Gesine Carl und Angelika Schaser Anders werden? Konversionserzählungen vom 17. Jahrhundert bis zum Ersten Weltkrieg

LESEPROBE

Verlag

Dr. Dieter Winkler Inhalt

Vorwort ...... 7

Gesine Carl, Angelika Schaser Konversionsberichte des 17. bis 19. Jahrhunderts als Selbstzeugnisse gelesen Ergebnisse und Forschungsperspektiven ...... 9

Gesine Carl Katholik – Lutheraner – Katholik Rechtfertigungsstrategien und Selbstentwürfe in den Konversionserzählungen von Johannes Ferdinand Franz Weinberger (1687 / 1690) ...... 41 Johannes Ferdinand Franz Weinberger: Textauszüge aus Mortuus Resuscitatus (1687) und Verè Mortuus, Verè Resuscitatus (1690) ...... 61

Gesine Carl „Drumb Gönner! gönne mir die Milde deiner Gab’n ...“ Die Konversionserzählung Andreas Wangautzkys (1689) als Instrument der Lebenshilfe .... 75

Andreas Wangautzky: Textauszüge aus Revocatio Sincera (1689) ...... 95

Gesine Carl Mit dem Wanderstab durch die Wüste Die Konversionserzählung Johannes Ignatius Wittibars (1701) ...... 105

Johannes Ignatius Wittibar: Textauszüge aus Geistlicher=Wanderstaab (1701) ... 125

Gesine Carl „… von Gott wunderbahrer Weiß beruff en worden“ Die Konversionserzählung Joseph Jörgers (1710) ...... 135

Joseph Jörger: Textauszüge aus Motiva, oder Haubt=Ursachen (1710) ...... 145

Angelika Schaser „Glut im Herzen, Eis im Kopf“ Zur Konversion von Ida Gräfi n von Hahn-Hahn (1850) ...... 157

Ida Gräfin von Hahn-Hahn: Textauszüge aus Von Babylon nach Jerusalem (1851) . 169

Angelika Schaser Endstation „poetisches Heidentum“ Georg Friedrich Daumer als Suchender (1858) ...... 177

Georg Friedrich Daumer: Textauszüge aus Meine Conversion (1859) ...... 183 6 Inhalt

Angelika Schaser Konversionserzählung in Gedichten Zur Konversion der „Sängerin des heiligsten Sakraments“ Cordula Wöhler (1870) ...... 193 Cordula Wöhler (Cordula Peregrina): Textauszüge aus Aus Lebens Liebe, Lust und Leid (1898) ...... 203

Angelika Schaser Heimatlos in Zwischenwelten Die Konversion der Frauenrechtlerin und Wissenschaftlerin Elisabeth Gnauck-Kühne zum Katholizismus (1900) ...... 213 Elisabeth Gnauck-Kühne: Textauszüge aus Handschriftliche Aufzeichnungen zum Glaubenswechsel ...... 219

Angelika Schaser Katholischer Propagandaprofessor an protestantischer Universität? Zur Konversion des Historikers Albert von Ruville (1909) ...... 227

Albert von Ruville: Textauszüge aus Zurück zur heiligen Kirche (1910) ...... 239

Verzeichnis der Abbildungen und Bildunterschriften ...... 249 Bildnachweis ...... 251 Vorwort

Religiöse Konversionen wecken meist Neugierde oder auch Misstrauen, selten lassen sie Men- schen unberührt. Während heute vor allem Konversionen zum Islam Aufsehen erregen und Ängste hervorrufen, waren es von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg insbesondere in- nerchristliche Religionswechsel, die mit öff entlichen Bekenntnissen, Gegenschriften, Anschul- digungen und Verteidigungen die Gesellschaft beschäftigten. Neun biografi sche Skizzen zu Konvertiten und Konvertitinnen aus dem deutschsprachigen Raum sowie Auszüge aus ihren Konversionsberichten zeigen, wie der Religionswechsel vom 17. bis zum 20. Jahrhundert von der Umwelt aufgenommen wurde und welche Bedeutung diesem Schritt von den Konvertitin- nen und Konvertiten selbst zugeschrieben wurde. In diesem Buch werden Konversionen und Konversionserzählungen vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts untersucht. Die teilweise sehr umfangreichen Ausführungen, die den Weg zum anderen Glauben beschreiben und begründen, erschienen meist bereits kurz nach voll- zogener Konversion. Am Anfang steht Johannes Ferdinand Franz Weinberger für die Gruppe der Mehrfachkonvertiten. Er trat 1687 zum Luthertum über und kehrte 1688 zum Katholizis- mus zurück. Andreas Wangautzky, Ignatius Wittibar und Joseph Jörger schrieben 1689, 1701 und 1710 über ihre Konversionen vom Katholizismus zum Luthertum bzw. vom Luthertum zur katholischen Kirche. Im zweiten Teil stehen die Konversionserzählungen der Gräfi n Ida von Hahn-Hahn und Georg Friedrich Daumers, die 1850 bzw. 1858 zum Katholizismus kon- vertierten. Auch die letzten drei der hier vorgestellten Konvertiten gingen diesen Weg: Cor- dula Wöhler im Jahr 1870, die Mitbegründerin der evangelischen und katholischen Frauenbe- wegung Elisabeth Gnauck-Kühnes 1900 sowie der Hallensische Historiker Albert von Ruville 1909. Diese Zeugnisse innerchristlicher Konversionen weisen ein gemeinsames Charakteristi- kum auf, das für religiöse Konversionen jeder Art gelten dürfte: Nicht selten manövrierten sich Konvertiten und Konvertitinnen mit ihrem Übertritt in schwierige Situationen. In der Regel gestaltete sich die Verbindung zur Herkunftsfamilie nach diesem Schritt problematisch oder riss ab, in der neuen Religionsgemeinschaft wurden sie jedoch trotz aller Loyalitätsbezeugungen oft ihr Leben lang als die „Anderen“ wahrgenommen. Die hier vorgestellten Konversionsberichte wurden im Rahmen der an der Freien Universität Berlin beheimateten DFG-Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“ in- terpretiert. Ziel der von Claudia Ulbrich geleiteten Gruppe war es, die Th ematisierung des ei- genen Lebens in verschiedenen Kulturen, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen geographi- schen Räumen und in spezifi schen Interaktionszusammenhängen als kulturelle und soziale Pra- xis zu untersuchen und in den Kontext gesellschaftlicher Beziehungen zu stellen. Als Mitglieder dieser Forschergruppe hatten Gesine Carl und ich das Privileg, unsere Arbei- ten in diesem Rahmen konzipieren und diskutieren zu können. Wichtige Anregungen und Er- kenntnisse resultierten aus der Epochen- und Fächergrenzen überschreitenden „Gegenlektü- re“, den Workshops und Tagungen dieser Gruppe, für die wir allen Mitgliedern an dieser Stelle noch einmal danken. Im Mittelpunkt der interdisziplinären Diskussionen zwischen Literatur- wissenschaftlerinnen und Historikerinnen und Historikern standen für das Teilprojekt „Situa- tionen zwischen Gewalt, Zwang und Selbstzwang“ die Konstituierung, Konzeption und Wahr- nehmung von Person in „prekären Kommunikationssituationen“. Untersucht wurden Texte, die an entscheidenden Wendepunkten des Lebens verfasst wurden. Andreas Bähr interpretierte 8 Vorwort

Texte des Dreißigjährigen Krieges, Petra Buchholz Geständnisse japanischer Kriegsgefangener in chinesischer Kriegsgefangenschaft in den 1950er Jahren und Gesine Carl Konversionsberich- te aus dem Heiligen Römischen Reich und den Niederlanden im konfessionellen Zeitalter. Für das letztgenannte Projekt sowie für die Konversionserzählungen, die für das „lange 19. Jahrhun- dert“ von mir untersucht wurden, stellte sich die Frage, ob das Genre der religiösen Konversi- onserzählung überhaupt Möglichkeiten jenseits der stereotypen Anforderungen an diese Text- gattung zur Selbstdarstellung bot und wieweit sich Konvertiten von den vorgegebenen Mustern der Konversionserzählungen entfernen konnten. Die Beispiele zeigen, dass die Autoren und Autorinnen der Konversionserzählungen sehr wohl individuelle Formen wählten – wie etwa Konversionsberichte in Gedichtform. Und sie fan- den in den von der neuen Religionsgemeinschaft geforderten und erwarteten Narrativen auch Raum für die Darstellung persönlicher Entwicklungen, kritisierten gesellschaftliche Zustände und stellten politische oder wissenschaftliche Forderungen. Sie schrieben sich damit nicht nur in religiöse Kontexte ein, sondern lieferten mit ihren Schriften gleichzeitig Beiträge zu politi- schen und wissenschaftlichen Diskussionen. Konversionserzählungen, so unser Ergebnis, kön- nen durchaus als Selbstzeugnisse interpretiert werden. Als besonders ergiebig erwiesen sich da- für die Texte von Mehrfachkonvertiten sowie in der Moderne die Berichte von Personen, die zum Katholizismus konvertierten. Hier scheint der Zwang, ausführliche Begründungen für die- sen unmodern anmutenden Schritt liefern zu müssen, besonders groß gewesen zu sein. Neben dem gemeinsamen Aufsatz und den Darstellungen zu den Konvertiten und Konverti- tinnen konnten wir in dieses Buch nur ausgewählte Auszüge aus den Konversionsberichten auf- nehmen, die wichtige Kennzeichen des Genre wie etwa das tolle-lege-Erlebnis, die Kritik am Religionsunterricht, wegweisende Träume und Begegnungen und die Reaktion der Umwelt auf die Konversion beinhalten, aber auch eigene Interpretationen der Welt und individuelle Perso- nenkonzepte erkennen lassen. Die vollständigen Konversionserzählungen mit Erläuterungen können online unter www.konversionen.uni-hamburg.de nachgelesen werden. Dorthin sind sie 2016 von der Freien Universität Berlin migriert worden, um die Sammlung zu sichern und wei- ter ausbauen zu können. Für die technische Realisierung dieses Projekts danken wir Iris Vogel. Für inhaltliche und redaktionelle Unterstützung gilt unser herzlicher Dank Christine Schatz. Hamburg, im Februar 2016 Angelika Schaser Konversionsberichte des 17. bis 19. Jahrhunderts als Selbstzeugnisse gelesen Ergebnisse und Forschungsperspektiven

Gesine Carl, Angelika Schaser

Im Rahmen der Forschergruppe „Selbstzeugnisse in transkultureller Perspektive“1 wurden Selbstzeugnisse aus verschiedenen Regionen der Welt (Europa, Asien, Lateinamerika) vom 15. bis zum 20. Jahrhundert untersucht, um festzustellen, welche Informationen diese Texte über das Personkonzept der jeweiligen Autoren und Autorinnen bieten. Dabei sollten eurozentrierte Vorstellungen von der Entstehung eines (westlichen) Individuums in Frage gestellt und durch diachrone Vergleiche sowie die Einbeziehung nichteuropäischer Gebiete hinterfragt werden. Die in den Selbstzeugnissen zum Ausdruck kommende Individualität, so die gemeinsame Aus- gangsthese, kann nur ein Teil eines Personkonzepts sein.2 Selbst der Mensch der westlichen Mo- derne nahm sich nicht nur als Individuum wahr. Er konzipierte, imaginierte und präsentierte sich je nach Situation, nach Lebensalter, Familienstand, Zeitalter, Kulturkreis, Staatsform, so- zialer Herkunft, religiöser Zugehörigkeit, Geschlecht, Beruf, Erfahrungen und Netzwerken in Selbstzeugnissen als unabhängige Persönlichkeit und / oder als Teil eines Paares, einer Familie, ei- ner Gruppe, einer Kultur, einer Nation, eines Staates und der Mehrheitsgesellschaft oder als Au- ßenseiter, Angehöriger einer Minderheit oder als Fremder. Am Anfang unserer Untersuchungen standen drei Fragen, mit denen das Projekt um- rissen wurde. Wie soll Konversion defi niert und welche Kriterien sollen für die Auswahl der zu bearbeitenden Konversionsberichte, die in großer Zahl gedruckt und ungedruckt vorliegen, herangezogen werden? Und können Konversionsberichte überhaupt als Selbstzeugnisse gele- sen werden? Die Literaturwissenschaft hat bislang vor allem die Kennzeichen des Genres und die Stereotypen der Konversionserzählung herausgearbeitet. Wir haben nach dem Personkon- zept, dem historischen Kontext und den spezifi schen Bedingungen gefragt, unter denen die- se Berichte entstanden. Dabei interessierte uns, ob und in welchem Maße Ähnlichkeiten und Änderungen in diesen Texten über einen längeren Zeitraum festzustellen sind. Dazu haben wir deutschsprachige Konversionserzählungen aus dem Zeitraum vom 17. Jahrhundert bis zum Ers- ten Weltkrieg untersucht. Defi nition von Konversion Nach einer eindeutigen und allgemein akzeptierten Defi nition des Konversionsbegriff s sucht man bis heute vergeblich. Dies ist zum einen mit der Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit des Begriff s selbst zu erklären – Lewis R. Rambo spricht in diesem Zusammenhang von einer „built- in ambiguity“3 –, zum anderen liegt es daran, dass die Defi nition von Konversion im Wesentli-

1 Näheres dazu siehe unter http://www.geschkult.fu-berlin.de / e / fg530 / index.html [31.03.2016]. 2 Claudia Ulbrich / Gabriele Jancke: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiogra- phietheorie und Selbstzeugnisforschung, in: Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Au- tobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, hg. von Claudia Ulbrich und Gabriele Jancke, Göttingen 2005 S. 7 – 27, S. 15. 3 Lewis R. Rambo: Understanding Religious Conversion, New Haven u. a. 1993 S. 3. 10 Gesine Carl, Angelika Schaser chen durch das jeweilige Selbstverständnis einer Religionsgemeinschaft mitbestimmt wird. Bei- spielsweise kennt die katholische Kirche nur den Übertritt zur eigenen Kirche, während ein Katholik, der eine andere Konfession annimmt, lediglich als „Ausgetretener“ wahrgenommen wird.4 Zudem wird das Phänomen von ganz verschiedenen Forschungsrichtungen wie etwa der Religionspsychologie, der Religionssoziologie, der Geschichts- und der Literaturwissenschaft untersucht, die jeweils unterschiedliche Kriterien und Methoden anwenden.5 Als ‚kleinster gemeinsamer Nenner‘ aller Defi nitionen von Konversion ist das Moment des Wandels zu betrachten; Peter L. Berger und Th omas Luckmann sehen die religiöse Konversion so- gar als das „historische Urbild der Verwandlung“ an.6 In der Bibel wird das Phänomen der Konver- sion mit dem hebräischen Wort „shub“ bzw. mit den griechischen Vokabeln „(epi)strephein“ und „metánoia“ (innere Umkehr) benannt, die „alle einen dramatischen Wandel, eine Wendung von einer Auff assung zu einer anderen oder eine Rückkehr zu einer früheren Auff assung bezeichnen“.7 Aus den lateinischen Wörtern „conversio“ (Umdrehung, Umwandlung) und „convertere / -i“ (umwenden, umkehren) bzw. aus vertere (wenden, kehren, drehen) entstanden schließlich die Begriff e „Konversion“, „Konvertit“ und „konvertieren“, die im deutschen Sprachraum im spä- ten 18. Jahrhundert als Bezeichnung für einen innerchristlichen Konfessionswechsel gebräuchlich wurden.8 Ines Peper hat den Begriff „Convertit“ inzwischen auch in deutschsprachigen Quellen des 17. Jahrhunderts nachweisen können.9 Da das Christentum seit seinen Anfängen einen Aus- schließlichkeitsanspruch erhob, meinte der lateinische Begriff conversio mindestens zwei Phäno- mene: Die Bekehrung, also „die durch göttliche Gnade vermittelte Hinwendung des Menschen zu Gott […] und die Notwendigkeit, die vorige Religionsgemeinschaft zu verlassen.“10 Wegen der zugrundeliegenden Mehrdeutigkeit des Terminus „conversio“ ist auch der deutsche Begriff „Konversion“ nicht immer eindeutig von „Bekehrung“ abzugrenzen, zumal sich die beiden Be- griff e während ihrer Entwicklungsgeschichte wiederholt überschnitten und auch der Bekehrungs-

4 Vgl. den Artikel „Convertiten“ in: Allgemeine Encyclopädie der Wissenschaften und Künste in alphabetischer Folge, hg. von J.S. Ersch / J.G. Gruber, 19. Bd., Leipzig 1829, S. 226 f. – Zur Entwicklung des Konversionsbegriff s und der Konversionsforschung vgl. auch: Gesine Carl: Zwischen zwei Welten? Übertritte von Juden zum Christentum im Spie- gel von Konversionserzählungen des 17. und 18. Jahrhunderts, Hannover 2007, S. 41 – 77 und Ines Peper: Konversio- nen im Umkreis des Wiener Hofes um 1700, Wien u. a. 2010, S. 26 – 28, 234 f. 5 Angelika Schaser: „Zurück zur heiligen Kirche“. Konversionen zum Katholizismus im säkularisierten Zeitalter, in: His- torische Anthropologie 15, 2007, Heft 1, S. 1 – 23, S. 2 – 7. 6 Peter L. Berger / Th omas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissensso- ziologie, a. M. 1994, S. 169. 7 Monika Wohlrab-Sahr / Volkhard Krech / Hubert Knoblauch: Religiöse Bekehrung in soziologischer Perspektive. Th e- men, Schwerpunkte und Fragestellungen der gegenwärtigen religionssoziologischen Konversionsforschung, in: Religiö- se Konversion. Systematische und fallorientierte Studien in soziologischer Perspektive, hg. von dens., Konstanz 1998, S. 7 – 35, hier S. 8. 8 Vgl. Hubert Mohr: Konversion / Apostasie, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriff e, Bd. III, hg. von Hubert Cancik, Stuttgart u. a. 1993, S. 436 – 445, S. 437. – Dieter Breuer: Konversionen im konfessionellen Zeitalter, in: Konversionen im Mittelalter und in der Frühneuzeit, hg. von Friedrich Niewöhner / Fidel Rädle, Hildesheim u. a. 1999, S. 59 – 69, S. 60. – Ute Mennecke-Haustein: Konversionen, in: Die katholische Konfessionalisierung. Wissen- schaftliches Symposion der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformations- geschichte 1993, hg. von Wolfgang Reinhard / Heinz Schilling, Münster 1995, S. 242 – 257, S. 244. 9 Peper, Konversionen (wie Anm. 4), S. 26. Der bislang früheste Nachweis stammt aus einer 1672 in erschienenen kontroverstheologischen Schrift. 10 Peper, Konversionen (wie Anm. 4), S. 27. Katholik – Lutheraner – Katholik Rechtfertigungsstrategien und Selbstentwürfe in den Konversionserzählungen von Johannes Ferdinand Franz Weinberger (1687 / 1690)

Gesine Carl

„Eine Republik zu bauen aus den Materialien einer niedergerissenen Monarchie, ist frei- lich ein schweres Problem. Es geht nicht, ohne bis erst jeder Stein anders gehauen ist, und dazu gehört Zeit.“ (Georg Christoph Lichtenberg)1 „... dann man wirff t ehender ein Haus ein / als man selbiges erbauet ...“ (Johannes Ferdinand Franz Weinberger)2

Konversion als Abbruch und Wiederaufbau Als Lichtenberg diesen Aphorismus niederschrieb, dachte er dabei vermutlich nicht an religiö- se Konversionen – und noch unwahrscheinlicher ist es, dass er die Konversionserzählungen von Johannes Ferdinand Franz Weinberger kannte, der 1687 zunächst vom Katholizismus zum Luthertum übertrat und ein Jahr später wieder zum katholischen Glauben zurückkehrte. Den- noch soll das Lichtenberg-Zitat hier als Ausgangspunkt einer vergleichenden Analyse der beiden Konversionserzählungen Weinbergers von 1687 und 1690 dienen. Lichtenberg fragt in diesem Aphorismus nach der Möglichkeit eines grundlegenden und vollständigen Wandels und wirft damit eine Frage auf, die für die Auseinandersetzung mit reli- giösen Konversionen gleich auf zwei Ebenen relevant ist: Zum einen geht es um die Konversion selbst, d. h. um den Wandel der Konvertitin oder des Konvertiten, zum anderen um die (münd- liche oder schriftliche) Konversionserzählung, d. h. um die schlüssige und glaubwürdige Ver- mittlung dieses Wandels nach außen. Auf beiden Ebenen stellt sich dabei das Problem, dass die Substanz der eigenen Persönlichkeit und Biografi e durch alle Brüche, Wandlungen und Bear- beitungsversuche niemals vollständig neu (im Sinne von „anders“) erschaff en werden kann. Um mit Lichtenberg zu sprechen: Selbst wenn man die Zeit und die Mühe investiert, jeden Stein der „niedergerissenen Monarchie“ (d. h., des Lebens im früheren Glauben) anders zu hauen, so wird es doch niemals möglich sein, aus diesen Steinen eine völlig neue Staatsform zu erschaff en, da immer nur die Substanz bearbeitet werden kann, die bereits vorhanden ist. Verändert wer- den kann nur die Oberfl äche, die äußere Form, aber nicht die innere Zusammensetzung. Da- mit verweist Lichtenberg auf die Spannung und Zerrissenheit zwischen Wandel und Kontinui- tät, in der Konvertitinnen und Konvertiten leben und schreiben müssen.

1 Georg Christoph Lichtenberg: Aphorismen und andere Sudeleien, hrsg. von Ulrich Joost, Stuttgart 2003, S. 56. 2 Johannes Ferdinand Franz Weinberger: Vere Mortuus, Vere Resuscitatus, Oder / Principal-Ursachen / Warum Joannes Ferdinandus Franciscus Weinberger von Hemmersdorf / Unwürdigster Priester Gottes / Aus Sonderbaren Gnaden des Allerhöchsten schon vor zwey Jahren Anno 1688 / nachdem Er sich im Lutherischen Irrthum zwölf Monat aufgehal- ten / eilend zur heiliger wahrer uhr-alt-Evangelisch-Roman-Cathol-Apostolisch-allein-seeligmachender Kirchen wie- derum begeben; Auch Warum Er im Jahr Christi 1690 diese Re-Conversions-Predigt Off entlich in Beyseyn vieler tau- sent Seelen freywilligst und gantz ungezwungen in der Welt-berühmten Stadt Breßlau habe abgelegt, Breslau 1690, S. 45. 42 Gesine Carl

Die Annahme liegt nahe, dass die hier skizzierte Problematik in ganz besonderem Maße für eine Mehrfachkonversion (bzw. für ihre Vermittlung und Rechtfertigung nach außen) gilt: Der Wiederaufbau der Monarchie nach dem republikanischen Intermezzo dürfte sich noch weitaus zeitaufwendiger und schwieriger gestalten, denn bei jeder weiteren Umarbeitung lei- den die Steine und es erfordert immer größeres Geschick, sie wieder passgenau zu einem stabi- len Gebäude zusammenzufügen. Zudem ist man gezwungen, jeden „Stein“ aus der ersten Kon- versionserzählung wiederzuverwenden, da es sonst passieren kann, dass er in der Hand eines an- deren zum Wurfgeschoss wird, das den neuen Bau beschädigen oder gar völlig zerstören könn- te. Mit anderen Worten: Jedes nicht ausreichend widerlegte Argument aus der ersten Schrift ist ein potentieller Angriff spunkt. Die oben zitierte Äußerung Weinbergers, dass es leichter sei, ein Haus zu zerstören als aufzubauen, unterstützt diese Hypothese. Die Aussage fi ndet sich an einer Stelle in seiner Rekonversionserzählung, wo er „von wegen Kürtze der Zeit“ zur Widerlegung bestimmter früherer Ansichten auf eine weitere Schrift verweist.3 Für die größere Schwierigkeit, eine Mehrfachkonversion zu rechtfertigen, spricht auch die Tatsache, dass Weinbergers zweite Konversionserzählung mit 89 S. fast dreimal so lang ist wie die erste (32 S.). In der folgenden Untersuchung soll es nicht um die ‚Richtigkeit‘ der theologischen Ar- gumentation Weinbergers gehen, sondern lediglich um die Frage, ob die Widerlegung der Ar- gumente aus der ersten Konversionserzählung lückenlos und in sich schlüssig ist – mit ande- ren Worten: Gelingt es Weinberger, alle Bausteine der „niedergerissenen Republik“ wiederzu- verwerten und sie erneut zu einem stabilen „Monarchiegebäude“ zusammenzufügen? Und vor allem: Welche Strategien wendet er an, um dieses Ziel zu erreichen und seiner Leserschaft ein überzeugendes Bild von sich zu vermitteln? Welche Elemente seines Personkonzeptes ändern sich, welche bleiben? Oder gibt es vielleicht mehrere Selbstentwürfe, die unverbunden oder so- gar unvereinbar nebeneinander stehen? Wie bei jeder religiösen Konversion ist auch hier zu beachten, dass das Konversionsge- schehen selbst nicht unmittelbar zugänglich ist, sondern nur als mündliche oder schriftliche Konversionserzählung, die nicht einfach als Tatsachenbericht behandelt werden kann.4 Diese Konversionserzählungen besitzen stets einen „rekonstruktiven Charakter“ und sind damit auto- matisch durch die nachkonversionelle Sichtweise der eigenen Lebensgeschichte geprägt.5 Hin- zu kommt, dass es sich bei der Konversionserzählung um eine „kommunikative Gattung“ han- delt, die spezifi sche Erzähl- und Argumentationsmuster sowie eine typische Metaphorik auf- weist.6 Die Heranziehung zusätzlichen Quellenmaterials ist deshalb wünschenswert, gerade bei

3 Weinberger, Vere Mortuus, S. 45. 4 Monika Wohlrab-Sahr / Volkhard Krech / Hubert Knoblauch: Religiöse Bekehrung in soziologischer Perspektive. Th e- men, Schwerpunkte und Fragestellungen der gegenwärtigen religionssoziologischen Konversionsforschung, in: Hubert Knoblauch / Volkhard Krech / Monika Wohlrab-Sahr (Hg.): Religiöse Konversion. Systematische und fallorientierte Studien in soziologischer Perspektive, Konstanz 1998, S. 7 – 35, hier S. 17. 5 David A. Snow / Richard Machalek: Th e Sociology of Conversion, in: Annual Review of Sociology, 10, 1984, S. 167 – 190, hier S. 177. 6 Th omas Luckmann: Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens. Kommunikative Gattungen, in: Kultur und Gesellschaft. Sonderheft 27 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1986, S. 191 – 211, hier S. 205. Textauszüge aus

Johannes Ferdinand Franz Weinberger

Mortuus Resuscitatus, Oder Principal=Ursachen, Leipzig 1687 Verè Mortuus, Verè Resuscitatus, Rekonversionspredigt, Breslau 1690 Textauszüge aus Mortuus Resuscitatus (1687) und Verè Mortuus, Verè Resuscitatus (1690) 65

Textauszüge aus „Mortuus Resuscitatus“: Titel: Mortuus Resuscitatus, Oder Principal = Ursachen / Warum Joan. Baptista Ferdin. Franciscus Weinberger / Des Heil. Röm. Reichs Edler von Hemmersdorff / Oesterreichischen Provincial / aus dem strengen Carmeli= ter=Orden Th eologus in unterschiedlichen Orden Prediger / Secretarius, Feld=Prediger und Missionarius, & c. Aus Der Römisch=Catholischen zu der allein seelig=machenden Evangelischen Religion / welche er als ein anderer Saulus vorhero verfolgte / nunmehr getretten ist / und aus einem Verfolger / ein Nachfolger / durch öff entliche Revocation und Glaubens= Bekänntnüß in der Welt=berühmbten Stadt Leipzig worden ist. Daselbst gedruckt Anno M. DC. LXXXVII. Schreibsituation und Adressaten: [S. 3] PRÆFAMEN. WAche auff der du schläff est / und stehe auff von den Todten / so wird dich Christus erleuchten. PAulus der Apostel vermahnet in diesen Worten seine zu GOtt bekehrte Epheser / wie sie sich aus dem Schlaff der Sünden / in welchen sie lagen / ermuntern / und aus dem Tode der Sünden auff stehen solten: Das ist / daß sie alle vorige Laster iehenfl und verfl uchen; Hingegen in allen Christlichen / GOtt=wohl=gefälligen Tugenden wandeln solten: Dann / da sie todt waren durch Ubertrettung und Sünde / in welchen sie weyland gewandelt haben nach dem Lauff dieser Welt[1]/ in Unglauben / in Lüsten des Fleisches / in Vollziehung alles bösen Willens / hat sich der allmächtige GOtt ihrer erbarmet / sie aus Gnaden ohne Verdienst von dem Tode der Sünden durch den Glauben lebendig gemacht / und auff erwecket zu dem ewigen Leben. Darum sagt Paulus: Wache auff der du schläff est / und stehe auff von den Todten / so wird dich Christus erleuchten. [2] Diese Ermahnung des Apostels zu den Ephesern laß ich mir billicher Massen heutiges Tages gesagt seyn; sintemahlen ich nicht allein ein Kind des Zorns von Natur war / nicht allein schläff erte in dem Unglauben des Irrsal=vollen Papstthums / sondern auch in schweren Ubertrettungen / 66 Johannes Ferdinand Franz Weinberger

[S. 4] Revocations-Predigt. Sünden und Laster / so in dem Greuel des Römischen Sodoma geübet werden / weyland gantz todt war; Indem aber / demjenigen / der da lebendig machet die Todten / und ruff et dem das nicht ist / daß es sey / nehmlich GOTT[3] dem Allmächtigen aus seiner grundlosen Barmhertzigkeit gnädigst gefallen hat / aus Gnaden ohne meine Verdienst durch Erkantnuß und Annehmung des wahren allein seelig=machenden Glaubens von dem Geistlichen Todt mich ärmesten Sünder auff zuerwecken / und mich / so weyland fern gewesen / nun nahe zu seyn / seiner Heiligen Evangelischen Kirchen / durch das Blut Christi[4]. Ist eben diß die Ursach / warum ich heutiges Tags in diesem Gottes=Hause / auf dieser Cantzel gantz unwürdig mit genädiger Zulassung deren Obern erscheine: nehmlich einer auserwählten Gemeine und Christlicher Versamlung in meiner folgenden Predigt zu erweisen; was massen der barmhertzigste GOtt mich von diesem schweren Todt auff gewecket / erleuchtet und seiner Kirchen aus Gnade einverleibet hat / und GOtt hertzlich davor zu dancken. […] [S. 32] Wolann dann! auserwehlte Seelen / weil alles Volck wegen des von Todten aufgeweckten Nainitischen Jünglings Gott preisete / so preiset dann auch ihr heutiges Tages / allerliebste Zuhörer / mit mir meinen Gott / der grosse Dinge an mir gewircket hat / dann Er hat mich von dem ewigen Tod erlöset; ja lobet den HErrn alle Heyden / preiset ihn alle Völcker. [70] Aber / dich mein GOtt / werde ic h preisen ewiglich / denn du hast meine Seele vom Tode erwecket / meinen Fuß von gleiten / daß ich wandeln mag für GOtt im Licht der Lebendigen / hier zeitlich und dort ewiglich / Amen / Amen in JEsu Namen / Amen. Die in Klammern stehenden Zahlen beziehen sich auf die folgenden Anmerkungen des Autors: [1] Ephes. 2. 1. [2] Ephes. 5. v. 14. [3] Rom. 4, 17. [4] Ephes. 2, 13. [70 ] Psal. 119. v. 1. Psal. 56. v. 14 . Der Konversionsprozess: [S. 12] Revocations-Predigt. […] Ich war ein grosser Eyferer der Römischen Religion / also daß ich Anno 1682. als Missionarius Schlesien / Brandenburg / Mecklenburg / Dennemarck / Schweden / ein Th eil Ungarn / und Preussen durchreisete / worinnen ich viel aus dem rechten Lutherischen Glauben in die Finsternüß des leidigen Pabstthums gebracht hab / welche grosse Sünde ich schmertzlich vor allen andern betaure / GOtt sey mir gnädig. Jedoch hab ich auff diesen Reisen durch vornehme Discurs, so in beyseyn Fürstlicher / ja auch Königlicher Personen geschehen waren / ein grosses Liecht des Lutherischen Glaubens überkommen: sonderlich hat mich Herr Magister Benjamin Gerlach seel. Primarius Pastor der Evangelischen Kirchen zu Schweidnitz in der Schlesien / und der Welt=berühmte Doctor Augustus Varenius zu Rostock in Mecklenburg so weit gebracht / daß ich schon selbiges mahl gute Lust gehabt / mich zu bekehren / allein ich war damahls solcher grossen Gnade noch nicht würdig. […] „Drumb Gönner! gönne mir die Milde deiner Gab’n ...“ Die Konversionserzählung Andreas Wangautzkys (1689) als Instrument der Lebenshilfe

Gesine Carl

Einleitung

„Dieß ist der Warheit Lohn; Verfolgung / Haß und Neid / Begleit’t mit Spott und Hohn / und höchster Dürff tigkeit.“ Mit diesen Worten beginnt ein Gedicht, das am Anfang der Konversionserzählung von Andreas Wangautzky steht, die 1689 in Hamburg erschien. Wie aus dem Titel dieser Schrift zu entneh- men ist, war der Autor bereits vier Jahre zuvor, 1685, in Königsberg vom Katholizismus zum lutherischen Glauben übergetreten. Ein trauriges, bitteres, resignatives Fazit der ersten vier Lebensjahre nach dem Konfes- sionswechsel – und ein irritierendes noch dazu, denn es bringt in den „Gattungskanon“1 der Konversionserzählung einen schrillen Missklang hinein: Wie Bernd Ulmer ausführt, besteht die „grundlegende soziale Funktion“ von Konversionserzählungen darin, dass der Erzähler mit ihrer Hilfe „seinen religiösen Status als Konvertit legitimieren und sozial absichern“ könne.2 Um die- ses Ziel zu erreichen, ist es erforderlich, die Konversion als Anlass für eine „neue biographische Zeitrechnung“ sowie als „Richtschnur“ für das eigene Handeln in der nachkonversionellen Le- bensphase darzustellen.3 Indem die Konversion als entscheidende Zäsur gesetzt wird, erhält der biografi sche Rückblick eine „Vorher“-„Nachher“-Struktur, wobei das Leben vor dem Glaubens- wechsel als „falsch“ bezeichnet und vom „wahren“ Leben danach entsprechend scharf abge- grenzt wird.4 Peter L. Berger und Th omas Luckmann bemerken in diesem Zusammenhang, dass die „biographische Bruchstelle“ der Konversion „zur kognitiven Scheidung von Dunkel- heit und Licht“ werde.5

1 Th omas Luckmann: Kanon und Konversion, in: Aleida und Jan Assmann (Hg.): Kanon und Zensur. Beiträge zur Ar- chäologie der literarischen Kommunikation II, München 1987, S. 38–46, hier S. 44. Luckmann erläutert in diesem Beitrag, dass die Konversionserzählung als eine „rekonstruktive Gattung“ (ebd., S. 42) anzusehen ist. Die „rekonstruk- tiven Gattungen“ bilden dabei eine Teilgruppe der „kommunikativen Gattungen“, unter denen Luckmann einigerma- ßen feste kommunikative Formen der Vermittlung von wesentlichen Beständen handlungsorientierenden Wissens ver- steht, die von Kultur zu Kultur und von Epoche zu Epoche variieren können. Ihre gemeinsame Grundfunktion sieht er in der Lösung spezifi sch kommunikativer Probleme, die im allgemeinen Zusammenhang gesellschaftlichen Handelns auftreten. (Th omas Luckmann: Grundformen der gesellschaftlichen Vermittlung des Wissens: Kommunikative Gat- tungen, in: Kultur und Gesellschaft. Sonderheft 27 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 1986, S. 191–211, hier S. 196 u. S. 202 f.) 2 Bernd Ulmer: Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattung. Erzählerische Mittel und Strategien bei der Rekon- struktion eines Bekehrungserlebnisses, in: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 17, Heft 1, Februar 1988, S. 19–33, hier S. 32. 3 Ebd., S. 29 f. 4 Ebd., S. 26 und Luckmann, Kanon und Zensur (wie Anm. 1), S. 44. 5 Peter L. Berger / Th omas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissensso- ziologie, Frankfurt a. M. 1994 (Erstausgabe: Th e social construction of reality. A treatise in the sociology of knowled- ge, New York 1966), S. 171. 76 Gesine Carl

Zu diesen Gattungsnormen der Konversionserzählung will Wangautzkys Urteil über die Konsequenzen seines Konfessionswechsels nicht recht passen. Um seine Konversion doch noch als ein signifi kantes Plus auf seinem Lebenskonto erscheinen zu lassen (und damit wieder „gat- tungskonform“ zu werden), müsste er diese drastische Negativ-Bewertung, die am Textanfang zudem ja ganz besonders auff ällt, im Laufe des Textes noch sehr viel drastischer dekonstruieren bzw. widerlegen. Inwieweit Wangautzky diesem Anspruch gerecht werden kann (und will), soll im Rahmen der folgenden Auswertung seiner Konversionserzählung genauer untersucht wer- den. Dabei orientiert sich die Analyse an mehreren Leitfragen: In welcher Situation entstand diese Schrift, welche Motive verfolgte Wangautzky mit ihrer Veröff entlichung und wer waren seine intendierten Adressaten? Wie ist der Text strukturiert und gestaltet; mit welchen Argu- mentationsstrategien und welchen sprachlichen Mitteln versucht der Autor seine Konversion zu legitimieren und plausibel zu machen? Wie wird der Konversionsprozess mitsamt seiner Vor- und Nachgeschichte dargestellt und bewertet und welche Rückschlüsse lässt dies auf das Bild zu, das Wangautzky seiner Leserschaft von sich vermitteln möchte? In diesem Kontext ist auch zu fragen, inwieweit seine Konversionserzählung als ein Selbstzeugnis betrachtet werden kann.

Die Konversionserzählung: Entstehungssituation und Textgestaltung Als Andreas Wangautzky im Jahr 1789 in Hamburg seine Revocatio sincera publizierte, scheint er sich in einer materiellen Notlage befunden zu haben. Wie oben erwähnt, thematisiert er die- se Lebenssituation bereits in den Eingangsversen eines insgesamt 16-zeiligen Gedichts mit Paar- reimen, das auf der ersten Seite der Konversionserzählung abgedruckt ist.6 In diesen beiden Ver- sen betont er in aller Deutlichkeit die sozialen und materiellen Nachteile, die mit der – als Hin- wendung zur „Wahrheit“ dargestellten – Konversion verbunden waren bzw. zum Zeitpunkt der Entstehung des Textes noch immer verbunden sind. Unmittelbar danach (Vers 3 und 4) nimmt er jedoch bereits eine positive Umdeutung dieser betrüblichen Lebensumstände vor und er- klärt seine Bereitschaft, auf irdisches Glück zu verzichten: „Laß du Glückseeligkeit mir selbst dein’ Hülff absprechen!“ Dieser Gedanke wird in Vers 5 und 6 weiter ausgeführt: Wangautz- ky legt dar, dass er die Hilfe der „Glückseeligkeit“ gering achte, weil es ihm ausschließlich um himmlischen Gewinn zu tun sei: „Daß / außer Christum / nichts / begehre zum Gewinn.“ Diese Hoff nung auf eine himmlische „Belohnung“ für die auf Erden bewiesene Glaubenstreue klingt auch bereits in einem Zitat aus der Off enbarung an, das unten auf dem Titelblatt abgedruckt ist: „Sey getreu bis in den Todt / so will ich dir die Crone des Lebens geben.“7 Seine Gering- schätzung irdischer Gewinne wird damit begründet, dass diese kein beständiges Eigentum, son- dern nur eine Art zeitweilige ‚Leihgabe‘ seien: „... bloß nur entlehnt / gegeben.“ In Vers 9 leitet Wangautzky zu einer Bitte um materielle Unterstützung über, wobei er diese irdischen ‚Leihga- ben‘ als ein Mittel deklariert, um gottgefällig zu leben und ihnen dadurch doch einen gewissen Wert zuweist: Mit Hilfe dieser „entlehnten“ Güter könnten die Gläubigen ihr Christentum un-

6 Die 14-seitige Konversionserzählung Wangautzkys ist nicht paginiert; im Folgenden beziehen sich daher alle Seitenan- gaben auf die Zählung durch die Autorin. 7 Der Vers fi ndet sich in Off b. 2, 10 und lautet in der Lutherbibel von 1912 folgendermaßen: „Sei getrost bis an den Tod, so will ich dir die Krone des Lebens geben.“ (http://www.bibel-online.net; Zugriff 13.05.2009.) – Wangautzky selbst macht zur Herkunft des Zitats keine Angaben. Textauszüge aus

Andreas Wangautzky

Revocatio Sincera, Hamburg 1689 98 Andreas Wangautzky

Titel: Revocatio Sincera Ernstlicher Abfall von der angebohrnen Papisti= schen / und hingegen wohlbedächtlicher Zufall und hertzliche Bekehrung zu der wahren Evangelisch-Lutherischen Religion Andreæ Wangautzky Nobil: Samogetæ. Welche Durch unwiedersprechlichen Antrieb des Heiligen Geistes / und öff tere Besuchungen der Evangelischen Versamblungen in der weitberühmten Churfürstl. Haupt= an See= und Handel-Stadt Königsberg / Anno 1685. geschehen / und zu mehrer Bezeugung Ewiger Beständigkeit hiermit öff entlich / vermittelst refutirten Brieff es bekennet wird.

Sey getreu biß in den Todt / so will ich dir die Crone des Lebens geben.

Hamburg/ Gedruckt im Jahr Christi 1689. Gedicht: [S. 1; Seitenzählung durch G. C.] Dieß ist der Wahrheit Lohn; Verfolgung / Haß und Neid / Begleit’t mit Spott und Hohn / und höchster Dürff tigkeit. Doch laß Verfolgung kom’n / Laß Haß und Neider stechen / Laß du Glückseeligkeit mir selbst dein Hülff absprechen! Dein Helff en acht’ ich schlecht / steh’ fest auf meinen Sinn / Daß / außer Christum / nichts / begehre zum Gewinn. Denn Reichthumb und Gewinn ist uns in diesem Leben Nicht gantz zum Eigenthumb / bloß nur entlehnt / gegeben / Womit der Christen-Hauff sein Christenthumb erweiß’t/. Und die bedrängte Schaar auß milder Liebe speiß’t; Zu welcher Dürff t’gen Zahl / mich leyder! auch bekenne / Umb Rettung / Hülff und Trost / Dich einen Helff er nenne. Drumb Gönner! gönne mir die Milde deiner Gab’n / Damit in meiner Noth ich möge Labsal hab’n. GOtt gönne /Gönner / dir / für deine Mildigkeit Hier/ Fülle / Freude / Trost / dort Ew‘ge Ewigkeit. Textauszüge aus Revocatio Sincera (1689) 99

Hiermit fl ehet Jeden (Tit:) respect: HochgeEhrten Patronen und Gutthäter an der zu allen Diensten Ewig=verbundener AUTOR. Der Konversionsprozess: [S. 2] Jova! Juva! DAß der Allwaltende grosse Gott / Schöpff er und Regierer Himmels und der Erden / nach seiner unerforschlichen Gerecht= und Heiligkeit theils Menschen / mit allerhand Creutz / Straff en und Plagen züchtiget und beleget / hingegen aber theils / mit fast übernatürlicher Weißheit / Kunst / Schöne / Reichthumb / Verstand und Geschicklichkeit über alle massen außzieret und begabet / ist unläugbar: Beyderley zu remonstriren / würde dem Hochgeneigten Leser / wegen unvermeidlicher Weitläuff tigkeit / vielleicht einen Verdruß / meiner Wenigkeit aber destoweniger Nachsinnes verursachen / angemercket solches / mit der gantzen Welt Zeugnüssen Handgreiffl ich kan dargethan werden / auch dessen / der klare Augenschein am hellen Tage lieget. Dem ungeachtet / muß dennoch zu Erlangung meines Zwecks dieses erinnern / wie daß off termahlen gantz ungesunde / gebrochene und schadhaff te / ja staar=stockblinde Kinder und erwachsene Persohnen / von hocherfahrnen Medicis, durch verliehene subtile Wissenschaff ten / beywesend vieler Menschen / zur völligen Restitution wiederbracht worden / womit verhoff entlich obiges klärlich probire. Und indeme ich meine Th esin zu behaupten / und mit mehrern Beweißthümern zu illustriren nachdencke / so sehe ich meine eigene Persohn an / und muß in Warheit gestehen / daß / ob ich zwar / den Jahren nach / allbereit mein Männlich Alter erreichet / dennoch aber / mein Leben considerirend / nichts anders von mir rühmen noch sagen können / als daß ich auch ein recht ungesundes mit allerhand Päbstischen Kranckheiten / Staaren und überzogenen Finsternüssen blindes Kind gewesen / welche nicht nur meine Augen / sondern auch das Hertz / Vernunff t und Verstand dermaßen verdunckelt und infi ciret / daß / absonderlich gedachte grosse Blindheit beständig zu curiren / und solche Gewissen=und Seelen=Beschwerniß von meinem Hertzen zu nehmen / nicht wenig Mühe gekostet; Denn / ein Stockblindes ungesundes Kind bin ich gewesen im Glauben / blind in dem Erkäntnüß Christi / blind in der Liebe / blind in der Hoff nung / Ein blindes Kind in allen andern zur Seel=und Seeligkeit hochnothwendig=erforderten Tugenden und Wissenschaften. Als ich aber durch des H. Geistes Antrieb (absit tamen arro= [S. 3] gantia) vermittelst inbrünstig=hertzlichen Gebeht / begunte die Evangelische Versamblungen / zwar wieder mein damahles Gewissen / unvermerckter weise / zu besuchen / auch nachgehends mit Vornehmen und Weltberühmten Th eologen der bekandten Universität Königsberg zu conversiren / und gleichsam als ein blinder betrübter Patient tröstliche Medicamenta von ihnen zu begehren; Siehe / da fandt ich meines Hertzens labende Vergnügung / Sie thaten mir das Zeithero verhartete Fell von meinen Augen / da ward ich öff entlich gewahr / daß ich nun nicht mehr ein blindes Kind / sondern ein rechtsehender Mann war / welcher die grosse Gnade und Barmhertzigkeit Gottes / sowohl wegen zeitherig=ingehabter Finsternüß des Glaubens / verliehene Gedult / als auch darauff erfolgte Hülff e öff entlich Mit dem Wanderstab durch die Wüste Die Konversionserzählung Johannes Ignatius Wittibars (1701)

Gesine Carl

Einleitung Wer sich auf Wanderschaft begibt – sei es im wörtlichen oder im übertragenen Sinne –, gerät dabei nicht selten in unwegsames Gelände und dürfte daher dankbar für einen stabilen und ver- lässlichen Wanderstab sein. Auch der Prozess einer religiösen Konversion lässt sich mit einer oft langen, mühsamen Wanderung vergleichen, und so verwundert es nicht, dass der Titel des im Jahr 1701 erschienenen Konversionsberichtes von Johannes Ignatius Wittibar mit den Worten Geistlicher Wanderstab beginnt. Beim Weiterlesen stellt sich jedoch rasch eine gewisse Irritati- on ein bzw. man verirrt sich, um im Bild zu bleiben, in einem Labyrinth unklarer grammatika- lischer Bezüge, denn der erste Satz des umfangreichen Titels lautet insgesamt folgendermaßen: „Geistlicher Wander-Staab / Welcher mich von vielen gefährlichen Wegen / sonderlich von dem breiten Papistischen Irr-Wege zu den zwar sehr kleinen Wege / welcher durch Dis- tel und Dorn / das ist: durch Trübsahl / Creutz / Armuth / und Noth / zur Seligkeit führet / die wahre Luther- und Evangelische Lehre so weit begleitet / und dem geneigten Leser in Christo durch dieses kleines / von mir erdichtes andächtig / und geistliches Liedlein mei- nen Stand an Tag zu geben / und in aller Demuth vorgestellet.“1 Aufgrund des verwirrenden Satzbaues wird nicht hinreichend deutlich, was Wittibar unter sei- nem „geistlichen Wanderstab“ versteht – meint er die „wahre Luther- und Evangelische Leh- re“? Oder vielleicht den im Titel nicht explizit genannten göttlichen Beistand bzw. sein eige- nes Vertrauen darauf? Die Konversionserzählung selbst kann nicht gemeint sein, sondern ledig- lich wiederum einen „geistlichen Wanderstab“ für ihre Leserschaft darstellen, da Wittibar an- gibt, dass ihn dieser Wanderstab bereits während seines Konversionsprozesses begleitet, ja, die- sen erst ermöglicht hat. Begibt man sich auf die Spurensuche nach Selbstentwürfen frühneuzeitlicher Konverti- ten, wie es im Rahmen der vorliegenden Untersuchung geschehen soll, so gewinnt man bei der Lektüre dieser Quelle zunächst den ernüchternden Eindruck, sich ebenfalls inmitten von lauter „Distel und Dorn“ zu befi nden und wünscht sich nicht nur einen Wanderstab, sondern auch ein paar Wegweiser für die Auswertung des Textes. Wittibar bietet theologische Ausführungen und wortgewaltige Metaphorik, doch eine Schilderung seiner ‚Reiseroute‘ vom katholischen Glauben zum Luthertum sucht man vergeblich – selbst das Datum und der Ort seines Konfes- sionswechsels bleiben ungenannt. Die Selbstentwürfe Wittibars sind also nur indirekt erschließbar, wobei sich die Analyse an folgenden Fragen orientieren wird: In welcher Situation ist die Quelle entstanden und wer waren Wittibars intendierte Adressaten? Gibt es eventuell doch Textstellen, die Rückschlüsse auf seinen persönlichen Weg zum Konfessionswechsel und dessen retrospektive Bewertung zu-

1 Der Rest des Titels lautet: Sammt einer kleinen beygefügten Passions-Rede von dem schmertzhaff ten / und an dem Trost-losen Oelberg in dem traurigen Blut- Bad Schwimmenden JESU. Durch Johannem Ignatium Wittibar, Conver- so Franciscano minorum Conventualium. Gedruckt / im Jahr Christi / 1701. 106 Gesine Carl lassen? Was sagt die inhaltliche und sprachliche Gestaltung der Konversionserzählung über die theologische Positionierung des Autors aus? Und sollte seine Schrift möglicherweise auch der Selbstverortung in einem anderen, lebenspraktischen Sinne dienen, indem sie ihm den Zugang zu berufl ichen und / oder privaten Beziehungsnetzen in seinem neuen lutherischen Umfeld er- öff nete? Vielleicht verhilft die Auseinandersetzung mit diesen Fragen auch zu einem etwas kla- reren Bild jenes „geistlichen Wanderstabs“, der im grammatikalischen Dickicht des Titels bis- her nur in Umrissen sichtbar ist.

Schreibsituation und Textgestaltung Die Konversionserzählung Wittibars ist mit 12 Druckseiten relativ kurz. Der Erscheinungsort wird nicht genannt; es spricht jedoch einiges dafür, dass die Schrift in Hamburg publiziert wur- de, da sie den Geistlichen der dortigen „Th umb-Kirchen“ gewidmet ist, die ihn off enbar unter- stützt und möglicherweise auch seinen Konversionsprozess begleitet hatten: „Denen Hoch-Würdigen / Hoch-Edlen / Vest- und Hochgelahrten Herren / HERREN Decano, Seniori, und Capitularen, Der Th umb-Kirchen zu Hamburg. Meinen allerseits Hochgeehrtesten Herren Grossen Patronis und mächtigen Beförderer.“2 Bei der „Th umb-Kirche“ handelte es sich um den Hamburger Mariendom, der im Jahr 1805 abgerissen wurde. Er war ursprünglich der Bischofssitz des Erzbistums Hamburg, der jedoch be- reits im 9. Jh. nach Bremen verlegt wurde, woraufhin in Hamburg lediglich ein Domkapitel ver- blieb. Nach der Durchführung der Reformation 1529 durch Johannes Bugenhagen bildete das Areal des Doms eine Enklave in der Stadt.3 Die von Wittibar erwähnten „Capitularen“ waren die Herren des Domkapitels, das nicht dem Rat der Stadt unterstellt, sondern – wie der übrige Klerus – der weltlichen Gerichtsbarkeit entzogen war. Die Geistlichen eines Domkapitels wirk- ten an der Verwaltung der Diözese mit und besaßen ein Wahlrecht bei der Wahl des Bischofs. In Hamburg nahmen die Domherren nach der Verlegung des Bischofssitzes vor allem Verwal- tungsaufgaben wahr.4 Auch die am Mariendom tätigen Kirchenmusiker wurden häufi g mit der Domherrenwürde ausgestattet; Wittibar könnte z. B. den Komponisten Friedrich Nicolaus Bruhns gekannt haben, der dort ab 1687 „Canonicus minor“ und Kantor war.5 Über die Entstehungssituation seiner Konversionserzählung macht Wittibar keine ex- pliziten Angaben, doch es gibt einige Hinweise darauf, dass seine damaligen Lebensumstände schwierig gewesen sein dürften: So macht er in der folgenden Textstelle deutlich, dass er zum Zeitpunkt der Abfassung seiner Schrift keinen innerweltlichen Halt mehr besaß, da die frühe- ren sozialen Beziehungen durch seinen Konfessionswechsel off enbar zerstört worden waren: „Stercke mich an meinem Glauben / in dieser bösen Zeit/ Daß ich dir thue vertrauen / in Creutz und Traurigkeit /

2 Wittibar, Wander-Staab, S. 1. (Der Text ist unpaginiert; die Seitenzählung wurde durch die Autorin hinzugefügt.) 3 Vgl. Hamburg Lexikon, hrsg. von Franklin Kopitzsch und Daniel Tilgner, Hamburg, 3. Aufl . 2005, S. 130 f. und den Artikel „Mariendom (Hamburg)“, http://de.wikipedia.org / wiki / Mariendom_(Hamburg) (Zugriff am 07.08.2009). 4 Vgl. Hamburg Lexikon (wie Anm. 3), S. 131 f. 5 Vgl. Art. „Mariendom“ (Hamburg), http: //de.wikipedia.org / wiki / Mariendom_(Hamburg) und Art. „Friedrich Nicolaus Bruhns“, http://de.wikipedia.org / wiki / Friedrich_Nicolaus_Bruhns (Zugriff am 07.08.2009). Textauszüge aus

Johannes Ignatius Wittibar

Geistlicher=Wanderstaab, 1701 130 Johannes Ignatius Wittibar

Titel: Geistlicher Wander=Staab / Welcher mich von vielen gefährlichen Wegen / sonderlich von dem breiten Papistischen Irr=Wege zu den zwar sehr kleinen Wege / welcher durch Distel und Dorn / das ist: durch Trübsahl / Creutz / Armuth / und Noth / zur Seligkeit führet / die wahre Luther= und Evangelische Lehr so weit begleitet / und dem geneigten Leser in Christo durch dieses kleines / von mir erdichtes andächtig / und geistliches Liedlein meinen Stand an Tag zu geben / und in aller Demuth vorgestellet.

Sammt einer kleinen beygefügten Passions=Rede von dem schmertzhaff ten / und an dem Trost=losen Oelberg in dem traurigen Blut=Bad Schwimmenden JESU. Durch Johannem Ignatium Wittibar, Converso Franciscano minorum Conventualium.

Gedruckt / im Jahr Christi / 1701. Widmung: [S. 1] Denen Hoch=Würdigen / Hoch=Edlen / Best= und Hochgelahrten Herren / HERREN DECANO, SENIORI, und CAPITULAREN, Der Th umb=Kirchen zu Hamburg. Meinen allerseits Hochgeehrtesten Herren Grossen Patronis und mächtigen Beförderer. Das „geistliche Liedlein“ als bildhafte Schilderung des Konversionsprozesses und Gegenüberstellung der beiden Konfessionen: [S. 2] Im Th on: Von GOtt will ich nicht lassen / [ect.] 1. Ach GOtt lehre mich betrachten / was du an mir gethan / Und nicht geringe Achten / auch stets geden= cken dran / Wie du mich hast geführet auf deiner Warheit=Stege / Und mir gezeiget deine Wege / da ich gieng gantz verirret. Textauszüge aus Geistlicher=Wanderstaab (1701) 131

2. Ich war ja gantz verblendet / in Menschen Tandt und Wahn / Und gieng gantz abgewendet / von rechter Himmels= Bahn / Die du n[u]ns hast geweist in heiliger Schriff t gar eben / Nach deinem Wort zu leben / dafür sey hoch gepreist.

3. Des Heiligen Geistes Strahlen / mich jetzt erleu= tet han / Und thun mir klar abmahlen / was ich vorhin gethan / Da ich in Irre gieng / Abgötterey ergeben / Mit meinem gantzen Leben / an Menschen Tande hieng.

[S. 3] 4. Wallfahrten thät ich gehen / an manchen wei= ten Orth / Und dachte GOtt wird mein Flehen / besser erhören dort / und bildt mir gäntzlich ein / daß solches Wallfahrten gehen / Viel Knien und Stehen / muß GOtt’ gefällig seyn.

5. Die Heiligen thät ich anbeten / erwehlte mir Ein Patron / Der solte mich vertretten / bei GOTT ins Himmels= Th ron / Maria die Jungfrau rein / solte bey ihren Sohn / In seinen höchsten Th ron / mein beste Fürsprecherin seyn.

6. Was der Pabst thät befehlen / dem kam ich fl eis= sig nach / Th ät mich mit Fasten quälen / wohl öff ters manchen Tag / Und wolte selig seyn / durch gute Werck und Th aten / Es könnt mir nicht gerathen / sie waren viel zu klein.

7. Des Fegfeuers Schmertzen / bedachte ich mir manchmal / Und fürchtet mich von Hertzen / vor dieser grossen Quaal / Wann ich von dieser Welt / solt in die Pein eingehen / Dacht wie wirst du es ausstehen / off t mich im Hertzen quält.

[S. 4] 8. Ich dachte wie wirst du müssen / in dieser gros= sen Pein / „… von Gott wunderbahrer Weiß beruff en worden“ Die Konversionserzählung Joseph Jörgers (1710)

Gesine Carl

Herkunft Joseph Jörgers Zu seiner Herkunft bemerkt Joseph Jörger zu Beginn der Vorrede seiner Konversionserzäh- lung, dass er „zwar von uncatholischen / jedoch uhralten Hoch-Adelichen und tugendlichen El- tern gebohren“ sei (1).1 Sein Geburtsdatum nennt er nicht; aus einigen Angaben im Text lässt sich jedoch erschließen, dass er um 1648 geboren sein muss. Genauere Informationen liefert der Taufeintrag, der in Nürnberg im Landeskirchlichen Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern zu fi nden ist: Demnach wurde Jörger, der ursprünglich Augustus Septimius hieß, am 30. Dezember 1647 in Nürnberg getauft; seine Eltern waren der aus der oberöster- reichischen Adelsfamilie Jörger von Tollet stammende Johann Septimius Jörger und Anna Po- tentiana.2 Einer seiner Taufpaten war Christian August, Herzog und Pfalzgraf zu Rhein und re- gierender Fürst zu Sulzbach, der ebenfalls vom lutherischen Glauben zum Katholizismus über- getreten war (1 f.).3 Ihm verdankte Jörger wohl auch seinen Taufnamen August, den er an spä- terer Stelle in der Vorrede ein einziges Mal erwähnt (23). Durch diesen Paten war Jörger also von Kindheit an mit der Koexistenz mehrerer Konfessionen und der Möglichkeit eines Glau- benswechsels vertraut – und auch in seiner eigenen Familie waren Konversionen nichts Unge- wöhnliches: Ein Bruder trat bereits vor ihm zum Katholizismus über, und in früheren Genera- tionen hatte es Konfessionswechsel in beiden Richtungen gegeben. Das seit dem 13. Jahrhun- dert in Oberösterreich nachweisbare Adelsgeschlecht der Jörgers, die im 16. und 17. Jahrhun- dert zu den angesehensten Familien Österreichs zählten, kam schon sehr früh mit dem Protes- tantismus in Verbindung und trug nicht unwesentlich zur raschen Verbreitung der neuen Leh- re im Lande bei. Der Sieg der Gegenreformation brachte das Geschlecht nach 1620 vorüberge- hend in eine ungünstige Lage, aus der es erst durch den sehr fähigen Konvertiten Johann Quin- tin (verstorben 1705) befreit wurde, der als Reichshofrat, Finanzfachmann und Statthalter der niederösterreichischen Lande wirkte.4

Der Konversionsprozess Jörgers eigener Darstellung zufolge reichen die Wurzeln seines Konfessionswechsels bis in sei- ne Schulzeit zurück: Nach dem Tod seiner Mutter wurde er zum Rektor des lutherischen Ägi- diengymnasiums „in die Kost gegeben“, wo er sechs Schuljahre absolvierte und anschließend

1 Seitenangaben in Klammern beziehen sich immer auf die Konversionserzählung Jörgers; alle anderen Literaturangaben fi nden sich in den Fußnoten. 2 Landeskirchliches Archiv (LKA)Nürnberg, Pfarramt (PfA) Nürnberg-St. Sebald. Taufen 1647, S. 735. 3 Die Patenschaft Christian Augusts wird auch durch den bereits zitierten Taufbucheintrag bestätigt; die anderen Taufpa- ten waren Maria Johanna Landgräfi n zu Leuchtenberg, Christian Freiherr von Egg, Septimius Freiherr von Ragnitz und Salome Freiin von Windischgrätz (LKA Nürnberg, PfA Nürnberg-St. Sebald. Taufen 1647, S. 735). Nach Auskunft von Herrn Dr. Jürgen König, Archivrat im LKA Nürnberg (per e-mail am 03.08.2006), hatten die Täufl inge in Nürnberg damals in der Regel nur einen Paten, so dass Jörger mit seinen fünf Taufpaten einen absoluten Ausnahmefall darstellt. 4 Vgl. Neue Deutsche Biographie, Bd. 10, Berlin 1974, S. 463. 136 Gesine Carl noch zwei Jahre lang Hebräisch lernte sowie Vorlesungen in Ethik, Physik und Metaphysik hör- te (2). Schon als Schüler, so Jörger, seien erste Zweifel an seiner Herkunftsreligion in ihm auf- gekommen, als er dazu angehalten wurde, die lutherischen „Hauß-Postillen oder Predigten of- fentlich zu lesen“ und ihm aufgefallen sei, dass in fast jeder Predigt gegen die so genannten „Pa- pisten“ „auff das Grausamste geschmähet / und gelästert“ werde (3): „... ist mir gleich damahls / als einen minderjährigen Knaben dieser Zweiff el eingefallen: Wer weiß / ob alles wahr / was du lisest / ich möchte doch wohl gern mit einem Catho- lischen Geistlichen / oder auch Weltlichen reden / ein Th eil kan sagen / was er will / man muß auch den andern anhören.“ (3 f.) Sein Interesse am Katholizismus wurde demnach zunächst durch eine Art wissenschaftlichen Forschungsdrang geweckt – ein Motiv, das in seiner Konversionserzählung immer wieder auf- taucht. Dieser Wissbegierde wagte er jedoch erst „nach etlichen Jahren“ Folge zu leisten, als sein bereits konvertierter Bruder als „Kayserlicher Kriegs-Offi cier“ aus Österreich nach Nürnberg kam und ihn zu einem katholischen Gottesdienst mitnahm (4). Die Einfl ussnahme des Bruders kommt in den Worten „führte er mich“ zum Ausdruck, d. h. Jörger schreibt sich hier eine pas- sive Rolle zu (4). Gemeinsam gingen sie in „die Catholische Kirche deß Ritterlichen Teutschen Ordens“, die, wie Jörger erläutert, die einzige Nürnberger Kirche war, „in welcher das freye un- verhinderte Exercitium Religionis Catholicae [...] getrieben wurde“ (4).5 Diesen Gottesdienst- besuch stellt er rückblickend als einen entscheidenden Schritt auf seinem Weg zur Konversion dar, durch den sich sein anfänglich nur von Neugier geleiteter Wissensdrang in eine Affi nität zum katholischen Glauben zu verwandeln begann, denn er betont, dass er sich durch die Pre- digt und die Zeremonien sowohl intellektuell wie emotional stark angesprochen gefühlt und „ein mehrere Andacht“ empfunden habe als „zuvor in den Lutherischen Kirchen“ (6). Bald darauf wurde unter der Aufsicht seines Kostherrn die Bibliothek eines verstorbenen Geistlichen gekauft, was für Jörger ganz ungeahnte Folgen hatte: „Es führte mich ein gewisse Persohn in das Zimmer / mit Vermeldten / daß dise Bücher hin- und wider verstreuet werden / ich solte eines / so mir anständig seyn möchte / herauß nehmen / und sihe / ich bekame alsobald zuhanden deß geistlichen P. Drexelii, è Soc. Jesu, sogenannten Zodiacum Christianum, welcher in die teutsche Sprach versetzt gewesen; das ist: Christlicher Himmels-Zirckel / oder zwölf Zeichen / bey welchen ein jeder Christ er- kennen / und schliessen kan, ob er von Gott zum ewigen Leben fürsehen / und erwöhlet / oder nicht ...“ (7 f.) Auch hier weist sich Jörger wieder eine passive Rolle zu, indem er hervorhebt, dass er nicht etwa aus eigenem Antrieb in das Zimmer mit den Büchern ging, sondern von jemand anderem dort- hin geführt wurde. Das Buch, das er auswählte, lässt sich in eine bis in das erste Jahrhundert nach Christus zurückreichende Tradition christlicher und jüdischer Adaptationen des Tierkrei- ses einordnen. Während sich frühere Autoren um eine harmonisierende Angleichung der heid-

5 Zur konfessionellen Ausrichtung Nürnbergs vgl. J. Kist: Nürnberg, in: Lexikon für Th eologie und Kirche, Bd. 7, Frei- burg 1962, Sp. 1074: „Die fränkische Reichsstadt blieb ein Bollwerk des Luthertums. Nur der Deutschorden konnte sich nach langen Verhandlungen mit dem Rat 1649 das „freie ungehinderte Exercitium Religionis Catholicae“ in sei- ner Kapelle zu St. Elisabeth sichern.“ Textauszüge aus

Joseph Jörger

Motiva, oder Haubt=Ursachen, Wien 1710 Textauszüge aus Motiva, oder Haubt=Ursachen (1710) 149

Titel: Motiva, oder Haubt=Ursachen / Welche mich bewogen / Die Lutherische Sect in meinen vorigen jungen Jahren zu verlassen / und den allein seeligmachenden Catholi= schen Glauben anzunehmen; Zu welchen von Gott wunder bahrer Weiß beruff en worden/ und mit Hindannsetzung aller weltlichen Ehr und Hochheit / den geistlichen Ordens=Stand erwöhlet habe. Auff viler Verlangen an Tag gegeben Von Josepho Jörger / Deß heiligen Cistercienser=Ordens in dem Fürstlichen Stiff t und Closter Lilienfeld Capitularen / und der Zeit Administratoren zu Bergau.

Gedruckt zu Wienn/ Bey Johann Jacob Kürner eine Löbl. Ni. Oe. Landschaff t Buchdrucker / im Jahr 1710 Widmung (ohne Seitenzählung): Dem Hochwürdigsten / Durchleuchtigsten Fürsten Und Herrn / Herrn Christiano Augusto,

Der Heil. Röm. Kirchen Priestern / Cardinalen / Ertz=Bischoff en zu Gran / deß heiligen Apostolischen Stuhls Legato Nato, deß Königreichs Hungarn Primati, Groß=Cantzler und Secretario, wie auch deß Comitats zu Gran Ober=Gespann / Administratori deß Bischoff thumbs Raab / Hertzogen zu Sachsen / Jülich / Cleve / und Bergen / auch Engern und Westphalen / Land- Graff en in Th üringen / Marggraff en zu Meißen / auch Ober= und Nider=Laußnitz / Gefürsteten Graff en zu Hennenberg; Deß hohen Ertz= und Chur=Fürstlichen Dom=Stiff ts zu Cöllen Dom=Probsten und Th esaurario; Graff en zu der Marck / und 150 Joseph Jörger

Ravensperg / Herrn zu Ravenstein / der Balley Th üringen Stadthaltern: Der Röm. Kayserl. Majestät würcklichen geheimen Rath / [etc. etc.] Meinem gnädigsten Fürsten / und Herrn Herrn Hochwürdigster Durch= leuchtigster gnädigster Fürst / und Herr Herr / [etc. etc.] Als ich vor 40. Jahren / nachdem ich ein kurtze Zeit zuvor in Franckreich durch die Gnad Gottes von den Lutherischen Irrthum zu den wahren Catholischen Glauben bekehrt worden / in der Sächsischen Haubt- und Residentz=Stadt Dreßden / der damahligen Durchleuchtigsten Chur-Fürstin Cammer=Freylen Judith Dorothea anjetzt aber verwittibte Frau von Körbitz / eine gebohrne Gräffi n Jörgerin von Tollet / so meine leibliche Schwester / heimbsuchte / und das Glück hatte / Ihro anjetzt Königlichen Majestät in Pohlen / König August, als zur selben Zeit Chur-Printzen /die auff den Saal getragen wurde / allerunterthänigste Reverenz zu machen / von Dero Anherrn aber Georgio Anderten Chur=Fürsten in Sachsen / Glorwürdigsten Andenckens mit einem gnädigsten Schreiben / eben zu der Zeit / da ich schon als ein Geistlicher in den Heil. Cistercienser=Orden getretten / höchstens beglückseeliget worden / auch vor einen Jahr die hohe Gnad gehabt bey Euer Durchleuchtigsten Eminenz gnädigste Audienz zu / solcher Gestalt gegen disem Königlich=Chur= und Fürstlichen Hauß Sachsen / wegen der jenigen mir / und meinen Bluts=Freunden erwisenen hohen Gnaden mich auff das eusseriste verbunden zu seyn erkenne; als habe mich erkühnet / die jenige Motiva, welche mich gleich anfangs bewegt / auß einen neuen Irrigen / zu den uhralten wahren Glauben / mich zu bekehren / und in den wahren Schaaf=Stall der Catholischen Kirchen einführen lassen / Euer Durchleuchtigste Eminenz, als einen hohen Patron, Schutz= und Schirm=Herrn der Catholischen Kirchen allerdemüthigst zu dediciren / und zu zuschreiben; Ich muß zwar bekennen / daß meine Fundamenta, welche dazumahl gleichsam in einem Compendio schriff tlich verfasset / an das Tag=Liecht zu geben mir nicht getrauet / in Erwegung / dass dies geringe Wercklein / wegen deß Glantz viler andernfürtreffl ichen Controversien-Büchlein möchte vertumpert werden; weilen aber von unterschidlichen Persohnen /welche ich durch Göttlichen Beystand / als ein unwürdigstes Instrument zu den Catholischen Glauben bekehret / (worunter meine zwey leibliche Frauen Schwestern / deren eine / Nahmens Sophia, Anno 1697. am Fest St. Maria Magdalena im 62. Jahr ihres Alters / zu Pottenbrunn in der Pfarr=Kirchen / die jüngere aber / Nahmens Hedwig Louyse / vil Jahr zuvor / nemblich Anno 1674. den 13. September zu Maria Zell in Steyermarckt bey dem Gnaden=Altar unter meiner Heil. Meß Professionem Fidei Catholicæ abgelegt / so noch beede im Leben) ersucht worden / gedachte Motiva, so ich ihnen schriff tlich zu lesen mitgetheilet / in Druck zu geben; als habe mit Consens der hohen geistlichen Obrigkeit mich dahin persuadiren lassen / ihren Verlangen ein Genügen zu thun / in Hoff nung / es möchten hierdurch noch mehrere Seelen / welches mein eintziger Wunsch / und inständiges Gebett zu GOtt / gewunnen werden / und wider zu ihrer rechten Mutter/ der Römischen Kirchen / von welcher sie nach erlangten vollkommenen Verstand / durch „Glut im Herzen, Eis im Kopf“ Zur Konversion von Ida Gräfi n von Hahn-Hahn (1850)

Angelika Schaser

Zur Biografi e Ida von Hahn, geboren am 22. Juni 1805 in Tressow (Mecklenburg-Schwerin, gestorben 1880 in Mainz), gehörte qua Geburt dem „Mecklenburgischen Uradel“ an.1 Sie war die Tochter des Grafen Karl Friedrich von Hahn-Neuhaus (1782–1857), der als Stammvater der katholischen Linie des Hauses gilt2 und die Familie mit seiner Th eaterleidenschaft fi nanziell ruinierte.3 Ihre Mutter Sophie, geborene von Behr, ließ sich 1809 scheiden und zog ihre vier Kinder in einem bescheideneren Rahmen in Greifswald auf. Dem fi nanziellen Engpass sollte zumindest für die Tochter in soweit ein Ende gesetzt werden, als man Ida von Hahn am 3. Juli 1826, also mit 21 Jahren, einem reichen Vetter – Friedrich von Hahn (-Basedow) – zur Frau gab. Die Ehe ent- wickelte sich aufgrund der sehr unterschiedlichen Interessen des Paares zum Fiasko und wurde nach drei Jahren geschieden. Ida von Hahn-Hahn, wie sie nach der Heirat hieß, zog nach der Geburt ihrer während des Scheidungsprozesses geborenen behinderten Tochter und der Schei- dung am 5. Februar 1829 zu ihrer Mutter nach Greifswald, wo sie für einige Jahre ein zurückge- zogenes Leben führte. Finanziell war sie seit der Scheidung unabhängig. Nach sechs Jahren be- gann sie ein neues Leben als Reisende, währenddessen sie sich zu einer äußerst produktiven und viel gelesenen Schriftstellerin entwickeln sollte. Hahn-Hahn nutzte geschickt das Interesse der Öff entlichkeit an einer „Adeligen mit Vergangenheit“, führte ein bohèmehaftes Leben und er- hob Anspruch auf geniale Originalität. Schon bald mischten sich in Berichten über die Gräfi n Darstellungen ihres Lebens mit Szenen, Meinungen und Werturteilen aus ihren autobiografi sche Züge tragenden Romanen.4 Ihr Lebenswandel polarisierte ebenso wie ihr Werk, sie galt als „Emanzipierte“ und als „deut- sche George Sand“, deren literarischer Erfolg bewundert und gleichzeitig abgewertet wurde.5

1 Der Text beruht auf meiner ersten Skizze zu Hahn-Hahn in: Angelika Schaser: Einsam auf der Suche nach der Wahr- heit? Familie in (Auto-)Biographien von Konvertiten im langen 19. Jahrhundert, in: Christian von Zimmermann / Nina von Zimmermann (Hg.): Familiengeschichten. Biographie und familiärer Kontext seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. / New York 2008, S. 245 – 268, hier S. 249 – 254. 2 Genealogisches Taschenbuch der Gräfl ichen Häuser Teil A, Gotha 1942, S. 241. Konvertiten zum Katholizismus gab es in der Familie bereits im 17. Jahrhundert, vgl. G.C.F. Lisch (Hg.): Geschichte und Urkunden des Geschlechts Hahn: Dritter Band: Die Linie Basedow des XVI. Jahrhunderts und die ausgestorbenen jüngern Häuser dieser Linie festhal- tend, Schwerin 1855, S. 338 – 360. 3 Paul Weiglin: Ein Gelehrter, ein Narr und eine Dame von Welt, in: Deutsche Rundschau 76 (1950), S. 955 – 962, hier: S. 956 – 959. Vgl. auch: Ingo Bubert / Hanspeter Walter: Gutshöfe, Herrenhäuser und Schlösser im östlichen Holstein, 2. Aufl ., Schellhorn 2003, S. 201. 4 Diese Mischung fi ndet man in nahezu allen biografi schen Artikeln, vgl. z. B. Renate Möhrmann: Hahn-Hahn, Ida, in: Metzler-Autoren-Lexikon: deutschsprachige Dichter und Schriftsteller vom Mittelalter bis zur Gegenwart, hg. von Bernd Lutz, Stuttgart 1986, S. 235 – 236 und Bärbel Arenz: Ein Schatz von Erinnerungen. Ida Hahn-Hahn (1805– 1880). Deutsche Schriftstellerin, in: Dies. / Gisela Lipsky: Mit Kompass und Korsett. Reisende Entdeckerinnen, Cadolzburg 2009, S. 40 – 49. 5 Vgl. dazu Renate Möhrmann: Die andere Frau. Emanzipationsansätze deutscher Schriftstellerinnen im Vorfeld der Achtundvierziger Revolution, Stuttgart 1977, S. 85 – 117. 158 Angelika Schaser

Nach ihrer gescheiterten Ehe emanzipierte sich Hahn-Hahn schnell von der gesellschaftlichen Meinung.6 So wird in der Literatur viel über ihr Verhältnis zu Adolf von Bystram spekuliert, ei- nem Baron, den sie in Wiesbaden kennen lernte und der ihr ständiger Begleiter für viele Jah- re werden sollte, bevor er am 25. Mai 1849 starb. Aufsehen und literarischen Niederschlag fand auch ihre Bekanntschaft mit dem jüdischen Demokraten und Juristen Heinrich Simon, den sie in Greifswald 1836 kennen lernte und der wohl vergeblich um sie warb. Hahn-Hahn soll sein Heiratsangebot abgelehnt haben.7 Dieses Verhältnis bot Fanny Lewald Anlass,8 das Selbstbe- wusstsein, die Schriften und die Lebensweise Hahn-Hahns in ihrem 1847 anonym erschiene- nen Roman Diogena zu persifl ieren.9

Ida Gräfi n von Hahn-Hahn als Schriftstellerin Die „freie Aristokratin“, „Königin ihrer Zeit“,10 lebte ein für Frauen damals völlig ungewöhnli- ches, unkonventionelles, unabhängiges Leben. Ihr Erfolg als Schriftstellerin war enorm, für die damalige Zeit ohne Beispiel.11 Forschungen bestätigen dies immer wieder. Carol Diethe urteilt in ihrer Untersuchung aus dem Jahr 1998, Hahn-Hahn wäre zwischen 1838 und 1850 die be- kannteste unter den belletristischen Schriftstellerinnen gewesen.12 Hahn-Hahn veröff entlichte Gedichte, Novellen und Romane sowie Reiseberichte. Sie reiste, „um zu leben“, wie sie an ihre Mutter schrieb,13 und besuchte 1835 die Schweiz, 1836–1837 Österreich, 1838–1839 Italien, 1840–1841 Frankreich und Spanien, 1842 Dänemark und Schweden, 1843–1844 den Orient (Konstantinopel, Kleinasien, Syrien, Palästina, Ägypten). Nach weiteren Italienreisen und ei- nem Aufenthalt in England und Irland ließ sie sich schließlich 1848 in Dresden nieder.14 Hahn- Hahn schilderte und kritisierte in ihren Werken die Welt des Adels. Die Superiorität des Man- nes stellte sie radikal in Frage. Für Frauen wie für Männer galt ihr der Grad menschlicher Indivi- duation als Maßstab eines gelungenen Lebens.15 Frauen sprach sie eine größere Liebesfähigkeit

6 Ebd., S. 94. 7 [Elise] F[elicitas] von Hohenhausen: Gräfi n Hahn-Hahn und Heinrich Simon, in: E[mma] Vely (Hg.): Berühmte Lie- bespaare, Berlin 1919, S. 250 – 269. 8 Vgl. dazu Ulrike Helmer: Nachwort, in: Fanny Lewald: Diogena. Roman von Iduna Gräfi n H.H., Königstein / Taunus 1996, S. 147 – 162, hier S. 155 – 156. 9 Ulrike Helmer (Hg.): Fanny Lewald: Diogena. Roman von Iduna Gräfi n H.H., Königstein / Taunus 1996. 10 Zitate aus: Gerd Lüpke: Ida Gräfi n Hahn-Hahn. Das Lebensbild einer mecklenburgischen Biedermeier-Autorin, in: Carolinum: historisch-literarische Zeitschrift 40 (1974 / 75), S. 32 – 44, hier S. 32. 11 Besonders erfolgreich waren die Romane: Der Rechte, Berlin 1839, Neuaufl age 1845; Gräfi n Faustine, Berlin 1841 (1919 noch einmal aufgelegt); Sigismund Forster, Berlin 1843, Cecil, 2 Bde., Berlin 1844, Zwei Frauen, 2 Bde., Berlin 1845; Clelia Conti, Berlin 1846; Sibylle. Eine Selbstbiographie, 2 Bde., Berlin 1846 und Levin, 2 Bde., Berlin 1848. 12 Carol Diethe: Towards Emancipation. German Women Writers of the Nineteenth Century. New York / Oxford 1998, S. 108 – 119, hier S. 108. 13 Möhrmann: Hahn-Hahn (wie Anm. 4), S. 236. 14 Heinrich Keiter: Ida Gräfi n Hahn-Hahn. Ein Lebens- und Literaturbild, in: Katholische Studien, 6 (1879 / 80), H. XII, S. 651 – 733, hier S. 662 f. 15 Ute Daniel: Die „emanzipierte“ Frau als literarisches Konstrukt in Deutschland 1830 – 1848: Zur Vorgeschichte der deutschen Frauenbewegung, in: Rainer S. Elkar u. a. (Hg.): „Vom rechten Maß der Dinge“. Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Festschrift für Harald Witthöft zum 65. Geburtstag, 2. Teilbd., St. Katharinen 1996, S. 690 – 719, hier S. 708 – 713. Textauszüge aus

Ida Gräfin von Hahn-Hahn

Von Babylon nach Jerusalem, 2. Aufl . Mainz 1851 Textauszüge aus Von Babylon nach Jerusalem (1851) 173

Motto Soli Deo Gloria! Eröff nung der Konversionserzählung [S. 1 – 2] Ich glaube! – O, wenn es Worte gäbe, um die Empfi ndungen auszudrücken, mit denen ich sage: ich glaube! Es reichen sich darin ich weiß nicht was für ein unirdisches Glück, für ein unirdischer Schmerz die Hand: gefunden zu haben die ewige Wahrheit, aber – wie spät! erkannt zu haben die ewige Schönheit, aber – wie spät! Doch immer, doch durch das ganze Leben hindurch den Durst nach jener, die Sehnsucht nach dieser gehabt zu haben; aber ihren Quell zu fi nden – wie spät! Sich sagen zu müssen, daß vielleicht nur eine einzige stärkere Bewegung des Willens, ein einziger entschiedener Schritt des innersten Wesens zum Licht der Erkenntniß mich schon vor Jahren auf den Pfad hätten bringen können, auf dem ich jetzt gehe – o ja, das wär’ ein bitterer Schmerz, wenn er nicht überwältigt würde durch das unsterbliche Siegesgefühl, das den ganzen Menschen ergreift und sein irdisches Leben dermaßen mit dem ewigen zusammenschmilzt, daß er vergißt, nach Tagen und nach Jahren zu rechnen, weil Tage und Jahre einen andern Inhalt, einen andern Werth, eine andere Bedeutung bekommen – wenn er sagt: Ich glaube! [S. 3 – 4] Mein Herr und mein Gott! wie traurig ist es, bekennen zu müssen, daß ich so lange, so tief, so innig, so fest und warm Etwas geglaubt habe, was Du nicht warst und was ich doch mit unbefangener Verwegenheit Gott nannte. Und ich gab diesem Etwas Deine Attribute, stellte mich unter seine Hand, fühlte mich so sicher unter seiner Leitung, als ob es die der ewigen Wahrheit, der göttlichen Liebe sei! fühlte mich der Unsterblichkeit gewiß, der Vergebung der Sünden, des ewigen Lebens – weil ich es brauchte, weil ich mich darnach sehnte, weil ich nicht mit dem räthselvollen Dasein fertig werden konnte, ohne es in dieser Weise zu deuten – weil ich eben ein sehr lebhaftes religiöses Gefühl hatte, wie das sehr gut beim Götzendienst statt fi nden kann. Aber mein Antheil war Asche, denn dies Gefühl vermogte nicht, meine Seele zu retten, als der Augenblick kam, wo es hieß: Was willst du jetzt? gänzlichen Abfall oder gänzliche Unterwerfung? – Mit all meinem religiösen Gefühl stand ich am Abfall. O, das war eine fürchterliche Zeit, und ich kann gar nicht begreifen, daß ich erst kürzlich aus ihr heraus getreten bin. Verlusterfahrung [S. 9 – 11] Und in dieser Zeit, wo Alles wankte, Alles bedroht wurde, Alles fi el, wo Nichts Farbe und Stich hielt, wo der natürliche Mensch auf Nichts außerhalb der eigenen Brust sich verlassen durfte, als auf die Liebe der Geliebten, als auf ein treues Herz – da verlor ich ein solches Herz! Es sank in’s Grab! – – – Und so war ich denn allein in meiner Höle! [S. 10 – 11] Der Ausgang meiner Höle war auf der Spitze eines Berges, und auf dunkeln labyrinthischen Wegen gelangte ich dahin. Nun stand ich oben, in freier Luft, in kräftiger Atmosphäre, unter einem unermeßlichen, stralenden Sternenhimmel, der sich in einem ebenso unermeßlichen Meere rings um mich her abspiegelte. Da sprach neben mir eine Stimme: „Dies ist die Kirche Christi.“ Und ich fi el nieder und betete an. Und die Stimme deutete mir die stralenden Sternbilder; – da hörte ich Lehren, Mysterien, Worte, 174 Ida Gräfi n von Hahn-Hahn

wie mein Ohr sie zuvor nie vernommen, wie ich gar keine Ahnung hatte, daß etwas so himmlisch und heilig Liebevolles, so Erhabenes, so die Seele Verklärendes für mich, für uns, für Alle – gelehrt und gegeben werden könne. Sie sanken so tief, so überwältigend, so gewichtig in meine Seele hinein, daß sie ihnen für alle Ewigkeit Unterthan blieb. Und ich, gehorchend meiner Seele, blieb auf meinen Knien liegen und betete an. Und seitdem ist mir wol. Rückblick auf die protestantische Erziehung [S. 11 – 12] Aber ist nicht die christliche Religion eine geoff enbarte, und bin ich nicht in derselben geboren und aufgewachsen? Da hatte ich sie ja mein Leben lang! O, mit nichten! freilich bin ich in der lutherischen Confession getauft und confi rmirt; aber wie hätte ich dadurch eine geoff enbarte Religion haben sollen? ich hatte ja keine Kirche! – Die Protestanten lehren freilich die Existenz einer unsichtbaren Kirche; und das klingt ja ungemein erhaben. Nur ist es etwas schwer zu begreifen und begreifl ich zu machen, wie und wodurch man sich mit diesem unbestimmten Begriff in lebendigen Verkehr, in Wechselwirkung bringen könne. Ich wenigstens habe es nie begriff en. Es kommt mir vor, als sei meine Seele von je her eine schlafende Katholikin gewesen. […] Als meine Seele wach wurde, fand sie sich katholisch; denn Alles, was die Protestanten lehrten, hat sie nie begreifen, nie in sich aufnehmen, nie sich zur Nahrung machen können. Kein Echo tönte wieder, kein Ton schlug an, keine Saite vibrirte. Nicht den geringsten Anknüpfungspunkt fand ich für mein religiöses Gefühl, weder in meiner Jugend noch in späteren Jahren. Auseinandersetzung mit dem Protestantismus [S. 43 – 45] Luther war die Incarnation einer subjectiven Meinung, und da jeder sogenannte Religionsstifter die seine mit dem Gepräge seiner Eigenthümlichkeit stempelt – möge er Muhamed oder Luther heißen – so ist der ganze Protestantismus nichts Anderes als ein Agglomerat von tausend und aber tausend subjectiven Meinungen. Die Anhänger einer und derselben Secte mögen an ihrer Lehre einstimmig halten; z. B. die Herrnhuter und die Alt-Lutheraner thun es mit großer Entschiedenheit; aber diese zahllose Menge von Secten spricht eben für meine Behauptung, denn eine jede ist aus einer subjectiven Auff assung, Benutzung und Entstellung der christlichen Lehre entstanden. Unter der gemeinsamen Bezeichnung Protestantismus fasse ich jene Geistesrichtung zusammen, die in Luther ihren Vorfechter fand, unter seinem Panier gegen die Kirche protestirte und die heilige Schrift allein zum Quell der Glaubenslehre machten. Ich weiß wol, daß die Calviner sagen, sie hätten ganz andere Dogmen, als die Lutherischen; und die Evangelischen auch; desgleichen die Anglikaner, die Presbyterianer, die Wesleyaner, die Unitarier, die Mennoniten, die Herrnhuter, die Anabaptisten, die Irvingianer; und hundert Andere. Der Kirche und ihrem Dogma gegenüber ist es gleichgültig, wie die verschiedenen Secten sich nennen, worin sie von einander abweichen, ob ihre Endstation „poetisches Heidentum“ Georg Friedrich Daumer als Suchender (1858)

Angelika Schaser

„Die Einheit des Entgegengesetzten ist übrigens ein Grundzug meines Wesens, hat sich auch früher stets verrathen und war die Ursache, daß ich mich mit keiner der Tagesparteien auf die Länge vertrug und daß ich mich der Welt, die nur die Zerreißung kennt und versteht, niemals recht verständlich machen konnte.“1 Mit diesen Worten beschrieb Georg Daumer (1800–1875) acht Jahre nach seiner Konversion zum Katholizismus nicht nur seine Selbstwahrnehmung als Unverstandener, sondern stellte ei- nen Grundzug seines Wesens heraus, der ihn zeitlebens geprägt haben soll. Demnach blieb er ei- ner ganzheitlichen Sicht auf die Welt treu, während sich seine Mitmenschen zu Spezialisten und weltanschaulichen Konkurrenten entwickelten. Seine Einschätzung, er habe sich seiner Umge- bung nicht verständlich machen können, wird von der Forschung geteilt.2

Zur Biografi e Georg Friedrich Daumer war das dritte von sechs Kindern aus der Ehe des der Aufklärung nahe stehenden Nürnberger Rauchwaren-Händlers und Kürschners Peter Daumer mit der „religiös gesinnten“ Elisabetha Johanna, geb. Häberlein.3 Die Familie verarmte aufgrund der Erkran- kung des Vaters.4 Nach dem Besuch des Nürnberger Aegidianums, dessen Rektor zu dieser Zeit Georg Wilhelm Friedrich Hegel war, studierte Daumer Th eologie in Erlangen. Er brach das Studium ab, ging für ein Jahr nach Leipzig, dann nach München, wo er 1823 das philologische Staatsexamen ablegte.5 Danach unterrichtete er für einige Jahre am Aegidianum in Nürnberg, überwarf sich jedoch bald mit dem damaligen Rektor Karl Ludwig Roth und ließ sich aufgrund eines Augenleidens 1832 vorzeitig pensionieren, um fortan das Leben eines „ungebundenen Schriftstellers“6 zu führen. Er war aufgrund der kleinen Pension seitdem dauerhaft auf fi nanzi-

1 Georg Friedrich Daumer: Briefe an seine Nichte Helene Daumer. Abgedruckt in: Süddeutsche Monatshefte 11. Jg. 1913 – 1914, 2 Bde., hier Bd. 2: Briefe vom 10. Oktober 1866 bis Januar 1874, S. 138 – 147, Brief vom Februar 1868, S. 142. Eine neuere, umfangreichere Auswahl Daumers Briefe an seine Nichte Helene Daumer, verh. Lafi tte, fi ndet sich in: Georg Fried- rich Daumer. Briefe an seine Nichte Helene, Basel 2009. Dort sind die Briefe der heutigen Orthografi e angepasst worden. 2 Karlhans Kluncker: Georg Friedrich Daumer. Leben und Werk 1800 – 1875, Bonn 1984, S. 7. 3 Ebd., S. 11, siehe auch Zeittafel zu Leben und Werk S. 238 – 240, hier S. 238. 4 Nach Daumers Angaben von Januar 1852 ist der Vater geisteskrank geworden. Zitiert nach Olaf Briese: Konkurrenzen. Philosophische Kultur in Deutschland 1830 – 1850. Porträts und Profi le, Würzburg 1998, S. 119. 5 Kluncker: Daumer (wie Anm. 2), S. 15 – 19. 6 Ebd., S. 24. Zu Daumers biografi schen Daten vgl. auch den tabellarischen Lebenslauf in: Karlhans Kluncker (Hg.): Georg Friedrich Daumer: Pan und Madonna. Ausgewählte Schriften, Bonn 1988, S. 164 – 167 und Veit Valentin: „Daumer, Georg Friedrich“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 4 (1876), S. 771 – 775 [Onlinefassung]; URL: http: //www.deutsche-biographie.de / artikelADB_pnd118 678 957.html (Zugriff 07.11.2010); Adalbert Elschenbroich: „Daumer, Georg Friedrich“, in: Neue Deutsche Biographie 3 (1957), S. 527 f. [Onlinefassung]; URL: http://www. deutsche-biographie.de / artikelNDB_pnd118 678 957.html (Zugriff 07.11.2010); Reinhard Jakob: Daumer, Georg Friedrich, in: Stadtlexikon Nürnberg, hg. von Michael Diefenbacher und Rolf Endres, Nürnberg 1999, S. 191. 178 Angelika Schaser elle Unterstützung durch Gönner und Mäzenatinnen angewiesen.7 1834 heiratete Daumer Ma- rie Friederike Rose (1809–1875), die Tochter eines Nürnberger Optikers; das einzige Kind des Paares, die Tochter Ottilie, wurde 1844 geboren. International bekannt wurde Daumer als Erzieher von , den ihm der Nürnberger Rat 1828 zur Pfl ege übergeben hatte. Über die Beobachtung und Entwicklung des ihm anvertrauten Findelkindes schrieb Daumer drei Bücher.8 Daumer kritisierte bereits während seiner Tätigkeit als Lehrer das Christentum im Allgemei- nen und den Protestantismus im Besonderen, schrieb Gedichte, propagierte eine religiöse Revoluti- on und gründete mit seinem Schwager 1840 einen der ersten deutschen Tierschutzvereine, der vom damaligen bayerischen König Ludwig I. ausdrücklich begrüßt worden sein soll.9 Bald war er in die theologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit verwickelt und wurde von der in Nürnberg „seit 1830 erstarkenden protestantischen Erweckungsbewegung“ als „falscher Prophet“ bekämpft.10 Sei- ne antichristliche Polemik gipfelte in dem 1842 konzipierten Buch „Die Geheimnisse des christ- lichen Altertums“, in dem er den frühen Christen Kannibalismus nachzuweisen suchte und das Abendmahl als anthropophagischen Akt interpretierte.11 „Die Liebe zu aller Kreatur“12 wurde von Daumer zur Grundlage einer neuen Naturreligion erklärt, die er in Absetzung zum Christentum zu entwickeln suchte.13 Daumer vertrat eine teleologische Sichtweise auf die Menschheits- und Erden- entwicklung, nach der sich das Leben stufenweise in der Art einer Metamorphose vollziehen sollte. Am Ende dieser Entwicklung stand der Mensch als Wesen einer höheren Gattung. Bekannt wurde Daumer zunächst jedoch als Lyriker, insbesondere mit seinen Interpretatio- nen der Gedichte des Hafi s.14 Für Arnold Ruge hatte er sich damit als „persischer Heine“ qualifi -

7 So unterstützte ihn u. a. Th erese Hoff mann, Ehefrau des Arztes Dr. Heinrich Hoff mann („Struwwelpeter-Hoff mann“), geb. Donner, s. Kluncker: Daumer (wie Anm. 2), S. 28, 41, 43. 8 Georg Friedrich Daumer: Mittheilungen über Kaspar Hauser I und II, Nürnberg: Haubensticker 1832; ders.: Enthüllun- gen über Kaspar Hauser: mit Hinzufügung neuer Belege und Dokumente und Mittheilung noch ganz unbekannter Th at- sachen, namentlich zu dem Zwecke, die Heimat und Herkunft des Findlings zu bestimmen und die vom Grafen Stan- hope gespielte Rolle zu beleuchten; eine wider Eschricht und Stanhope gerichtete historische, psychologische und physio- logische Beweisführung, Frankfurt am Main: Meidinger 1859; ders.: Kaspar Hauser. Sein Wesen, seine Unschuld, seine Erduldungen und sein Ursprung in neuer, gründlicher Erörterung und Nachweisung, Regensburg: Coppenrath 1873. 9 Vgl. Agnes Kühne: Der Religionsphilosoph Georg Friedrich Daumer. Wege und Wirkungen seiner Entwicklung, Diss. Berlin 1936, S. 81 f. und Kluncker, Daumer (wie Anm. 2), S. 239. Interessanterweise gehörte auch der Konvertit Wil- helm Gustav Werner Volk einem Tierschutzverein an, s. [Gustav Werner Volk]: Briefl iche Mittheilungen aus Preußen über das Ehescheidungsgesetz. Von einem Preußen, in: Historisch-Politische Blätter für das katholische Deutschland 11 (1843), S. 4 – 56, hier S. 55. Agnes Kühne versuchte erstmals, das ganze Werk Daumers zu charakterisieren und ihn und sein Werk in die Geschichte des 19. Jahrhunderts einzuordnen. In Daumers „Die Religion des neuen Weltalters“ (s. Anm. 13) sah sie Parallelen zur „volkskirchlichen deutschen Glaubensbewegung“ unter der Führung von Reinhold Krause, des Obmann der Deutschen Christen in Berlin, Kühne: Religionsphilosoph (wie Anm. 9, S. 87 f.). 10 Horst Dieter Beyerstedt: Falsche Propheten, in: Stadtlexikon Nürnberg, hg. v. Michael Diefenbacher und Rolf Endres, Nürnberg 1999, S. 274 f. 11 Georg Friedrich Daumer: Die Geheimnisse des christlichen Altertums, Hamburg: Hoff mann & Campe 1847. Das Buch wurde 1857 von der katholischen Kirche auf den Index Librorum Prohibitorum gesetzt. Vgl. dazu Kühne: Reli- gionsphilosoph (wie Anm. 9), S. 69 – 75. 12 Kühne: Religionsphilosoph (wie Anm. 9), S. 81. 13 Georg Friedrich Daumer: Die Religion des neuen Weltalters. Versuch einer combinatorisch-aphoristischen Grundle- gung von G. Fr. Daumer, 3 Bde., Hamburg: Hoff mann & Campe 1850. 14 Georg Friedrich Daumer: Hafi s: Eine Sammlung persischer Gedichte. Nebst poetischen Zugaben aus verschiedenen Völ- kern und Ländern, Hamburg: Hoff mann & Campe 1846; ders.: Hafi s: Neue Sammlung, Nürnberg: Bauer & Raspe 1852. Textauszüge aus

Georg Friedrich Daumer

Meine Conversion. Ein Stück Seelen- und Zeitgeschichte, Mainz 1859 186 Georg Friedrich Daumer

Motto Primus sapientiae gradus est, falsa intelligere, secundus, vera cognoscere. Lactant. Schreibmotivation [Vorrede, S. IVf.] Was ich nun hiemit vorlege, ist erstlich eine kurz gefaßte, doch im Wesentlichen vollständige Geschichte meiner Conversion, worunter ich eine Darlegung der Denkprozesse, Erlebnisse, Experimente, Erfahrungen und Gemüthsstimmungen verstehe, die mich dem von mir zuvor eingenommenen Standpunkt entfremdet und meinem jetzigen entgegengeführt haben; dann eine Beleuchtung und Zurückweisung der Einwürfe, Beschuldigungen und feindseligen Annahmen, die in solchen Fällen ihre Rolle zu spielen pfl egen und es auch in dem meinigen zu thun nicht unterlassen haben, nebst einem Blick auf die religiösen und confessionellen Verhältnisse der Gegenwart überhaupt und die zu erwartenden künftigen; […] [S. 4] Mag man dann über mich und meine Handlungsweise urtheilen, wie man will – die Impulse und Motive, die hier Statt gefunden, der Gang, den mein Denken, Forschen, Erkennen genommen, die innere Nöthigung, mit der ich bis zu dem bezeichneten Ziele fortgeschritten, wird off en und klar genug vor Augen liegen. Es wird dies, wenn weiter Nichts, doch auf jeden Fall „ein Stück Seelen- und Zeitgeschichte“, und als solches nicht ganz ohne historisches und psychologisches Interesse sein. Stufen des Konversionsprozesses [S. 4f.] Ich habe einen Schritt gethan, der auch sonst und unter weniger eigenthümlichen Umständen von sehr auff allender und nach einer Seite hin verletzender und aufregender Natur zu sein pfl egt, bei mir aber in ganz besonderem Grade Überraschung und Anstoß zu erregen geeignet war. Ich habe „convertirt“, wie man zu sagen pfl egt, bin vom Protestantismus, dem ich von Jugend an einverleibt war, zur katholischen Kirche übergetreten. Diese Bezeichnung der Sache ist jedoch insofern falsch, als ich jener ersteren Confession im Sinne einer christlichen Glaubensgemeinschaft schon seit langer Zeit nur noch ganz äußerlich und passiv angehört hatte, innerlich aber derselben total entfremdet gewesen war, ja selbst, was meine Schriften betriff t, in öff entlichem, erklärtem Gegensatze, wie zum Christenthum überhaupt, so auch nothwendig zum protestantischen Christenthume stand. Eben dies ist es, was meiner Conversion einen so besonders frappanten Charakter gegeben. Es handelte sich bei dieser Th atsache nicht um einen der häufi g vorkommenden Uebergänge von einer christlichen Religionspartei und Kirche zur anderen, sondern um die Verwandlung einer entschieden antichristlichen Denkart in eine christliche; nicht um das Katholischwerden eines wahrhaft und wirklich protestantischen d. h. protestantisch-christlichen, sondern um das Wieder- Christ-Werden eines vom Christenthum abgefallenen, mit diesem in allgemeinster, extremster Weise entzweiten und verfeindeten Individuums. Auseinandersetzung mit der Philosophie seiner Zeit [S. 8] Keine der in diesem Zeitraume aufgekommenen und zu Ansehen und Geltung gelangten Denkarten, Schulen und Parteien war nach meinem Sinn. Was namentlich die Textauszüge aus Meine Conversion (1859) 187

phi[lo]sophischen, kritischen, der selbstständigen, freien und auf Befreiung gerichteten Geistesentwicklung angehörigen Erscheinungen dieses Zeitraumes betriff t, so waren sie mir sämmtlich viel zu hohl, seicht und leer an positivem Gehalt und ächtem Lebenskeime; ich konnte mich, was ich auch für Berührungspunkte mit ihnen haben mochte, doch keiner völlig anschließen und hingeben. [S. 8 – 9] Der alte Hegelianismus, so vornehm er that und so sehr er sich von der Sphäre des gemeinen Menschenverstandes auszuscheiden und in ein mysteriöses Gebiet zurückzuziehen bemüht war, beschränkte sich am Ende in der bornirtesten und philisterhaftesten Art doch ganz nur auf die Gegenwart und das, was diese in ihrer Armuth und Dürre zu bieten vermochte, während ich schon damals die fernliegendsten, idealistisch bestimmten und gesteigerten Zustände im Auge hatte. Und als dann weiterhin die neuhegelische Entwicklung eintrat, begann eine diabolische Lust an Tod und Vernichtung, ein alles Göttliche aus Mensch und Natur austilgender Atheismus, eine Alles zerfressende und aufl ösende und nur dieses Zerfressen und Aufl ösen selbst zum Zwecke habende Kritik, und, wenn in’s Praktische gegangen wurde, eine kopfl ose, demokratische Pöbelhetzerei, die nur eine um so mächtigere und siegreichere Reaction zur Folge haben konnte, ihre Rolle zu spielen. Am Ende schälte sich ein ganz unversteckter, principmäßig aufgestellter, auf die allerraffi nirteste Spitze getriebener Subjectivismus und Egoismus, ein grob materialistischer und mechanistischer Geistes- und Seelenmord und ein alles Ideelle und Allgemeine verpönender, das Einzelne ganz nur als solches in geist- und ideelosester Isolirung betrachtender Empirismus heraus – Erscheinungen, die gemeiner, kahler, platter, schamloser, abstoßender und empörender nicht zu sein vermochten. Das war das elende, schmachvolle Ende des modernen Denk- und Bildungsprozesses; zu diesen abstrakten Verneinungsmenschen und absichtlichen Barbaren wurde ich Unglücklicher selbst gerechnet; auf sie war ich in der Th at angewiesen, wenn ich Etwas in, Gemeinschaft mit Anderen sein und wirken wollte. Überlegung, zum Judentum zu konvertieren [S. 9 – 10] Ich stand allein, ich wurde gar nicht verstanden, selbst nicht von den Befreundetsten, und die ungeheuere, wenn nicht äußere, doch innere Einsamkeit, zu der ich mich verdammt sah, ward immer empfi ndlicher, schauerlicher, unerträglicher. In dem Grade, daß mein Herz für die Menschheit schlug, daß mein Denken und Streben in’s Allgemeine und Umfassende ging, sah ich mich isolirt und auf mich selbst beschränkt; denn Alles zersplitterte und zerstreute sich. Unter solchen Umständen kam ich auf einen seltsamen, barocken Gedanken, der, unmittelbar und unerläutert ausgesprochen, sehr lächerlich erscheinen kann, sich aber doch leicht erklären und begreifen lassen wird, wenn man meine eigenthümliche Natur und Tendenz und die damit verbundene widerspruchsvolle Lage bedenkt. Mich an eine christliche Partei gläubigen und kirchlichen Charakters anzuschließen, war mir zu jener Zeit noch unmöglich; ich hätte heucheln müssen, und das stimmte nicht mit meinem Wesen und meinen Absichten überein. Vielleichter konnte ich mich dem Judenthume nähern, ja geneigt sein, unter gewissen Umständen und Bedingungen förmlich dazu überzutreten. Ich hatte in alten rabbinischen Schriften überraschend eigene und Konversionserzählung in Gedichten Zur Konversion der „Sängerin des heiligsten Sakraments“ Cordula Wöhler (1870)

Angelika Schaser

Vor dem Ersten Weltkrieg zählte Wöhlers „Name […] zu den klangvollsten in weiten katho- lischen Kreisen.“1 Cordula Wöhler, verh. Schmid (Pseudonym: Cordula Peregrina2) (1845 – 1916) war ein Glücksfall für die katholische Kirche: Am 10. Juli 1870 konvertierte die Toch- ter eines protestantischen Pfarrers zum Katholizismus. Während des Ersten Vatikanischen Kon- zils und des bereits längst tobenden Kulturkampfs zwischen Katholizismus und Protestantis- mus3 entschloss sich die junge Frau gegen den Widerstand ihrer Familie und ihrer Umgebung zu diesem Schritt.

Zur Biografi e Cordula Wöhler wurde am 17. Juni 1845 zu Malchin in Mecklenburg als Tochter des evangeli- schen Th eologen Wilhelm Wöhler und seiner Frau Kordula, geborene Bank, geboren. Als Wöh- ler elf Jahre alt war, trat ihr Vater eine Stelle als Pastor in Lichtenhagen bei Rostock an.4 Er wird als „eine poetisch veranlagte Natur“5 beschrieben und soll der „strenggläubigen Richtung“6 an- gehört haben. Wöhler selbst sah ihr „ganzes Sein und Wesen“ im Rückblick als „ein ernstes und innerlich angelegtes“. Sie beschrieb sich als ein stilles Kind, das sich gerne mit dem Tod beschäf- tigte und bevorzugt auf dem Friedhof aufhielt.7 Für die Öff entlichkeit aufbereitet und dokumentiert wurde Wöhlers Konversion kurz vor Wöhlers Tod von Julius Mayer, Professor an der theologischen Fakultät der Universität Frei- burg. Dieser war bereits zuvor mit der Herausgabe mehrerer „Konvertitenbilder“ hervorgetre- ten. Unter dem Titel Alban Stolz und Kordula Wöhler (Kordula Peregrina) präsentierte Mayer Teile der Korrespondenz, die Stolz an Wöhler gerichtet hatte sowie Auszüge aus dem Tagebuch, das Wöhler seit ihrem 16. Lebensjahr geführt haben soll.8 Während Wöhler die Briefe ihres „geistigen Vaters“ Alban Stolz sorgfältig sammelte, hat dieser ihre Schreiben nicht aufbewahrt.

1 So Julius Mayer in seiner Vorrede zu: Julius Mayer (Hg.): Alban Stolz und Kordula Wöhler (Kordula Peregrina). 3. Aufl ., Freiburg i. Breisgau 1915, S. V–VII, hier S. V. [1. Aufl . 1913 Herdersche Verlagsbuchhandlung]. Das Buch er- schien als dritter Teil der von Mayer herausgegebenen „Konvertitenbilder“: Alban Stolz, Fügung und Führung. Kon- vertitenbilder (1909 – 1913). 2 Bei dem Pseudonym dürfte es sich um eine Reverenz an Ida Gräfi n von Hahn-Hahns „Peregrin“ gehandelt haben (Vgl. Ida Hahn-Hahn: Peregrin. Ein Roman. 2 Bde., Mainz 1864). 3 Vgl. dazu die Konfl ikte in: Christopher Clark / Wolfram Kaiser (Hg.): Culture Wars. Secular-Catholic Confl ict in Ni- neteenth-Century Europe, Cambridge 2003. 4 Die biografi schen Angaben nach S.P. Scheichl: Cordula Schmid, in: Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 – 1950, Bd. X, Wien 1994, S. 249 f. 5 Mayer (Hg.); Alban Stolz und Kordula Wöhler (wie Anm. 1), S. 1. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 3. 8 Ebd. 194 Angelika Schaser

Die Tagebücher Cordula Wöhlers, die Mayer für die Rekonstruktion ihres „seelischen Entwick- lungsgang[s]“9 herangezogen hatte, gelten heute als verschollen.10 Als Stolz-Verehrer hatte Mayer dessen Predigten bereits aus dem Nachlass herausgege- ben11 und 1909 die erste Aufl age des Briefwechsels von Alban Stolz mit der Konvertitin Ju- lie Meineke (1828? – 15. Sept. 1861) veröff entlicht, die als junge Frau durch den Einfl uss der Schriften von Alban Stolz und unter dessen Führung zum Katholizismus übergetreten war.12 Der Schriftwechsel zwischen Alban Stolz und Julie Meineke soll Mayer dafür „fast lückenlos“13 vorgelegen haben. Der Titel des Buches Fügung und Führung. Ein Briefwechsel mit Alban Stolz, das Mayer 1909 herausgab, zeigt, dass es Mayer zunächst darum ging, Alban Stolz ein Denkmal zu setzen, auch wenn er in der Einleitung erklärte, dass auch „Julie Meineke, die Adressatin, eine Persönlichkeit von klarer Bestimmtheit und edler Art“14 gewesen sei. Meineke, die Stolz nie getroff en haben soll, war die Tochter des bekannten (protestanti- schen) Altphilologen August Meineke (1790 – 1870). Sie starb 1861 mit 33 Jahren in ihrem El- ternhaus. Erst in den späteren Ausgaben der Korrespondenz zwischen Stolz und Meineke er- schien ihr Name auch auf dem Titelblatt.15 Nach der Publikation des Briefwechsels mit Ju- lie Meineke gab Mayer einen zweiten Teil heraus, der die Korrespondenz von Alban Stolz mit Friedrich von Drais, Eduard Steinbrück, Augustin Arndt, Berta von Bernitz und Klotilde von Werthern enthielt.16 Er hatte also reichlich Erfahrung mit diesem Genre gesammelt, bevor er mit der Beschreibung der Konversion von Wöhler begann. Wöhler berichtete bereits1898,17 dass sie seit ihrer Konversion von vielen gedrängt worden sei, ihre Konversionsgeschichte zu ver- öff entlichen. Sie wollte jedoch die „Stöße von Tagebüchern“ aus der Zeit ihrer Konversion nicht „schon bei Lebzeiten […] der Öff entlichkeit preisgeben“.18

Cordula Wöhler in der Darstellung von Julius Mayer Da Alban Stolz die Briefe von Wöhler nicht aufbewahrt hatte, meinte Mayer für das „Konverti- tenbild“ von Wöhler in ihren Tagebüchern einen Ersatz für die fehlenden Briefe Wöhlers an Al- ban Stolz zu fi nden und drängte Wöhler, ihm ihre Tagebücher zu überlassen. Off enbar wurde Wöhler wohl so stark unter Druck gesetzt, dass Mayer selbst schreibt, Wöhler habe „wie schon

9 Mayer (Hg.): Vorrede (wie Anm. 1), S. V. 10 Vgl. Hermann Kurzke / Christiane Schäfer: Mythos Maria. Berühmte Marienlieder und ihre Geschichte. München 2014, S. 129. 11 Julius Mayer (Hg.): Alban Stolz. Predigten aus dessen Nachlaß zu seinem 100. Geburtstag, Freiburg i. Breisgau u. a. 1908. 12 Julius Mayer (Hg): Alban Stolz. Fügung und Führung. Ein Briefwechsel mit Alban Stolz, Freiburg i. Breisgau u. a. 1909. Meineke trat am Namenstag von Alban Stolz, dem 21. Juni, im Jahr 1859 „mit Wissen und Zustimmung ihrer Eltern“ zum Katholizismus über (ebd., S. 62 und S. 73). 13 Julius Mayer: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Alban Stolz (wie Anm. 12), S. V–VI, hier S. V. 14 Ebd. 15 Julius Mayer (Hg.): Alban Stolz und Julie Meineke. 5. Aufl ., Freiburg i. Breisgau u. a. 1914. 16 Julius Mayer (Hg.): Alban Stolz und Friedrich v. Drais, Eduard Steinbrück, Augustin Arndt, Berta v. Bernitz und Klo- tilde v. Werthern, Freiburg i. Breisgau u. a. 1911. 17 Cordula Peregrina: Vorrede, in: Dies., Aus Lebens Liebe, Lust und Leid, ein Pilgersang zur Abendzeit, Innsbruck 1898, S. VII–XXXVI, hier S. VIII f. 18 Ebd., S. IX. Textauszüge aus

Cordula Wöhler (Cordula Peregrina)

Aus Lebens Liebe, Lust und Leid, ein Pilgersang zur Abendzeit, Innsbruck 1898 Textauszüge aus Aus Lebens Liebe, Lust und Leid (1898) 207

Motto: Die Freude, ohne Schmerz zu sterben, Wiegt auf ein Leben reich an Glück, Und wer einst Gottes Reich will erben, Läßt gern schon jetzt die Welt zurück. Wär’s Schmerz auch, ohne Freude leben, – Er wählt getrost ihn, diesen Schmerz, – Nur eins, o Gott, mußt Du uns geben: Den Himmel dort, und hier Dein Herz! Schreibauff orderung und Schreibentscheidung: [S. VII, VIII] Es sind nun schon Jahre vergangen, in denen ich wieder und wieder – und von den verschiedensten Seiten – aufgefordert worden bin, eine Geschichte meines Übertritts und all’ der ihn herbeiführenden, ihn begleitenden und ihn entspringenden Umstände zu veröff entlichen, und so oft ich mich weigerte, mit dem Bemerken, daß es meiner ganzen Natur widerstrebe, ein Buch zu schreiben, in welchem meine Person selbstverständlich in den Vordergrund und mit ihrem tiefsten und stärksten Empfi nden, ihrem Suchen und Sehnen, Ringen und Kämpfen, Lieben und Leiden an die Öff entlichkeit treten mußte, wurde mir stets – von Priestern wie von Laien – entgegen gehalten, daß ich diese Scheu überwinden und zum Opfer bringen müsse, indem ein Convertitenbild immer zur Ehre Gottes und zum Nutzen gar mancher suchenden Seele diene. Schon der selige Alban Stolz ermunterte mich vor mehr denn einem Vierteljahrhundert zu einer Veröff entlichung meiner Conversionsgeschichte, und etwa ein Jahrzehnt nach ihm schrieb mir (der gleichfalls seit Jahren schon heimgegangene) Dr. Alfred Muth und bat mich um das nothwendige Material, damit er nach demselben ein Büchlein schreiben könne, wie die Sängerin des ewigen Lichts ein Kind der katholischen Kirche geworden. Entscheidung [S. VIII, IX] Stöße von Tagebüchern aus den Jahren des heißesten Ringens und bittersten Leidens – und was gab es nicht Alles zu bekämpfen und zu überwinden, wie viel Schmerzensthränen und Seelenopfer waren nothwendig, um mir Schritt für Schritt den Eintritt in die Porta coeli zu erringen! – lagen und liegen da, – dazu die Briefe von Alban Stolz und anderen kath. Freunden, die meinen Muth aufrecht hielten und mein Vertrauen auf den Beistand Gottes befestigten, aber a l l ’ dies – schon bei Lebzeiten – der Öff entlichkeit preis zu geben, nein, dazu konnte ich mich nicht entschließen! Unterdeß bin ich alt, der Wunsch aber Vieler, Näheres über Zeit und Umstände vor, bei und nach meiner Conversion zu hören, immer auf’s neue wieder laut geworden, und so ist in mir denn eine Gedanke gereift, der solchem Wunsche wohl im Hauptsächlichsten Genüge leistet, und dennoch nicht so sehr meiner innersten Seele widerstrebt, als wenn ich entweder A uszüge aus den T agebüchern jener Zeiten machen, oder aber – an der H and derselben – die Geschichte meiner Conversion jetzt niederschreiben 208 Cordula Wöhler (Cordula Peregrina)

sollte. Ich habe nämlich aus all’ diesen Tagebüchern – vom 16. Lebensjahr an geführt – einen kleinen Th eil der Lieder gesammelt, wie sie damals der suchenden, sehnenden, seufzenden, aber auch der hoff enden und oftmals im Übermaß himmlischen Trostes selig jubelnden Seele entquollen sind, und habe sie zu einem Ganzen gefl ochten, „aus Lebens Liebe, Lust und Leid,“ und lasse sie nun „als Pilgersang zur Abendzeit,“ beim Hereindämmern meines Lebensabends – an die Öff entlichkeit treten! Konversionsprozess: Kindliche Marienverehrung [S. XII] Noch lange bevor ich daran dachte, katholisch zu werden, begann ich schon Maria zu lieben, ihr heimlich zu huldigen, ohne jedoch schon den vollen M uth zu haben, sie anzurufen; denn ich wußte ja, daß dies den Protestanten nicht erlaubt war. Aber war es denn auch unerlaubt, sie zu lieben, sie, die Mutter des Gottessohnes, dem ganz zu gehören ich so heiß mich sehnte! In unserer noch aus alter katholischer Zeit stammenden Dorfkirche war oben auf dem Seitenchor ein recht einsamer, stiller, verstaubter Winkel, von Keinem besucht und beachtet, da stand eine alte hölzerne Statue: Maria, den Leichnam ihres göttlichen Sohnes auf dem Schoße. […] – wie seltsam tief d u r chdrang es mich, als ich dies alte Bild zum ersten Mal erblickte. Wie gebannnt stand ich davor und sah es lange, lange an! Und wieder kam ich und brachte die schönsten Blumen meines Beetes, und legte sie auf das Herz der theuren Heilandsleiche und auf die Hand und Haupt der Mutter, die Ihn umschlungen hielt. Und bald verging kein Tag mehr, wo ich nicht zu dem lieben alten Bilde kam, stets mit frischen Blumen, – von den ersten des Frühlings an bis zu den letzten des Herbstes. [S. XIII] Und bald stand ich nicht nur vor dem alten Bilde, sondern kniete davor und bedeckte Beide mit Küssen, und nicht nur den Sohn, sondern auch die M utter, – Seine Mutter, – ach, wenn sie doch auch die meine werden wollte! Aber noch wagte ich nicht, sie darum zu bitten, – protestantische Gewissensbisse unterdrückten noch immer das wohl jedem Christenherzen angeborne katholische Kindesbedürfnis, Seine – Jesu! – Mutter auch als unsere Mutter zu umfassen und zu verehren. [S. XIV] Jahre und Jahre lang hatte ich mein liebes altes Bild, das mir wahrhaft zum Gnadenbild geworden war, ungestört schmücken und verehren können. Niemand kam an dies stille, fast versteckte Plätzchen, N iemand beobachtete mein täglich’ Th un! Sobald aber alle es wußten, daß ich katholisch werden wollte, wurde jeder Schritt und Tritt auf’s sorgfätigste bewacht, und somit auch bald mein Gang zu dem alten Bilde, wie dessen Existenz überhaupt, entdeckt. Zunächst wurden alle Blumen, die ich dorthin brachte, täglich wieder fort genommen, und schließlich – zu meinem unaussprechlichen Schmerz! – das ganze Bild aus der Kirche entfernt, ohne daß ich erfahren durfte, wohin es gekommen, oder daß ich jemals es wieder gesehen hätte! Heimatlos in Zwischenwelten Die Konversion der Frauenrechtlerin und Wissenschaftlerin Elisabeth Gnauck-Kühne zum Katholizismus (1900)

Angelika Schaser

Zur Biografi e Elisabeth Gnauck-Kühnes Elisabeth Gnauck-Kühne (1850 – 1917) kam 1850 in Vechelde im Herzogtum Braunschweig als Tochter von August Kühne zur Welt, der 1856 als Staatsanwalt nach Blankenburg (Harz) versetzt wurde. Sie war das dritte und jüngste Kind des Ehepaares Kühne. Frühzeitig wurde sie zum Schreiben animiert. So fi nden sich in drei Heften, die Elisabeth Gnauck-Kühne im Alter von zehn bis dreizehn Jahren anlegte, Schreibübungen in Form kleinerer Aufsätze und Briefent- würfe an Verwandte und Freundinnen. Die Texte wurden stilistisch und orthografi sch von un- bekannter Hand verbessert, die Handschrift wurde kommentiert und einzelne Passagen inhalt- lich kritisiert.1 Mit vierzehn Jahren besuchte Elisabeth Gnauck-Kühne 1864 wohl auf eigenen Wunsch das Lehrerinnenseminar Callnberg im Königreich Sachsen, wo sie 1867 das Lehrerinnenex- amen bestand. Nach einer Anstellung als Lehrerin an der Seminarübungsschule brach sie zu zwei ausgedehnten Auslandsaufenthalten in Paris und London auf, wo sie als Hauslehrerin ar- beitete. Von diesem Aufbruch in eine neue Welt, die ihr neben Sprachkenntnissen auch Ein- blicke in fremde Kulturen eröff nete, fi ndet sich wenig in ihren Schriften. Nach ihrer Rückkehr in das heimatliche Blankenburg eröff nete sie 1875 ein Lehr- und Erziehungsheim. Dieses exklu- sive Mädcheninstitut, das für 25 Zöglinge der besseren Familien der Stadt off en stand, leitete sie dreizehn Jahre, bis sie 1888 den 1851 geborenen Nervenarzt Rudolf Gnauck heiratete. Mit ihm zog sie nach Berlin. Die Ehe scheiterte nach wenigen Monaten und wurde 1890 geschie- den. Über die Gründe für das Scheitern dieser Verbindung wird in der Literatur mangels Quel- len mehr spekuliert als analysiert.2 Aus dem vorliegenden Scheidungsurteil geht lediglich her- vor, dass Elisabeth Gnauck-Kühne die Scheidungsklage erhoben hatte und ihr Mann „allein- schuldig“ geschieden wurde.3 Das Nichtgelingen dieser Ehe empfand Elisabeth Gnauck-Kühne als dramatischen Wen- depunkt in ihrem Leben. Die Ohnmacht, die sie angesichts der rechtlichen Situation wäh- rend der Trennungsphase und des Scheidungsprozesses verspürte, gab ihr den Anstoß zu ih- ren neuen Lebensthemen. Sie engagierte sich für die rechtliche Besserstellung der (Ehe-)Frau- en, für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen von Proletarierinnen, setzte sich für das Recht der Frauen auf Berufstätigkeit und die Zulassung der Frauen zum Universitäts- studium ein. Zunächst nahm sie an den Privatstunden Gustav Schmollers teil, bevor sie dann 1895 mit einer Sondererlaubnis auch dessen Vorlesungen an der Berliner Universität besuchen

1 Archiv des Katholischen Deutschen Frauenbundes in Köln (=Archiv des KDFB), Nachlass Gnauck-Kühne, 1 – 125. 2 Wie Moltmann-Wendel vermuten die meisten Autorinnen, „daß Brutalität und Treulosigkeit des Partners der Grund waren“. Elisabeth Moltmann-Wendel: Eine Frau zwischen den Konfessionen: Die Sozialpolitikerin Elisabeth Gnauck- Kühne (1850 – 1917), in: Hermann Häring / Karl-Josef Kuschel (Hg.): Gegenentwürfe. 24 Lebensläufe für eine andere Th eologie, München / Zürich 1988, S. 255 – 267, Zitat S. 256. 3 Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck -Kühne, 1 – 105 – 1. 214 Angelika Schaser konnte.4 Der bekannte Nationalökonom förderte die sozialwissenschaftlichen Interessen Elisa- beth Gnauck-Kühnes und dürfte ihr den Kontakt zum Evangelisch-Sozialen Kongress vermit- telt haben.5 Bereits ihre ersten öff entlichen Stellungnahmen enthielten ein explizites christliches Be- kenntnis. Dieses Bekenntnis war ihr off enbar so wichtig, dass sie sich um die Gründung einer dezidiert christlich fundierten Frauenorganisation bemühte. Seit 1894 leitete sie die von ihr ins Leben gerufene evangelisch-soziale Frauengruppe in Berlin, die den Nukleus des 1899 ge- gründeten Deutsch-Evangelischen Frauenbundes bildete. Großes Aufsehen erregte Elisabeth Gnauck-Kühne 1895 mit ihrem Referat über „Die soziale Frage der Frau“ auf dem 6. Evange- lisch-Sozialen Kongress in Erfurt, wo sie als erste Frau öff entlich das Wort ergriff .6 Dort verlang- te sie das Recht der Frauen auf Arbeit und Bildung. Durch die Scheidung geriet Gnauck-Kühne in eine Krise. 1897 erlitt sie einen Nerven- zusammenbruch, wusste nicht, ob sie in den Süden gehen, ihr Studium fortsetzen oder eine li- terarische Arbeit beginnen sollte.7 Wohl schon zu dieser Zeit korrespondierte sie mit dem Re- demptoristenpater Augustin Rösler. Für diese Kontaktaufnahme dürfte ausschlaggebend gewe- sen sein, dass Rösler sich im März 1897 in seinem Aufsatz „Christentum und Frauenbefreiung“ anerkennend über die Rede Elisabeth Gnauck-Kühnes in Erfurt geäußert hatte und feststellte, die Wertschätzung der Frau sei „in der katholischen Kirche ... stets als selbstverständlich ange- sehen worden“8. 1898 legte Elisabeth Gnauck-Kühne den Vorsitz in der evangelisch-sozialen Frauengruppe nieder und gab für diesen Schritt gesundheitliche Gründe an. Bei ihrer Freundin und Studienkollegin Gertrud Dyhrenfurth fragte sie in dieser Zeit immer wieder an, eine ge- meinsame Lebensperspektive zu entwickeln. Wiederholt klagte Elisabeth Gnauck-Kühne über die Heimatlosigkeit ihres Lebens.9 Erst kurz vor ihrem Tod scheint sie mit ihrer Lebenssituati- on, mit der ihr von Dyhrenfurth „aufgenötigten“ Gefährtin Ida Ernst, ihren Frieden gemacht zu haben.10 Nach einer relativ kurzen Vorbereitungszeit legte Elisabeth Gnauck-Kühne am 24. März 1900 bei Rösler in Mautern in der Steiermark das katholische Glaubensbekenntnis ab.11 Da- bei scheint sie sich in ihren Erwartungen an die katholische Gemeinschaft, wie man bis in ihre wissenschaftlichen Veröff entlichungen nachverfolgen kann, an einem Klosterideal orientiert zu

4 Kopie der vom Königlichen Universitäts-Kuratorium in Berlin ausgestellten Zulassung zu den Vorlesungen von Prof. Schmoller vom 15. November 1895, in: Archiv des KDFB, Nachlass Gnauck-Kühne, 1 – 105 – 2. 5 Ursula Baumann: Protestantismus und Frauenemanzipation in Deutschland 1850 bis 1920, Frankfurt / New York 1992, S. 82. 6 Ein Neudruck des Textes fi ndet sich in: Elisabeth Prégardier / Irmingard Böhm (Hg.): Elisabeth Gnauck-Kühne (1850 – 1917). Zur sozialen Lage der Frau, Annweiler 1997, S. 37 – 71. 7 Elisabeth Gnauck-Kühne in Briefen an Gertrud Dyhrenfurth in den Jahren 1897 / 98, vgl. Helene Simon: Elisabeth Gnauck-Kühne, 2 Bde., Mönchen-Gladbach 1928, hier Bd. 2: Heimat, S. 214 – 215. 8 Zit. nach Simon: Elisabeth Gnauck-Kühne (wie Anm. 7), hier Bd. 1: Eine Pilgerfahrt, S. 206. 9 Entsprechende Briefstellen fi nden sich in: Simon: Elisabeth Gnauck-Kühne (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 216, 218, 222, 224. 10 Elisabeth Gnauck-Kühne am 1. November 1912 an Gertrud Dyhrenfurth, in: Simon: Elisabeth Gnauck-Kühne (wie Anm. 7), Bd. 2, S. 227. 11 Zu der Konversion s. Andrea Brunner: „Während sie schweigend trugen, gab mir ein Gott zu sagen, was ich litt.“ Kon- version im Kontext: Elisabeth Gnauck-Kühne (1850 – 1917). Lizentiatsarbeit in Geschichte an der Universität Basel 2006; Angelika Schaser: „Zurück zur Heiligen Kirche“. Konversionen zum Katholizismus im säkularisierten Zeitalter, in: Historische Anthropologie 15 (2007), S. 1 – 23, hier: S. 11 – 21. Textauszüge aus

Elisabeth Gnauck-Kühne

Handschriftliche Aufzeichnungen zum Glaubenswechsel (undatiert) Archiv des Katholischen Frauenbundes in Köln, Nachlass Gnauck-Kühne, 1 – 125 224 Elisabeth Gnauck-Kühne

Meinen protestantischen Freunden und Freundinnen, insonderheit der Frauengruppe des Evangelisch-sozialen Kongresses, in herzlicher Liebe gewidmet. Schreibmotivation [S. 1] Allen, den liebevoll Milden und den richtenden Strengen will ich antworten, indem ich ihnen sage, wie es zugegangen, daß ich katholisch wurde. Wenn ich schon jetzt dazu schreite, einige Anhaltspunkte bezüglich meiner Rückkehr zur katholischen Kirche zu geben, so geschieht es in Rücksicht auf den Evangelisch-sozialen Kongreß, dem anzugehören ich die Ehre hatte. Daß ich mich von diesem ausgezeichneten Kreise, in dem ich das Vertrauen hochgebildeter, edler, hervorragender Menschen genoß, losreißen mußte, dieser Umstand allein genügt schon, um zu beweisen, daß es Gründe rein innerlicher Natur waren, die mich zum Katholizismus zurückführten. Kindheitseindrücke [S. 2 – 3] Wer mir noch vor zehn Jahren vorausgesagt hätte, daß ich katholisch werden würde, dem hätte ich mit ungläubigem Kopfschütteln geantwortet. Nicht als ob ich zu der katholischen Kirche niemals Beziehungen gehabt hätte; im Gegenteil, sie hat schon in der frühesten Kindheit eine Rolle in meinem Leben gespielt, und zwar auf eine ganz eigne Weise. Wenn ich bei dieser längst entschwundenen Zeit verweile, so geschieht‘s, weil das Kind die Knospe des Menschen ist, und wir aus den Zügen des Kindes die Psysiognomie [sic!] des Erwachsenen leichter deuten können. In meiner so gut wie ausschließlich protestantischen kleinen Heimatstadt Blankenburg am Harz befand sich bis in das letzte Drittel des verfl ossenen Jahrhunderts hinein an dem sogenannten „kleinen Schlosse“ ein baufälliger Anbau in Form ines Gartenhäuschens, das vom Park des Schlosses aus zugänglich war. Nach der Straße zu hatte es zwei Fenster, die mit hölzernen Läden verschlossen waren. Die Tür des Häuschens sah man durch das Gittertor des Parkes, vor dem zwei in Versailler Stil beschnittene Linden unbeweglich standen und mit unermüdlicher Geduld zwei große Steine beschatteten, die oben zu Flächen behauen waren. An der Parkmauer entlang führte ein beliebter Spaziergang. Als ich eines Tages meine Schwester mit einer Freundin begleiten durfte, hörte ich von ihr erzählen, dies Häuschen sei die katholische Kirche, und alle Monat komme einmal ein Priester und halte darin Gottesdienst, dann knieten die Leute nieder und beteten den Rosenkranz und sängen: Gegrüßet seist Du Maria! – Das muß der kindlichen Phantasie starken Eindruck gemacht haben, denn ich entsinne mich der Worte und der begleitenden Umstände bis auf den heutigen Tag ganz genau und weiß, daß ich wiederholt lange auf dem großen Stein gesessen und die verschlossenen Läden betrachtet und gewünscht habe, sie möchten geöff net werden, so daß ich einmal hineinsehen könnte. Ich dachte es mir wunderschön zu knien, einen duftenden Rosenkranz in der Hand zu halten und zu singen: Gegrüßet seist Du Maria! Damit hatte es aber auch sein Bewenden. Kein Forschertrieb störte meine träumende Liebe. Protestantischer Religionsunterricht und protestantische Abendandachten im Lehrerinnenseminar Auch dieser vorzügliche Religionsunterricht, den ich im Seminar reichlich genoß, hat den Lebensnerv in mir nicht befruchtend berührt; ich verdanke ihm viel für meine Textauszüge aus Handschriftliche Aufzeichnungen (undatiert) 225

sittliche Bildung, ausgefüllt und beglückt hat er mich nicht. Nur ein einziges Mal ist er in die Tiefe gedrungen, und zwar bei der Erklärung des Gleichnisses von den törichten und klugen Jungfrauen. Um dieser Stunde willen verehre ich das Andenken dieses Lehrers bis an mein Ende. Noch weniger als der Unterricht zogen mich die Andachten in dem großen, kahlen Saale an; sie waren mir nur eine andere Art intellektueller Arbeit, abstrakter Geistestätigkeit, deren Nüchternheit mich schier erstickte. Kritik an der protestantischen Geistlichkeit [S. 7] Man wird mir vorwerfen: Warum gingen Sie denn nicht zu dem ersten besten Geistlichen? Aber den Vorwurf wird sicherlich niemand erheben, da er weiß, daß die evangelischen Geistlichen Berlins nicht einmal zur Seelsorge in ihrer Gemeinde, geschweige denn an fremden Menschen Zeit haben. Sie verwalten große Gemeinden, Gemeinden, die eine ganze Kraft voll in Anspruch nehmen würden. Selbst wenn wir uns alle Geistlichen Berlins als ganz ungewöhnliche Männer vorstellen, müssen wir sagen, sie hätten mit der Verwaltung ihrer Gemeinden viel zu tun. Aber auf diese Aufgabe beschränken sich nicht einmal alle, es kommen noch freiwillige Lasten dazu, die wieder eine ganze Kraft in Anspruch nehmen könnten, Vorlesungen an höhern Unterrichtsanstalten, Vereinstätigkeit, Schriftstellerei und zu dem allen noch Familienpfl ichten, Familiensorgen und Familienfreuden. Woher soll da die Zeit kommen, Seelsorge zu üben? Man bedenke ferner, daß es nicht Sitte ist, zu dem Geistlichen zu gehen und ihm seine Not zu klagen. Er hat wohl eine tägliche Sprechstunde, aber die reicht eben für sachliche Berichte oder Anfragen, nicht zu einer seelsorgerischen Aussprache. Ich habe niemals einen Beweis gehabt, daß man Seelsorge, den Verkehr zwischen Geistlichen und suchenden Seelen überhaupt in Rechnung stellt. Im Gegenteil, das System des Protestantismus nimmt satte Korrektheit auf allen Seiten stillschweigend an. Die Satten sind im Protestantismus gut gebettet, die Mühseligen und Verlassenen, solange sie nicht dem Laster verfallen, sind übel dran. Es erscheint mir folgerichtig, daß Werke der Barmherzigkeit im Katechismus fehlen. Wenn ich an das Grauen denke, das mich in jener Verlassenheit gepackt und geschüttelt hat, dann sage ich: Glücklich, wer katholisch ist! Glücklich, wer da weiß, daß ihm jederzeit ein Ohr im Beichtstuhl off en steht. Glücklich, wer da weiß, wo er unter allen Umständen sein bedrücktes Herz ausschütten und erleichtern kann. Für ihn gibt es kein Leid, das er nicht zur Hälfte abschütteln kann, für ihn gibt es keinen Schmerz ohne Tröstung, keine Bedrängnis ohne Rat, keine Erschütterung ohne Halt. Seine Hand greift nicht ins Leere, sein Schrei verhallt nicht ungehört. Er braucht nur einen Finger auszustrecken – und er wird gehalten. Bedeutung wissenschaftlicher Arbeit [S. 8] Damals, als ich innerlich Schiff bruch litt, kannte ich die Beichte noch nicht, so griff ich zur Arbeit. Ich suchte Arbeit, um mich zu betäuben. Und ich fand Arbeit, fand sie durch die hilfreiche Güte des Herrn Professors Schmoller, dem ich aufrichtige Dankbarkeit weihe. In der Arbeit hielt ich mich aufrecht, zwang auch die religiösen Bedürfnisse nieder, die in unbewachten Momenten plötzlich auftauchten. Ich lebte bei nahezu Katholischer Propagandaprofessor an protestantischer Universität? Zur Konversion des Historikers Albert von Ruville (1909)

Angelika Schaser

Zur Biografi e Albert von Ruvilles Albert von Ruville (1855 – 1934) wurde in Potsdam als Sohn eines preußischen Hauptmannes geboren. Er stammte väterlicherseits aus einer französischen Familie, die 1792 nach Preußen emigriert war. Zunächst schlug Albert von Ruville die militärische Laufbahn ein. 1888 nahm er seinen Abschied und studierte in Berlin Geschichte und Nationalökonomie. Auf die Frage, wie der Hauptmann zur Geschichtswissenschaft kam, gibt es keine rechte Antwort. Er war vermut- lich ehrgeizig und der Militärdienst füllte ihn wohl nicht aus. Vielleicht war für seinen Berufs- wechsel von Bedeutung, dass ein Vorfahre von ihm, André von Ruville (1584 – 1640), als Histo- riograph des französischen Königs wirkte und aufgrund seiner Verdienste 1629 den Titel „Père de l’histoire française, chevalier de l’Ordre de St. Louis“ verliehen bekommen hatte.1 Es war wohl Reinhold Koser, der Albert von Ruville zu Archivarbeiten in London anregte. 1892 schloss Albert von Ruville sein Studium in Berlin mit einer Dissertation über die preußisch-englischen Beziehungen im Jahre 1762 ab. Das Gutachten seines Erstprüfers Max Albert Wilhelm Lenz, dem sich der Zweitgutachter Paul Scheff er-Boichorst angeschlossen hatte, schlug für die Arbeit das Prädikat „docte et diligenter scripta“ vor. Die mündliche Prüfung wurde von den Prüfern zum Teil nur mit „knapp genügend“ bewertet.2 Vier Jahre später habilitierte sich von Ruville in Halle an der Saale mit einer Schrift zur kaiserlichen Politik auf dem Regensburger Reichstag von 1653 / 54.3 Be reits im darauff olgenden Wintersemester 1896 / 97 bot er in Halle Lehrveranstaltungen an. Von kurzen Unterbrechun- gen abgesehen (Sommersemester 1899, Sommersemester 1910, Wintersemester 1914 / 15 und Sommersemester 1915) hielt er bis zu seinem Tod im Jahre 1934 Semester für Semester ein bis drei Lehrveranstaltungen ab. Durch diese 38-jährige, nahezu kontinuierliche Lehrtätigkeit war er am Historischen Seminar der Universität Halle länger präsent als viele der dortigen Ordina- rien. 1905 wurde ihm „in Anerkennung seiner wissenschaftlichen Leistungen“ der Professoren- titel verliehen, 1921 folgte die Ernennung zum außerordentlichen Professor.4

Z ur Konversion von Ruvilles 1909 trat Albert von Ruville zum Katholizismus über. Diesen Konfessionswechsel teilte er am 8. März 1909 dem Rektor der Universität der „Königlich vereinigten Friedrichs-Universität Hal- le-Wittenberg“ mit.5 In den Fakultätsakten ist keinerlei Kommentar zu diesem Schritt zu fi nden. Erst im Dezember 1909, vermutlich aufgeschreckt durch einen Hinweis in der Saale-Zeitung, der

1 Genealogisches Taschenbuch der Adeligen Häuser, Gotha: Perthes 1930, S. 705. 2 Albert von Ruville: Aufl ösung des preussisch-englischen Bündnisses im Jahre 1762 nach archivalischen Quellen bear- beitet. Dissertation Berlin 1892. Unterlagen zu seiner Promotion im Universitätsarchiv der Humboldt-Universität zu Berlin, Phil. Fak. Nr. 309. 3 Albert von Ruville: Die kaiserliche Politik auf dem Regensburger Reichstag von 1653 / 54, Berlin: J. Guttentag 1896. 4 Universitätsarchiv Halle PA 13 442. 5 Ebd. 228 Angelika Schaser wohl das Manuskript der im Januar 1910 von Albert von Ruville publizierten Bekenntnisschrift Zurück zur heiligen Kirche. Erlebnisse und Erkenntnisse eines Convertiten6 vorlag, empörte sich der Kurator der Universität Halle gegenüber dem Wissenschaftsministerium über die in diesem Buch enthaltene „Herabziehung des Protestantismus und der Reformatoren“.7 Diese Publikation lenkte die Aufmerksamkeit der Öff entlichkeit auf die Konversion des Historikers. Im Februar 1910 wur- de Albert von Ruville in das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung nach Ber- lin bestellt, da der Verlag mit dem Hinweis auf den Autor einer „protestantischen Universität“ für den Konversionsbericht Werbung machte. Albert von Ruville soll versichert haben, dass die- ser Prospekt ohne sein Wissen gedruckt worden sei und veranlasste umgehend eine Änderung des Werbetextes.8 Während die Universität den Konfessionswechsel als Privatangelegenheit behandel- te und auf die liberale Tradition der Hallenser Universität bezüglich der Konfessionsangehörigkeit ihrer Dozenten verwies, erregte der Übertritt von Albert von Ruville über die Stadt Halle hinaus großes Aufsehen. Von Dezember 1909 bis in den Februar 1910 berichteten die Zeitungen über die Konversion von Ruvilles, am 24. Februar 1910 fand anlässlich der Publikation des Konversions- berichts sogar eine Versammlung evangelischer Bürger statt, auf der gemahnt wurde, „alle deutsch und evangelisch gesinnten Bürger [mögen] sich zusammenschließen im Evangelischen Bund zur Wahrung der deutsch-protestantischen Interessen.“9 De r Bibliothekar Dr. Conrad beendete sei- ne Vorstellung der Ruvilleschen Schrift auf dieser Versammlung mit dem Satz: „Hier redet ja gar nicht Ruville, hier redet ja lediglich ‚die heilige Kirche‘!“10 Die evangelische Presse, der Evangeli- sche Bund und die Universität verfolgten die Strategie, klarzustellen, dass von Ruville weder Mit- glied der Philosophischen Fakultät noch Inhaber eines Lehrstuhls sei und vereinbarten bald, dass der Fall am besten totgeschwiegen werden sollte. Mehrere Gegenschriften erschienen, vereinzelt wurde die Entfernung des katholischen Historikers von der Hallenser Universität gefordert.11 Hohe Wellen schlug dann noch einmal eine Rede Albert von Ruvilles auf dem Katholikentag in Mainz im August 1911. Vor großem Publikum und mit großer Resonanz in den katholischen und nichtkatholischen Medien sprach

6 Albert von Ruville: Zurück zur heiligen Kirche. Erlebnisse und Erkenntnisse eines Convertiten, Berlin: Hermann Walther Verlagsbuchhandlung 1910. Für die digitale Quellenedition wurde die 10. – 12. Aufl age aufbereitet: Albert von Ruville: Zurück zur heiligen Kirche. Erlebnisse und Erkenntnisse eines Convertiten. 10. – 12. Aufl ., Berlin: Hermann Walther Verlagsbuchhandlung 1910. Der Konversionsbericht soll in acht Sprachen übersetzt worden sein und ist in sehr hohen Aufl agenzahlen verbreitet worden. (Vgl. Wilhelm Kosch: Das katholische Deutschland. Biographisch- bi- bliographisches Lexikon, 3. Bd., Augsburg: Haas & Grabherr, 1933 – 1938, Sp. 4118). Englische und französische Aus- gaben konnten verifi ziert werden. 7 Universitätsarchiv Halle PA 13 442. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Hermann Klingebeil: Ein bestechender Irrtum und sein Opfer! Des zum Katholizismus übergetretenen Univ.-Professors Dr. v. Ruville Buch: „Zurück zur heiligen Kirche“ mit einem heiteren und einem tränenden Auge betrachtet von Her- mann Klingebeil, Leipzig: C. Schneider 1910; Josef Leute [ehem. Katholischer Pfarrer, der zum Protestantismus konver- tiert war]: Im Banne Roms, Berlin: Warneck 1910; H[ans] Meinhof [Pastor an St. Laurentius in Halle a. S.]: Vorwärts zum Glauben! Eine evangelische Antwort auf die Schrift des Herrn Professor Dr. von Ruville „Zurück zur heiligen Kir- che“, Berlin: Warneck 1910. [Hans Meinhof war Pfarrer der Gemeinde, der Ruville bis zu seiner Konversion angehör- te und kannte ihn off ensichtlich persönlich]. Aus katholischer Sicht zur Konversion von Ruville: Georg Reinhold: Was lehrt uns der Übertritt Ruvilles? Ein Büchlein zum Nachdenken für jeden gläubigen Christen, Wien: Walther 1910. Textauszüge aus

Albert von Ruville

Zurück zur heiligen Kirche. Erlebnisse und Erkenntnisse eines Convertiten, 10. – 12. Aufl . Berlin 1910 244 Albert von Ruville

Schreibmotivation [S. 3] Mein Uebertritt zur katholischen Kirche hat sicherlich viel Verwunderung hervorgerufen und manche abfällige Beurteilung erfahren, wie jedes Ergebnis einer verborgenen Entwicklung, das unvermutet zutage tritt. Ich darf dagegen nicht gleichgültig sein, fühle mich vielmehr verpfl ichtet, nunmehr auch zu berichten, wie es dazu gekommen ist. Angenehm ist es ja nicht, solche inneren E rlebnisse der Oeff entlichkeit preiszugeben, so viel von sich selbst zu sprechen. Darum habe ich mich darin möglichst kurz gefaßt und lieber jenen E r kenntnissen breiteren Raum gewährt, die ich dabei gewonnen habe. Es ist kein theologisches Werk, kein katholisches Lehrbuch, das ich biete – dazu fühle ich mich als Geschichtsforscher nicht befugt –, sondern nur eine schlichte Wiedergabe des Bildes, in dem sich mir die katholische Kirche auf Grund von Erfahrung, Anschauung und Studium darstellt. Beweggründe für die Konversion [S. 7] Wer eine wichtige, für sein Leben entscheidende Handlung vollzogen hat, der legt sich wohl noch einmal, vielleicht auch öfters, die Frage vor, ob er recht oder unrecht, klug oder töricht daran getan, den Schritt zu vollziehen. Er wägt die inneren und äußeren Folgen ab, die daraus entspringen können. Als ich zum katholischen Glauben übergetreten war – gewiß eine Wendung von höchster Tragweite –, da blieben solche Ueberlegungen ausgeschlossen, nicht bloß die weltlich-praktischen, die selbstverständlich völlig außer Betracht blieben, sondern auch die sittlichen, die Gewissenszweifel. Der Grund dafür war das bestimmte Gefühl, daß ich den einzig möglichen, den einzig off enen Weg gegangen war, den es überhaupt für mich gab. Es hätte gar nicht in meiner Macht gestanden, eine andere Richtung einzuschlagen. Religiöse Erziehung, religiöses Empfi nden [S. 8– 9] Im protestantischen, aber streng positiven Glauben erzogen, habe ich nichtsdestoweniger alle Stadien durchgemacht, die ein zur Selbständigkeit neigender jugendlicher Geist durchzumachen pfl egt. Erst Zweifel an den eingeprägten Lehren, dann materialistische, pantheistische, modernistische Gedanken in buntem Wechsel ohne rechte Klarheit, dabei aber immer ein Untergrund von echtem, positivem Glauben mit gewohnheitsmäßiger, nicht unaufrichtiger Glaubensbetätigung. Letzten Endes sagte mir dieser doch immer am meisten zu, so daß ich ihn, wo er bestritten wurde, oft aufs lebhafteste vertrat. Auch kamen Zeiten hochgesteigerten religiösen Empfi ndens, bereits verbunden mit einer Hinneigung zum katholischen Kultus, wie sie sich in meinem starken Interesse für Dantes Divina Commedia und einem darauf fußenden dichterischen Versuche andeuteten. Gehässige Angriff e auf die katholische Kirche waren mir zuwider, wenn ich auch überzeugt blieb, daß ihr schwere Irrtümer innewohnten. Ein Verständnis für ihren Lehrgehalt vermochte ich in jener Zeit noch keineswegs zu gewinnen. Dazu fehlte noch die rechte Grundlage, die feste Ueberzeugung von den christlichen Hauptwahrheiten. Auseinandersetzung mit dem Protestantismus [S. 12] Ich besaß echten christlichen Glauben, ich besaß christliche Wahrheiten und meinte d i e Wahrheit selbst, die ganze Wahrheit gefunden zu haben. Nun bemühte ich mich, Textauszüge aus Zurück zur heiligen Kirche (1910) 245

alle Folgerungen daraus zu ziehen, mein ganzes Leben danach einzurichten. Meinem lebhaften Drange nach warmer, beständiger Gottesverehrung suchte ich Genüge zu tun. Da erlebte ich aber manche Enttäuschung. Daß ich meinen häufi gen Kirchenbesuch in nächster und fernerer Umgebung getadelt, bisweilen scharf verurteilt fand, wunderte mich weiter nicht. Wer selbst des Glaubens ermangelte, der mußte das ja unverständlich fi nden, besonders von einem Gelehrten. Aber befremdlich war es mir doch, daß auch fromme Protestanten darin eine Uebertreibung sahen, und mehr mit meinen Gegnern sympathisierten. [S. 13] Das wurde mir nicht gesagt, aber ich fühlte es wohl heraus. Weiter empfand ich den Mangel an ausreichender Gelegenheit zum Kirchenbesuch. Außer dem in der Hauptsache nur Sonn- und Feiertags stattfi ndenden Gottesdienst blieb die Kirche verschlossen. Die Bibelstunden waren zu lehrhaft, wurden auch bald aus der Kirche hinaus verlegt. Andere Uebungen gab es nur selten, und auch hier überwog die Lehre, die Predigt, nach der ich das geringere Bedürfnis spürte. Nicht als ob ich die Predigt mißachtet hätte. Ich erfreute mich ausnehmend daran, umso mehr, als in meiner Gemeinde hervorragende, wahrhaft fromme Geistliche wirkten. Aber das genügte doch nicht. Gemeinsame Gottesverehrung, gemeinsames Gebet in schönen, feierlichen Formen, das war es, wonach ich dürstete, und das wurde mir nur sehr kärglich geboten im Vergleich mit dem Unterricht von der Kanzel. Und selbst bei der Lithurgie, die ich stets als die Hauptsache ansah, hatte ich das unbestimmte Gefühl, daß sie eines gottesdienstlichen Kernes ermangelte. Sie enthielt doch schließlich nur willkürlich zusammengestellte Gebete und Lesestücke, die wohl, einzeln betrachtet, hohen Wert besaßen, aber in dieser Zusammenfassung nichts Besonderes zu bedeuten hatten. Etwas Surrogatartiges haftete ihr an, ohne daß ich erkennen konnte, für was sie Ersatz bieten sollte. Oft beneidete ich die Katholiken um ihren reich ausgestatteten Kultus, besonders um die tägliche Frühmesse, die ich im Ausland wohl einmal besuchte. Ich hielt es aber für unmöglich, den katholischen Glauben anzunehmen, den ich im ungünstigsten Lichte zu sehen von Jugend auf gewöhnt worden war. Freilich bot ja die Kirche noch mehr als den Predigtgottesdienst mit seinem Beiwerk. Sie spendete Sakramente, die Taufe, das Abendmahl. Aber, ganz aufrichtig gesagt, ich habe Sinn und Bedeutung dieser Handlungen aus den protestantischen Lehren nie recht erfassen können, trotz aufrichtigen Bemühens, trotz des Willens zum Glauben. [S. 14] Namentlich das Abendmahl wollte und wollte nicht über den Standpunkt eines frommen Gedächtnismahles hinauskommen, durch das kein wesentlich näheres Verhältnis zu Christus begründet wurde, als durch das tägliche Gebet. Die Andacht war wohl gesteigert und daher ließ sich eine höhere Segenswirkung erwarten, aber für besondere außerordentliche Gnaden vermochte sie mir keine Gewähr zu bieten. Alle Darlegungen in theologischen Schriften blieben mir geistvolle Betrachtungen ohne rechten greifbaren Gehalt, ohne solide Untermauerung. [S. 15] Das Abendmahl hatte nur Wert und Wirkung, weil ich seine Bedeutung, seine Beziehung zu Jesus überdachte, ein Umstand, der durch stete Beifügung einer Rede seine Bestätigung erhielt. Das viele Predigen bei jeder Gelegenheit, auch bei lithurgischen Gottesdiensten,