere Arbeit, so gut. wie wenn wir den Gedan- ken zu einer Maschin© fassen." (Aufl.. B. 24-8)

^ E.u.s.E.. B. 364-. - Aufl.. B. 248. 6<4

Ehe wir nun Bettinas "otirner-Bild" einer zusammenfassendon

Eetrachtung unterziehen, sei bemerkt, dass es auch annaehernd so

etwas gibt wie ein Bettina-Bild Stirners. Stirner hat naemlich in

seinem Abschnitt "Meine Macht" u.a. eine Stelle aus Bettinas w'erk

Dies Buch gehoert dem Koenig kritisiert, uebrigens auf ziemlich

freundliche und ausfuehrliche '.ieise (S.u.s.S., S. 204- ff.). bar es

Zufall, oder fushlte Stirner, dass der lcritisierte Fassus Bettinas

dsn Punkt umschrieb, v/o Bettina von seinen eigenen Anschauungen am

entschiedensten abv/eichen mochte? Die von Stirner kritisicrte

Stolie Bettinas handelt jedenfalls vom Verbrecher und dem Verbrechen,

also von Begriffen, mit denen man recht gut den Hauptgegensatz be-

zeichnen koennte, den wenigstens Bettina spaeter, in Ihrer Aufloesung

zv/ischen sich und Stirner legte. Zwischen den beiaen Schriften Bet­

tinas liegt das Erlebnis "Stirner". Bettinas Meinungen haben sich

geaendert. Sie beruft sich nicht mehr auf die Ivienschheit und den Staat,

sondern auf den Egoismus; in dor Aufloesune ist Bettina betont ich-

bewusst und antiidealistisch, - aber ob sich dennoch gewisse Grund-

anschauungen bei ihr geaendert haben, ist m 3 , etv/as fraglich. Stirner

haelt Bettina fuer eine optirnistische "Fhilanthropin, eine Menschen-

begiueckerin", die mit den bestehenden politischen und sozialen Ver-

haeltnissen unzufrieden sei, aber genau so idealistisch donke wie ihre 31 reaktionaeren Gegner; in dor Aufloesung praesentiert sich Bettinas

"Mensch" als Philegoist, der aus purem Ernpirismus alien Menschen Glueck

° 1 E.u.s.E.. S. 206. - Vgl. auch E.u.s.E.. S. SO f.: "Philnnthropismus ... [ist] nichts als eine Liebe des Menschen, des unwirklichen Begriffs, des Spules ..." 65 und Lust verschaxfen will. Allerdings gibt Stirner zu, dass in

Bettinas Koeniesbuch auch eine merkliche antiidealistische und egoistische Denkweise zu spueren sei, die jedoch in Konfusion und

Kompromiss steckenbleibe; diese Bemerkung ist in Bettinas Aufloe- sung aus e.inem laengeren Zitat des "Einzigen" uebrigens ganz weg- gestrichen. Bettinas Artikel klingt wie ein Protest gegen die.se

Bemerkung Stirners: sie will sich und ihm zeigen, dass sie nicht im mindesten abstrakt idealistisch denke, sondern dass sie viel- mehr ihn, den "Idealisten" Stirner, im Punkte des Ernpirismus und

Egoismus durch Vernunft und gesunde Logik uebertreffe, Es bleibe dahingestellt, ob durch ihr verallgemeinernd-humanisierendes Ben- lcen nicht doch noch einige kompromisslerische Konfusion hindurch- schimmert.

Betrachten wir schliesslich Bettinas Stirner-Bild. Zunaechst faellt auf, dass es sich um ein Doppelbild handelt. Die zwei Haelf- ten von Bettinas Stirner-Bild werden durch Licht und Schatten, d.h.

Lob und Tadel Bettinas meist sehr deutlich gemaeht; obendrein ver- koerpert eine aparte i’igur, der "Mensch", die lobenswerte Seite von

Stirners Doppelbild an sich.

Dieses Doppelbild, das sich Bettina so gut lie viele ihrer

Zeitgenossen von Stirner als dem "Antihumanisten" und "Ultrahumanis- ten" machte, dient zwar derselben Funktion wie alle aelinlichen Doppel- bilder Stirners: es soil Licht ueber den junghegelianischen Humanismus verbreiten. Aber Bettina bewertet anders als die Autoren der anderen

Stirner-Bilder: sie will den junghegelianischen Humanismus - gar die

Ideen ihres Freundes Bruno Bauer - weder widerlegen noch blosstellen, 66 sondern ausbauen. Sie benutzt ausgiebig Stirners Kritik des jung­ hegelianischen Humanismus, um diesen zu reinigen. Stirner hatte

dessen spekulativ-idealistische Formen getadelt; Bettina beseitigt diese Elements. Und andererseits benutzt sie ebenso ausgiebig den

"Ultrahumanismus" Stirners, also Stirners eigene, von Bettina im

Sinne des Humanismus gedeutete Ideen, um den junghegelianischen

Humanismus konsequent zu machen mid durch den Egoismus zu verstaer- ken. Um nun das Doppelbild Stirners darzustellen. benutzt Bettina

zwei Figuren, die, bei notwendigerweise etwas verfliessenden Gren- zen, ungefaehr den zwei Haelften des "Doppelbildes Stirner" ent-

sprechen. Der von dem "Einzigen" so abgetrennte "Mensch" entspricht vollkommen der ultrahumanistischen Haelfte des Stirner-Bildes.

Der "Mensch" ist ein Egoist und Humanist. Er denkt empirisch, utilitaristisch, eudaemonistisch (auch hedonistisch), materialistisch und rationalistisch. Er fuerchtet oder verachtet vor allem den Vi'il-

len, den Kampf, die Gefahr, die Selbstentfaltung, soweit sie unbe-

quem ist, den Irrationalismus, den Geist und die Geister. Er ist auf ein irdisches und materielles Leben und Fortbestehen, auf Essen, auf Vorteil, Glueck und Bequemlichkeit bedacht. Sein Hauptanliegen

ist es, durch ein entsprechendes Naturrecht den Schutz dieses fried-

lichen Egoismus zu gewaehrleisten. Er haelt eine egoistische, recht-

liche, aufgeklaerte Menschengemeinschaft filer noetig und nuetzlich.

Er kritisiert alle Idealisten, auch die idealistischen Humanisten.

In freilich ailattantischer Vergroeberung hat Bettina ihn zu einem

konsequenten Stirner gemacht, der seine andere, schlechtere Haelfte,

den "Einzigen", immer zur Nachahmung und Selbstbesinnung auffordern 67 muss. Er ist der ultrahurnanistische Stirner in groesster Verwaes- serung.

Der "Einzige" wieder ist auch nicht mehr als eine Haelfte von

Stirner, wie ihn Bettina versteht. Was er zu sagen hat, entspricht zwar, wenn nicht immer im Detail, so doch im Ganzen, dem Text von

Stirners E.u.s.E.. Stirners Text wird aber erst durch die Kommen- tare des "Menschen" internretiert. wodurch der "Einzige" einen oft wenig stirnerischen Character erhaelt. Der "Mensch" erkennt im

"Einzigen" den geistigen Vater an; daher wird der ,lEinzige" unter

Berufung auf seine eigenen Anschauungen von seinem getreuen Zoeg-

ling immer entweder zu folgerichtigem Denken aufgefordert oder dem-

entsprechend korrigiert; der "Einzige" hat also auch einesteils die verschwommenen Zuege der ultrahumanistischen Haelfte des "Doppel-

bildes Stirner" an sich. Aber vor allem ist er doch der W'iderpart des "Menschen", also die antihumanistische Seite des "Doppelbildes

Stirner". Hierbei hat Bettina vom "ganzen", naemlich authentischen

Stirner weggeschnitten, hat uebertrieben und uminterpretiert. Ihre misstrauische Angst hat den Antihumanisten Stirner ebenso vergroebert, wie ihre Bev/underung den Ultrahumanisten Stirner vergroebert hatte.

Der "Einzige" ist ein antihumanistischer und daher oft auch nicht genuegend egoistischer Egoist, d.h. ein nicht genuegend utili- taristisch, materialistisch, rational und empirisch denkender Egoist.

In ihm steckt ein lebensgefaehrdender Voluntarist, wohl auch ein verkappter Irrationalist und Idealist. Er sucht eigentlich nur

Kampf und Zerstoerung; er ist nicht auf Selbsterhaltung bedacht,

sondern auf Selbstverbrauch und "Selbst-Genuss". Er ist eigentlich ueberhaupt nicht bedacht, sondern ein Knecht seiner blinden Will- kuer, seiner "Ichheits-Idee", vielleicht gar seiner Originalitaets- sucht. An den wahren, durch die materielle Wirklichkeit bedingten, der aufgeklaerten Vernunft erkennbaren Vorteil denkt er in seinem

Wahnwitz nicht; daher erkennt er das Katurgesetz, das Menschenrecht der respektvollen Gchonung nicht, daher bedroht er jede pazifisti- sche und hedonistische Gemeinschaft. Wenn er nicht noch Vernunft anniiiimt, muesste man ihn ebenso eliminieren, vjie die Tyrannen der obskuren Vergangenheit. Robert Giseke, Moderne Titanen

Im Jahre 1850 erschien der anonyme Roman Moderne Titanen. Kleine

Leute in grosser Zeit. d'er bald beim Publikum und auch bei einfluss- reichen und massgebenden Persoenlichkeiten der literarischen Welt

Aufmerksamkeit fand. Drei Jahre spaeter erschien die "2. durchgese- hene" Auflage des Werkes; der Untertitel, der mancherlei Kommentar hervorgerufen hat, war veraendert, und der Autor nannte sich beim

Namen: es war der junge Schlesier Robert Giseke (1827-1890). Es ist diese 2. Auflage, Moderne Titanen. Ein Roman der Gegenwart. auf die sich die vorliegende Untersuchung stuetzt.-*- 2 Nur eine ziemlich kurze Zeit des Schaffens war Giseke vergoennt, in der er jedoch eine betraechtliche Anzahl von Werken verfasste.

Keines von diesen erreichte aber den Erfolg seines ersten Romans, dem noch in neueren Literaturgeschichten oefters ein bescheidener,

Robert Giseke, Moderne Titanen. Ein Roman der Gegenwart. 2., durchgesehene Auflage (Leipzig, 1853). Das Werk wird im folgenden als "M.T.11 zitiert. - Da mir die 1. Auflage unzugaenglicfc geblieben ist, kann ich nicht feststellen, inwieweit sich die 2., "durchgese- hene" Auflage von ihr unterscheidetj der gewoehnlich gut informierte Rudolf Gottschall bespricht in seiner Uationalliteratur die 1. Auf­ lage und bemerkt, dass Giseke das Werk "wie wir erfahren, spaeter umgearbeitet hat", da die "ungenuegende Form nicht die Bedeutung des Inhalts" erreichte (Rud. v. Gottschall, Die deutsche Mationallitera- tur des 19» Jahrhunderts. 6. Aufl., Bd. IV, Breslau, 1892, S. 525). Es muss angenommen werden, dass die 2. Auflage die Frucht dieser "Umarbeitung" ist. - Der laut Walzel (Die deutsohe Dichtung seit Goethes Tod. Berlin, 1919, S. 76) "bezeichnende Untertitel" Kleine Leute in grosser Zeit wurde von Hebbel beanstandet, was Giseke vielleicht zur Aenderung bewog. 2 Das letzte Vierteljahrhundert seines Lebens verbrachte Giseke in verschiedenen Irrenanstalten.

69 70 3 aber nicht unruehmlicher Platz eingeraeurat wird: er gilt als einer der besten Repraesentanten des Zeitromans in der Epoche, die etwa bei den sogenannten Jungdeutschen beginnt und etwa mit dem Natura- lismus schliesst. In aelteren Literaturgeschichten, die noch zur

Zeit von Gisekes voller Schaffenskraft erschienen, wird der Roman entsprechend ausfuehrlicher behandelt, so z.B. in den Literatur­ geschichten von Prutz und Gottschall. Erwaehnenswert sind auch ein- gehendere Spezialartikel. Holtei, der offenbar seinen jungen Lands- mann protegierte, wandte sich im Dezember 1850 an Hebbel mit der

Bitte um eine empfehlende Kritik. Hebbels Aufsatz, der schon am

10. 1. 1851 im Wanderer (Wien) erschien,^ duerfte somit die frueheste

Arbeit sein, die sich mit Gisekes Roman genauer befasste. Ein wenig spaeter versuchte St.-Rene Taillandier in der Revue des deux mondes auch die Aufmerksamkeit des Auslandes auf das Werk zu leriken: er be-

^ Bei Oskar Walzel, Julian Schmidt, etc, H. Bieber, Der Kampf um die Tradition. (Berlin, 1928),S. 472, hebt hervor, dass Spielhagens Problematische Naturen sich an Gisekes M.T. enger anlehnen als an Gutzkows Ritter vom Geist. Tatsaechlich gehoeren diese beiden Romane, wie auch etwa Auerbachs L'eues Leben. zu den wichtigsten "Zeitromanen der Besinnung".

^ Friedrich Hebbel, Saemtliche Werke. ed. R, M. Werner, Krit. Aus- gabe, XI, 371-374. Vgl. dazu Ibid.. Briefe. IV, 255 und 260, sowie VIII, 83 f. - Da in vorliegender Arbeit nicht naeher auf den Einfluss Stirners in Oesterreich und besonders im Kreis um Hebbel (Siegmund Englaender, etc.) eingegangen werden kann, sei hier wenigstens auf die Hebbel-Biographie von Emil Kuh, Hebbels langjaehrigem Freund, ver- wiesen, wo Stirner mehrfach erwaehnt wird. Die Arbeit wurde bereits 1869 begonnen, -und Kuh starb 13 Jahre bevor Mackay auf Stirner hin- zuweisen begann. Um den Redakteur des Wanderer (Ernst v. Schwarzer) zu charakterisieren. verweist Kuh auf Stirners Philosophie und zi- tiert auch (ungenau) einige Saetze aus dem E.u.s.E. (Emil Kuh, Bio­ graphic Friedrich Hebbels. 3- Aufl., Wien, 1912, II, 357. - Die zitierten Saetze finden sich im E.u.s.E.. S. 364.) 71 5 sprach eine Reihe moderner deutscher Romane, wobei er die anonymen

Modernen Titanen sehr gluecklich in Verbindung brachte mit Werken wie Auerbachs Meues Leben. Gutzkows Ritter vom Geist oder Gotthelfs

Zeitgeist und Bernergeist.

Gisekes auch heute noch sehr lesbarer Roman gehoert zu den zahlreichen Werken jener Zeit, in denen philosophische Abrechnung gehalten wird mit der radikalen Vergangenheit - des Autors und sei­ ner dichterischen Gestalten. Die enttaeuschten Intellektuellen, die republikanischen und sozialistischen Freiheitsphilosophen entwarfen zurueckhaltendere Plaene, oder schworen wohl alien Freiheitstraeumen ab und gingen ernsthaft oder in momentaner Verzweiflung zur Philo- sophie von "Thrcn und Altar11 ueber. An der Macht der "Praxis" war die freiheitstrunkene "Theorie" gescheitert, die einst in verschie- denen Abschattierungen von "Jungdeutschen", politischen Lyrikern und

Junghegelianern so siegesgewiss verkuendet worden war: diese Tatsache forderte Klaerung, Selbstbesinnung. Auch wo die Einkehr nicht zur

Umkehr wurde, auch wo man weiterhin, wie Auerbach oder Gutzkow, auf ein"Neues Leben" als "Ritter vom Geist" hoffte, fehlte es niemals an Selbstbeschuldigungen, - man warf sich vor, oberflaechlich oder einseitig gedacht zu haben. Giseke, wie so mancher andere ehemalige

Radikale, ging aber noch viel weiter: seine bittere Enttaeusehung machte ihn, so scheint es, zum Renegaten. Wenn Hebbels im allgemei- nen recht anerkennende Kritik immer wieder Gisekes Mangel an Objekti-

5 St.-Rene Taillandier, "ivlouvement litteraire de 1 ‘allemagne. I. Le roman et les romanciers", Revne des deux mondes 1853/1, 516-54-2. Der Artikel behandelt ausser Romanen auch Eichendorffs Studie ueber Roman und Christentum. 72 vitaet ruegt, so zielt dieser Tadel sowohl auf den bekenntnishaften

Charakter des Romans wie auf dessen scheinbar reaktionaere Tendenz.^

Ein weiterer Unterschied zwischen Gisekes Werk und den erwaehn- ten Romanen von Auerbach und Gutzkow haengt mit diesen verschiedenen

Haltungen zusammen. Auerbachs und Gutzkows Werke spielen in den

Jahren nach der Revolution; die Zeit der Pruefung und Selbstpruefung ist vorbei, sie erscheint nur in Rueckschau. bennoch lastet ueber diesen Werken eine Atmosphaere der Gedruecktheit, der Flucht: der gepruefte Liberalismus entwirft neue, tiefere, unterirdische Zu- kunftsplaene, die aber vorlaeul'ig nur im Verborgenen fortwuchern koennen (Auerbachs demokratischer Edelmann, der zum Dorfschullehrer wird; Gutzkows Geheimbund der Geistesritter). Gisekes Roman dagegen schliesst mit der Wiener Oktober-Revolution und der Hinrichtung des

Helden; nur die mit ernster Ironie vorgetragenen letzten Zeilen er- waehnen die zukuenftigen, maennlich gefestigten Ansehauungen einer unsympatischen Nebenfigur. Nicht geheime Gegenwarts- und Zukunfts­ plaene beschaeftigen Giseke, noch gar die Schilderung des reaktionae- ren Bruckes, sondern einzig die Abrechnung mit der Vergangenheit, -

^ Hebbel spricht einerseits von einer "Konfession in Ghiffern", andererseits von einem Schiffbruechigen, der sein gesunkenes Schiff verfluche und den Felsen, auf den er sich rettete, allzusehr preise. Hebbels Urteil war nicht ganz so freundlich wie das Von Prutz("Giseke ist einer unserer gewandtesten und geistreichsten Erzaehler"), er meint aber doch, dass ausser George Sand kein Autor "des sogenannten modernen Romans" Giseke uebertreffe. Holtei war mit Hebbels Artikel offensichtlich zufrieden und schickte ihn sofort an Giseke weiter (vgl. A.a.O.. VIII, 84). 7 Nicht die Hinrichtung des Helden schliesst das Werk ab, sondern die neuen Phrasen eines ueberlebenden feigen Phrasendreschers. Auch in dieser bitteren Nilchternheit seheint sich Gisekes grimmige Hass- liebe fuer die ewig verratene Revolution zu aeussern. 73 mit den Philosophien der Vergangenheit. Daher ist in seinem auch an gluecklichen Situationsschilderungen reichen Werke den philosophischen

Exkursen und Diskussionen ein sehr viel groesserer Platz zugemessen g als in den Romanen Gutzkows oder Auerbachs. Eine bunte Vielfalt von

Figuren zieht vorueber, die irgendwie die Welt der revolutionaeren 9 Philosophie repraesentieren. In der Unzulaenglichkeit ihrer Charak- tere und ihrer Ideen, in ihrer philosophischen und persoenlichen

"Frivolitaet" und "Genialitaet" - zwei Lieblingsworte Gisekes - sucht er den Grund des Scheiterns der Revolution: die "modernen Titanen" sind "kleine Leute in grosser Zeit".

Der eben erwaehnte, in der 2. Auflage fallengelassene Untertitel verraet jedoch schon, was auch das Werk selbst zeigt: dass Giseke bei der Niederschrift des Romans noch immer mit einer gewissen Liebe zu- mindest auf die Revolution zurueckbliekte; und wie sein Werk ferner zeigt, ist fuer ihn jene "grosse Zeit" untrennbar mit den Ideen der 10 "kleinen Leute" verbunden. Giseke verschweigt auch nicht gerade, dass er letztlich in der Macht des Polizeistaates, in den preussischen

Festungen, in den Kanonen des Eroberers von Wien die entscheidenden,

Dieser Umstand wurde z.B. von Prutz bemaengelt, von Gottschall als innere Notwendigkeit verteidigt. Q 7 In der Zeichnung mancher Haupt- und Nebenfiguren beweist Giseke grosses Geschick. Doch der mehr molluskenhafte als zersplitterte Charakter des Helden scheint in der Ausfuehrung verfehlt zu sein.

Prutz proteatiert sogar ausdruecklich gegen diesen "inneren Zusam- menhang" zwischen dem "philosophiseh-theologischen Radikalismus" und der Revolution; "der ... Zusammenhang ... moechte ... wohl kaum so er- heblich sein, als gemeiniglich geglaubt wird und als namentlich die Anhaenger jener raaikalen Schule selbst sich ruehmen." (Die deutsche Literatur der Gegenwart, 2. Auf]., Leipzig, 1860, S. 202j^ Ik unueberwindlichen Hindernisse sah, die sich den philosophischen

Traeumen immer aufs neue entgegenstellten. Gisekes Hassliebe huellt sein Werk in ein gewisses Zwielicht; sein bitteres, realistisches

Gemaelde gibt keine Antworten: keine fuer die Zukunft, keine unzwei- deutige fuer die Vergangenheit.

Die allgemeine Tendenz ist jedoch klar: die revolutionaeren

Philosophien - und mit ihnen eben auch die Revolution - sollen verurteilt werden. Giseke bemueht sich daher, seinem Werke soviel realistisches Kolorit als moeglich zu geben. Man hat seinen Roman oefters, und nicht ganz zutreffend, einen "Schluesselroman" genannt.

Frutz beklagt sogar den unkuenstlerisch uebertriebenen Realismus, mit dem Giseke genaue "Portraets" von "gewissen literarischen

Kreisen und Persoenlichkeiten jener Zeit" geliefert habe; seit

Giseke "mit diesem 'Doctor Horn' ... und aehnlichen Piguren debutier- te, in denen er in leichter Verhuellung bekannte Persoenlichkeiten

... darstellte", haetten "auch sehr beruehmte und namhafte Schrift- steller" dieselben "schluepfrigen V/ege" beschritten (a.a.O.. S. 202 f).

Der hier von Prutz erwaehnte "Dr. Horn", der wichtigste Philosoph und die zweitwichtigste Figur unter den maennlichen Gestalten des

Romans, "war" nun fuer Gieseke und fuer sein Publikum ganz eindautig

Max Stirner. Die Technik, die Giseke hier, wie auch bei anderen

"Portraets" seines Romans, verwendet, ist ueberaus simpel: die "be­ kannte Persoenlichkeit", die hinter dem Philosophen Louis Horn steckt, wird u.a. so "angedeutet":

Der Drang seines Geistes, immer radikal zu sein ... bildete die Gesinnungslosigkeit zum System aus ... das Genie ist der Geist und Doktor Horn ist das Genie; ergo: Ich, Doktor 75

Horn, bin der Zweck von Allem. Er sah sich an als den Einzigen und die Welt als sein Eigentum. (M.I.. II, 13 )

Giseke wuenschte natuerlich, dass das Lesepublikum - auch wo Stirners

Ideen besser als durch blosse Schlagworte bekannt waren - Horn mit

Stirner vollstaendig identifizieren solle. Wer mit Stirners Ideen,

Leben, Aussehen, Alter, etc. nicht genauer vertraut war, konnta kaum umhin, das innere, aber auch aeussere Leben von "Dr. Horn" fuer ein

"genaues" Portrait, und den so realistischen Roman fuer einen genauen

"Schluesselroman" zu halten. Wer zufaellig besser informiert war, musste zumindest eine beabsichtigte Aehnlichkeit zugeben. Auch Gott- schall, der in Stirners Haus freundschaftlich verkehrte - und der

Horn als den Haupthelden des Romans betrachtete - wies auf die Aehn- 11 lichkeit der Ideen Horns und Stirners hin.

Es versteht sich, dass die Lebensschicksale Horns und Stirners sich nicht genau entsprechen konnten; denn Stirner lebte noch, als der Roman erschien, worin sein Doppelgaenger - und zwar als Selbst- 12 moerder - stirbt. Es muss aber immerhin zugegeben werden, dass

"... bis zur Portraitaehnlichkeit ... sein blasierter Hauptheld Horn ist in der Tat nur ein fleischgewordener Max Stirner, und der Bankrott aieser Philosophie des Egoismus ist in schlagender Weise aus- gefuehrt." (Gottschall, a.a.O.. IV, 526).

12 Stirner starb sechs Jahre spaeter an Blutvergiftung infolge eines Mueckenstichs. An die Art seines Todes scheint sich eine klei- ne Legends geheftet zu haben: mehrere - nach Mackays Stirner-Biogra- phie erschienene! - Werke behaupteh, Stirner habe durch Selbstmord geendet. So z.B. George Catlin, The Story of the Political Philo­ sophers (New York und London, o. J. [1939]), S. 527. So auch in dem merkwuerdigen Buch von Ivan v. Simonyi, Die Schopenhauer-Pilosofas- terei. eine Ursache und ein Faktor des Nihilismus und Anarchismus. und die einzigen Gegenmittel gegen die Letzteren. Aus dem Tagebuche eines Laien. Als Manuskript gedruckt (Poszony, 1903)"," S. 'l5A: "Uebrigens hat Kaspar Schmidt den Nihilismus und Pessimismus [sicl] den er predigte ... wenigstens betaetigt. Er starb im Jahre 1856 in seinem 50. Jahre als Selbstmoerder." Diese Erfindung ist wohl 76

Giseke sich irgendwie genuegend Kenntnis von Stirners Ideen und sogar von seinem Leben verschafft hatte, um auch dem genaueren

Kenner der Verhaeltnisse die Identitaet Stirner-Horn plavisibel 13 erscheinen zu lassen. Es ist einfach nicht mehr auszumachen, ob Giseke direkte Bekanntschaft mit Stirner und dessen Buch hatte, oder nicht; mit radikalen Gesellschaftskreisen und Ideen im allge- meinen Bar er jedenfalls wohlvertraut. Die Authentizitaet seines

Dr. Horn muss im Dunkel bleiben, da im Roman sehr Ueberzeugendes mit offensichtlich Unwahrscheinlichem - und mit ganz Unmoeglichem -

Hand in Hand geht. Giseke koennte gut Bescheid gewusst und aus einer gewissen Diskretion heraus manche Umstaende abgeaendert ha- ben; oder er mochte andererseits, und oft geschickt, seirer Unkennt- nis der Tatsachen durch Benutzung guter Quellen nachgeholfen haben.

Die zweite Annahme ist viel wahrscheinlicher. Zunaechst sind gewisse Unebenheiten im Roman ziemlich auffaellig:ausgezeichnet ge- schriebene philosophische Exkurse wechseln mit Plumpheiten und Wie- derholungen, die die Fluechtigkeit des jungen Schnellschreibers verraten. Dann aber laesst sich auch zumindest eine Quelle nach- demselben Gefuehl entsprungen, das Giseke trieb, seinem "nihilisti- schen" Philosophen diesen einzigen Ausweg vorzuschreiben; doch ist es nicht unmoeglich, dass der Roman ein Geruecht von Stirners Frei- tod geschaffen oder genaehrt hatte, das spaeter v/ieder aufgegriffen wurde, etwa von Leuten, die den Roman, aber nicht Mackays Biographie kannten.

13 Uebereinstimmungen in den Lebenslaeufen von Horn und Stirner waeren etwa: sie waren beide SchuILehrer, die ihre Stelltmgen (aus verschiedenen Gruenden) aufgaben; ihre Studien nahmen aus finanziel- len Gruenden ein vorschnelles Ende; ihre Ehen waren ungluecklich; etc. Andere Uebereinstimmungen wieder sind weniger erstaunlich; auch die Uneingeweihtesten wussten um Stirners Verhaeltnis zu doi Berliner "Freien", etc. 77 weisen, aus der Giseke tatsaeehlieh eine ganze Reihe von Dingen woertlieh abgeschrieben hat, die seinem Werk eben die "realistische"

Atmosphaere zu geben geeignet waren. Diese Quelle ist Bruno Bauers

Werk Die buergerliche Revolution in Deutschland seit dem Anfang der deutsch-katholischen Bewegung bis zur Gegenwart (Berlin, 18A9).

Diese Abschreibungen beziehen sich nun nicht nur auf philosophische

Diskurse, sondern auch auf Dinge, die Giseke sozusagen als eigene 1A Anschauungen oder Darstellung bietet.

Dieser Umstand wirft einige Zweifel auch auf die Authentizitaet des Charakters von Gisekes "Louis Horn" - und wohl auch auf Gisekes

Vertrautheit mit Stirners E.u.s.E. Schon die Argumentationskette, mit der Giseke in dem oben angefuehrten Zitate seinen Philosophen bei dem Begriff des "Einzigen und seines Eigentums" anlangen laesst, hat mit Stirner nichts zu tun. So wie das Leben und wohl auch der

Charakter von Louis Horn nicht allzuviel mit dem Leben des Mannes

Johann Kaspar Schmidt gemein haben, so aehnelt auch die Philosophie

Horn3 nur in grossen Zuegen der Stirnerschen Weltanschauung, ohne sich mit ihr gerade in den wesentlichen Punlcten zu decken. Die wichtigste Diskrepanz laesst sich leicht aus der polemischen Tendenz des Romans ableifcen: Horn, so wie auch Ernst Wagner, der Held des

Romans, ist ein Gemisch aus verschiedenen Philosophien.

Giseke wollte ja, wie erwaehnt, Abrechnung halten mit der gan- zen "Welt der revolutionaeren Philosophie", - mit alien radikalen

So Z.B. die Rede, die der "Prophet" der Berliner Junghegelianer (i.e. Bruno Bauer selbst) in ihrer Stammkneipe haelt (M.T.. I, 237 f.), der Text imd die Details des Hymnus auf Joh. Ronge (ibid.. Ill, 5l), der Zeitungsartikel vom 1A. Maerz 18AS (ibid.. Ill, 269), etc. 78

Ideen des Vormaerz. Gewiss waren deren Grenzen fliessend, und Ueber- gaenge konnten leicht gemacht werden, wie etwa die vielfache Annaehe- rung der urspruenglich verfeindeten "Jungdeutschen" und Junghegelia- ner zeigt. Aber so wesensaehnlich, so leicht amalgamierbar waren diese Ideen doch nicht, wie in der unbekuemmert polemischen Darstel- lung Gisekes als selbstverstaendlich hingestellt wird. Und Stirner gar, dan Giseke zum Repraesentanten wenigstens der wichtigsten Aspekte dieses buntgescheclrten und unfaehigen Radikalismus machen will, unter- scheidet sich von den anderen radikalen Philosophen auf so betraecht- liche Weise, dass Gisekes Wahl befremdlich erscheint und bezeich- nend - fuer Gisekes Vorstellung von Stirner. Aber Giseke ist nicht geneigt oder faehig, zwischen den Radikalen zu differenzieren.

Eigentlich die einzige Unterscheidung, die er trifft, bezieht sich auf die Frage des Besitzes: er kontrastiert buergerlichen und prole- tarischen Radikalismus, und verurteilt vor allem den ersten. So stellt er ohne weitere Differenzierung auf die eine Seite etwa Jung- hegelianismus, kritische Bibelforschung, Jungdeutschtum, ein bischen idealistische Philosophie, Emanzipation des Fleisches, - eine Gruppe also, die eine Mischung von steril-hochmuetiger Spekulation, atheis- tischem Republikanismus und sensueller "Frivolitaet" repraesentieren soil. Ihr gehoeren "alle jugendlichen Koepfe" Deutschlands an

(M.T.. I, 84-). Ihr Zentrum liegt in der "Hippelschen Weinstube" - der historischen Stammkneipe der Berliner Junghegelianer, der "Frei- en" — tind ihre schwachen Ausstrahlungen reichen bis zu den jaemmerlichen

Pfeffersaecken der "Bourgeoisie" der "Provinzstadt" (mit der Breslau gemeint ist), oder bis zu dem satyrhaften demokratischen Kantor in 79

Ernst Wagners fieimatdoerfchen. Ihr symbolischer Repraesentant ist

Horn-Stirner. Auf der anderen Seite stehen Ideen, auf die Giseke etwas weniger ergrimmt scheint und die er daher viel weniger inten- siv behandelt: der Kommunismus und die mit ihm verbundenen radikalen

Auslaeufer des Deutsch-Katholizismus; ihr Zentrum liegt in der frei- en Gemeinde, die Ernst Wagner in derselben "Provinzstadt" schliess-

lich gruendet.

Es muss also festgehalten werden, dass Horn - der von Stirner vor allem die Philosophie des Egoismus und einen gewissen psycholo-

gischen Scharfblick geerbt hat - zum Symbol zwar nicht aller, aber

doch der fuer Giseke entscheidenden radikalen Philosophien gemacht wird, zum Symbol jener ersten Gruppe, die Giseke gewoehnlich als

"junghegelianisch" bezeichnet. Ebenso muss festgehalten werden, dass

dieser "Junghegelianismus" und dieser "Stirner" sich geradezu entschei-

dend fuer die "Emanzipation des Pleisches" und die "Frivolitaet" ein-

setzen. Und so nennt Giseke innerhalb weniger Zeilen Horn einmal

einen "Junghegelianer" und dann wieder einen "Jungdeutschen":

"Pah, da hilft meine ganze Philosophie nicht. Langeweile, Weltschmerz," deklamierte der Doktor, "das ist das Leiden des Zeitalters. Die Ehe und die Polizei sind daran Schuld. Kuriert die Welt von diesen beiden Epidemien, und wir werden gluecklich sein, wie die Goetter." "Wollen Sie so lange warten, Phinchen [i.e. Delphine, Horns Schwarm], bis die Welt aus lauter Junghegelianern besteht?" frug Cesar mit leichtem Spott ... "Bei Gott, ich moechte des Doktors jungdeutsche I'heorien an Ihnen zu Schanden wer­ den lassen ..." (M.T.. I, 207)

Gisekes Horn ist eine Fiktion, die auf ein Substrat Stirnerscher

Philosophie aufgebaut ist; und gerade Horns Hauptinteressen - 15 Aesthetik und Erotik - haben mit Stirner so gut wie nichts zu tun. Gisekes Homan besteht aus fuenf Buechern: "Gottes Wort auf dem

Lande", "Berliner Genies" (in zwei Teilen), "Propaganda", "Bourgeois

und Proletarier", und "Gottesurteile". Das in jeder Beziehung wich-

tigste und beste der fuenf Buecher ist das zweite, in dem Horn die

Hauptrolle spielt. Das zweite Buch bildet den eigentlichen Kern

des Romans; sein Ende - der Selbstmord Horns - steht ziemlich genau in der Mitte des ganzen Werkes. Die zentrale Stellung jenes Ereig-

nisses wird auch unterstriehen durch die von den einzelnen Buechern eingefangenen Zeitspannen: das erste Buch spielt im Sommer 1845, das

zweite und dritte Buch im Herbst, das vierte im Winter desselben

Jahres, und das fuenfte springt fast unvermittelt in das Revolutions-

jahr I84.8 . Das lange, zweiteilige zweite Buch umfasst gar nur die

Geschehnisse von etwa 10 Tagen und ist einzig durch den Selbstmord

Horns geschieden von dem dritten Buch, das seiner Kuerze, seiner

Chronologie und auch des Schauplatzes wegen keine Absonderung vom

zweiten Buch benoetigt haette. Da das zweite Buch auch fuer unsere

Untersuchung weitaus am wichtigsten ist, soil irn folgenden Umriss

von den anderen Buechern nur das zum Verstaendnis Allernotwendigste berueclcsichtigt werden.

Ernst Wagner, der Sohn eines Provinzpastors, ist waehrend sei­

ner Universitaetsstudien zum Humanisten und Atheisten geworden. Wie

15 Stirner kaempft zwar ueberall gegen die Tyrannei des "Uebersinn lichen" (d.h. des Geistes, des Absoluten), preist aber nirgends "Sinn lichkeit" als Erotik. Nur eine Stelle seines Werkes, die denn auch zuweilen als "frivol" angeprangert wurde, beruehrt das Thema von un- gefaehr: "... Glanz der Wollust ... Eine freie Grisette gegen tausend in der 1'ugend grau gewordene Jungf ernl" (E.u.s.E.. S. 6 4 ). Vgl. hin- gegen seine Warnung gegen einseitigen Materialismus, ibid.♦ S. 352 et pass. 81 andere Studiengenossen, wie vor allem sein Mentor und engster

Freund Louis Horn (sein "Bruder Titan"), so traeumt auch er von einer baldigen Erfuellung aller emanzipierenden Postulate der neuen Aufklaerung, von einem geistigen Wirken im Dienste der ge- knechteten Menschheit. Diesen Traeumen stellt sich freilich eine harte Wirklichlceit entgegen. Wagner, der sich zu einem immer radikaleren Freiheits- und Gleichheitsapostel entwickelt, nimmt begeistert, mutlos, taeppisch und voellig vergeblich den Kampf gegen die Wirklichlceit auf, sobald ihin dazu Gelegenheit gegeben vdrdj sobald ihn die Umstaende mehr als sein Wallen und Denlcen in die P.olle des Frondeurs draengen. Die Phasen dieses Kampfes bil-

den die Fabel des Romans. Ein philosophischer Essay Ernsts fuehrt

polizeiliche Untersuchung und den Tod seines Vaters herbei und wird so zur brsache von Ernsts politischer Karriere. Er wird

Agent der europaeischen demokratisch-humanistischen Untergrund-

bewegung (der "Propaganda"), deutsch-katholischer F'rediger, gruen-

det eine komrnunistische "freie Gemeinde", geraet ins Zuchthaus,

entspringt mit Hilfe eines kommunistischen Handwerkers, entgeht mit

dessen Hilfe dem Tod in der Berliner Revolution, wird Freischaerler

in Wien und wird schliesslich, von demselben Handworker denunziert,

als Hochverraeter hingerichtet.

Die Y/irklichkeit - das heisst, Despotie und Ignoranz - ver-

nichtet den schwaechlichen Vertreter einer schwaechlich rebelli-

schen Weltanschauung. Auf ganz andere Weise als der Rebell ’Wagner

sucht sich Horn mit der Wirklichkeit auseinanderzusetzen; auch er 82 scheitert, - vor allem weil er der Vfirklichkeit zu sehr nachgibt.

Seine Philosophie des zynischen Opportunismus und "Egoisraus" ist blosse Kapitulation vor einer Ylirklichkeit, die er schaerfer als sein traeumerischer Freund durchschaut, - und eben doch nicht scharf durchschaut; er ist weder behutsam noch gewissenlos genug, 17 um erfolgreich lavieren zu koennen.

Betrachten wir nun Horns aeussere Lebenschicksale, die viel- leicht schon Horns nicht sehr entschiedene Abkehr vom Humanismus zum Egoismus verraten. Als Student hielt Horn es fuer seine

"heiligste Pflicht", sich zum Kampf fuer die Menschheit und den

"geknechteten Geist" vorzubereiten. Daher widmete er sich nicht einer "Brotwissenschaft", sondern "dem Studium des philosophischen

Joumallsmus ..., der in jenen Jahren sich als das erwachende

Selbstbewusstsein, als der Weltgeist gerierte." (M.T., II, 10)

Doch das Ausbleiben der Studiengelder und des "tausandjaehrigen

Reiches der Freiheit" zwingt ihn, Gymnasiallehrer in Berlin zu werden. Bittere Armut und allerlei Berufsnoete draengen ihn zum

Bruch mit dem vergangenen Leben und Denken. Er heiratet die saeuerliche Tochter eines reichen Staatsrats, und traeumt nur noch von der "hoeheren Karriei’e":

Fuer die Menschheit wirken, heisst jetzt, die Faeulnis zum Aeussersten bringen. Ein Tor, wer in halben Ausbesserungs- versuchen sich opfert. Ich schreibe dann und wann einmal einen Artikel im Sinne der Regierung, mache ein patriotisches

^ Der Versuch Gisekes, die radikalen Philosophien der Zeit zu verurteilen, fiel zweideutig aus, wie schon erwaehnt wurde. Es ist jedenfalls bezeichnend, dass Horn, der snobistische Prediger der politischen und ethischen Indifferenz, zum Repraesentaten des radikalen Gedaenkengutes gemacht wird. Die radikalen Fhilosophen in Gisekes Roman sind entweder nicht wirklich radikal (Horn), oder nicht v.irkliche Philosophen (V.ragner). Festgedicht ... und ... habe nahe Aussicht ..., die hoehere Karriere einzuschlagen ... Ha, hai der frivole Atheist im christlich germanischen Ministerium! ... man kann Alles werden, wenn man ein offener Kopf ist und - den Spass versteht; Sieh, das ist ein freier Geistl (M.T., I, 173)

Doch in Horns neuem Leben gibt es sehr viele Unannehmlichkeiten.

Nicht bloss ist seine Frau alt, zaenkisch und dummj^® auch seine

Flucht vor der Geldlosigkeit ist eigentlich missglueckt. Er ver- nachlaessigt seinen Beruf und wird entlassen. Er bewirbt sich vergeblich um eine Dozentur; der Kultusminister gibt ihm

eine zweijaehrige Frist, um von seiner "Gesinnungstuechtig- keit" Zeugnis abzulegen. Der gescheite Doktor verstand den Wink und - offerierte sich der Redaktion der allgemeinen preussischen Zeitung. (M.T., II, 12 f.)

Sein Schwiegervater bringt ihn "notduerftig" als Hilfslehrer unter, doch Horn zeigt sich im Lehrberuf weiterhin traege und unehrerbietig gegen seine Vorgesetzten: sein Gehalt scheint ihm ungenuegende Bezahlung fuer sein Genie. Er faelscht die Unter- schrift seiner Frau, -um sich Geld zu verschaffen; er stuerzt sich in Schulden, - "das Geld war ihm wenig wert ... wie konnte ein freier Geist von den materiellen Schranken sich genieren lassen!" (M.T., II, 14)

Wie schon aus all diesem hervorgeht, hat sich mit Horns

Lebenstil auch seine Weltanschauung gewandelt: nicht nur hat sein frueherer Humanismus einem System des Egoismus Platz gemacht;

Schon frueh hatte einer der Kritiker Stirners (Szeliga) den Egoisten als einen Toelpel charakterisiert, der sich mit einer Geld- heirat verspekuliert. Diese "populaere Charakteristik" hat Stirner in seiner Schrift gegen Feuerbach etc. spoettisch wiedergegeben. ("Rezensenten Stirners", Kleinere Schriften, 1. Aufl., S. 120.) 84

der neugebackene "Dandy" huldigt auch einem Hedonismus, der ver- zweifelt lustig in den Tag hinein lebt. Dabei fuehrt Horn nun in

jeder Hinsicht ein Doppelleben, als kleines Raedchen in der Maschine eines wohlanstaendigen und patriarchalisch-reaktionaeren Staats- wesens, und als zynischer Aesthet und Bohemien, der zwar die

Ueberzeugungen und Glaubensartikel von Revolutionaeren und Re- aktionaeren gleichermassen als "Narrheit""^ belaechelt, aber dennoch 'zeitlebens Junghegelianer'" (M.T., I, 161) bleibt. Sein wahres Leben spielt sich teils im Theater, teils im Damenboudoir ab, vor allem aber bleibt er der Stammgast in der Kneipe der jung- hegelianischen "Freien":

"Gott, du musst davon in Zeitungen gelesen haben, bei Hippel die Zusammenkunft der ’Freien', der ersten Koepfe des Jahrhunderts, die geistreichsten, emanzipierten Frauen - ich sage dir, es ist eine weltgeschicktliche Clinuei" (M.T.. I, 167)

In Horns auf Amueseraent, auf frivole und laszive "Geniestreiche" versessenem Leben gibt es jedoch einen Punkt, der vor der Wirklich- keit letztlich nicht standhaelt. Horn versucht philosophisch, auch sein eigenes Doppelleben als Kornoedie zu betrachten: "der freie

Geist" behauptete, "frei zu sein von alien Unbequemlichkeiten der

Welt und laohte des Drueckenden seiner Lage." (M.T., II, 15). Aber - um seine vorhin zitierten Worte vdeder anzuwenden - diesen "Spass" versteht der "freie Geist" und "offene Kopf" doch nicht auf die

Dauer. Lange bevor er seinem ausweglosen Dasein mit eigener Hand

Der Terminus "Narrheit", der bei Stirner eine grosse Rolls spielt, ist auch ein Lieblingsausdruck Horns (vgl. etwa Horns Hamlet- Analyse, M.T.. I, 244). Sowohl der Wunsch, die Welt im "guten" alten Gleise erhalten zu wollen, wie der Wunsch, die aus den Fugen gegangene Welt "verbessern" zu wollen, setzen die Werte "gut und boese" voraus, die in Stirners und Horns Psychologik fehlen. 85 ein ^nde bereitet, beschleichen ihn schon Zweifel an der "frevel- haften Selbsttaeuschung", Zweifel, die er dann in ausschweifendem

Genuss zu ersticken sucht.

Und gerade in dem Augenblick, wo er seinem Freunde die

Philosophie des Duckens und Auslachens predigt, wird es Horn insgeheim klar, dass er sich selbst aus seinem verfehlten Leben herausreissen muesse, "um das Glueck seines Herzens, die Talente seines Geistes zu retten." (M.T,, II, 16.) Dieser unstirnerisch formulierte

Entschluss bedeutet keine philosophische Umkehr, kein Wiedererwachen des revolutionaeren Gewissens, sondern eine Fortsetzung der Ueber- legungen, die Horn zur Philosophie des Egoismus fuehrten:

"... ich breche mit dieser Welt und schaffe mir eine neue. Nicht: Gott helfe mir, ich kann nicht anders; - sondern: hoi's der Teufel, ich will's einmal." Momentan einen Gedan- ken zu erfassen und ihn eigensinnig bis zur letzten Konse- quenz zu verfolgen, hielt der esprit fort fuer genial.

In kurzer Zeit und unter allerlei willig erduldeten Unhaquemlich- 21 keiten und Entbehrungen schreibt der sonst so genussfrohe und faule, aber doch mit einer "kaprizoesen Tatkraft" begabte Horn nun

20 M.T.. II, 20. Der etwas haemische Seitenhieb im letzten Satz des Zitats charakterisiert weniger Horn als eine recht auffaellige Manier Gisekes. Fast bei jeder Gelegenheit, wo Vertreter der radikalen '-Veit erscheinen oder erwaehnt werden, fuegt der Autor einen ironischen Kommentar an, der zuweilen eigentuemlich und passend, meist aber ungeschickt, repetitiv und auch widerspruchsvoll wirkt. Auf diese tendenzioese Manier mochte sich Hebbels Ruege beziehen, Giseke haette "Lieht und Schatten" nicht gerecht auf Revolutionaere und Reaktionaere verteilt. 21 Horn freut sich sogar ueber die Schwierigkeiten, die seine Energien nicht erschlaffen lassen. Die Idee, das Widerwaertige als Sporn zu preisen, klingt in Horns Philosophie sehr leise, in Stirners etwas vernehmlicher durch; wesentlich ist sie natuerlich weder fuer Stirner noch gar fuer den bequemlichkeitsliebenden Horn. Doch ist es interessant - im Hinblick auf den noch zu besprechenden Demiurgos von Wilhelm Jordan - festzuhalten, dass jene Idee mehrfach auf heroisch-dithyrambische V.eise ausgeschlachtet wurde von Autoren, die mit Stirners Amoralismus wohl vertraut waren. 86 ein Buch: "Der Mensch und die Schoenheit". Das Honorar soil ihm die ILLttel zu der "befreienden Tat" verschaffen: mit seinem "Rettungs- engel" Delphine, einem Maedchen, das er in die Welt der Freigeiste- rei und der Schoenheit eingeweiht hat, hofft er ein neues Leben fern von Berlin beginnen zu koennen. Er selbst hat Delphine zur Buehnen- saengerin ausgebildet, und nun ivill er "mit ihr und durch sie sich ein neues, freies Leben schaffen im Geiste und in der Schoen­ heit" (M.T.. II, 20). Der Plan scheitert. Seine Frau verlaesst ihn zwar und gibt ihm so den Weg frei; aber Delphine hat sich inzwischen in Ernst Wagner verliebt ■und weigert sich, Horn zu heiraten und ihm zu folgen. Horns Verzweiflung erreicht ihren Hoehepunkt, als er bemerkt, dass seine Frau in eifersuechtiger Wut das d:ruckreife

Manuskript seines Werkes vernichtet hat. In einem voruebergehenden

Ausbruch von Tobsucht vd.ll er seinen Freund Wagner zu einem Duell zwingen, doch dieser entflieht noch rechtzeitig dem Wuetenden.

Horn, der seine klare Beherrschung bald wiedergevdnnt, schuetzt noch Ernst vor den vermeintlichen Nachstellungen eines Polizeispions, schreibt seinem Freunde einen sehr herzlichen Abschiedsbrief, und begeht in kaltem Lebensueberdruss einen umstaendlich inszenierten

Selbstmord, indem er vortaeuscht, in einem Duell gefallen zu sein.

Da Giseke, als Verfasser eines Romans, besonders gute Gelegen- heit hatte, von Stimer abzuweichen und die "antihumanistischen"

Zuege seines Stirner-Bildes in den "ultrahumanistischen" Zuegen aufgehen zu lassen, so ist es nicht einfach, aber umso wuenschens- werter, diese Hauptzuege seines Bildes getrennt darzustellen. Im

Folgenden soil eine solche Trennung versucht werden: zuerst den 87 antihumanistischen, dann den repraesentativ-ultrahurnanistischen

Stirner-Hom naeher zu beschreiben, wobei der letztgenannte Aspekt natuerlich der wichtigere ist. Denn C-iseke hat seinem Stiraer-Hom nur eine funktionelle, aber entseheidende Rolle zugedacht: den intangiblen Haupthelden des Homans, den "Humanismus", die radikale

Philosophie des Vormaerz zu verkoerpern. Fuer die ?Iandlung des

Romans aber ist die Horn-Episode so gut wie ueberfluessig.22

Her den Roman Gisekes als "Schluesselroman" liest, dem muss es freilich erscheinen, als sei Horn, der "Einzige”, der die welt als sein "Eigentum" betrachtet, durchwegs der authentische Stirner in nur "leichter Verhuellung" (S. 7J4. ). Er wirft mit Stirnerschen

^chlagwoertern um sich, - und da Horn-Stirner den Radikalismus re- 23 praesentiert, tun mehrere der Radikalen desgleichen. Wenn vdr von einem laengeren philosophischen Exkurs Horns absehen, worin

Giseke ihn allerdings eine Philosophie predigen laesst, deren

Hauptpunkte mit den Hauptpunkten Stirners zusammenfalien, so sind

^ Fast das ganze Leben Horns gehoert der Vorgeschichte des Romans an. im ersten Buch ersch.eint Horn nur einrnal; das zweite Buch be- herrscht er voellig; in den folgenden Buechern wird sein Schatten zu- weilen heraufbeschvroren. Das zweite Buch aber umspannt eigentlich nur einen Zeitraum von 10 Tagen, - Horns letzten Lebensabschnitt. In Bezug auf die Haupthandlung des Romans sind Figuren wie der demo- kratische Graf und Demagog Cesar oder der Kommunist Krist ungleich wichtiger als Horn. 23 Giseke verwendet sogar dort, wo er selbst, in seiner Eigen- schaft als Beurteiler und Schilderer spricht, gern Stirnersche Schlag- woerter, oder er bekraeftigt gewisse Ideengaenge Horns. Diese Schlagwoerter werden dabei im authentischen Sinne, als Kritik des Humanismus, verwendet. Mit Stirner und Horn stimmt Giseke gern ueberein, sofern sie sich als scharfsinnige Kritiker des Humanismus, des utopischen "Idealismus" zeigen. Dies ist umso weniger verwunder- lich, als der Tadel des junghegelianischen Humanismus bei den drei Ex-Liberalen Giseke, Stirner und Horn auf den gleichen, naemlich radikalen und nicht konservativen Crundlagen beruht. 88 es vor allem jene Schlagwort-Reminiszenzen, die den Kenner daran erinnern, dass Horn noch immer Stirner sein soil. Derlei Schlag- vrorte, die von Stirner natuerlich nicht erfunden, aber in eigentuem- liche Assoziationen gebracht worden waren, erscheinen bei Giseke tatsaechlich in meist kurzen Zusammenhaengen, die - aber nur auf kurze Momente - an den E.u.s.B. erinnern. is sind also weder blosse

Schlagworte, noch wirkliche Ideengaenge, sondern meistens Ideen- fetzchen Stirners, mit denen Horn durchwegs operiert. Horn kann kaum drei zusammenhaengende Saetze sprechen, die aeusserlich sich genug "stimerisch" ausnehmen moegen, ohne dass etwas in seine

Worte mit einfliesst, was mit Stirner schon nichts mehr zu tun hat.

Das teils stimerische, teils ganz unstirnerische Wesen selbst kurzer Saetze Horns zeigt sich sogar an der "Identifikationsstelle"; da Horn zu seiner Philosophie des "Einzigen und seines Eigentums" auf eine Weise gelangt ist, die nichts mit Stirrer, umsomehr aber mit den Junghegelianern des Romans zu tun hat, sei die betreffende

Stelle etwas ausfuehrlicher als frueher hier zitiert:

Horn m r eine von den abstrakten Naturen, die Alles aus Prinzip tun und auf Prinzipe zurueckfuehren muessen. Der Drang seines Geistes, immer radikal zu sein, war auch in der Inkonsequenz konsequent und bildete die Gesinnungs- losigkeit zum System aus. Der Geist ist ja der Zweck von Allem: das Genie ist der Geist und Doktor Horn das Genie; ergo: Ich, Doktor Horn, bin der Zweck von allem. Er sah sich an als den Einzigen und die Welt als sein Eigentum. Dabei besass der philosophische Kopf nicht die Lebensklug- heit ... Er war ja der freie Geist ... Er tauchte nur nieder in das Reich des freien Geistes und war von der ganzen Welt unberuehrt. (M.T.. II, 13)

Diese Begruendung von Hom-Stirners Philosophie des "Einzigen und seines Eigentums" gehoert nicht dem authentischen Hom-Stimer an, sondern dem verzerrten Horn, dem typischen Radikalen und 89 abstrakt-spekulativen Junghegelianer: Horn, der sich bruestet,

"zeitlebens Junghegelianer" geblieben zu sein. Dass jene, auf den "Geist" pochende Begruendung nichts mit dem Empiriker Stirner zu tun hat, dessen ganzes Werk dem Kampfe gegen den "Geist" in alien Formen, gegen "Prinzipien" aller Art gilt, versteht sich von selbst;^ sie hat aber auch nichts mit Horn selbst zu tun, sofern er sich an seine Stirner-Rolle erinnert und in Stirnerscher

Terminologie und Tendenz den "Spuk", die "Besessenheit", das

"Gespenst" des Geistes verlacht.

Die verwaessernde Methode der t ernri.no logi sc hen Reminis zenzen, der in verzerrende Zusammenhaenge eingebetteten Stirnerschen Ideen- fetzchen hat mit der Hauptabsicht Gisekes zu tun, die er mit der

Zeichnung Horn-Stimers verfolgte: er wo lit e in Stirner vor allem den IJypus der philosophischen Radikalen zeichnen. Daher legt er seinem Horn nicht allzuviele philosophische Disburse in den Mund, die dann eben spezifischer egoistisch und stimerisch haetten sein muessen, als seine ueblichen kurzen Bemerkungen, die trotz ihrer terminologischen Stirner-Reminiszenzen vor allem die typischen Be- merlcungen des radikal-spekulativen Ultrahumanisten darstellen.^5

H Vgl. auch das Stirner-Zitat, S. 92 f., oder etwa E.u.s.E.. S. 36: "Die Macht der Gedanken und Ideen, die Herrschaft der Theo- rien und Prinzipien, die Oberherrlichkeit des Geistes, kurz die - Hierarchie waehrt so lange, als die Pfaffen, d.h. Theologen, Philo- sophen, Philister, Liberale, SchuLmeister, ... das grosse Wort fuehren; die Hierarchie wird dauern, so lange man an Prinzipien glaubt, denkt oder auch sie kritisiert: denn selbst die unerbitt- lichste Kritik, die alle geltenden Prinzipien untergraebt, glaubt schliesslich doch an das Prinzip."

^ Es gibt einen laengeren philosophischen Diskurs, nae.mlich Horns Analyse des Hamlet als "Tragoedie der Narrheit" (M.T., I, 243 f.), 90

Nach der Szene, wo Horn zum erstenmal auftritt und sich seinem

Preunde Ernst Wagner wie dem Leser des Romans als der Philosoph des

"Einzigen und seines Eigentums" zu erkennen gibt, ist Giseke sicht- lich bestrebt, alles zu vermeiden, was die bald bemerkliche

Identifikation von Horns Egoismus und dem philosophischen Radika­ lismus der Berliner Junghegelianer - die selbst, aehnlieh wie ihr

Eepraesentant Horn, als Symbol des ganzen vormaerzlichen Radikalismus dargestellt werden - gefaehrden koennte. Von jener ersten Szene in

Wagners Heimatdorf an verringert sich die Frequenz, die spezifische

■^tschiedenheit und der Umfang von Horns philosophischen Exkursen.

Gisekes antihumanistisc’ner Philosoph des "Einzigen und seines

Eigentums" zeigt sich spaeter, in den Berliner ozenen, vor allem als radikaler Blase, Aesthet und Lebemann, der Theaterkritiken und schliesslich ein Buch ueber den "Menschen" und die "Schoenheit" schreibt, sich also keineswegs mit dem Spuk der "Menschheit" oder der Macht und Herrlichkeit des leibhaftigen "Ich" befasst,

Untersuchen wir nun jene erste Szene Horns, in der Giseke es so der so spitzfindig-unklar gehalten ist, dass Horn neben einem Stueck- chen seines egoistischen Amoralismus vor allem sein "typisches", radikales Denken an den Tag legen kann: seinen Zynismus, sein re- signiertes Bravado, seine junghegelianische Spekulation. Hoechstens Horns Resumee klingt in seinem ersten Teil durchaus stirnerisch: Hamlet :ilaesst all sein tiefes Denken und seine bedenkliche Froemmig- keit fahren und sticht den Koenig tot, nicht als Raecher seines Vaters, neinl seines eigenen Lebens ..." Mit den Dramenanalysen im E.u.s.E. (z.B. S. 226 f. ueber Romeo) hat Horns verzwickte Analyse sonst wenig mehr gemein als die unvermeidlichen Stirnerschen Schlagworte, die hier jedoch - vor allem die mit dem Ausdruck "Narr" verbundenen Ideenfetzchen - auf eine besonders stark verbogene Vieise benutzt werden. Derlei Dramenanalysen "im Sinne Stirners" scheinen damals einigermassen nopulaer gewesen zu sein, wie schon Julian Schmidt bemerkte. 91 deutlich macht, dass er Stirner zeichnen wollte, dass er auf die erst viel spaeter erscheinende plumpe "Identifikationsstelle" (S. 8 8 ) haette verzichten koennen. Doch vdrd es freilich auch hier schon deutlich, dass Korn nur ein romanhaft verzerrter Stirner ist. Fast untadelig in Bezug auf die Portraittreue Horn-Stirners ist selbst in dieser Szene nur eine Rede. Hier traegt nun Horn seine egoistische, antihumanistische, antiidealistisehe Philosophie in nuce vor, und von geringfuegigen Abweichungen abgesehen hat sich Giseke daher auf erstaunlich lange Zeit sehr genau an Stirners Ideen gehalten. Die

Situation ist folgende: nach Horns letzten sehr unstirnerischen, weil resignierten, bitter-gehaessigen und misanthropischen Aeusserungen ueber die "Erbaermlichkeit" des Menschenpacks vermutet Ernst ’.'Jagner, dass Horns Ideen auf prinzipiell-philosophischen Gruenden beruhten:

" ... Ich sehe es, Louis, wie du dich veraendert hast: du hast den Glauben an die Menschheit, an den Geist der Ge- schichte verloren." "Getroffen, alter Junge, getroffenl Ich habe den Glauben an die sogenannte Menschheit fortge- worfen, weil er - Glaube ist. - Ja, du schuettelst den Kopf und denkst: Freund meiner Seele, wie bist du tief gesunkenl ... Aber ... als du ein lcrasser Fuchs warst und ich dich auslachte, der du mir die heilige Dreieinigkeit philosophisch konstruieren wolltest, da schuetteltest du auch den Kopf und nanntest ndch gottlos. Nachher hast du gefunden, dass gottlos noch nicht unmenschlich ist; du machtest dich frei von dem Glauben an die Gespenster des Himmels und wurdest - gottlos. Sieh, ich bin nun wieder einen Standpunkt weitergegangen und habe entdeckt, dass wir, wenn wir uns auch vor keinem C-espenst im Himmel und auf Erden mehr fuerchten, doch noch ein wimmelndes Nest von Gespenstern in uns selbst tragen. Da fuhr ich nun mit dem Kehrbesen der Kritik in dieses Nest hinein und siehe da! hinausfuhren unzaehlige Geister, die Jtdch besessen hatten, als da sind: Geist, Menschheit, Pflicht, Sittlich- keit, Tugend, Wahrheit, Freiheit, Idee, und wie das Schmarotzervolk weiter heisst! - ’Unmensch!', sagst du jetzt, indem du den Kopf schuettelst, nicht wahr? Aber bedenke nur, wenn ich auch ein Unmensch bin, bin ich noch 92

immer Ich, und. Ich ist doch das, was ich zuerst und in Wahr- heit bin. Versuchs auch einmal, stich in das Wespennest dieses eigenen Innern, mach dich frei von dem Geist und den Geistern, die dein Ich besessen haben, und wenn du auch ein Unmensch bist, wirst du doch Du selber sein - das Hoechste, was du sein kannst - und dir werden die Augen aufgehen und du wirst sehen, dass du jetzt erst frei und gluecklich bist ... ich bin so gluecklich, als ich es in dieser schlechten Welt nur sein konnte." (M.T., I, 164 f .)

Erst in den letzten Worten verfaellt Horn wieder aus der Rolle

Stirners in seine missvergnuegte Bitterkeit und Misanthropie, die

er zuvor wuetend und langatmig geaeussert hatte; und der Amoralist,

der eben ueber die "Sittlichkeit" erhaben ier, brummt nun ueber

die "schlechte" Welt. Ansonsten ist in obiger Rede hoechstens noch der Gebrarch des Ausdrucks "Kritik" vielleicht nicht ganz p L im Sinne Sti rue r s.

Vielleicht hatte Giseke bei obiger Rede sogir ganz bestimmte

SteHen aus dem E.u. s .E. im Auge, naemlich die Abschnitte ueber

"Die Besessenen", "Den Spuk" und "Den Sparren". Man vergleiche etwa:

... mit dem Gespensterglauben (wird der Religion] ihr Boden entzogen ... Wer an kein Gespenst mehr glaubt, der braucht in seinem Unglauben nur konsequent fortzuwandeln, um einzu- sehen, dass hinter den Dingen kein apartes Wesen stecke, kein Gespenst oder - was naiver Weise auch dem Worte naah fuer gleichbedeutend gilt - kein Geist ... Der Mensch ist ja fuer die Atheisten "das hoechste Wesen" ... Ob dann der einige oder dreieinige Gott ... oder Gott gar nicht, scndern "der Mensch" das hoechste Wesen vorstellen mag, das macht fuer den durchaus keinen Unterschied, der das hoechste Wesen selbst negiert, denn in seinen Augen sind jene Diener eines

2 6 Schon mit dem blossen Ausdruck "Kritik" duerfte Giseke wohl kaum die "eigene Kritik" Stirners gemeint haben, sondern, wie im Roman durchwegs, die junghegelianische "philosophische Kritik" sclilechthin (vgl. M.T. . I, 83, et pass.). Und jedenfalls gelangte Stirner nicht wie Horn auf dem Wege der Kritik, sei es der "eigenen" oder auch der "philosophischen" oder "freien" oder "menschlichen" oder "absoluten" Kritik, zu seiner Philosophie. Vgl. auch Zitat in FN. 24. 93

hoechsten V.:esens insgesamt - fromme Leute: der wuetendste Atheist nicht weniger als der glaeubigste Christ ... Aber nicht bloss der Mensch, sondern alies spukt ... Gleichwie die Scholastiker nur philosophierten innerhalb des Glaubens ... so vegetieren auch ... Liberale im "Menschentum" usw., ohne jemals an diese ihre fixen Ideen das schneidende Messer der Kritik zu legen ... Begegnen Uns etwa bloss vom Teufel Besessene, oder treffen ,’ir ebenso oft auf entgegen- gesetzt Besessene, die vom G-uten, von der Tugend, Sittlich­ keit, dem Gesetze oder irgend welchem "Prinzipe" besessen sind? ... Man beobachte unsere Liberalen ... Man achte darauf, wie sich ein Sittlicher benimmt, der heutigen Tages haeufig mit Gott fertig zu sein meint ... [der] sittliche Glaube wurzelt tief in seiner Brust. So viel er gegen die frommen Christen eifert ... in der Form der Sittlichkeit haelt ihn das Christentum gefangen, und zwar gefangen unter dem Glauben ... "Wahrheit, Sittlichkeit, Aecht, Licht, usw." sollen "heilig" sein und bleiben ... Um ein hoechstes V/esen handelt es sich bei beiden, und ob dasselbe ein uebermenschliches oder ein menschliches sei, das kann mir, da es jedenfalls ein V’esen ueber Mir, gleichsam ein uebermeiniges ist, nur wenig verschlagen. So belehrt uns Feuerbach...: ... das Unmenschliche ist der lieblose Egoist.^7

die oben zitierte Rede Horns ist wohl seine einzige wahrhaft stirnerische, wahrhaft antispekulative und antihurnanistische Rede.

Sonst sind zwar in jener ersten Szene zwischen Horn und Wagner sogar recht authentische "terminologische Stimer-Reminiszenzen" haeufig genug zu finden, etwa: "ich kann es nicht leiden, dass man die

Natur schon im Kinde durch alberne Moral unterdruecken will"

(M.T., I, l69J, oder: "Du nennst sie deine Braut, du bist der

Eigentuemer ihrer Liebkosungen" (H.T., I, .60). Aber sie werden schon hier in "ultrahumanistische" Zusammenhaenge eingebettet, die

Korns Egoismus als Sympton einer Resignation erscheinen lassen: die Ideale des junghegelianischen Humanismus sind ja ganz schoen,

27 E.u.s.E., S. 36-50. - Betreffs des "Unmenschen", vgl. etwa folgende Stelle, ibid., S. 181: "Aber bleibe Ich auch dann noch ein 94 aber nicht realisierbar; sie bedeuten zwecklose Aufopferung. An folgender Stelle zeigt sich Horn unumwunden als resignierter

Junghegelianer:

"Tor, der du ... warten willst, bis diese spiessbuergerliche Aufklaerung fuer unsere Prinzipien reif wird I Uns wird die V/elt nicht nachkommen, denn die Masse kann nie zu Genies werden. Was v/erde ich mich da einer Sache opfern, die ich doch nur als Philisterei furchschauei Glaub mir, in dieser Welt ist nichts zu bessem. Die Gesellschaft ist faul im Innern; was hilft es, sie aeusserlich zu iibertuenehen? Gaenzlich verwesen muss sie, damit Platz fuer eine neue wird. Fuer die Menschheit wirken, heisst jetzt, die Faeul- nis zum Aeussersten bringen. Ein Tor, wer in halben Aus- besserungsversuchen sich opfert." (M.T., I, 172 f.)

Horns Egoisnius erweist sich hier als erzwungene Indifferenz, als resignierter und koneeouenter Junghegelianismus. Er spricht nicht bloss von Prinzipien, sondern gar von "unseren Prinzipien", vom

Wirken fuer die "Menschheit". Der zweite Teil von Horns Rede erinnert teilweise wieder an Stirner; aber Stirners Indifferenz hat natuerlieh mit "Prinzipien", "Menschheit" usw. nichts zu tun.

Man vergleiche:

Wollen Wir die Welt aus mancherlei Unfreiheit erloesen, so wollen 7'ir das nicht ihret- sondern Unsertwegen: denn da Air keine v/elterloeser von Profession und aus "Liebe" sind, so wollen Wir sie nur andern abgexvinnen. (E.u.s.E. . S.315).

Oder:

Revolution und Empoerung duerfen nicht fuer gleichbedeutend angesehen werden ... Jene besteht in einer Umwaelzung ... des bestehenden Zustandes ... des Staats oder der Gesell-

Unmensch, wenn Ich den Menschen, der nur als Mein Ideal, Meine Aufgabe, Mein Wesen oder Begriff ueber Mich hinausragte und Mir jenseitig blieb, zu Meiner Mir eigenen und inhaerenten Bigen- schaft herabsetzte, so dass ... alles xvas Ich tue, gerade darum menschlich ist, weil Ich*s tue, nicht aber darum,weil es dem Begriffe "Mensch" entspricht? Ich bin wirklich der Mensch und Unmensch in Einem ..." 95

schaft, ist mithin eine politisehe und soziale Tat ... Die Revolution zielte auf neue Einrichtungen. die Empoerung fuehrt dahin, Uns nicht rnehr einrichten zu lassen ... Sie ist kein Kampf gegen das Bestehende, da, wenn sie gedeiht, das Bestehende von selbst zusammenstuerzt, sie ist nur ein Herausarbeiten Meiner aus dem Bestehenden. Verlasse Ich das Bestehende, so ist es tot und geht in Faeulnis ueber ... Meine Absicht und Tat [ist] keine politisehe oder soziale, sondem ... eine egoistische. - Einrichtungen zu machen gebietet die Revolution, sich auf- oder emporzu- richten heischt die Empoerung. (E.u.s.E., S. 326 f.)

Horn hingegen hat nur die "bestehenden Zustaende" im Auge, die

"Wirklichkeit", ueber die er sich nicht emporrichtet, sondem unter die er sich duckt. Sein Hinweis auf "unser Genie" ist bezeichnend:

Gisekes Junghegelianer sind a lie vom Geistesduenkel des "Genies" besessen, wie denn auch Horn, als typischer junghegelianischer

"Freigeist", die moeglichst konsequente Spekulation fuer "genial" haelt (vgl. 3. 85). Die Radikalen koennen sich als "Genies" vor der Wirklichkeit in die bergend-isolierende Welt des "freien Geistes" fluechten und von der unnahbaren Hoehe einer rein spekulativen

Emanzipation des Geistes und des Fleisches herab die Wirklichkeit mit hoehnischer Indifferenz verlachen. Horns logisch aus der humanistischen Freigeisterei deduzierter Egoismus dient genau der- selben Funktion, nur auf bewusstere, ruecksichtslos-passivere und ruecksichtslos-frechere Art. Er erweist sich als die konsequenteste

Form der erzwungenen Indifferenz der Humanisten, wie weiter unten noch genauer auszufuehren sein wird.

Bei Horn, dem konsequentesten und bewusstesten aller Jung­ hegelianer schlaegt die resignierte Erkenntnis von der Hoffnungs- losigkeit des Kampfes gegen die Wirklichkeit, von der Vergeblichkeit der humanistischen Emanzipationsversuche zuweilen in wilde Ver- 96 zweiflung -ueber. Auch dies zeigt sich bereits in seiner ersten

Szene, in einer Rede, wo sehr authentische Stirner-Reminiszenzen von den bitteren Toenen des Hasses gegen die Wirklichkeit verschlungen werden. Diese Toene der Verzweiflung gehoeren wie die der Resignation und der Indifferenz zu Horn dem Radikalen:

"... man gewoehnt sich, man akkommodiert sich, kurz - man wird aelter. Bleiben wir auch zeitlebens Junghegelianer, wir bleiben nicht immer junge Strudelkoepfe! ... Ich bin Ich ... [nichtJ der Narr von irgend welchen Menschheits- erloesungs- und Weltbeglueckungsprojekten ... Hat eines deiner Ideale auch nur Anlauf genommen, wirklich zu werden? ... Ich meine, [deine BegeisterungJ koennte dir kaum noch Spass machen ... Und was ist wahr? Die Wirklichkeit ist die Wahrheit ... Sind deine Ideale ... ist der Geist ... wirklich? ... Sieh dir die Welt an, wie sie ist. Du schwaermst fuer die Menschheit ... Menschheit! Kennst du die Menschheit? Meinst du, dass sie es wert ist, dass wir uns fuer sie aufopfern? meinst du, dass sie unser Opfer ueberhaupt will? Ich sage dir, Herzensjunge, diese Menschheit ist so erbaermlich und niedertraechtig, dass unsereins eher wert ist, sie ginge um unsertwillen zu Grunde ... Narren sind wir, wenn wir uns zu schlecht duenken, sie fuer uns zu gebraucben, die wir besser und klueger sind. Was werden wir uns scheuen, die Gauner zu begaunern ... Trug gegen Trug, um so viel Gutes aus der Welt herauszuschlagen, als es noch gibt, und dieses Hunde- leben uns einigermassen passabel zu machen! Wozu den Kopf sich an der Welt einrennen? Duck dich ein wenig und du kommst ungeschunden hindurch." Der Berliner sprach das nicht mit der liebenswuerdig ironischen Jovialitaet eines leichtsinnigen Bonvivants, sondern mit dem graemlich bissigen Ernst eines Pedanten. Wo sein Mund sich zum Laecheln verzog, war es nicht Humor ... (M.T., I, 161 ff.)

Es gibt hier gar nicht wenige annaehemd oder durchaus stimerische

Wendungen, aber sie erhalten einen voellig unstirnerischen Sinn

in diesem "bissig-pedantischen" Verzweiflungsausbruch. Stirner

bekaempft nur den Unterwerfung verlangenden Begriff des "Menschen",

nicht die "leibhaftigen", empirischen Menschen, die er liebt und

gegen alle, und gerade gegen die humanistischen Dogmen in Schutz 97 nimmt; sein Antihumanismus ist nicht misanthropisch:

Ich liebe die Menschen auch, nicht bloss einzelne, sondern jeden. Aber Ich liebe sie mit dem Bevmsstsein des Egoismus ... Ihr liebt den Menschen, darum peinigt Ihr den einzelnen Menschen ... Eure Menschenliebe ist Menschenquaelerei ... so stelle Ich [den Satz auf:] ... Wir sind allzumal voll- kommen, und auf der ganzen Erde ist nicht ein Mensch, der ein Suender waere! (E.u.s.E., S. 300 u. 371 f.)

Der "zeitlebens Junghegelianer” gebliebene Korn "akkommodiert" sich und entsagt dem zwecklosen "Hundeleben" des Menschheitserloesers.

Ihn fuehren Resignation, VTelthass und Misanthropie zu seiner

Philosophie des Egoismus, und nicht das souveraene Kraftgefuehl

Stirners. Als ihn sein Freund Wagner wegen jenes Ausbruchs von

Bitterkeit zur Rede stellt, eroeffnet ihm Horn, dass er logisch- kritisch ein System des antihumanistischen Egoismus entwickelt habe

(S.91 f). In Horns obigen gehaessigen Worten aber entdecken wir das psychologische Substrat seines Egoismus, das auch dem ganzen von Korn repraesentierten Radikalismus zugrundeliegt und in Horns

Philosophie nur den psychologischen und logisch-spekulativen

Ausdruck gefunder: hat: das Ohnmachtsgefuehl vor einer knechtenden

Wirklichkeit. Aus diesem Gefuehl heraus verschanzen sich Horn und die Radikalen hinter der puren Spekulation, die sich laermend ge- baerdet und es ihnen erlaubt, sich auf gute Manier von der Wirklich­ keit zu isolieren. In Herkunft und Gehalt ist Horns Egoismus nur der repraesentative und konsequente Ausdruck des "freien Geistes" der

Radikalen; beide finden im "freien Geiste" einen festen Punkt, ein

Horn ist das "wahrhaftigste Urbild" der Berliner Junghegelianer (M.T., I, 157); der "freie Berliner Geist" v.deder wird von Giseke aus- drhcklich als Symbol und sogar Ursache der ganzen radikalen Spekulation (selbst der von D. F. Strauss, etc.] hingestellt. (M.T., I, 222 f.) 98

Asyl vor der Wirklichkeit: Horn durch seinen spekulativen Egoismus, der bewusst auf indifferenz abzielt, und die Radikalen durch ihren spekulativen Humanismus, der sich halb unbewusst als egozentrische

Indifferenz zeigt. Die IVorte der "Identifikationsstelle" sind unmissverstaendlich: Horn "tauchte nur nieder in das Reich des freien Geistes und war von der ganzen Welt unberuehrt." (S. 8 8 )

Man vergleiche damit eine Charakteristik der Berliner "Freien": vor der Wirklichkeit ziehen sie sich auf ihren "freien Geist" zurueck, der "unnahbar vde Gott und leicht wie das Nichts", sich ja doch "selbst nie verlieren kann" (M.T., I, 223). Horn beweist als typischer junghegelianischer "esprit fort" seine Staerke an blossen

"Gedanken". Andere als spekulative Triumphe ueber die Wirklichkeit sind ihm so wenig beschieaen als dem Humanismus. Von alien Humanisten hat Horn das klarste Bewusstsein von der Vergeblichkeit aller emanzipatorischen Spekulation, - aber kaum von deren inhaerenter 29 Schwaeche. So fluechtet er sich in diese Spekulation nur noch tiefer als Andere hinein. Er zieht die konsequentesten Schluesse aus der schwachen Starkgeisterei und versucht, sich durch sein

Denken und Leben, das ebenfalls "typisch" radikal ist, in der "frevel- haften Selbsttaeuschung" zu erhalten, durch das Weiterfuehren der

Indifferenz zum Egoismus habe er die Schwaeche des Humanismus ver- 30 mieden . Aber er wird sich in steigendem Masse bewusst, dass er

29 Vgl. E.u.s.E., S. 52 dass aber der freie Geist, ... oder vde immer ... dies Juwel benannt werden mag, Uns noch aerger in die Klemme bringt, als selbst die wildeste Ungezogenheit, das will man nicht merken..."

30 Auf geschickte, indirekte Veise laesst Giseke den Leser 99 durch seine Fenlspekulation nur die schwaechlichsten, weil konsequente- sten Schluesse aus der junghegelianischen Freigeisterei gezogen hat.

Sein Egoismus entstammt der Resignation und bildet, solange es eben gehen will, zugleich ein laermendes Uebertaeubungsmittel gegen diese

Resignation. Sr erlaubt Horn die frechsten spekulativen Exzesse und die weitgehendste Kapitulation vor der '.Virklichkeit; aber diese

Kapitulation staerkt Horn nicht, sondern schwaecht ihn. Sein System versagt auch am fruehesten vor der llirklichkeit: Horn meint auf scharfsinnige ’Teise die ’.Virklichkeit ueberwinden zu koennen, indem er sie durch entgegenkommende Fassivitaet umgeht; er kann sich ihr schliesslich nur durch einen Selbstmord entziehen, den er selbst als die letzte "Konsequenz" seines Trachtens bezeichnet. Horn als

Typus ist letztlich nicht bloss der bewussteste, konsequenteste, daher spekulativste, indifferenteste, passivste, "frivolste" und resignierteste aller Junghegelianer, sondern wohi auch der ent- taeuschteste.

Dass lioms Egoismus nur Bravado ist, vermutet schon Ernst

Wagner; und Horn kann d.ieser Yermutung kaum widersprechen:

"Lappaliei Darueber muss man allerdings hinweg sein. Ich vdll frei... sein und ich bin's. Uebrigens auch so Etwas macht Einem Spass, wenn man nur den richtigen Humor dabei hat..." "Das ist Freiheit? ... das ist verzweifelte Re­ signation." "Resignation? Ja und nein ... ich komme doch gut dabei weg ... Umsonst bekommt man nichts ... Ich reiche dem Satan der Welt die eine Hand, um ihm mit der anderen die iaschen zu leeren vind - bei Qelegenheit das Genick zu brechen." (M.T.. I, 165 f.) glauben, die Junghegelianer und erst recht Horn - deren Leben tat- saechlich oft ziemlich ruhig, stagnierend oede ist - lebten in einem irrsinnigen Tempo: es ist die betaeubende Raserei ihrer ';eltflucht, die Hetze der vom Geist Besessenen. 100

Die Gelegenheit, auf die der passive Junghegelianer wartet, komrnt nicht; es ist der Satan der Welt, der ihm zuerst das Genick bricht.

Horn wollte selbst gern den egoistischen "Mephisto" spielen: auch

Ernst Wagner bezeichnet ihn haeufig so. Aber dieser "Mephisto" kann seinem idealistischen Freunde auf dessen Wunsch nur einige platte

Saufgelage und eine "tolle" Liebesnacht verschaffen; ansonsten bleibt Horn - ein sehr ohnmaechtiger Faust, der, wie sein Famulus 31 Wagner, schliesslich doch dem Teufel verfaellt.

Es kann nach dem Obigen nicht verwundern, dass es die dunklen, naemlich resigniert klingenden Stellen sind, an denen Giseke gern die Verbindung zwischen Horn und den junghegelianischen Humanisten Op klarmacht.. ^ie Resignation, die sich bei den Radikalen meist auf versteckte, bei ihrem Symbol Horn auf offene Veise zu erkennen gibt, ist offensichtlich die Resignation des Autors Giseke, der seine naehmaerzliche Stimmung auf den vormaerzlichen Radikalismus uebertrug.

In Horn v.lrd sich die historische Unfaehigkeit des Radikalismus ihrer selbst bewusst. Hom-Stimer, der Repraesentant der vormaerz­ lichen "Titanen" und Himmelsstuermer, fuehlt sozusagen bereits die

'•‘irklichkeit der gescheiterten Revolution von 18i+6 voraus: denn

Giseke verlegt rueckschauend die Ursache jener Katastrophe in die

31 Vgl. St. Rene-Taillandier, a.a.O.. 527: "Le maitre de Wagner, le Faust ridicule dont_celui-ci est le famulus, est un certain docteur Louis Horn, qui a puise sa regie de conduite dans les plus cyniques theories de ces derniers temps. Louis Horn et Ernest Wagner ne sont pj.s4 qu'on le sache bien, la caricature de certains sophistes celebres; c'est mieux que cela ..." QO Vgl. auch das Zitat S. 9U . 101

Schwaeche einer Philosophie, die nur spekulative Triumphe zu feiem

wusste und deren Humanismus vielleicht tatseachlich einen Anstrich von erzwungener, inhumaner Indifferenz und intellektueller Selbst-

gefaelligkeit hatte. Daher verwandelt Giseke Hom-Stirners Egoismus

ausdruecklich, den ganzen vormaerzlichen Radikalismus andeutungsweise

in resignierte Pose, in "Spekulation" und in bewusste Flucht zur

Starkgeisterei.

Es ist vor allem ein duesterer Schatten, den boms Philosophie auf die Welt des Radikalismus wirft, und zuweilen selbst den idealistisch-

revolutionaeren Altruismus -^rnst Wagners erschuettert (M.T., II,

140): Horns schliessliche Erkenntnis der Unvermeidlichkeit des

Selbstmords. Im Sinne Stirners ist dieser Pessimismus natuerlich

keines/,egs; Stirner predigt durchwegs "Weltgenuss" und eltfreude, und verteidigt nur das Recht - wenn man diesen Ausdruck bei ihm

ueberhaupt anwenden darf - auf den Selbstmord (E.u.s.S., S. 329,

334, et pass.)* Jener Pessimismus stammt von Giseke. So wie Horn

dem unertraeglich gewordenen "Spass" seines typisch radikalen, passiv

verspekulierten heben ein Ende bereitet, so ausweglos scheint auch

alles emanzipatorische freigeistige Trachten nach einem freien Leben:

es kann letztlich nur zu einem gewalt-samen Tode, wie bei Ernst Wagner,

dem idealistischsten aller Radikalen, oder bestenfalls zum "freien

Tode" fuehren, wie bei Horn, dem wirkliehkeitsbewusstesten aller

Radikalen. Der Selbstmord, so predigt Horn und so scheint der ver-

bitterte Ex-Liberale Giseke selbst zu sprechen, ist die allerlogischste

Konsequenz des humanistischen I'hilosophen in einer Epoche, in der es

keine Hoffnung auf vdrkliche Emanzipation gibt, und in einer Vfirklich- 102 keit, die unvermeidliche Sklaverei und Verwesung bedeutet. Hit ungeheurer Wucht empfindet Ernst V/agner, und kaum minder der Leser, diese Erkenntnis, wie sie Horn aufs offenste in seinem Abschieds- brief ausdrueckt. Die hiaske des egoistischen Bravados ist gefalien, es bleibt nichts mehr als Resignation. Noch einmal flackert eine verzweifelte Sehnsucht zur Hirklichkeit auf: es "blickte Anhaenglich- keit am Leben, Liebe und Ehre, die Sehnsucht nach dem Positiven durch all diese bodenlose Konseouenz des Nihilisten hindurch" (M.T.,

II, 131). Dann zieht die egoistische Resignation ihre letzte, typisch- ste spekulative und praktische Konsequenz:

Diese ganze Welt muss verwesen, hatte er [i.e. Horn] gesagt ... Er war die Philosophie, die durch Selbstmord und nur durch Selbstmord untergehen musste. Er hatte gelebt das Leben des reinen Denkens; jetzt war der logische Prozess vollendet, alle Gegensaetze hat er ueberwunden und kehrt in das reine Sein zurueck, - das das Nichts ist. "Was das Lumpengesindel von Henschen geschehen laesst, hab' ich selbst getan. Ich erklaerte im Leben die Selbstbestimmung, die Selbststaendigkeit, die Selbstliebe fuer mein Irinzip; ich bin konsequent im Tode, wie ich's im Leben war: ich sterbe durch Selbstmord.... Hein ganzes Leben - ein einziger, schlechter 7.'itz, der Niemandem Spass gemacht hat, am wenigsten mir selbst. Ain schlechter ':itz, und doch die Wahrheit selbst. Der Selbstmord ist die einzige konsequenz des Lebens." 33

Die Philosophie, die Horn durch sein "Leben des reinen Denkens" konsequent repraesentierte, ist der spekulative Humanismus. Horn, der die Schwaechen des Humanismus so scharf durchschaut hatte, erkennt nun auch die Schwaechen seines eigenen,nur vermeintlich staerkeren Ultrahumanismus. Und er fuehrt die Sntwicklung der

1.1.T. , II, 128 ff. - Bei Horn unterliegt der Egoismus der Wirklichkeit; bei Stirner ist es der Egoismus, der die bestehende Ordnung siegreich verwesen laesst. Vgl. etwa das Stirner Zitat, S. 9Uf. 103

Freigeisterei bis zu Hnde, er gibt dem Humanismus nun noch die

letzte Konsequenz, - "der logische Prozess ist vollendet".

Und so ist der Selbstmord das unaufdringliche, und doch un-

schwer erkennbare Leitmotiv von Gisekes Puaman ueber die humanistisch-

junghegelianischen "Titanen". Das . otiv erklingt erstmals, und

recht deutlic.h, schon in dem Brief, wo Irnst YJagner in duenkelhaften,

spekulativen und dabei sehr egozentrischen, fast an Korn-3tirner

erinnernden Lendungen den "freien Tod" als fast unvermeidbare hot- wendigkeit fuer das rebellische, spekulative Genie hinstellt (M.T.,

I, 129). Giseke bezeichnet seine Junghegelianer immer wieder als

"Zerrissene", die vom "’.feltschmerz" geplagt sind und daher auch mit

Selbstmordideen spielen; Horns Philosophie ist der bewusste konse-

quente "Weltschmerz", und sein Selbstmord die definitive Schlussfol-

gerung daraus. Y;enn auch nicht so offensichtlich wie durch die

rlucht in den freien Geist, oder durch den zu resignierter In-

differenz gezwungenen Altruismus u. dgl., v/ira durch das Motiv des

Selbstmordes, das fast alle jene Elemente in sich aufnimmt, die

Identifikation Korns mit dem Humanismus auf die geheimste, aber

eindrucksvollste Y,reise besiegelt. 3U

Damit kommen v.rir nun zu dem zusammenfassenden "Bilde Stirners,"

wie es sich in Gisekes Roman spiegelt. Giseke verfolgte mit seinem

Horn, der mit einer verzv/eifelten Liebesfaehigkeit fuer die '/.urklichkeit, fuer Frauen und Freunde begabt ist, erweist sich noch in den aeusserlichen Vorbereitungen fuer seinen Tod als spekulativer Ultrahumanist, als der vergeblich Liebende: die innerste, geheime Logik des Humanismus draengt ihn zum "eigenen" Tod; aeusserlich stellt sich sein Tod als Prinzipiensache, wohl gar als Liebessache dar, als "Duell". 104

Horn eine zweifache Absicht: Horn sollte der Doppelgaenger Stirners

und zugleich der Repraesentant des zeitgenoessischen Radikalismus werden; ohne einige Gewalttae.tigkeiten im Detail liess sich ein

solches Doppelbild nicht zeichnen. Der Stamrngast der Hippelschen

Kneipe, der die Philosophie des Egoismus erfunden hat, der - vde nicht

bloss Giseke irrig meinte - sich selbst als den "Einzigen" und die 35 He It als sein "Eigentum" betrachtet, - diese Figur ";var" Stirner

fuer jeden Leser, Kritiker, und fuer den Autor selbst, der seinen

Horn mit allerlei Zuegen aus dem Leben Stirners und mit zahlreichen

Reminiszenzen aus Stirners Philosophie ausstattete. Auch hatte

Giseke, wie seine Zeitgenossen, ein gevdsses Recht, Stirner bloss als den extremsten Junghegelianer zu klassifizieren. 36 Aber gerade

in der Vfahl der Beruehrungspunkte beweist Giseke keine glueckliche

Hand; gerade die Punkte, die Lorn bloss als Typus des radikalen

35 Der "Einzige" ist allezeit i.'issverstaendnissen, oft boes- williger Art, ausgesetzt gewesen; man vermutete dahinter Solipsismus, Privilegiensucht, etc. Gegen die Unterstellung, der "Einzige" sei e^-n Praedikat. und gar eines, das nur auf ihn selbst Geltung habe, hat sich Stirner schon im E.u.s.E. und dann noch energischer in seiner Antvrort gegen die Kritiken Feuerbachs etc. verwahrt: "Das Urteil 'Du bist einzig' heisst nicht anders als 'Du bist Du', ein Urteil, welches der Logiker ein widersinniges Urteil nennt, weil es nichts urteilt.... Der Einzige soil nur die letzte, die sterbende Aussage (Praedikat) von Dir und Mir ... sein ..." (Kleinere Schriften, 1. Aufl., d. 117 f.) 36 Der Junghegelianismus ist mehr eine Tendenz als eine Schule; dasselbe Bequemlichkeitsrecht und dieselben Einschraenkungen, die uns etwa erlauben, Kelvetius, d'Holbach, Voltaire, Diderot und Rousseau als "Auflclaerer" zusammenzufassen, gelten auch fuer die "neue Aufklaerung", wie sich die Junghegelianer gern nannten; trotz ihrer Fehden untereinander, und uebrigens auch oft gegen die "a3-te Aufklaerung", kann man Feuerbach, Stirner, Marx, D. F. Strauss, Bruno Bauer etc. als nicht mehr und nicht minder "zusammengehoerig" betrachten. 105

Philosophen zeichnen sollen, haben mit Stirner nichts, und zuweilen nur wenig mit dem historischen Junghegelianismus zu schaffen. Gisekes

Interpretation des Phaenomens Stirner ist verfehlt.

Giseke will Stirner im Rahmen der Zeitgeschichte interpretieren.

Darum verwischt er - wie es scheint, manchmal unbewusst - die Grenzen, die Stirner vom Junghegelianismus, oder genauer von Gisekes Bild des

Junghegelianismus, scheiden; Gisekes Horn erscheint oft wie ein Kon- glomerat von viel Stirner und etwas Bruno Bauer, Feuerbach etc. Und was Stirner typisieren soil, macht Gisekes Polemik ganz klar: die resignierte Flucht vor der Wirklichkeit in den "freien Geist", das ich-suechtige Genie-Aristokratentum, die "frevelhafte" Selbsttaeuschung des "frivolen" Gelaermes, das vornehme Revoluzertum, das trotz alles

Geredes eigentlich so "gesinnungslos" ist wie der verzweifelt-indiffe- rente Horn-Stirner selbst. Die Junghegelianer waren fuer Giseke un- revolutionaere Schwaechlinge, Snobs und Opportunisten, und Stirner, der Philosoph des Egoismus, ihr Prediger. Daher laesst Giseke sie mancbe ihrer Eigentuemlichkeiten mit denen Stirners austauschen. For allem den resigniert-ueberheblichen Kult des Genies und Geistes fuehrt

Gisekes "Stirner" bis zur allerletzten "Konsequenz" durch. Fuer Gise­ kes Stirner-Bild sind die authentisch stimerischen Ausfuehrungen

Horns ueber die "Gespenster" und "Geister" viel weniger bezeichnend, als Stellen, wie die Begruendung von Horns Philosophie (.vgl. Zitat,

S. 88), oder Gisekes Begruendung von Horns Selbstmord (vgl. Zitat,

S. 102). Wie etwa das Zitat auf S. 91 f. zeigt, weiss Giseke ganz

genau, dass diese Stellen im ’Tiderspruch zu Stirners Hauptthese stehen:

daher verraet er umso deufclicher, dass er eine grosszuegige historisohe 106

Interpretation liefern will, die, ohne viel Sorge urn textliche Treue, sowobl Stirner als die spekulativen Huroanisten charakterisieren soil.

"Stirners Bild als lypus" ist also zugleich eine Interpretation, naemlich Stirners, und eine Abstraktion, naemlich des philosophischen

Radikalismus. Was Giseke bewusst in dieses Bild hineingeheimnist hat, ist vor allera "das Leben des reinen Denkens": der misanthropische

SnobLsmus und extreme Zuege des Genie- und Geisteskultes. "Stirners

Bild als Typus", wie es hier skizziert wurde, war zweifellos das WLch- tigste fuer den Autor, dessen polemische Absichten auf eine historische

Totalabrechnung zielten. Gisekes Doppelbild - von Stirner dem amora- lischen Antihumanisten und Stirner dem repraesentativen Ultrahumanisten

- laesst sich daher am besten einem Vexierbild vergleichen: zunaechst sehen wir das Portrait des Philosophen des "Einzigen und seines Eigen- tums"; treten wir von dem Bild aber einige Schritte zurueck, so ver- schwimmen seine Zuege bis zur Unkenntlichkeit und wir erkennen den

Typus des pseudo-revolutionaeren spekulativen Humanisten, der, getreu seinen Prinzipien, die toedliche Ausweglosigkeit des freien Denkens theoretisch und praktisch beweist. Sein Selbstmord symbolisiert das

Wesen des nihilistischen Humanismus. Wilhelm Jordan, Demiurgos. Ein Mysterium

Es gilt als ausgemacht, dass Klopstocks Messias in der deutschen

Literatur einen "Abschluss" bedeutet hat. Seither hat sich tatsaech-

lich Icein philosophisches Epos oder episches Lesedrama eines nennens- werten Erfolgs bei Publikum oder Kritik erfreut, obgleich gewisse

Werlce dieser Art immer wieder kleine Gemeinden von Bewunderern fanden.

Dennoch liess sich eine betraechtliche Anzahl von Dichtern nicht ab-

halten, sich in jenen unpopulaeren Formen auszusprechen, ja es scheint

geradezu, dass ein besonderes Thema sie dazu draengte. Etwa von

Immermann bis Spitteler existiert eine "Gruppe" von paradoxen, meist

pessimistischen epischen Werken, die die endgueltige Niederlage des

Humanismus und den oieg der Religion verkuenden - sozusagen C-egen- 1 stuecke zu Bhelleys Prometheus Unbound.

Da diese Dichtungen viel des Bemerkenswerten und Schoenen ent-

halten, nimmt es nicht minder, dass einzelne dieser Werke doch einige

enthusiastische Bewunderer fanden. Vferke wie Immermanns Merlin.

Haehere Ausfuehrungen ueber das Wesen und die Grenzen des Gruppen- charakters jener deutschen Epen und epischen Lesedramen (von Immermann, Mosen, Jordan, Lipiner, S. neher, J. V. Widmann etc.) koennen hier nicht geboten werden. Es sei nur bemerkt, dass jene Ahasveriaden und Faustia- den, besonders die nach 184-8 entstandenen, trotz aller Verschiedenheit der Akzente und Einkleidungen fast ausnahmslos aufs engste zusammenge- hoeren. Ein bezeichnender Name fuer diese "Gruppe11 waere "Prometheus Bound Forever" oder "Paradise Lost Forever", - oder auch "Die Tragoedie des Ivlenschen", da das gleichnaraige beruehmte Werk von Imre Madach offensichtlich von Jordans Demiurgos und vielleicht auch von anderen Epen jener "Gruppe" entscheidend beeinflusst worden ist.

107 108

Jordans Demiurgos oder Lipiners Der gefesselte Prometheus sind oft genug mit den Yierken Dantes, Miltons oder Goethes verglichen worden; und besonders um das in Anlage und Ausfuehrung wohl grossartigste

Epos der ganzen "Gruppe", Wilhelm Jordans Demiurgos (1852/54-), ist es eigentlich nie ganz still geworden. In neuester Zeit war es be­

sonders Franz Koch, der Jordans berk mit ueberschvjaenglichem Lob

bedachte. auch schon ehe Koch in Jordan den V/egbereiter des "deut­

schen Glaubens" pries, hat es dem Autor des Demiurgos nicht an Ehren-

titeln gefehlt. Der Dichter, Philo soph, YY’issenschaftler, F'olyhistor,

Poll taker und Uebersetzer^ Joi’dan (1819-1904-) vrurde gern als der bohn Kalliopes, der Vorlaeufer uietzsches, der Y'Jegbereiter Darwins in Deutschland geruehmt.4- Aber Jordans unstreitig v;eitgreifender

Kuhm ruhte v/ohl doch weniger auf seinem Hauptwerk Demiurgos. als

auf 3einen Nibelunge, die er als wandernder Rhapsode in Europa und

2 Franz Koch, "Wilhelm Jordans ’Demiurgos"1, Abhh. d. Preuss. Akad. d. Y»is3.. Phil.-hist. Klasse, Jahrgang 194-2, No. 1. Vgl. auch Franz Koch, "Rilkes btunden-Buch - ein Akt deutschen Glaubens", Ibid.. Jahrgang 194-3, Do. 2. (Kier we ist Koch die Abhaengigkeit Rilkes von verschiedenen Yierken Jordons nach.)

** Darnit sind noch nicht alle beiten dieses violseitigen Genies aufgezaehlt. Vgl. etwa seine barmnlung "merkvjuerdiger Verbrechen und Kechtsfaelle": A. Dietzinann, W. Jordan und L. Meyer, Hacht- seiten der Gesellschaft ...(Leipzig. 1844/46). Bezucglich Jordans Uebersetzertaetigkeit (iiomer, etc.) vgl. auch FN 8.

4- Den Anspruch, durch fruehere Arbeiten wenigstens den Boden fuer Darwins Ideen in Deutschland vorbereitet zu haben, hat Jordan selbst erhobcn. Dr selbst war es auch, der gegen Nietzsche den V orvmrf des Plagiats richtetej merlnvucrdigerv/eise polemisierte er dabei gegen Nietzsches Auffassungen. Vgl. etwa Maurice Reinhold v. btcrn, WilheIt. Jordan, 3. nuf 1., (Frankfurt, 1911) S. 121 f. 109

Amerika rezitierte, und wohl vor allem auf seiner kurzen politischen

Taetigkeit: Jordan, der im Parlament von 184.8/49 von der aeussersten

Lihken zur Rechten ueberschwenkte und u.a. eine beruechtigte Hetzrede 6 gegen die Polen hieIt, wurde der oft belaechelte erste "Marinelord"

Deutschlands, d.h. der Sekretaer des Plottenausschusses und spaeter der Marinerat im Reichsmini3terium des Handels.

Jene politische Konversion Jordans war begreiflicherweise mit einer Wandlung in seinem philosophischen Denken verbunden. Einst war

Jordan ein extremer Junghegelianer geivesen, der gerade mit Stirner, 7 Bauer und den Berliner "Freien" befreundet war; er hatte an Wjgands

Viertel.iahrsschrift mitgearbeitet und in der von Stirner herau3gege- benen und von Wigand publizierten "eerie der Nationaloekonomen" seine

Uebersetzung von Proudhons Vierk Die Yv'idersnrueche der Mationaloeko- 3 nomie (1847) erscheinen lassen. Ein Jahr spaeter erfolgte seine

5 Selbst in aelteren Literaturgeschicliten und sogar Jordan-Biogra- phien (etwa der schon erwaehnten von M. R. v. Stern) wird den Nibe - lunge gern ein groesseres Gewicht beigemessen als dem Demiuraos.

6 In einer Szene des Demiurgos, wo verschiedene Notabilitaeten des deutschen Parlaments fluechtig vorueberziehen, fuehrt Jordan etwas spoettisch auch sich selbst ein: "Dann ist's der Polenfresser Jordan." (b. Jordan, Demiurgos, Leipzig, 1854, 10l)

^ V»ir verdanken einer Mitteilung , die der alte Jordan Iviackay machte, eine abweichende Version einer der wenigen Anekdoten und Fakten, die uns aus Stirners Leben bekannt sind. Sie bezieht sich auf einen Zwischenfall bei Stirners Hochzeit; unter den wenigen anwesenden Gaesten befanden sich auch Jordan und Bruno Bauer. 3 Es ist wohl ein Irrtum Mackays (M.-B.. S. 202), wenn er behaup- tet, Stirner habe 1847 nicht mehr diese Serie (Die National-Oekonomen der Franzosen und Englaender), fuer die Stirner selbst seine Ueber- setzungen von Adam Smith und J. B. Say lieferte, geleitet. Denn auch auf dem Vorsatzblatt der Jordanschen Proudhon-Uebersetzung (Band 9 und 10 der Serie) erscheint der Name Stirners als Herausgeber der 110

Konversion; und das erste Werk, das Jordan danach veroeffentiichte, war der Demiurgos. in dem er seine neuen Anschauungen in ein grandios mystisches Gewand kleidete. Der erste Teil erschien 1852 anonym in

Leipzig bei Brockhaus; 1854- folgte das vollstaendige V/erk (alls drei

Teile), und diesraal nannte sich Jordan als der Verfasser. Das Werk scheint ziemlichen Respekt, aber doch keinen ueberzeugenden Erfolg errungen zu haben,^ obgleich der ''Marinelord" Jordan damals eine r/ohlbekannte Fersoenlichkeit war, und schon im ersten Teil, in der

"Zueignung" an Herzog Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha, Anspielungen auf die offizielle Position des Autors diesen kenntlich genug machen mochten. Auch weiterhin scheint Jordans Hauptwerk mehr gelobt als gelesen worden zu sein, we ring le ich es bis heute mehrfach auch recht ausfuelirlich behandelt v»orden ist. Es verdient hervorgehoben zu warden, dass der grosse i/Vert des Demiurgos im wosentlichen nie be- stritten wurde; als Gruende fuer seine Vernachlaessigung verden meist

Serie, und das Exemplar der Ohio State University traegt sogar auf dem alten und zweifellos originalen Einband nur dsn Narnen "Stirner", aber sonst weder den Titel des IrVerkes noch die Namen Proudhons oder Jordans. Perner schrieb Xarl Gruen, von dem die zweite deutsche Uebersetzung desselben Y.'erkes stammt (ebenfalls 184-7), an Proudhon im Herbst 184-7, dass Stirner an einer Uebersetzung dieses IVerkes arbeite (vgl. Max hettlau, Der Vorfruehling der Anarchie. Berlin, 1925, Eussnote S. 147. - Der am 26.9.1347 aus Luettich datierte Brief ist sonst unveroeffent- licht geblieben). Damit kann aber nur Jordans Uebersetzung gemeint sein, die Stirner eben herausgab und an der er vielleicht gar mitar- beitete.

^ Das Vierk v.ird im Eolgenden einfach als "Dem.11 zitiert.

1 0 Erwaehnt sei hier der nur scheinbar sonderbare Umstand, dass Scho­ penhauer den Demiurgos lobte und bloss gegen dessen "ruchlosen Opti- mismus" einen kleinen Seitenhieb fuehrte. Ill

Eigenschaften angefuehrt, die einer groesseren Wuerdigung seitens der Literaturwissenschaft und selbst des allgemeinen Lesepublikums doch keine unueberwindlichen Widerstaende bieten sollten: das Werk sei zu reichhaltig, zu "gelehrt" und viel zu umfangreich.

Andererseits sind diese Einwaende - besonders der letzte - doch keine biossen Ausredenj es ist wirklieh unmoeglich, in be- schraenktem Rahmen auch nur eine notduerftige Inhaltsangabe des

Werkes zu liefem,^" geschweige denn, daran eine naehere Untersu- chung ueber Fragen literarischer oder philosophischer Art zu knuepfen. Da sich unsere vorliegende Arbeit vor allem mit einer

einzigen Szene des Demiurgos zu beschaeftigen hat, genuegt es

gluecklicherweise, nebst einem fluechtigen interpretativen deber- blick ueber das ganze Werk eine ganz duerftige Inhaltsangabe zu bieten.

Aehnlich wie die anderen Werke, die zu der frueher erwaehnten

"Gruppe" von Epen gehceren, predigt Jordans "ilysterium" die Vergeb-

lichlceit jedes Loekens 'wider den Stachelj nicht bloss irgendein spe-

ziiischer "Radikalismus", sondern jeder Eudaemonismus, jeder Hedonis- 12 mus, jedes anthropozentrische iloralsystem, Icurz, der philosophische

Franz Kochs langer Artikel ueber den Demiurgos (vgl. FK 2) widmet der Inhaltsangabe etwa ein Dutzend Seiten - ein ^iertel des Essays - ohne dabei viel mehr als die fuer seine Zwecke noetigen Punkte hervorzuheben. 12 Unter "Hedonismus" wird hier, wie in unserer A.rbeit im all­ gemeinen, vor allem das psychologische Motiv des hedonistischen Denkens verstanden. Also die~Su.cht, sich von Unbequemlichkeiten, Leiden und Lasten (vor allem aeusserer Kerkunft) freizumachen; das (vielleicht unbewusste) S.treben nach Epikurs Ataraxie. 112

Humanismus schleclithin ist blosse Utopie. Von aehnlichen, fatalis- tischen, aber raeist viel pessimistischeren herkcn der epischen

11 Gruppe” unterscheidet sich der Demiurgos jedoch vor allnm durch die Akzente, - einerseits durch seinen optimistischen "Amor Fati", andererseits durch die erbarmungsloss Schwaerze, dio brutale Ivla- jestaet, mit der, y/enigstens den groessten Teil des Epos hindurch, das Elend des eviig vergev;altigten Menscheia unbeschoenigt, ja mit grimmigen Triumph gezeichnet ydrd. Das Elend ist so ueberuaelti- gend hart, dass es gleichzeitig den Protest und das Gefuehl der

Ohnmacht jedes Protestes hervorruft, - bei den Figuren des Werkes und selbst beim Leser. Der Autor freilich predigt angesichts der cwigon Hoffnungslosigkeit der'mensclilichen Situation” daneben einen etv/as oberflaechlich-prahlerischen Optimismus. Leiden, Vergewalti- gung, Blut, Ungerechtigkeit und Sklaverei sind fuer Jordan der Sporn, der den Menschen vor einom unertraeglichen Madenleben und vor Para- 13 dieses-Faeulnis bewahrt. Dieser vitalistische Optimismus, dioses gezuungen-heroischa Ja-Sagen zu einem Leben der Qualen kann freilich nicht allzu grosse Ueberzeugungskraft besitzen, da ja laut Jordan die unertraegliche Befreiung von unertraeglichen Lasten nicraals statt-

13 Dio Unertraeglichkeit des faulen und fauligen Paradioseslebcns hat Jordan in einer eigenen Szene, die im utopischen "Nirgendheim" spielt, ironisch beschrieben: die Menschen dort werden bald der lang- v.'eilig blutlosen Gluecksfabrik ueberdruessig. - Imre Madachs schon erwaehntes dramatisches Epos Lie Traaoedie des Menschen (1859/60) verdankt seine Phalansteriura-Szene offensichtlich der Nirgendheim- Szene Jordans, v/ie denn ueberhaupt die Aehnlichkeit der baiden berke so frappant ist, dass man ivlada.chs berk fueglich lieber den "ungari- schen Demiurgos” als den”ungarischen Faust " nonnen sollte. finden kann und darf.

Die liaerte, Staerke, Exxigkeit, Anbetung3x.uer digkeit und Heil- samkeit der mensch lichen Misere ist fuer Jordan ein unabaenderliches

Gesetz eines kosmischen Prinzips und Moralsystems. Den ohnmaechti- gen Emanzipationsgeluesten der humanistischen Ethik steht, evdg siegreieh, als ihr unvereinbarer Gegensatz ein supranaturales Prin- zip gegenueber: die Religion. Ihrem uoberrnenschlichen Vesen nach repraesentiert sie, und ihrer kosmischen Macht nach verhaengt sie das unabaenderliche Leidenslos des Menschen. Alle Hoffnungen auf cine hedonistischej humanistische Vernaesserung dieses Resens der

Religion oder auf eine Ueberwindung der Religion sind gleich toe- U richt.

Jordan, zneifellos beeinflusst durch seinen ehemaligen Freund

Rtirner, betrachtet auch nach seiner Konversion Religion woertlich 15 "religio" (3indung). Doch ist sie ihrn nun ein ebenso tyran-

^ Vienn Jordan eine txuflisch-grausame Religion statuiert, die jedes Aufmuclcen des Menschensklaven vereiteit, so treiben ihn nicht bio inetaf)hysische Erv;aegungen hierzu, sondern auch politisch-soziale, wie das D'erk sehr haeufig durchblicken laesst (so z.B. in der Szene des Fuersten, der nach einem "Kappzaura" forscht). Man kann Gottschall (Die deutsche Rationallltoratur. Ill, 2^0 u. 237) nicht Unrecht gebon, wenn er dem Demiurgos ’’die voile Anerkennung der ausserordentlichen Schoen- hoiten" nicht vorentliaelt und doch resumiert: "Der Abschluss des Tita- nenringens ist die spiessbuergerlicho Idylle, die kindorvjiegende Be- ruhigung, der uralte Optimismus des ehelichen Pantof Dels.11 Der blut- und abenteuerdurstige Heroismus Jordans ist nicht unecht, aber doch offen durchtraenkt von dem Streben nach Sicherheit vor den meuteri- schen K&ve -Dots. 15 Vgl. z.B. E.u.s.E.« S. 51i "Gebundenheit oder relisio ist also die Religion in Beziehung auf Mich ..." 114

16 nisch-inhumanes ’.vie maechtiges Prinzip. Denn Religion ist fuer

Jordan umso anbetungswuerdiger, je schrecklicher sie sich enthuclltj je haerter ihre Zuechtigungen ausfalien, umso v.ahrer, mnechtiger und dabei fuer den verzaertelten, emanzipationssuechtigen Menschen abhasrtender und gesuender ist sio:

Das ist's, v;oran die Voollcer heute kranken,/ Dass nur zum Trost und geistigen Genuss/ Der Glaube dient, und seine Lebensschranken/ Vergessen sine als reiner Ueberfluss. (Deni., Ill, 183)

Man hat den Demiurgos - aehnlich v;ie auch einige endere Werke der 17 epischen "Grappa" - haeufig als eine Art von Theodizee bezeichnet.

Ganz unpassend ist diese Eenennung nicht. Doch scheint der Aus- druck "Diabolodizee" zutreffender: das hoechste uebernatuerliche

Desen, dessen reale Existenz, Macht und vaeterliche V.'eisheit Jordans

Mysterium nachveist, heisst Lucifer. Er ist der ausdrueckliche

Verteidiger, der Retter und Inbegriff der Religio Triumphans, or ist das oynbol und der Gesetzgeber der inhumanen kosmischen Maechte.

Er ist der Demiurgos, der sehr rcale und unleugbare Deltenlicrr, nach dessen Gesetz die Drde entsteht, ist und vergeht: er ist offen- kundig aber noch mehr: er ist die absolute und tatsaechlich einzige

"1 ^ ° Ler Demiurgos akzeptiert die unve:rhuellten Anlclagen der jung­ hegelianischen Iiumanisten gegen die Religion und bestaetigt her aus- fordernd alles, "uas dio Kritik als hoechsten Ruhiri,/ Als neue Offcn- barung feiert,/ Genannt 'Entdecktes Christentum1." (Dem.. III. 125). Line Anspielung auf Bruno Bauers Entdecktes Christentum (1S43)• 17 • Eo etna Gottschall, a.a.O., E. 236, oder Pranz Koch: "Also cine Theodizee! ... Vom Dichter des 19. Jahrhunderts wird mehr verlangt, nicht mehr nur die Rechtfertigung des Boesen in der Vie It, sondern seine Verherrlichung, ja Heiligung." (Koch, "V/ilhelm Jordans 1Demiurgos1", 6. 7) 115

IS Manifestation des Allmaechtigen. der Macht dieses Gegen,spielers

scheitern notvjendig alls Hoffnungen des opt im istischen Humanismus

auf einen Fortschritt ueber despotisch-patriarchalische Bevormundung

hinaus, auf Emanzipation von der quaelenden "Religio", auf ein

irdisch-humanistisches Faradies. Bei Jordan repraesentiert der

Teufel die Religion, eben yjeil sie das antihumanistische Frinzip ist.

Gott und Teufel vverden praktisch identifiziert, um den Abgrund zwi-

schen Gott und Mcnsch umso unueberbrueckbarer klaffen zu machen; aus

demselben Grund bemueht sich Jordan auch aufs eifrigste, den gnosti-

schen Mystizismus, also eine der am strengsten dualistischen Philo-

sophien, wieder zu Ehren zu bringen und auf moderne Vs'eise noch zu

verschaerfen. Um das eigentuemliche Wesen von Jordans Teufel zu ver-

deutlichen, sei auf das ganz entgegengesetzte Bild des Teufels hin-

gewiesen, wie es von der neueren literarischen Tradition seit dem

17. Jahrhundert so massgebend entwickelt worden war, dass ein Abwei-

chen bald kaum mehr moeglich schien. Besonders seit Byrons Gain

hatte der Teufel allmaehlich sein theologisches Stigma als Uebel-

taeter verloren und dafuer huraanistische, prometheische Zuege ange-

nommen. Das 19. Jahrhundert neigte dazu, im Teufel das entschieden-

xo1 £s wirklich scheint im Demiurgos Gott in keiner anderen Farm zu existieren: obgleich unter Geistern und Menschen oefters von Gott die Rede ist, erscheint er nur einrnal, - als eine Theaterpuppe in der religioesen Buchnontrilogie "Die goettliche Komoedie", die Lucifer, der Defensor i’idei, fuer den noch unbekehrten Humanisten "Heinrich" auffuehren laesst. Und tatsaechlich wird zuweilen selbst von den Geistern in Jordans Epos so geredet, als ob Gott eine blosse Hypo- thesc waere, die Lucifers hart-paedagogischen Zwecken nuetze (vgl. etv/a die Unterredung zwischen Lucifer und Mephisto ueber "Glaubens- vogelscheuchen" und, "Gespensterkram", Dem.. II, 218 f.). 116 ste und deutlichste Symbol der nach Emanzipation strebenden Menschen, der Freiheit und des saekulaeren Rationalisms zu sehen; Jordans

Teufel hingegen ist das Symbol Gottes, oder vielleicht genauer, Gott 19 ist ein Symbol des sehr realen Teufels. Die Jordan selbst, so war auch sein Teufel ein IConvertit geworden, ohne eine einzige gegen die

Religion gerichtete Anschuldigung zu leugnen: in Jordans Diabolodizee v;ird der angeklagte Gott nicht mangels handgreiflicher Eeweise, son­ dern uegen allzuvieler verdammender Tatsachen freigesprochen. Da

Gott ein Teufel ist, ist der terroristische Charakter der Religion bevJiesen; da dieser fuerchterliche Gott-Teufel sehr real, seine Hoelle diese Erde ist, beneist seine Grausamkeit auch die reale Macht des

Transzendenten.

Die Fabel von Jordans Epos knuepft an eine ‘.Vette an, die Lucifer, der Demiurg und Herr der Erde, mit seinem Zwillingsbruder Agatho- daemon, dem Geist des Guten, eingeht. Dieser ist von Entsetzen und

Srbarmen erfuelit ueber Lucifers "mit starrem Nein" geschaffene Erde und - moechte sie daher am liebsten crloesend vernichten. Lucifer

^ Die Eigentuemlichkeit dieser Auffassung erweist sich am klar- sten durch einen Vergleich mit dem ganz verschiedenen Teufelsbild von Jordans beruehmteren Zeitgenossen: etwa dem von Carducci (Inno a Satana). der sogar optimistisch den Eieg der humanistischen und rationalist!- schen Revolte prolclamierte: "Heil, 0 Gatani 0 Rebellion, des Verstan- des raechende Macht, heilI .,. Denn Du hast des Friesters Jehova besiegt"; oder mit dem von Baudelaire (Litanies de Satan). der seinen etyvas melancholischen Gruss an den Teufel richtet als den "Ziehvater aller dei'er, die Gott der Vater in seinem schy/arzen Grimme aus dem irdischen Paradies verjagte." Jordans Lucifer hingegen ist der Anwalt eines harten Patriarchalismus, und der Engel mit dem Flammenschvjert, dor den Menschen auf otvig verhindert, sein irdisches Paradies zu finden. 117 hingegen will ihm beweisen, dass der stete "Krieg Aller gegen Alle" die notwendigste Grundlage alles Lebens und auch aller Lebensfreude sei, und letztlich gar zur Zuechtung einer haerteren, gestaehlteren

Menschengattung fuehren wuerde. In mensehlicher Inkarnierung soli nun Agathodaemon die Erde und ihr hoellisches Leben kennen und seg- nen lernen. Agathodaemon waehlt als koerperliche Huelle die Person des Grafen Heinrich. Seit dem fruehen Tode seines Vatexs - der ein aeusserst tyrannischer und aeusserst wirkungsvoller Patriarch und 20 Bauernschinder gewesen war - ist Heinrich von seiner liebevollen

Mutter erzogen wordenj getreu ihrer Ueberzeugung, dass eine Frau ein besserer Erzieher sei als ein Mann, "der doch sich selber nie vergessen kann" (Dem..1. 82), hat sie ihren Sohn zu einem Altruisten und Idealisten herangezogen, wie sie glaubt, mit Erfolg:

Graefin: Er ist ein Mensch, der mit der Welt versoehntj/ Und Alles, was in seinem Herzen waltet,/ ... Ist rein wie unvermischtes Gold./ Lucifer: Das pflegt man zum Gebrauch nicht rein zu schlagen ... (Dem.. I, 83)

Tatsaechlich hat die moralische und physiologische Verzaertelung

Heinrich fast an den Hand von Selbstmord und Siechtum gebracht. In seinen bewusstlosen Fieberphantasien, als die "Natur" in ihm endlich siegt, die er sonst mit seinem Bewusstsein und seinem Willen geknech- tet hat (Dem.. I, 5 0 ), verflucht Heinrich alle Guete und Weichheit und sehnt sich nach harter Boesheit und nach Gift, - "nach dem, was die

Genesung schafft," wie Lucifer interpretiert. Um nun wenigstens

o n "Patriachalismus" scheint das unausgesprochene Schluesselwort im Demiurgos zu sein. Auf unaufdringliche, aber auch unueberhoerbare Weise geht das Motiv des brutal ungerechten, aber oft sehr tuechtig- wirkungsvollen Vaters durch das ganze Werk. 118 diesen Menschen zu retten, geht Agathodaemon in ihn ein; seine zu- kuenftige Lebensbahn wird von Lucifer richtig so vorausgesehen:

Den wuerd1 ich freilich schneller heilen,/ Duerft1 ich hoechstselbst in ihm verweilen./ Da wir jedoch, bei Licht betrachtet,/ Von Hause aus dieselbig sind,/ Genest wohl auch mit ihm dies Mat ter kind,/ Nur dass es erst nach Engelsrluegeln schmachtet ... (Dem.. I, 69) und sich erst vergeolich sehnen wil'd, "der Traeume Nirgendland, wo alle Schmerzen reiner Wonne weichen" zu finden.

So zieht nun Heinrich, meist in Begleitung Lucifera, durch die

Welt, - dieser Weltgang bildet den eigentlichen Inhalt des umfang- reichen Werkes. Heinrich hat so Gelegenheit, die entsetzlichen

Leiden der menschlichen Knechtschaft, aber auch die Laecherlichkeit und Unzulaenglichkeit aller Befreiungsversuche aus der Naehe zu be- obachten. Die Form seiner Meinungen wandelt sich, doch seinem huma- nistischen Streben nach Leidlosigkeit bleibt er treu. Zeigt er sich als Idealist, so kritisiert ihn Lucifer vom Standpunkt eines amora- lischen Naturalismus aus; kuemmert sich Heinrich mitleidig allzusehr um die Wirklichkeit und um spezifische Beduerfnisse, so predigt Lucifer einen drakonischen Idealismus, Religio, Zuechtigung und Zucht. Als

Heinrich das menschliche Elend nicht mehr ansehen kann, gibt sich

Lucifer sogar scheinbar fuer ueberwunden und gesteht Heinrich die alte

Geistermaeht Agathodaemons zu: nun waltet, freilich nur im beschraenk- ten Bereich von "Nirgendheim", der Geist des Guten frei und errichtet sein irdisch-humanistisches Paradies; doch in kuerzester Zeit verlangen die Menschen, die nun "fett", aber nicht "pikant" leben, nach dem alten

Blutvergiessen und Elend, und Heinrichs Regime nimmt ein wildes Ende, 119

Auf parabolische Weise lehrt nun Lucifer seinen Schuetzling die Ver- geblichkeit des Loekens wider den Stachel: auf einer uebermenschlichen

Buehne praesentiert er ein dreiteiliges Morality Plav. genannt "Die goettliche Komoedie", worin drei prominente humanistische Symbol- figuren (Prometheus, Hiob und "Faustin")^ begeistert das Lob Gottes verkuenden. Heinrich ist danach von seinem humanistischen und altru- istischen Weltschmerz endgueltig befreitj zusammen mit seiner "Helene” lebt er ein kraeftig-hartes Bauernleben, ohne sich weiter vim die

Menschheit zu kuemmern, und segnet in seiner Todesstunde das grausam- schoene Erdenleben. Der aus Heinrichs Huelle entsteigende Agatho­ daemon hat damit seine Wette verloren und bekennt sich, getreu der

Vereinbarung, als ewigen Sklaven Lucifers. Doch dieser will keinen

Gewinn: Agathodaemon ist nur sein anderes Ich und kann nicht sein

Vasall werden. In kurzem Gottespreis klingt das Epos aus, dessen

"Vorgesang" schon die Aufgabe verkuendet hatte, "auf der Spur zertret- ner Hoffnungssaaten den Gottesschritt im Weltgeschick" zu erraten;

"der Lauf der Welt geht stets die beste Bahn" (Dem.. I, ll):

Als alles Boese, alles Ungerechte/ Im Weltenplan vor meinem. Blick verschwand,/ Und eben das am sterblichen Geschlechte/ Als hoechsten Gnadenquell mein Geist erkannt,/ Was man verwuenscht als Keim von alien Qualen ... (Dem.. I, 14.)

Stirner nun erscheint in Jordans vimfangreichen Werk als eine kleine Nebenfigur, in dem letzten (sechsten) Buch des ersten Teils

21 Besonders das Hiob-Motiv zieht als Hauptmotiv durch Jordans ganzes Werk. Der aufgeklaerte, "moderns Hiob" weiss ueber den goett- lichen Urheber seiner Leiden nur allzugenau Bescheid, kann ihm aber doch niemals entrinnen und sollte daher lernen, Gott anzubeten und das Menschenelend minder wehleidig zu bewerten. 120

(Pea., I, 287-334-) • Wollte man all die Reden des "Einzigen", wie ihn Jordan nennt, Zeile fuer Zeile zusammenzfihlen, so wuerden sie nur wenig mehr als eine Seite fuellen. Scharf umrissene Zuege sind daher in diesem Miniaturbild nicht zu erwarten; es besteht aus zu

wenig Pinselstriehen, um eine schluessige Interpretation zu erlau- ben. Per Hintergrund, die Tendenz des gesamten Werkes muss diesem

Stirner-Bild die Akzente und Pimensionen geben helfenj durch eine

auffallende Bemerkung - durch einen Scheinvergleich des "Einzigen" mit Lucifer - bietet unS Jordan selbst die erste Handhabe zu einer

solchen Ergaenzung des Stirner-Bildes. Wir muessen diese indirekte

Beurteilung Stirners umso ernster nehmen, als dabei die extremen

Ansichten des "Einzigen" ausdruecklieh den gleich extremen, tat-

saechlich aber entgegengesetzten Ansichten des antihumanistischen

Pemiurgen selbst an die Seite gestellt werden. Es ist fast, als

sollte durch jene Parallels, sowie durch Lucifers scharfe Umkehrung

des Vergleichs in einen Gegensatz, ein Urteil sub specie aeternitatis ueber Stirner gefaellt werden, welches den unmittelbaren Eindruck, wie

er aus den Worten des "Einzigen" gewonnen werden koennte, auf trans-

zendente Weise korrigieren solle.

Betrachten wir zunaechst die unmittelbare Wirklichkeit, in der

Jordan den "Einzigen" vor seinen Richterstuhl zieht. Pie Szene

spielt in einem "grossen Saal in W 's Biergarten", d.h. in dem

Berliner Lokal von Walburg, das neben der Hippelschen Kneipe das

zweite Stammlokal der Berliner "Freien" war. Per Zeitpunkt ist 121

anscheinend Maerz 1848, wenige Sttmden vor Ausbruch der Revolution.

Allerlei Frondeure, Sozialisten, Demokraten, Junghegelianer, auch

einige kritische nationale Burachenschaftler sitzen beim Bier, als

Lucifer und Heinrich eintreten. Wie Lucifer schon frueher bemerkt

hat, soli hier Heinrich vernehmen, "was die Zukunft stammelt"

(Dem.. I, 284). Als Antwort auf Heinrichs anfaenglich gering-

schaetzige Bemerkungen ueber die hier versammelte "einheitslose

Sehar" macht ihn Lucifer darauf aufmerksam, dass dies utopistische

Malkontente seien, Humanisten, die ihm, Heinrich, voellig glichen.

Tatsaechlich ist das Hauptziel der meisten dort versammelten Zecher

dasselbe wie das Ziel Heinrichs: "der Menschheit Elend zu beschwoe-

ren" (Dem.. I, 288 f.). Und die durchsichtigen Pseudonyms2-^ der

Zecher verraten allerdings, dass es sich um die Koryphaeen des Jung­

hegelianismus, um Jordans ehemalige Freunde und Gesinnungsgenossen

handelt: Ruge ("Arnold"), die Brueder Bauer ("die heilige Familie",

bestehend aus "Sanct Bruno", "Sanct Adgarius" und "Sanct Eginbertus")

und Stirner ("der Einzige"). Stirner erscheint also hier in einem

Der Zeitpunkt ist nicht ausdruecklich angegeben; die Szaie spielt sozusagen zur Zeit irgendeiner Revolution.

22 Die im Demiurgos recht haeufigen Pseudonyme und abgekuerzten Namen sind nicht immer ganz so leicht wie hier zu entziffern (obwohl Jordan bei abgekuerzten Namen immer durch die passende Anzahl von Punkten die genaue Laenge des verschwiegenen Wortes andeutet; so z.B. wird der Name Walburg durch sechs Punkte hinter dem Grossbuchstaben verdeutlicht). Die Dissertation von Justus Fr. Wittkop, Jordans "Demiurgos" (Muenchen, 1926),enthaelt laut Inhaltsangabe einen Ab- schnitt ueber die im Epos erscheinenden Zeitgenossen Jordans, wo sicherlich viele oder alle Decknamen und Abkuerzungen aufgeloest sindj dieser Teil von Wittkops Dissertation ist mir aber leider unzugaenglieh geblieben. 122

Kreis von Philosophen, die von Lucifer als wesentlich "humanistisch" definiert wurden (s.o.), wobei freilich "jeder seinen Tick" hat und

"sich auf Spezialien" legt (Dem.. I, 288 f.). Jeder repraesentiert

sozusagen einen anderen ueberwundenen Standpunkt 2^ in der Entwick-

lung der junghegelianischen Philosophie. Vom ganzen Werk her gese-

hen, erscheint Stirner also einfach als eine Spielart von Humanisten,

d.h. als einer der Sucher nach Leidlosigkeit, Freiheit und Glueck,

der sich in seiner Suche "auf Spezialien" und "Ticks" legt. Doch

auf den ersten Blick scheint es freilich etwas zweifelhaft, ob

Jordan auch Stirner in jene Entwicklungsreihe einbezogen wissen

will. Der "Einzige" spoettelt ueber die Maenner der humanistischen

Theorie und - aehnlich wie der wirklich antihumanistische Lucifer2^ -

^ Mit dem Schlagwort "ueberwundener Standpunkt" bezeichneten erst die Junghegelianer selbst, und dann spoettisch ihre Gegner, die rast- lose Entwicklung des Junghegelianismus, in deren Vorlauf allmaehlich alle Metaphysik wegkritisiert wurde. Vgl. Dem.. I, 290: "Arnold: ... Der Standpunkt ist fuer immer ueberwunden."

2^ Aehnliche spoettische Kommentare liefert auch der ziemlich chau- vinistische Burschenschaftler "Pap", dessen Decknamen ich nicht mit Sicherheit entschluesseln kann. Vielleicht ist damit Friedrich Sass ("der lange Sass") gemeint, dessen Buch ueber Berlin (184-6) eine wichtige Quelle fuer das Studium der Berliner "Freien" ist. Meine Vermutung gruendet sich auf die Aehnlichkeit der Namen "Pap" und "Sass"j auf den Umstand, dass Sass einerseits zum "inneren Zirkel" der "Freien" gehoerte, aber durchaus nicht radikal war; und schliess- lich daxauf, dass er unter dem Pseudonym "Alexander Soltwedel" eine Broschuere veroeffentlichte, von der behauptet wurde, sie haette den ersten Anstoss zur Bildung einer deutschen Flotte gegeben. Der letz- tere Umstand wuerde ganz gut erklaeren, warum der "Marinelord" Jordan Sass die nicht ganz unwichtige Rolle des "Pap" gegeben haben koennte; Jordans Marine-Besessenheit kommt in seinem Werk mehrfach zu offenem Ausdruck, teilweise auf ziemlich banale Weise (Dem.. Ill, 239 f.) 123 ueber die Maenner der humanistischen "Praxis", die revolutionaeren

Politiker. Dabei zeigt sich der "Einzige" vor allem als jenseits des Liberalismus stehender Hedonist und Antiidealist; doch auf den

Humanismus selbst scheint er nur wie im Voruebergehen eingehen zu wollen, obwohl das Wort "Mensch" von den anderen Anwesenden fort- waehrend gebraucht wird.

Der "Einzige" ergreift erstmals das Wort, urn einige Reden der

Brueder Bauer zu kommentieren. Die drei Brueder selbst fuehlten sich erst gar nicht bemuessigt, Reden zu halten, und sahen dem 26 Tavernentreiben nur veraechtllch laechelnd zu. Lucifer ueber- redet sie, vor dem kneipenden Publikum die Bauersche "Kritik" vor- zutragen, die, wie Lucifer meint, die historische Entwicklung des ganzen Humanismus zum ueberwundenen Standpunkt mache und nun "das

Groesste zu beginnen wagt: die ganze Menschheit einfach auszu- pfeifen" (Dem.. I, 292) - eine der mehrfachen Anspielungen auf

Bauers Verachtung der "ungeistigen Masse". Sanct Bruno erlaeutert nun seine geschichtliche Leistung, naemlich die "Findung" des Men- 27 schen. Ueber diesen Fund hatte schon Stirner im Motto zum er3ten

Teil des E.u.a.E. gespoettelt (vgl. 3. 29); und obwohl er weiterhin

26 Eben hat "Arnold" eine Rede beendet, die thematisch mit dem dritten der Offenen Briefe zur Vertend-i w-mg des Humanismus von Ruge z us ammenhaengt. 27 "Die Revolution hat uns den Weg gebahnt,/ Doch selber stets nur dunkel gerungen/ Und ihre Zwecke hoechstens geahnt:/ Uns ist es, sie zu begreifen gelungen./ Sie war die Zeit der Mutterwehn,/ Die Menschheit ward von sich selbst entbunden:/ Wir lehrten das Kleine stehn und gehn,/ Denn wir erst haben 'den Menschen' gefunden." (Dem.. I, 292 f.) 124

- aehnlich wie Jordans Lucifer - auch einraeumt, dass Bauer bereits

beginne, sich "sogar hie und da ueber den Gedahken des Menschen, der

Menschheit und Humanitaet" lustig zu machen, sieht er im "Fund" des

"humanen Liberalen" Bauer doch nur einen "pfaeffischen Spuk", nur

die Weiterfuehrung und Kroenung der "religioesen Welt" (E.u.s.E..

S. 152 et pass.). Aehnlich, aber viel spoettischer, kritisiert

Jordans "Einziger" Bauer: "Ja, lasst uns zum heiligen Bruno beten,/

Der die Straussische Lehre - breitgetreten." (Dem.. I, 293) Nach

einigen Sticheleien des "Einzigen" ueber die Unverkaeuflichkeit

der Bauerschen Werke wendet sich die "heilige Familie" Bauer ver=

aechtlich zum Abgehen. "Sanct Bruno" haelt noch eine weihevoll-

unflaetige Rede, worin er sich als "heiliger Kritiker" und Metaphy-

siker, der das "Absolute" gepachtet habe, kundgibt; mit dem "Ge-

schmeiss", das auf die "Praxis" poche, wolle er nichts weiter zu

tun haben. Der "Einzige" tut dies mit einigen Worten ab, die zu-

naechst die "heilige Familie" vom Stirnerschen Standpunkt aus defi-

nieren:

Lasset sie laufenl Sie bilden sich ein,/ Des "Menschen an sich" Inkarnierung zu sein/ Und glauben, sie haetten ganz allein/ Die Weisheit mit Loeffeln gefressen./ Sie selber sind Pfaffen offenbar/ Wie Robespierre, der ein Blutpfaff war;/ Denn wer meint, fuer Alle sei Eines wahr,/ Der ist ein Pfaff, ist besessen. (Dem.. I, 295 f .)

An der "Praxis" in dem damals ueblichen Sinne, an der polltischen

"Praxis", ist der "Einzige" nicht interessiert. Robespierre, der

Mann der revolutionaeren "Praxis" ist ihm so gut ein dogmatischer

Metaphysiker, wie der theologisch dehkende Kritiker und Humanist 125

Bauer. Beide seien "besessene" Gleichmacher und Menschheitserloeser.

Man vergleiche hierzu folgende Stelle aus dem E.u.s.E.:

Da stossen wir auf einen uralten Wahn der Welt, die des Pfaffentums noch nicht entraten gelernt hat. Fuer eine Idee leben und schaffen, das sei der Beruf des Menschen ... Dies ist die Herrschaft der Idee, oder das Pfaffen- tum. Robespierre z.B., St.Just u.s.w. waren durch und durch Pfaffen, begeistert von der Idee, Enthusiasten, lconsequente Ruestzeuge dieser Idee, ideale M e n s c h e n . 2o

Nachdem Jordans "Einziger" sowohl den "praktischen" Robespierre wie die"Theorie" Bauers - die "Vollendung des Liberalismus", wie sie

Stirner, die "Spitze" der Kritik, wie sie Lucifer nennt - als pfaef- fi3 ch abgetan hat, entwickelt er nun auch die positiven Seiten seiner Weltanschauung:

Ich habe ganz und gar kein System,/ Ich handle wie's mir just bequem,/ Gut ist fuer mich, was angenehm,/ Habe gar keine goldenen Kaelber./ Ich hab1 mein Sach1 auf Nichts gestellt/ Und heilig ist mir nichts in der Welt,/ Nicht einmal ich mir selberj/ Denn wie wir eine Zigarre schmau- chen,/ So muessen wir auch uns selbst verbrauchen./ Zum Stehlen bin ich nur zu schlau,/ Sonst naehm1 ich's damit nicht so genau,/ Das Morden macht mir keinen Spass,/ Sonst wuerd1 ich mir's gewaehren./ Betraehte alles als einen Frass,/ Woran ich gedehke zu zehren/ So viel ich irgend bewaeltigen kann/ An Speise, Plai3 ier und Leuten,/ Und bin ich satt - nun, ein toter Mann/ Hoert nicht sein Grabeslaeuten. (Dem.. I, 296)

Diese Programmrede des "Einzigen" steht am Ende der Reihe von Selbst- darstellungen der junghegelianischen Theoretiker. Nun haben die

Maenner der hxananistischen "Praxis", die Soehne des "Pfaffen" Robes­ pierre das Wort, vor allem der liberal-republikanische "Floskelreich"

28 E.u.s.E.. S. 79. - Die franzoesischen Revolutionsmaenner als "pfaeffische" Diener eines "Moloch" erscheinen auch sonst zuweilen im E.u.s.E. (so z.B. S. 209). 126

(i.e. Ludwig Eichler) und der koramunistische "Frater Ioarieus". Der

"Einzige" findet Spass an ihren nebulosen, auf den Altruismus aufge- bauten Zukunftsprogrammen, aber auch an der Geschicklichkeit, mit der die Volksredner ihre Ahnungslosigkeit hinter vagen und trostverspre- chenden Phrasen zu verbergen und "sich stets herauszudrehn" wissen

(Dem.. I, 301). Als "V.'irbler", ein jugendlich-ungestuemes Mitglied 29 des "Gefolges" des "Einzigen", diesen zum Fortgehen bewegen will, da sie Beide den Standpunkt des phrasendreschenden Liberalismus laengst ueberwunden haetten, haelt ihn der "Einzige" zurueck:

... es gibt noch Spass die Menge/ Und tolle Reden mancher- lei./ Ich freue mich auf’s Schlussgedraenge:/ Mir ahnt so was von Polizei. (Dem.. I, 300)

An derlei "Gedraenge" - wie an den altruistischen Propagandareden - hat der "Einzige" freilieh nur eine egoistische, vorsichtig-datachierte

"Freude". Als schliesslich die Revolution ausbricht, aber noch bevor die ungemuetliche "Polizei" wirklich erscheint, findet der "%nzige" keinen Geschmack mehr daran, die spassige Unwirksamkeit des Humanismus aus der Naehe zu beobachten und zu glossieren, und verabschiedet sich:

Bon soir, messieurs! Ich spuere heut kein Juecken/ In meinem wohnlich umgewachsnen Fell./ Probiert den Spass und soUt' er euch gar gluecken,/ Dann bin ich g e m dabei; dann kommt und ruft den Tell. (Dem.. I, 331«)

29 7 Da wir ueber Stirners Leben und Umgang fast gar nichts wissen, laesst sich kaum mehr feststellen, wer mit "Wirbler" gemeint ist. Das Pseudonym schliesst zumindest die Moeglichkeit nicht aus, dass es sich um den ungestuemen jungen Hans v. Buelow handelt, der schon damals in den Berliner ultrademokratischen Clubs zuhause war, anarchistischen Ideen huldigte, mit Feder und Piano einigen Laerm machte, und mit Stir- ner kneipte, dem er eine lebenslaengliche Bewunderung bewahrte. Zur Zeit der Stirner-Renaissance der 9 0 -er Jahre hat Buelow noch auf teils notorische Weise versucht, Stirners Namen populaer zu machen. 127

Solange aber die Lage noch ruhig ist, findet der ’’Einzige" an den bloss theoretischen Erguessen des altruistischen Humanismus ein groesseres, weil gemuetlicheres Vergnuegen. Er bespoettelt die

Emanzipationsreden zuweilen aehnlich wie Lucifer. Doch der "Ein­ zige", der ja gegen Humanismus und Revolution nichts einzuwenden hat, solange und sobald sie einen ruhigen "Spass" versprechen, spottet vom Standpunkt der egoistischen Indifferenz ueber das un- bequeme, humanistisch-aufopfernde Bestreben, die Emanzipation ueber das Ich hinaus auf die Menschheit auszudehnen, oder vielleicht genauer, auf diesen Menschheitsspuk zu beschraenken. "Gut" ist ja fuer ihn nur das "Bequeme" und "Angenehme", wie er in den bezeich- nendsten Zeilen seiner Programmrede erlaeutert hat. Dieses nicht antihumanistische, sondern konsequent humanistische Streben, sich vom Druck aeusserer Hemmungen und Stoerungen zu emanzipieren, ver- raet sich auch durch einen Vergleich der nur scheinbax aehnlichen spoettischen Glossen, die der "Einzige" und Lucifer ueber die revo- lutionaeren Politiker oachen. Lucifer ist dabei, wie immer, vor allem Antihedonist und Antihumanist; in seinen Spott mischen sich, ganz anders als beim "Einzigen", immer Worte des Grimms gegen die

Erschuetterer der drakonischen Welt- und Gesellschaftsordnung, die er schuetzen will. Aus der Rede z.B., in der "Frater Icaricus" ein

kuenftiges Paradies von freien Menschen, das Ends aller Leiden, Ent- behrungen und Verfolgungen, den Bruederbund der allmaechtigen Mensch­ heit und dergleichen prophezeit, hoert Lucifer eine revolutionaere

Brandrede, der "Einzige" hingegen nur die idealistische Naivitaet 128

des Altruisten heraus. Lucifer bemerkt triumphierend: "zum Glueck"

werde wie immer auch diese "Glut" ein vernichtendes "Gegenfeuer"

entfachen, "sonst wuechse sie im Nu zum Uhgeheuer" (Dem.. I, 320).

Der "Einzige" hingegen belehrt den Frater, dessen humanistische,

hedonistische Theorie doch die Beduerfnisse Aller zu stillen ver-

spreche, es sei unvermeidlich, dass Jemand gewisse kleine Unbequem-

lichkeiten der empirischen Wirklichkeit auf sich werde nehmen

muessen; die geniesseriscbe "Erquickung", auf die der hedonistische

"Einzige" selbst so bedacht ist, schiene im humanistischen Paradies

doch nicht Allen zuteil werden zu koennen:

Da Ihr fuer Alles Hilfe wisst/ In Eurer Lehre der Be- glueckvmg,/ So sagt mir, wie's zu machen ist,/ Dass Jemand einzig aus Erquickung/ ... Bei Seite karrt der Hauptstadt Exkremente? (Dem., I, 323)

Der "Einzige" ist nur auf seine eigene Ungeniertheit und seinen Spass

bedacht. Als schliesslich beim Ausbruch der Revolution die altruis- tiscbe Emanzipationslust ungemuetlich wird, ueberlaesst er die idea­

list ischen Humanisten ihrer Aufopferungssucht und zleht sich nach

einem Seitenhieb auf "Floskelreichs" Feigheit unter spoettisch-

skeptischen Bemerkungen zurueck (vgl. Zitat S. 126).

Eine gewisse Aehnlichkeit des "Einzigen" mit Stimer ist nicht

in Abrede zu stellen. Und doch ist es offensichtlich nicht ganz

der authentische Stimer. Betrachten vdr die mit Schlagworten

und Paraphrasen Stirners durchsetzte Programmrede des "Einzigen".

Ihren ’Vbrten nach liesse sie sich zwar unstreitig etwa so deuten: Dem 129 "Einzigen" ist nichts "heiliges" Dogma. Er, der sein Sach1 auf

Nichts gestellt hat, ist durchaus nicht, wie die anderen Zecher im Walburgschen Bierhaus, darauf versessen, "der Menschheit Elend" zu kurieren. Er spottet ueber die geistbesessen-spekulativen philosophischen Humanisten; mit zyni sc hen Hinweisen auf die Wirk- lichkeit verspottet er den nebulosen Charakter der utopistisc’nen politischen Freiheitsprogramme; auch macht er sich ueber die Uneinig- keit der Freiheitsmaenner lustig.30 Die Welt existiert fuer ihn nur insoweit, als er sie "bewaeltigen" kann. Keine ethischen Dogmen hindern ihn am Verbrechen. Der ruecksichtslose Hunger seines Ego- ismus macht noch den "Einzigen" selbst zur Speise.

So liessen sich die Worte des "Einzigen" auf ziemlich stirne- rische Weise interpretieren. Aber etivas stimmt an dieser energisch klingenden Umschreibung nicht, passt nicht zu dem gemuetlichen, hemdaermeligen Ton der Programmrede. Und auch nicht zu dem, was wir sonst vom "Einzigen" sehen und ueber ihn erfahren. Sowie der "Ein­ zige" seine grosse Rede beendet hat, glaubt der entgeisterte Hein­ rich, in jenem extrem egoistischen und scheinbar ruecksichtslos-

"verbrecherischen" Programm die getreuen Ideen des extrem brutalen

Antihumanisten Lucifer wiedergefunden zu haben.

Nicht wahr, der hat des Nagels Kopf/ Getroffen nach Deiner Meinung?/ Lucifer: Ja, ungefaehr. - Berenikens Schopf/ War eine mit dem Weichselzopf/ Nicht unverwandte Erscheinung. ______(Dem.. I, 296 f.)

30 "Siehst du, sie kommen aneinander..." (Dem.. I, 30l). - Vgl. E.u.s.E.. S. 163 et pass. ("Bald hoeren Wir nichts mehr als das Schwertergeklirr der uneinigen Freiheitstraeumer...") 130

Die "ungefaehre" Aehnlichkeit ist nur eine grobe Augentaeuschurg;

Lucifer und der "Einzige" aehneln sich -wie das herrlichste Frauen- haar der Welt einer wulstartigen Kopfkraetze aehnelt. Durch den falschen Vergleich mit dem extremen Lucifer wird der "Einzige" - und mit ihm der Humanismus - erst richtie. vor allem auf entgegen- gesetzte extreme Weise, charakterisiert. Lucifer ist vor allem und immer der entschiedendste Feind des Hedonismus und Humanismus; er will das Menschenleid und Unfreiheit. Der "Einzige" ist ueber den unbequemen Humanismus hinaus der ungenierteste aller Hedonis- ten; er will Annehmlichkeiten, Spass und Ungebundenheit. Lucifer will dem Menschen moeglichst viel "Lebenslasten" aufbuerden; der

"Einzige" will moeglichst viele Unbequemlichkeiten loswerden.

Lucifers "starres Nein" ist das konservative "Gegenfeuer", das revolutionaere Gluten vertilgt; seine "spoettische Verneinurg" gilt der Freiheit und Leidlosigkeit, der Emanzipation der hedonis- tischen Humanisten, die "verzweiflungstoll" und ewig vergeblich einem "Zitterbild von Glueck", dem "Schlaraffenland" nachjagen

(Dem.. I, 325); er ist der drakonische Patriarch, der die Sache des Lebens und der konservativen Ordo auf grausame Zucht gestellt hat. Der "Einzige" hat sein Sach' auf Nichts gestellt, um moeg­ lichst ungeniert sein bescheidenes Stueckchen Welt geniessen zu 31 koennen; aein Nihilismus ist anarchisch auf Beseitigung von

Es sei daran erinnert, dass das Wort "Nihilismus" schon vor der "Russischen Aufklaerung der 6 0 -er Jahre" - in der Stirners Einfluss nachweislich bedeutend war - sehr populaer war, und nicht nur in der deutschen Sprache. Man bezeichnete damit vor allem den jung- 131 unangenehmen Hemmungen gerichtet. Lucifer predigt den "Krieg Aller gegen Alle", der von Heinrich immer wieder als das Gesetz des Fres- 32 sens und Gefressenwerdens bezeichnet wird. Lucifer spottet ueber

"faille Friedenszeiten"; aber sein heroischer Vitalismus laeuft darauf hinaus, den "Geist, der jeden Zaum gebrochen, mit einem frischen, heil'gen Graun" zu unterjochen (Dem.. I, 329). Jener

Allkrieg ist das Prinzip des despotischen Patriarchalismus und der weisse Terror, der alle laeppischen Emanzipationsversuche vertilgt.

Diese Welt ist Lucifer "gerade recht" (Dem.. I. 280) - solange sie naemlich konservativ und repressiv-grausam genug ist. Der "Einzige" wiederum behauptet die Welt als seinen "Frass" zu betrachten, und gerade der alte Ausdruck vom "Krieg Aller gegen Alle" wurde seiner- 33 zeit sehr haeufig als Definition von Stirners Philosophie benutzt.

Auch der"Einzige" scheint mit der Welt recht zufrieden zu sein; aber ihm ist "gut" genug, was "angenehm" und "bequem" genug ist. hegelianischen Radikalismus und ganz besonders Stirner. Vgl. etwa den fuer die Geschichte Von Gottfried Kellers "Ichelsonetten" wich- tigen anonymen Artikel von Wilhelm Schulz, "Eine literarische Fehde ueber den neuphilosophischen Nihilismus", Bl. f. litter. Unterhal- tung (Leipzig, I8 4 6 ), S. 4 1 4 ff.; oder S. 29 und 102 dieser Arbeit (bei Taillandier und Giseke).

^ Dem^, I, 33 f.j 55; 106; II, 163 et pass.

^ Vgl. etwa Anon. [Theodor Rohmer], Kritik des Sottesbegriffes. S. 19: "Demgemaess trat Stirner auf ... die nackte moralische und politische Anarchie wurde offen ... proklamiert. Der primitive 'Krieg Aller gegen Alle' ... war also das letzte Resultat einer Weltansicht, welche ... Nichts ist, als der europaeische Pantheismus selbst ..."; oder , Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Marx-Engels, Saemtliche Werke. Abt. 1, Bd. 4, S. 30; "... dass der soziale Krieg, der Krieg Aller gegen Alle, hier offen erklaert ist. Wie Freund Stirner, sehen die Leute einander nur fuer brauchbare Subjekte an ..." 132

Um seine Ungeniertheit zu sichern, schrumpft ihm die Welt, urn die er

sich nur kuemmert, soweit er sie "bewaeltigen" kann, zum Tavernen- winkel zusemmenj hier kann er ungeniert ruhig seine Zigarre "schmauchen" und seinen "Spass" geniessen, den er an den naiv-hedonistischen Welt-

verbesserern hat, die sich vergeblieh abmuehen, "Beglueckung" und

"Erquickung" auf die ganze Menschheit auszudehnen. Sein "Allkrieg",

seine - um mit Stirner zu reden - "verbrecherische Empoerung" zielt

auf bequemste Friedlichkeit; dieser Allkrieg invadiert nichts, sondern

bietet ein geruhiges Inseldasein. Nur den Hemmungen und Unbequemlich-

keiten, die in seinen freiwillig verkleinerten Gesichtswinkel fallen, hat der selbstzufriedene •Einzige" einen Allkrieg in Taschenformat und

Frivatausgabe angesagt. Und sobald die Schatten kuenftiger Unbequem-

lichkeiten handgreiflicher, minder theoretisch als sonst in die gemuet-

liche Friedlichkeit seiner Beobachtungsecke fallen, sobald sie seinen

ungenierten Biergenuss und seine ungenierten Bierepaesse zu stoeren

drohen, nimmt der friedfertige "Einzige" noch beizeiten Reissaus. Dass

er sich fuer die humanistische Revolution nicht interessiert, ist ver-

staendlich; aber man traut ihm auch kaum zu, dass er fuer seine eigene

"Empoerung" und "Selbstaufrichtung" wirklich kaempfen wuerde:^ dazu

scheint seine Bequemlichkeitssucht allzu konsequent zu sein. "Morden"

und selbst "Stehlen" ist ihm zu riskant und unamuesant, wie er selbst

proklamiertj sein "verbrecherischer" Amoralismus bleibt bequeme Theorie.

^ Vgl. das Stirner-Zitat auf S. 9 4 f. 133

Diese Interpretation, die zum Teil aus den Worten und Taten des

"Einzigen", zum Teil aus der Tendenz des ganzen Werkes und aus Hein­ richs irrigem Vergleich von Lucifer und dem "Einzigen" abgeleitet ist, scheint dem "Einzigen" bssser zu entsprechen als unsere fruehe- re, in ihrem energischen Ton irrefuehrende Gharakteristik. Handelte es sich nicht um einen Versuch Jordans, den Philosophen des Einzigen und seines Eigentums zu zeichnen, so haette sein "Einziger" statt al­ ler Stirner-Reminiszenzen einfach und besser sagen koennen: "Apres moi le deluge", und haette damit die Ideen seines Programms ziemlich erschoepfend und im richtigen Ton wiedergegeben. Selbst in der Pro- grammrede, wie sie der "Einzige" wirklich formuliert, sind "bequem" und "angenehm", wohl auch "Plaisier", die Schluesselworte. Im hero- ischen Demiurgos haben diese Worte einen ueblen Klang, - Lucifer ver- gleicht den hedonistischen "Einzigen" denn auch mit einem eklen "Weich- selzopf". Und auch im E.u.s.E. erscheinen diese Worte nicht sehr oft, und dann nicht in solchen Zusammenhaengen und mit solchen Akzenten wie hier. Bei Stirner wird eben der Bequemlichkeit nicht so viel auf- 35 geopfert, vor allem nicht die "Insurrektion" des "Willens". Alles

Gefaehrliche und Gefaehrdende an Stirners voluntaristischem Egoismus und Amoralismus ist bei Jordans "Einzigem" so gut wie verschwunden.

35 Vgl. etwa die Stelle, wo Stirner auf die zur "Revolution und gar Insurrektion" unfaebigen sittlichen Liberalen spottet und dabei ausdrueeklich von der "Bequemlichkeit" redet: "Bequem lebt sich's allerdings unter ihnen [i.e. "Schurken" wie Nero] nicht, da man keinen Augenblick seines Lebens sicher ist; allein lebt man unter den Sittlichen etwa bequemer? ... Nero wurde durch seine Besessen- heit sehr unbequem. Ihm aber wuerde ein eigener Mensch nicht alber- ner Weise 'das Heilige' entgegensetzen, um zu jammern ... sondern seinen Willen." (E.u.s.E.. S. 56 f.) 134

Das fast dionysische "Selbstverzehren" Stirners wird vom "Einzigen” als geruhsamer Zigarrengenuss betrachtet. Man vergleiche mit dieser faulen Bequemlichkeitssucht und selbstgenuegsamen Oefraessigkeit des

Egoismus etwa das Stirnerzitat auf S. 56, oder Stirners Worte ueber den allverzehrenden Hunger des Egoismus:

Wo Mir die Welt in den Weg kommt - und sie kommt Mir ueber- all in den Weg - da verzehre ich sie, um den Hunger Meines Egoismus zu stillen. Du bist fuer Mich nichts als - Meine Speise, gleichwie auch Ich von Dir verspeist und verbraucht werde. (E.u.sJS.. S. 306)

Die Welt kommt Jordans nicht gar so heisshungrigem "Einzigen" ueber- 36 haupt nicht in den Wegj er geht ihr vorsichtig aus dem Weg und be­ trachtet sie als amuesantes Spektakel. Was er von der Welt, die er als Frass betrachtet, wirklich "bewaeltigen" kann, ist eine Flasche

Bayrisch Bier. Stirner will moeglichst viel von der Welt als "Eigen- tum" habenj Jordans "Einziger" ist vor allem auf Behaebigkeit bedacht.

Nicht der ausschweifendste, sondern der in jeder Beziehung "ungenier- teste", ruhigste Genuss ist sein anspruchsloses Ziel. Sein Streben nach Ungeniertheit, d.h. seine tatsaechliche Geruhsamkeit, wie seine theoretische amoralische Wildheit, entstammen eben einer einzigen faulen Wurzel, einem bis zur Selbstgenuegsamkeit konsequenten Hedonis- mus, einem Streben nach voelliger Ataraxie. Er hat sein Sach1 offen- sichtlich darauf gestellt, moeglichst ungestoert seine bescheidenen

Ansprueche geniessen zu koennen und daher moeglichst wenig zu wollen.

36 Vor allem durch das geruhsame Tempo unterseheidet sich Jordans "Einziger" von Gisekes "Horn"; dieser flieht gehetzt vor der Wirklich- keit in die weite Welt des "freien Geistes". 135

Sein Egoismus, seine Indifferenz ist nur das Werkzeug seiner unge- heuren Bequemlichkeitssucht, ist nur der konsequenteste Ausdruck des humanistischen Strebens nach Freiheit von drueckenden Unbequem- lichkeiten. Der ’'Einzige*1 hat den Hedonismus der Humanisten kon- sequent durchgefuehrt, er hat ihn zugleich hemmungs-empfindlicher und praktikabler, naemlich ausschliessender und ausschliesslicher

(egoistisch) gemacht. Er geht ungehemmter auf ungenierte A-pathie aus, als jene ’’besessenen" und pathos-beladenen Idealisten. Aus

Bequemlichkeit und V erpfliehtungs scheu ist er Anti-Dogma tiker und daher auch antihumanistischer Anti-Altruist: sein "systemloser"

Egoismus, der ihn vor der "Besessenheit" jeder ethischen. also dogmatischen und mithin unbequemen Idee schuetzt, gewaehrt ihm ein voellig stoerungsfreies Inseldasein: waeren nicht unbequeme Auf- opferungen damit verbunden, so haette er gegen die ’’Beglueckung”, wie sie der "Frater Icaricus" predigt, nicht mehr das Mindeste ein- zuwendenj er waere wohl der einzige Mensch, der das voellig bequeme,

"reiz-lose", materialistisch-angenehme Leben im "Nirgendheim" Agatho- daemons auf die Da.uer aushielte.

Wir koermen nun zusammenfassen. Jordans Stirner-Bild besitzt sozusagen einen doppelten Rahmen: der engere Rahmen ist die Szene bei Walburg, der weitere wird durch das ganze Werk und besonders durch die scheinbare Aehnlichkeit des "Einzigen" mit dem teuflischen

Demiurg geliefert. Der engere Rahmen ist rein historisch: in einer historisch passenden Lokalitaet findet eine Auseinandersetzung statt, die das Verhaeltnis der Stirnerschen Ideen zu denen der an- 136 deren Junghegelianer und zu denen der revolutionaeren Utopisten beleuchtet. In dlesem Punkt aehnelt Jordans "Stirner" dem Demiur- gen Lucifer. Der Humanismus, in Gestalt der philosophischen

Theorie wie der politischen Praxis, wird verworfen als utopisch-

"pfaeffischer" Idealismus. Doch diese Ablehnung und die damit verbundene Proklamation eines amoralischen Egoismus ist fuer Jor­ dans "Stirner" im wesentlichen eine Schutzmassnahme. Er ist in erater Linie Anti-Dogmatiker: wie jede praktische Unruhe, so haelt er auch jede "Besessenheit" des "Idealismus", jede Verpflichtung eines "pfaeffischan" Dogmas von sich fern, und zwar aus genuss- suechtiger, ja ueberfauler Bequemlichkeit. Seine aeusserst theo- retische Wildheit ist die Konsequenz seiner Harmlosigkeit, seines spiessbuergerlichen Quietismus. Er ist friedlich und zufrieden; die Welt ist ihm just recht, naemlich bequem und angenehm genug.

Die Welt, in der er seinen Frass sieht, besteht aus einer sicheren

Tavernenecke, aus der er seinen anspruchslosen Vergnuegungen, vor allem der zynisch-indifferenten Beobachtung, nachgehen kann. Er will und braucht keine Revolution, und ist augenscheinlich - um mit Stirner zu reden - auch zur egoistischen "Insurrektion" unfae- hig: dem "Hunger seines Egoismus" mangelt offensichtlich die Willens- kraft. Daechte er nicht durchaus materialistisch, so waere er der

Solipsist par excellence; so aber ist der "Einzige" ein Unikum, dessen Ziel ein auesserst friedliches Inseldasein ist.

Der weitere Rahmen gibt diesem Stirner-Bild erst das richtige

Relief. Der mythisch-christliche Hintergrund des Epos, vor allem 137 die Scheinparallele mit Lucifer, dem Sprachrohr des antirevolutio- naeren Konvertiten Jordan, zeigen zunaechst, dass Jordans "Stirner" nicht teuflisch - das heisst hier, idealistisch und christlich - sondern materialistisch und ultrahumanistisch ist. Selbst in den

Momenten, two Lucifer dem "Einzigen" zu aehneln scheint, ist Lucifer der Dogmatiker einer teleologischen, idealistischen Zucht, die aus- 37 druecklich als Zuechtigung und Zuechtung verstanden wird; ihm ist die Welt just recht, sofern sie erausam genug ist. Diese teuflisch- religioese Grausamkeit mangelt dem Jordanschen "Stirner". Seine

Sucht nach dem "Angenehmen" und "Bequemen", wie auch seine Harmlosig- keit treten durch den Scheinvergleich mit Lucifer verstaerkt hervor.

Ihm fehlt alles teleologische Dehken und, damit verbunden, auch die

Grausamkeit und schliesslich die heroische Groesse. Vom groesseren

Bahmen her betrachtet, scheint Stirner nicht bloss durch den engeren

Rahmen - den historischen Zusammenhang und die historische Lokali- taet - mit den Humanisten verbunden. Die Unterschiede verschwinden eigentlich nun ganz: er ist ebenso Hedonist wie sie; und sie, die freilich auf bloss utopische und pathetische Weise ein irdisches

Glueckseligkeits-Paradie3 anstreben, sind ebensosehr Materialisten und Nihilisten wie der apathische "Einzige". Der annehmlichkeits- suchende Hedonismus schlaegt die Bruecke: der amoralisch-ungenierteste aller Hedonisten ist eigentlich der konsequenteste, ist der Ultra-

37 Die Idee Jordans, durch Zuchtwahi und leidvolle Zuechtigung eine zukuenftige harte Mensehenrasse "heranzuzuechten", ist verschie- dentlich als die Hauptidee des Werkes bezeiohnet worden. 138

Humanist. Sein amoralischer Nihilismus ist humanistische Konsequenz und trennt ihn daher von Lucifer. Von diesem Idealisten, der die grausame Religjo. den kosmischen "Krieg Aller gegen Alle" vertritt, ist im Grunde kein Humanist so weit entfernt wie gerade der "Einzige", dessen harmloses Gesetz des "Frasses" auf den gesichert-behaebigen

Spass eines krawallierenden Tavernenlebens hinauslaeuft. G. Fr. Daumer, Das Christentum und sein Urheber. Mit Beziehung auf Renan. Schenkel. Strauss. Bauer. Feuerbach, %ge, Stirner und die gesammte moderne Negation.

Obwohl mehrere Spezialarbeiten ueber Georg Friedrich Daumer

(1800-1875) vorliegen, ist sein Name aus der neueren literarischen und philosophischen Forschung, vor allem aus den Literaturge- schichten, so gut m e verschwunden. Ganz erklaerlich ist dies nicht bei einem Autor, dessen Hafis im Nachmaerz eine Zeitlang das meistgelesene lyrische Werk Deutschlands war; bei einem Autor, den Karl Rosenkranz "ein Hapax Legomenon in unserer Philosophie, deren Geschichte einst eine der denkwuerdigsten Perioden der

Philosophie ueberhaupt ausmachen wird" nannte;^ bei einem Autor, den St. -Rene Taillandier in der Revue des deux mondes so char- 2 akterisierte:

M. Daumer est un des plus curieux ecrivains qui se soient produits depuis bien des annees dans la litterature alle- mande. C'est un poete d'elite et un penseur extravagant .. » . Apres Uhland et Henri Heine, il n'est personne aujour- d'hui qui manie l'idiome lyrique avec une si parfaite habilite; apres LM. Feuerbach et Stirner, il n'est pas de .jeune hegelien qui ait jete plus d 1 outrages a la religion du Christ ...

Heute muessen wir einfach feststellen, dass Darners Name wohi voellig verschollen waere, vremn er nicht vom Zufall an lebens- kraeftigere Namen geknuepft und so einigerraassen gerettet worden

Karl Rosenkranz, Aus einem Tagebuch (Leipzig, 1854), S. 141.

^ St. -Rene Taillandier, "Mouvement litteraire de I'Allemagne", II, Revue des deux mondes, 1853/II, 381.

139 140 waere. Haette nicht zahlreiche Lieder Daumers vertont, haette der junge Karl Harx nicht eine Einleitung zu einem

Werke Daumers verfasst, haette der beruehmte Findling nicht der Vormundschaft Daumers unterstanden, so mierden heute einzig einige theologische Traktate den atheistisch-pantheistischen Schwaer- mer erwaehnen, der sich spaeter bekehrte und in raystischen und mystagogischen Schriften den Katholizismus propagierte.3

Daumers Schrift: Das Christentum und sein Urheber. I/dt Beziehung auf Renan, Schenkel, Strauss, Bauer, Feuerbach, Huge, Stirner und die gesammte modeme Negation erschien 1864 in Nuernberg.^- Das

Werk gehoert zu der Legion von polemischen Schriften, die - oft in zahlreichen Auflagen - ueberall in Europa der Veroeffentlichung von

Renans La Vie de Jesus folgten. Nur ein genauer Kenner jener pole­ mischen Literatur wird entscheiden koennen, ob Daumers Schrift sich durch besondere Eigentuemlichkeiten aus der Flut jener Veroeffent- lichungen hervorhebt oder nicht. Trotz Daumers anfaenglicher Be- hauptung, er sei kein Dogmatiker und "Theolog von Profession", sondem verrichte sein kritisches Werk vom Standpunkt des Hystikers aus (Chr.. S.VIl), scheint sein Buch sich nur in unwesentlichen

^Um das Wesen von Daumers gelehrter Ifystik naeher anzudeuten, genuege hier der (etwas verkuerzte) Titel eines seiner Schriften, - nebenbei ein Titel, der an scholastischer Laenge den Titel des Werkes, das den Gegenstand unserer Untersuchung bildet, noch weit uebertrifft: Der Zukunftsidealismus der Vorwelt, namentlich was die auf die christ- lichen Dinge bezueglichen Ahnungen, Seherblicke, Erwartungen, Mysterienbilder und anticipirenden Religionsculte des druidischen, roemischen, griechischen, phoenizischen, aegyptischen und amerikani- schen Alterthums betrifft. Nachgewiesen und in's Licht gesetzt von G. Fr. Daumer, Professor. Nebst einer zeitgeschichtlichen Zugabe ... (Regensburg,1874).

^ Das Werk wird hier weiterhin einfach als "Chr.M zitiert. 1A1

Punkten von den "professionellen" Angriffen (soweit sie mir bekannt

sind) zu unterscheiden.

Das Merkwuerdigste an Daumers Schrift ist wohl - die voeilige

Vergessenheit, in der sie, wie es scheint, von Beginn an, verblieben ist. Schon Kaysers und Heinsius1 Buecherverzeichnisse geben ohne je­ de entsprechende Andeutung den Titel von Daumers Werk in verstuemmel- ter, verkuerzter Form. ^ Zur Zeit ihrer Veroeffentlichung hat Daumers

‘■’chrift kaum Interesse erweckt. Auch die spaetere Stirner-Forschung hat das Werk ganz uebersehenj in der Daumer-Iiteratur erscheint das

Werk selten, und eigentlich nur in den bibliographischen Appendices, land zwar in der ohne Hinweis verkuerzten Form, wie sie in den Buecher- z lexiken von Kayser und Heinsius geboten wird. Es kann kaum ein

Zweifel bestehen: Daumers Schrift (die anscheinend auch schwer er-

haeltiichist) blieb ein voellig unbekanntes Buch.

Sinige recht naheliegende Verrautungen ueber die Ursachen dieser

Vernachlaessigung seien hier wenigstens angedeutet. Erstlich hatte

5 Jene Buecherverzeichnisse zitieren den Titel auf irrefuehrende ^eise so: "Das Christentum und sein Urheber. Fit Beziehung auf Renan, Schenkel, Strauss, etc." Der Benutzer kann kaum argwoehnen, dass dies ein blosses Titel-Fragment ist, -umso weniger, als jene Ver- zeichnisse sonst (auch bei anderen Werken Daumers) viel ausfuehrlicher und genauer zitieren. -Hier sei nebenbei bemerkt, dass der Artikel "Daumer" in der APB fuer das Werk die irrige Jahreszahl 1862 gibt, es also ein Jahr vor Renans Vie de Jesus ansetzt.

^ In einer modernen Arbeit ueber Daumers Religionsphilosophie findet sich im bibliographischen Anhang der Titel der Daumerschen Schrift in der unrichtigen Form, die sicher auf Kayser und Heinsius zurueckzufuehren istj doch in jener Arbeit selbst wird auch (und zwar auf eine belanglose und sonderbare Weise) auf eine Stelle aus Daumers Schrift verwiesen. (Agnes Kuehne, Der Religionsphilo soph C-eorg Fried­ rich Daumer, Wege und Wirkungen seiner Bntwicklung, Diss. Berlin 1936, "7 s789). 142 sich Daumers Ruhm in den 60-er Jahren schon ziemlich ueberlebtj aus dem Dichter war schon laengst ein Prediger geworden, und der Name des einst gefeierten Lyrilcers erweckte nicht mehr die Neugier des

Publikums. Aber auch das Modeinteresse an dem Gegenstand seines vVerkes konnte anderwaerts besser und schneller befriedigt werden. 7 Besser: wie die oft sich ueberstuerzenden Auflagenziffern zeigen, brachte das Publikum den Schriften der "Theologen von Profession" - vor allem den Schriften, die kirchliche Wuerdentraeger oder Theo- logieprofessoren gegen Renan richteten - groesseres Interesse oder

Vertrauen entgegen, als den Privatmeinungen des Konvertiten, der

einst den "Molochdienst" der biblischen Religionen angeprangert

hatte. Und auch schneller: nach einigen Monaten des Schocks und

der gegenseitigen Aufmunterung zur Abwehr setzte mit den ersten

Monaten des Jahres 1364 auch in Deutschland jene Flut von theolcgi-

'schen Streitschriften und Uebersetzungen von Streitschriften ein,

die ausser Renan auch ziemlich regelmaessig "die Juden", "den

Rational!smus" und vor allem "die Demokraten" und "Kommunisten"

angriffen und so auch den nicht-theologischen Beduerfnissen einer

breiteren Leserschicht entgegenkamen. Daumers Polemik, zu der auch g er erst "verschiedentiich aufgefordert" worden war, wurde zwar, wie

der Autor berichtet, auch schon anfangs 1864 geschrieben, erschien

"^Sebastian Brunners Schrift Der Atheist Renan und sein Evangelium, (Regensburg, 1864) erschien noch I8 64 in 2. Auflage. Schon an­ fangs 1864 erschienen die deutsche Uebersetzungen u.a. von Cde Monzie-]Lasserres oder Dupanloups Schriften gegen Renan, jene aus der 17., diese aus der 5- franzoesischen Auflage uebersetzt. g Chr., S.VII. - Daumer erwaehnt nebenbei, dass er erst auf dieses Draengen hin Renans Buch "endlich doch" gelesen habe. 143 jedoch erst im Sommer desselben Jahres. Eine solche kleine Ver- zoegerung mochte dem Verzicht auf einen Modeerfolg gleichkommen, wie q Daumer selbst anzudeuten scheint; 7 umsomehr, als Daumers Werk minder grob und hetzerisch ist als etwa Sebastian Brunners Der Atheist Renan und sein Evangelium, das, wohl das erste deutsche Werk ueber Renan, in den ersten Monaten des Jahres 1864 erschien und noch im selben

Jahre wiederaufgelegt wurde.

Fuer die Stirner-Forschung bietet Daumers Schrift ein gewisses

Interesse. Der Zufall, dass in alien sekundaeren Quellen ihr Titel mangelhaft wiedergegeben wird, macht den Umstand nur noch pikanter, dass die Erwaehnung des Mamens "Stirner" im vollstaendigen Titel wohl das frueheste und weiterhin seltene Beispiel ist fuer die Nennung dieses erst verrufenen und dann langsam in Vergessenheit geratenden

Namens im Titel eines groesseren Werkes. Zwanzig Jahre waren seit

Erscheinen des E.u.s.E., acht Jahre seit Stirners Tod verstrichen, als Daumers Schrift erschien, die schon mit ihrem Titel einen ge- wissen Abschnitt in der Geschichte der Stirner-Betrachtung raarkiert.

Was der Titel andeutet, fuehrt das Buch tatsaechlich des naeheren aus: Stirner - von alien im Titel genannten Autoren behandelt Daumer ihn neben Renan am eindringlichsten - wird als definitives, re­ presentatives Phaenomen innerhalb der Geschichte der Philosophie beurteilt. Er wird geschichtlich-theologisch betrachtet; der

^ "Ich habe nicht sogleich, wie der Laerm darueber anging, Notiz davon genommen, well es wider meine Art und Natur ist, der 'ode zu huldigen und mich in eine gerade im Schwung gehende Zeitstroemung knechtisch hinreissen zu lassen ... indessen erschienen mehrere Schriften wider Renan, die mich jedoch nicht bewogen, die meinige ... gaenzlich zurueckzunehmen. Sie ... wird neben den anderen immerhin ebenfalls ihre Stelle einnehmen koennen." Chr., S. VI f. und XI). 1UU

Schwefelgestank, der seinen Namen schon frueher so oft umwittert hatte, vard zu klassifizieren gesucht.

Daumers Art, Stirner zu behandeln, ist im wesentlichen nichts ganz Neues; Stirner wurde schon seit jeher als ein superlativisches

Unikum in der Geschichte der Ethik aufgefasst. Aber in frueheren

Betrachtungen wurde Stirner gleichzeitig als "Diabolus in Philo- sophia" und als Zeitgenosse beurteiltj der Akzent lag mehr auf dem moralischen als auf dem historischen Aspekt der Stirnerschen Philo­

sophie. Der historisch einzigartige Charakter seines Amoralismus wurde hervorgehoben, aber - wohl mangels bistorischer Distanz - doch vor allem in den Rahmen der engsten Zeitgeschichte eingefuegtj man

sah Stirner sozusagen als Stammgast der Hippelschen Kneipe. Nur seine

Stellung innerhalb des zeitgenoessischen Radikalismus stand zur Dis- kussion, wurde als teuflischer oder konsequenter Auswuchs des Jung- hegelianismus umstritten.^ In Daumers Schrift hat der geschicht-

liche Rahmen, in dem Stimer portraitiert wird, sich bedeutend er- weitert.

In dieser Hinsicht ist Daumers Werk ein Vorlaeufer von F. A.

Ianges Geschichte des Materialismus, ein Buch, das 2 Jahre spaeter

erschien und - neben Ruges Unsre letzten zehn Jahre - mehr zur Aus-

gestaltung des Stirner-Bildes und zur Verbreitung von Stirners Namen

und Ideen (in fragmentarischer Form) beigetragen hat, als der E.u.s.E.

selbst. Ruges und Langes Werke sind ferner auch typisch fuer die

Dass Ruge (und dann auf sein Draengen hin auch der junge Kuno Fischer) Stirner oefters als "Sophisten" klassifizierte, war bloss durch einige historische Hinweise gestuetzte Poleinik, und nicht etwa komparative Geschichtsbeschreibung. 145 alte und neue historische Form, fuer die verschiedenen Rahmen, in

die das Phaenomen Stirner geschichtlich eingespannt wurde: dort die

"letzten 10 Jahre," hier eine Geschichte des philosophischen Material- ismus. Fuer Huge bildet Stirner den gefaehrlich ueberkonsequenten, ueberschnappenden Abschluss des Junghegelianismus und etwa - viel- leicht in Folge dessen - den geschichtlichen Hoehepunkt alles krit- ischen, radikalen und amoralischen Denken. Lange hingegen behandelt

Stirner, dessen "beruechtigtes" Buch nicht genuegend Einfluss aus- geuebt habe, um ausfuehrlicher besprochen zu werden,^- als den let­

zten Autor einer bereits historisch gewordenen Epoche, um dann auf

die zeitgenoessischen Philosophen ueberzugehen. Dabei gesteht Lange

Stirners Philosophie eine unabhaengige Stellung in der Geschichte zu:

sie habe mit Materialismus nicht viel zu schaffen und koenne eher als ein Revers zu Schopenhauers Philosophie des Willens geltenj es

sei bedauerlich, dass Stimer seinem E.u.s.E. nicht einen zweiten,

positiven Teil habe nachfolgen lassen. Dass Stirners Buch ein super-

lativisches Unilcum sei, hebt natuerlich auch Lange hervor. Der

Unterschied zwischen Ruge und Lange besteht eben in der Perspektive,

in der dieses unbestrittene Unilcum gesehen wird: Ruge versucht, fuer

^timer Beziehungen innerhalb des herrschenden und freilich histor­

isch gewichtigen Junghegelianismus zu finden; Lange versucht, freilich

^ Diese Behauptung Langes - wie ueberhaupt seine ganze Darstel- lung Stirners - mochte wohl geeignet sein, die Neugier des Lesers auf Stimer zu lenken. Da die moderne Stirnerforschung Hackay ueberhaupt ihr Leben verdankt, sei hier dankbar festgehalten, dass es Ianges Werk gewesen ist, welches Mackays Interesse an Stimer wachrief. Auch die mehrfach (von Joel, Levy, etc.) auxgestellte Behauptung, dass Nietz­ sche durch dieselbe Quelle zu Stirner gelangt sei, verdient hier Srwaehnung. 146 auf etwas uriklare V/eise, Stirner in eine lange, historische Reihe irgendvie einzugliedern. Bei Ruge haben wir das zeitgeschichtliche

Detail, die Polemik, die Unsicherheit, das Schwanken zwischen grosser

Bewunderung und grosser Abneigung; bei Lange finden wir nur Kcnturen und das geschichtliche Resumee.

Und diese Methode Langes, aber ohne seine deutlich bewundernde

Bewertung Stirners, finden wir schon in der frueher entstandenen

Schrift Daumers, die Stirner eben in groesste historische Zusaramenhaenge zu bringen 3ucht. Gewiss verfolgt Daumer mit seiner Ueschichts- schreibung vor allem polemische, naemlich theologisch-polemische 12 Absichten; aber selbst seine Polemik ist ein Versuch, historisch zu urteilen: die Ziele des freiheitlichen Denkens werden durch die

Geschichte des freiheitlichen Denkens verurteilt. Das Echo gewisser polemischer Assoziationen, die einst so gern an Stirners Namen ge- knuepft wurden, umhallt zwar diesen Namen auch noch in Daumers Buch, aber nur noch gedaempft durch geschichtliche Erwaegungen. Das

"Teuflische" an Stirner, das besonders fruehere theologische

Schriften anzudeuten liebten, wird von Daumer in den Bereich der

Geschichte der Philosophie gezogen; es ist die letzte Konsequenz des philosophisehen Humanismus, der Emanzipationsbestrebungen des

"alten Adam," wie es Daumer gerne nennt. Der E.u.s.E. ist "in der Tat die Krone und der Abschluss" (Chr., S.126) in der Entwicklungs-

^ Mehr noch als an Lange, den objektiven Historiographen und Philosophen, erinnert Daumers polemische Geschichtsschreibung an politisch-theologische Polemiken in geschichtlicher Einkleidung, wie sie spaeter (noch vor der "V/iederentdeckung" Stirners durch Mackay), zur Zeit der wachsenden Anarchisten-Hysterie, zuweilen zu finden sind. 147 geschichte des Humanismus:

Der einzige Weg sich zu befreien und zu begluecken ... ist fuer den alten Menschen wirklich nur der des absoluten Egoismus, wie ihn Stimer empfiehlt. (Chr., S. 130)

Daumers intensive Behandlung Stirners in neuer gesciiichtlicher Sicht verhindert ihn jedoch nicht, sich ausgiebig und in Aeusserlichkeiten sogar vollstaendig auf Ruge zu stuetzen. Die lange, uns hier einzig interessierende "Zugabe" zu Daumers Schrift, deren Hauptteil eine nys- tische Darstellung von Jesus bildet,^ liest sich oft seitenweise wie ein Nachdruck von Ruges Unsre letzten 10 Jahre. Auch Daumer zitiert noch, wie so Viele vor ihm, den E.u.s.E. nicht direkt nach der Quelle, sondern nur nach den Auszuegen, die Ruge in seinem Euche wiederge- geben hatte. Und Daumer uebernimmt auch, nicht nur betreffs Stirner, sondern auch bei anderen Philosophen, weitgehend Ruges eigene, ge- geschickte Darstellung. ^ Wo eben das zeitgeschichtliche Detail, die inneren Beziehungen der Junghegelianer untereinander von Wichtigkeit

13 Das Werk sollte eigentlich vor allem eine mystische Inter­ pretation "des Christentums und seines Urhebers" werden. Daumer schrieb dann auch noch zwei beziehungsvolle lcuerzere Abhandlungen dazu, deren eine (ueber die johanneische Gnosis) er aber bei der Ver- oeffentlichung wieder wegliess; die andere Abhandlung (die den Unter- titel des ganzen Buches bestimmte) ist eben unsere "Zugabe," die die kroenende Epoche des Humanismus (den Junghegelianismus bis Stirner) skizziert.

Daumer verheimiicht seine Quelle - Ruge - keineswegs, sondern hoechstens den Grad, in welchem seine Darstellung von dieser Quelle abhaengt. Hierfuer ein Beispiel. Wo Daumer ausfuehrt, wie Stirner die Herrschaft der Feuerbachschen Philosophie "gestuerzt" habe, er- waehnt er: "Schreiber Dieses hat die Epoche miterlebt und die spiel- enden Figuren zum Teil persoenlich gekannt". Dennoch verzichtet er sofort wieder auf eine eigne Intcsrpretation und folgt der Darstellung Ruges: "'Hatte Feuerbach,' sagt Ruge, 'bisher den Ruhrn genossen ..." . Dann scheint er Stimer selbst zitieren: "'Nach Vernichtung des Glaubens,' sagt Stirner selbst, 'waehnt Feuerbach in die sichere Bucht der Idebe einzulaufen,'!!; aber kleine textliche Abvreichungen (vgl. Einleitung, FN.2) beweisen, dass wie ueberall in Daumers Schrift 148 waren,uebernahm Daumer Ruges Zeichnung; ja selbst wo die Ideen der einzelnen Junghegelianer definiert und charakterisiert werden sollen, folgt der Konvertit Daumer seinem radikalen Fuehrer widerspruchslos und woertlich. Was aber Daumer von Ruge betraechtlich unterscheidet, ist eben sein keineswegs bloss formaler Versuch, Ruges gewandte zeit­ geschichtliche Uebersicht nur als historische Quelle zu benutzen und zunaechst in ein weitgespanntes geschichtliches Resumee einzubauen.

Daumer wandelt Zeitgeschichte zur Geschichte um, und betrachtet diese ferner sub specie aeternitatis der Theologie; der Titel von Daumers

"Zugabe" bezeichnet diese historische und theologische Tendenz aufs genaueste: "Die Entwicklung der deutschen Philosophie nach Hegel als altadamischer Selbstbejahungs- und Selbstenthuellungsprozess."

Wenn wir nun nach den Eigentuemlichkeiten von Daumers Stirner-

Bild fragen, so muessen wir zunaechst der theologischen Auffassung, in die jenes historische Bild eingebettet liegt, jede Originalitaet absprechen; die von Daumer angedeutete Gleichung "Humanismus - Nihil­ ismus - Diabolismus" ist natuerlich alles andere als neu, sondern vielmehr das altbekannte, negativ-kritische Fundament jedes super- naturalen Moralsystems und jeder "antlnihilistischen" Spekulation.

■'■enn wir ferner, nach unseren frueheren Ausfuehrungen, nun auch von

Daumers formeller Neuerimg - einem groesseren historischen Rahmen um ein prominent gezeichnetes Portrait Stirners - absehen, so bleibt scheinbar nicht viel fuer Daumers Pinsel uebrig, da er, wie erwaehnt, auch hier nicht "Stimer selbst" zitiert wird, sondern weiterhin Ruge. (Chr., S. 127f. - Zum letzten Zitat, vgl. auch E.u.s.E., S. 60, sowie A. Ruge, Gesammelte Schriften VI, Mannheim 1847, 103). 149

Ruge kopiert. Aber, wie ebenfalls schon angedeutet, Daumers Ge- schichtsschreibung ist doch etwas mehr als blosse Form und Methode; so unselbstaendig sein Stirner-Bild in alien Details auch ist, so sehr verlangt Darners geschichtliehe Interpretation dieses Bildes einige Aufmerksamkeit. Daumer gibt Ruges Darstellung recht, und er gibt unter den Junghegelianern gerade Stimer voellig recht (vgl. etvra. das Zitat liier, S. 147); denn er vdll ausdruecklich den "Selbst- enthuellungsprozess" des "selbstbejahenden" und sich schliesslich in saekularen Egoismus hineinkritisierenden Humanismus verfolgen, - und er verfolgt diesen Prozess als Geschichtsschreiber und als Anwalt des klagenden Christenturas. Daumers hellhoeriger Hass bestaetigte ihm, dass Stirner den Gipfelpunkt in der Geschichte des Junghegel- ianismus, und dass dieser den Gipfelpunkt in der Geschichte des

Humanismus bedeutete. Die Offenheit, mit der Stirner scheinbar das

Wesen des Humanismus anprangerte, war nur die "Selbstenthuellung" eines konsequenten Humanisten, der tatsaechlich nur die befangenen

Halbheiten, die diplomatisch-aengstlichen Kompromisse der andern

Humanisten durchschaut hatte. Daher macht Daumers gegen Renan ge- richtete Schrift es sofort, in den ersten Zeilen des anklagenden

Teils, klar, dass die wichtigsten Angeklagten und Zeugen aus einer zurueckliegenden und halb vergessenen Epoche heraufbeschwoert werden muessten:

Der Geist der neueren Zeiten, wie er sich in der Aufklae — nmgszeit des vorigen Jahrhunderts und weiterhin, namentlich in der deutschen Philosophie nach Hegel, bis zum destruktiv- sten Extreme hin geoffenbart hat, ringt mit dem Ghristentum . .. ’i'de heisst wohl ... mit seinem wahren Namen der Geist der kuehnen, freiheitsdurstigen Weltzeit? ... Die Sache 150

wird am treffendsten ... durch eine biblische Antithese be- zeichnet, welche ... niemals in eine so speziell passende Anwendung zu bringen war, als es in Beziehung auf die modernen Entviicklungen, insbesondere auf den Gang der deut- schen Philosophie nach Hegel, der Fall (ist) ... Der Schlues- sel zu alien Geheimnissen der Menschengeschichte ... ist der Mensch in jenem schlimmen, altadamischen Sinne, der sich im Gegensatz gegen das Christentum ... auf das Energie- vollste in sich konzentriert und auf die Spitze der freien Selbsterfassung, des reinen, ungetruebten Selbstbesitzes zu treiben sucht ... Wir haben es hier ganz besonders mit der deutschen Entwicklung zu tun, -wie sie sich schon vor dem Revolutionsjahre 1848 durchgefuehrt ... Diese Renan's sind wahre Kinder gegen die deutschen Philosophen, Kritiker und Polemiker, welche den Prozess der Negation titanisch durch­ gefuehrt und kein noch so abstossendes und unverschaemtes Extrem gescheut. Das hat grossen Y/ert ...j die Sache ist dadurch zu ihrer unverhuellten und unzweideutigen Klar- heit gekommenj ... und es scheint nuetzlich und noetig zu sein, diesen merkwuerdigen Prozess und sein monstroeses Re- sultat von Zeit zu Zeit wieder in Erinnerung zu bringen. (Chr., S. 118 ff.)

Diesen "merkwuerdigen Prozess und sein monstroeses Resultat" - die

•Entwicklung von D. F. Strauss bis Stirner - stellt Daumer dann mit

Hilfe seines Gewaehrmannes Ruge naeher dar. Bei der Wiedergabe

dieser Darstellung koennen wir uns in der vorliegenden Arbeit auf

jene Punkte beschraenken, die Daumer und nicht Ruge zugehoeren,

also auf die Formulierungen, die aus Daumers theologischer Ge-

schichtnbetrachtung fliessen. Es braucht kaum bemerkt zu werden,

dass Daumer sonst wenig Neues bringt: die Charakteristik Stimers

als eines den Humanismus blossstellenden Humanisten ist so wenig

neu, wie die Gleichsetzung von Humanismus und Nihilismus ("der

gesamten modernen Negation"). Aber ausser der ueberstarken Beton-

ung der Rolle Stirners innerhalb des Humanismus ist an Daumers Dar-

stellung vor allem sein Mischen von Theologie und Geschichts-

schreibung eigentuemlich und ungewoehnlich. Wie schon sein oben 151 zitiertes Programm zeigt, versucht er, alles emanzipatorische Denken im Lichte einer weitausladenden theologischen Geschiehtsauffassung - als den Kampf des alten Adam - zu sehen, und es doch gleichzeitig geschichtlich aufs aeusserste, praktisch auf das "monstroese Re- sultat" Stirner, zu komprimieren. "Niemals" noch war der Schlues- sel "zu alien Geheimnissen der Menschengeschichte" deutlicher er- kennbar geworden, als in der junghegelianisehen "titanischen Ne­ gation"' der "altadamische Selbstenthuellungs- und Selbstbejahungs- prozess" erklaerte sich erst, und dafuer mit einmaliger Deutlichkeit, im Jahre 1644, im Kampfe Stirners gegen Feuerbachs "Anthropologie."

Daumers Darstellung des Junghegelianismus beginnt bei Strauss’ und Bauers Bibelkritik, die mit Feuerbachs Philosophie zusammenge- stellt und ungefaehr so kurz wie diese abgetan wird. "Es ist die

Apotheose der menschlichen C-attung, die uns hier entgegentritt." 15

Dies ist eben das Hauptanliegen jener Humanisten; Rationalismus,

"nQTthische" Auffassung der Evangelien, und dergleichen sind blosse

Nebenerscheinungen. An dieser Stelle der Daumerschen Schrift findet sich auch der erste von mehreren Kommentaren, die das Verhaeltnis

Daumers zu seinem Gewaehrsmann recht deutlich beleuchten. Fuer die zeitgeschichtlichen Details wird erst Ruge zitiert (etwa: "Die

Revolution und ihr Prinzip. die direkte menschliche Vernunft, wurde durch Strauss wiederhergestellt dann knuepft Daumer

(mit den Worten: "Das heisst ...") seinen eigenen theologisch-

historischen Kommentar an:

^■5 Daumer, Das Christentum, S. 120. (Vgl. St. -R. Taillandier, Einleitung, FN. 42). 152

Die Philosophie hatte sich zuvor wieder dem Christentum ge- naehert und von der auf diese Weise erreichten Hoehe herab dem gemeinen menschlichen Bewusstsein und Verstande den Krieg erklaert. Strauss riss die aufsteigende Entwicklung wieder in den Bereich des altadamischen Wesens ... Aber das war nur der Anfang, es sollte noch besser kommen ...; so weit dass selbst Ruge, der enthusiastische Lobredner dieser Art von ... Fortschritt, zuletzt sich nur noch mit Muehe zurecht zu finden wusste. (Chr., S. 122)

Und Daumer deutet schon vorwegnehmend an, wer es war, der es "so iveit" treiben wuerde; die Wendungen, die er hier anschliessend benutzt, um die forttreibende Entwicklung des "antichristlichen Prozesses" auf das "ganz gemeine altadamische Selbst" hin zu umschreiben, tauchen wieder auf, wo er von Stirner spricht:

Der antichristliche Prozess war das Abschaelen einer Zwiebel; es wurde eine transzendente, ideale, unwirkliche Haut nach der anderen abgerissen, bis sich zuletzt die allerwirklichste WirklLchkeit, d.h. das ganz gemeine altadamische Selbst praesentierte. (Chr., S. 123)

Dann folgt eine kurze Charakteristik Feuerbachs, die wieder von

Ruge geliefert und von Daumer theologisch kommentiert wird; z.B.:

"Das Buch (Feuerbachs)," sagt er [i.e. Ruge], loest die ganze uebermenschliche Welt in die wirkliche auf ... Das hoech- ste Wesen ist der Mensch; die Theologie ist Anthropologie." So viel ist zuzugeben: Es war hier eine einfache Formel gefunden, durch welche diese ganze Periode und ihre Tendenz treffend bezeichnet war. Dem "Menschen" Feuerbach's fehlte bloss das Praedikat, das ihm das Christentum gibt, indem es ihn den alten im Gegensatz des neuen nennt. Dieser Mensch aber ist ein eben so elendes, als hoch- muetiges Geschoepf ... "Der Mensch ist der Gott des Menschen." 0 vielmehr sein Teufel ... (Chr., S. 124 f•)

Wie Stirner, aber von einem anderen Ausgangspunkte aus und mit ver- schiedenem Wachdruck, brandraarkt Daumer das verschaemt religioese

Streben hinter dem Humanismus selbst noch bei Feuerbach, der doch

Religion in Humanismus aufzuloesen glaubte. Auch noch Feuerbach 153 suchte, ganz wie Strauss, nur eine "Apotheose," einen Gegengott, einen neuen "Gott des Menschen."

Auf Zweck und Bedeutung der junghegelianischen Gegenreligion legt Daumer grossen '"ert: unermuedlich weist er darauf hin, wie scheusslich und bestialisch der Mensch, der "alte Adam" wirklich sei; die Humanisten haetten eigentlich versucht, diese Flecken dadurch zu vertuschen, dass sie den schrecklichen Menschen zur Menschheit verallgemeinerten und ihn dergestalt zum immerhin respektablen

Goetzen einer humanistischen und daher wesentlich antichristlichen

Religion machten. Vielleicht noch schlimmer ist der andere Aspekt dieser Ketzerei: die Junghegelianer haetten dadurch die Schaerfe des Gegensatzes abgestumpft, der zwischen Gott (Jesus, der "neue

Adam") und Mensch (der "alte Adam") besteht; so haette Strauss

Jesus zum "Symbol und Kollektivbild des menschlichen Geschlechtes" entwuerdigt. (Chr., S. 121) Denn obwohl Daumer im allgemeinen ver­ sucht, von der christlichen Religion den alten, schon "roemischer- seits" erhobenen Vorwurf der Inhumanitaet und des "odium generis humami" moeglichst fernztihalten, tritt er doch aufs energischste fuer ein theozentrisches Moralsystem und fuer eine scharfe Anti- these zwischen "Gott" und "Mensch" ein: dieser Gegensatz sei die unantastbare "Basis, worauf das ganze Christentum ruht" und werde

"von alien echt christlichen, nicht rationalistisch verflachten

Konfessionen ... einstimmig anerlcannt imd wiederholt". Die konziliante "praedikative Distinktion", die Daumer gern zwischen dem "alten", vom Christentum mit einem "grossen Abscheu" "ver- worfenen" Menschen und dem preiswuerdigen "neuen" Menschen macht, 154 laeuft tatsaechlich nur auf eine Manipulation mit dem Wort "Mensch" hinaus, die die Antithese von Gott und Mensch gar nicht emsthaft verschleiern soli: der verworfene "alte Mensch" ist einfach der

"Mensch", die "Menschheit" schlechthin, der Jesus als einziger

"neuer Mensch und Adam" gegenuebergesetzt wird.-^ Daumer laesst denn auch oefters jene Verbaldistinktion ganz fallen und wettert dann gegen "Mensch" und "Menschheit," statt gegen den kongruenten

Ausdruck "alter Mensch".

Urn Feuerbach zu kritisieren, beruft sich Daumer nun auf die freilich nur aeusserlich aehnlichen Kritiken, die Stirner gegen

Feuerbach richtete. Solange Stirner noch nicht erschienen war, berichtet Daumer, musste es scheinen, als haette der "sogenannte

Fortschritt", der humanistische Emanzipationsprozess, nach Jahr- tausenden des Tastens endlich in Feuerbach seinen kroenenden Ab- schluss erreicht. "Der vom Christentum wieder abfallende Mensch ..., der sich in seiner natuerlichen Bestimmtheit ... emanzipiert und zum Gott macht" (Chr., S. Ill), hatte das Ziel seiner antichristlichen

Rebellion erreicht. Bei Feuerbach hatte der ganze "antichrist- liche Geist der modernen Zeiten und Denkarten"^ die "einfache

Formel" vom Menschen als Gott des Menschen gefunden, die jenen

Der neue Adam, "der sich zuerst in realer Urbildlichkeit in Christus dargestellt und in welchen sich weiterhin, so viel als moeglich, das alte Geschlecht, als Kirche und nystischer Leib Christi, zu verwandeln habe." (Chr., S. 109. - Fuer die oben zitierten Wendungen, vgl. Chr., S. 109 und 111)

-*-7 Chr., S. 111. - Feuerbach, der (vorlaeufige) "Ausdruck" des humanistischen antichrist Id chen Geistes, wollte freilich "sonder- barer Weise entdeckt haben," dass sein Prinzip des Menschen "das im Christentum, wenn auch unbewusst, enthaltene ... [und] bejahte ... sei." 155

Geist umnissverstaendlich als Humanismus kennzeichnete. Durch

Feuerbach und seine Formal -war erstens die triumphierende Selbst- bejahung des antichristlichen und vom Christentum verworfenen

"Menschen" erreicht worden; und zweitens war nun die Angleichung von Gott und Mensch durch einen ketzerischen Kult bewirkt worden, der durch Abstraktion die Haesslichkeiten jedes einzelnen "alten

Adams" unsichtbar machte, "Das Selbstgefuehl, der Duenkel und

Uebermut des Feuerbachischen Stadiums war grenzenlos" (Chr., S.127).

Doch nun kam Stirner und durch ihn eine dankenswerte, "echte"

Blosstellung. Auf ihn beruft sich Daumer als seinen Kronzeugen.

Was Daumer durch Stirner zunaechst erhaerten will, ist der religioese -

fuer Daumer ketzerisch-religioese - Charakter von Feuerbachs Philo-

sophie. Das logische Fundament von Daumers eigener Kritik ist die

theologische Distinktion zwischen zwei Fraedikaten des Menschen,

zwischen "altem" und "neuem" Menschen; derlei spielt bei Stirner aber natuerlich nicht die geringste Rolle. Das logische Funda­ ment von Stirners Feuerbach-Kritik - und die betreffenden Worte hat Daumer beim Zitieren aus den Saetzen Stirners weggestrichen - ist der Vorwurf, dass Feuerbach durchwegs nur Subjekt und Praedikat umstelle:

... Hat man da nicht wieder den Pfaffen? Wer ist sein Gott? Per Mensch! Was das Goettliche? Das Menschlichei So hat sich allerdings das Praedikat nur ins Subjekt verwandelt, und statt des Satzes: ..."Gottist Mensch geworden" £heisst es^ - "der Mensch ist Gott geworden" u.s.w. Es ist eben nur eine neue - Religion. ... Ueberhaupt bewirkt Feuerbach nur eine Umstellung von Subjekt und Praedikat, eine Be- vorzugung des letzteren.l^

^ E.u.s.E., S. 60 f. - Vgl. dagegen Chr♦, S.128, sowie A. Ruge, Gesammelte Schriften VI, 103, wie auch FN 14. 156

Stirner versteht hier unter "Praedikat11 also den "Menschen" schlecht- hin, ohne weitere Distinktion. Die Unterschiede zwischen den logischen

Operationen, mit denen Stirner und Daumer den religioesen Charakter des Humanismus untersuchen, beruhen auf ganz verschiedenen An- schauungen. Stirner zieht eine scharfe Grenze zwischen dem "leib- haftigen Ich" ("diesem Menschen") und den abstrakt-spukhaften Be- griffen, wie "Gott" Oder "Hensch" ("Mensch als Begriff"). Daumer sieht einen Abgrund zwischen Gott (als Begriff wie als neuadamische

Inkarnation) und Mensch (als Menschheitsbegriff wie als altadamische

Inkarnation). Durch die begriffliche Erweiterung des "leibhaftigen"

Menschen zur "Menschheit" ward fuer Stirner und Daumer der Humanismus zu einer "Religion": aber fuer Stirner wird der Humanismus dadurch wahrhaft christlich, naemlich "geistig" und "pfaeffisch"; fuer

Daumer ist der Humanismus jedenfalls unchristlich, naemlich "alt- adamisch", und wird durch die Krhebung zum Kult eine Ketzerei, die das wahre We sen des Menschen verdecken soil. Stirner kennt "keinen

Suender" (vgl. Zitat S. 97)3 Daumers praedikative Distinktion um- schreibt auf ngrstische Weise den theologischen Begriff der Erbsuende.

Doch diese erste blosstellende Leistung Stirners war nur relativ unwichtig, verglichen mit einer viel wichtigeren Enthuellung. Gewiss,

Stirner enthuellte freiwillig die "Pfaefferei" des Humanismus, den

Abstraktionsschwindel, der mit dem Begriff "Menschheit" getrieben wurde. D0ch auch Stirner machte nur das eigentliche Prinzip des

Humanismus, den empirischen Menschen, zu seinem "Prinzip"; und da

Stirner das VJesen seines "Prinzips" auf zynische Weise entbloesste, enthuellte er darait auch auf unfreimllige Weise das Wesen des 157 humanistischen Prinzips in seiner reinsten Form, als leibhaftiges

Ich, als teuflisch-bestialischen "Einzigen" und "alten Adam und

Menschen". Waere Stirner nicht auch der extremste aller Humanisten, der das eigentliche Prinzip des nihilistisch-selbstbejahenden

Humanismus "ernstlich" empfehle und unbeschoenigt predige, so koennte der Teufel Stirner als moderner Kirchenvater gelten:

Stirner konnte immerhin auch ein im Ganzen ungereimtes Produkt zu Markt bringen und es mit logischem Scharfsinn und Geist ausstatten ... Ein solches Buch, nur ohne ernst- liche Billigung und Empfehlung des Prinzips, haette auch im Namen der Religion und Moral geschrieben werden koennen; es waere dann eine Kritik und Entlarvung der heuchlerischen altadamischen Menschennatur gewesen. Es gehoerte eine "eiseme Stirne" dazu, dieses Buch zu schrfeiben, und fast sollte man glauben, der Autor habe sich deshalb den Namen Stimer gegeben. Aber diese Frechheit war dankenswert, weil sie ein Wegwerfen aller Masken, alles humanistischen Aufputzes, weil sie die vollendete Shrlichkeit und Offen- heit war. Der Teufel verdient unsern Dank, wenn er uns sagt, dass er der Teufel ist; er begibt sich dadurch seiner Macht; er ist nur gefaehrlich, wenn ... er sich in einen Engel des Lichts verstellt... (Chr. , S.135)

Stirners humanistische Selbstenthuellung beweist fuer Daumer, was er schon frueher (Zitat S. 152) behauptet hatte: dass der "homo"

Feuerbachs "vielmehr der Teufel" sei.

Wenn also Daumer immer wieder Stirner als Kronzeugen gegen den

Humanismus aufruft, so gesehieht dies gerade weil Stirner vom

"Menschen" die letzte, ketzerisch-respektable Maske des Humanismus entfernt hat, - weil auch Stirner, und gerade er, das Prinzip des

Humanismus verherrlicht,. Und Daumer praesentiert Stirner nicht bloss als einen Humanisten, als den Ultrahumanisten; sein Stirner-

Bild traegt auch unverkennbar einige Zuege des Antichrist. Im

Hauptteil seiner Schrift zeichnet Daumer den mystischen "'neuen 158

Menschen oder Adam' der sich in ... Christus dargestellt"

habe (FN 16); in der "Zugabe" wird dessen Gegner skizziert: der nihilistische, "antichristliche" Humanismus, der mit seiner "abstrak-

ten Verstaendigkeit und Kritik"-*-^ sein Prinzip suchte, bis es sich

konkret manifestierte und offen als der schreckliche Stimersche

"Einzige" zu erkennen gab. Und wegen dieser dankenswerten Selbst-

enthuellung wird der Teufel Stirner von Daumer als Schreckbild be-

schworen, das den Humanismus anklagen helfen muss. Daher preist

Daumer durchwegs die "KTahrheit" in - und vor allem hinter - Stirners

"Frechheit"; und um Stirner beweiskraeftiger zu machen, bemueht

sich Daumer gleichzeitig, den "Einzigen" so bestialisch gottlos und

teuflisch als moeglich hinzustellen.

Bei der ueberwaeltigenden historischen, fast kosmischen Be-

deutung, die Daumer dem Entdecker des "Einzigen" beimisst, ist der

Aplomb nicht erstaunlich, mit dem Daumer seinem Publikum Stirner

vorstellt; hierin geht Daumer ueber Ruges Darstellung hinaus:

Der Homo des Letzteren [i.e. Feuerbach] schien ein Letztes zu sein; aber auch ueber diesen Denker und sein Prinzip wurde hinausgegangen ... Zum wirklich wirkiichen Menschen naemlich ivaren alle diese genialen Denker noch nicht vor- gedrungen; sie hatten immer noch diverse Gespenster ... allgemeine Maechte - naementlich das der Menschheit, der Gattung im Kopfe; sie hatten immer noch ihre Altaere und Goetzen ...; sie verehrten den Menschen; sie hatten, selbst als prononzierte Atheisten, doch immer noch eine Art von Glauben, Religion und Gottesdienst. Auch diese Gespenster verscheuchte, auch diese Ideale zertruemmerte, auch diese Ehrfurchten vernichtete, auch diese Kulte abolierte endlich dasjenige Werk, welches nun in der Tat die Krone und der Abschluss dieser ga.nzen Entmcklung war - ich meine Stirner’s Buch: "Der Einzige und sein Eigentum." (Chr., S. 125)

-9 Chr., S.122. - Vgl. auch den Beginn des Zitats S. 149. 159

Was Stirner predigte, war nun endlich tatsaechlich "der wahre, wirkliche

Mensch". Stirner hatte die "reifste und reinste" und daher bloss- stellendste "Stufe der menschlichen Selbsterkenntnis" erklommen.

Er wusste, dass das humanistische Prinzip nicht cfort zu finden war, wo es seine Vorgeanger gesucht hatten: nicht die "Menschheit", also der

Mensch im Allgemeinen war es, "was ja eine blosse Abstraktion ... ohne Eirkiichkeit" ist; "sondern das vom Allgemeinen in sich abgeloeste und befreite Selbst und Ich", ein reines

... Atom, das vor Niehts Respekt hat, Nichts in sich und ueber sich herrschen laesst, indem es Alles, was sich ihm als eine allgemeine Macht praesentiert, als sein eigenes Geschoepf erlcennt. (Chr., S. 126)

Daumer beeilt sich, den etwaigen Verdacht des Lesers zu zerstreuen, er interpretiere und zitiere Stirner hier nur im ironischen Sinne; die "Zwiebel" des "antichristlichen Prozesses" war nun abgeschaelt, der "wahre wirkliche Mensch" entbloesst:

Das war eine echte Enthuellung, ein unbarmherziger Schlag in das suesse Wahngebilde des, wie man sich schmeichelte, fuer immer, wenigstens theoretisch, bereits erreichten letzten Zieles ... Nun kam ein neuer Titan, der Titan par excellence, und ... verscheuchte auch diesen Traum. Die Zwiebel war abgeschaelt; die nackte pure Wahrheit war nicht der Mensch, als dieses allgemeine Gattungssymbol, sondern dieser ganz bestimmte einzelne, oder vielmehr in seiner totalen Isolierung einzige Mensch und sein Eigentum, das naemlich, was er ... ruecksichtslos ... in Form des Rechts oder des Unrechts an sich zu bringen und festzu- halten vermochte. (Chr., S.127)

Aber nicht nur der theoretische Aspekt des Humanismus wurde von

Stirner entbloesst; seine Enthuellung des empirischen "alten

Adam" kompromittiert auch alle aufs Praktische zielenden, politischen und sozialen Postulate oder Tendenzen des Humanismus, der in seiner saekulaeren Ketzerei "allgemeine Maechte" zum Dogma 160

erhoben hatte; Liberalismus und Kommunismus sind gleichermassen

humanistische Ketzereien Lind werden durch Stirners Egoismus enthuellt

und widerlegt.

Ein wichtiger Hinweis, warum Daumer Stirner und den Humanismus

gleichsetzt, findet sich gerade in seinen Kommentaren zu Stirners

Kampf gegen den Kommunismus. 20 Stirner wie der Kommunismus werden von dem gleichen humanistischen Wunsch getrieben, sich von Ab-

haengigkeiten und Lasten zu gefreien, d.h. den "alten Adam" zu bejahen, - ein Wunsch, der nach Daumer (Chr., S.130) nur feind-

selige Zersplitterung in die Welt bringt. Stirner predigt mit

groesster Offenheit eine asoziale, atomistische Amoral; die Kom- munisten andererseits wollen freilich ein "Gattungsidol", eine

"neue Gesellschaft mit Tilgung der atomistischen Zersplitterung".

Aber dieser "mit bloss menschlichen Kraeften" unerfuellbare Wunsch

ist nichts als humanistische Ketzerei, und daher aussichts- und

auch einsichtslos; daliinter steckt, so gut wie hinter Stirners

offenem Egoismus, nichts als unasketischer, unchristlicher Eudaemon-

ismus und Hedonismus. Dies ist der Kern des leidensscheuen,

optimistischen, unchristlichen Humanismus, der den "alten Adam" zu

emanzipieren hoffte. Nur in der Form des Stirnerschen Egoismus

20 Es ist wohl kaum Zufall, dass Daumer gerade bei der Dis- kussion des Kommunismus Stirner zum konsequenten Humanisten macht. Wie andere Polemiken gegen Renan, versucht auch Daumers Werk, alle "Unglaeubigen" beim Leser so nebenbei zu diskreditieren, indem er eifrig die Schreckgespenster der Jakobinermuetze und des Kommunis- mus vor dessen Augen bringt; so besonders auch im allerletzten Paragraphen des Daumerschen Buches. (Vgl. auch z.B. das Motto von S. Brunners Der Atheist Renan...: "Das Evangelium Renan ist: vom religioesen Standpunkt: Atheismus; vom wissenschaftlichen Standpunkt: schwindel; vom sozialen Standpunkt: die Guillotine im Buchhandel.") 161 kann dieses humanistische, hedonistische Emanzipationsstreben einen

Weg zu Freiheit und Glueck finden:

... der modeme Mensch, der aber nur der "alte Mensch" der Bibel ist, ... moechte nur von den aeusseren Uebeln und Lasten befreit sein,die ihn drueckenj und so bleiben seine sozialen Plaene und Systeme Chimaeren, welche sich nicht ausfuehren lassen. Der einzige Weg sich zu befreien und zu beglueclcen, wiewohl keine edlere Seele diese Freiheit, dieses Glueck beneiden wird, ist fuer den alten Menschen wirklich nur der des absoluten Egoismus, wie ihn Stirner empfiehlt. (Chr. , S.130)

An dieser Stelle, wo mittels des Kriteriums des optimistischen, altadamischen Hedonismus Stirner und die Humanisten gleichgesetzt werden, bekennt auch Daumer selbst Farbe, - jenes Kriterium definiert auch sein eigenes mystisches, asketisches und antihumanistisches

Christentum: der die Geister scheidende Hedonismus ist rationalisti-

scher Frevel und Unvorsichtigkeit. Daumer gibt sich zwar fast 21 durchweg als Optimist und bemueht sich nebenbei, die Vorwuerfe der Inhumanitaet und des Obskurantismus vom Christentum moeglichst auf den Humanismus abzuwaelzen, - auf den vorgeblichen "Engel des

Lichts", der sich als der Teufel Stirner entpuppte. Auch vermeidet es Daumer lieber, den Gegensatz von anthropozentrischer und theo-

zentrischer Moral, von Humanismus und Christentum staerker als noetig zu betonen. Aber hier, im Punkte des Hedonismus, treten die

Gegensaetze so scharf hervor, dass Daumer - unter zeitweiligem

Verzicht auf den "alten Adam" - seinen theologischen Antihumanismus

etwas abaendert und mildert. Er liefert eine theologisierend

Die Geschichte der Philosophie klassifiziert Daumer als Optimisten. Vgl. auch den Artikel "Daumer" in der ADB. - Einen aehnlichen harten, christlichen, antihumanistischen Optimismus haben wir in der vorliegenden Arbeit schon bei Jordan gefunden. 162 mystische Begruendung fuer seine Abneigung gegen den Hedonismus.

Zunaechst gibt Daumer hier dem Humanismus unumwunden einen echt "aufklaererischen" Charakter, der optimistisch eine lichtvoll- freundlichere, leidlosere Welt zu schaffen versuche; in der Frage nach Berechtigung und Macht dieses Unterfangens verrueckt Daumer aber unbehaglich seine eigene Stellung und verteilt Licht und Schatten aufs Neue. Der Theologe Daumer verwirft den Hedonismus des "alten

Adam" vollstaendig, als aussichtslos und suendig; der theologische

Mystiker Daumer jedoch bekennt nun, dass deswegen der humanistische

Hedonismus noch keineswegs ganz falsch, sondern nur beschraenkt und in seinem beschraenkten Rahmen - eben in Form des "absoluten Ego­ ismus" - sogar erfolgreich und berechtigt sei. Bis zu einer ge- wissen Grenze besaesse der rationalistisch-hedonistische Humanismus eine relative "Wahrheit"; doch jenseits dieser Grenze stiesse er gegen eine mystische, finstere Uebernatuerlichkeit, deren reale

Existenz und Macht die optimistische Blindheit leugne oder bekaempfe.

Das humanistische Abenteuer ist nur letztHch vergeblich, aber be-

grenzt erfolgreich, und nur letztlich "unverschaemt", aber begrenzt

berechtigt. Urn das Ueberweltliche vor der humanistischen "Verstaendig- keit" zu retten, verfinstert Daumer zum Teil das, was er schuetzt;

die boesen Geister muessen die guten Geister retten helfen. Denn

was den "ungetruebten Selbstbesitz" (vgl. Zitat S. 150), den huma­

nistischen Hedonismus, eben doch ewig vereitelt und truebt, ist eine

Bosheit, die nun nicht im altadamischen Menschen liegt, sondern

ausserhalb seiner, in uebermaechtigen und ueberberechtigten "finsteren 163

Maechten", die einer sehr realen, daemon!schen Ueberwirklichkeit angehoeren und mit dem Menschen "ihr Spiel treiben". Die Existenz wie die Bosheit der daemonischen wie goettlichen uebernatuerlichen

Welt zu leugnen oder zu kritisieren ist unvorsichtig und "unver- schaemt,,. Auf diese jrcrstisch-theologische Weise zeigt Daumer, dass im Bereich der bloss menschlichen "Gedanken und Einrichtungen" der

Humanismus wohl theoretisch berechtigt und in Form von Stirners kritischem Humanismus auch praktisch imstande sei, den Menschen doch von den "aeusseren Lasten und Uebeln" zu befreien, - aber keinesfalls von den uebernatuerlichen aeusseren Uebeln, deren Spielball er ist,,

Der Humanismus kann zwar, und ausschliesslich, eine menschliche

Freiheit verschaffen, aber nicht eine angesichts der finsteren

Ueberwelt so noetige "goettliche Freiheit". Mit der egoistischen

"Abstreifung seiner universalistischen Huellen" hat sich das hedonist- ische, "duenkelhafte Ego" eben noch nicht voellig befreit und begluecktj selbst Stirner kann die Schwaeche des Humanismus nicht tilgen, wenn auch in seiner konsequenten "Frechheit", wie immer, eine "Wahrheit" - diesmal die Wahrheit des Humanismus - ist:

^enn in Beziehung auf das, was der alte Mensch im Reiche der Gedanken und Einrichtungen geschaffen hat, steht ihm aller- dings auch das Recht der Kritik und Negation zu. Aber er erklaert auch das fuer ein Produkt und Eigentum,... was nicht aus ihm kommt ... und darin liegt der "unverschaemte" Uebergriff, darin die ... titanische Himmelsstuermerei ... Das menschliche Selbst ist auch ein pathologisch ... be- waeltigtes ... Es treiben mit dem menschlichen Selbst auch finstere Maechte ihr Spiel, die ... nicht bloss das Geschoepf seiner Abstraktion oder Einbildung sind. Dieses ... duenkel­ hafte Ego, welches durch blosse Abstreifung seiner universe^- listischen Huellen sich zu sich selbst zu befreien waehnt, ist ein um so ... elenderer Slave, je mehr es sich von der hoeheren Welt ••• emanzipiert, die es allein vor jenen daemonischen [Maechten] zu schuetzen und in eine goettliche Freiheit zu versetzen im Stande [ist], (Chr.. S.130 ff.) 164

Der Humanismus ist frevelhafter Wahnj je mehr sich das humanistische

Prinzip des Menschen zu Stirners "Einzigem" hinentwickelte und demaskierte - das Selbst, das "sich zu sich selbst zu befreien waehnt" desto schutzloser lieferte es sich uebernatuerlichen

Daemonen aus. Hier duerfte sich wohl der Kern von Daumers christlichem Antihumanismus finden lassen.

Aber im Allgemeinen bleibt Daumer bei seiner weniger raystischen, behutsameren theologischen Auffassungsweise, und verteufelt statt des Transzendenten lieber den Menschen, den Humanismus, und besonders

Stirner. In seiner theologischen Interpretation geht Daumer zuweilen so weit, Stirners Ideen summarisch in religioese Wendungen zu kleiden, die den Nicht-Kenner Stirners vielleicht verwirren koennen (und natuerlich in Ruges Darstellung Stirners fehlen).

So z.B.:

... alles Allgemeine ..., sei es auch noch so goettlicher Art und Natur, ist fuer ihn [Stirner] nur ein Negatives, ein boeses Prinzip, der Teufel, der ihn holen will. (Chr.. S.132)

Und darum, faehrt Daumer fort, ist fuer Stirner auch der "wahre

Mensch" seiner humanistischen Vorgaenger "ein Spuk, ein Ge- spenst, der letzte boese Geist, der taeuschendste und vertraut- este, ... der Vater der Luege".

Diese Andeutung eines teufelfuerchtigen und teufelbe- kaempfenden Stirner widerspricht nicht gerade Daumers Darstellung des "Einzigen" als Teufels. Der Teufel ist fuer Daumer eben zugleich ein guter Anwalt, der die Anklage auf teuflisch-grausame 165

Haerte, die man dem Christentum zugespielt hatte, 22 sachkundig an die richtige Adresse richtete, an die "Humanen". Wie schon erwaehnt, haette laut Daumer der E.u.s.E., abgesehen von der "ernstlichen

Billigung und Empfehlung" des teuflisch-humanistischen "Prinzips", gar auch ein religioeses Buch, eine "Entlarvung der heuchlerischen altadamischen Menschennatur" sein koennen.

Und so stattet Daumer den "Einzigen" mit alien erdenklichen teuflischen Eigenschaften aus, - die "Selbstenthuellung" des Humanis­ mus wird augenfaellig gemacht. Schon zu Anfang der "Zugabe" hatte

Daumer auf das interessante"Schauspiel" aufmerksam gemacht, das die

Beobachtung des emanzipationslustigen, altadamischen Menschen biete, und insbesondere zur Zeit der junghegelianischen Epoche, wo

... dieser Mensch mit sich selbst in Widerspruch geraet, sich selber richtet, und, wie mit der frechsten und empoerendsten, weil bewusstesten und gewolltesten, Barba-— rei, so auch mit dem reinsten logischen unsinn endetl (Chr., S.120)

Und diese programmatisch verheissene hoechste "Barbarei" und diesen

"Unsinn" Stirners, auf den obige Stelle natuerlich gemuenzt war, behandelt Daumer spaeter etwas ausfuehrlicher. Der Nachweis von

Stirners "Unsinn" gehoert nicht zu Daumers Stimer-Bild und kann hier kurz abgetan werden; Daumer laesst in diesem Punkt aus- druecklich und einfach Ruge sprechen und enthaelt sich einer nach- druecklichen eigenen Unterstreichung. Dies ist erklaerlich. Schon bei Ruge, dessen Verwirrtheit in diesem Punlct Daumer selbst be-

^ Vgl. etwa: "... der Zeitgeist ..., [der] sich als den Geist des Lichts, der Freiheit, der Humanitaet, der wider den der Finster- nis, der Tyrannei und Barbarei zu Felde liegt, darzustellen und zu ruehmen beflissen ist. Wie sollte es dem Daemon an Masken fehlen, um sein schwarzes, haessliches Gesicht zu bergen?" (Chr., S.119) 166 23 tont, wirkt der etwas kindisch farmulierte Vorwurf des Solipsis- mus, den er Stirner macht, bloss wie stammelnde Verlegenheit und dient Ruge auch nur dazu, einen sozial wirkenden Egoismus dagegen vorzuschlagen. Gar bei der historisch-theologischen Zeugenrolle, die Daumer Stirner zuweist, bei dem Scharfsinn, den Daumer dem

"mit eiserner Stirne" geschriebenen E.u.s.E. nachruehmt, hatte

Daumer keinen Grund, bei Stirner viel Unlogisches finden zu wollen.

Daher begnuegt er sich einfach mit der Wiedergabe einiger Para- graphen von Ruge (Chr., S. 133 f.)» um nebenbei so ein beschaemen- des, fremdes Urteil gegen den Humanismus - mehr als gegen Stirner^- seinen Anklageakten beischliessen zu koennen. Dann aber laesst

Daumer den ganzen Punkt von Stirners "logi-schem Unsinn" geschwind auf sich beruhenj anschliessend folgt sogar das schon (S. 157) zitierte Lob auf den E.u.s.E. als einer ruehmlichen Anklageschrift gegen den alten Adam..

Die Betonung der teuflischen "Barbarei" hingegen ist wichtig und fuer die Identitaet des altadaroisch-humanistisch-stimerischen

Menschen charakteristisch. Die "Krone der ganzen Entwicklung", also Stirner und sein "Einziger", subsummiert ja fuer Daumer alles,

23 Chr., S. 133: "Hoeren wir jetzt, was Ruge, der ueberraschte Feuerbachianer, der sich aber zu fassen und zu sammeln sucht, dem •Egoisten' entgegenstellt." - Die schockierende Wirkung, die Stirner auf die Humanisten ausuebte, erwaehnt Daumer auch sonst mehrfach (vgl. das erste Zitat S. 152).

Die kurzen Worte, die Daumer an Ruges Auslassungen ueber Stirners Solipsismus anfuegt, handein vor allem vom "kritischen Prozess", der nun "etwas in doppeltem Sinne so aeusserst Monstroses und Beschaemendes als ... die Krone seiner progressistischen Opera- tionen, ... der ganzen Entwicklung" zeitigte. (Chr., S. 134-) 167 was der unchristliche Geist je erstrebt hatte; hier hatte sich der

Kern des "vdrklichen Menschen" enthuellt. Der jedoch zeigt sich noch boesartiger als die wilde "Bestie"; denn diese verleugne doch nicht jede Spur von goettlicher Einwirkung, wie dies der in seinem

Freiheitsstreben konsequente Mensch nun getan habe:

Alle Schalen der Fremdheit, Jenseitigkeit und Allgemeinheit und der daraus fliessenden Abhaengigkeit waren nun abge- streift, und als eigentlieher Kern und Inhalt praesentierte sich - etwa das Tier, die Bestie? Nein, denn diese liebt noch ihres Gleichen. ... Liebe und Mitleid ist eine durch die ganze Natur gehende goettliche Spur und Bewegungskraft. Das Stimerische Ich hat sich, um kein Pfaffe und kein Pfaffenknecht zu sein, auch davon losgeloest. "Der Einzige und sein Eigentum" ist noch isolierter in sich, noch atoraistisch unmenschlicher und verabscheuungswuerdiger, als die wildeste, grausamste Bestie. (Chr., S. 132 f.)

Darnit haben vdr unsere Aufgabe beendet, alle Zuege des Stimer-

Bildes, soweit es von Daumer selbst gezeichnet wurde, naeher zu beleuchten. Es sei jedoch noch erwaehnt, dass Daumer am Schluss seiner Schrift und im Anschluss an Stirners Fhilosophie noch gegen den "praktischen Egoismus" polemisiert, "d.h. das revolutionaere

E;xperiment, u_. dann auch gemacht wurde und den bekannten eben so elenden Ausgang nahm" (Chr.. S. 135). Daumer wolite seine Leser vor allem wieder mit den Kommunisten, als einem raeuberischen und massakrierenden Poebel, schrecken und seinem Publikum so die prak- tische "Ohnmacht des alten Adam" - anempfehlen:

Die philosophisehe Kritik war in die Massen gedrungen. Glaube, Liebe, Ehrfurcht ... waren abgetan. Die Massen standen auf. Die Bourgeoisie, in der Ileinung, die Sache sei nur politisch, war anfangs auch elektrisiert. So '.vie sie aber die soziale Natur derselben merkte, d.h. so wie 168

sie wahrnahm, dass es sich urn das Eigentum handelte, dass der Poebel Miene machte, jeden anzufalien und zu massakrieren, der einen guten Rock anhatte ..., wurde sie wuetend und trat auf die Seite ... saemtlicher alter Einrichtungen. So bildete sich auch vdeder eine quantitativ bedeutende Macht und Gewalt, welche die empoerten Massen iaehmte. ...Das Resultat von dem Allen ist ... die Einsicht in die voll- kommene Njchtigkeit und Ohnmacht des alten Adams so im praktischen. vde im theoretischen Feld. (Chr., S.136)

So endet Daumers theologisch-historische Uebersicht mit einer wamenden politisch-historischen Note.

’Venn wir die hier beschriebenen Zuege von Daumers Stirner-

Bild kurz zusammenstellen wollen, so erscheint uns Stirner und sein

"Einziger" - Daumer unterscheidet da nicht naeher, da er gleich-

zeitig historisch und theologisch-philosophisch interpretiert -

vor allem als ein theologischer Typus und als ein einmallger

historischer Zeuge. In weit ausladender und zugleich aeusserst

gedraengter Form umreisst Daumer, vde der "unchristliche" Geist,

der die "Selbstbejahung" des "alten Adam" erstrebte, seinen Aus­

druck im Humanismus, vde dieser ueber die Aufklaerung fortstrebend

seinen Hoehepunkt im Junghegelianisraus, und dieser vdeder seinen

Hoehepunkt in Stirner gefunden habe. Mit Stirner und seinem

"Einzigen" hat sich der typische Mensch, der hedonistische,

leidensscheue, freiheitsdurstige, "selbstbejahende" alte .Adam alle

Masken abgerissen und endlich, in der Kritik des Feuerbachschen

Prinzips, die "Selbstenthuellung" auf einmalige Weise vollzogen.

Dieses vollstaenaig ehrliche Zeugnis ist dankenswert; denn obgleich

auch eine finstere Welt des Uebernatuerlichen den Menschen zu einem

Sklaven macht, beweist Stirner, als kritischer Zeuge vde auch als 169

Typus, dass der typische "wirkliche" Mensch - er selbst also - die notwendige ewige Ursache seiner streitsuechtigen, elenden Fried- losigkeit ist. Der im "Einzigen" typisierte Mensch ist schlimmer als bestialisch, ist teuflisch; selbst die anderen Humanisten wandten sich schaudernd vor der Enthuellung dieses Bildes ab.

In bloss menschlichen C-renzen mag dieser Teufel beschraenkt erfolgreich und berechtigt sein, letztlich ist er jedoch nur der

selbst-betrogene Teufel. Der "unchristlich" ewig wider den Stachel loekende alte Adam hat sich in Stirner kritisch enthuellt und auch konkret manifestiert; aber vor dem mystischen "neuen Adam" Christus muss der Stirnersche Antichrist mit seinem "Rationalismus" und

Hedonismus letztlich immer unterliegen. In seiner ohnmaechtigen

Schrecklichlceit ist Stirner ein erbauliches Sxemplum, das "von

Zeit zu Zeit" in Erinnerung gerufen werden sollte, als V/amung, ivohin das humanistische Loeken vdder den Stachel fuehren muesse

•und wolle. ZUSAMMENFASSUNG

Obschon in der vorliegenden Arbeit vier ungleichartige 7/erke untersucht wurden, in denen dem Phaenomen Stirner auch ein sehr ungleich grosser Raum eingeraeumt wurde, lassen sich trotz aller

Unterschiede der vier Stirner-Bilder gewisse Aehnlichkeiten in der

Betrachtungsweise der vier Verfasser feststellen. Unsere Autoren waren Nicht-philosophen oder Halbphilosophen, die an den politischen und daher auch an den ethischen Vorgaengen ihrer Zeit reges Interesse nahmen. Daher sehen sie den Philosophen Stirner fast ausschliess- lich als Phaenomen in der Geschichte der Bthik. Stirners Leistungen auf den Gebieten der Erkenntniskritik usw. fallen nicht in den

Gesichtskreis unserer Autoren. Es ist auch nicht verwunderlich, dass sie Stirner als Phaenomen in der Geschichte der Ethik betrachte- ten. Was unsere Autoren besonders beschaeftigt, ist Stirners

Stellung zum Junghegelianismus, der seinerseits als ethisches

Phaenomen, als Humanismus, und als politisches Phaenomen, vor allem als Liberalismus und - besonders bei Jordan - als Kommunismus ange- sehen wird. Dabei vdrd Stirners Kritik des Junghegelianismus, des

Liberalismus, des Sozialismus usw. weitgehend beiseitegesetzt.

Stirner vdrd weniger als Gegner Feuerbachs, Bauers und anderer

SchOepfer spezifischer "humanistischer" philosophischer Systems aufgefasst, noch auch als Gegner des Liberalismus und Kommunismus.

Immer wieder hingegen spielt der ultrahumanistische - der ultra-

liberale - Aspekt Stirners eine entscheidende Rolle. Die Verbindung

170 171 von Stirner und dem Humanismus wird dabei durch Stirners ueberaus konsequente Emanzipationssucht hergestellt. Ebenso wird immer unterstrichen, was das Ziel dieser Emanzipations-Sucht eigentlich ist, oder (bei Giseke) mit ihr Hand in Hand geht: ein Leben in

Redone, oder vielleicht genauer, in epikuraeischer Ataraxie. Der

Hedonismus, der die Bruecke zwischen dem offen egoistischen Stirner und dem noch in altruistischen Abstraktionen befangenen Humanismus schlaegt, ist dabei letztlich nicht auf ausschweifende Lust, sondern auf materielle Emanzipation, auf Entlastung und Sicherung des "leibhaftigen Ich" gerichtet. Auch wenn in den Augen unserer

Autoren Stirner selbst ueber das Ziel der Ataraxie hinausgeschossen zu haben oder gar davor stehengeblieben zu sein scheint, so bedeutet das historische Phaenomen Stirner fuer sie doch eine entscheidende

Enthuellung: die loebliche oder beschaemende Selbstenthuellung des

Junghegelianismus. Fuer die meisten unserer Autoren (Giseke ausge- nommen) enthuellt Stirner ferner das eigentliche, materiell-leidens- scheue 7/esen der anthropozentrischen Ethik oder gar der menschlichen

Psyche. Und als Fortsetzer und Enthueller der philosophischen Systeme, welche den nach Zwanglosigkeit suchenden Menschen zum Inhalt und

Ziel ihrer Ueberlegungen machten, wird der "Ultrahuraanist Stirner" zum wichtigsten, hervorstechendsten Teil unserer vier Doppelportraits des "antihumanistischen" wie "ultrahumanistischen" Stirner. Diese ultrahurnanistische Haelfte der Stirnerbilder -wird dabei mehr oder weniger zum historischen, repraesentativen Typenbild, d.h. der

Enthueller vdrd zum Vertreter der hedonistisch-humanistischen 172

Philosophie oder des hedonistischen Charakters.^ Die antihumanisti-

sche Seite Stirners hingegen, d.h. die authentische oder mindestens authentischere Seite des Philosophen Johann Kaspar Schmidt, tritt in unseren Stirner-Bildem dagegen viel weniger hervor, und Yard dann meistens mit der ultrahumanistischen, repraesentativen Haelfte so verschmolzen, dass sie ebenfalls typisch wirkt und somit den in- humanen oder freudlosen Charakter des Humanismus beweisen hilft

(Giseke, Daumer). Mur bei Bettina, die den egoistischen Menschen entlasten und schuetzen will, verraet sich das Misstrauen der Humanistin

gegen Stirner: in ihrem Dialog, dem der freilich etvias verzerrte und entstellte Originaltext des E.u.s.E. zugrundeliegt, tritt der bedrohliehe antihumanistische Aspekt Stirners bedeutsamer und selb-

staendig hervor. Bettinas Stirner-Bild ist sogar auf zwei getrennte

Figuren verteilt: eine vertritt den von Bettina korriglerten und verwaesserten Ultrahumanismus Stirners, die andere den von Bettina uebertriebenen Antihumanismus Stirners.

Ganz allgemein laesst sich das "Stirner-Bild in der deutschen

Literatur urn die Mitte des vorigen Jahrhunderts" etvia so definieren:

Stirner vdrd der typische Junghegelianer und Humanist; dadurch wird

er weitgehend verharmlost und sozusagen zum Vorkaempfer des radikalen

Liberalismus gemacht. Dies Bild ist der Vorbote des bekannten

spaeteren Bildes von Stirner als dem Apostel des Anarchismus.

Der wichtigste Unterschied in der moralisierend-historischen

Das letztere ist freilich nur selten zu finden, da nur zwei der hier besprochenen v'ferke genuegend Raum fuer Charakter- darstellung boten, naemlich Gisekes Roman und Jordans Epos. Und Jordans '.Jerk liefert nur ein Miniaturbildchen Stirners, dessen Zuege mehr erraten als klar erkannt werden koennen. 173

Betrachtungsweise unserer Autoren ergibt sich daher aus ihrer verschiedenen Einstellung zum Liberalismus. Ihre Stirnerbilder entstanden um die Mitte des vorigen Jahrhunderts; aber durch jene

Zeit geht ein Pass, der die Geister schied: die gescheiterte Re­ volution von 1848. In dem vorangegangenen Jahrzehnt hatte der Jung­ hegelianismus das Denken der Liberalen beherrscht; Jordan und Daumer waren damals extreme Junghegelianer, Bettina und wohl auch Giseke standen dem Junghegelianismus nahe. Mit dem Nachmaerz kam auch die

Zeit der Emuechterung und der ideologischen Konversionen. Schon vor der Revolution ging Daumer, nach der Revolution gingen Giseke und Jordan zu minder rebellischen politischen und philosophischen

Anschauungen ueber. Die hier behandelten Pferke Gisekes und Jordans sind VJerke einer bitteren Abrechnung mit der Revolution im allge­ meinen, mit der humanistischen Philosophie der Junghegelianer im

Besonderen; Daumers relativ spaet entstandene Schrift beschwoert den Junghegelianismus und Stirner als Menetekel, und selbst die

Revolution geistert noch in einigen schreckhaft-warnenden Neben- bemerkungen herum. Bettinas Essay aber entstand im Vormaerz und traegt alle Zeichen des messianischen Optimismus eines noch hoffnungs- fi*ohen radikalen Liberalismus an sich. Aus Bettinas Werk spricht noch eine merkliche Vorllebe fuer den Junghegelianismus; sie meint eine Synthese von Stirners Egoismus und Bruno Bauers Humanismus zu liefern, obschon das Resultat eher wie eine ungeschickte Rekapitu­ la tion aelterer aufklaererischer Ideen wirkt. Jedenfalls ist es ihr Bestreben, den junghegelianischen Humanismus nicht etwa zu 17 U diskreditieren, sondem zu verstaerken und auf dem Egoismus Stirners neu aufzubauen. Aus den anderen drei T.7erken hingegen spricht die

Enttaeuschung ehemals liberaler Renegaten. Bettina glaubt hoffnungs- froh an einen egoistisch-humanen Hedonismus; die andern Autoren bezweifeln und verwerfen ihn. Aus diesem Unterschied in der Be- wertung des humanistischen Hedonismus ergibt sich der wesentliche

Unterschied in der historischen Rolle, die die verschiedenen Autoren ihren Typenbildern Stirners zuweisen. Bettina behandelt die Ideen

Stirners als Malzeichen, als Wegweiser zu einer aufgeklaerteren, leidloseren Zukunft; ein friedlicher Sozialutilitarismus ist ihr

Ziel. Die anderen drei Autoren hingegen halten Abrechnung mit der hedonistischen Ethik und zeichnen Stirners Portrait als Mahnzeichen, das an eine beschaemende politische Vergangenheit erinnert. Aus polemisehen C-ruenden wird von ihnen der repraesentative Charakter ihrer Stirner-Bilder besonders stark betont: in Stirner wird auch der Humanismus verdaechtigt und verhoehnt. Die diabolisch anruechige

Atmosphaere um Stirners Amoralismus umhuellt auch den 3unghegeliani­ se hen Humanismus oder (bei Daumer und Jordan) sogar jede saekulare

Ethik. Und ebenso affiziert die letztliche Vergeblichkeit einer

Emanzipation im Sinne des Stirnerschen Egoismus die gleichermassen eitlen Emanzipationsversuche des Humanismus und seiner politischen

Kanifestationen (.Liberalismus, Kommunismus). Bei Giseke ist der

Selbstmord des "Nihilisten" Horn-Stirner das endgueltige Urteil der

Weltgeschichte ueber den philosophischen, daher ohnmaechtigen

Humanismus und Liberalismus. Die Religion, "religio" triumphiert 175 ewig ueber Hedone, ueber saekulares Loeken wider den Stachel, - dies ist die Botschaft Jordans und Daumers; dabei erscheint die Religion als askese-fordemdes antihumanistisches Prinzip; sie wird von

Jordan (teilweise auch vom Mystiker Daumer) verfinstert, brutal- diabolisch gemacht.

Vergleichen wir nun einige hervorstechende Einzelzuege der

Stimer-Bilder. Bei Bettina ist der "Antihumanist Stirner" - und dieser war ihr wohl der potentielle oder eigentliche Johann Kaspar

Schmidt - ein irrationaler, kriegerischer Willensmensch. Ihr

Stirner-Bild ist das einzige, welches die Zuege des Voluntaristen

Stirner unmissverstaendlich aufweist. Ganz im Gegensatz hierzu scheinen C-iseke und Jordan auf etwas verschleierte Yieise anzudeuten, dass es "Stirner" gerade an Willen und I.'Iark mangle; dieser Stirner ist jedenfalls ein Quietist.. Das Denken und Leben von Gisekes Horn-

‘■’tirner ist nichts als notduerftig uebertuenchte Resignation, gehetzte Flucht vor der Wirklichkeit, die er durch geistig "freie", passive Spekulation vergeblich zu uebertoelpeln hofft. Urn mit dem

Pathos der 7/irklichkeit fertig zu werden, um a lie Friktionen zu vermeiden, beschraenkt der sehr selbstgenuegsame "Einzige" Jordans

seine Habe, seinen Anteil an der Wirklichkeit auf einen passiven

Beobachterposten: sein von fauler Bequemlichkeit ueberwucherter

Wille bescheidet sich, weicht zurueck und beansprucht von der Welt

nicht mehr als ein friedlich-sicheres Eckchen. Bettinas "Ultra­

humanist Stirner" hingegen - und in ihm sieht sie weniger Johann

Kaspar Schmidt, als dessen gelehrigen und verstaendigen Zoegling, 176 d.h. sich selbst - kehrt begreiflicherweise in den anderen Eildern haeufig wieder: er ist ziemlich genau das typische Bild des Menschen und des liberalen Humanisten, dem die Erbitterung der drei anderen

Autoren gilt. Y/enn man davon absieht, dass Bettinas egoistischer, ultrahumanistischer "Mensch" gleichzeitig humane, sichernde Rechts-

Grenzen postuliert, so entspricht er nicht nur dem Humanisten, wie ihn unsere anderen Autoren zeichnen, sondern selbst dem repraesenta- tiven Ultrahumanisten Stirner, ;vie ihn besonders Daumer und Jordan sehen. Bettinas Ultrahumanist Stirner ist nur etwas weniger inselartig und anspruchslos als der furchtsame-friedliche Hedonist Jordans, der einerseits auf friedlich-bequemen Genuss bedacht ist, andererseits jedoch asozial and rechtlos denkt, und sich daher diesen Genuss durch Selbstbescheiden sichert. Und Bettinas "Ultrahumanist

Stirner", in dem, v/ie Bettina es darstellt, eine ueber den jung- hegelianischen Humanismus und den Egoismus Stirners hinausreichende

Entwicklung zu ihrer kroenenden Synthese gelangt ist, ist tatsaech- lich identisch mit Daumers "altem Adam", dem hedonistischen "Menschen", den der Humanismus, besonders der Junghegelianismus, gesucht haette, bis er in Stirner und seinem ;!Einzigen" seine unverhuellte, egoist- isch-humane Verkoerperung und Theorie gefunden habe. Von seinem christlich-antihumanistischen Standpunkt aus verteufelt Daumer dabei das, woran Bettina glaubt: der "alte Adam" und der hedonistische

Humanismus ist teuflisch, ’and Stirner, als "Krone und Abschluss" in der historischen Entwicklung des Humanismus, ist der fleischge- vrordene Antichrist. 177

Ein ungewoehnlicher Aspekt findet sich in G-isekes Stirner-Bild, dessen ultrahumanistische Zuege die antihumanistischen Pinsel- striche fast gana verdecken. Dieser Stirner ist ein Idealist, er ist fast durchwegs junghegelianischer "Freigeist”, also typischer

Vertreter einer Erscheinung, der Giseke verbittert das Scheitern der Revolution vor allem zur Last legt. Der Skeptizismus, das

Schwaechebewusstsein des Humanismus aeussert sich bei diesem Stirner aehnlich, aber viel resignierter als bei Jordans "Einzigem", der sich auf den bequemsten Materialismus verlegt. Gisekes Horn-

Stirner flieht als typischer, ultrakonsequenter Junghegelianer vor der despotischen Wirklichkeit in die Welt des schwachen "starken

Geistes", die ein vorlaeufiges Asyl und eitle Kompensationen bietet.

Unter den anderen Stirner-Bildern finden wir idealistische Zuege nur noch bei Bettinas "Antihumanisten Stirner"; sie sind aber bloss polemisch-verzweifelte Zutat der Anti-Idealistin Bettina, die dem irrationalen Unmenschen beweisen moechte, dass sein rechtloser

Amoralismus noch ein atavistisches Ueberbleibsel dessen ist, was er in seinen lichteren Momenten selbst bekaempft: des wirklichkeits- fremden Idealismus.

Betrachten wir nun die Hintergruende, auf denen die verschiedenen

Stimer-Bilder gezeichnet sind. Angesichts der historischen Be- trachtungsweise \mserer Autoren, angesichts des typischen, re- praesentativen Charakters so vieler Zuege ihrer Stimer-Bilcter sind jene Hintergruende oder Rahmen von Wichtigkeit. Es var ja eigentlich weniger Stirner selbst, als der Liberalismus und der Junghegelianis- 178 mus, der im Brennpunkt ihrer Blicke lag. Vielleicht von dem Stirner-

Bild Bettinas abgesehen, entstanden jene Bilder offensichtlich nur als Wegweiser, die zur Orientierung auf einem groesseren Blickfeld 2 dienten, m e dies Daumer auch ausdruecklich hervorhebt. Nur bei Bettina, die sich fuer Stirner noch mehr als fuer den jung-

hegelianischen Humanismus interessiert, und die den Blick ueberhaupt lieber von einer illiberalen, dunklen Vergangenheit abwendet und

einem friedlich-rationalen Egoismus der Zukunft zuwendet, sind die

Hintergruende ihres Doppelbildes ohne weitere Bedeutung.^ Wie

diese huraanistische Zukunft, auf die Bettina hofft, ungefaehr

aussehen wuerde, zeigt Jordans mit grimraiger Ironie gezeichnetes, unertraeglich reiz-loses Zukunftsparadies in "Nirgendheim". Bei

dem verbitterten Giseke wieder scheint es so etwas vde eine Zukunft

ueberhaupt nicht zu geben; ueber dem Grab der liberalen Hoffnungen

verstummt selbst der Autor in. verzweifeltem Grimm. Giseke richtet

nur die unmittelbare Vergangenheit. Der junghegelianische Humanismus

und Liberalismus bildet bei ihm, -wie bei den anderen Autoren, den

unmittelbaren Hintergrund - bei Giseke den einzigen Hintergrund -

des Typenbildes Stirner. Um wieviel weiter aber die Rahmen gespannt

sein koennen, welches Relief also die verschiedenen Stimer-Bilder

^ Das Bestreben, einen historisch moeglichst exakten Hintergrund zu liefern, macht sich selbst rein aeusserlich in der Benutzung historischer Dolcumente bemerkbarj solche Quellen benutzt Daumers Traktat zugegebenermassen, Gisekes Roman uneingestandenermassen.

^ Sie dienen sonst nur als gelegentliches Argument zu Folemiken, etwa gegen den Idealisraus der Junghegelianer (Bauer), gegen den Irrationalismus, das "historische Recht", etc. 179 erhalten koennen, zeigt ein Vergleich der Untertitel von Gisekes und Daumers Werken: hier "kleine Leute," - freilich in der "grossen

Zeit", die aber doch nur die Jahre 1845/4# umspanntj dort "die

Entwicklung der deutschen Philosophie nach Hegel", aufgefasst als welthistorischer, sogar transzendenter "altadamischer Selbstbejahungs- und Selbstenthuellungsprozess". Bei Daumer wie bei Jordan eroeffnen die Hintergruende weitere Ferspektiven als bei Giseke oder Bettina.

Nicht nur der Junghegelianismus, sondern der Humanismus schlechthin wird vor den Richterstuhl Jordans und Daumers gezogen. Und hinter dieser groesseren geschichtlichen Perspektive - die bei Jordan nur undeutlich dargestellt wird^ - zeigt sich bei Jordan und Daumer noch ein weiterer, christlich-mystischer Hintergrund. An der Macht dieser

Welt des Transzendenten seheitert letztlich der Humanismus, obschon

Daumer den ultrahumanistischen, anarchischen Egoismus Stirners als einen zwar zwistbringenden, aber auch als den einzig gangbaren Weg zu menschlicher Hedone und Emanzipation betrachtet; und Jordan wiederum scheint dem mark- und anspruchslosen Egoismus seines "Einzigen" die

Faehigkeit zuzugestehen, sich ein isoliertes Inselchen des Gluecks und Spasses zu verschaffen. Durch jenen religioes-mystischen Hinter­ grund geraet Stirner in die Naehe des Teufels. Daumers Stirner-

Bild, in dem wir den "Ultrahumanisten Stirner" und den "Enthueller

Stirner" in unvergleichlich greller und ausdruecklicher Form vorfinden,

^ Jordan wie sein "Einziger" sind vor allem Kritiker der Zeit- geschichte, und - trotz alles Herumphilosophierens - vor allem der politisch-sozialen Zeitgeschichte.

5 Unter alien hier besprochenen Stirner-Bildern ist daher das von Daumer wohl das bezeichnendste. 180 ist das Symbol der antichristlichen Trinitaet: hedonistischer

Humanismus— nihilistischer Egoismus Teufelei. Der Teufel Stirner, dem Daumer eine schwarze Gloriole verleiht, hat in dankenswerter

VJeise durch seine "Selbstenthuellung" auch die Teufelei des Humanis­ mus enthuellt. Im entgegengesetzten Sinn hingegen verkleinert

Jordan die Statur Stirners. Der teuflisch-grausame, wahrhaft menschenquaelerische Egoismus Lucifers wird von Jordan natuerlich hoch gepriesen; er dient ja dazu, die inhumane Haerte des Trans- zendenten noch zu verschaerfen. Das Grandios-Teuflische ist in die Religion verlegt, waehrend der atheistische "Einzige" sich als menschlich-allzumenschlich erweist: die Aehnlichkeit Stirners und des Demiurgen Lucifer beruht auf einer erklaerlichen, aber groben

Augentaeuschung. Der Jordansche "Einzige" ist noch viel harmloser als Gisekes Horn-Stirner, der als "Mephisto" in der kleinen V.’el t der Berliner junghegelianischen Boheme wenigstens einige mehr oder minder harmlose "Geniestreiche" begeht. AUSGEWAEHLTES VERZEICHNIS DER IN DIESER ARBEIT

ERWAEHNTEN SCHRIFTEN

Abb, Gustav, ed. Yon Buechem toad Bibliotheken.... Ernst Kuhnert als Abschiedsgabe dargebracht ... Berlin, 1928. Amaudo, GCiovanni] Blattista]. Le nihilisme et les nlhilistes. Trans. Henri Bellenger. Paris o.J. [1880], Ursprueng- licher Titel: II nihilismo, come e nato, come si e svi- luppato ... 2. Aufl., Torino, 1879. Amim, Frau [Bettina] v. "Die Aufloesung des Einzigen durch den Menschen", Die Epigonen, IV (Leipzig, 1847)» 189-251. Arvon, H. "Une polemique inconnue: Marx et Stirner", Les Temps M o d e m e s . VII (Sept. 1951), 509-536. Auerbach, Berthold. Neues Leben, in Schriften. 2. Serie, 3. Bd. Stuttgart, 1871. Bauer, Bruno. Die buergerliche Revolution in Deutschland seit dem Anfang der deutsch-kathollschen Bewegung bis zur Gegenwart. Berlin, 1849. Bernoulli, Carl A. Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. Bd. I. Jena, 1908. Bieber, Hugo. Per Kampf um die Tradition. Berlin, 1928. Biedermann, A. "Unsere junghegelsche Weltanschauung oder der sogenannte neuste Pantheismus", Die Kirche der Gegenwart. Eine Monatsschrift fuer die reform!erte Schweiz, V (Zue- "rich, 1849), 1-207. Biedermann, Karl. Mein Leben und ein Stueck Zeitgeschichte. Bd. I. Breslau, 1886. Blaetter fuer litterarische Unterhaltung. Leipzig: Brockhaus, 1845 ff. Bolin, Wilhelm. Ludwig Feuerbach, sein Wirken -und seine Zeitge- nossen. 2. Aufl., Stuttgart, 1891. Brunner, Sebastian. Der Atheist Renan und sein Evangelium. 2. Aufl., Regensburg, 1864* Catlin, George. The Story of the Political Philosophers. New York und London o.J. [19393- Conradi, Hermann. Saemtliche Schriften. 3 Baende. Muenchen und Leipzig, 1911. . "Zum Begriffe der induktiven Literaturpsychologik", Die Gesellschaft (1889), 697-711. Daumer, G[eorg] Ftriedrich]. Das Christentum und sein Urheber. Mit Beziehung auf Renan, Schenkel, Strauss, Bauer, Feuer­ bach, Ruge, Stirner und die gesammte moderne Negation. Nuernberg, 1864.

181 182

Daumer, GCeorgJ FrCiedrich]. Der Zukunftsidealisrmis der Vorwelt.... Regensburg, 1874* Engert, Rolf. Die Freiwirtschaft. Ein praktlscher Ausdruck der Stimerschen Philosophie. Erfurt, 1921. Funck-Brentano, Theophile. Les Sophistes Allemands et les Nihl- listes Russes. Paris, 1887- Geiger, Ludwig. "Zur Geschichte der Heineschen Schriften", Euphorion, VIII (1901), 337-340. . Bettine v. A m i m und Friedrich Wilhelm IV. Frankfurt, 19027 Der Gesellschaftsspiegel. 2 Baende. Elberfeld, 1845/46. Giseke, Robert. Modeme Titanen. Ein Roman der Gegenwart. 2. Aufl. Leipzig, 1853. Glossy, Karl. "Literarische Geheimberichte aus dem Vormaerz", Jahr- buch der Grillparzergesellschaft, Bd. 21-23. Wien, 1912. Gottschall, Rudolf v. Die deutsche Nationall.iteratur des 19. Jahr- hunderts. 6 . Aufl. Bd. Ill und IV. Breslau, 1891 f. Grottkau, Paul, und Joh. Most. Diskussion ueber das Thema "Anar- chismus oder Kommunismus?" Chicago, 1884. [Gutzkow, Karl]. "Assing, Varnhagen's Schwager. Briefliches an den Herausgeber, von Karl Gutzkowr", Das Neue Europa, ed. August Lewald (Stuttgart, 18453, Bd. I, Heft 2, S. 17 ff. ______. Die Ritter vom Geist. 5. Aufl., Berlin, o.J. [18693. Hartmann, Eduard v. Philosophie des Unbewussten. 1. Aufl., Berlin, 1869. ______. Phaenomenologie des sittlichen Betmsstseins. Berlin, 1879. Haym, Rudolf. "Philosophie", Allgemeine Encyclopaedie der Wissen­ se haf ten und Kuenste, ed. Ersch und Gruber. Abt. Ill, Bd. 24. Leipzig, 1848. S. 1-231. ______. Ausgewaehlter Briefwechsel Rudolf Hayms. Ed. Hans Rosen­ berg. Berlin und Leipzig, 1930. Hebbel, Friedrich. Saemtliche Werke. hist.-krit. Ausgabe, ed. R. M* Werner. Bd. XI. . Ibid., Briefe. Bd. IV und VIII. Hess, Moses. Die letzten Philosophen. Darmstadt, 1845. Hollaender, Felix. Per Weg de3 Thomas Truck. 9. und 10. Aufl., Berlin, 1910. Holz, Amo. Sozialaristokraten. Rudolstadt, 1896. Hook, Sidney. From Hegel to Marx. London, 1936. Houben, H* H. Verbotene Literatur. Berlin, 1924. Jordan, Wilhelm. Demiurgos. Ein ^sterium. Leipzig, 1852/54- Koch, Franz. "Wilhelm Jordans 1Demiurgos1", Abhh. d. Preuss. Akad. d. Wiss., Phili-hist. Klasse, Jahrg. 1942, No. 1. ______. "Rilkes Stunden-Buch - ein Akt deutschen Glaubens", Ibid., Jahrg. 1943, No. 2. Koerner, Joseph. Bibliographisches Handbuch des deutschen ^chrift- tums. 3. Aufl., Bern, 1949. Kuehne, Agnes. Der Religionsphilosoph Georg Friedrich Daumer. Wege und Wirkungen seiner Entwicklung. Diss. Berlin, 1935 od. 1936. 183

Kuh, Emil. Biographie Friedrich Hebbels. 3. Aufl., Bd. II. Wien, 1912. Lange, Friedrich A. Geschichte des Materialisms. 1. Aufl., Iserlohn, I8 6 0 . Mackay, John Henry. Max Stirner. Sein Leben und sein Werk. 2. Aufl., Treptow, 1910. Mallon, Otto. "Bibliographische Bemerkungen zu Bettina von A m i m s saemrtlichen Werken", Ztsch. f. dt. Philol. .56 (1931), 446-465. Marx, Karl und Friedrich Engels. Saemtliche Werke. hist.- krit. Ausgabe. Abt. I, Bd. 4 und 5} Abt. Ill, Bd. 1. Masaryk, Thomas G. The Spirit of Russia. Bd. I. London und New York, 1919- Mauthner, Fritz. Der Atheismus und seine Geschichte im Abend- lande. Bd. IV. Stuttgart und Berlin, 1923. ______. Erinnerungen. I. Prager Jugend.jahre. Muenchen, 1918. Mayer, Gustav. "Stirner als Publizist", Frankfurter Zeitung. 4. 1 0 . 1 9 1 2 . ______. "Die Anfaenge des politischen Radikalismus im vor- maerzlichen Preussen. Wit einem Anhang: Unbekanntes von Stirner", Ztsch. f. Pol. VI (1913), 1-113. _____ . "Die Junghegelianer und der preussische Staat", Hist. Ztsch.. Bd. 121 (1920), 413-440. Mehring, Franz. Aus dem literarischen Nachlass von Marx, Engels und Lasalle. Bd. II, Stuttgart, 1902. Nettlau, Max. Der Vorfruehllng der Anarchic. Berlin, 1925. Overbeck, Franz. "Erinnerungen an Friedrich Nietzsche", Neue Rundschau. 1906, Bd. I, S. 209-231, 320-330. Panizza, Oskar. Per Illusion!simis und die Rettung der Persoenlich- keit. Skizze einer Weltanschauung. Leipzig, 1895. Proudhon, Ptierre] J. "Die Widersprueche der Nationaloekonomie oder die Philosophie der Not", trans. Wilhelm Jordan, Die National-Oekonomen der Franzosen und Englaender, ed. Max Stirner. Bd. 9 und 10. Leipzig: 0. WIgand, 1847. Prutz, Robert. Die deutsche Literatur der Gegenwart. 2. Aufl., Leipzig, I860. Pueckler-Muskau, Hermann v. Briefwechsel und Tagebuecher, ed. Ludmilla Assing. Bd. IX, Berlin, 1876. Puerschel, Ursula. Bettina von Arnims Polenbroschuere. Berlin, 1954. Rilpy, Thomas A. "John Heniy Mackay, Germany's Anarchist Poet". Diss., Harvard, 1945. [Rohmer, Theodor], Kritik des Gottesbegriffes in den gegenwaerti- gen Weltansichten. 3. Aufl., Noerdlingen, 1857- [Romang, J."P. ) Per neueste Pantheismus oder die .junghegelsehe Weltanschauung nach ihren theoretischen Grundlagai und praktischen Konsequenzen. Allen Denkenden gewidraet von J. P. Romang. Bern und Zuerich, 1848. 18U

Romang, J. P. Ueber Unglauben, Pietismus und Wissenschaft. Bern und Zuerich, 1859. Rosenkranz, Karl. Aus einem Tagebuch. Leipzig, 1854* Ruge, Arnold. Gesammelte Schriften. 10 Baende. Mannheim, 1846/48. ______. Arnold Ruges Briefweehsel und Tagebuchblaetter. ed. Paul Nerrlich. 2 Baende. Berlin, 1886. Sass, Friedrich. Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung. Leipzig, 1847• Schultheiss, Hermann. Stirner. Grundlagen zum Verstaendnis des Werkes "Der Einzige und sein Eigentum11. Diss., Greifswald, 1905. 2. Aufl., ed. Richard Dedo, Leipzig, 1922. Simonyi, Ivan v. Die Schopenhauer-Filosofasterei, eine Ursache und ein Faktor des Hihilismus und Anarchismus, und die einzigen Gegen mittel gegen die Letzteren. Aus dan Tagebuche eines Laien. Als Manuskript gedruckt. Poszony, 1903. Springer, Robert. Berlins Strassen, Kneipen und Clubs im Jahre I8 4 8 . Berlin, 1850. Stem, Maurice Reinhold v. Wilhelm Jordan. 3, Aufl., Frankfurt, 1911. Stumer, Max. Der Einzige und sein Eigentum. 3. Aufl., Leipzig: 0. Wigand, 1901. ______. Max Stirners Kleinere Schriften, ed. John H. Mackay. 1. Aufl., Berlin, 1898. TaiHandier, St.-Rene. "L'atheisme allemand et le socialisme francais. M. Charles Gruen et M. Proudhon", Revue des deux mondes. 1848/17, 280-322. ______. "Mbuvement litteraire de 1’Allemagne. I. Le roman et les romanciers", Ibid.. 1853/1, 516-542. ______. "Mouvemsnt litteraire de 1’Allemagne. II. La poesie allemande", Ibid.. 1853/11, 368-391. Walzel, Oskar. Die deutsche Dichtung seit Goethes Tod. Berlin, 1919. Wigands Viertel.iahrsschrift. 8 Baende. Leipzig, 1844-45. Wittkop, Justus F. Jordans "Demiurgos". Strasbourg, 1928. (3. Teil der Dissertation Muenchen, 1926) AUTOBIOGRAPHY

I, Rene' Simon Taube, was born on October 8, 1919, in Vienna,

Austria, where I received the degree "Matura" at the Akademisches

Gymnasium in 1937, and where I studied at the University of Vienna for two semesters in 1937/8.

In Quito, Ecuador, I studied Chemistry at the Universidad

Central del Ecuador from 19U2 to 19U7• I obtained the degree of

Licenciado in 19U7, and Doctor of Chemistry and Pharmacy in 19U8.

In 19U9, I enrolled as a Graduate Student in the German

Department of Johns Hopkins University, which granted me the

Master of Arts degree in 1952. In Summer 1950 I received a

Graduate Assistantship from the German Department of Ohio State

University, a position which I held for three years while completing the requirements for the degree Doctor of Philosophy.

In October, 1953, I accepted an Instructorship in German and

Spanish at the University of Massachusetts. Since October, 1955,

I have been an Instructor at the Department of Germanic Languages and Literature of the University of Washington.

185