Donnerstag 29. August 2013 Kultour 33

Aufgefallen Prototypen Beziehungsprobe am Berg des Punk ROMAN Ein Mann, eine Frau sie in Andrés ungeduldigem Bei- nigt André, vom einschiessen- ren scheitern. Nicht so der 35- KONZERT Nur schon wegen und ein Berg: In diesem ver- sein provokativ langsam ein den Adrenalin getrieben, vom jährige Roman Graf. Seine Spra- ihrer Hymne «» hängnisvollen Dreieck erzählt Croissant vertilgt. Testosteron, berauscht von der che ist klarer und schärfer ge- zählen zu den Roman Graf eine Geschichte eigenen Kraft und der Erinne- worden, fast kristallin. So wird Legenden des Punkrock. Dass mit starker Sogwirkung. Bekanntes Motiv rung an die Pfadfinderabenteuer sein (Anti-)Held nach und nach sie mehr zu bieten haben, wer- Mit seinem Zweitling trotzt Die Erprobung von Beziehungen seiner Jugend. Nüchtern, ja fast transparent: Der Weg zum Gip- den die Iren am Sonntag an- der preisgekrönte Winter- am Berg ist ein altbekanntes lite- grausam präzise beschreibt der fel enthüllt das Psychogramm lässlich eines Auftritts im Ber- thurer Autor drohender Ab- rarisches Motiv, das Roman Graf eines sturen, unbelehrbaren ner ISC in Erinnerung rufen. sturzgefahr. gekonnt in die Jetztzeit trans- Mannes, der gegen sich selber portiert. Dabei hat er es nicht kämpft. «André beschloss, wei- «Wenn ich diesen Song im Radio Der Mann heisst André, ist nötig, von todesmutigen Free- ter zu klettern. Er durfte nicht spiele, muss ich ihn in den Anfang Schweizer und lebt in Berlin. Die ridern oder Transzendenz su- ins Zaudern geraten; Zaudern, einer anderen Platte überblen- Frau heisst Louise, kommt aus chenden Barfusskletterern zu Unentschiedenheit – das war den, weil ich nicht mehr spre- dem Osten Deutschlands und erzählen. Ihm genügt ein sim- der Tod. (...) Und er schwitzte in chen kann, wenn ich ihn gehört lebt ebenfalls in Berlin. Der Berg pler, linear erzählter Hand- Autor seiner Jacke, schwitzte, weil die habe», beschrieb der legendäre hat in diesem Buch keinen Na- lungsstrang: die Wanderung ei- Roman Graf Sonne ihn anstrahlte, schwitzte DJ John Peel die Wirkung seines SIBYLLE BERG men, steht in der Schweiz und nes jungen Paars, das von Hö- vor Angst, und auch die Hände, Lieblingslieds von den Underto- gilt unter Alpinisten als an- henmeter zu Höhenmeter wei- Autor Andrés körperliche Emp- die Finger waren feucht. Sie zit- nes. «Teenage Kicks» war die de- Eigentlich müssten wir Sibylle spruchsvoll. André und Louise ter auseinanderfällt. «‹Warum findungen, die Lust und den terten und versprachen nur we- finitive Punkhymne über juveni- Berg lieben. Denn Sibylle Berg haben in Berlin klettern geübt, läufst du nicht mit mir?› fragte Schmerz, die mit zunehmender nig Halt.» le Sexträume und kaum zu kon- liebt uns auch. «Angenehmere in der Halle. Jetzt will André sei- er, als sie bei ihm angekommen Anstrengung eins werden – und Gnadenlos treibt der Autor trollierende Hormonschübe. Mit Menschen als in der Schweiz ha- ner Freundin die Schönheit und war. ‹Warum lässt du dich stän- die Wut über Louises Verweige- den Protagonisten in die Höhe, ihren aufs Minimum reduzierten be ich noch nirgends gefunden», Wildheit der heimischen Berge dig zurückfallen, als gehörten rung, ihren vorzeitigen Abstieg. treibt es auf die Spitze mit ihm, Pop-Hooks und der auf den (Hö- schreibt die Wahlschweizerin in in natura zeigen und nimmt sie wir nicht zusammen?› Das habe auf den Gipfel, wo ein apokalyp- he-)Punkt gebrachten Botschaft einer ihrer Kolumnen. Wir seien mit auf eine mehrtägige Tour. sie gar nicht bemerkt, antworte- Klare Sprache tisches Gewitter niedergeht – war «Teenage Kicks» nicht nur leise, ruhig, und verglichen mit Schon auf den ersten Seiten ahnt te Louise und fügte an, sie müsse Mit seinem ersten Roman «Herr Kulisse albtraumartiger Hallu- für John Peel «die beste Platte al- anderen Ländern herrsche hier man, dass die beiden an ihre ihr eigenes Tempo finden.» Blanc» hat der Schweizer Autor, zinationen. In den luziden Mo- ler Zeiten». Die Undertones «die grösstmögliche Abwesen- Grenzen und an die Grenzen ih- Louise kämpft sich widerwil- der in Leipzig am Literaturinsti- menten, die ihm bleiben, kommt stammten aus der nordirischen heit von Angst... ausser der Sor- rer Beziehung kommen werden. lig die Hänge hoch und denkt tut studierte und heute in Berlin André zur Einsicht, spät, viel- Stadt und liessen sich für ge, anderen auf die Nerven zu Denn beim Start frühmorgens dabei, wie schön es wäre, in ei- lebt, 2009 Furore gemacht. Doch leicht zu spät. ihren Gitarrensound von den gehen». Wahrscheinlich, weil die nieselt es, der Berg ist in Nebel nem sommerwarmen See zu ba- je mehr Preise ein Erstling ein- Tina Uhlmann amerikanischen Garagenbands Schweiz von den Kriegen im letz- gehüllt, und Louise will bereits den – einem See wie in ihrer bringt, desto höher sind auch der Sixties beeinflussen, wie sie ten Jahrhundert verschont ge- nach drei Minuten die erste Pau- Heimat, der Mecklenburgischen die Erwartungen an das zweite Roman Graf: «Niedergang». der spätere Patti-Smith-Beglei- blieben sei und weil das Land so se machen – in einem Café, wo Seenplatte. Derweil beschleu- Buch, an dem viele junge Auto- Knaus, 204 Seiten. ter Lenny Kaye auf seinem Samp- klein sei, dass man «davon aus- ler «Nuggets» zusammengetra- gehen muss, jeden mindestens gen hatte. zweimal in seinem Leben zu treffen». Raffinierter Punk Nach dem Triumph von «Teen- Die Kolumne trägt den Titel age Kicks» entwickelte sich das «Wenn die Welt untergeht, gilt Quintett um den Sänger Feargal das auch für die Schweiz?» und Sharkey und die gitarre- ist nur eine von vielen Fragen, schrummenden Gebrüder John die die Autorin seit 2011 auf und Damian O’Neill rasch zu ei- «Spiegel online» beantwortet ner grossformatigen Punk-Pop- und die nun in Buchform er- schienen sind. Da werden Dinge erläutert wie: «Warum werde «‹Teenage Kicks› ich jedes Jahr an meinem Ge- burtstag trauriger?» und «War- war die definitive um muss, was einmal als Liebe Punkhymne über begann, immer in Form schwei- juvenile Sexträume gender alter Paare an Restau- ranttischen enden?» oder «Ich und kaum zu habe mitunter Probleme, meine kontrollierende Freizeit zu gestalten. Ist das schlimm?» Hormonschübe.»

Die oben aufgereihten Titel ver- anschaulichen den Fokus von Combo im Stil der Ramones wei- Berg. Sie beantwortet Fragen, ter, die eingängige Refrains mit die manch einer sich insgeheim lyrischer Raffinesse kombinier- durchaus stellen mag, auf die er te. Alben wie «The Sin of Pride» sich bisher aber keine Antwort Eine gemeinsame Wanderung wird für die Protagonisten in Roman Grafs Zweitling «Niedergang» zur grossen Bewährungsprobe. zvg zeigten die Undertones als ge- erhoffte. Nun gibt es Antworten reifte Band, die den Sound der – und was für welche. Denn Si- frühen 1980er-Jahre wesentlich bylle Berg ist nicht auf den Mund mitprägte. gefallen. Die 51-jährige Autorin Doch Journalistenjubel und schreibt gegen Wettbewerbs- Kultstatus bezahlen keine Rech- denken, Fremdenhass und An- Messias am Mount Everest nungen. 1983 warfen die Under- onymität und für Toleranz, Ei- tones das Handtuch. Sänger genständigkeit und Liebe. Sie ROMAN Halb Abenteuerro- mulierungsfallen, ohne gleich nas und sein geliebter, geistig zu- losophischen Ansätze, die Jonas’ machte sich auf macht das so furios, als schriebe man, halb Erweckungsge- wichtigtuerisch zu literarisieren. rückgebliebener Zwillingsbruder Sinnsuche begleiten, und trotz zu einer Solokarriere, wo er sich sie um ihr Leben, bleibt aber schichte: Der österreichische Seine Sprache hat Rhythmus, Mike wachsen bei ihrer versoffe- einiger magisch-schöner Stellen, als New-Wave-Version von Rod dennoch leichtfüssig und selbst- Literat Thomas Glavinic holt liest sich schnell, klingt lässig, nen Mutter in einem kleinen Ort an denen sich Vergangenheit, Ge- Stewart verkaufte, die O’Neill- ironisch. Und bewahrt sich vor mit «Das grössere Wunder» locker. Bloss: Ein souveränes in Österreich auf. Alles ändert genwart und Zukunft schon beim Brüder gründeten die Band That allem einer Aufmüpfigkeit, die zum noch grösseren Wurf aus Sprachgespür alleine macht noch sich, als Jonas vom brutalen Bett- Anblick einer simplen Zimmer- Petrol Emotion, die vom Schwei- ansonsten Teenagern vorbehal- und landet prompt in der Aus- keinen grossen Roman. gefährten seiner Mutter kran- decke ineinander aufzulösen zer Roli Mosimann (u.a. The ten ist. wahl zum Deutschen Buch- kenhausreif geprügelt wird. Pic- scheinen, hält der Roman dem Young Gods) produziert wurde. preis. Aber warum nur? Liebevolle Mafia co, der Grossvater von Jonas’ bes- Getöse vom «Schlüsselwerk», mit 1999 kam es zur Reunion der Un- Sibylle Berg darf das. Sie muss Die ungewöhnliche Lebensge- tem Freund Werner, nimmt die dem ihn der Hanser-Verlag be- dertones, die alle originalen sogar, denn auch wenn sich die Auf die Longlist des Deutschen schichte, von der Glavinic in «Das beiden Brüder bei sich auf. Auf wirbt, nicht stand. Bandmitglieder wieder zusam- Kolumnen locker lesen, ertappt Buchpreises hat es Thomas Gla- grössere Wunder» erzählt, ist seinem Anwesen werden sie von menbrachte – mit der Ausnahme fühlt sich jeder hin und wieder. vinic mal wieder geschafft. «Das ebenso unterhaltsam wie abwe- Privatlehrern unterrichtet. Jo- Flottes Beiwerk von Sänger Feargal Sharkey, der Ertappt und dann irgendwie auch grössere Wunder» zählt nach An- gig; der Stoff also, aus dem Gro- nas kapiert schnell, dass Picco, Ach ja, das halbe Buch spielt üb- durch den bühnenwirksamen erleichtert, dass es anscheinend sicht der Auswahljury zu den 20 schenromane gemacht sind. Jo- den alle nur «Boss» nennen, sein rigens während einer Expedition Paul McLoone ersetzt wurde. noch anderen Menschen genauso besten deutschsprachigen Ro- Geld nicht auf legale Weise ver- zum Gipfel des Mount Everest, an geht. Dass auch andere elf Mo- manen des Jahres. Dass der Blick dient. Es stört ihn wenig. Jeder, der Jonas in der Erzählgegenwart Das Original im ISC nate arbeiten wie verrückt, und auf die Auswahllisten des Buch- der sich an den Jungs vergreift, teilnimmt. Seine abenteuerliche Seither sind die Undertones wie- dass es normal ist, dass die lange preises das literarische Schaffen verschwindet spurlos und hat es Biografie, in der ihm ein mächti- der unterwegs auf Festivalbüh- ersehnten Ferien dann doch des gebürtigen Grazers wie ein nicht anders verdient. So zumin- ger Japaner die verrücktesten nen und machen gelegentliche nicht so sind, wie man sich das Running Gag begleitet, muss sich dest die plumpe Moral des Ro- Wünsche erfüllt und eine schöne Abstecher ins Studio. Nun ma- erhofft hat. der 41-Jährige gefallen lassen, mans, der die Mafia von ihrer Norwegerin ein gigantisches chen die Punkprototypen über- seit er sich 2007 in seiner Medi- liebsten Seite zeigt. Piccos Haus- Baumhaus baut, wird ausgehend raschend auf der engen Bühne Ja, eigentlich müssten wir Si- ensatire «Das bin doch ich» dar- und-Hof-Killer Zach würde man davon in Rückblenden erzählt. des Berner ISC halt, wo im Laufe bylle Berg lieben. Aber die Au- über ausliess, wie gerne er mal zu sichalsgrossenBruderwünschen. Die gut recherchierten Bergstei- der Jahre schon diverse Cover- torin weiss auch: «Obwohl die den Auserwählten gehören wür- Irritierend eindimensional gerkapitel lesen sich flott und versionen von «Teenage Kicks» Schweizer keine Angst vor Frem- de und dann tatsächlich in der und pathetisch (über)zeichnet nett. Man kann sie freilich genau- erschallt sind. Die Schweizer den haben, so richtig lieb haben Shortlist der sechs Finalisten Glavinic seine Figuren. Werner: so gut überblättern. Letztlich Band Vorwärts, ebenfalls ein Ur- werden sie sie nie.» auftauchte. Nun also ist er erneut das Genie. Marie, die grosse Lie- sind sie bloss Beiwerk. gestein der Euro-Punk-Szene, Marina Bolzli mit von der Partie. Aber wieso ei- be: eine berühmte Sängerin. Und Stefan Volk sorgt für standesgemässe Ein- gentlich? Jonas selbst: eine esoterische stimmung. Samuel Mumenthaler Sibylle Berg: «Wie halte ich Klar, Glavinic kann schreiben. Mixtur aus Superheld und Mes- Thomas Glavinic: «Das grös- das nur alles aus?», Hanser Und wie! Scheinbar spielerisch Thomas Glavinic darf auf Deutschen sias. Trotz biblischer Anspielun- sere Wunder». Carl-Han- Konzert: The Undertones, Verlag, 153 Seiten. vermeidet er belletristische For- Buchpreis hoffen. Ingo Pertramer gen, trotz der interessanten phi- ser-Verlag. 524 Seiten. ISC, Bern, 1. 9., 20.30 Uhr.