Feuilleton MITTWOCH, 1
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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MITTWOCH, 1. APRIL 2015 · NR. 77 · SEITE 9 Covergrusel Kopftuchzwang as Großraumabteil im Intercity D ist fast leer; es besteht also kein nen durften und ihre Männer Wohnung, Grund, sich an den Tisch zu setzen, an Was hat das Bundes- Auto und Familienhochzeiten nicht allein dem eine Frau von etwa dreißig Jahren verfassungsgericht mit finanzieren können. Wer behauptet, das döst. Aber auf diesem Tisch liegt eine Kopftuchurteil ebnete Frauen den Weg in Zeitschrift, die den Blick des eben Ein- seinem Urteil, das Lehre- den Schuldienst, ist zynisch. gestiegenen beim Vorbeigehen anzieht Wenn jetzt noch der Druck auf die Mäd- wie ein Unfall. Denn das Titelbild die- rinnen zubilligt, Kopf- chen durch Lehrerinnen, die offensiv das ser Zeitschrift zeigt ein fürchterliches islamische Frauenbild demonstrieren, zu- Wesen: Wie mit schlecht gewordenem tuch zu tragen, getan? nimmt, wird ein weiterer Weg in die Selb- Geld abgerieben steht es da, trübäugig, Es wirft den Kampf ständigkeit verwehrt. Die Eltern werden verkniffen eitel, in selbstgefälliger sagen: „Kleide dich anständig wie deine Pose, die fast vornüberkippt vor lauter muslimischer Frauen Lehrerin.“ Gestärkt wird das kollektive echtblütiger Abstammung von gegen- muslimische Selbstverständnis, das sich in kulturellem Rebellenadel, jung nur aus um Selbstbestimmung der Koran-Sure 3, Vers 110 ausdrückt: „Ihr Trotz gegen die biologische Alterung auf fatale Weise zurück. (Gläubigen) gebietet, was recht ist, und wie gegen alle Tatsachen überhaupt, verbietet, was verwerflich ist.“ die es mit den Menschen verbinden „Ein von der Lehrerin aus religiösen könnten, denen von diesem Bild zuge- Von Necla Kelek Gründen getragenes Kopftuch kann aller- mutet wird, das Wesen zu bewundern, dings deshalb besonders intensiv wirken, die Haare nach nirgends gebürstet, aus- weil die Schüler für die gesamte Dauer des staffiert mit Klamotten, die den Stra- s ist paradox. Viele Kommentato- Schulbesuchs mit der im Mittelpunkt des ßenstil von Straßen feiern, die in die ren meinen, das Kopftuch sei Unterrichtsgeschehens stehenden Lehre- pure Dummheit führen, ins Land der zwar ein „religiöses Zeichen“, rin ohne Ausweichmöglichkeit konfron- profipubertären Lüge. Das Bild wirbt aber „kein gefährlicher Stoff“. Es tiert sind.“ Das schrieb 2003 das Bundesver- für eine Platte, ist aufreizend reizlos E fassungsgericht zu seinem damaligen Kopf- sei ganz im Gegenteil ein Zeichen dafür, und so blöd, dass es schon richtig böse tuchurteil. Eine Lehrerin mit Kopftuch ist wie tolerant und stark unsere Gesellschaft ist, aber dann doch auch wieder nicht ein stummes, aber beredtes Zeichen, dass böse genug, dass es wenigstens gefähr- ist, was sie alles aushält. „Ein guter Tag für die islamischen Normen Geltung haben. die Religionsfreiheit“, jubelte der Grünen- lich wäre. Der eben Eingestiegene, der Wieso das Gericht seine Meinung geändert Jahre seines Lebens zwischen Verstär- Politiker Volker Beck. Zudem werde der hat, ist nicht nachzuvollziehen. Weg frei, sagen die Befürworter, dass mus- kerboxen, in Plattenläden und bei der Das aktuelle Urteil fällt der Integration Lektüre solcher Zeitschriften ver- limische Frauen in Schulen nicht nur als und der Emanzipation junger muslimischer Putzfrauen, sondern auch als Lehrerinnen Frauen in den Rücken. Die Klägerinnen, bracht hat, setzt sich hin, direkt gegen- arbeiten könnten. Das Kopftuch als Zei- wie schon 2003 das ehemalige Vorstands- über der Frau, die ihr Nickerchen hält, chen der Emanzipation. Wenn es nicht so mitglied der „Muslimischen Jugend in weil sie sich davon erholen muss, diese absurd wäre, könnten wir darüber lachen. Deutschland“, Fereshta Ludin (siehe unten- Zeitschrift gekauft zu haben. Der eben Ich bin in der Türkei geboren, und eine stehenden Artikel), finden sich samt Unter- Eingestiegene stellt im Sitzen fest, dass der großen Errungenschaften der Türkei stützern im Umfeld oder direkt in den politi- das Heft, von ihm aus gesehen, jetzt Atatürks war es, das Kopftuch aus Behör- schen Islam-Verbänden wie „Milli Görüs“. auf dem Kopf steht. Seine Hand will da- den, Schulen und Universitäten zu verban- Diese Verbände verfolgen eine Strategie: nach greifen, er will die Zeitschrift um- nen. Es war im zwanzigsten Jahrhundert Sie versuchen, über Musterprozesse ihre drehen und anstaunen. Von genauerer ein Zeichen der modernen türkischen Vorstellung vom religiösen Leben als Norm Betrachtung erwartet er eine Offenba- Frau, dass sie ihre Haare offen trug und durchzusetzen. Ein Urteil hat für diese Ver- rung, die sein falsches bisheriges Da- rauchte. Bis zur Regierungsübernahme bände so viel Nutzen wie ein Gesetz. Sie sein zunichtemacht und ihn entweder durch Erdogans AKP war etwa die Hälfte werden wie beim Schwimmunterricht mit erlöst oder zerstört. Er streckt die der türkischen Frauen erwerbstätig, das Klagedrohungen das Kopftuch an Schulen Hand aus. Die Frau wacht auf. Sie blin- Kopftuch wurde vorwiegend auf dem Lan- durchsetzen. Vor allem an Schulen, auf die zelt schläfrig. Sie betrachtet den Mann, de getragen. Inzwischen tragen fast zwei mehrheitlich muslimische Schüler und der die Hand zurückzieht. Sie betrach- Drittel der türkischen Frauen den Schleier, Schülerinnen gehen, werden in absehbarer tet die Zeitschrift, dann wieder den ihre Erwerbsquote ist auf 22 Prozent gesun- Zeit Kopftücher das Bild bestimmen. Mann und sagt: „Eklig, was?“ Der ken. Auch Lehrerinnen dürfen heute in der Zu kritisieren ist auch, dass sich das Mann schluckt und nickt ertappt. Die Türkei das Kopftuch tragen. Ein Schelm, Bundesverfassungsgericht in eine inner- Frau sagt: „Kennen Sie das, wenn man wer den Zusammenhang nicht sieht. islamische Debatte einmischt. Drei Vier- Teenager ist und sich entscheidet, ich Ich bin seit Jahren ehrenamtlich in Mäd- tel der muslimischen Frauen in Deutsch- will ab jetzt Techno-Mädchen sein chenprojekten in Berlin-Neukölln tätig. land tragen kein Kopftuch. Zwischen den oder Rockerin oder Hip-Hop-Frau?“ Die Vereine organisieren Nachhilfe und Vertretern des konservativen Islams der „In männlich, ja“, gesteht er. Sie er- Nachbarschaftstreffen. Der Druck auf die Verbände und den unorganisierten säkula- klärt: „Dann liest man die Fachpresse jungen Frauen durch ihre Familien und die ren Muslimen besteht Uneinigkeit dar- wie verrückt, ein paar Monate lang, muslimische Community, sich entspre- über, ob das Kopftuch tatsächlich der Pro- und kopiert alles, was man da sieht, chend den islamischen Sitten zu verhalten phetentradition zuzurechnen oder nur ein richtig?“ Er stimmt zu; so hat er das und zu kleiden, hat stark zugenommen. Die Relikt des immer noch herrschenden Patri- vor zwanzig Jahren auch gemacht. Sie Mädchen möchten eine Ausbildung, sie archats ist. Das Gericht darf sich in diese sagt: „Ich glaube, von dreißig an muss Auseinandersetzung nicht einmischen; es wollen selbständig werden und über ihr Le- man es umgekehrt machen. Man muss sollte den säkularen Staat stärken und die ben bestimmen, aber es wird ihnen ver- sich Bilder besorgen, die zeigen, was wehrt. Sie werden keine Lehrerinnen, weil Schwachen, in diesem Fall die Grundrech- man nicht werden wollen darf.“ Sie sie meist gar nicht die Schule beenden kön- te von Frauen und Mädchen, schützen. nickt der Zeitschrift zu. Sie nickt dem nen, sondern vorher verheiratet werden. Necla Kelek, geboren 1957 in Istanbul, lebt seit Mann zu. Es wird ein sehr nettes Ge- Sie werden Putzfrauen, weil sie nichts ler- Foto Dave M. Benett ihrer Kindheit in Deutschland. Sie ist Soziologin. Sind da Ameisen im Teppich? Damon Albarn, Dave Rowntree, Alex James und Graham Coxon sind Blur. spräch. Sie steigt in Fulda aus. Er hat ihren Namen nicht erfahren. Sie hat sein Leben gerettet. dda Kopftuchidentität Diese Band ist noch nicht am Ende Streiterin vor Gericht: Fereshta Ludins Autobiographie Zeitgeschichte im Songformat: Nach zwölf Jahren kommt ein neues Album von Blur Vielsprachig Lindgren-Preis belohnt Über Fereshta Ludin ist im Laufe der Jah- übertriebenes Hübschmachen für „frem- Nadelstiche haben sie immer wieder ge- zerbrochen klingenden „Battery in Your Tatsächlich beginnt das neue Album re viel geschrieben worden, und über de Männer“ empfand, und andererseits setzt. Zum Beispiel, als sie 2009 beim Leg“ die Frage, was nach solcher Trauer- geschichtsbewusst: Das Eröffnungsstück Leseförderung in Südafrika vieles hat sich die Frau, die bis vor das dem vollständigen Verhüllen von Kopf Glastonbury-Festival auftraten, dem bri- musik eigentlich noch kommen sollte. „Lonesome Street“ knüpft hörbar an die Bundesverfassungsgericht zog, um auch und Körper unter schwarzen Gewändern, tischen Woodstock sozusagen: große „No Distance Left to Run“ hieß dann folg- psychedelische Frühphase der Band rund Die südafrikanische Organisation als Lehrerin ein Kopftuch tragen zu dür- wie es für saudische Frauen üblich war. Nostalgieshow der neunziger Jahre, bei lich auch eine Filmdokumentation, die um „She’s so High“ an, es quäkt ein „Praesa“ erhält den diesjährigen fen, geärgert. Warum sie sich das eigent- Als Ludin mit ihrer mittlerweile verwitwe- der mit den Discobass-Oktaven am An- den Titel des Songs auf die Geschichte froschartiger Synthesizer dazu. „If you Astrid-Lindgren-Preis. Das teilte die lich antue, sei sie oft gefragt worden, die ten Mutter 1986 zurück nach Deutschland fang von „Girls and Boys“ sofort die Mas- der ganzen Band übertrug: ein Abgesang. have nobody left to love / I’ll hold you in Jurysprecherin, die schwedische Lite- Prozesse und die vielen Interviews. „Ich zog, hatte sie das Kopftuch also