Boulevardeskes Rotationsprinzip : va savoir von

Autor(en): Midding, Gerhard

Objekttyp: Article

Zeitschrift: Filmbulletin : Zeitschrift für Film und Kino

Band (Jahr): 44 (2002)

Heft 238

PDF erstellt am: 25.09.2021

Persistenter Link: http://doi.org/10.5169/seals-865464

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http://www.e-periodica.ch FILMBULLETIN 4.Q2 KINO IN ÄUGENHÖH

Boulevardeskes Rotationsprinzip va savoir von Jacques Rivette

Wahrheit und Es ist ein Gemeinplatz der Filmkritik, die Jugendlichkeit Lüge, erklärt zu loben, welche die Altmeister der Nouvelle Jacques Rivette vague mit jedem Film aufs neue unter Beweis stellen. kategorisch, Regelmässig regt sich in den Feuilletons das Erstaunen sind das eigentliche, über den ungebrochenen Elan und die ausdauernde Neugier ja, das Eric Rohmers (der über 80 ist) und Jacques Rivettes einzige Thema (immerhin auch schon weit über 70). Die Leichtfüssig- des Kinos. keit, mit der sie ihre jüngsten Filme inszeniert haben, verdankt sich aber womöglich vor allem dem Umstand, dass sie beharrlich ihren Themen und ihrem Stil treu geblieben sind. Ihre Entdeckerlust bleibt im Rahmen des Berechenbaren, die Spontaneität erfüllt sich in der Variation des Vertrauten, dem Perspektivwechsel. Ihnen eignet somit etwas durchaus Konservatives; was ihnen nichts von ihrem Wert nimmt. Auch va savoir verrät diese zweifache Lust des Entdeckens und Bewahrens; er ist Rivettes beschwingtes, ganz und gar nicht endgültiges Resümee dessen, was ihn seit mehr als vierzig Jahren umtreibt. Einmal mehr be- FILMBULLETIN <4.02 m

Rivette bevorzugt siegelt er das Bündnis zwischen Theater und Film, an verschiebt in der Bewegung sacht die Perspektiven, zieht halbnahe und dem er seit paris nous appartient beharrlich so etwa bei den Bühnenauftritten auch das Publikum mit halbtotale schmiedet. Regelmässig forscht er dabei nach deren hinein. Seine Kadrage gestattet den Figuren neben der Einstellungen, gemeinsamen Wurzeln: Wahrheit und Lüge, erklärt er zeitlichen auch eine räumliche Freizügigkeit, Rivette um der Präsenz kategorisch, sind das eigentliche, ja, das einzige Thema bevorzugt halbnahe und halbtotale Einstellungen, um der der Darsteller des Kinos. So findet neben dem Theater stets auch ein Präsenz der Darsteller einen Rahmen, einen Kontext zu einen Rahmen, Aspekt des Obskuren seinen Platz in Rivettes Filmen, die geben. einen Kontext Ahnung einer Verschwörung, einer geisterhaften Das Theatermilieu verführt Rivette nicht zum zu geben. Parallelhandlung. Meist nimmt sie die Form einer dramaturgisch gefälligen Spiel mit Illusion und Realität, er zeigt kein marginalen, aber kurios unverzichtbaren nachdrückliches Interesse daran, den Zuschauer auf eine Kriminalintrige an, die um das Rätsel der Vergangenheit oder falsche Fährte zu schicken, auf dass der verloren ginge der Beweggründe einer Figur kreist. zwischen den Ebenen des Schauspiels und der filmischer Rivettes Theaterliebe gilt in va savoir nicht allein Präsenz. Eingangs gibt es zwar kurze Augenblicke der dem Moment der Inszenierung, sondern der Erlebniswelt Irritation, ob die Schauspielerin Camille und ihr Partner der Schauspieler. Gewiss, das Bühnenstück, das im Ugo noch Bühnendialoge sprechen - oder ob ihre Worte Film aufgeführt wird, ist mit Bedacht gewählt: Pirandel- schon zur eigenen Figur gehören. Aber Rivette inszeniert los «Corne tu mi vuoi». Auch bei Pirandello geht es um dies nicht als Täuschungsmanöver, sondern als bruchlosen die Frage, wieweit die eigene Existenz, das eigene Wesen, Übergang. Er begreift das Spiel als durchgehendes durch den Blick der Anderen definiert wird. Aber über Lebenselement seiner Protagonisten. Bewundernswert, das Thema der Identität und Erinnerung hinaus muss wie behende die Cutterin Nicole Lubtschansky jedes Mal Rivette es nicht dramaturgisch dienstbar machen. Er den Übergang von der Bühne in die Garderobe bewältigt: gönnt sich vielmehr die Musse, seine Protagonisten so flugs und unauffällig, dass der Zuschauer stets einen einfach bei ihrer Arbeit zu betrachten, nimmt sich das Sekundenbruchteil länger für den Ortswechsel braucht. Privileg heraus, die Ereignisse und Figuren in einem mutig Die Orientierung ist ohnehin eine leise Sorge des entschleunigten Rhythmus sich entfalten zu lassen; Films. Camille verläuft sich anfangs unentwegt, aufund die Stille vor und nach den Dialogsätzen ist ihm ebenso jenseits der Bühne muss Ugo sie führen. Diese Motivkette teuer. (In der im April in Frankreich gestarteten setzt das Paris-Gastspiel der kleinen Turiner Langfassung des Films, va savoir +, nehmen die Theatertruppe bereits unter die Vorzeichen der Ungewissheit, Bühnensequenzen noch einen grösseren Stellenwert ein.) Das schafft ein Klima der Nervosität, das sich nicht allein Verstreichen der Zeit gehorcht in Rivettes Filmen stets, durchs Lampenfieber erklärt. Für Camille bedeutet das nicht nur im Reflex auf das Theater, einer eigenen inneren Gastspiel eine Rückkehr zum Schauplatz einer heftigen, Logik. Sie gibt seiner Form der Präsentation einen unglücklichen Liebe, vor der sie einst geflohen ist. Sie Gestus des asketischen, aber stolzen Ausstellens von zaudert, ob sie Pierre, den Mann von damals, aufsuchen Attraktionen. William Lubtschanskys Kamera ist agil,

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Die soll; die Kamera gerät in einen sanften Taumel, wenn sie mehr mit und Christine Laurent verfasst Kostümbildnerin zur Zeugin ihrer Selbstgespräche wird. hat, schickt sein Personal auf einen sanft melancholischen Laurence Struz Als sie sich doch ein Herz fasst, schiebt sie einen Parcours, der wie jeder Slapstick zielstrebig auf die kleidet Camille Liebesreigen an, der nach boulevardeskem Rotationsprinzip Katharsis zustrebt. Beharrlich, gleichwohl unaufdringlich, und Sonia sechs Personen zu drei Paaren in wechselnder hat sich das Buch bis dahin um die Symmetrie der bisweilen in die Konstellation zusammenfügt. Alle Beteiligten suchen Ereignisse und Gefühle gesorgt. Die Beziehung zwischen gleichen Farben; etwas, das unerreicht oder verloren scheint. Alsbald regen Camille und Ugo ist durchaus lesbar als die heitere Replik sie werden sich in dem Philosophiedozenten Pierre wieder die alten von Rivettes l'amour fou, wo ein Schauspielerpaar am Ende Gefühle, obwohl er glücklich mit der Tanzlehrerin Sonia während Proben qualvoll auseinanderbricht, aber die zu Komplizinnen. zusammenlebt. Camilles Lebensgefährte Ugo forscht clowneslcen Züge im Gesicht beider Hauptdarsteller nach einem verschollenen Goldoni-Stück und lernt in verraten schon, dass sie füreinander bestimmt sind. Beim einer Bibliothek die Studentin Dominique kennen, die Bühnenfinale setzt Rivette die romantische Symmetrie ihm bei der Suche hilft und sogleich munter mit ihm flirtet. schliesslich in ihr endgültiges Recht. Aber auch da bleibt Mit ihrem Halbbruder Arthur verbindet sie ein die Frage immer noch offen, worauf die ausgelassene, ungeklärtes, womöglich inzestuöses Verhältnis. Der wiederum entspannte Erzählhaltung dieses Films basiert. Ist es dem versucht, Sonias Herz und vor allem ihren kostbaren 73jährigen Regisseur gelungen, eine jugendliche Ring zu stehlen. Unbekümmertheit wieder einzuholen - oder verrät va Die Koordinaten dieses Reigens sind die Körper und savoir nicht doch eher die Gelassenheit eines die Worte. Um sie kreisen die Berufe, die Beschäftigungen Alterswerks? aller sechs Protagonisten. Die Philosophie steht dem Tanz gegenüber, der Bühnentext der Schauspielerei, die Gerhard Midding Diplomarbeit der Fingerfertigkeit eines Betrügers. Rivet- VA SAVOIR diese als sondern als te begreift Dualität nicht Gegensatz, Stab Anziehung. Gerade so, wie der Film Eifersucht und Rivalität Regie:Jacques Rivette; Buch: Christine Laurent, Pascal Bonitzer,Jacques Rivette; allmählich als Terrain der Verwandtschaft entdeckt. Kamera: ; Schnitt: ; Kostüme: Laurence Struz; Musik: «Senza Fine» von Gino Paoli und Alec Wilder interpretiert von Peggy Die Kostümbildnerin Laurence Struz kleidet Camille und Lee; Ton: Florian Eidenbenz Sonia bisweilen in die gleichen Farben; sie werden am Darsteller (Rolle) Ende Und das Duell der zu Komplizinnen. angekündigte Jeanne Balibar (Camille), Sergio Castellitto (Ugo), Marianne Basler (Sonia), Männer, die um Camille buhlen, entpuppt sich als Wettstreit Jacques Bonaffé (Pierre), Hélène de Fougerolles (Dominique), Catherine Rouvel in Trinkfestigkeit, der hoch über dem Schnürboden (Madame Desprez), Bruno Todeschini (Arthur), Claude Berri (Bibliothekar) des Theaters mit zwei Wodkaflaschen ausgetragen wird. Produktion, Verleih Der Autor pariert die Liebesverwirrungen seiner Figuren Pierre Grise Productions, in Co-Produktion mit France 2 Cinéma, Mikado Films und Kinowelt; ausführende Produzentin: Martine Marignac. Frankreich 2001. Gelassenheit, ohne ihnen ihre mit Dringlichkeit zu Farbe, Dolby SR, Dauer: 154 Min. CH-Verleih: Rialto Film, Zürich; D-Verleih: Kinowelt, nehmen. Sie gehen einher mit einer Kaskade der Ausrutscher München und Missgeschicke; das Drehbuch, das Rivette einmal