Historische Sozialkunde Geschichte – Fachdidaktik – Politische Bildung 4/2009

Medien und Gesellschaft

Verein für Geschichte und Sozialkunde 39. Jg./Nr. 4 Oktober–Dezember 2009 AU ISSN 004-1618 Historische Sozialkunde. Geschichte – Fachdidaktik – Politische Bildung. Zeitschrift für Lehrerfortbildung. Inhaber, Herausgeber, Re- daktion: Verein für Geschichte und Sozialkunde (VGS) in Kooperation mit dem Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Dr. Karl Lueger Ring 1, 1010 Wien.

Chefredaktion: Ilja Steffelbauer (Wien)

Fachdidaktik: Zentrale Arbeitsstelle für Geschichtsdidaktik und Politische Bildung, FB Geschichte/ Universität Salzburg, Rudolfskai 42, 5020 Salzburg ([email protected])

Preise Jahresabonnement o 16,– (Studenten o 12,–), Einzelheft o 5,–, Sondernummer o 7,– zuzügl. Porto. Bankverbindungen: Bank- Kto. Nr. 601 718 703, Bankleitzahl 20151 Wien; Deutschland: Hypo Bank München Bankleitzahl 70020001; Kto. 6060714949

Herausgeber (Bestelladresse): Verein für Geschichte und Sozialkunde, c/o Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien, Dr. Karl Lueger- Ring 1, A-1010 Wien Tel.: +43-1-4277/41330 (41301), Fax: +43-1-4277/9413 Aboverwaltung: +43-1-4277/41305 (Marianne Oppel) E-mail: [email protected] http://vgs/univie.ac.at

Trotz intensiver Bemühungen konnten nicht alle Inhaber von Text- und Bildrechten ausfindig gemacht werden. Für entsprechende Hinweise ist der Verein für Geschichte und Sozialkunde dankbar. Sollten Urheberrechte verletzt worden sein, werden wir diese nach Anmeldung berechtigter Ansprüche abgelten.

Titelbild: Collage von Ewald Hiebl unter Verwendung folgender Abbildungen: Bild 1– Grand Kino, S. 4; Bild 2 – Radio (Vacuum tube radio, Philco, model PT-44, front, Wikimedia Commons, http://com- mons.wikimedia.org/wiki/File:Philco_radio_model_PT44_front.jpg); Bild 3 – Fernsehkamera, S. 21; Bild 4 – Internet (ons. wikimedia.org/wiki/File:Allmystery1988.jpg); Testbild (Wikimedia Commons, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:PM5644- 1920x1080.gif),

Heftredaktion: Ewald Hiebl, Ilja Steffelbauer Layout/Satz: Marianne Oppel

AutorInnen: Erwin Giedenbacher, geboren 1969, Historiker und Multimedia-Autor, Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaft „Geschichte@ Internet“ am Fachbereich Geschichte der Paris Lodron Universität Salzburg Thomas Hellmuth, geboren 1965, Senior Scientist am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Johannes Kepler Universität Linz, Leiter des Masterstudiums „Politische Bildung“, teilzeitbeschäftigter AHS-Lehrer Ewald Hiebl, geboren 1968, Historiker am Fachbereich Geschichte der Paris Lodron Universität Salzburg, Leiter des Leopold- Kohr-Archivs, Hörfunkjournalist (v.a. für Ö1) Hannes Leidinger, geboren 1969, studierte Geschichte, Klassische Archäologie und Ur- und Frühgeschichte in Wien. Er lehrt am Institut für Geschichte der Universität Wien Verena Moritz, geboren 1969, studierte Geschichte und Russisch in Wien. Sie ist Lektorin am Institut für Geschichte der Universität Wien, Mitarbeiterin und Leiterin von zahlreichen Forschungspro- jekten Karin Moser, geboren 1974, ist Film-Historikerin, Redakteurin sowie Kuratorin von Filmreihen, Lektorin an der Universität Wien und wissenschaftliche Mitarbeiterin des Filmarchiv Austria Thomas Steinmaurer, geboren 1963, Assistenzprofessor am Fachbereich Kommunikationswissenschaft der Paris Lodron Universität Salzburg, Vorsitzender der Österreichischen Gesellschaft für Kommunikationswissenschaft (ÖGK), Chefredakteur des „Medien Journals“

Die wissenschaftliche Redaktion der „Historischen Sozialkunde“ wird auch im Jahr 2009 durch eine Förderung der Magistrats- abteilung 7, Gruppe Wissenschaft, unterstützt.

Erscheinungsort Wien, Verlagspostamt 1010 Wien, Plus.Zeitung 06Z036815P Inhaltsverzeichnis

Ewald Hiebl 2 Einleitung

Hannes Leidinger/Verena Moritz/Karin Moser 4 Film in Österreich 1896–2009 Ein Überblick Die neue Zeit – „Im Dienst des Vaterlandes“ – Pläne, Träume, Märkte – Kampfzonen – Das autoritäre Regime – Kontinuitäten – Aufschwung und Niedergang – Veränderungen, Hoffnungen, Debatten

Ewald Hiebl 10 Ravagianer, Rot-weiß-rot und freie Radios Eine kurze Geschichte des Hörfunks in Österreich Alte Träume und neue Technik – Die Anfänge des Radios in Österreich – Begeisterung und Kritik - Frühe Hörgewohnheiten, Werbung und erste Stars – Ein „Instrument des Staatsführung“ - Radio und Politik – Das „allerwichtigste Massenbeeinflussungsinstrument“ - Hörfunk im Nationalsozialis- mus – Vom ORF-Monopol zum trialen System - Wegmarken der österreichischen Radiogeschichte nach 1945

Thomas Steinmaurer 20 Austro-Visionen Zur Geschichte des Fernsehens in Österreich Von frühen Tele-Visionen bis zu den ersten Bildern – Ein Frühstart unter politisch verschärften Bedingungen – Ein Medium im (Wieder)Aufbau – Auf dem Weg zum Massenmedium – Zwischen Reformen und Modernisierung – Vom Monopol zum Markt

27 Erwin Giedenbacher www.historyofinternet.at Zur Entwicklung des Internets in Österreich Das Internet - Ein Massenmedium unter vielen? – Entstehung des Netzwerkes – Das Internet in Österreich – Gegenwärtige Nutzung des Mediums Internet in Österreich

Fachdidaktik 37 Thomas Hellmuth Herzschmerz und Harmonie Zur Funktion des Heimatfilms in der Nachkriegszeit Methodische Überlegungen – Filmanalytische Werkzeuge – „Sissi“ - österreichische Identitätskons- truktion – „Mariandls Heimkehr“ - Modernität oder Tradition? weil viele elektronische Medien nun die glei- che Funktion mittels digitaler Technik erfül- Einleitung len (etwa digital übertragene Signale im Be- reich des Telefons oder digitales Fernsehen). Ewald Hiebl Eine der am weitesten verbreiteten Medi- endefinitionen stammt von Harry Pross. Er unterscheidet zwischen drei Typen von Medi- en: Als primäre Medien bezeichnet er die Me- dien des menschlichen Elementarkontakts, Das Aufkommen neuer Medien wurde meist die sich keines technischen Gerätes bedienen alles andere als nüchtern kommentiert. (z.B. Sprache, Zeremoniell, Stafette, Theater Heils- aber vor allem Endzeiterwartungen etc.). Sekundäre Medien sind all jene Medien, begleiteten die jungen Medien in ihrem Ent- die auf der Produktionsseite ein technisches stehungskontext. Schon das Aufkommen des Gerät benötigen, wie Bild, Druck, Grafik, aber Buchdrucks mit wieder verwendbaren metal- auch deren Resultate, wie Buch, Zeitschrift, lenen Lettern war heftig kritisiert worden. Es Flugblatt oder Fotografie. Sekundäre Medien wurde als Eingriff in eine „natürliche“ Ord- gruppieren sich (mit wenigen Ausnahmen) nung gesehen, wenn Allerweltsgeschichten um den Begriff „Presse“. Tertiäre Medien sind über „ganz normale“ Menschen mit dem glei- Medien, die auf Produktions- und Rezeptions- chen Gerät hergestellt wurden wie die Bibel seite Technikeinsatz benötigen. Dazu zählen oder Heiligengeschichten. Als der Film mas- alle elektronischen Medien wie Radio, Fernse- senhaft Blicke auf die Leinwände zog, ver- hen, Telegrafie, aber auch Film, Tonband und mutete man, dass die menschliche Aufnah- Schallplatte. In Ergänzung zu Pross’ Eintei- mefähigkeit durch den raschen Wechsel der lung in drei Medientypen wird mittlerweile Bilder überfordert werden könnte. Die Ra- auch von den quartären Medien gesprochen, diowellen, die ab den frühen 1920er Jahren das sind alle Medien, die sich des Computers den Äther bevölkerten, wurden für Schlecht- und der Digitalisierung bedienen. wetterperioden verantwortlich gemacht. Die Das vorliegende Heft widmet sich tertiären Diskussionen darüber, ob das Medium Fern- und quartären Medien. Es geht um Film, Ra- sehen nicht fast ausschließlich zum Kon- dio, Fernsehen und Internet sowie um die di- sum minderwertiger Unterhaltungs- und daktische Umsetzung der sozialen Wirkung Informationsprogramme verführe, dauern von Medien am Beispiel des österreichischen bis heute an; ebenso wie die Befürchtungen, Heimatfilms nach 1945. das Internet fördere die soziale Isolation und Hannes Leidinger, Verena Moritz und Ka- brächte das endgültige Ende des Buches mit rin Moser geben in ihrem Beitrag einen Über- sich, nachdem Film, Radio und Fernsehen blick über die Geschichte des Films in Öster- an dessen Liquidation noch kläglich geschei- reich seit 1896. Es dauerte lange, bis sich das tert waren. neue Medium vom Beigeschmack der Jahr- Die Betrachtung im historischen Kontext marktattraktion und des Transportmittels lässt solche irrationalen Annäherungen an von Schmutz und Schund befreien konn- neue Medien bestenfalls als amüsant erschei- te und zur anerkannten Kunstform wurde. nen. Mediengeschichte widmet sich jedoch Die österreichische Filmindustrie geriet im nicht nur Korrektiven dieser Art, sondern Laufe der Zwischenkriegszeit zunehmend in nimmt sich viel breiter der geschichtlichen Abhängigkeit von Deutschland. Zahlreiche Dimension von Medien an. Deshalb ist die De- Filmschaffende verließen das Land. Schon finition des Begriffs Medien grundlegend für vor 1938 wandten österreichische Produkti- die Abgrenzung des Faches. Meist wird der onsfirmen – illegal – den Arierparagraphen Begriff sehr weit gefasst und auf verschie- an, um ihre Filme am deutschen Markt un- dene Kommunikationsmittel ausgedehnt. terzubringen. Der Rückzug in den seichten Dazu zählen Sprache, Gesten und Musik, Wiener Film während der NS-Zeit und die fast analoge Medien wie Tontafeln, Bücher oder ungebrochene Kontinuität der AkteurInnen Zeitungen, aber auch elektronische Medien vor und nach 1945 zeigen wenige Brüche zwi- wie Telefon, Radio und Fernsehen bis zu den schen 1930 und 1950. Im Nachkriegsöster- modernen digitalen wie CD-ROM oder In- reich stellten der Typus des Heimatfilms und ternet. Die Grenze zwischen elektronischen die Austria Wochenschau das Medium Film und digitalen Medien ist fließend, vor allem in den Dienst der nationalen Selbstrepräsen- tation. Die Konkurrenz des Fernsehens führ- pol des öffentlich-rechtlichen ORF, das die te Film und Kino in eine schwere Krise, die Entwicklungen des Fernsehkonsums beglei- erst im neuen Jahrtausend bewältigt werden tete, vom Familienfernsehen zur Individuali- konnte. Der österreichische Film konnte nun sierung des Sehens über die Erweiterung des auch international reüssieren. Mediums durch Teletext bis hin zum häufigen In seiner „kurzen Geschichte des Hörfunks Zapping als Nutzungsprinzip. 2001 wurde der in Österreich“ widmet sich Ewald Hiebl vor Markt auch für private Anbieter endgültig ge- allem den Entstehungsbedingungen des Ra- öffnet und der ORF zu einer Stiftung öffent- dios zur Mitte der 1920er Jahre, als nach ei- lichen Rechts. ner Reihe von technischen Neuerungen die Erwin Giedenbacher weist in seinem Bei- Reife für das Massenmedium Radio erreicht trag über die Geschichte des Internets dar- war, das zusätzlich durch zeitgenössische auf hin, dass die oftmals wahrgenommene Schlager und Zeitschriften popularisiert wur- rasante Entwicklung gar nicht stattgefunden de, jedoch auch auf intellektuelle Ablehnung hat und das Internet – gemessen an anderen stieß. Zunehmend wandelte sich der Hörfunk Medien – durchaus lange brauchte, um zum schließlich vom Informations- und Bildungs- Massenmedium zu avancieren. Die Idee eines medium zum Unterhaltungsmedium und die Netzwerkes, das auch bei gezielten atomaren aufmerksame Nutzung wich sukzessive der Angriffen eine Kommunikationsstruktur auf- Rolle des Radios als Nebenbeimedium. Schon rechterhalten konnte, war ein Kind des Kal- im Austrofaschismus und verstärkt während ten Krieges. Meist wird das Geburtsjahr des der NS-Herrschaft wurde der Hörfunk zum Internets mit 1969, der Einrichtung des AR- „Instrument der Staatsführung“ und zum PANET, angegeben. Doch erst die Durchset- „allerwichtigsten Massenbeeinflussungsins- zung im Bildungs- und Forschungsbereich trument“. Die österreichische Radioland- und schließlich die Entwicklung grafischer schaft gestaltete sich nach 1945 analog zur Benutzeroberflächen sowie die Verbesserung politischen Organisation der Besatzungszo- der Datenleitungen schufen die Basis dafür, nen. Auch der österreichische Hörfunk wur- dass das Internet ab den frühen 1990er Jah- de zum Element des Ost-West-Konflikts. Mit ren seinen Siegeszug auch in Österreich an- dem Rückzug der Alliierten wurde der Öster- treten konnte. Einer anfänglichen Dominanz reichische Rundfunk zum Monopolanbieter, junger männlicher Nutzer folgte eine sowohl bis 1993 das duale System mit „privaten“ Sen- gender- als auch altersspezifische Ausweitung deanstalten eingeführt wurde. der UserInnen, deren Selbstinitiative im letz- Fast zeitgleich mit dem Abzug der Besat- ten Jahrzehnt deutlich zunahm und das Web zungstruppen öffnete sich den Österreicher- 2.0 schuf. Innen in den privaten vier Wänden ein „Fens- Wie „Herzschmerz und Harmonie“ den ös- ter zur Welt“, über das Thomas Steinmaurer terreichischen Film in den 1950er und frühen in seinem Beitrag zur Geschichte des Fernse- 1960er Jahren prägten, beschreibt Thomas hens in Österreich berichtet. Schon vor dem Hellmuth in seinem Beitrag über die Funkti- Zweiten Weltkrieg gab es in den USA, Groß- on des österreichischen Heimatfilms für ge- britannien und Deutschland Fernsehüber- sellschaftliche Modernisierungs- und Kom- tragungen. Wie in den meisten anderen eu- pensationsprozesse. Am Beispiel von „Sissi“ ropäischen Staaten schlug die Geburtsstun- zeigt er, wie der Film in den Dienst natio- de des österreichischen Fernsehens Mitte naler Identitätsformung gestellt wurde und der 1950er Jahre. Innerhalb eines Jahrzehnts vermitteln sollte, was „typisch österreichisch“ sollte es zum Massenmedium werden, obwohl sei. „Mariandls Heimkehr“ dient als Exempel, die Preise für die Empfangsgeräte lange sehr wie Geschlechterrollen festgeschrieben, aber hoch waren. Die 1960er Jahre waren geprägt auch partiell modernisiert werden. Der Ver- von einer Ausdehnung der Sendezeiten und gleich der Filme mit zeitgenössischen Zitaten der Ergänzung durch einen zweiten Kanal. verortet die fiktionale Darstellung im gesell- Vor allem ging es aber um eine Beschrän- schaftlichen Umfeld. Zahlreiche methodische kung des politischen Einflusses im neuen Anregungen zur Filmanalyse, zum Stellen- Leitmedium, wie das überaus erfolgreiche wert von Filmen im Schulunterricht und Rundfunkvolksbegehren des Jahres 1964 praktische Unterrichtsbeispiele veranschau- zeigte, das schließlich in ein neues ORF-Ge- lichen, wie dieses Thema im Unterricht ver- setz mündete. Lange Zeit war es das Mono- mittelt werden kann. Hannes Leidinger sprechend rasch ihren Siegeszug an. Ein Industriezweig entstand, mit ei- Verena Moritz vvvv genen Organisationsformen: 1907 Karin Moser rief man den „Verband der österrei- chischen Kinematographenbesit- zer“ ins Leben; zeitgleich erschien Film in Österreich 1896–2009 das erste Fachblatt der Filmbranche. Ein Überblick Bis zum Ersten Weltkrieg eröffne- ten allein in Wien rund 150 „Kine- matographentheater“, wobei neben ausländischen von nun an auch im- Die neue Zeit das Kino vor allem jene an, die nicht mer mehr heimische Streifen ge- zu den „Wortgewandten“ gehörten zeigt wurden. Nach „Von Stufe zu Das „Film- und Kinowesen“ wurde und von der „offiziellen Sprache“ Stufe“, der ersten österreichischen in Österreich unter „allerhöchster vielfach ausgeschlossen blieben. Produktion, die 1908 gedreht wur- Patronanz“ aus der Taufe gehoben. Bereits 1914 belegten erste sozio- de, entstanden innerhalb von sechs Seine Majestät, Kaiser Franz Joseph, logische Studien über das „typische Jahren an die 100 Spielfilme, davon erschien höchstpersönlich, um erst- Kinopublikum“ den Trend. Dem- 44 im Jahr 1914. mals einer Vorführung „lebender nach füllten hauptsächlich männ- Photographien“ beizuwohnen. Seit liche Jugendliche des Proletariats „Im Dienst des Vaterlandes“ dem Frühjahr 1896 zeigte man sie sowie Frauen aus dem Kleinbür- in der Wiener Innenstadt, im Mezza- gertum und der Arbeiterschaft die Mit dem Beginn des „großen Waf- nin des Hauses Krugerstraße 2. Der Lichtspieltheater. fengangs“ ergriffen auch die Verant- hohe Besuch, gewürdigt von Aristo- Bei niedrigen Eintrittspreisen wortlichen auf staatlicher Ebene die kratie und Großbürgertum, vermit- entsprach das Gebotene den Be- Initiative. Im Vergleich zum verbün- telte den Eindruck einer zukunfts- dürfnissen der verfügbaren „Frei- deten Deutschen Reich etwas später, weisenden Allianz zwischen Traditi- zeit“: Das Dunkel des Saals vermit- aber immerhin noch 1915 sprach on und Innovation. telte Anonymität, die Vorführungen auch die k.u.k. Heeresleitung von Franz Josephs Lob und „lebhaftes verlangten keine besondere Vorbe- der Suggestionskraft propagandisti- Interesse“ für die „sinnreiche“ Neue- reitung, wirken aber mit so star- scher Filmbilder. Rückblickend ge- rung verdeckte allerdings eine be- ken Mitteln, dass „keine Langewei- stand das Kriegspressequartier zwar reits einsetzende Debatte über die le“ drohte. ein, dass der möglichst „dichte Ein- Wirkung der „Laufbilder“. Kritisch Angesichts des Publikumszu- satz“ des neuen Mediums vielerorts vermerkten Pädagogen und Intel- spruches trat die Filmwirtschaft ent- eine Forderung blieb und die vor- lektuelle vermeintliche Wahrneh- mungsdefizite, die durch eine ra- sche Abfolge flimmernder Szenerien verursacht würden. Spötter ätzten gegen eine „Kinematographie“, die wahllos aufgriff, was gerade herum- lag: Ein „ganzes Wirrsal von Litera- turen, der Gestaltrest von Tausen- den von Dramen, Romanen, Kri- minalgeschichten; die historischen Anekdoten, die Halluzinationen der Geisterseher, die Berichte der Aben- teurer“, das „Pikante“, der porno- graphische Beitrag für den „Her- renabend“. Die Filmbranche spiegelte ge- sellschaftliche Dünkel des begin- nenden 20. Jahrhunderts im Zuge der „Modernisierungsdebatte“ wi- der. Nicht selten in privilegierteren Kreisen als fragwürdig und im Re- Kurz nach 1900 entstanden die ersten Kinosäle wie das Grand-Kino-Theater um 1910 gelfall als niveaulos betrachtet, zog als erstes Kino in Wien-Brigittenau. Quelle: © Filmarchiv historische s ozialkunde • 5 handenen Möglichkeiten der Beein- selbst nach Publikumslieblingen tung der Stummfilmära mit exis- flussung im „patriotischen Sinne“ und Komikfilmminiaturen nach tenziellen Sorgen verbunden war, bei weitem nicht ausgeschöpft wur- dem erfolgreichen Vorbild ameri- florierte die Unterhaltungsindus- den. Dennoch bezweifelte niemand, kanischer Slapstick-Comedies Aus- trie. Das Heer der Arbeitslosen kon- dass Film und Kino im Zuge des Ers- schau halten. sumierte gerade die „Laufbilder“ als ten Weltkriegs eine enorme Aufwer- Die Filmindustriellen, die anfangs „Ersatzdroge“. Die Branche expan- tung erfuhren. Der Umstand, dass vor dem Hintergrund revolutionärer dierte: In Österreich gab es 1932 eine staatlich gelenkte Propaganda, Ereignisse, kommunistischer Um- mehr als 900 Kinos. Allein in Wien welche die „vaterländische Gesin- sturzversuche und der Entstehung besuchten sie etwa 30 Millionen nung“ des Publikums heben oder der Sowjetunion auch in Österreich Menschen pro Jahr. behördliche Maßnahmen einsich- eine Verstaatlichung der Lichtspiel- tig machen sollte, Einzug in die Ki- theater und Produktionsfirmen be- Kampfzonen nos hielt, bewog auch Skeptiker zur fürchteten, sahen sich bald in ihren Nachsicht. Jetzt, wo die Lichtspiel- Geschäftsstrategien bestätigt. Die Angesichts enormer Besucherzah- theater als übel beleumundete Stät- Privatwirtschaft siegte über Initia- len setzten sich auch die politischen ten des „seichten Vergnügens“ sich tiven der offiziellen Stellen. Wäh- Parteien mit den Möglichkeiten und gewissermaßen für eine „höhere Sa- rend die Tätigkeit der „Filmhaupt- „Gefahren“ der „Filmwesens“ aus- che“ dem Staat zur Verfügung stell- stelle“ bereits in der ersten Hälfte einander. Fürchtete der „bürgerlich- ten, wurde der Kinobesuch nicht der Zwanzigerjahre endete, hofften bäuerliche Block“ vor allem um „Sit- automatisch mit niveauloser Zer- österreichische Produzenten auf te und Moral“, insbesondere bei den streuung gleichgesetzt. Waren die den großen internationalen Durch- Jugendlichen, so verachteten „lin- Kinomatographenbesitzer noch bruch. Vom „Großraumdenken“ ke“ Bildungseliten den Inhalt vieler zu Beginn des 20. Jahrhunderts in des Habsburgerimperiums und der Billigproduktionen. Das Volk, kons- amtlichen Verfügungen als „Gesin- Investitionslust als Folge der ga- tatierte man, atme die Atmosphäre del“ bezeichnet und in einem Atem- loppierenden Inflation angeleitet, des Luxus, der Macht und der Nie- zug mit Vagabunden, Schaustellern entstanden in der österreichischen dertracht. oder „Zirkusleuten“ genannt wor- Bundeshauptstadt Monumental- Die Realität sozialdemokratischer den, konnten sie jetzt für sich rekla- filme wie „Sodom und Gomorrha“, Filmpolitik sah jedoch anders aus. mieren, im Interesse der „Heimat“ eine Mischung aus Gegenwart und Eine von der „Arbeiterbank“ finan- zu wirken. Angehörige der Habs- biblischem Stoff, die jedoch biswei- zierte Kinobetriebsgesellschaft, kurz burgerdynastie meinten demgemäß, len nicht den gewünschten Erfolg „Kiba“, setzte seit ihrer Gründung dass das Kino „Geist und Sitten“ bil- brachten. 1926 auf Populäres und war, nicht den könne. Die Studios – in Wien gab es ne- ohne innerparteiliche Kritik, durch- ben den großen Unternehmen „Sa- aus bemüht, über eine eigene Kette Pläne, Träume, Märkte scha“, „Astoria“, „Dreamland“, „Lis- von Lichtspieltheatern und großen to“, „Schönbrunn“ und „Vita-Film“ Premierekinos am „kapitalistischen Von der untergehenden Donaumo- noch rund zwanzig weitere Pro- Filmkuchen“ mitzunaschen. narchie erbte die entstehende Al- duktionsfirmen – mussten sich der Von konservativer Seite fehlte es penrepublik damit eine Filmdiskus- deutschen und amerikanischen unter diesen Bedingungen nicht an sion, die zwischen „Erbaulichem“ Konkurrenz beugen. Der „Rück- mahnenden Worten. Die Kinokom- und „Schund“, zwischen elitärem bau auf Kleinstaatsniveau“ führte petenz dürfe man, warnte das „Ös- Bildungsauftrag und kommerzieller zum Zusammenbruch der bis da- terreichische Katholische Film- Massenkultur zu trennen versuchte. hin bestehenden Filmindustrie der komitee“, nicht in „marxistische Als sich die sozialdemokratisch ge- Alpenrepublik. Später bedeutende Hände“ legen. Destabilisierung der führte Regierung in Wien während Filmschaffende, darunter Billy Wil- Republik und Polariserung der In- des Sommers 1919 zur Gründung der, Fred Zinnemann, Georg Wil- nenpolitik zeigten sich auch im einer staatlichen „Filmhauptstelle“ helm Pabst, Fritz Lang, Otto Pre- „Filmwesen“. Das Kino wurde zur entschloss, trat dieser zentrale Ge- minger und Erich von Stroheim Kampfzone. Während verstärkt Pro- gensatz deutlich zu Tage. Obwohl verließen das Land. Ihre Ziele wa- pagandastreifen im Vorfeld des Nati- man bekannt gab, sich nicht auf ren Berlin und Hollywood. Der ös- onalratswahlkampfes von 1930 zum „reine Unterhaltung“ einzulassen, terreichische Markt blieb indes für Einsatz gelangten, kamen zur be- und „Lehrreiches“ beziehungswei- Produktion, Verleih und Vertrieb at- kannten Debatte über Qualität und se „Informatives“ in Form von Auf- traktiv. Trotz Weltwirtschaftskrise „Kitsch“, Bildung und „Volksverblö- klärungs- und Schulfilmen ankün- und Einführung des Tonfilms, die dung“ explizit ideologische Streit- digte, musste die „Filmhauptstel- für Besitzer kleinerer Lichtspiel- fragen hinzu: Der „Aufbau des Sozia- le“ aus finanziellen Gründen bald theater und manche Musikbeglei- lismus“ und die Darstellung revolu- 6 • historische s ozialkunde

ständigen Landesregierungen ein gewisser Einfluss, speziell im Be- reich des „Jugendschutzes“ und der Vergabe von Lizenzen für Licht- spieltheater, ausüben. Polizei und Innenministerium beklagten aber die Zersplitterung der Kompetenzen und die Unzulänglichkeit der ge- setzlichen Regelungen. Lediglich Ausschreitungen, wie im Fall der US-Produktion „Im Westen nichts Neues“, schufen die Möglichkeit, im Sinne der „Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung“ zu inter- venieren.

Szene aus dem Film „Im Westen nichts Neues“ (USA 1930, Regier: Lewis Milestone, Das autoritäre Regime nach dem ein Jahr zuvor erschienenen Antikriegs-Roman von Erich Maria Remarque). Quelle: © Filmarchiv Immerhin bereitete die Regierung dem jahrelangen Konflikt zwischen dem „Roten Wien“ und den Bundes- behörden – auch in Filmangelegen- heiten – ein Ende, als sie im Februar tionärer Massen riefen bei Gegnern Kriegsgrauens sehen wollte, muss- 1934 die sozialdemokratische Partei der „Linken“ Protest hervor. Der te in die benachbarte Tschechoslo- zerschlug beziehungsweise in die Il- Ablehnung sogenannter „Russen- wakei fahren. legalität drängte. Mit der Ausschal- filme“, also sowjetischer Produkti- Die aufgeschaukelten Emotionen tung des Parlaments 1933 und der onen, stand, wie es in den Satzungen boten der Exekutive zugleich Gele- Verabschiedung der ständisch-auto- des christlichsozialen „Vereins der genheit, eine strengere Kontrolle ritären Verfassung vom Mai 1934 österreichischen Filmfreunde“ hieß, des scheinbar aufwühlenden Mas- entledigte sich die Staatsführung die Förderung der „Heimatfilm- senmediums zu verlangen. Nach- auch im kulturellen Sektor unbe- kunst“ als Schutzschirm vor dem dem man 1926 offiziell jede Film- quemer Gegenstimmen. Die „Kiba“, „Ausfluss destruktiver Weltpropa- zensur abgeschafft hatte, ließ sich der „linke“ Kinobetrieb und Film- ganda“ gegenüber. zwar seitens der für Kinofragen zu- verleih, aber auch die sozialistische Besondere Empfindsamkeit rief zudem die filmische Auseinander- setzung mit der Geschichte der Do- naumonarchie und den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs hervor. Mili- tarismus und Pazifismus prallten speziell zu Beginn der 1930er Jah- re bei dem in den USA hergestellten Antikriegsfilm „Im Westen nichts Neues“ unversöhnlich aufeinander. Rechtsradikale Gruppierungen und nicht zuletzt der aufstrebende Na- tionalsozialismus sorgten für Un- ruhe. Demonstrationen, Stinkbom- ben in den Kinosälen und Sachbe- schädigungen führten zum Verbot des Films. Die Sozialdemokratie, die „Im Westen nichts Neues“ un- terstützte und empfahl, erlitt in ih- rer eigenen Stadt, im „Roten Wien“, eine schwere Niederlage: Wer die Signation der austrofaschistischen Wochenschau „Österreich in Bild und Ton“. eindrucksvolle Darstellung des Quelle: © Filmarchiv historische s ozialkunde • 7

ländische, meist deutsche, aber auch US-Streifen verbreiteten. Hier vermochte der Nationalsozi- alismus lückenlos mit der Gründung der „Wien-Film“ im Dezember 1938 fortzusetzen. In vordergründig ent- ideologisierten Produktionen zielte die NS-Propaganda unter Joseph Goebbels auf „leichte Kost“, „seichte Stoffe“ und scheinbar politisch un- verbindliche Zerstreuung ab. Spe- ziell Wien mit seinem „charmanten Lokalkolorit“ wurde zum wichtigen Bestandteil der Selbstinszenierung des „Dritten Reichs“. Konnte die Unterhaltung der „Volksgenossen“ demgemäß auf ältere Vorbilder zurückgreifen, so stellte der „Anschluss“ Österreichs „Das Volk von Tirol setzt sich zur Wehr“ („Österreich in Bild und Ton“ 37a/1934). an das Deutsche Reich im März 1938 Quelle: © Filmarchiv auch in rechtlich-organisatorischen Belangen keine Zäsur dar. Obwohl Filmkritik verschwanden. Alle maß- beispielsweise durch die Würdigung die Alpenrepublik mit einem Kon- geblichen Kräfte der Filmwirtschaft der „Klassiker“, vor allem unter den tingentierungsgesetz vom Mai 1926 wurden unter der Obhut des Minis- berühmten Komponisten. die Einfuhr ausländischer Streifen teriums für Handel und Verkehr zu- beschränkte, indem sie diese von sammengeführt. Schon zuvor hat- Kontinuitäten der Zahl heimischer Arbeiten ab- te der „austrofaschistische Stände- hängig machte, entwickelte sich die staat“ die obligatorische Filmprü- Speziell Wien ließ sich als Musik- deutsche Produktion hauptsächlich fung wieder eingeführt. und Walzerstadt, als Donaumetro- durch den Tonfilm zur übermäch- Während es in Zensurfragen aller- pole der Lebensfreude, Leut-, Wein- tigen Konkurrenz. Österreich wur- dings nicht zu der lange geforderten und Heurigenseligkeit präsentieren. de schon lange vor 1938 von den Ab- Vereinheitlichung kam und Landes- Bedient wurden damit auch Stereo- satzmärkten „im Reich“ abhängig, regierungen sowie andere Prüfstel- type, die der Operettenfilm und aus- aber auch von „preußischem“ Kapi- len weiterhin unabhängig vonein- ander tätig waren, ging das autori- täre Regime in der Bildpropaganda neue Wege. Mittels der staatlichen Wochenschau „Österreich in Bild und Ton“ versuchte man sich – al- lerdings mit geringem Erfolg beim Publikum – vom nationalsozialis- tischen Deutschland abzugrenzen. Der „Konkurrenzfaschismus“ der Wiener Führung setzte gegen den verbreitenden Anschlusswillen auf die Selbstbestimmung eines kleinen Landes, das sich vor allem durch ein auch touristisch nutzbares Land- schaftsidyll, durch Folklorismus und antimodernistische Provinzia- lität definierte. „Größe“ vermittelte man hingegen durch Rückwärtsge- wandtheit und Habsburgmythos, durch barocke Opulenz und die Ei- Szene aus „Der weite Weg“ (oder: „Schicksal in Ketten“, A 1946, gendefinition als Kulturgroßmacht, Regie: Eduard Hoesch). Quelle: © Filmarchiv 8 • historische s ozialkunde tal. Gerade für den stärksten Rivalen in unverfänglichere Reize einer „un- die von den Regierungsparteien im sah man unter diesen Umständen berührten“, „gesunden“ Natur und Proporz hergestellte „Austria Wo- von den geltenden Bestimmungen die weiter zurückliegenden Epo- chenschau“ ab den späten 1940er ab: Die Kontingentierungsverord- chen der Geschichte. Die jüngste Jahren zur Formierung eines öster- nung galt nicht für Deutschland. Vergangenheit wurde lediglich in ei- reichischen Nationalbewusstseins Als dort Adolf Hitler die Macht nigen Heimkehrerfilmen, in beiläu- bei. Eine ähnliche Aufgabe erfüllten ergriff und der „Austrofaschismus“ figen Andeutungen und bisweilen in die zahlreichen „Heimatfilme“ unter offiziell auf Distanz zum „gro ßen Bombenruinen sichtbar. den mehr als 200 zwischen 1945 und Nachbarn“ ging, stimmten sich 1955 entstandenen österreichischen Wien und Berlin nicht zuletzt auch Aufschwung und Niedergang Spielfilmproduktionen. Erholung in Filmangelegenheiten ab. Durch und Selbstfindung des „Entwurzel- mehrere Übereinkommen sicherten „Breitenwirksam, zukunftsorien- ten“ in der stabilen Ordnung länd- sich die reichsdeutschen Verhand- tiert und optimistisch“ trug auch licher Gegenden passten dabei auch ler den freien Zugang zum Markt und die Kontrolle über die Produk- tion des Nachbarlandes. Die Auslie- ferung der österreichischen Film- wirtschaft an die nationalsozialis- tische wirkte sich unmittelbar auf jüdische Schauspieler, Drehbuch- autoren, Kameraleute, Regisseure und Produzenten aus. Der „Arierpa- ragraph“ wurde in der Filmindustrie des „Ständestaates“ bereits wirksam. Nationalsozialisten überprüften den Export Österreichs nach Deutsch- land, kontrollierten Drehbücher und Besetzungslisten, sorgten dafür, dass nur „arisches“ Personal einge- setzt und die NS-Gefolgschaft bevor- zugt wurde. Ungeachtet jener Brüche in der österreichischen Geschichte, die mit den Ereignissen der Jahre 1933/34, 1938 und 1945 verbunden sind, do- Signation der „Austria Wochenschau“. Quelle: © Filmarchiv minieren in der Hochzeit des Kinos, von den 1930er bis in die 1950er Jahre, auf mehreren Ebenen die Kontinuitäten. Filmschaffende der NS-Zeit setzten ihre Karrieren nach 1945 in der Regel ungebrochen fort. In- haltlich und ästhetisch schloss man vielfach an die Zwischenkriegszeit und das „Dritte Reich“ an. Gängige Österreich-Klischees, wie sie der „Ständestaat“ und die Goebbels- Propaganda favorisierten, prägten das Selbst- und Fremdbild eines „Kleinstaates“, der im Zuge der al- liierten Besatzung, der Staatsver- tragsverhandlungen, der Neutrali- tätserklärung und des Wirtschafts- aufschwungs zu sich finden wollte. Das konservative Kulturparadigma Bundespräsident Franz Jonas in der „Austria Wochenschau“ (5/1966). der „langen“ 1950er Jahre entfloh Quelle: © Filmarchiv historische s ozialkunde • 9 zu den Wünschen eines entstehen- on selbst erlebt durch Videovertrieb tiven und kontroversiellen Aussa- den Wohlfahrtstaates, der durch die und TV-Stationen sogar eine anhal- gen gesucht. Mobilisierungswelle der rasch wach- tende Konjunktur. Weniger radikal, aber nichtsdes- senden Fremdenverkehrswirtschaft Auch sonst hat sich die Kino- toweniger innovativ in inhaltlicher, zuarbeitete. landschaft in der Alpenrepublik formaler und ästhetischer Hinsicht Die Reiselust stimulierten Bilder mehr oder minder deutlich verän- erreichte der österreichische Kino- von Urlaubszielen, die das Kino als dert. Einerseits dominiert „Holly- film seit den 1980er Jahren auch unumstritten beliebtestes Freizeit- wood“ schon seit der US-Kultur- jenseits der Staatsgrenzen ein ho- vergnügen der frühen Zweiten Re- politik während der Besatzungszeit hes Maß an Aufmerksamkeit. An publik bereitstellte. Wie viele Kon- den Publikumsgeschmack. Ande- die kommerziellen Erfolge der Zeit sumbedürfnisse zunächst von der rerseits machte der österreichische nach dem Zweiten Weltkrieg konn- Filmbranche geweckt wurden, deu- Avantgardefilm im Zuge einer ge- te zwar nicht angeknüpft werden, ten Zahlen aus der zweiten Hälf- sellschaftlichen Liberalisierung der Preise bei internationalen Filmfes- te der 1950er Jahre an. Damals gab Zweiten Republik ab den 1960er Jah- tivals, Oscar-Verleihungen und -No- es in der gesamten Alpenrepublik ren Furore. Angepasst an die ökono- minierungen weckten jedoch Hoff- knapp 1.200 Lichtspieltheater, da- mischen Möglichkeiten und haupt- nungen, die in regelmäßigen Ab- von jeweils mehr als 200 in Wien sächlich als Reaktion auf die Bilder ständen zu Diskussionen über die und in der Steiermark. Parallel der Zwischenkriegszeit, der NS-Un- Bedeutung des Fernsehens und der dazu stiegen auch die Besucherzah- terhaltung und des Heimatfilms staatlichen Filmförderung sowie die len permanent. 1958 war der Höhe- nach 1945, wurde mitunter, wie im Rolle des „nationalen Films“ bei viel- punkt erreicht: 122 Millionen Kar- Fall des Wiener Aktionismus, ex- fach länderübergreifenden Koopera- ten wurden innerhalb von 12 Mo- zessiv nach künstlerischen Alterna- tionen führten. naten gelöst. Die ÖsterreicherIn- nen gingen in diesem Jahr demnach rund 15 Mal ins Kino. Im Vergleich dazu sind es heu- LITERATUR te durchschnittlich ungefähr zwei Kinobesuche. Durch das Fernse- e. Büttner/c. dewald, anschluß an Morgen. eine Geschichte des österreichischen Films hen musste die Filmbranche ab den von 1945 bis zur Gegenwart. salzburg-wien 1997. 1960er Jahren beträchtliche Einbu- e. Büttner/c. dewald, das tägliche Brennen. eine Geschichte des österreichischen Films ßen hinnehmen. Der Niedergang von den anfängen bis 1945. salzburg-wien 2002. manifestierte sich vor allem auf dem h.-h. FaBris, der „österreichische weg“ in der Mediengesellschaft, in: r. sieder/h. stei- Land in einem langjährigen Kino- nert/e. tálos (hg.), Österreich 1945–1995. Gesellschaft, Politik, kultur. 2. aufl. wien sterben. Während der ersten Hälfte 1996, 641-654. der 1990er Jahre war der Tiefststand a. lanG/F. Marksteiner/a. unGerBÖck, Film und kino in Österreich zwischen 1945 erreicht: In weniger als 400 Kinos und 1955, in: s. karner/G. stangler (hg.), Österreich ist frei. der Österreichische staats- registrierte man ungefähr neun Mil- vertrag 1955. Beitragsband zur ausstellung auf schloss schallaburg 2005. horn-wien lionen Besucher. 2005, 257-262. V. Moritz/k. Moser/h. leidinGer, kampfzone kino. Film in Österreich 1918–1938. wien 2008. Veränderungen, Hoffnungen, k. Moser (hg.), Besetzte Bilder. Film, kultur und Propaganda in Österreich 1945–1955. Debatten wien 2005. Der nachfolgende Aufwärtstrend, der Bau von Kinocentern mit meh- zuM weiterlesen reren Sälen und der Anstieg der Be- hannes leidinger/Verena Moritz/karin Moser: „im zentrum der Macht. die vielen Ge- sucherzahlen auf rund 18 Millionen sichter des Geheimdienstchefs Maximilian ronge“ (2007). im Jahr 2005 zeigt aber auch, dass „Filmische Gedächtnisse. Geschichte – archiv – riss“ (2007). die Filmindustrie nicht weiter ver- „die republik Österreich 1918/2008. überblick, zwischenbilanz, neubewertung“ drängt, sondern innerhalb einer ver- (2008). änderten Medienlandschaft neu po- „romy schneider. Film.rolle.leben“ (2008). sitioniert wurde. Die Filmprodukti- Ewald Hiebl 1906 in den USA. Die ersten kom- merziellen Rundfunksender wurden 1920/22 in den USA, den Niederlan- Ravagianer, Rot-weiß-rot und freie Radios den, in Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Russland in Be- Eine kurze Geschichte des Hörfunks in Österreich trieb genommen. Der im englischen Sprachraum aufgekommene Begriff „Broadcasting“ verweist auf den be- sonderen Aspekt des neuen Medi- ums, das Information nicht gezielt Alte Träume und neue Technik reich. Ihnen gelang die drahtlose an bestimmte Gruppen vermittelt, Übertragung von Zeichen. Marconi sondern bewusst massenhaft ver- Die Erfindung des Radios an der stellte erste funkentelegrafische Ver- breitet. Der Begriff stammt aus der Wende vom 19. zum 20. Jahrhun- bindungen zwischen England und Landwirtschaft und bedeutet so- dert verbindet Tradition und Inno- Irland sowie Europa und Amerika viel wie ein „flächendeckendes Ver- vation. Am Beginn der Medienge- her. 1904 bewies Otto Nußbaumer streuen von Saatgut“ (Wilke 2008: schichte dominierte die Sprache als in einem erst später entsprechend 326-328). sogenanntes primäres Medium, als gewürdigten Experiment an der TU Medium ohne Technikeinsatz. Ge- Graz, dass auch die drahtlose Über- Die Anfänge des Radios schichten und Erzählungen waren tragung von Sprache und Musik in Österreich von der Frühgeschichte bis weit ins möglich war. 20 Meter weit wur- Mittelalter die bedeutendsten Me- de die steirische Landeshymne von Die Anfänge des Hörfunks in Ös- dien, ehe diese Tradition sukzessi- einem Raum in einen anderen über- terreich fielen in eine Zeit, in der ve durch die Printmedien abgelöst tragen. Die Erfindung des Lichtbo- die gesetzlichen Rahmenbedin- wurde. Erst im 19. Jahrhundert wa- gensenders durch Valdemar Poulsen gungen noch nicht geschaffen wa- ren die Versuche, den Schall zu spei- 1906 erlaubte endgültig die konti- ren. Die ersten Sendungen von „Ra- chern, erfolgreich. Der Innovation nuierliche Übertragung von Spra- dio Hekaphon“ wurden 1923 in ei- einer dauerhaften Konservierung che und Musik. ner rechtlichen Grauzone ausge- akustischer Information auf Walzen Nachdem die technische Basis strahlt. „Radio Hekaphon“ sendete und Platten folgte die Möglichkeit, gelegt war, ging es um die inhalt- aus dem Technologischen Gewer- Schallwellen zu transformieren, liche Ausgestaltung des neuen Medi- bemuseum, wo ein Versuchssender über tausende Kilometer zu trans- ums „Hörfunk“. Die Idee, Musikdar- für Mess- und Demonstrationszwe- portieren und wieder in akustische bietungen und Wortbeiträge ohne cke stand. Hinter dem ersten öster- Signale zu verwandeln. räumliche Präsenz von Sender(n) reichischen Radiosender standen Die Entwicklung des Radios war und Empfänger(n) zu ermöglichen, die „Vereinigten Telephonfabriken nicht das Werk eines genialen Erfin- hat im ausgehenden 19. Jahrhun- AG Czeija, Nissl & Co. und Johann ders. Viele Schritte waren nötig, um dert bereits zu Versuchen geführt, Kremenetzky“, die mit den ameri- die technischen Voraussetzungen das junge Medium Telefon für die kanischen Elektrokonzernen Wes- für die drahtlose Übertragung akus- Übertragung von Konzerten zu nut- tern Electric Company und General tischer Informationen zu schaffen. zen. Im Rahmen der Internationa- Electric kooperierte. In der Wiener Schon im 18. Jahrhundert gab es len Elektronikausstellung 1883 in Urania wurden regelmäßig Vorfüh- eine, wenn auch anonyme Idee, In- Wien gab es die Übertragung eines rungen des Programms angeboten. formation über Drähte zu übertra- Konzertes einer in Baden sitzen- Empfangsgeräte waren in Elektro- gen. Im 19. Jahrhundert erreichte den Pianistin und eines Sängers in geschäften zu kaufen. das Medium Telegrafie die tech- Korneuburg an ein Publikum, das Die staatlichen Autoritäten nah- nische Reife. Die großen Atlantik- an Telefonhörern in der Wiener Ro- men eine durchaus widersprüch- kabel erlaubten den Austausch von tunde lauschte. 1893 gründete der liche Haltung zum neuen Medium telegrafischen Nachrichten auch ungarische Techniker Tivadar Pus- ein. So erließ die Generaldirektion zwischen Europa und Amerika. Als kas eine patentierte „Telefon-Zei- für Post-, Telegraphen- und Fern- 1888 Heinrich Hertz der Nachweis tung“ („Telefon-Hírmondó“). Mit- sprechwesen im Dezember 1923 elektromagnetischer Wellen gelang, tels Telefon wurden Informationen eine „Amtsverfügung betreffend begann die Entwicklung der draht- und ein Kulturprogramm verbrei- Einstellung des Radiobetriebes der losen Nachrichtenübertragung. Ni- tet. Nach einem Jahr gab es bereits Station im Technologischen Gewer- kola Tesla, Guglielmo Marconi und 1.000 Abonnenten. Die ersten mit- bemuseum“ und kündigte ein hartes Aleksandr Popow experimentierten tels drahtloser Ausstrahlung gesen- Vorgehen gegen Rundfunkhörer an, in den 1890er Jahren in diesem Be- deten Radioprogramme gab es ab das aber kaum administrierbar war. historische s ozialkunde • 11

lich-sozialen Außenminister Alfred Grünberger und vom christlich- sozialen steirischen Landeshaupt- mann Anton Rintelen. Durch Sprecher der drei gro ßen politischen Lager sollte die poli- tische Unabhängigkeit des Medi- ums symbolisiert werden. Durch Reden des Bundeskanzlers, des Wie- ner Bürgermeisters und eines Lan- deshauptmanns wurde das Radio als Medium für ganz Österreich aus der Taufe gehoben. Die inhaltliche Ge- staltung zeigt die Ausrichtung des Hörfunks in den ersten Jahren. Drei Ziele waren es, die nach Oskar Czeija dem Medium Hörfunk in Österreich zukamen: 1. Bilden, 2. Belehren und 3. Propaganda für Österreich und „Der Radioverkehr in Wien. Der Aktionsraum der am 1. Oktober aktivierten Radio- sein geistiges und kulturelles Ni- zentrale der ‚Ravag‘ im Kriegsministeriumsgebäude. Nach einer photographischen Aufnahme.“ (Wiener Bilder. Illustriertes Familienblatt, 5.10.1924). veau. So war schon der Sendungs- Quelle: © ANNO/ÖNB beginn mit „ernster“ Musik und Ge- dichtrezitationen einer klassischen Kultur und Bildung verpflichtet. Di- ese Schwerpunktsetzung prägte die Anfangsjahre auch weiterhin. Schon am 9. Oktober 1924 gab es die ers- te Opernaufführung, im November wurde die erste „Radiobühne“ aus- gestrahlt, und 1925 sendete die „Ra- dio-Volkshochschule“ erstmals ihr Bildungsprogramm. Freilich muss- ten die Inhalte an das Medium an- gepasst werden. Es gab eine kleinere Orchestrierung, statt ganzer The- aterstücke wurden häufig „drama- tische Fragmente“ geboten, um die Darbietenden im Rundfunkstudio unterzubringen. Im Sommer 1925 Der Wiener Bürgermeister Karl Seitz besucht das RAVAG-Studio., wurde die erste Übertragung der Quelle: © ÖNB-Bildarchiv #387912 – FO44661 Salzburger Festspiele gesendet. Der Wunsch, im wissenschaftlichen Pro- Im Gegenzug bemühte sich der ös- derne Medium, sondern auch bereits gramm nur die „allerersten“ Fach- terreichische Nationalrat, den Hör- die inhaltliche Ausrichtung der ers- leute reden zu lassen, konnte nicht funk zu legalisieren. Das geschah ten Jahre. Die erste Durchsage „Hal- verwirklicht werden, weil sich re- mit dem im Juli 1924 beschlossenen lo, hallo, hier auf Welle nommierte Wissenschaftler dem Radiogesetz. Am 30. September 530. Mit dem heutigen Tage begin- Medium zu Beginn in vielen Fällen 1924 wurde die RAVAG (Radio-Ver- nen wir den Broadcasting Dienst“ verweigerten. So hörte man statt kehrs-Aktiengesellschaft) gegrün- übernahm auch die englische Be- der neuesten Erkenntnisse aus der det, deren erster Generaldirektor zeichnung für das neue Medium. Welt der Wissenschaft häufig Vor- Oskar Czeija war. Dann folgten Ansprachen vom träge über ganz praktische The- Die am folgenden Tag ausge- christlich-sozialen Bundeskanzler men wie „Erste Hilfe bei Unfällen“ strahlte erste Sendung der RAVAG Ignaz Seipel, vom sozialdemokra- oder „Tipps für Schrebergärtner“ aus dem obersten Stock des Heeres- tischen Wiener Bürgermeister Karl (Ergert I 1975–1985: 27-132; Csok- ministeriums zeigte nicht nur die Seitz, vom großdeutschen Handels- lich 1983: 726; Braunbeck/Schlögl technische Begeisterung für das mo- minister Hans Schürff, vom christ- 2004: 15-24). 12 • historische s ozialkunde

Begeisterung und Kritik – Frühe Hörgewohnheiten, Werbung und erste Stars

Die Faszination am Medium Radio ergab sich zu Beginn eher aus der Begeisterung für die neue Technik und die Möglichkeiten der draht- losen Übertragung von Ton, obwohl die technische Ausrüstung häufig recht schlecht war. Oft gab es Un- terbrechungen der Übertragung; Brummen und Krächzen beglei- teten die Ausstrahlung. Die Emp- fangsgeräte waren sehr anfällig ge- genüber Erschütterungen. In Vik- tor Ergerts „Geschichte des öster- reichischen Rundfunks“, die 1975 zum 50 Jahr-Jubiläum der RAVAG Kultur als wichtiger Faktor im Programm der RAVAG – Rundfunkübertragung des erschien, berichtet der Techniker „Europäischen Konzerts“, 1931. Quelle: © ÖNB-Bildarchiv #3401514 – RÜ ZK 204/2 Wilhelm Füchsel: „Jeder, der nur halbwegs mit dem Schraubenzie- her umzugehen verstand, versuchte Auswirkungen des neuen Mediums eines schlichten Bauernhauses, ist sich einen Detektorapparat selbst zu auf die Modernisierung des länd- ihm egal […].“ (Salzburger Chro- bauen, um so schnell als möglich lichen Lebens berichtete. Man wer- nik 39/1925) am Radioempfang teilnehmen zu de „auch in der Bauernstube sicher- Wie beim Aufkommen neuer Me- können. Es war dies ja auch nicht lich mit Freude und Bewunderung, dien üblich, gab es aber auch beim schwer. Etwas Pappe, einige Meter [sic] diesem Tausendsassa von Ra- Radio nicht bloß Apologien son- Draht und ein Kristall genügten, dio zuhören“. Das Radio wurde mit dern ebenso heftige Kritik und re- um zu Hause die entferntesten Klän- einem modernen „Mädchen aus der gelrechte Horrorszenarien. So wur- ge hervorzuzaubern. Damals hörten Ferne“ verglichen, das seine Gaben de in einem Artikel in der Neuen die Menschen noch sehr aufmerk- für jeden verstreue, „der ihrer be- Freien Presse 1926 ein Zusammen- sam dem dürftigen Radioprogramm gehrt“. Von besonderem Interes- hang zwischen den Radiowellen zu. Durch Kopfhörer aneinanderge- se ist hier, dass dies im ansonsten und einer Schlechtwetterperiode kettet, saß die Familie um den Ra- wertkonservativen christlich-sozi- hergestellt. Hermann Hesse lässt dioapparat und bemühte sich, den alen Milieu, in dem der Sittenverfall den Ich-Erzähler Haller in seinem Darbietungen zu folgen. Dabei stell- permanent kritisiert wurde, durch- 1927 erschienenen Roman „Der te [sic!] die geringe Lautstärke und aus positiv konnotiert war, weil die Steppenwolf“ das neue Medium als die Erschütterungsempfindlich- Einführung des Radios die ländliche teuflischen Blechtrichter bezeich- keit der damaligen Empfangsgeräte Peripherie gegenüber den urbanen nen: Er spucke „jene Mischung aus große Anforderungen an die Nerven Zentren nun nicht länger benach- Bronchialschleim und zerkautem der Hörer. Man versuchte deshalb teilige: „In gewissem Sinne hat ge- Gummi aus, welchen die Besitzer die abenteuerlichsten Schaltungen, rade der Landbewohner vor dem von Grammophonen und Abon- probierte nacheinander die verschie- Städter ein Recht auf Radio, denn nenten des Radios übereingekom- denen ‚Wunderkristalle‘ und baute dieser hat schließlich vielleicht nur men sind, Musik zu nennen […].“ vor allem umfangreiche Antennen- einen Weg von fünf bis zehn Minu- (Hesse 2001: 198) Pragmatischere anlagen, nicht nur im Freien, son- ten und kann Kino, Konzert oder Kritik kam von anderen Autoren, dern auch im Zimmer.“ (Ergert I Theater haben, ganz nach Auswahl, die schlichtweg die Frage der Tanti- 1975–1985: 47 f.) jahraus, jahrein. Anders der Bauer. emen geklärt haben wollten. Anlass Die Begeisterung für das neue In die ländliche Einsamkeit verirrt für eine diesbezügliche Kritik Hugo Medium zeigt sich auch in einem sich Derartiges nur ganz selten und von Hofmanns thals war die Auffüh- Artikel in der christlich-sozialen dann ist es wohl auch nicht immer rung seines Stückes „Der Tor und Salzburger Chronik, der 1925 un- erster Güte. Aber das Radio ist un- der Tod“ durch einen Berliner Sen- ter dem Titel „Radio im Bauernhau- parteiischer. Ob die Antenne auf dem der im Jänner 1925. se“ geradezu euphorisch über die Dach eines erstklassigen Stadthotels Die Beliebtheit des Mediums Ra- montiert ist oder über dem Dach dio wurde durch aufwändige und historische s ozialkunde • 13 kreative Werbemaßnahmen noch Hören der von den Detektoren emp- strahlt wurden. Immer wieder wur- zusätzlich gesteigert. So wurden fangenen Signale zunächst nur mit de auf den „Live-Charakter“ verwie- Schlager in Auftrag gegeben. In Kopfhörern möglich war. In vielen sen. Dazu dienten Formulierungen „Hallo, hallo, hier Radio Wien“ wird Fällen saß die ganze Familie rund wie „Wir sehen nun…“ oder „Gehen die klassenübergreifende Funkti- um den Detektor, der einen neuen wir nun in das Innere…“ ebenso wie on des neuen Mediums besungen. Mittelpunkt der eigenen Lebenswelt spektakuläre Momente, wenn der „Vom Hausknecht bis zum Direk- darstellte. Es war zunächst ein auf- Reporter aus dem fahrenden Auto tor, ein jeder sitzt jetzt beim Detek- merksamer und interessierter Kon- sendet und bemerkt, nun kurz still tor“, heißt es da. Der Satiriker Karl sum. Das Radio war in seinen ersten sein zu müssen, um sich vor einem Kraus kommentierte dies spöttisch: Jahren ein Hauptmedium und ent- herunterhängenden Ast zu schüt- „Großes Heil ist der Welt erflossen: wickelte sich erst im Zuge der Rou- zen. Warum gewisse Moderatoren Der Hausmeister ist an den Kosmos tinisierung des Hörens zum Neben- zu Stars wurden – es waren in der angeschlossen.“ Um einen Reim auf beimedium, das neben anderen Tä- Frühzeit des Radios ausschließlich ein neues technisches Modewort, die tigkeiten konsumiert wird. Um 1930 Männer – beschäftigte auch bald Antenne, zu finden, muss in einem war es mit der technischen Begeiste- die Wissenschaft. Unter dem Titel anderen Schlager „die schöne Adri- rung für das Medium selbst vorbei, „Stimme und Persönlichkeit“ unter- enne“ herhalten. Der Text ist vol- das Radio wurde zu einem Haus- suchten Karl Bühler und Paul La- ler sexueller Konnotationen, etwa haltsgerät. Nun galt das Interesse zarsfeld diese Frage, und von Beginn in folgendem Reim: „Manche Maid, stärker dem Programm, und es kam an widmeten sich Radiozeitschriften wenn schon Schlafenszeit, steigt ins eine vermehrt kritische Nutzung des der Medienforschung. Sowohl „Ra- Bettchen empfangsbereit, und sie neuen Mediums auf. dio Wien“, die offizielle Zeitschrift genießt mit dem Ohr ihren Lieb- Schon früh gab es „Stars“, die des gleichnamigen Senders, als auch lingstenor horizontal ideal.“ In der beim Publikum besonders gut an- weltanschaulich orientierte Zeit- letzten Strophe kommt die schöne kamen, so etwa den „Englischleh- schriften wie die sozialdemokra- Adrienne ihrem Untermieter näher, rer“ Mister McCallum, der Kultsta- tische „Radiowelt“ versuchten, die und das gemeinsame Radiohören tus genoss. Auch die Reportagen von Interessen der HörerInnen zu er- verdichtet sich zu einer Liebesbe- Andreas Reischek erfreuten sich gro- kunden (Jochum 1998: 14-26). ziehung, die über jene zum Radio ßer Beliebtheit. Die Reihe „Das wan- hinausgeht: „Sie drehen zusam- dernde Mikrophon“ brachte ab den Ein „Instrument der Staats- men am Radiophon, Paris berauscht frühen 1930er Jahren aktuelle und führung“ – Radio und Politik sie schon. Plötzlich sind zum Grei- lebendige Sendungen, die mit einem fen nah Wellen aus Zentralafrika, Kurzwellen-Übertragungswagen di- Politische und religiöse Themen und ganz entsetzt kommt sie knapp rekt vom Ort des Geschehens ausge- blieben in den ersten Jahren aus- unverhofft bis zum Kap der guten Hoffnung hinab.“ Für den Text zur „schönen Adrienne“ zeichnete ein gewisser „WauWau“ verantwort- lich; Hermann Leopoldi schrieb die Musik. Er zählte selbst zu den ers- ten Radiostars und setzt sich in sei- nem Lied „Der Ravagianer“ ironisch mit dem Programm auseinander, in- dem er die Zeitansage, die Durchga- be des Wasserstandes, den beliebten Englischkurs und die Kinderstunde in den Text integrierte (Braunbeck/ Schlögl 2004: 27). Um dem neuen Medium Radio lauschen zu dürfen, war die Bezah- lung einer nicht geringen Radioge- bühr notwendig. Da der Konsum im Privaten erfolgte und schwer zu kontrollieren war, gab es von Be- ginn an eine beträchtliche Zahl von „Schwarzhörern“. Meist wurde das Das RAVAG-Gebäude in der Wiener Johannesgasse im Juliputsch 1934. Medium gemeinsam genutzt, da das Quelle: © ÖNB #1558734 – Pk 3002, 7530 14 • historische s ozialkunde gespart. Selbst wenn bei der ersten den Rundfunk – innerhalb vernünf- Sendung Politikprominenz aus al- tiger Grenzen – als ein Instrument len ideologischen Lagern anwesend der Staatsführung zur Aufklärung, war, so spielte Parteipolitik keine zur Mahnung, zur unerschrockenen große Rolle. Erich Kunst, Verwal- Verteidigung der Wahrheit und zu tungsrat im RAVAG-Präsidium, be- begeisterndem Aufruf zu benützen.“ tonte kurz nach Beginn der Sen- Ende 1933 wurde der Aufsichtsrat detätigkeit die weltanschauliche der RAVAG ausgeschaltet, wodurch Neutralität des neuen Mediums: der staatliche Zugriff auf den Hör- „Der Rundfunk-Nachrichtendienst funk ermöglicht wurde. will keine Zeitung sein, er will we- Auch im Juliputsch 1934 spielte der urteilen, noch kommentieren, das Medium Radio eine wesent- noch Weltanschauungen vertreten.“ liche Rolle. Schon im Juni Ziel na- Der Hörfunk sehe sich lediglich als tionalsozialistischer Spengstoffan- Übermittler von Nachrichten, so schläge, wurde das RAVAG-Gebäu- Kunst. Der Kärntner Landeshaupt- de in der Wiener Johannesgasse am Radio als wichtigstes Propaganamittel mann Vinzenz Schumy meinte am 25. Juli 1934 von nationalsozialisti- der Nationalsozialisten: der Volksempfän- 12. Februar 1927 bei der Eröffnung schen Putschisten besetzt, die sich ger VE301W, benannt nach dem Tag des Senders Klagenfurt: „Ich wün- als Soldaten des Bundesheers und der Machtübernahme der National- sozialisten 1933. sche und hoffe, daß der Rundfunk Polizisten verkleidet hatten. Im Ra- Quelle: © http://de.wikipedia.org/w/in- so lange als möglich dem politischen dio wurde eine Erklärung verlesen, dex.php?title=Datei:Ve301w.jpg&filetime Kampfe verschlossen bleibt.“ dass Bundeskanzler Engelbert Doll- stamp=20060605221200, GNU-Lizenz Dieser Wunsch erfüllt sich nicht. fuß zugunsten Anton Rintelens zu- Zunächst wurde die Berichterstat- rückgetreten sei. Die Nachricht ent- tung über Politik ausgebaut, zuneh- sprach nicht den Tatsachen, wur- mend wurde auch „geurteilt“ und de Dollfuß doch am selben Tag von Das „allerwichtigste Massen- „kommentiert“. Zur Berichterstat- Putschisten ermordet. Der im Radio beeinflussungsinstrument“ – tung über die Wahl von 1930 wur- verkündete erfolgreiche Putsch ge- Hörfunk im Nationalsozialismus de ein eigenes „Wahlstudio“ einge- gen Dollfuß motivierte Nationalso- richtet. Vor der Wahl wurden „Be- zialisten in zahlreichen Städten und Wie schon 1933 in Deutschland wur- langsendungen“ der politischen Dörfern zu lokalen Aufständen, die de 1938, als die RAVAG als „Deutsch- Parteien ausgestrahlt, die – dem an- aber nach wenigen Tagen niederge- österreichischer Rundfunk“ in den gespannten innenpolitischen Klima schlagen werden konnten. Großdeutschen Rundfunk integriert dieser Zeit gemäß – teilweise heftige Schließlich spielte das Radio auch wurde, auch in Österreich die alte Angriffe auf die anderen politischen in der Auseinandersetzung um die Elite der Radiomacher wie RAVAG- Positionen beinhalteten. Selbstständigkeit Österreichs vor Generaldirektor Oskar Czeija vom Mit der Etablierung der „austrofa- dem Anschluss eine große Rol- Dienst suspendiert. Die Ausrich- schistischen“ Diktatur änderte sich le. Während die aus Deutschland tung des Programms auf die natio- auch das Verhältnis der politischen einstrahlenden Sender des „Groß- nalsozialistische Ideologie geschah Autoritäten zum Radio. Nun nutzten deutschen Rundfunks“ Propaganda durch die Entlassung und Verfol- die politischen Führer das Medium für den Anschluss an Deutschland gung von MitarbeiterInnen aus po- zur Verkündigung der eigenen ideo- machten, nutzte die Vaterländische litischen und „rassischen“ Gründen. logischen Positionen und zur Mobi- Front die RAVAG als Plattform für die Alle Mitarbeiter des in den Großdeut- lisierung der Bevölkerung. Justizmi- Selbstständigkeit Österreichs, die im schen Rundfunk integrierten öster- nister Kurt Schuschnigg wies 1933 Vorfeld der für den 13. März 1938 an- reichischen Radiowesens mussten ab auf diese geänderte Funktion des Ra- gesetzten Volksabstimmung über die 1938 Mitglieder der Reichsrundfunk- dios hin: „Selbstverständlich muss Unabhängigkeit Österreichs heftig kammer bzw. Reichspressekammer das Verhältnis eines autoritär ge- beworben wurde. Der Anschluss am sein. (Ergert I 1975–1985: 167-176) führten Staates zum Rundfunk ein 12. März 1938 verhinderte die Volks- Für die nationalsozialistische anderes sein. Mit der Ausschaltung abstimmung. Seine Abdankung gab Propaganda stellte der Hörfunk ne- des Parteienwesens darf und muss Schuschnigg am Abend des 11. März ben der Presse das wichtigste Medi- auch der Rundfunk vom Staate zu in einer dreiminütigen Rundfunkre- um dar. Schon im April 1933 skiz- seinen Zwecken in erhöhtem Maße de bekannt, die mit den berühmten zierte Joseph Goebbels, Reichsmi- herangezogen werden. Ein so gelei- Worten: „Gott schütze Österreich!“ nister für „Volksaufklärung und teter Staat muss sich des Rundfunks endete (Csok lich 1983: 727-729; Er- Propaganda“, die Aufgaben des Hör- bedienen. Wir sind deshalb gewillt, gert I 1975–1985: 144-166). funks für das nationalsozialistische historische s ozialkunde • 15

Regime: „Die Menschen so lange fänger hergestellt, die in Ratenzah- zielte Desinformation über den tat- zu hämmern und zu feilen und zu lung erworben werden konnten. sächlichen Kriegsverlauf sowie meißeln, bis sie uns verfallen sind! Politische Propaganda sollte das Durchhalteparolen der politischen Das ist eine der Hauptaufgaben des Programm nicht dominieren, laute- Führer prägten das Programm. Das Deutschen Rundfunks.“ te die Maxime der nationalsozialis- Hören von ausländischen Sendern Das Radio wurde zu einem Medi- tischen Rundfunkpolitik. Der Hör- wurde bereits am 7. September 1939 um, mit dem die Vorstellung einer funk war von Unterhaltung geprägt. untersagt. Zuwiderhandlungen gal- scheinbar klassenlosen und alle Re- 87 Prozent der Sendezeit des Reichs- ten als Rundfunkverbrechen, die gionen umfassenden „Volksgemein- senders Wien waren Musik-, nur 13 mit Zuchthausstrafen zu ahnden schaft“ vermittelt werden sollte. Bei Prozent Wortsendungen. Bestimmte waren. Für die Weiterverbreitung der „Volksgemeinschaft“ handelte es Zielgruppen wurden gezielt umwor- abgehörter Nachrichten konnte so- sich freilich um ein ideologisches ben. Ein meist vormittags gesende- gar die Todesstrafe verhängt wer- Konstrukt, denn tatsächlich war die tes Frauenprogramm trug zur Stabi- den. Zuständig waren die Sonderge- nationalsozialistische Gesellschaft lisierung des nationalsozialistischen richte, die jedoch wegen der erwar- hierarchisch gegliedert, und die Frauenbildes bei, indem es mit Tipps teten Denunziationsflut erst nach „Volksgemeinschaft“ war rassisch und guten Ratschlägen weibliche Strafantrag der Gestapo tätig wer- und politisch definiert. Juden, Roma Rollenbilder vermittelte. Einen be- den sollten. und Sinti oder politische Gegner sonderen Stellenwert nahmen Sen- Doch nicht nur die nationalsozi- wurden von vorneherein aus dieser dungen für die Jugend ein, die am alistische Staats- und Parteipropa- „Volksgemeinschaft“ ausgeschlos- frühen Abend – zur besten Sende- ganda bediente sich des Hörfunks. sen, obwohl sie deutsche Staats- zeit – ausgestrahlt wurden. Auch der Widerstand benützte das bürger waren. Diese Exklusion zeigt Während des Zweiten Weltkriegs Medium. So brachte der Deutsche sich etwa im 1939 erlassenen Verbot wurde das Radio zur „Front im Dienst der BBC Nachrichten, die für Juden, ein Radiogerät zu besit- Äther“. Gezielte Propaganda, Mobi- über die tatsächliche Kriegssitua- zen. Die scheinbare Inklusion, die lisierung und Ablenkung durch ein tion informierten, aber auch Kom- Schaffung eines kollektiven eng an Unterhaltungsprogramm („Wunsch- mentare und satirische Lieder. Aus die nationalsozialistische Ideologie konzert für die Wehrmacht“), die ge- der Sowjetunion übertrug der Sen- gebundenen „Wir-Gefühls“, sollte mit simultanen Hörerlebnissen ge- stärkt werden. Großveranstaltungen wie Feiern zum Ersten Mai, der nun als „Tag der deutschen Arbeit“ seine sozialistische Konnotation verlieren sollte, wurden im Radio übertragen und häufig in Gemeinschaft ver- folgt. So wurde ein „Volk von Radio- hörern“ geschaffen, wie es Goebbels als Ziel sah: „Ich halte den Rundfunk für das allermodernste und für das allerwichtigste Massenbeeinflus- sungsinstrument, das es überhaupt gibt. Ich bin der Meinung, dass der Rundfunk auf die Dauer das Volk an allen wichtigen Angelegenheiten teilnehmen lässt! Dass es im Volks- dasein überhaupt keinen großen Vorgang mehr geben wird, der sich auf zwei-, dreihundert Menschen be- grenzt, sondern dass daran eben das Volk in seiner Gesamtheit teilneh- men muss.“ Damit das möglich war, wurden günstige Radiogeräte wie der „Volksempfänger VE 301“, des- sen Name an den Tag der nationalso- zialistischen Machtergreifung 1933 „Vaeterchen Stalins Maerchenstunde“: das österreichische Radio im Kalten Krieg. erinnern sollte, und ein Kleinemp- Quelle: © ÖNB #683486 – US 9921/10a 16 • historische s ozialkunde der „Freies Deutschland“ ein Pro- „Wiener“ Medium in ein österrei- gruppe West“ in der französischen gramm, in dem emigrierte Gegner chisches. Zwischen 1925 und 1936 Besatzungszone. Daneben gab es des Nationalsozialismus zum Wider- waren Sender in ganz Österreich Soldatensender in der jeweiligen stand aufriefen und deutsche Gene- in Betrieb genommen worden. Die Muttersprache wie das „Blue Danu- räle in Kriegsgefangenschaft für eine Professionalisierung des Mediums be Network“, das durch seine mo- rasche Beendigung des Krieges ein- zeigt sich auch in der 1935 erfolgten derne Musikauswahl auch bei jun- traten (Marszolek/v. Saldern 1998: Eröffnung des Funkhauses in der gen österreichischen Hörer Innen bes. 45-49, 125-128, 356-376; EdN Wiener Argentinierstraße, das bis sehr beliebt war. Die von allen vier 1999: 102-109, 441-445, 1111, 2469- heute vom ORF genutzt wird. großen Sendergruppen ausgestrahl- 2472, 1488-1490, 1979-1980). Nach dem Zweiten Weltkrieg galt te „Stunde der Alliierten“ stellte ein es, österreichweit die Struktur neu verbindendes Element der sehr he- Vom ORF-Monopol aufzubauen. Analog zu den Besat- terogenen Radiosituation in Öster- zum trialen System – zungszonen entstanden vier Sen- reich dar, ganz im Gegensatz zum Wegmarken der österreichischen dergruppen: „Radio Wien“ in der Bestreben der Alliierten, auch im Radiogeschichte nach 1945 sowjetischen Zone, „Radio Rot- Radio für die eigene politische Posi- Weiß-Rot“ in den von den USA be- tion zu werben und den Hörfunk da- Der österreichische Hörfunk hat- setzten Gebieten Österreichs, die mit zum Mittel des Kalten Krieges te seine Wiege in der Hauptstadt. Sendergruppe „Alpenland“ in der werden zu lassen. Ab 1953 nahm Sukzessive verwandelte sich das britischen Zone sowie die „Sender- die Kontrolle der Allierten über die

Vergleich von „Österreich 1“ mit anderen europäischen Kultursendern (2. Halbjahr 2008). Quelle: © http://mediaresearch.orf.at/ historische s ozialkunde • 17

Die tägliche Hördauer der österreichischen Radios bleibt trotz Konkurrenz des Kabel- und Stallitenfernsehens und des Internets konstant (1998–2008). Quelle: © http://mediaresearch.orf.at/

Radiostationen und Sendeanlagen wandte sich vor allem gegen die po- Umwandlung des ORF in eine „Stif- zunehmend ab. Zunächst wurde litisch motivierte Besetzung der Lei- tung öffentlichen Rechts“ bewahrte „Radio Wien“ in „Österreichischer tungsstellen im Österreichischen den Einfluss politischer Akteure. 24 Rundfunk“ umbenannt. Schon vor Rundfunk. Mit dem 1967 in Kraft der 35 Mitglieder des Stiftungsrates dem Ende der Besatzungszeit wa- getretenen Rundfunkgesetz erhielt als Leitungsorgan werden von der ren alle österreichischen Sendesta- der ORF eine Programm-, Perso- Bundesregierung und den Bundes- tionen im „Österreichischen Rund- nal- und Finanzautonomie. Die Lei- ländern bestimmt (Portisch 2004: funk“ vereint. Die Kurzbezeichnung tung oblag nun einem gesamtver- 65-70; http://kundendienst.orf.at/ „ORF“ wird seit 1967 verwendet antwortlichen Generalintendanten. unternehmen/menschen/gremien/ (Ergert II 1975–1985: 95 f; Godler Mit dem Rundfunkgesetz 1974 wur- stiftung.html, 30.10. 2009). u. a. 2004: 249-251; Schmolke 1997: de der ORF zu einer Anstalt öffent- Das 1967 in Kraft getretene Rund- 446-449). lichen Rechts nach Vorbild der BBC funkgesetz bedeutete jedoch auch Finanzprobleme und der Einfluss und verfügte über weitgehende Au- eine inhaltliche Neuorientierung. der Politik in Form des Proporzes tonomie bei der Erfüllung eines öf- Sender mit deutlichen inhaltlichen der bis 1966 regierenden Koaliti- fentlichen Auftrags. Über die Beset- Schwerpunkten und Zielgruppen on aus ÖVP und SPÖ prägten auch zung des ORF-Kuratoriums als Auf- wurden geschaffen; eine Struktur, das österreichische Radio bis Mit- sichtsgremium konnten politische die bis heute Bestand hat. „Ö1“ ori- te der 1960er Jahre. Das von Hugo Parteien, Regierungen und Interes- entiert sich am Bildungs- und Kul- Portisch, Chefredakteur des Kurier, senvertretungen ihren Einfluss gel- turauftrag des ORF und ist werbefrei. initiierte Rundfunkvolksbegehren tend machen. Auch die 2001 erfolgte Mit einer Tagesreichweite von 8,6 %, 18 • historische s ozialkunde

In der Früh und zu Mittag erreichen die österreichischen Radiostationen die meisten HörerInnen (Daten 2008). Quelle: © http://mediaresearch.orf.at/ also 630.000 HörerInnen ab 10 Jah- einer Tagesreichweite (der HörerIn- ten „privaten“ Radiostationen ihrer- ren, liegt Ö1 europaweit an der Spit- nen über 10 Jahren) von 37,6 % seits unterschieden werden müssen: ze vergleichbarer Kultur- und Klas- (1. Halbjahr 2009) der populärste in kommerziell orientierte Sende- siksender (Daten für das 2. Halbjahr ORF-Radiosender (http://mediare- anstalten und in die in Österreich 2008, http://mediaresearch.orf.at/ search.orf.at/c_radio/console/conso- seit Ende der 1990er Jahre etablier- index2.htm?international/interna- le.htm?y=1&z=1, 30.10.2009). Von ten „freien Radios“, deren Ziel es tional_radio.htm, 30.10.2009). Ö1 1979, dem Jahr der Eröffnung der ist, Sendemöglichkeiten für gesell- modernisierte sich sukzessive, wie Wiener UNO-City, bis 2000 sendete schaftliche Gruppen und Individuen sich etwa am Beispiel des Übergangs „“ ein Programm zu schaffen und keine Gewinnmaxi- vom „Schulfunk“ zum modernen in englischer Sprache. Die letzten mierung zu betreiben (http://www. Bildungsradio, der von Manfred Jo- fünf Jahre teilte es die Frequenz mit rtr.at/de/rf/RRG, 30.10.2009). chum in den 1980er Jahren ini tiert dem alternativen Jugendsender FM4, Das „Unverdrängbarkeitsgesetz“ wurde, oder aber in den Gestaltungs- der seit 2000 alleine das vierte Radio- besagt, dass alte Medien durch neue formen wie kürzeren Originaltönen programm des ORF darstellt (25 Jah- nicht verdrängt werden, sondern und stärkeren Feature-Anteilen zeigt re ORF 2001: 24-37). eine neue Funktion zugewiesen be- (Hiebl 2004: 351-357; Treiber 2007: Im Juni 1993 beendet ein neues kommen. So hat das Radio sowohl 120). „Ö Regional“ als „zweiter Sen- Regionalradiogesetz das Rundfunk- die Konkurrenz des Fernsehens seit der“, der eigentlich aus mehreren monopol des ORF. Privatsender wur- Mitte der 1950er Jahre (siehe den Landesprogrammen bestand, war den zugelassen und damit das duale Beitrag von Thomas Steimaurer) lange Zeit die Bezeichnung für die System, in dem sowohl öffentlich- und des World-Wide-Web und sei- ORF-Regionalradios der Bundeslän- rechtliche als auch „private“ Sen- ner rasanten Entwicklung zum Web der, die nun unter der Bezeichnung deanstalten vertreten sind, in Öster- 2.0 seit Mitte der 1990er Jahre rela- „Radio Wien“, „“ etc. reich eingeführt. Tatsächlich wird tiv unbeschadet überstanden. Die auftreten. „Ö3“ wurde 1967 als Ju- heute oft von einem trialen Sys- tägliche Hördauer liegt bei 203 Mi- gendsender gegründet und ist mit tem gesprochen, da die sogenann- nuten (2008) und hat sich seit 1998 historische s ozialkunde • 19

(193 Minuten) sogar gesteigert. Sie dio hören, entfallen 159 Minuten gleitend zu anderen Tätigkeiten ge- übertrifft die Fernsehnutzungszeit, auf Programme des ORF. Das Radio hört, mit unterschiedlich hoher Auf- die 2008 bei täglich 156 Minuten hat sich aber zum Nebenbeimedium merksamkeit, aber das mehr als drei lag. Von den 203 Minuten, welche gewandelt; es wird in der Regel be- Stunden täglich. die ÖsterreicherInnen täglich Ra-

LITERATUR

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links didactics online (Geschichte online), Beispiel rundfunknachrichten (http://www.didactics.eu/index.php?id=473): reportage von eldon walli für die nachrichtensendung „zeitfunk“ über die reichsprogromnacht am 10. november 1938. der text der sendung wird als trans- kript samt arbeitsaufgaben und einer inhaltlichen analyse im lernmodul präsentiert. akustische chronik der österreichischen Mediathek (http://www.mediathek.at/akustische-chronik/): enthält auch zahlreiche hörbei spiele historischer radiosendungen bis zur Gegenwart. Thomas Steinmaurer Austro-Visionen Zur Geschichte des Fernsehens in Österreich

Von frühen Tele-Visionen bis zu ten von den flackernden TV-Bildern den ersten Bildern eher enttäuscht gewesen sein, hat- ten doch die erwartungsvollen Be- Wirft man einen Blick in die Ge- richte im Vorfeld mehr versprochen, schichte des Fernsehens, stößt als technisch zu halten war. Erst ab man jenseits der kollektiv geteil- Ende der zwanziger Jahre ermög- ten Fernseherinnerungen – von lichten die Fortschritte auf dem Feld den flimmernden Live-Bildern der der Elektronik nachhaltige Verbes- Mondlandung bis hin zu den vor serungen der Fernsehtechnik. 1930 Deutscher Spiegelfernseher Telefunken den Augen der Weltöffentlichkeit zeigte Manfred von Ardenne ers- FE VI von 1937. Auf dem Bildschirm ist das Standbild des Fernsehsenders Paul einstürzenden Twin-Towers in New te elektronische Fernsehbilder in Nipkow des Deutschen Fernseh-Rund- York – zunächst auf weniger be- Deutschland, und in Österreich prä- funks zu sehen. kannte Entwicklungslinien aus sentierte der Fernsehingenieur Jo- Quelle: http://commons.wikimedia. der Frühgeschichte des Mediums. sip Sliskovic Fernsehversuchsbilder org/wiki/File:FE_VI_inBetrieb_a.jpg Schon gegen Ende des 19. Jahrhun- auf der Wiener Herbstmesse. derts wurden erste visionäre Vor- stellungen zur Übertragung lau- Ein Frühstart unter politisch fender Bilder in der Science Ficti- verschärften Bedingungen on-Literatur oder in Satiremaga- zinen veröffentlicht. Sie enthielten Die Eröffnung des ersten offiziellen bereits Aspekte von Interaktivität Programmdienstes fand unter po- und ahnten erstaunlich treffsicher litisch zugespitzten Rahmenbedin- spätere Programmformen voraus. gungen statt. Zwei Jahre nach der Auch wenn 1884 bereits eine erste Machtergreifung der Nationalso- Patentanmeldung seitens des Ber- zialisten in Deutschland wurde im liners Paul Nipkow über ein „elek- März 1935 in Berlin aus propagan- tronisches Teleskop“ vorgelegt wur- distischen Gründen – nicht zuletzt de, gelang die konkrete technische angetrieben von der Idee, den Tech- Realisierung der Übertragung lau- nologiewettlauf gegen die technisch fender Bilder erst Mitte der zwan- versierteren Entwickler in Groß- ziger Jahre durch die Zusammen- britannien zu gewinnen – ein of- führung einer Reihe von Einzeler- fizieller Fernsehbetrieb gestartet. findungen. Unter den damaligen Obwohl bestenfalls auf dem Niveau Pionieren waren etwa John Logie eines Versuchsbetriebs, konnte das Baird, Charles Jenkins oder Denes v. Regime damit mit Technikkompe- Mihaly, denen ab Mitte der zwanzi- tenz punkten. Auch in dem mittler- Verbindung des neuen Mediums Fernse- ger Jahre maßgebliche Innovations- weile an das nationalsozialistische hen mit der Forderung nach dem Abzug schritte gelangen. 1925 zeigte der Deutschland angeschlossenen Ös- der Besatzungstruppen am 1. Mai 1955, Brite Baird erste Fernsehversuche terreich wurde 1938 im Rahmen der kurz vor Sendebeginn in Österreich. Die Aufmarschierenden führen einen Wagen in einem Londoner Kaufhaus, 1928 Wiener Herbstmesse das neue Medi- mit, auf dem stilisiert ein Fernseher waren in Deutschland auf der Funk- um Fernsehen präsentiert (vgl. Pen- aufgebaut ist, und auf diesem ein Schild: ausstellung schließlich die ersten sold 1999: 23). „1. öster. / Fernsehstudio / 1. Sendung / flimmernden Fernsehbilder – noch In der Zeit des Nationalsozialis- A.I.G. I.G.A. G.I.A. / SO:GEMA.“ Auf den Bildschirm sind vier Personen gezeich- mus kam es allerdings – trotz gro- auf mechanischer Basis – für die Öf- net, die die vier Besatzungsmächte fentlichkeit zu bestaunen. Viele Be- ßer Anstrengungen der Technikin- karikieren. sucher der Funkausstellung dürf- dustrie und einer Reihe von Partei- Quelle: © ÖNB, #1301894 – E5/1303 historische s ozialkunde • 21

Logo des österreichischen Fernseh-Versuchprogrammes, das am 1. August 1955 auf Sendung ging. Die „Olympia-Kanone“, Fernsehkamera auf der Olympiade 1936 in Quelle: © ÖNB #389292 – FO 133330 Berlin, hinter der Kamera Walter Bruch. Quelle: Wikimedia Commons, http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Olympia-Kanone_1936.jpg leuten – nicht dazu, das Fernsehen Mit Beginn des Krieges waren zu- um. Anfangs unter starkem Ein- zu einem Leitmedium der Massen- dem die öffentlichen Fernsehstu- fluss der Besatzungsmächte setzte propaganda zu machen. Einerseits ben nur noch für die „televisuelle man in Deutschland und Österreich musste die gerade erst angelaufene Verwundetenbetreuung“ reserviert. nicht zuletzt vor dem Hintergrund Produktion günstiger „Fernsehein- Die Soldaten von der Front konn- der historischen Erfahrungen auf heitsempfänger“ mit Kriegsbeginn ten dort Programme wie „Wir sen- die Etablierung öffentlich-recht- eingestellt und der fernsehtechno- den Frohsinn, wir spenden Freude“ licher Rundfunkanstalten. Als Vor- logische Komplex in die Hoheit des ab 1939 bereits aus einem vollelek- bild und Modell diente die englische Militärs übergeführt werden, ande- tronisch ausgestatteten Hauptstadt- BBC (British Broadcasting Corpora- rerseits erhielt das neue Medium studio verfolgen. Der Sender musste tion), galt sie doch als die Mutter al- von den Spitzen des Staates und allerdings im Jahr 1943 nach kriegs- ler Rundfunkanstalten und als Ga- der Propaganda keine substantiel- bedingten Zerstörungen der tech- rant für Unabhängigkeit und jour- le Unterstützung. Hitler und Goeb- nischen Infrastruktur den Betrieb nalistische Qualität. bels vertrauten eher auf die zu die- einstellen. Auch die Fernsehdienste Es sollte allerdings noch eini- sem Zeitpunkt klassischen Propa- in Großbritannien, die schon deut- ge Jahre dauern, bis sich gefestig- gandamedien wie Presse, Hörfunk licher auf den Empfang im Eigen- te Strukturen in Europa entwickeln oder Film. Das Fernsehen war dar- heim hin ausgerichtet waren, sahen konnten. Nachdem in Großbritan- über hinaus unter diesen Rahmen- sich unter den kriegsbedingten Ver- nien 1946 die BBC den Fernsehbe- bedingungen noch nicht für den hältnissen gezwungen, schon 1939 trieb (wieder) aufgenommen hatte klassischen Empfang im Eigenheim ihre TV-Programme zu stoppen. In und in Deutschland am 25. Dezem- bereit. Es konnte von der Bevölke- den USA, wo im Vergleich zu Eu- ber 1952 der NWDR in Hamburg rung nur in sogenannten Fernseh- ropa zwar sehr früh Fernsehen er- mit einem täglichen, wenn auch stuben auf größeren Standgeräten probt, aber relativ spät erst der Pro- zunächst nur zweistündigen Pro- und in eigens adaptierten Kinos mit grammbetrieb gestartet worden war gramm auf Sendung ging, unter- Großbildprojektion – in sogenann- und erst im Juli 1941 der kommerzi- nahm man auch in Österreich die ten Fernsehtheatern oder Fernseh- elle Betrieb der Networks CBS, NBC ersten Schritte in Richtung Fernse- kinos – verfolgt werden. Unter den und DuMont eröffnet wurde, kam es hen. 1951 machten sich die ersten Bedingungen der kollektiven Rezep- nach der Bombardierung von Pearl Techniker an den Bau einer Fernseh- tion gab es 1936 die Live-Bericht- Habour im Dezember 1941 zu einer versuchsanlage. Die Post- und Tele- erstattung von den Olympischen deutlichen Reduzierung des Pro- graphenverwaltung entwickelte eine Spielen in Berlin, ausgestrahlt vom grammangebots. Anlage, die – noch ohne Genehmi- Fernsehsender „Paul Nipkow“, zu gung der Alliierten – anlässlich eines bestaunen. Der Empfang in den ei- runden Geburtstags des General- Ein Medium im (Wieder)Aufbau genen vier Wänden stand – außer postdirektors am 29. Februar 1952 für einige wenige Parteibonzen und Erst nach dem Zweiten Weltkrieg die ersten Fernsehbilder vorführte. Fernsehtechniker – für die große entwickelte sich das Fernsehen zu Ein weiteres Jubiläum – es galt, die Masse nicht auf dem Programm. einem klassischen Massenmedi- ersten 30 Jahre Rundfunk in Öster- 22 • historische s ozialkunde

theater am 14. Oktober und des „Fi- delio“ aus der Staatsoper am 5. No- vember 1955 werden, die – nicht nur aus Mangel an Empfangsge- räten in den eigenen vier Wänden, sondern sicher auch zum Zweck der Demonstration der Fernseh- kompetenz – von der Firma Philips im Wiener Forum-Kino auf Groß- leinwand von 3 x 4 Metern präsen- tiert wurden. Die Zuschauer waren dabei nicht nur am Ort des Gesche- hens, sondern auch für das Fernseh- kino in festlicher Abendkleidung er- schienen (vgl. Dörfler/Pensold 1999: 24 f.). Das Fernsehen wurde damit zu einem Symbol von hoher Kul- Österreich im Februar 1964: Menschen stehen vor dem Schaufenster eines Elektro- tur und moderner Medientechnolo- warengeschäftes mit der Aufschrift „Radione / Radio Fernsehen“, in dessen faschings- gie sowie zu einem integralen Bau- dekorierter Auslage unter anderem ein Fernsehapparat steht; auf der Rückseite vermerkt: evt. Beitrag über Olympiade in Innsbruck. stein im Rahmen des Wiederaufbaus Quelle: © ÖNB #1366006 – E 10/7 in der (Re)Konstruktion der kultu- rellen Identität Österreichs nach dem Krieg. reich zu feiern – war Anlass, im Wie- chern tönte die Ansage von Franzis- ner Künstlerhaus ein kleines Fern- ka Kalmar ‚Hier ist das Fernsehen Auf dem Weg zum Massenmedium sehstudio in Betrieb zu nehmen, das des Österreichischen Rundfunks mit in der Zeit zwischen 18. September seinem öffentlichen Versuchspro- Nach und nach begann sich trotz bis 17. Oktober 1954 täglich den gramm‘“ (Ergert 1975: 225 f.). Auch vieler Schwierigkeiten im Bereich Besuchern die Möglichkeit bot, ein wenn anfangs die Bilder noch in den der Programmbeschaffung das Fern- vor Ort produziertes TV-Programm Schaufenstern und vorwiegend auf- sehen von seinem Vorbild, dem Ra- auf den Schirmen zu verfolgen (vgl. grund der technischen Faszination dio, zu lösen und zu professionali- Dörfler/Pensold 1999). Immerhin der Live-Bilder bestaunt wurden, sieren. Der Sendebetrieb wurde von war inzwischen das Verbot von Fern- waren es die Elektrohändler, die mit zunächst drei Tagen um einen wei- sehversuchen seitens der Alliierten ihren Fernsehpräsentationen das teren Tag bzw. kontinuierlich um (seit 1.9.1953) aufgehoben. Modell des Heimempfangs für die weitere Sendestunden über ein lang- Offiziell und auch für die Öffent- Familie als klassisches Rezeptions- sam sich ausbreitendes Sendenetz lichkeit konkret sichtbar startete modell propagierten. Zu sehen gab erweitert. Auch der sendetechnische nach einer Testphase am 1. August es anlässlich der Eröffnung keine Verbund mit der Eurovision gelang 1955 – einige Wochen nach der Un- großen Zeremonien, sondern nach schon 1955. Das „Bild des Tages“ – terzeichnung des Staatsvertrags – der Einspielung der „Egmont-Ou- ab 5. Dezember 1955 als „Zeit im der Fernsehversuchsbetrieb des vertüre“ eine Diskussionssendung Bild“ – lieferte aktuelle Nachrichten „Österreichischen Rundfunks“, der mit den Chefredakteuren großer sowie die Eurovision-Übertragung dreimal in der Woche ein einstün- österreichischer Tageszeitungen, der Olympischen Winterspiele aus diges Programm aus einem Klas- die sich der Frage widmeten, ob das Cortina d’Ampezzo vom 26. Jänner senzimmer-Studio in der Wiener neue Medium Fernsehen der Pres- bis zum 5. Februar 1956 und die Bil- Singrienergasse in Meidling über se schaden würde. Es sollte nicht der des dreifachen Goldmedaillenge- das Sendenetz Wien, Linz , Graz und das einzige Mal bleiben, dass sich winners Toni Sailer. Die meisten Zu- Salzburg ausstrahlte. An diesem Tag die etablierten Zeitungen über die seher verfolgten die Großtaten des erhellten sich zunächst nur bei ei- Zukunft des Fernsehens in Öster- neuen Kitzbüheler Skistars noch in nigen tausend Zusehern zu Hause, reich Gedanken machten. Den Ab- den Fernsehkinos und in den Gast- überwiegend aber „in den Auslagen schluss des ersten Programmtags häusern oder Cafés, da die Preise für der Radiohändler die Bildschirme. bildete ein Kurzfilm mit Heinz Con- die TV-Geräte mit zwischen 7.000 Vor den Schaufensterscheiben bil- rads. Künstlerisch wertvoller sollten und 8.000 Schilling noch uner- deten sich dichte Menschentrau- dann doch die Übertragungen von schwinglich waren. Sie konnten da- ben, und aus improvisiert über den „König Ottokars Glück und Ende“ her – trotz anfänglicher Liefereng- Portalen angebrachten Lautspre- aus dem wieder eröffneten Burg- pässe – auf Wunsch auch auf Raten historische s ozialkunde • 23 gezahlt werden (vgl. Dörfler/Pensold auch als „Proporzrundfunk“ abge- Ausbau der Programme in den Be- 1999: 28 ff.). Manche Kinobetreiber, stempelt wurde. Die andauernden reichen Information und Kultur die zu Recht im Fernsehen einen Versuche der Politik, auf die Gestal- eine Modernisierung des Unterneh- neuen Konkurrenten befürchteten, tung und die Inhalte der Programme mens ein. Das Netz der Korrespon- forderten anfänglich gar eine „Kon- einzuwirken, zeitig ten auch einen denten wurde erweitert und eine Rei- zessionspflicht für sämtliche Fern- negativen Einfluss auf deren Quali- he neuer Bauvorhaben in Angriff ge- sehgasthäuser und ähnliche Ein- tät. Die schließlich auch in der Be- nommen. richtungen“ (Dörfler/Pensold 1999: völkerung weit verbreitete Unzufrie- Im Verlauf der ersten zehn Fern- 17). Am 1. Jänner 1957 ging schließ- denheit über diesen Rundfunk mün- sehjahre wurden die TV-Geräte vom lich der Probebetrieb zu Ende und dete 1964 in ein Rundfunkvolksbe- „Luxusartikel zu einem Gegenstand der offizielle Start des Fernsehens gehren, das von nicht weniger als des gehobenen Alltagsgebrauchs“, in Österreich mit einem regelmä- 44 österreichischen Printmedien ge- auch wenn die Gerätepreise immer ßigen Programm an sechs Tagen in tragen und mit 832.353 Unterstüt- noch mehr als das Doppelte eines der Woche – unter Einhaltung eines zungserklärungen zu einem der er- durchschnittlichen monatlichen Fa- fernsehfreien Dienstags – konnte folgreichsten offiziellen Bürgerpro- milien-Nettoeinkommens ausmach- gefeiert werden. Am ersten Abend teste in der Zweiten Republik werden ten (vgl. Bernold 1995: 30 f.). Über- wurde für 20.000 registrierte Fern- sollte. Es zielte auf eine Entpolitisie- wiegend waren es die gesellschaft- sehteilnehmer Ferdinand Raimunds rung des Rundfunks und eine quali- lichen Großereignisse des Sports „Verschwender“ geboten. Üblicher- tative Verbesserung der Programme oder der internationalen Politik, weise begann das Programm jeweils ab und mündete schließlich in einer die als Motoren des Geräteverkaufs ab 20.00 Uhr mit der „“, Rundfunkreform. Ein 1966 im Zuge dienten. Auch der Wunsch vieler Fa- am Mittwoch wurde zusätzlich ein einer ÖVP-Alleinregierung beschlos- milien, das Weihnachtsfest mit dem Nachmittagsprogramm für Kinder senes neues Rundfunkgesetz brach- Kauf eines eigenen Fernsehgeräts und Jugendliche geboten (vgl. Rest te dem nunmehr als ORF bezeich- zu krönen, beschleunigte die Ver- 1988). Zunächst wurden nur die Bal- neten Unternehmen eine neue Füh- breitung des Fernsehens im priva- lungszentren des Landes mit Sende- rungsstruktur mit einem General- ten Bereich. Lag die Zahl der Fern- anlagen versorgt und in den grenz- intendanten an der Spitze, der über sehteilnehmer Ende 1955 noch bei nahen Gebieten waren es die aus umfassende Weisungsbefugnisse bescheidenen 1.420, stieg sie bis dem Ausland einstrahlenden Sen- verfügte. Der zum Intendanten ge- zum Ende des Jahres 1965 auf über der, die für Programm auf den Schir- wählte Gerd Bacher leitete mit dem 703.000 an und überschritt schließ- men sorgten. Ende 1957 wurde – am 11. Dezem- ber – mit der Gründung der Öster- reichischen Rundfunk Ges.m.b.H. das Medium institutionell neu ver- ankert. Die Trägergesellschaft, an der überwiegend der Bund und nur marginal die Länder beteiligt waren, übernahm am 1. Jänner 1958 das bis dahin unter öffentlicher Verwal- tung in der Kompetenz des Ministe- riums für Verkehr und verstaatlich- te Betriebe angesiedelte „österrei- chische Rundspruchwesen“. Für die Finanzierung sorgten eine ebenfalls ab 1. Jänner 1958 eingeführte (und im Vergleich zu anderen Ländern durchaus stattliche) Gebühr von monatlich 50 Schilling, aber auch Einnahmen aus der Werbung (im Fernsehbereich ab 1. Jänner 1959). Bezeichnend für diesen neu organi- sierten Rundfunk war der von den Gremien bis in die Redaktionen rei- chende enorm hohe Einfluss der Po- Fernsehen als „Fenster zur Welt“. Familie vor dem Fernsehgerät. litik, der von vielen Kritikern daher Quelle: © ÖNB ##387930 - FO75438 24 • historische s ozialkunde lich 1968, in der größten Durchdrin- sens, der Kommunikation und des Zwischen Reformen und gungsphase in der zweiten Hälfte der Konsums taktete. Die wachsende Modernisierung sechziger Jahre, die Millionengren- Verbreitung der neuen TV-Möbel in ze (vgl. Freund 1962: 4 f. sowie ORF- den Haushalten wurde – gefördert Mitte der 70er Jahre führte die Ver- Almanach 1969: 76). Bis etwa Mitte von steigenden Löhnen und einer änderung der politischen Groß- der sechziger Jahre war das kollek- Abnahme der durchschnittlichen wetterlage – nach Erringung der tive Fernsehen in Gasthäusern oder Wochenarbeitszeit – wesentlicher Mehrheit für die SPÖ unter Bru- Cafés – oder später bei Freunden und Bestandteil eines auf das amerika- no Kreisky – zu einer neuen Rund- Bekannten – die für den Großteil nische Konsummodell hin ausge- funkreform. Mit den gesetzlichen der Bevölkerung übliche Form des richteten Lebensstils. Das Fernsehen Neuregelungen von 1974, die für Fernsehkonsums. Importbeschrän- verband zum einen die zunehmende eine lange Phase die Monopolsitu- kungen und fixe Preisbindungen motorisierte wie auch mentale Mo- ation des ORF festschreiben soll- für Geräte regelten noch das Ange- bilität der Menschen und zum ande- ten, wurden neue Leitungsgremien bot. Eine Untersuchung aus dem ren den Rückzug ins Private, in die geschaffen: Im Kuratorium, beste- Jahr 1960 zeigt, dass rund 46 % der immer besser ausgestatteten Eigen- hend aus zunächst 30 (und später TV-Nutzer das Programm in öffent- heime. Der britische Medienforscher 35) Mitgliedern, waren nicht weni- lichen Lokalen verfolgte, 39 % bei Raymond Williams fasste diese Ent- ge Funktionäre der Parteien vertre- Bekannten oder Verwandten und wicklungen im Begriff der „mobi- ten, die für Budget, Programmplä- erst 15 % von zu Hause aus in die len Privatisierung“ zusammen (vgl. ne und die Wahl des Generalinten- Ferne sehen konnten (vgl. Bernold Williams 1974). Die wachsende Po- danten zuständig wurden. Die In- 1995: 81). Schon ab 1958 standen pularität des Fernsehens wurde spä- teressen des Publikums vertrat eine (für nicht weniger als zehn Jahre) testens ab Ende der 50er Jahre für Hörer- und Sehervertretung. 1976 regelmäßig die „Fernsehfamilie Leit- das bis dahin so populäre Kino zu wurde das neue ORF-Zentrum auf ner“ oder Sprachkurse auf dem Pro- einer ernstzunehmenden Konkur- dem Küniglberg eröffnet, aus dem gramm, „Der Herr Karl“ wurde An- renz: 1958 verzeichneten die Kinos am 5. Oktober erstmals die Diskus- fang der 60er Jahre zum Publikums- mit 122 Millionen Besuchern einen sionssendung „Club 2“ ausgestrahlt hit. 1962 startete das vormittägliche Spitzenwert, der Mitte der 60er Jahre wurde. Das Fernsehen hatte sich Schulfernsehen, die erste Satelliten- auf weniger als die Hälfte sank und Ende der 70er Jahre, als man schon übertragung gelang über den Satel- in der Folge noch weiter zurückging. auf die ersten 25 Jahre der „Eurovisi- liten „Telstar 1“, ein Jahr danach gab Allein zwischen 1964 und 1968 hat- on“ zurückblicken konnte, zu einem es Programm für Schichtarbeiter ten die Lichtspielhäuser einen Besu- Leitmedium der Gesellschaft entwi- und 1964 die Vorverlegung der „ZIB“ cherrückgang um 40 % zu verzeich- ckelt und wurde selbst zu einem Mo- auf 19.30 Uhr (vgl. Rest 1988). nen. Das „Patschenkino“ war im Jahr tor der gesellschaftlichen Moderni- Mit steigender Verbreitung etab- 1967 in 50 % der österreichischen sierung. 1980 führte der ORF das lierte sich das Fernsehen ab den Haushalte eingezogen, öffnete dort Teletext-System als weiteres Infor- 60er Jahren zu einem Familienme- den Familien ein neues Fenster zur mationsangebot ein, 1982 startete dium, das – zumindest zu Beginn Welt und wurde für die Menschen die TV-Dokumentationsserie „Öster- der Fernsehära – dafür sorgte, dass zu einem Teil des Versprechens auf reich II“ zur Geschichte der Zweiten sich die gesamte Familie allabend- ein besseres Leben (vgl. Bernold Republik – gestaltet von Hugo Por- lich vor dem Apparat versammelte, 2007: 41). Ende der 60er Jahre ver- tisch und Sepp Riff – und zwei Jah- um dort das noch nicht allzu um- sammelte schließlich das Fernsehen re später erfolgte am 1. Dezember fangreiche Programm zur Gänze zu weltweit mehr als eine halbe Milliar- 1984 der Einstieg des ORF in das verfolgen. Der Einzug des Fernseh- de Menschen vor den Schirmen, als Satellitenzeitalter mit der Beteili- apparats als prestigeträchtiges neues am 21. Juli 1969 die Mondlandung gung an „“, dem gemeinsamen Luxusmöbel in die eigenen vier Wän- live übertragen wurde. Es war dies Kultur-Sender mit dem ZDF und der de veränderte nicht nur die Architek- für viele ein historischer Moment, SRG. Das Kulturprogramm konnte tur der Wohnzimmer, indem es für der zum ersten globalen Ereignis der in Haushalten, die über einen Kabel- eine Neuausrichtung der Sitzmöbel Fernsehgeschichte wurde. Im selben oder Satellitenanschluss verfügten, auf das neue „Fenster zur Welt“ hin Jahr startete im Übrigen der ORF mit empfangen werden. Im selben Jahr sorgte, sondern auch die Kommu- der Übertragung des Neujahrskon- bekamen diese Haushalte aber auch nikationsrituale der Familien. Das zerts das Farbfernsehen und am 1. Kommerz und Unterhaltung von Programm wurde zu einem „sozi- September 1970 die Ausstrahlung den ersten deutschen Privatsen- alen Zeitgeber“ (Neverla 1992), der eines täglichen Programms auf zwei dern – wie RTL plus und Sat.1 – nicht selten die Freizeitgestaltung Kanälen (vgl. Rest 1988). frei Haus geliefert. Schon Ende der der Familien vorgab und durch fixe 80er Jahre verfügten rund 20 % der Programmabläufe die Zeiten des Es- Haushalte in Österreich über einen historische s ozialkunde • 25

Anschluss an das Kabel- oder Satel- Weg zu einer Öffnung für private durch die Digitalisierung neue In- litensystem. Auch wenn schon da- Anbieter und damit zu einer Dua- novationsschritte, wurde in miniatu- vor der ORF in vielen Haushalten lisierung des Rundfunksystems ge- risierter Form auf mobilen Geräten grenznaher Gebiete nicht mehr der lang erst über Klagen privater Rund- verfügbar, war in unterschiedlicher alleinige Sender auf den heimischen funkinitiativen bei europäischen Form im Internet präsent und soll- Bildschirmen gewesen war, sah er Höchstgerichten. Noch im Verlauf te im Heimempfang durch die Flach- sich spätestens ab diesem Zeitpunkt der fünften und letzten Amtsperio- bildschirmtechnologie der Idee des einem neuen Konkurrenzverhältnis de des Langzeit-Generalintendanten Heimkinos zu einer neuen Renais- ausgesetzt, auf das er sich einzustel- Gerd Bacher, die bezeichnender Wei- sance verhelfen. len hatte. Schon Anfang der 80er se unter dem Motto „vom Monopol Nach der Marktöffnung für private Jahre begann man daher seitens des zum Marktführer“ stand, erkann- TV-Anbieter im Kabel im Jahr 1997 öffentlich-rechtlichen Unterneh- te der Europäische Gerichtshof für stand 2001 die Frequenzvergabe für mens die Publikumsforschung und Menschenrechte in Straßburg in private, auf kommerzieller Basis die damit zusammenhängende Sen- seinem Urteil vom 24. November operierende Fernsehsender an. Die deplanung zu professionalisieren. 1993 – auf Basis eines Verstoßes bundesweite Frequenz erhielt der Die Masse der Zuschauer wurde von gegen Artikel 10 der Europäischen Sender ATV, in Wien (Puls TV), Linz nun ab in klar definierte Zielgrup- Menschenrechtskonvention, dem (LT1) und Salzburg (Salzburg TV) pen gegliedert, denen präzise The- Recht auf freie Meinungsäußerung – gingen drei Ballungsraum-Kanäle menpräferenzen zuzuordnen wa- das Rundfunkmonopol in Österreich auf Sendung. Damit war Österreich ren. Die Rezeption war längst nicht als rechtswidrig. Damit wurde end- in der Realität des dua len Rundfunk- mehr vom Modell des Familienfern- gültig die Zulassung von privaten systems angekommen. Die späte sehens bestimmt, sondern – nicht Anbietern notwendig. Die Liberali- Dua lisierung des Marktes ließ den zuletzt auch durch die gestiegene sierung des Marktes wurde 1993 zu- privaten TV-Anbietern zunächst nur Verbreitung von Zweit- und Dritt- nächst im Hörfunkbereich und erst beschränkte Entwicklungsmöglich- geräten – von einer zunehmenden 2001 für das Fernsehen auf gesetz- keiten offen. Die Hauptlinie der Kon- Individualisierung des Zuschauens licher Ebene umgesetzt. Österreich kurrenz um die Gunst der Zuschau- in Form des Zappings und Chan- nahm damit innerhalb Europas die er ver lief vorwiegend zwischen dem nel-Hoppings geprägt. Insgesamt Rolle eines Schlusslichts ein. Der öffentlich-rechtlichen ORF und den bahnte sich Mitte der 80er Jahre ORF nutzte unterdessen die Zeit bis deutschen Privatsendern RTL, Pro7 der Trend in Richtung einer stärker zum Sendestart der privaten Anbie- und Sat.1. Auch die ab 2006 einge- ökonomisch dominierten Fernseh- ter und richtete seine Programm- führte Digitalisierung des über An- welt den Weg, der vom Kampf um strukturen auf die sich verschär- tenne verfügbaren Sendesystems Zuschauer, Reichweiten und Wer- fenden Konkurrenzverhältnisse DVB-T (Digital Video Broadcasting- beeinnahmen beherrscht sein soll- aus. Unter Generalintendant Ger- Terrestrial) änderte nichts an die- te. Obwohl innerhalb der Grenzen hard Zeiler (1994–1998) erfolgte – ser Situation, sondern erleichterte Österreichs die Privatisierung des mit der Leitidee „von der Rundfunk- vielen TV-Konsumenten damit eher Fernsehens erst mit großer Verspä- anstalt zu einem modernen Wirt- noch den Umstieg auf das Satelli- tung realisiert werden sollte, kam es schaftsunternehmen“ – eine auf ein tenfernsehen, das eine wesentlich durch die Kabel- und Satellitenver- Massenpublikum hin ausgerichtete höhere Sendevielfalt zu bieten hat- breitung zu einer De-facto-Markt- Neupositionierung der Programme. te. Das öffentlich-rechtliche Fernse- öffnung, die den ORF vor nicht un- Seit 1995 sendet der ORF rund um hen reagierte mit einer noch deut- beträchtliche Herausforderungen die Uhr und erklärte damit das Test- licheren Ausrichtung seiner Pro- stellte. Ende der 80er Jahre star- bild zur Geschichte. 1997 ging mit gramme auf die sich verschärfenden tete der ORF nicht ohne Grund am „TW1“ ein neuer Tourismus- und Marktverhältnisse. Während sich 2. Mai 1988 die bis heute sehr erfolg- Wetterkanal auf Sendung und noch ORF1 überwiegend kommerziell reichen Fernsehnachrichtensen- im gleichen Jahr stieg der öffentlich- orientierte und sich mit publikum- dungen in den Bundesländern. rechtliche Rundfunk mit der Platt- sattraktiven Programmanteilen der form „ORF ON“ ins Internet ein. Im Konkurrenz stellen sollte, widmet Vom Monopol zum Markt Jahr 2000 gelang schließlich – neben sich ORF2 vorwiegend eher öffent- einer Beteiligung am Bayerischen lich-rechtlich ausgerichteten Pro- Obwohl also ein großer Teil der Be- Wissenschaftssender „BR Alpha“ – grammformen. völkerung längst über eine Vielzahl der Einstieg in den digitalen Satel- Ein ebenfalls 2001 beschlossenes von Programmen verfügte, besaß litenbereich. Seit 2001 verdrängten ORF-Gesetz schuf für den öffentlich- der ORF Anfang der 90er Jahre im- Programmtrailer die Arbeit der bis rechtlichen Sender neue Leitungs- mer noch das Sendemonopol inner- dahin noch eingesetzten Fernseh- gremien, präzisierte den öffentlich- halb der Grenzen Österreichs. Der sprecherinnen. Das Medium setzte rechtlichen Auftrag, schmälerte die 26 • historische s ozialkunde

Einnahmemöglichkeiten des Unter- fernsehens darauf, das Nebeneinan- punkten dominiert zu sein scheint, nehmens auf dem Werbemarkt und der zwischen öffentlich-rechtlichem darf in einer pluralistischen Gesell- hatte das Ziel, die Zugriffsmöglich- und privatem Fernsehen zu gestal- schaft insbesondere der demokra- keit der Politik auf das oberste Lei- ten und zu regulieren. Dabei gilt es tiepolitische Mehrwert des Rund- tungsgremium, den Stiftungsrat, zu in einem dualen System – und für funks nicht aus den Augen verloren minimieren. Die Realität zeigte aller- den ORF selbst vor dem Hintergrund werden. Denn trotz großer Verän- dings schnell, dass der Einfluss der seiner Mischfinanzierung über Ge- derungen, die sich aus der zuneh- Politik auf die Geschicke des ORF bühren und Werbeeinnahmen – die menden Verbreitung der neuen In- nach wie vor hoch anzusetzen ist, Einbindung in den Markt mit dem formations- und Kommunikations- wenngleich in gewissen Bereichen Mehrwert des öffentlich-rechtlichen technologien ergeben, kommt dem über die Jahre auch Professionali- Rundfunks in Einklang zu bringen. Fernsehen in der Gesellschaft im- sierungsprozesse Platz griffen. Ins- Auch wenn die Diskussion über die mer noch die Rolle eines Leitmedi- gesamt konzentrierte sich die rund- zukünftige Ausgestaltung des dualen ums zu, das erheblichen Einfluss auf funkpolitische Diskussion seit der Rundfunksystems zuweilen vorwie- die politische und kulturelle Identi- Phase der Einführung des Privat- gend von ökonomischen Gesichts- tät eines Landes hat.

LITERATUR

M. Bernold, das private sehen. Fernsehfamilie leitner, mediale konsumkultur und nationale identitätskonstruktion in Österreich nach 1955. wien 2007. e. dÖrFler/w. Pensold, ein Fenster zum westen. zur implementierung des Fernsehens in Österreich, in: medien & zeit, 3/1998, 4-29. e. dÖrFler/w. Pensold, der zauberspiegel der nation. zur etablierung des Fernsehens in Österreich, in: medien & zeit, 2/1999, 16-42. V. erGert, die Geschichte des Österreichischen rundfunks. 2 Bände. wien 1999. i. neVerla, Fernseh-zeit. zuschauer zwischen zeitkalkül und zeitvertreib. München 1992. w. Pensold, die welt aus erster hand. als das Fernsehen nach ottakring kam. wien 1999. F. rest, die explosion der Bilder, in: h.-h. Fabris/k. luger (hg.), Medienkultur in Österreich. wien 1988, 265-316. t. steinMaurer, tele-Visionen. zur theorie und Geschichte des Fernsehempfangs. innsbruck-wien 1999. r. williaMs, television. technology and cultural Form. london 1974.

Verein für Geschichte und Sozialkunde c/o Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien Dr. Karl Lueger-Ring 1, A-1010 Wien, ++43/1/4277-41330, Fax: ++43/1/4277-9413 Querschnitte e-mail: [email protected], http://vgs.univie.ac.at

Band 26: Altern hat Zukunft. Alterskonzepte Ursula Klingenböck, Meta Niederkorn-Bruck, Martin Scheutz (Hg.) ISBN 978-3-7065-4778-9

Die westlichen Industriestaaten sind immer stärker dem Druck ausgesetzt, den ihnen die zunehmende Überalterung der Gesellschaft auferlegt. Die da- mit verbundenen Schwierigkeiten sind vielfältig: etwa mangelnde wirtschaft- liche Konkurrenzfähigkeit, wachsende Probleme bei der Altersversorgung und bei der Finanzierung des Gesundheitssystems. Die öffentliche, ambi- valente Wahrnehmung von Alter und die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Alter haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Vor allem die Medizin und die Soziologie widmen dem Alter großes Augenmerk. Der vorliegende Band nähert sich diesem nicht nur für die Industrienati- onen drängenden Problem aus einer multidisziplinären Sicht. Ziel des Bandes ist es, ein Bewusst- sein für die Basiskategorie „Alter“ bei den LeserInnen zu schaffen. Erwin Giedenbacher sen Speichermedien auf optischen Elementen basieren sollten. Damit nahm er konzeptionell nicht nur das www.historyofinternet.at Medium Internet vorweg, sondern auch den Informationstransfer mit- Zur Entwicklung des Internets in Österreich tels Lichtleiter, wie er in modern- en Glasfaserkabeln vonstatten geht, ebenso wie die derzeit im Entwick- lungsstadium befindliche optisch- en Datenspeicherung mit z.B. or- ganischen Grundelementen (Bush 1945). Help me information, Entstehung des Netzwerkes Das Internet selbst jedoch ist in more than that I cannot add. Abwandlung eines bekannten anti- Chuck Berry Die Genese des Mediums Internet ken Zitates ein Kind des Vaters aller ist in ihrer Präsentation, zumin- Dinge – des Krieges, in diesem Fal- dest was die Darstellung der tech- le des Kalten Krieges. Der ‚Sputnik- Schock‘ von 1957 führte neben vie- Das Internet – Ein Massen- nischen Details und die Techno- len anderen Dingen 1958 in den USA medium unter vielen? logie betrifft, bis ins Detail akkor- diert. Einen wichtigen Beitrag zur zur Gründung der Advanced Re- Gerade zu einer Zeit, in der sich das Schaffung historisch relevanter Da- search Project Agency (ARPA), einer Internet anschickt, alle Leitmedien ten schufen dabei die direkt beteili- Forschungs- und Finanzierungsein- des 20. Jahrhunderts – Druck, Ra- gten Entwickler und Programmie- richtung, die Hochtechnologie-Ent- dio, Fernsehen und Film – an Be- rer selbst, indem sie ab 1969 in den wicklungen aller Art fördern sollte deutung und Verbreitung zu über- ‚Requests for Comment‘ (RFC) die und im Pentagon, also dem Ver- treffen und in sich zu integrieren, laufende Entwicklung und die da- teidigungsministerium, angesie- erscheint es mehr als zweckmäßig, mit einhergehende technische Pro- delt wurde. Als erster Leiter war sich mit der Geschichte des World blematik genau protokollierten und ursprünglich Wernher von Braun Wide Web auseinander zu setzen. dokumentierten (Hafner/Lyon 1996: vorgesehen, der bereits führend im So rasant und überwältigend die 144 f.). Raketenprogramm der U.S. Army Ausbreitung des Internets in den Welche historischen Prozesse ha- tätig war, dann aber zur ebenfalls 1990er Jahren erscheinen mag, so ben nun die Entwicklung des glo- neu gegründeten NASA wechselte, gleicht sie durchaus der Genese an- balen Kommunikationsnetzwerkes wo er seine aus dem ‚Dritten Reich‘ derer Massenmedien: Von der Ein- ausgelöst und vorangetrieben? Das mitimportierten deutschen Inge- führung erster Radiodetektoren An- Problem von gut funktionierenden nieure weiter beschäftigen konnte fang der 1920er Jahre bis zur Ver- Kommunikationseinrichtungen (Hafner/Lyon 1996: 21). breitung des Hörfunks als Massen- zur Aufrechterhaltung bestehen- Entwicklungsziel eines der ARPA- medium vergingen keine zwanzig der Machtstrukturen ist kein neues. Projekte war unter anderem ein de- Jahre, im Falle des Fernsehens dau- Selbst die Überwindung von Entfer- zentrales Kommunikationsnetz- erte die analoge Entwicklung vom nungen im kontinentalen Ausmaß werk, das im Falle eines Atomkrie- Versuchsprogramm der BBC und ist keine neuzeitliche Erscheinung, ges und des damit einhergehenden des Reichsdeutschen Rundfunks bis erinnert sei hier nur an das römische Ausfalls militärischer Infrastruktu- zum Leitmedium etwas mehr als oder auch das chinesische Reich der ren die Kommunikation der verblie- drei Jahrzehnte. Antike. Als Initialzündung der mo- benen Truppenteile gewährleisten Selbst das Buch war so weit ver- dernen Massenkommunikation gilt sollte (das eventuelle Schicksal der breitet, dass Fernand Braudel für jedoch die Verlegung des ersten trans- Zivilbevölkerung spielte dabei keine die Zeit um 1500 – knapp ein halbes atlantischen Kabels im Jahre 1857 Rolle). Diese Überlegungen hatten Jahrhundert nach Einführung des (Headrick 1991: 17 ff.). US-amerikanische Militärstrategen Buchdrucks – von 20 Millionen ge- Bereits 1945 prognostizierte Van- bereits seit dem Ende der 1940er druckten Büchern in einem Europa nevar Bush, zu diesem Zeitpunkt als Jahre beschäftigt. von 70 Millionen Einwohnern aus- Direktor des Office of Scientific Re- Eng mit dem Pentagon und der geht (Braudel 1985). Im Vergleich search and Development Koordi- ARPA arbeiteten universitäre For- dazu: 20 Millionen Host-Computer nator der US-amerikanischen Wis- schungseinrichtungen und kom- erreichte das Internet etwa 1995, senschafter im Zweiten Weltkrieg, merzielle Firmen zusammen. Am 29. also 25 Jahre nach Einrichtung des in ‚As We May Think‘ ein globales Oktober 1969, nach mehr als zehn ersten Computer-Netzwerks. Medium zum Wissenstransfer, des- Jahren Entwicklungsarbeit, wurden 28 • historische s ozialkunde die ersten vier Netzwerkcomputer – Die Entwicklung des Internets an Genf ein junger britischer Wissen- etwa 400 Kilogramm schwere Ge- amerikanischen Universitäten sollte schafter, Tim Berners-Lee, eine gra- räte mit teilweise handgewickelten für die weitere Genese des Mediums fische Benutzeroberfläche für das Kupferspulen – an den Universitä- von zentraler Bedeutung sein. Bin- Internet zu entwickeln. Das Resul- ten von Los Angeles, Santa Barbara, nen kürzester Zeit begannen Leh- tat war die Geburtsstunde des World Utah und dem Stanford Research In- rende wie Studierende die Vorteile Wide Web, wie wir es heute kennen, stitute zusammengeschaltet. Die ers- der neuen Kommunikationstechnik das derzeit (2009) mehr als 630 Mil- te Verbindung stürzte übrigens bei für ihre Zwecke zu adaptieren. Ab lionen Host Computer und mehr als der Übermittlung des ‚G‘ in ‚LOGIN‘ 1972 war es bereits möglich, per E- 1,5 Milliarden aktive User aufweist ab (Zakon o. J.). Das sogenannte Mail zu kommunizieren; es begann (Number of Internet Hosts Source ARPANET war geboren. sich eine neue kommunikative Sub- Data o. J.). Neben der vom militärischen und Netzkultur zu entwickeln. We- Nie außer Acht gelassen werden Standpunkt revolutionären Metho- nige Jahre später wies das Netz be- darf allerdings der Umstand, dass es de, Kommunikation über dezentra- reits neue, weiterentwickelte For- sich beim World Wide Web um ein – le Relais-Stationen ohne die Not- men wie Usenet, BITNET und – in zwar globales – Telekommunikati- wendigkeit einer zentralen Steuer- Europa – Eunet auf. 1982 bis 1984 onsnetzwerk handelt, dieses aber einheit auszuführen, war für den spaltete sich das Internet in einen noch immer große Teile der Welt- Erfolg des Internets in den folgen- militärischen – das MilNet – und ei- bevölkerung von seiner Benutzung den zwei Jahrzehnten vor allem das nen zivilen Teil auf. Das klassische ausschließt. Die Grafik auf S. 31 computertechnische Prinzip des ARPANET wurde 1990 schließlich zeigt die Länder der Erde in ihrer Packet Switching von Bedeutung. eingestellt. Größe proportional zu ihrer Inter- Daten werden dabei in kleinere Teile Der Hype, der in den 1990er Jah- netnutzung im Jahre 2002 darge- ‚zerlegt‘, mit einer eindeutigen Ken- ren um das World Wide Web als frei- stellt: Die USA und Europa sind auf- nung versehen und stückweise über es, weltumspannendes und demo- gebläht, Südamerika ist marginal, das Netz verschickt. Die Reihenfol- kratisches Medium entstanden ist, Afrika ist praktisch nicht vorhan- ge des Transports der Datenpakete berücksichtigt also kaum die Ge- den – der Digital Divide, die Tren- ist dabei nicht von Belang, solan- nese des Mediums als ursprünglich nung der Welt in Digerati (digital ge der empfangende Computer auf- rein militärisches Kommunikations- literati) und vom Cyberspace Aus- grund einer eindeutigen Referenz instrument. Bis zum heutigen Tage geschlossene ist noch immer trau- die einzelnen Pakete wieder zur ur- ist es tatsächlich so, dass ein Groß- rige Tatsache. sprünglichen Nachricht zusammen- teil der wichtigsten Knotenpunkte Bei der Ausbreitung des Inter- setzen kann. Die Pakete können so- des Internets im technischen Sin- net war die Vergabe der sogenann- mit über verschiedene Leitungen ne, d. h. Endpunkte von Leitungen, ten Top-Level-Domänen ein inte- versendet werden, womit eine Über- Kumulationen von Host- und Ser- ressanter Gesichtspunkt. Jeder In- lastung einzelner Teile des Netzes vercomputern, die Nachrichtentei- ternet-Seite wird ja neben ihrer vermieden wird. Die Referenz be- le weiterleiten (also auch die zen- eindeutigen IP-Adresse (beispiels- steht aus einer Reihe von ‚Protokol- tralen Root Server), an Orten unter- weise 208.77.188.166) im Rahmen len‘, technischen Standards, die von gebracht sind, die entweder in den des Domain Name Systems (DNS) Host- und Server-Computern inter- USA liegen oder in denen die Verei- auch zumeist eine Länderkennung pretiert werden können. Benötigt nigten Staaten militärische Stütz- zugewiesen. Im ursprünglichen werden dafür das Internet Protocol punkte unterhalten. Adressvergabe-System waren die- (IP) und das Transmission Control Der Aufstieg eines neuen glo- se Kennungen noch nicht vorge- Protocol (TCP). Jede Internet-Seite balen und dezentral organisierten sehen, existierten bis dahin die hat eine eindeutige IP-Adresse. Wei- Kommu nikationsmediums stellte meis ten Web-Server ja ausschließ- tere Teile der Protokoll-Vereinba- auch neue Herausforderungen an lich in den Vereinigten Staaten rungen für Internet-Verbindungen die von staatlicher Seite oft ge- von Amerika. So war die häufigs- stellen u. a. das Hypertext Transport forderte Überwachung des Telekom- te Domänen-Endung .com (für In- Protocol (http) und das File Trans- munikationsverkehrs, da es nicht ternet-Seiten von kommerziellen fer Protocol (ftp) dar. Um der mitt- nur notwendig wurde, die Knoten- Anbietern). Weitere Domänen-Ken- lerweile im Internet herrschenden punkte zu kontrollieren, sondern die nungen waren .gov für offizielle Knappheit an IP-Adressen Abhilfe gesam te aufgrund des Prinzips des Regierungs-Seiten (beispielsweise zu schaffen, wird das derzeit noch Packet Switchings stark fragmen- www.whitehouse.gov), .edu für dominante Internet Protokoll Ver- tierte Datenflut zu beobachten und Inhalte aus dem Bildungsbereich sion 4 (IPv4) sukzessive durch das zu identifizieren. (z.B. www.harvard.edu) und .mil seit 1998 definierte Protokoll Versi- 1989 begann am europäischen für Internet-Seiten aus dem (US- on 6 (IPv6) ersetzt werden. Kernforschungszentrum CERN in amerikanischen) militärischen historische s ozialkunde • 29 Standorte der Root-Server (‚A‘ bis ‚M‘). Quelle: Wikimedia Commons, http://commons.wikimedia.org/w/thumb.php?f=Root-current.svg&width=2000px 30 • historische s ozialkunde Quelle: New Scientist, Internet WorldStats Das „explodierende“ Internet, 2008. Erstmals sind die USA nicht mehr No. 1 in der Zahl NutzerInnen. historische s ozialkunde • 31 Quelle: Worldmapper, http://www.worldmapper.org/display.php?selected=336 Quelle: Worldmapper, Internetnutzer weltweit 2002. Länder größenmäßig analog der Internetnutzungsdichte dargestellt. Internetnutzer weltweit 2002. Länder größenmäßig analog der Internetnutzungsdichte dargestellt. 32 • historische s ozialkunde

Bereich (wie www.army.mil). Nicht- der Universität Wien der erste Netz- im kommerziellen und weniger im kommerzielle Organisationen er- werkknoten mit permanenter An- privaten Bereich genutzt wurden. hielten die Domänenkennung .org, bindung an das Internet installiert Anfang des neuen Jahrtausends netzspezifische und -administrative (Rastl 2000). Das ACONet (Austri- schließlich wurden in Österreich Inhalte die Endung .net. an Academic Computer Network), ADSL (Asymmetric Digital Subscriber Die Länderkennungen wurden also das österreichische Wissen- Line)-Zugänge zum World Wide (mit einigen Ausnahmen) nach schaftsnetz, dominierte die ersten Web angeboten, die wesentlich der ISO-Norm 3166 vergeben und Jahre der Internetnutzung in Öster- höhere Bandbreiten als alle bisher zunächst auch mit Spezifikationen reich. Nicht vergessen werden darf gekannten Internet-Verbindungen für die inhaltliche Ausrichtung der hierbei auch die Tatsache, dass das bereitstellten. Die Abrechnung jeweiligen Seiten versehen (also z.B. World Wide Web, also das Internet erfolgte nunmehr bei dieser Art des co.at für kommerzielle, ac.at für in der Form, wie wir es heute ken- Internet-Zugangs nicht mehr über universitäre Web-Sites). Österreich nen, erst seit etwa Mitte der 1990er Zeiteinheiten, sondern über die erhielt die Domänenendung .at Jahre über entsprechende Server- konsumierte Datenmenge (Traffic, 1988 zugesprochen. Nachdem im Architekturen in Österreich zugäng- d. h. Downloads sowie Uploads). Bald Laufe der historischen Ereignisse lich gemacht worden ist. wurden die bis heute gebräuchlichen der 1990er Jahren neue nationale Die Verbreitung des neuen Me - Flatrate-Modelle eingeführt, die Entitäten ihre Existenz begannen diums verlief in den ersten Jah- einen Fixpreis unabhängig von (die Nachfolgestaaten Jugoslawiens ren eher schleppend und folg- der verbrauchten Datenkapazität und der UdSSR beispielsweise), sah te, den technischen Zwängen garantieren. sich die ICANN (Internet Corpora- der Verkabelung folgend, einem Auch hier dauerte es einige Jahre, tion for Assigned Names and Num- klassischen Zentrum-Peripherie- bis die neuen Leitungs- und Zu- bers) – die für die Domänenverga- Modell. Zuerst wurden Wien und gangsformen in ganz Österreich be zuständige Organisation – ge- die Landeshauptstädte versorgt, konsumierbar waren. Darüber hinaus nötigt, neue Top Level Domains zu danach folgten sukzessive kleinere bedurfte es einer Regulierung und schaffen. Interessanterweise kann Städte und schließlich die länd- Liberalisierung des Telekommunika- man fast zwei Jahrzehnte nach dem lichen Regionen Österreichs. Die tionsmarktes, um das Quasi-Monopol Ende der real existierenden Sowje- Leitungskapazitäten wurden von der Telekom Austria in diesem tunion noch immer Internetseiten der Österreichischen Post bzw. Tele- Bereich aufzuweichen. Erst neue unter der ihr zugeordneten Domä- kom kontrolliert und installiert. Konkurrenz belebte den Wettkampf ne .su registrieren. Die vermeintliche Oberhoheit der in diesem Marktsegment, bis dahin halbstaatlichen Telekom Austria (also etwa 2003) waren die Tarife Das Internet in Österreich führte unter anderem dazu, dass sich für Internet-Zugang in Österreich der Telekommunikationszweig der im europäischen Vergleich relativ Österreich spielte in der Verbreitung Organisation kurzzeitig in ‚jet2web. hoch gelegen. der neuen Kommunikationstechno- net‘ umbenannte. Begleitet von Im Gegensatz dazu war Österreich logie ‚Internet‘ sicherlich keine Vor- einem für Österreich gigantischen von Anfang an einer der am er- reiterrolle. Aufgrund der relativen Werbebudget, endete die Aktion bittertsten umkämpften Märkte geographischen Nähe zur USA sowie allerdings nach wenigen Monaten in der Mobiltelefonie, ein Grund der direkten kommunikationstech- in einem relativen PR-Desaster und dafür, dass die Entgelte in diesem nischen Verbindung durch Unter- der Rückbenennung der Firma in Bereich weit unter dem Schnitt der seekabel fand das Internet in Euro- ‚Telekom Austria‘. Mitgliedsländer der Europäischen pa zuerst in Großbritannien Verbrei- Die technische Einwahl der Union liegen. Dies mag auch ein tung. ‚Early adopters‘ waren dann In ternet-Konsumenten erfolgte Erklärungsansatz dafür sein, dass in aber vor allem die skandinavischen jahre lang per (Telefon-)Modem bei der Internet-Nutzung einige Bereiche Länder, die bis heute die höchsten Bandbreiten bis maximal 56 Kilobit in Österreich nie in ver gleich barer NutzerInnenzahlen per Einwohner pro Sekunde, die Abrechnung Intensität genutzt wurden wie in aufweisen. erfolgte nach Telefoniemodell in Ländern mit ähnlicher Sozial- und In Österreich waren es vor allem Zeiteinheiten. Erst Ende der 1990er Wirtschaftsstruktur, da hierzulande die Universitäten, die die Einrich- Jahre kamen ISDN-Leitungen in die Kommunikation per ‚Handy‘ tung von Kommunikations- und markanter Größenordnung auf bereits viele dieser Applikationen Datenleitungen anregten und for- den Markt, die großzügigeren vorweggenommen oder überhaupt derten. 1985 wurde die Universi- Netzzugang erlaubten, auf Grund ersetzt hatte (wie z.B. Echtzeit-Chats tät Linz an das European Academic ihrer relativ teuren Anschaffung für in Internet-Foren und ähnliches). and Research Network (EARN) ange- Endkunden jedoch hauptsächlich In den kommenden Jahren wird bunden. 1990 schließlich wurde an dies zu interessanten Entwicklungen historische s ozialkunde • 33 Politische Karte der Erde mit zugehörigen Internet-Domänen-Kennungen. Quelle: CIA World Factbook, Wikimedia Commons mit zugehörigen Internet-Domänen-Kennungen. Quelle: CIA World Politische Karte der Erde 34 • historische s ozialkunde führen, da absehbar ist, dass das ZDF, , ORF) gehen dazu über, Allein Facebook hat nach eigenen World Wide Web in Zukunft verstärkt ihre Eigenproduktionen auch über Angaben Ende 2009 mehr als eine über mobile Geräte genutzt werden das World Wide Web zugänglich zu Million Mitglieder in Österreich, wird, beispielsweise sogenannte machen. Das Internet wird somit die sich nunmehr alle zehn Minuten Smartphones, Tablet PCs und ähn- immer stärker zum Metamedium, darüber gegenseitig informieren, liches. das Aspekte von Radio, TV, Kino was ihre Katze soeben gefressen und Telefonie in sich vereint und hat oder, wie es der Kabarettist Gegenwärtige Nutzung des synthetisiert. Michael Niavarani bezeichnet, „CIA Mediums Internet in Österreich Dieser Aspekt wird auch im auf freiwilliger Basis“ betreiben Internet-Nutzungsverhalten der (Niavarani o.J.). Gemäß den Untersuchungen der Jugendlichen in Österreich deutlich: Diese Thematik hat jedoch ei- Statistik Austria und des Austrian Downloads (legal wie illegal) von nen ernst zu nehmenden Hinter- Internet Monitor (Internetnutzer- Musik, Videos und Software stehen grund, sind doch die Überwachung innen und Internetnutzer im EU- hier seit Jahren im Vordergrund, des Telekommunikationsverkehrs Vergleich o. J.; Austrian Internet ebenso wie die Konsumation und die Zugriffsmöglichkeiten, die Monitor o. J.) verfügten im 3. Quar- von Multimedia-Inhalten im All- staatlichen Institutionen dabei ge- tal 2009 etwa 74 % der Österreiche- gemeinen. Neu hinzu gekommen boten werden sollen, seit Anbeginn rinnen und Österreicher über 14 ist (vor allem für Jugendliche) in des World Wide Web eine kontro- Jahren über einen Internet-Zugang den vergangen Jahren die Nutzung vers diskutierte Problemstellung. aus ihrem Zuhause. von Applikationen im Bereich des (Schwarz 1999) Hier nahmen wie- Ca. 30 % können auch von ihrem sogenannten Web 2.0 sowie von derum die USA eine Vorreiterrol- Arbeitsplatz auf das Netz zugreifen. Social Networking-Plattformen. le ein, indem sie mittels staatlicher Prinzipiell technischen Zugang zum In Österreich wurde die Nutzung Institutionen wie der National Se- Medium haben 81 % der Einwohner von Plattformen mit User Generated curity Agency (NSA) und noch aus Österreichs. Nachdem das Internet Content (UGC), also von Internet- dem Kalten Krieg herrührender Ab- lange Jahre als das Medium der jün- Nutzern selbst produzierten In- hörnetzwerke wie ECHELON den geren Generation galt, ist nunmehr halten, anfangs eher zögerlich globalen Datenverkehr zu überwa- die am stärksten wachsende Nutze- angenommen. Erstes populäres Bei- chen suchten. Diese Bemühungen rInnengruppe die Alterskohorte der spiel dieser Web 2.0-Applikationen wurden nach den Terroranschlägen über 55-Jährigen. War das Internet waren ja Weblogs bzw. Blogs, also des 11. September 2001 noch weiter anfänglich stark von männlichen chronologisch aufgebaute Online- intensiviert. Medial gespiegelt wird Nutzern dominiert, so hat sich der Tagebücher und Glossen, die in dieses Vorgehen z.B. derzeit bei der Anteil von Frauen stark erhöht: manchen Ländern im politischen Diskussion um die Zugriffsmöglich- ca. 81 % der männlichen und 67 % Bereich mittlerweile immensen keiten der Vereinigten Staaten auf der weiblichen Bevölkerung nut- Einfluss gewonnen haben. Als ein Online-Finanz- und Kontentransak- zen derzeit in Österreich das World Beispiel für viele sei hier Ariana tionen in Europa. Auch im deutsch- Wide Web. Weit über 60 % nutzen Huffington mit ihrer Webseite ‚www. sprachigen Raum wird die von staat- das Internet regelmäßig, die meist- huffingtonpost.com‘ genannt, die licher Seite immer wieder geforder- genutzten Internet-Anwendungen den Wahlkampf Barack Obamas te Online-Durchsuchung vor allem sind dabei E-Mail, Online-Nachrich- um die Präsidentschaft der USA im Zusammenhang mit Kinder-Por- ten und Serviceangebote wie Adress- 2008 nicht unwesentlich zu dessen nographie im Internet diskutiert. und Telefonnummernsuche, Infor- Gunsten beeinflussen konnte. Auch Zum Stichwort Pornographie sei mationssuche, Online-Lexika und in Österreich bloggen mittlerweile auch angeführt, dass diese Sparte bis Wörterbücher. einige bekannte Persönlichkeiten zum Jahre 2009 als die kommerzi- Immer stärker in den Vorder - aus dem öffentlichen Leben, selbst ell erfolgreichste im Internet galt, grund rückt auch in Österreich der einflussreichste Medienmogul in diesem Jahr aber erstmals um- die Nutzung von Video- und TV- des Landes, Hans Dichand (Besitzer satzmäßig von Social Networking- Inhalten über das Medium Internet. der Kronen Zeitung), ist in einem Anwendungen wie Facebook über- YouTube, derzeit weltweit größter mehr oder weniger authentischen holt wurde (Social Media Revoluti- Anbieter von (meist von Internet- Blog auf der Homepage seiner on o.J.). Darüber hinaus leidet die Usern selbst produzierten) Online- Zeitung zu finden. Dennoch ist die Porno-Industrie an einem Phäno- Videos, verzeichnet auch in öffentliche Wahrnehmung von Blogs men, das die Musik-Branche seit Öster reich Millionen Views und in Österreich weiterhin relativ gering. etwa 10 Jahren aus leidvoller Erfah- Downloads. Immer mehr seriöse Social Networking Plattformen rung kennt: Internet-User machen Fern sehkanäle (im deutschen wurden hierzulande jedoch sehr die Inhalte (teilweise illegal) gratis Sprach raum beispielsweise ARD, schnell angenommen und adaptiert. im Netz zugänglich und untergra- historische s ozialkunde • 35

Quelle: http://www.statistik.at/web_de/statistiken/informationsgesellschaft/ikt-einsatz_in_haushalten/042584.html ben damit die Gewinnmargen der weile Eingang in den Rechtschreib- ale Darstellungsform ändert? Auch Original-Produzenten. Duden gefunden. Unter all den Un- die österreichischen Geisteswissen- Auch im seriöseren Business-Be- ternehmungen von E-Mail, Fotoda- schaften müssen sich dieser Diskus- reich ist in Österreich eine Entwick- tenbanken, interaktiven Landkarten sion stellen, kommt es doch in den lung absehbar. Immer stärker wird und Street Views ragt bei Google letzten Jahren verstärkt zu Digitali- das World Wide Web als globale Ein- jedoch das Unternehmen Google sierungen und Online-Nutzbarma- kaufsplattform erkannt. Mehr als Books hervor, in dem seit Jahren chung kultureller Produktionen aus die Hälfte der österreichischen In- Millionen Bücher digitalisiert und dem „nationalen Kulturgut“. Ver- ternet-Population kauft mittlerwei- über das Internet verfügbar gemacht dienstvolle Beispiele dafür sind un- le regelmäßig übers WWW ein, fast werden. Hier wiederum wird das Di- ter anderem die digitale Zeitungsda- ebenso viele besitzen bereits ein On- lemma des Mediums deutlich, das tenbank ANNO (Austrian Newspaper line-Konto bei einer Bank. Ebenso sich einerseits zwischen Demokra- Online, http://anno.onb.ac.at/anno. im Zunehmen begriffen sind Behör- tisierung – also erleichtertem Infor- htm) der Österreichischen Natio- denwege übers Internet; sogenann- mationszugang für viele – und an- nalbibliothek und die Online-Ausga- te E-Government-Anwendungen dererseits zunehmender Monopo- be der Fackel im Rahmen des Aus- werden in Österreich vorzugsweise lisierung und Kapitalisierung – ein trian Academy Corpus (http://cor- über die Plattform www.help.gv.at Anbieter kontrolliert ein riesiges In- pus1.aac.ac.at/fackel/), wobei der angesprochen. formationsangebot – bewegt. ohnehin im Deutschen schwierig Ein ungebrochener Trend bei der Darüber hinaus ist bei diesem besetzte Begriff des Nationalen und Nutzung von Inhalten im Internet Vorgang, der als weiterer Teilas- der nationalen Identität im Medium ist noch immer die Informations- pekt der Assimilation bestehender Internet mehr oder weniger obsolet suche. Google, ursprünglich eine Medientypen und kultureller Arte- wird, eine Tatsache – mit der sich Suchmaschine unter vielen, domi- fakte in das Meta- und Megamedi- vor allem die Jurisdiktion ausein- niert das Informationsangebot und um Internet begriffen werden kann, ander zu setzen hat, da Internet-Sei- vor allem das Informations-Design die Problematik der Urheberrechte ten keine nationalen Grenzen ken- wie kein Anbieter je zuvor in der eine große. Wie sollen und müs- nen (auch wenn Länder wie China Geschichte des Internet. Schließ- sen Rechte an Produkten abgegol- immer wieder durch spezielle Zen- lich hat das Verb googeln mittler- ten werden, wenn sich ihre medi- surmaßnahmen den Zugriff auf un- 36 • historische s ozialkunde liebsame Web-Inhalte zu unterbin- nale über ORF Online konsumiert). wie z.B. Twitter) fordern, machen den versuchen). Entwicklungen zu immer weiterer kritische und umfassende Informa- Der Bildungsbereich im Allge- Verknappung und Verkürzung von tionsgewinnung und -präsentati- meinen erkennt das World Wide Information, wie sie Anwendungen on nicht nur in Österreich zu einer Web derzeit ebenso als Gefahr wie über mobile Internetanbindungen der großen Herausforderungen des als Chance. Immer mehr Menschen (Mobiltelefon und Applikationen noch jungen 21. Jahrhunderts. nutzen das Internet als primäre und oftmals einzige Informationsquelle, Online-Enzyklopädien wie Wikipe- dia gelten zwar mittlerweile als min- LITERATUR destens ebenso zuverlässig wie klas- sische Lexika (Encyclopedia Britan- anno (austrian newspaper online). http://anno.onb.ac.at/anno.htm. nica), dennoch gilt es vor allem, die austrian internet Monitor. http://mediaresearch.orf.at/index2.htm?internet/internet_ Informationskompetenz der Nutzer- aim.htm. innen und Nutzer kritisch zu schu- F. Braudel, sozialgeschichte des 15.–18. Jahrhunderts. Bd. 1: der alltag. München len, besonders in Zeiten des User 1985. Generated Content. Kaum hinter- V. Bush, as we May think. the atlantic Monthly, July 1945. http://www.theatlantic.com/ fragtes Abschreiben von Inhalten aus doc/194507/bush. dem Internet ist an Schulen wie an the exploding internet. new scientist, april 29, 2009. http://www.newscientist.com/gal- Universitäten zum Problem gewor- lery/mg20227061900-exploring-the-exploding-internet. den. Österreich mag hier durchaus die Fackel. austrian academy corpus. http://corpus1.aac.ac.at/fackel/. ein aus den klassischen Medien er- k. haFner/M. lYon, where wizards stay up late. new York 1996. erbtes Problem haben, sind wir es d. r. headrick, the invisible weapon. telecommunications and international Politics doch gewohnt, die Nachrichten in 1851–1945. oxford 1991. einem einzigen mehr oder minder internetnutzerinnen und internetnutzer im eu-Vergleich. statistik austria. http://www.sta- staatlichen Fernsehsender zu sehen tistik.at/web_de/statistiken/informationsgesellschaft/ikt-einsatz_in_haushalten/042584. und die gedruckte Version der Wirk- html. lichkeit in der, auf die Einwohner- internet users 2002. worldmapper. http://www.worldmapper.org/posters/worldmap- zahl gerechnet, von der Verbreitung per_map336_ver5.pdf. her größten Tageszeitung der Welt M. niaVarani, Facebook. http://www.youtube.com/watch?v=v5czaarzwGk. zu lesen (selbst wenn sie im Kleinfor- number of internet hosts source data. swivel.com, http://www.swivel.com/data_sets/ mat gedruckt wird) (Weber 2008). spreadsheet/1010346. Demokratischer und kritischer P. rastl, 10 Jahre internet in Österreich. comment 00/2 2000. http://comment.uni- Zugang zu Information scheint in vie.ac.at/00-2/2/. Zeiten der globalen Echtzeit-Be- root servers. http://commons.wikimedia.org/w/thumb.php?f=root-current.svg&width richterstattung in einem wirtschaft- =2000px. lich wie kulturell hoch entwickel- M. schwarz, „Big Brother is watching you“. die überwachung des telekommunikations- ten Land wie Österreich kein großes verkehrs. online-seminararbeit. universität salzburg 1999. http://www.sbg.ac.at/ges/ Problem darzustellen. Doch auch people/wagnleitner/sa/ms/msch.htm. hier ist die Tendenz absehbar, dass social Media revolution. socialnomics.net. http://www.youtube.com/watch?v=siFYPQjYhv8. die NutzerInnen des nicht mehr top level domains. http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/d/d1/world_ ganz neuen Mediums Internet ihre tld_Ma.jpg. Information aus immer weniger Sei- s. weBer, das Google-copy-Paste-syndrom. wie netzplagiate ausbildung und wissen ten von immer weniger Anbietern gefährden. hannover 2008. beziehen (internationale Nachrich- world internet users and Population stats. http://www.internetworldstats.com/stats.htm. ten werden von Österreich aus meist r. zakon, hobbes‘ internet timeline v8.2. http://www.zakon.org/robert/internet/timeline/. über Google und Yahoo News, natio- Beiträge zur Fachdidaktik 4/2009

Thomas Hellmuth 2007: 346). Entdeckende Lernver- fahren sind dagegen prozessorien- tiert und verzichten weitgehend auf Herzschmerz und Harmonie Anleitungen. Vielmehr soll der Ler- Zur Funktion des Heimatfilms in der Nachkriegszeit nende auf der Basis des angebotenen Materials eigenständig Erkenntnisse und Wissen gewinnen. Dahinter ste- cken konstruktivistische Lernkon- zepte: Die individuelle Wahrneh- Filmanalyse kann grundsätzlich mit sich aber – in entsprechend verein- mung wird verstärkt betont, indem zwei Methoden erfolgen: Mit der em- fachter Form – auch in der achten selbstreflexiv die eigene Konstrukti- pirisch-sozialwissenschaftlichen Schulstufe anwenden. Bei jedem der on der Wirklichkeit ermöglicht wer- Methode wird versucht, Strukturen beiden Filme sind drei Unterrichts- den soll (Sander 2001: 151-167). im Film auf eine objektivierbare und stunden einzuplanen. Entdeckendes Lernen ist unter quantifizierbare Weise zu entde- anderem durch die reflektierende cken. Bei der hermeneutische Me- Methodische Überlegungen Interpretation von „Texten“ mög- thode geht es dagegen um das Sinn- lich, die im Anschluss an die Ver- verstehen des Filmes, d. h. um das Zunächst ist es notwendig, den mittlung des gesellschaftlichen Sichtbarmachen verborgener Be- SchülerInnen sowohl den gesell- Kontextes und der filmanalytischen deutungen (Hickethier 2001: 32f). schaftlichen Kontext als auch die Werkzeuge erfolgen soll (Weiße- Um diesen Bedeutungen auf die filmanalytischen Werkzeuge zu ver- no 2000: 191): Auf Basis dieses „Ar- Spur zu kommen, ist ein Film, der mitteln, um sich den verborgenen beitswissens“ entwerfen die Schü- auch als „Text“ im weiteren Sinne Bedeutungen in den Filmen annä- lerInnen zunächst in Einzelarbeit verstanden werden kann, im ge- hern zu können. Gemäß den in der Hypothesen zum Film bzw. Film- samtgesellschaftlichen Kontext zu Didaktik der Geschichte und Poli- ausschnitten und versuchen, die- analysieren. Dies ist möglich, indem tischen Bildung derzeit gängigen se anhand von Anhaltspunkten im er – im Sinne der Diskursanalyse – Kompetenzmodellen sind dieses „Text“ zu beweisen. Danach disku- mit anderen „Texten“ in Beziehung Kontextwissen und die filmanaly- tieren die SchülerInnen die unter- gesetzt wird. Demnach ist ein Film tischen Werkzeuge als „Arbeitswis- schiedlichen Hypothesen in Grup- bzw. „Text“ nur vordergründig das sen“ zu bezeichnen, die Anwendung penarbeit oder im Klassenplenum, Produkt eines Einzelnen. Bei ge- des Arbeitswissens und der Werk- wobei „eine wechselseitige Steige- nauerer Betrachtung erweist er sich zeuge fällt dagegen unter dem Be- rung im Gespräch durch den Aus- „als Bestandteil eines (sozialen) Dis- griff der „Kompetenzen“ (Hellmuth/ tausch von unterschiedlichen Wis- kurses“ (Jäger 1999: 173). Klepp 2010; Krammer 2008: 5-14; sensbeständen“ erfolgt, „eine ex- Im Folgenden soll die hermeneu- Kühberger 2008). Zur Vermittlung tensive Auslegung und Erfahrung tische Methode mit Hilfe von zwei von „Arbeitswissen“ eignen sich vor von Wirklichkeit“. Dabei wird den Heimatfilmen, den Filmen „Sis- allem darbietende und erarbeiten- Lernenden bewusst, dass es „weder si“ (1955, Regie: Ernst Marischka) de Verfahren. Darbietende Lernver- ‚falsche‘ noch ‚richtige‘, sondern und „Mariandls Heimkehr“ (1962, fahren weisen einen relativ starken allenfalls mehr oder minder ange- Regie: Werner Jacobs), vorgestellt Strukturierungsgrad auf. Sie die- messene Interpretationen geben werden. „Sissi“ ist dabei unter dem nen der direkten Wissensvermitt- kann […]“ (Kuhn 2005: 515), die Aspekt der österreichischen Identi- lung und sind hochgradig lehrer- von Sozialisationsprozessen und ei- tätsbildung nach 1945 zu analysie- gesteuert. Erarbeitende Lernver- genen Erfahrungen abhängig sind. ren, „Mariandls Heimkehr“ im Hin- fahren umgehen zwar die direkte Schließlich wird versucht, aus dem blick auf die Geschlechterrollen der Wissensvermittlung, sie sind aber „Text“ auf allgemeine Aspekte zu Nachkriegszeit. Die vorliegenden in bestimmten Ausformungen „auf schließen und nach Typischem zu Unterrichtsvorschläge beziehen ein (im Lehrerkopf) schon festge- suchen. Auf eine solche abstrakte sich auf die Sekundarstufe II, lassen legtes Ziel“ ausgerichtet (Detjen Ebene gelangt man etwa im Zusam- 38 • Fachdidaktik menhang mit „Sissi“ durch die Fra- Um den SchülerInnen die einzel- klärt und schließlich anhand von ge, auf welche Weise Nationsbildung nen Begriffe zu verdeutlichen, er- Beispielen deren praktische Bedeu- erfolgt und welche Bedeutung dabei klärt der/die LehrerIn – im Sinne tung erfasst. Dabei bieten sich zwei die Identitätsbildung besitzt. zielorientierter Lernverfahren – die Möglichkeiten an: Zum einen kann unterschiedlichen Begriffe mit Hil- eine von den SchülerInnen ausge- Filmanalytische Werkzeuge fe von Anschauungsmaterial wie Ab- wählte Filmsequenz hinsichtlich bildungen und Filmausschnitten. des Tones analysiert werden, zum Von SchülerInnen kann freilich Die Anwendung bzw. die kognitive anderen können sich die Schüler- nicht erwartet werden, dass sie wis- Verankerung der Begriffe und ihrer Innen auch an der Vertonung einer senschaftliche Arbeit leisten. Letzt- Bedeutung sowie die Kompetenz, Filmsequenz versuchen (Munaretto lich hat Unterricht unter anderem dieses Werkzeug auch anzuwenden, 2007: 54, 84). Die Ergebnisse wer- die Aufgabe, propädeutische, d. h. erfolgt dagegen prozessorientiert: den im Klassenplenum diskutiert, vorwissenschaftliche Fähigkeiten Die SchülerInnen wählen als Haus- wobei die SchülerInnen vermutlich zu vermitteln (Für die Filmanalyse übung einige Standbilder aus einem zu unterschiedlichen, zum Teil auch empfehlenswert: Munaretto 2007; ihnen bekannten Film aus. Als The- zu kontroversen Lösungen kom- Monaco 2000). In diesem Zusam- ma für ein Gruppenreferat werden men. Mit dem Analysewerkzeug ge- menhang eigenen sich die hier be- diese Bilder folgendermaßen bear- rüstet, wagen sich die SchülerInnen handelten Heimatfilme vor allem beiten (Munaretto 2007: 54): schließlich an die Dekonstruktion zur Analyse der Funktion von Ein- 1) Die SchülerInnen beschreiben von „Sissi“. stellungsgrößen sowie der traditio- die Bildgestaltung mit Hilfe der nellen Verwendung von Musik. So Fachbegriffe so genau wie mög- „Sissi“ – österreichische werden mit Musik vor allem dra- lich. Identitätskonstruktion matische Inhalte verstärkt, Span- 2) Sie deuten die Bildgestaltung im nungen erzeugt sowie Traurigkeit Zusammenhang mit der ihnen „Sissi“, der erste Teil der „Sissi“-Tri- oder Fröhlichkeit vermittelt. Den bekannten Filmhandlung und logie, wurde im Staatsvertragsjahr SchülerInnen sollte diese Verbin- der nach ihrer Meinung inten- 1955 produziert. Die im Heimatfilm- dung von Inhalt und Technik zu- dierten Aussageabsicht. milieu angesiedelte Darstellung des mindest bewusst gemacht werden. 3) Sie begründen, warum sie gera- Lebens von Kaiserin Elisabeth mit Dies gilt auch für die Einstellungs- de die ausgewählten Bilder für re- Romy Schneider in der Titelrolle größen, die sich an dem mensch- präsentativ halten. gilt bis heute als Maßstab für weitere lichen Körper orientieren und bei Ähnlich wie bei der Bildgestaltung filmische Darstellungen des Lebens denen sich gewisse Begriffe durch- kann auch im Zusammenhang mit der Kaiserin, auch für den von Xa- gesetzt haben (Munaretto 2007: der Musik vorgegangen werden. Zu- ver Schwarzenberger inszenierten 44f): nächst werden die Fachbegriffe er- Zweiteiler „Sisi“, der Ende 2009 im österreichischen Fernsehen lief. Der Entstehungszeitpunkt des ersten „Sissi“-Films scheint kein Zufall, zu- 1) weit: der Mensch verschwindet in der landschaft. dem zuschauer kann ein über- mal sich der Film als Spiegelbild der blick vermittelt werden, aber auch überwältigende Bilder lassen sich damit erzeu- gesellschaftlichen Verhältnisse und gen. ebenso ist es möglich, mit einer weiten einstellungsgröße das Gefühl von ein- samkeit und Verlassenheit zu erzeugen. Bedürfnisse der 1950er Jahre inter- 2) totale: der handlungsraum des Menschen wird abgebildet und orientierung gebo- pretieren bzw. dekonstruieren lässt: ten. wichtig ist die szenerie, nicht die darstellung der handelnden Menschen. Mit dem Staatsvertrag wurde ein un- 3) halbtotale: die menschliche Figur wird von kopf bis Fuß präsentiert, Bewegungen abhängiges Österreich begründet, des ganzen körpers oder von Personengruppen kommen zur darstellung. weshalb die Schatten der Vergan- 4) halbnah: der Mensch wird vom kopf bis zur hüfte gezeigt. oft dient diese einstel- genheit, die nationalsozialistischen lungsgröße dazu, um Beziehungen zwischen Menschen auszudrücken. Menschliche Mimik und Gestik, die auf die Beziehungen hinweisen, sind zu erkennen. Verbrechen, endgültig vertrieben 5) nah: der körper ist vom kopf bis zur Mitte des oberkörpers zu sehen, die einstel- werden sollten. In diesem Zusam- lung erzeugt Gefühlsregungen, zeigt reaktionen von Personen und lenkt die auf- menhang bieten die „Sissi“-Filme merksamkeit auf bestimmte aspekte von Mimik und Gestik. das Modell einer heilen Welt. Tat- 6) Groß: damit kann die nähe zu einer gefilmten Person hergestellt und es können sächlich findet sich darin eine Viel- emotionen geweckt werden. zudem rücken einzelheiten in den Mittelpunkt, etwa zahl an Attributen, die Österreich der kopf und damit auch die Mimik. und den ÖsterreicherInnen offiziell 7) detail: Präsentation von körperteilen und ausschnitte von dingen (z.B. revolver- abzug) mit dem effekt einer besonders intensiven Bildwirkung. diese einstellung zugeschrieben wurden bzw. noch eignet sich letztlich für symbolisch aufgeladene einstellungen. immer werden (Tabelle 1) (Hell- muth 2005: 19-21). Fachdidaktik • 39

Tabelle 1: Österreich und den ÖsterreicherInnen nach 1945 zugeschriebene Attribute

• demokratische Grundgesinnung • Vermischung von Tradition und Modernität so- • Abgrenzung von Deutschland wie von Bewahrung und Fortschritt • Neutralität • habsburgischer Mythos (Vielvölkerstaat, guter • Friedfertigkeit und Gutmütigkeit alter Kaiser, Sissi) • Gemütlichkeit • schöne Natur • (Hoch-)Kultur • Regionalismus und regionale Vielfalt

M1: kontextwissen

Proklamation der Unabhängigkeit Österreichs (1949) „[…] angesichts der Tatsache, dass die nationalsozialistische Reichsregierung Adolf Hitlers kraft dieser völligen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Annexion des Landes das macht- und willenlos gemachte Volk Österreich in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat, jemals vorauszusehen oder gutzuheißen imstande gesetzt war, zur Bekriegung von Völkern, gegen die kein wahrer Österreicher jemals Gefühle der Feindschaft oder des Hasses gehegt hat, […] erlassen die unterzeichneten Vertreter aller antifaschistischen Parteien Ös- terreichs ausnahmslos die nachstehende U n a b h ä n g i g k e i t s e r k l ä r u n g. […] Der im Jahre 1938 dem österrei- chischen Volke aufgezwungene Anschluss ist null und nichtig […].“ Proklamation der unabhängigkeit, in: staatsgrundgesetzblatt für die republik Österreich, 1. Mai 1945, zit. in: lyon, dirk/Marko, Joseph/ staudinger, eduard/weber, Franz christian (hg.): Österreich„bewußt“sein – bewußt Österreicher sein? Materialien zur entwicklung des Österreichbewußtseins seit 1945. wien 1985. s. 16.

Der Tiroler Heimatforscher Eduard Widmoser über Österreich (1952) „Auf kleinsten Raum finden sich reizvoll die verschiedenartigsten Landschaftsformen. […] Das ewige Eis der Dreitausen- der, das Grün der Waldeinsamkeit, stürzende Wasserfälle, völkerverbindender Strom [die Donau], pittoreskes Felsgeklüft, träumende Seen, Weinhügel über Vulkangestein und saatgoldene Weite.“ widmoser, eduard: das ist Österreich. ein Blick auf seine lage, Geschichte und kultur, in: Österreichische landschaft, Mensch und kultur. innsbruck 1952. s. 5.

Der zweite Teil der Sissi-Trilogie, „Sissi – die junge Kaiserin“ (1956) wurde vom österreichischen Unterrichtsministerium mit dem Prädikat „künstlerisch wertvoll“ bedacht: „Nach Auffassung der Kommission stellt der Streifen […] eine ernstzunehmende künstlerische Gesamtleistung dar, wobei die Feststellung gemacht werden konnte, daß der Film keine wesentlichen historischen Fehler bzw. geschichtlichen Ver- zeichnungen aufweist. Schließlich war für die Entscheidung […] auch die positive Aussage des Films, der die Werte des Herzens und der Menschlichkeit als charakteristische Merkmale österreichischer Wesensart überzeugend zur Darstellung bringt, mitbestimmend.“ Österreichische Film- und kinozeitung, 23. März 1957.

n Wie werden Österreich und die ÖsterreicherInnen beschrieben? n Welche Merkmale besitzt nach Widmoser die österreichische Landschaft? n Welche Rolle spielte Österreich bzw. spielten die ÖsterreicherInnen laut Unabhängigkeitserklärung im Nationalsozia- lismus? n Welche angeblichen österreichischen Wesensmerkmale werden im Film „Sissi“ dargestellt?

Zunächst erarbeiten sich die Schü- der LehrerIn ergänzt und mit Hilfe Folgende Aspekte des Films, die lerInnen unter anderem mit Hilfe von Oberbegriffen (Tabelle 1) zusam- den in Tabelle 1 erwähnten öster- der Arbeitsmaterialien M1 – der/die mengefasst. Im Anschluss daran ana- reichischen Attributen entspre- LehrerIn sollte noch zusätzliche Ma- lysieren die SchülerInnen auf Basis chen, sind bei der Auswahl der Film- terialien zur Verfügung stellen – die des „Arbeitswissens“ mehrere Film- ausschnitte zu beachten: Franz unterschiedlichen Bausteine der of- ausschnitte aus dem Spielfilm „Sis- Joseph und Sissi betreiben in die- fiziellen österreichischen Identitäts- si“. M2 bietet Fragen, die den Schü- sem Film sowohl Modernisierung konstruktion nach 1945. Schließlich lerInnen bei der Hypothesenbildung als auch Bewahrung. So weigert werden die Ergebnisse im Klassen- im Sinne der reflektierenden Textin- sich Franz Joseph, Todesurteile zu plenum diskutiert sowie vom/von terpretation hilfreich sein können. unterschreiben, ohne sie eingehend 40 • Fachdidaktik geprüft zu haben. Damit beweist er kammergut auf der Pirsch näher zeigt. Der/die ZuschauerIn gewinnt zum einen Fortschrittlichkeit, zum kommen. Nebenbei wird ein Hirsch dadurch den Eindruck, als sei er/ anderen suggeriert es aber gleich- gerettet, und im Liebesgeflüster von sie eine der fiktiven Personen oder zeitig eine mögliche Wandlungsfä- Kaiser und zukünftiger Kaiserin er- stünde zumindest in unmittelbarer higkeit der Habsburgermonarchie, scheint Österreich als Land der Tra- Nähe zu den DialogpartnerInnen, die vielleicht auch ihren Erhalt ga- ditionen und der kulinarischen Ge- womit eine Identifikation mit den rantiert hätte. nüsse – beide tragen Tracht und lie- Personen erleichtert wird (Hicke- Zudem werden die Vertreter der ben Apfelstrudel, Sissi jodelt und thier 2001: 151). Als Franz Joseph militärischen Macht, die zum Ers- spielt auf einer Zither. von der bevorstehenden Hochzeit ten Weltkrieg und zum Niedergang Anhand dieser Filmsequenz – eine erzählt, die nicht aus Liebe, son- der Habsburgermonarchie beige- Sequenz meint eine abgeschlossene dern aus dynastischen Gründen ge- tragen haben, als Greise dargestellt. und aus mehreren Szenen beste- feiert werden soll, werden die beiden Zwar trägt auch Franz Joseph eine hende Erzähleinheit – kann auch durch die Synthese von Weit und To- Uniform, diese hat jedoch keinerlei der Zusammenhang von Einstel- tal neuerlich in die Natur eingebet- martialische Funktion mehr, son- lungsgrößen und Musik mit den in- tet – die beiden, so will die Bildge- dern dient nur noch als Staffage in haltlichen Aspekten des Films ver- staltung offenbar suggerieren, gehö- einer Szenerie, die der einer Operet- deutlicht werden: So soll etwa bei ren zusammen. te gleicht. Und auch die Exekutive der Szene, in der Franz Joseph ei- Zur Analyse der Einstellungsgrö- ist von jeglichem Militarismus be- nen Hirsch erlegen will, durch den ßen und der Musik erstellen sich freit. Ihre Vertreter wirken lächer- Einsatz von Jagdhörnern Spannung die SchülerInnen einen Raster, in lich und erweisen sich in ihrem Be- erzeugt werden. Nachdem Sissi das dem sie zwischen Sequenzen (abge- mühen, den Kaiser zu schützen, als Tier durch ein gekünsteltes Niesen schlossene und aus mehreren Sze- völlig unfähig. Allerdings braucht es gerettet hat, löst sich die Schwe- nen bestehende Erzähleinheiten) in einer Welt, die sich der Mensch- re der Musik auf, womit gleichsam und Szenen (eine oder mehrere Ein- lichkeit verpflichtet fühlt, auch gar eine Atmosphäre der Erleichterung stellungen, die dramaturgisch und keinen polizeilichen Schutz. Tat- geschaffen wird, die mit dem Dialog im Hinblick auf Ort und Zeit eine sächlich erscheinen alle dargestell- korreliert. Es folgt eine Szene, in der Einheit bilden) unterscheiden und ten Personen im Film zuallererst als Sissi und Franz Joseph ihre Gemein- schließlich die verwendeten Einstel- „Menschen“, gleichsam mit gleichen samkeiten entdecken, etwa die Lie- lungsgrößen und den Einsatz der Rechten geboren, und erst in zwei- be zu rote Rosen und Apfelstrudel. Musik beschreiben. Im Anschluss ter Linie ihrem Stand verpflichtet. Die Funktion der Einstellungsgrö- daran überlegen sie sich zunächst in Schließlich spielen die Natur und ßen lassen sich anhand dieser Sze- Einzelarbeit, welche Bedeutung die die Natürlichkeit eine zentrale Rolle ne veranschaulichen: Die erste Ein- Einstellungsgrößen und die Musik im Film: Gleich zu Beginn wird etwa stellung ist zwischen Weit und To- im Zusammenhang mit dem Inhalt der natürlichen Lebenswelt von Sis- tal anzusiedeln, womit zum einen der jeweiligen Sequenz bzw. Szene si die Unmenschlichkeit in der Kai- die überwältigende Schönheit der haben könnten, diskutieren ihre Er- sermetropole Wien gegenüberge- Landschaft betont werden soll und gebnisse in Gruppen und präsentie- stellt. Franz Joseph soll auf Wunsch zum anderen die beiden Liebenden ren diese schließlich im Klassenple- seiner Mutter Sophie eine Frau hei- gleichsam in die Natur eingebettet num. Dabei können sich durchaus raten, die er nicht kennt, um damit werden, zumal diese nur in der Natur überraschende Sinnzusammenhän- die Dynastie zu erhalten. Sissi hört von Zwängen befreit sind. Mit einer ge ergeben, die – entsprechend der dagegen auf ihr Herz und geht ih- halbnahen Einstellung wird die fol- hermeneutischen Filmanalyse und ren Gefühlen und Wünschen nach, gende Dialogszene vorbereitet, eine integrativer Lernprozesse – zu ei- überspringt etwa beim Reiten, ganz nahe Einstellung zeigt kurz Franz ner Steigerung der Erkenntnis bei- zum Schrecken ihrer am Wiener Hof Joseph und lässt seine Gefühle erah- tragen können. erzogenen Mutter, in einer waghal- nen, die er für Sissi hegt. Schließlich Als Abschluss empfiehlt sich die sigen Aktion hohe Rosenbüsche. Die erfolgt in einer halbnahen Einstel- Methode der „lustbetonten Leseer- Grenzen, an die sie später als Kaise- lung ein Gespräch über die bereits fahrung“ (Spinner 2004: 125-138) rin immer wieder stoßen wird, sind erwähnten Gemeinsamkeiten. bzw. eine „handlungsorientierte in der – freilich geschönten – Natur Als von Heirat gesprochen wird, ‚Text‘-Analyse“, die zum einen zur aufgehoben. Im Film definiert sich kommt das sogenannte „Schuss-Ge- Dekonstruktion des Filmes bei- Menschlichkeit geradezu durch die genschuss-Verfahren“ zur Anwen- tragen und zum anderen die Er- Natur. Nur dort ist die Beziehung dung. Dabei werden abwechselnd kenntnisse der Filmanalyse ko- von Sissi und Franz Joseph von in zumeist naher Einstellungsgröße gnitiv nachhaltig verankern kann. Glück beseelt, wie die Filmsequenz die GesprächsteilnehmerInnen aus So lässt sich etwa die „Pirsch-Se- zeigt, in der sich die beiden im Salz- der Sicht des jeweiligen anderen ge- quenz“, bei der sich der Kaiser und Fachdidaktik • 41

M2: Fragen zu den Filmausschnitten neswegs so erscheint, als hätte er ihr wirklich helfen können. n Welche Merkmale, die Österreich bzw. den ÖsterreicherInnen nach 1945 Gleichzeitig werden aber die tra- zugeschrieben wurden (M 1), finden sich im Film „Sissi“? Wie werden Sis- ditionellen Geschlechterrollen im- si und Franz Joseph charakterisiert? mer wieder ins Spiel gebracht. Zwar n Welche gesellschaftliche Funktion könnte der Film „Sissi“ in der Nach- wirken die männlichen Protagonis- kriegszeit erfüllt haben? ten den „Eskapaden“ der Frauen ge-

n Wie werden Österreich und die ÖsterreicherInnen in der Gegenwart be- genüber hilflos, gerade durch den schrieben? Gibt es Parallelen zu den Merkmalen, die im Film „Sissi“ zu entdecken sind? Bruch mit den erwarteten Männer- n Versuche, den Einsatz der Musik und die Einstellungsgrößen im Zusam- rollen werden allerdings Lacher er- menhang mit dem Inhalt zu analysieren. zeugt und patriarchalische Struktu- ren letztendlich verfestigt. Weiters ist Mariandls Großvater geradezu Sissi näher kommen, in ihr Gegen- eine Pauschalisierung und daher entsetzt darüber, dass Mariandl mit teil verkehren: Franz Joseph erlegt nicht haltbar. Sowohl die Zuschau- ihren zarten Händchen Kontrabass den Hirsch, Sissi bricht in Tränen erInnen als auch die im Film dar- spielen könnte. Schließlich zeigt aus oder entwickelt gegenüber dem gestellte Männlichkeit erscheinen er sich aber beruhigt, nachdem er Kaiser Hassgefühle; sie verspielt sich bei Mulvey als monolithische Ein- darüber aufgeklärt worden ist, dass auf der Zither, beide haben nichts heit, d. h. es gibt nur eine Form des mit dem „Kontrapunkt“, den Mari- gemeinsam und die sie umgebende Zuschauens und der Männlichkeit andl lernen will, nicht der Kontra- Natur zeigt nicht ihr schönes, son- (Fenske 2008: 58). Zudem lassen bass gemeint ist. Und selbst wenn dern ihr hässliches Gesicht, etwa in- sich auch im klassischen Unterhal- zunächst der Eindruck entsteht, als dem sich Sissi ihr Dirndl an einem tungskino Frauen nicht immer nur ob Mann und Frau in diesem Film Strauch zerreißt oder Franz Joseph auf eine rein passive Rolle reduzie- gleichberechtigte Partner seien, über Wurzeln stolpert. Der Fanta- ren. Filme spiegeln gemeinhin die zeigt sich letztlich die klassische sie der SchülerInnen sind hier kei- Zeit, in der sie entstanden sind, und Rollenaufteilung: Als sich Mariandl ne Grenzen gesetzt. Dafür geeignet seit den 1950er Jahren lassen sich und ihr Geliebter wieder vertragen ist der Einsatz eines offenen Rollen- bei den geschlechtlichen Rollenbil- und den Schlager „Dafür versteh‘n spiels, wobei hier eine bestimmte dern durchaus Veränderungen fest- wir uns zu gut“ zum Besten geben, Situation vorgegeben wird, die Ler- stellen, auch wenn die patriarcha- scheint die Welt doch wieder in nenden aber innerhalb dieses Rah- lische Herrschaftsstruktur dadurch Ordnung (auf der entsprechenden mens die Spielhandlung und ihre freilich nicht angetastet wurde (Ma- Single, die zum Film herausgege- Rollen selbst entwickeln (Detjen zower 2002: 445-449; Hanisch 1994: ben wurde, findet sich bezeichnen- 2007: 374). 427-430; Maase 1992). derweise auch der Titel „Mama, sind Diese Veränderungen, die Entste- wir glücklich“). Die vermeintliche „Mariandls Heimkehr“ – hung weiblichen Selbstbewusstseins biologische Bestimmung der Ge- Modernität oder Tradition? bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung schlechter wird in harmonischer der patriarchalischen Strukturen, Weise hervorgehoben, zumal sich Unterhaltungsfilme transportieren zeigen sich im 1962 entstandenen die beiden Liebenden laut Schlager- Ideologien und verfestigen gesell- Film „Mariandls Heimkehr“, der kei- text zu gut verstünden, um sich zu schaftliche Strukturen, indem sie neswegs nur aktive Männer und pas- „verkrachen“. Wenn dennoch böse diese in den Köpfen der Rezipienten sive Frauen darstellt. Mariandl be- Worte fallen, bäckt Mariandl ihrem verankern, unabhängig davon, ob sucht die Musikakademie in Wien, Geliebten dessen „Lieblingstorte“, dies nun vom Produzenten, dem versucht die Pferde ihres Groß- während dieser „Rosen und Narzis- Regisseur und dem Autor bewusst vaters vor dem Schlachthof zu ret- sen“ für sie kauft. oder unbewusst erfolgt. Bereits in ten, indem sie unter anderem Geld Wie beim Film „Sissi“ wird auch den 1970er Jahren hat Laura Mulvey in einem sogenannten „Jazz“-Club hier zunächst der gesellschaftliche behauptet, dass sich das bürgerliche verdient, der sich freilich als Schla- Kontext mit den SchülerInnen auf- Modell der Geschlechterrollen auch gerschuppen entpuppt, flüchtet mit bereitet, d. h. eine differenzierte im sogenannten „narrativen Kino“ ihrer Mutter, die wiederum ihren Sicht der Geschlechterverhältnisse spiegle: Der männliche Protagonist Gatten verlässt, vom Geliebten auf der 1950/60er Jahre eingenom- präsentiere sich als aktiver Teil, die das Land. Dort wehrt sie sich gegen men: M3 zeigt zum einen die tra- Frau würde sich dagegen passiv ver- die sexuellen Übergriffe eines Pfer- ditionellen geschlechtlichen Rol- halten und diene als Objekt der Be- dehändlers, während der männliche lenbilder, zum anderen wird aber gierde (Mulvey 1975: 6-18). Frei- Verteidiger zu spät kommt bzw. kei- auch deutlich, dass Frauen seit den lich ist diese Behauptung letztlich 1950er Jahren zunehmend Selbst- 42 • Fachdidaktik

M3: Geschlechterrollen

Abb. 1: Die 1-2-3-4-Familie (1950er) Jahre: eine Frau, zwei Werbung für Backpulver – Wer bäckt und Kinder, drei Zimmer, vier Räder. Quelle: Jagschitz/Mulley: Die wer genießt? Quelle: Ardelt, R. u. a., Vom „wilden“ fünfziger Jahre, St. Pölten: NÖ Pressehaus Wiederaufbau zum Wirtschaftswunder. Ein Lese buch zur Geschichte Salzburgs, Salz- burg: Pustet 1994, 216.

In einem Buch aus den 1960er Jahren wird der „weibliche Typus“ mit ei- ner „starken Verwurzelung in den tiefen Schichten des Gefühls“ beschrie- ben. Das Buch hatte noch bis in die 1970er Jahre für die LehrerInnenaus- bildung große Bedeutung. „Daraus ergibt sich in der Seele selbst ein höherer Grad von Integration ih- rer [der Frauen] Funktionen (Harmonie) […] Viele Einzelzüge lassen sich hieraus zwanglos folgern: […] Hingabe und Liebesfähigkeit, Einfühlungs- vermögen, Empfindsamkeit, Lebensnähe, Naturverbundenheit, […] Gefühls- abhängigkeit und Anschaulichkeit des Denkens […], Anpassungsfähigkeit, […] Geduld im Ertragen und Erleiden, Gefahr der Enge […].“ (remplein, heinz: die seelische entwicklung des Menschen im kindes- und Jugend- alter, 14. auflage, München/Basel 1966, s. 535)

Aus der Rubrik „Sie und Er“ einer Frauenzeitschrift (1950er Jahre) Als wir noch jung waren […], haben wir oft über die ‚bürgerliche Spießig- keit‘ gelacht, über die Menschen unter der Lampe am warmen Ofen, wenn draußen der Regen fiel […] Und heute? Heute sitzen wir unter der Lampe, ich stopfe seine Strümpfe, er liest die Zeitung und manchmal liest er mir daraus vor. Ja, ich bitte ihn darum. Er weiß, dass mich nicht gerade verfas- Mobilität als Ziel aller Wünsche – Rollerwer- sungsrechtliche Fragen und polemische Artikel interessieren – und so wählt bung. Quelle: Ardelt, R. u. a., Vom Wiederauf- er aus. Schon in der Auswahl, scheint mir, begegnen sich unsere Gedanken bau zum Wirtschaftswunder. Ein Lese buch und Gefühle. Oft bilde ich mir sogar ein, daß in einem besonderen Artikel, zur Geschichte Salzburgs, Salzburg: Pustet den er ausgewählt hat, eine kleine Liebeserklärung für mich verborgen liegt 1994, 216. […]. Ich stopfe seine Socken, er sagt ein Wort – oder er schweigt, wie es sich ergibt; und manchmal hören wir den Regen vor den Fenstern unserer klei- nen Wohnung plätschern. Hinter der Tür des Nebenraumes spricht unsere Kleinste ein schlaftrunkenes undeutliches Wort […]. Wenn ich aufschaue, sehe ich: Er ist da. Ich bin nicht allein. Das Leben ist nicht grau.“ siepmann, eckhard (red.): heiß und kalt. die Jahre 1945–69, 4. auflage, Berlin 1993, s. 427. Fachdidaktik • 43

Rock and Roll (bzw. seine Zähmung im Schlager) gestattete in den 1950/60er Jahren Frauen neue, erweiterte Erfahrungs- räume. Die Zeitzeugin Rosemarie Kühn berichtet: Halt immer brav und bieder. Und das war halt nun ein Tanz, mit dem die Erwachsenen erstens nichts anfangen konnten. Zweitens konnten sie ihn nicht – da waren sie ja schon meistens nicht mehr gelenkig genug dazu. Dann war’s eben so: Die Röcke flogen hoch […]. Also, diese Tabus, die da auch mit drinsteckten in diesem biederen Tanzen; schon beim Walzer; die Arme breit auseinander, bloß nicht eng. Und der Blues natürlich auch, […] der ja auch ein Stück Sexualität verkörpert […]. Also ich habe das eher als Befreiung empfunden von all diesen Zwängen und […] auch absetzend von diesen Erwachsenen, die das eben gar nicht mehr tanzen konnten. […] Das war so’n Freiraum, den wir da hatten.“ Maase, kaspar: BraVo amerika. erkundungen zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren, hamburg 1992, s. 134.

M4: Fragen als hilfestellung

n Welche weiblichen und männlichen Rollenbilder präsentieren die Abbildungen und Texte? Erstelle eine Liste mit den vermittelten weiblichen und männlichen Eigenschaften. n Lassen sich die dargestellten Rollenbilder noch heute, zum Beispiel in eurer unmittelbaren Umgebung beobachten? War- um bzw. warum nicht? n Nimm Stellung zu den Abbildungen und Texten: Was haltet ihr von der Rollenaufteilung? Welche Gründe könnte es da- für geben?

bewusstsein erlangten. Im An- M5: Fragen zu den Filmausschnitten schluss daran werden ausgewähl- te Filmszenen und -sequenzen auf n Wie wird Mariandl dargestellt, wie ihr Freund und ihr Vater? Basis des „Arbeitswissens“ und ge- n Lassen sich im Film die traditionellen Geschlechterrollen erkennen oder mäß der reflektierten „Text“-Inter- werden diese durchbrochen? Begründe deine Antworten. n Gibt es neue Filme, die bezüglich der Geschlechterrollen ähnlich wie „Mari- pretation analysiert. M4 bietet dazu andls Heimkehr“ gestaltet sind? Fragen als Hilfestellung an, wobei die se offen gehalten sind und somit unterschiedliche Interpretationen M6: ein leidenschaftlicher kuss (conny Froboess als Mariandl und Peter weck als erlauben. ihr Freund Peter) Zum Abschluss wird ein Bild (M6), das Mariandl und ihren Ge- liebten bei einem leidenschaft- lichen Kuss zeigt, mit einer Legen- de und mit Sprechblasen versehen. Es ist anzunehmen, dass der Inhalt des Films auf diese Weise verfrem- det und einer Kritik unterzogen wird. Den SchülerInnen werden da- für Kopien der Bilder sowie Papier, aus dem Sprechblasen ausgeschnit- ten werden können, zur Verfügung gestellt (Pandel 2008: 186f.; Völkel 2008: 115-121). Möglich ist es auch, das Bild auf ein großes Stück Pack- papier zu kleben und dazu Zeich- nungen oder Collagen entwerfen zu lassen, die schließlich rund um das Kuss-Bild geklebt werden. Die Klas- Szene aus dem Film „Mariandls Heimkehr. Quelle: https://images2.cinema.de/imedia, abgerufen: 26. November 2009. senkollegInnen interpretieren die- se Bilder im Plenum, während die „Künstler“ als „Experten“ die Inter- pretationen bestätigen oder zusätz- liche Informationen liefern (Völkel 2008: 129-131). 44 • Fachdidaktik

LITERATUR

J. detJen, Politische Bildung. Geschichte und Gegenwart in deutschland. München 2007. u. Fenske, Mannsbilder. eine geschlechterhistorische Betrachtung von hollywoodfilmen 1946–1960. Bielefeld 2008. e. hanisch, der lange schatten des staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert. wien 1994, 427-430 t. hellMuth, sissis Flucht. (de-)konstruktion einer heilen welt, in: XinG. ein kulturmagazin 2 (2005), 19-21. t. hellMuth/c. klePP, Politische Bildung. Geschichte – Modelle – Praxisbeispiele. wien-köln-weimar 2010 (in druck). k. hickethier, Film- und Fernsehanalyse, 3. überarb. aufl.s tuttgart-weimar 2001 (sammlung Metzler 277). s. JäGer, kritische diskursanalyse. eine einführung. 2. überarbeitete u. erweiterte aufl.d uisburg 1999. r. kraMMer, kompetenzen durch Politische Bildung. ein kompetenz-strukturmodell, in: informationen zur Politischen Bildung 29 (2008), 5-14. c. kühBerGer, kompetenzorientiertes historisches und politisches lernen. Methodische und didaktische annäherungen für Geschichte, sozialkunde und Politische Bildung. innsbruck-wien-Bozen 2008 (Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik 2). h.-w. kuhn, Mit texten lernen: textquellen und textanalyse, in: sander, wolfgang (hg.), handbuch politische Bildung. 3. völlig überarbei- tete aufl.s chwalbach/ts. 2005, 509-522. k. Maase, BraVo amerika. erkundung zur Jugendkultur der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren hamburg 1992. M. Mazower, der dunkle kontinent. europa im 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2002. J. Monaco, Film verstehen. kunst, technik, sprache, Geschichte und theorie des Films und der neuen Medien. überarbeitete und erwei- terte neuausgabe. reinbek b. hamburg 2000. l. MulVeY, Visual Pleasure and narrative cinema, in: screen 16 (1975), 6-18. s. Munaretto, wie analysiere ich einen Film? hollfeld 2007. h.-J. Pandel, Bildinterpretation. die Bildquelle im Geschichtsunterricht. Bildinterpretation i. schwalbach/ts. 2008 (Methoden histo- rischen lernens). w. sander, Politik entdecken – Freiheit leben. neue lernkulturen in der politischen Bildung. schwalbach/ts. 2001. k.h. sPinner, lesekompetenz in der schule, in: schiefele, ulrich/artelt, cordula/schneider, wolfgang/stanat, Petra (hg.), struktur, ent- wicklung und Förderung von lesekompetenz. Vertiefende analyse im rahmen von Pisa 2000. wiesbaden 2004, 125-138. B. VÖlkel, handlungsorientierung im Geschichtsunterricht. 2. aufl.s chwalbach/ts. 2008 (Methoden historischen lernens). G. weisseno, textanalyse, in: kuhn, hans-werner/Massing, Peter (hg.), lexikon der politischen Bildung. Bd. 3. Methoden und arbeits- techniken. schwalbach/ts. 2000. Verein für Geschichte und Sozialkunde c/o Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien Dr. Karl Lueger-Ring 1, A-1010 Wien, ++43/1/4277-41305, Fax: ++43/1/4277-9413 Querschnitte e-mail: [email protected], http://vgs.univie.ac.at

NEUERSCHEINUNG

Band 25: Armut in Europa. 1500–2000 Sylvia Hahn, Nadja Lobner, Clemens Sedmak (Hg.) ISBN 978-3-7065-4780-2

Inhalt: Einleitung HELmUt BRäUER: Armut in mitteleuropa 1600 bis 1800 ANNE WINtER: Armut und migration. Lokale und nationale Antworten in Westeuropa 1700–1900 tHomAS SoKoLL: Armut und Familie im Zeitalter der In- dustrialisierung. England, 1700–1900 StEvE KINg: Kleidung und Würde. Über die Aushandlung der Armenunterstützung in England, 1800–1840 StAN NADEL: Die Armut europäischer Immigranten in den USA ANDREAS gEStRICH: Hungersnöte als Armutsfaktor gERHARD AmmERER – SABINE vEItS-FALK: (Über-)Leben auf der Straße. Das 18. und 19. Jahrhundert ELKE SCHLENKRICH: Die Speisen der Armen in Sachsen. Archivalische Befunde vom 16. bis um die mitte des 19. Jahrhunderts mARtIN SCHEUtZ – ALFRED StEFAN WEISS: Kein ort der Armut? Frühneuzeitliche Spitalseinrichtungen und die Armenversorgung FRIEDRICH gottAS: „Alte“ und „neue“ Armut in Osteuropa ANDREAS KoCH: Städtische und ländliche Armut im vergleich CHRIStA SCHLAgER: Frauenarmut und soziale Ungleichheit in Österreich am Beginn des 21. Jahrhunderts CHRIStopH KÜHBERgER: Armut in historischer perspektive – Zugänge der geschichts- wissenschaften CLEmENS SEDmAK: Armut als Ausgrenzung des Selbst aus symbolischen gemein- schaften Basistexte Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Die „Basistexte – Wirtschafts- und Sozialgeschichte“ stellen Überblickswissen zu Grundthemen der Geschichtswissenschaft für Studierende und historisch interessierte LeserInnen bereit. Statt „kanonisiertes“ Wissen aufzubereiten, erfolgt der Zugriff über aktuelle gesellschaftliche Probleme und Forschungsfragen. Diese werden mit historischen Entwicklungen rückgekoppelt, wobei struk- turgeschichtliche und aspektorientierte Darstellungen im Vordergrund stehen. Neben Historio- graphie und methodischem Überblick werden relevante Quellen und Materialien vorgestellt. Eine kommentierte Bibliographie verweist auf weiterführende Literatur. Profil: Aktualitätsorientierter Einstieg, forschungsgeleitete Aufbereitung, struktur- und aspekt­ orientierte Darstellung, historio­graphischer Überblick, Phänomene im längerfristigen Wandel, ­Phänomene in ihren regionalen Ausprägungen unter Berücksichtigung globaler Interaktionen und außereuropäischer Einflüsse, Einbeziehung von Diskursen und Debatten. Weitere Themenfelder für die ab 2010 geplanten Bände: Alter, Arbeit, Demographie, Frühkapitalismus, Handel, Staatenbildung, Industrialisierung, Kon- sum, Migration, Soziale Konflikte, Stadtentwicklung, Technikgeschichte.

Band 1: Sozialgeschichte der Familie Kulturvergleich und Entwicklungsperspektiven

Michael Mitterauer

Die europäische Familienentwicklung ist eine wichtige Fa- cette des europäischen Sonderwegs der Gesellschaftsentwicklung. Das zeigen die hier vom österreichischen Experten der Historischen Familienforschung, Michael Mitterauer, vorgelegten Studien auf der Basis von interkulturellen Vergleichen. Um diese Entwicklung zu verstehen, muss man historisch weit zurückgehen. Spezifisch euro- päische Bedingungen der Arbeitsorganisation bestimmen die For- men geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung sowie den Gesindedienst als eine Sonderform jugendspezifischer Arbeit. Im Zuge des Moder- nisierungsprozesses kommt es zu tief greifenden Veränderungen – durch neue Formen der Arbeitsorganisation, durch Verstädterung, durch Zunahme der Migration, durch Scholarisierung, durch Säkularisierung etc. Die Folgen von Ent- grenzung und Beschleunigung im Verlauf der Globalisierung setzen die Primärgruppe Familie unter extreme Belastungen.

ISBN 978-3-7003-1717-3, Wien 2009, 160 Seiten Preis für AbonnentInnen der Zeitschrift O 10,–

VGS – Verein für Geschichte und Sozialkunde c/o Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Wien Dr. Karl-Lueger Ring 1, A-1010 Wien Tel. ++43/1/4277-41330, Fax ++43/1/4277-9413 e-mail: [email protected] homepage: http://vgs.univie.ac.at