SWR2 MANUSKRIPT

SWR2 Musikstunde

"Musikalisches Recycling - das ist doch noch gut?!" (1)

Mit Nele Freudenberger

Sendung: 22. Januar 2018 Redaktion: Dr. Ulla Zierau Produktion: SWR 2017

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SWR2 Musikstunde mit Nele Freudenberger 22. Januar – 26. Januar 2018 "Musikalisches Recycling - das ist doch noch gut?!" (1)

Signet

Mit Nele Freudenberger – guten Morgen! Heute starten wir mit unserer Wochenreihe zum Thema „musikalisches Recycling“. Das hat in der Musikgeschichte viel größere Spuren hinterlassen als man annehmen könnte. Fremde Themen werden ausgeliehen, bearbeitet, variiert, eigene Themen wieder verwendet. Sogar eine eigene Gattung ist aus dem musikalischen Recycling hervorgegangen: das Pasticcio – und mit dem werden wir uns heute eingehender beschäftigen (0:26)

Titelmelodie

Ein musikalisches Pasticcio wird in Deutschland auch „Flickenoper“ genannt. Dieser wenig schmeichelhafte Name sagt eigentlich schon alles. Zum einen bezeichnet er treffend das zugrunde liegende Kompositionsprinzip: handelt es sich doch um eine Art musikalisches Patchwork, das aus alten musikalischen Materialien besteht. Die können von einem oder mehreren Komponisten stammen. Zum anderen gibt es auch gleich eine ästhetische Einordnung, denn „Flickenoper“ klingt wenn nicht schon verächtlich, so doch wenigstens despektierlich. Starten wir musikalisch mit einer Arie aus einer waschechten, originalen Oper, die erst später zu einem Pasticcio umgearbeitet wird: Va tra le selve Ircane aus Johann Adolf Hasses „Ataserse“ (0:46)

Musik 1 Johann Adolf Hasse „Va tra le selve Ircane“ aus der Oper “Ataserse” Andres Gabetta; Capella Gabetta; Deutsche Harmonia Mundi Bestellnummer 88691944592 SWR M0358334 009 Zeit:4:57

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Va tra le selve Ircane, die Arie der Mandane aus der Oper Ataserse von Johann Adolf Hasse. Vivica Genaux wurde von der Capella Gabetta unter Andres Gabetta begleitet.

Diese Oper von Hasse hat mehrere Überarbeitungen erfahren. Nicht, weil sie nicht gut genug ist, sondern im Gegenteil: sie ist so erfolgreich, dass man sie hin und wieder variieren muss, um das Publikum bei Laune zu halten. Das will natürlich einerseits die beliebten Nummern hören, andererseits aber eben auch nicht immer nur das gleiche, so dass einige Arien gelegentlich ersetzt werden. Dass der Text in unterschiedliche Sprachen übersetzt wird – je nach Aufführungsort – versteht sich schon fast von selbst. Und damit sind wir praktisch beim Kern des Pasticcios, über dessen Grundidee man heute vielleicht die Nase rümpfen würde. Die Oper ist im 18. Jahrhundert ein lukratives Geschäft. Aber eben ein Geschäft. Und so gelten die Regeln der Wirtschaftlichkeit: je geringer die Ausgaben, desto höher der Gewinn; außerdem gilt das Prinzip von Angebot und Nachfrage.

Ein Pasticcio ist in der Produktion kostengünstiger als eine komplett neu komponierte seria oder Opera buffa. Man geht musikalisch kein großes Risiko ein, denn die Arien und meist auch die Libretti sind Publikumserprobt. Das Publikum kommt teils sogar in die Oper um bestimmte Arien zu hören! Und damit zurück zu der gerade gehörten Arie von Hasse – allerdings mit einem Schlenker über London, das im 18. Jahrhundert bekanntlich eine lebhafte Opernszene hat und das Pasticcio liebt! Hasses Oper Ataserse also wird in London extra als Pasticcio gegeben. Angereichert durch Arien von Ariosti, Porpora und Broschi. Die Aufführung findet im King’s Theatre am Haymarket statt, durchgeführt von der Opera of Nobility – dem Opernunternehmen, das Händel Konkurrenz macht. Und genau das soll dieses Pasticcio vermutlich auch sein: eine Kampfansage: Sieh her, Händel, ich bin auch jenseits von Italien erfolgreich, sogar auf deinem Parkett! Zumindest zu Lebzeiten läuft Hasse Händel dann ja auch tatsächlich den Ruf als Opernkomponist Nr. 1 in Europa ab. Überhaupt hat die damalige Opernszene vieles gemein mit der heutigen Popmusikszene. Konkurrenzkampf ist ein großes Thema, es gibt Stars, Klatsch und

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Tratsch. Und hat seinen ganz eigenen Weg gefunden mit Hilfe eines Pasticcios gegen diese Art von Starkult zu protestieren. Bevor ich Ihnen die Geschichte zu dieser ausgesprochen kunstvoll zusammengestellten Flickenoper erzähle, hier schon mal die Sinfonia zu – besagtem Pasticcio. (2:31)

Musik 2 Antonio Vivaldi Sinfonia (Allegro, andante molto, Allegro) aus „Bajazet“ , Leitung: ; Virgin classics, Bestellnummer 5456762 SWR M0113200 001 Gesamt: 6:17

Die Sinfonia zum Pasticcio Bajazet von Antonio Vivaldi. Fabio Biondi leitete Europa galante, hier in der SWR2 Musikstunde.

Der Bajazet wird 1735 in Verona uraufgeführt. Eine Zeit, in der Venedig seinen Titel als Opernmetropole längst an Neapel abtreten muss. Und tatsächlich kann Neapel mit großen Namen aufwarten: Metastasio – der Librettist der Librettisten lebt dort. Zeitweise Hasse, Leo und Vinci – unumgängliche Komponisten der damaligen Zeit und dann sind da natürlich noch die Stars der Oper: die Kastraten. Farinelli, Caffarelli und Carestini – alle leben und wirken in Neapel. Und Venedig? Kehrt seinen Musikern den Rücken und spielt die Musik der Neapolitaner. Einer der Gründe, warum Vivaldi seinerseits der Lagunenstadt den Rücken kehrt und nach Verona geht. Hier wirkt er nicht nur als Komponist, sondern ist auch der offizielle Impresario des neu eröffneten Teatro Filarmonico und damit ist es auch an ihm, die Spielpläne zu gestalten. Für die Karnevalssaison 1735 setzt er zwei Stücke auf den Spielplan, die beide stark politisch gefärbt sind. Adelaide – quasi eine Ode auf die Freiheit Italiens – und eben Bajazet – eine Hymne auf den Widerstand gegen den Aggressor. Der osmanische Sultan Bajazet behauptet sich edel, tapfer und mutig bis zum Schluss gegen den Tyrannen . Wenn auch historisch durchaus fragwürdig, ist es doch eine gute Geschichte mit Symbolcharakter.

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Zumindest im von Agostino Piovene, das Vivaldi benutzt hat. Der Bajazet/Tamerlano-Stoff ist nämlich so beliebt, dass es unzählige Libretti dazu gibt. Dasjenige von Piovene ist eher abseitig. Es ist verführerisch Vivaldi zu unterstellen, er habe sich für diesen Stoff und diese Form entschieden, um ein Zeichen gegen die musikalische Invasion der Neapolitaner zu setzen. Er begeht gleich zwei Frechheiten: er lässt eine Frau die Parade-Arien des großen Farinelli singen und er benutzt für die „guten“ Charaktere des Pasticcios eigene Kompositionen, für die „Bösen“ müssen Arien neapolitanischer Komponisten herhalten. Ein solch „böser“ Charakter ist die Irene und sie singt – mit ausgesprochener Virtuosität – die Arie „Qual guerriere in campo armato“ aus Riccardo Broschis Oper Idaspe. Eine Arie die es in sich hat und für deren Interpretation eigentlich Broschis Bruder bekannt ist. Der große Farinelli. (2:23)

Musik 3 Riccardo Broschi, (1698C-1756) aus: Idaspe, Arie "Qual guerriero in campo armato" Vivica Genaux, {Mezzosopran} Akademie für Alte Musik Berlin Leitung: René Jacobs Labelcode: 07045-HARMONIA MUNDI FRANCE Bestellnummer: HMC 901778 SWR M0011888 003 Dauer 8’04 – evt. Ab 4:15

Qual guerriero in campo armato aus der Oper Idaspe von Riccardo Broschi. Gesungen hat Vivica Genaux und gespielt die Akademie für Alte Musik Berlin unter der Leitung von René Jacobs.

Diese Arie ist eine der großen Parade-Arien von keinem geringeren als dem – bis heute – berühmten Kastraten Farinelli. Dieses Stück taucht natürlich nicht ohne Grund in unserer heutigen SWR2 Musikstunde über musikalisches Recycling auf: diese berühmte Arie hat einen Platz gefunden in Antonio Vivaldis Pasticcio Bajazet. So weit, so gut – schließlich besteht ein Pasticco aus zusammengesetzten Arien unterschiedlichster Komponisten. Und

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doch: dass Vivaldi diese Arie benutzt ist ein Seitenhieb – und zwar mit Ellbogen. Denn er lässt sie nicht von einem anderen Kastraten, sondern bewusst von einer Frau singen. Andere Komponisten die in Vivaldis Pasticcio zum Einsatz kommen sind neben Broschi auch noch Hasse und Giacomelli – zwei komponierende Superstars der Szene Neapels. Aber Vivaldi benutzt auch eigene Arien. Teils komponiert er sie neu, teils greift er auf ältere Werke zurück, die Rezitative sind samt und sonders neu komponiert. Vivaldi hat hier ein Pasticcio vorgelegt, das weit mehr ist als nur reines Flickwerk. Mit viel dramaturgischem und musikalischem Geschick hat er seinen Bajazet zusammengestellt und auskomponiert. Umso dramatischer ist es, dass vier Arien aus dem originalen Turiner Manuskript fehlen – denn so kommt das gesamte Gleichgewicht ins Wanken. Als Fabio Biondi 2004 den Bajazet erstmals aufnimmt, müssen also die fehlenden Arien ersetzt werden. So baut Biondi quasi ein Pasticcio in ein Pasticcio, denn natürlich komponiert er die Arien nicht selbst „im Stile von…“ sondern greift auf vorhandene Vivaldi-Arien zurück. Wie bei der ersten Arie des Andronico: Quel ciglio vezzosetto. Die wird ersetzt durch die Arie „Quanto posso a me fo schermo“ aus Vivaldis Oper L‘ . Und so klingt sie im Bajazet, gesungen von Elina Garanca.

Musik 4 Antonio Vivaldi Quel ciglio vezzosetto, aus: Bajazet Elina Garanca, Mezzosopran Europa galante; Leitung: Fabio Biondi Virgin classics Bestellnummer 5456762 SWR M0113200 011 Zeit: 6:25

Elina Garanca als Andronico in Antonio Vivaldis Pasticcio Bajazet. Fabio Biondi leitete Europa galante und er war es auch, der diese Arie in das Pasticcio eingefügt hat, denn die originale Arie fehlt im Manuskript.

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Es wird Zeit, sich dem Begriff des Pasticcios zu nähern – denn er ist nicht eindeutig und hat sich im Laufe der Zeit immer wieder gewandelt. Johann Joachim Quantz gibt Aufschluss in seiner Autobiographie – die den schönen Titel trägt: Johann Joachim Quantzens Lebenslauf, von ihm selbst entworfen“. Da heißt es über seinen Florenz-Besuch 1725: „Hier hörte ich verschiedene Opern, die aber alle von Arien verschiedener Meister zusammengeflicket waren, welche Art von Einrichtung die Welschen eine Pastete – un pasticcio – zu nennen pflegen.“ Dieses Zitat beweist zweierlei: zum einen, dass sich diese Kompositionspraxis bis Deutschland offenbar noch nicht herumgesprochen hat und zum anderen, dass tatsächlich mit dem Namen Pasticcio Bezug auf die Pastete genommen wird. Und warum auch nicht: eine Pastete ist etwas, das man beliebig füllen kann. Sonderbar an Quantz Lebenserinnerungen ist allerdings der Umstand, dass er ziemlich herumgekommen ist – er war mehrere Jahre in Italien, war in Paris und London und auch dort sind Pasticci Gang und gäbe. Und auch nördlich von Italien werden Pasticci komponiert – die hätte Quantz durchaus kennen können. Zum Beispiel von Mozart existieren welche. Allerdings keine Opern. Es gibt ein geistliches Singspiel auf das wir gleich noch kommen werden und einige Klavierkonzerte. Das dritte Klavierkonzert basiert auf Themen anderer Komponisten und scheint damit einer deutschen Definition zu entsprechen, denn in einem Musiklexikon aus dem Jahre 1802 bezeichnet ein Pasticcio ausschließlich instrumentale Musik! Und in diese Kategorie passen ohne weiteres Mozarts erste vier Klavierkonzerte, die den Namen Pasticciokonzerte tragen. Mozart bearbeitet in seinem Klavierkonzert Nr. 3 Sonatensätze anderer Komponisten. Der erste Satz basiert auf einer Sonate von Leontzi Honauer, der zweite Satz auf einem Sonatensatz des Komponisten Johann Gottfried Eckard und der dritte Satz auf einem Stück von Carl Philipp Emanuel Bach. Ja, dieses frühe Konzert ist nur eine kompositorische Fingerübung für die späteren Klavierkonzerte. Aber auch der elfjährige, der nur mit Themen anderer spielt klingt schon sehr eindeutig nach Mozart! Hier ist der zweite Satz aus diesem Pasticciokonzert Nr. 3.

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Musik 5 Wolfgang Amadeus Mozart: Klavierkonzert Nr. 3 D-Dur KV 40, 2. Satz: Andante [nach Eckard] Robert Levin, Cembalo Orchester Academy of Ancient Music, London Leitung: Christopher Hogwood SWR M0007672 008 3’54

Der zweite Satz, Andante, aus Mozarts Klavierkonzert Nr. 3 in D-Dur KV 40 – eines der sogenannten Pasticciokonzerte. Dieser Satz beruht auf einem Sonatensatz des heute praktisch unbekannten Komponisten Johann Gottfried Eckard.

Solist dieser Aufnahme war Robert Levin und er wurde von der Orchester Academy of Ancient Music unter Christopher Hogwood begleitet. Das ist nicht das einzige Pasticcio Mozarts. Auch wenn Pasticci in Deutschland und Österreich bei weitem nicht so verbreitet sind wie in Italien und England, es wird durchaus mit den Möglichkeiten eines solchen Flickwerks gespielt! Im selben Jahr in dem der elfjährige Mozart sein drittes Klavierkonzert komponiert, steht auch noch ein anderes Pasticcio an. Das unterscheidet sich allerdings grundlegend: sowohl im Sujet, als auch im Grundgedanken des Pasticcios. Es handelt sich um ein geistliches Singspiel und es ist nicht an Mozart fremde Musiken in irgendeiner Weise zusammenzustellen oder zu bearbeiten, sondern es ist eine Gemeinschaftsarbeit. Drei Komponisten, drei Akte. Außer Mozart sind an diesem Werk noch Michael Haydn und Anton Adlgasser beteiligt. In genau dieser Reihenfolge wurde auch komponiert: Mozart bekommt den ersten Akt – übrigens der einzige, der noch überliefert ist – Haydn den zweiten und Adlgasser den dritten. Die drei arbeiten nach einem Libretto von Ignatz Anton von Weiser und der Titel dieses religiösen Singspiels lautet „die Schuldigkeit des ersten Gebots“ und da Mozarts Part der einzige noch erhaltene ist, trägt das Werk auch eine KV nämlich die 35. Es handelt sich bei diesem Stück um ein Auftragswerk des Fürsterzbischofs Sigismundus Christoph von Schrattenbach. In den 1760er Jahren wurde nämlich in der Salzburger Residenz jährlich zur Fastenzeit ein deutschsprachiges, geistliches Oratorium aufgeführt.

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Die Uraufführung der drei Teile von „die Schuldigkeit des ersten Gebots“ wurde übrigens nicht am Stück, sondern an drei verschiedenen Tagen gegeben. Vielleicht das ein Grund, warum die anderen beiden Partituren verschwunden sind. Auch wenn dieses geistliche Singspiel einem Oratorium näher ist als einer Oper – das sollte es ja auch sein – wurde die Uraufführung szenisch gegeben. Musikalisch gilt dasselbe wie für das Klavierkonzert: es klingt schon ein bisschen nach Mozart, aber es ist sicherlich keines seiner Meisterwerke… hier ein kleiner Ausschnitt aus „die Schuldigkeit des ersten Gebots“ (2:16)

Musik 6 Wolfgang Amadeus Mozart Die Schuldigkeit des ersten Gebots. Singspiels KV 35 012 (12) Nr. 6: Schildre einen Philosophen. des Weltgeists Inga Nielsen (Sopran)(Weltgeist) Radio-Sinfonieorchester Stuttgart Leitung: Neville Marriner SWR M0059487 012, 5‘16

Schildre einen Philosophen aus: „die Schuldigkeit des ersten Gebots“ ein religiöses Singspiel und ein Pasticcio – dieser Teil stammt von Wolfgang Amadeus Mozart, die beiden Teile von Michael Haydn und Anton Adlgasser sind verschollen. Neville Marriner leitete das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart, Inga Nielsen hat die Rolle des Weltgeists gesungen.

Ein musikalisches Beispiel für ein religiöses Pasticcio. Es gibt etliche Oratorien, die als Pasticcio konzipiert waren. Offensichtlich fand man es in keiner Weise verwerflich, diese kostengünstige und arbeitsersparende Form die sich in der Oper so gut bewährt auch für die Kirche zu nutzen. In Giovanni Legrenzis Pasticcio- Oratorium gli sponsali d’Ester stammen sogar 10 Arien aus venezianischen Opern, die allerdings in der Partitur auch als solche gekennzeichnet sind. Ein Beleg dafür, dass die Verwendung fremder, weltlicher Arien in einem Oratorium nicht als ehrenrührig empfunden wird. Anders offenbar, als heute. Vermutlich wird nicht der weltliche im kirchlichen Kontext als Zumutung empfunden, sondern das Pasticcio als Gattung selbst. Nur wenige Pasticci haben die Dauer der Zeit überlebt oder wurden

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gar aufgenommen. Wozu auch: die einschlägigen Arien sind heutzutage überall und jedem zugänglich – man braucht kein musikalisches readers digest mehr, um einen Überblick über die Opernszene Europas zu bekommen. Es ist also naheliegend, dass es nur ausgewählte und sehr besondere Pasticci ihren Weg auf den Plattenmarkt gefunden haben. Eines geht erneut auf das musikalische Konto Vivaldis – hier ist allerdings nicht die Musik das Paticcios, sondern das Libretto! Es geht um die Oper – im selben Jahr uraufgeführt wie der Bajazet! Vivaldi entscheidet sich für ein Libretto Apostolo Zenos, das sich einiger Beliebtheit erfreut und bereits von Tomaso Albinoni, Alessandro Scarlatti und Luca Antonio Pridieri vertont worden ist. Vivaldi aber ist mit der Geschichte nicht 100%ig zufrieden. Der Impresario des engagiert den damals noch unbekannten Carlo Goldoni, der später zum Schreiber-Star avanciert, das Libretto nach Vivaldis Wünschen zu verändern. Es geht Vivaldi vor allem darum, das ursprüngliche Libretto, das aus dem Jahre 1701 stammt, den aktuellen Moden anzupassen – vornehmlich der für die der Librettist Metastasio steht. Goldoni streicht hier, ergänzt dort, lässt da Passagen stehen – wie man es bei einem Pasticcio eben macht. Er selbst ist eher unglücklich über diese Arbeit, schreibt in seinen Memoiren „ich habe endlich Zenos Drama ermordet. Genauso, wie Vivaldi es gewollt hat“. Doch dass die Oper im Ganzen dann doch gelungen ist, räumt er ebenfalls ein. Hier ein klingendes Beispiel der geänderten Oper, deren Änderungen vor allem zugunsten der Griselda vorgenommen werden. Die wird in der Uraufführung nämlich von einer Lieblingsdarstellerin Vivaldis verkörpert: Anna Girò, die weniger für ihren Gesang als vielmehr für ihre Darstellerischen Qualitäten bekannt ist. Und eine solche Änderung klingt dann so: (2:53)

Musik 7 Antonio Vivaldi, Griselda, RV 718, Arie der Griselda, Ho il cor già lacero Magdalena Kozená {Mezzosopran} Orchester: Baroque Orchestra, Leitung: Andrea Marcon Bestellnummer: 002894778096 SWR M0127068 011, 4‘24

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Ho il cor già lacero – mein Herz ist zerrissen von tausendfachem Leid. Magdalena Kozená als Griselda aus Vivaldis gleichnamiger Oper. Sie wurde begleitet vom Venice Baroque Orchestra unter der Leitung von Andrea Marcon. Man kann eigentlich keine Sendung über das Pasticcio machen, ohne einen ausgedehnteren Schlenker nach London zu unternehmen. Hier ist die Hochburg für diese Form. Und wenn es um die Londoner Opernwelt geht, darf natürlich einer nicht fehlen: nämlich Georg Friedrich Händel und tatsächlich hat auch er das ein oder andere Pasticcio komponiert-? Zusammengestell? Auf jeden Fall aufgeführt und es ist auch tatsächlich ein Pasticcio, das seiner Royal Academy of music das finanzielle Genick bricht und auch Händels Ruf als Opernkomponist unwiederbringlich beschädigt. Es ist „the beggar’s opera“ von Johann Christoph Pepusch. Diese Volksoper oder diese Oper für Bettler – um den Titel aufzugreifen – schafft ein neues Genre, nämlich die sogenannte Ballad-opera, die die opera seria in London ablöst. Wenn Sie bei dem Titel spontan an Brechts Dreigroschenoper denken müssen, so kommt das nicht von ungefähr, denn auch sie basiert auf diesem Pasticcio. Musikalisch schmal gehalten, strotzt „the beggar’s opera“ nur so von Anspielungen und Seitenhieben gerade gegen die opera seria, aber auch gegen die politischen Strukturen des damaligen London. „the beggar’s opera“ besteht aus insgesamt 69 Musiknummern, die sich aus populären Arien und Gesängen zusammensetzt. Pepusch selbst komponiert nur die Ouvertüre und ein Lied. Dieses Pasticcio ist nicht weniger als der Vorläufer zum Musical und Pepuschs Konzept eines volksnahen, original englischsprachigen Musiktheaters findet etliche Nachahmer. Eine wahre Flut an Ballad- entsteht. Von „the beggar’s opera“ sind leider nur die harmonisierten Generalbasslinien überliefert, die aber doch einen Eindruck erlauben, wie es damals geklungen haben mag. Hier die Broadside Ballad aus Pepuschs Geniestreich (2:21)

Musik 8 Johann Christoph Pepusch The Beggar's opera, Broadside Ballad Dorothee Mields, Sopran Lautten Compagney ; Leitung: Wolfgang Katschner Labelcode: 03989-Carus Bestellnummer: Carus 83371 SWR M0308905 018, 2’33

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Broadside Ballad aus „the beggar’s opera“ von Johann Christoph Pepusch. Wolfgang Katschner leitete die Lautten Compagney und gesungen hat Dorothee Mields.

The beggar’s opera – ein Pasticcio das bemerkenswert unauffällig Musikgeschichte geschrieben hat. Und damit geht die heutige Folge unserer SWR2 Musikstunde „das ist doch noch gut…? Musikalisches Recycling“ zu Ende. Morgen beschäftigen wir uns mit Themen, die von den Komponisten selbst mehrfach verwendet wurden. Wenn Sie wollen finden Sie das Manuskript und auch die Sendung nochmal zum nachhören bei uns im Internet unter swr2.de. Mein Name ist Nele Freudenberger ich sage Tschüss für heute und wünsche Ihnen noch einen schönen Tag!

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