Camenae n° 26 – novembre 2020

Rudolf GAMPER

IOACHIMUS VADIANUS HELVETIUS (1483/84–1551) DER ST. GALLER HUMANIST UND DAS LAND DER HELVETIER

Die Schweizer Humanisten leisteten zur Zeit der Mailänderkriege ihren Beitrag zur Festigung der Eidgenossenschaft, indem sie das antike Volk der Helvetier zum gemeinsamen Urahnen der dreizehn Orte aufwerteten1. Sie schufen damit die helvetische natio, verlängerten die geschichtlichen Wurzeln des gemeinsamen Vaterlandes bis in die Römerzeit und sicherten ihm einen Platz im zeitgenössischen Nationendiskurs der lateinkundigen Eliten. Innerhalb der Eidgenossenschaft verschaffte die Verbindung von antiken Helvetiern und zeitgenössischen Eidgenossen den Humanisten vermehrte Beachtung. Joachim Vadian, der St. Galler Humanist, erreichte sogar, dass die Obrigkeit für ihn eine mit festem Salär verbundene Stelle einrichtete. Am 15. September 1518 beschloss der Rat der Stadt St. Gallen seine Anstellung für drei Jahre. Vadian schrieb erfreut an den Freiburger Schultheissen Peter Falck:

Ein Geschenk (munus) von fünfzig Goldgulden rheinischer Währung jährlich hat mir die Stadtrepublik (respublica) angeboten: ‘Geschenk’ nenne ich es wirklich richtiger als eine Besoldung oder ein Gehalt, da diese bei gehabten Mühen angewendet werden. Ich aber bin, dass ich es wahrheitsgetreu sage, zu gar nichts angehalten, ausser zur allgemeinen Pflicht aller Bürger, das heisst, dass ich der Vaterstadt (patrię) wohlgesinnt sei und ihr, wenn der Fall eintritt, nach Kräften beistehe und zur Zierde gereiche, wenn ich es vermag. Diesem Vorhaben fühle ich mich schon längst verpflichtet, dass ich nicht so sehr der Vaterstadt als unserer ganzen Eidgenossenschaft (tam patrię quam communi Helvetiae nostrae) gerne alles zugutekommen lassen möchte, wenn ich jeder Mann sein könnte, für den mich schon jetzt viele fälschlicherweise halten2.

Selbstbewusst präsentierte sich Vadian als Schweizer Humanist; seine Anstellung verstand er als Auftrag, den Humanismus durch sein Wirken in St. Gallen und in der Eidgenossenschaft als Dienst am Vaterland zu verankern. Genauere inhaltliche Ziele formulierte er nicht. In diesem Beitrag wird untersucht, wie Vadian den humanistischen Nationalitätendiskurs verarbeitete, wie er sich an dessen Ausgestaltung in der Eidgenossenschaft beteiligte und welche anderen Loyalitäten wirksam waren. Die Untersuchung umfasst Vadians Lehr- und Publikationstätigkeit an der Universität Wien, die kurze Zeit, in der er als städtischer Humanist in St. Gallen wirkte und die anschliessende Nutzung des humanistisch geschulten Umgangs mit historischen Quellen im Dienste der Reformation. Zur Bezeichnung der

1 Für anregende Diskussionen und kritische Lektüre dieses Beitrags danke ich Clemens Müller (St. Gallen), Rezia Krauer (Zürich/St. Gallen) und Katharina Suter-Meyer (Losdorf) und vor allem meiner Frau Gertraud. 2 Munus mihi respublica obtulit quinquaginta in singulos annos aureorum Renensium; munus vero rectius dixerim, quam aut stipendium aut salarium, cum horum utrumque habitis laboribus impendatur. Ego autem ne hilo quidem, ut vere dicam, obligatus sum, praeter commune omnium civium officium, hoc est, ut patriae velim bene eamque, ubi ita ceciderit, pro mea virili iuvem et, si potero exornem. Id consilium me ita dudum illexit, ut non tam patrię quam communi Helvetiae nostrae praestare omnia libens velim, si unquam is esse possem, quem esse me iam nunc multi falso existimant. Brief vom 27. Oktober 1518, Vadianische Briefsammlung, Bd. 7: Ergänzungsband, hrsg. v. H. Wartmann, St. Gallen [Mitteilungen zur Vaterländischen Geschichte 30a], 1913, S. 10–11, Nr. 6; Übersetzung: J. Vadian, Ausgewählte Briefe, hrsg. v. Ernst Gerhard Rüsch, St. Gallen, V.G.S., 1983, S. 23.

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Schweiz und ihrer politischen Ordnung um 1500 wird im Folgenden neben Helvetia/Helvetii der Begriff «Eidgenossenschaft» verwendet, weil er die Struktur des staatlichen Gebildes der Zeit besser ausdrückt als die geographische Bezeichnung «Schweiz».

POETA LAUREATUS Vadian verbrachte drei Viertel seines Lebens in St. Gallen und ein Viertel, die Jahre 1502 bis 1518/19, in Wien, wo er das Studium 1508 als Magister abschloss und nach der üblichen zweijährigen Lehrverpflichtung als Dozent an der Universität verblieb3. Innerhalb der Universität gehörte er dem Humanistenkreis an, den Konrad Celtis mit kräftiger Unterstützung Kaiser Maximilians I. am Collegium poetarum aufgebaut hatte und der auch in den humanistischen Sodalitäten gepflegt wurde. Vadian beteiligte sich an der in diesen Kreisen gepflegten Vermehrung des kulturellen Prestiges des kaiserlichen Hofes und verfasste eine versifizierte Vita des heiligen Koloman, des österreichischen Landespatrons, wahrscheinlich anlässlich der Feier der Elevation des zweiten Landespatrons, des heiligen Leopold im Jahr 1506. Sie zählt zu seinen ersten Werken4. Dank der Protektion durch Johann Cuspinian, Poeta laureatus, Nachfolger von Celtis und Diplomat Kaiser Maximilians, stieg Vadian 1512 zum stellvertretenden Inhaber des Lehrstuhls für Poetik am Collegium poetarum auf. Auch sein wichtigster Lehrer, (Collimitius), Mathematiker und Astrologe, war am Collegium poetarum tätig; er wurde später Leibarzt von Kaiser Maximilian und dessen Enkel Ferdinand. Dank der Fürsprache seiner mit dem kaiserlichen Hof verbundenen Freunde und umsichtiger Vorbereitung durch einflussreiche Hofbeamten wurde Vadian 1514 von Kaiser Maximilian zum Dichter gekrönt5. Die mit der Dichterkrönung verbundene öffentliche Anerkennung bildete den Höhepunkt in Vadians Karriere in Wien. Keine andere Episode in den autobiographischen Passagen seiner 1518 publizierten Poetik bringt so viel Emotionalität zum Ausdruck wie die Schilderung der Feier, die am Nachmittag des 12. März in Linz stattfand:

Dort in Anwesenheit der Vornehmsten aller Stände krönte mich der Kaiser, weil kein Lorbeer zur Hand war, mit einem Kranz aus Buchsbaum gewunden. […] Das erlauchte Antlitz des Fürsten und seine milde, meiner Rede ganz hingegebene Haltung rührten mich dermassen, dass ich mir im Vortrag wie von einem Apollo und den Musen entrückt vorkam. […] Doch ich kann es kaum ausdrücken, was für ein alle Kunst und Wissenschaft umfassender Ausblick sich meiner seit jener Stunde bemächtigte, in welcher die geweihten und siegesbewussten Hände eines solchen Fürsten meine Schläfen berührten, als diese von so vielen Herrschern, so vielen Völkern verehrte irdische Hoheit mich noch kniend bei der Hand nahm und vom

3 Zur Biographie Vadians: W. Näf, Vadian und seine Stadt St. Gallen, 2 Bde., St. Gallen, Fehr'sche Buchhandlung, 1944–1957; R. Gamper, Joachim Vadian, 1483/84–1551. Humanist, Arzt, Reformator, Politiker, mit Beiträgen von Rezia Krauer und Clemens Müller, Zürich, Chronos, 2017. 4 Werkverzeichnis: A. Schirrmeister, «Vadian (Vadianus, von Watt), Joachim», Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, hrsg. von F. J. Worstbrock, Bd. 2, Berlin, De Gruyter, 2013, Sp. 1177–1237, zur «Ode […] in laudem S. Colomanni Martyris», ibidem, Sp. 1224. 5 W. Näf, «Die Vorbereitung von Vadians Dichterkrönung», Vadianische Analekten, hrsg. v. W. Näf, St. Gallen, Fehr’sche Buchhandlung [Vadian-Studien 1], 1945, S. 1–4; D. Mertens, «Zur Sozialgeschichte und Funktion des Poeta laureatus im Zeitalter Maximilians I.», Gelehrte im Reich. Zur Sozial- und Wirkungsgeschichte akademischer Eliten des 14. bis 16. Jahrhunderts, hrsg. v. R. Ch. Schwinges, Berlin [Zeitschrift für historische Forschung, Beiheft 18], 1996, S. 327–438, hier S. 342; A. Schirrmeister, Triumph des Dichters. Gekrönte Intellektuelle im 16. Jahrhundert, Köln, Böhlau, 2003, S. 195–198 und 208–209.

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Erdboden aufrichtete, mir die Linke mit einem mit Edelstein funkelnden Ringe zierte und mich schliesslich unter Zuruf der anwesenden Menge als Dichter ausrief6.

Vadian trug eine panegyrische Dichtung vor, die er kurz zuvor für die feierliche Überführung des Sarges des zwanzig Jahre zuvor beerdigten Kaisers Friedrich in das neu vollendete Prachtgrab im Wiener Stephansdom verfasst hatte7. Sie entsprach ganz dem, was Maximilian von den Dichtern, die er krönte, erwartete: ein thematisch vielseitiges, mit antiken Reminiszenzen verwobenes Lob des gegenwärtigen Herrschers Maximilian, seines verstorbenen Vaters Friedrich und der künftigen Glieder der Dynastie. Im folgenden Jahr betraute die Universität Vadian mit der Ausarbeitung der Festreden für Kaiser Maximilian und König Sigismund von Polen anlässlich der Feierlichkeiten am Wiener Fürstentreffen, bei dem sich im Sommer 1515 die Höfe Österreichs, Polens und Ungarns trafen, die Konflikte zwischen ihren Ländern entschärft und der Friede durch die Doppelhochzeit zwischen den Kindern des Kaisers und des ungarischen Königs bekräftig wurden8. Vadian bewährte sich in der für Humanisten typischen Funktion «als vielseitige[r] Sprachvirtuose mit öffentlichem Redeauftrag»9, der in seinen von rhetorischen Konventionen geprägten Gedichten und Reden den vorbildlichen Charakter und die herausragenden Leistungen der Fürsten evozierte10. Mit der Dichterkrönung trat Vadian in ein gegenseitiges Treueverhältnis ein11. Der Kaiser verlieh ihm eine Reihe von Rechten zur Ausübung seiner Profession:

Dabei geben und gewähren Wir dir und bestimmen durch diesen kaiserlichen Erlass, dass du ferner an allen Hochschulen, besonders den Universitäten, sowohl in der Dichtkunst als in der Redekunst lesen, lehren, dozieren und interpretieren und ausserdem alle Privilegien, Vorrechte, Begünstigungen, Ehren, Vorteil, Gnaden und Freiheiten frei gebrauchen und geniessen und dich ihrer erfreuen sollst und kannst, welche die übrigen von uns gekrönten Dichter und ernannten Redner bis jetzt besessen und gebraucht haben oder wie immer sich ihrer erfreuten und sie innehatten nach Brauch und Recht12.

6 Me quoque […] Imperator Caesar Maximilianus […] corona e buxo texta (nam laurus non suppetebat) […] in magna procerum omnis generis praesentia adornavit. […] Hic me illa augustissima facies principis et mitis atque intentus orationi meae animus adeo commovit, ut inter dicendum quasi ab Apolline quodam et Musis raptus mihi viderer […] Vix tamen dixerim quae me spes omnium bonarum artium ex ea hora invaserit, qua tanti principis sacratissimas totque victoriarum conscias manus temporibus meis sustinui, quando me in genua provolutum illud terrae numen quod tot principes, tot populi venerantur manu comprehensum a terra levavit annuloque micante gemma insigni sinistram prius exornans Poetam universa adstantium multitudine acclamante nuncupavit. J. Vadianus, De poetica et carminis ratione. Kritische Ausgabe mit deutscher Übersetzung und Kommentar von Peter Schäffer, 3 Bde., München, Fink, 1973–1977, Text: Bd. 1, S. 208–209, Übersetzung: Bd. 2, S. 240; A. Schirrmeister, «Vadian», Sp. 1195–1197. 7 Text und Übersetzung: F. Steinbock, Das lyrische Werk des Joachim von Watt, Wien, Diss. masch, 1950 (St. Gallen, Kantonsbibliothek VS Q 87), S. 109–153; A. Schirrmeister, «Vadian», Sp. 1188–1189. 8 Edition und Übersetzung: J. Vadian, Lateinische Reden, hrsg. v. M. Gabathuler, St. Gallen, Fehr'sche Buchhandlung [Vadian-Studien 3], 1953, S. 46–99; A. Schirrmeister, «Vadian», Sp. 1198–1200. 9 C. Hirschi, Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen, Wallstein, 2005, S. 69. 10 Weitere Gedichte und Reden: Akrotelestichon auf König Sigismund (F. Steinbock, Das lyrische Werk, S. 155– 158); panegyrische Gedichte an Maximilian, unediert, A. Schirrmeister, «Vadian», Sp. 1193. 11 D. Mertens, «Maximilians gekrönte Dichter über Krieg und Frieden», Krieg und Frieden im Horizont des Renaissancehumanismus, hrsg. v. F. J. Worstbrock, Weinheim [Acta humaniora], 1986, S. 105–123, hier S. 115– 119. 12 Dantes et concedentes tibi et hoc imperiali statuentes edicto, quod de cętero in quibuscunque studiis et generalibus presertim tam in poetica quam in oratoria legere, docere, profiteri et interpretari atque insuper omnibus privilegiis, immunitatibus, indultis, honoribus, pręeminentiis, gratiis et libertatibus libere uti et frui ac gaudere debeas et possis, quibus cęteri poetae a nobis laureati ac oratores designati hactenus freti sunt et usi fuere seu quomodolibet gaudent atque potiuntur consuetudine vel de iure. F.-D. Sauerborn, «Die Krönung des schweizerischen Humanisten Glarean zum poeta laureatus durch Kaiser

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Vadian betonte seinerseits, dass sich die neulateinische Dichtkunst in Deutschland nur dank der Unterstützung durch die Fürsten verbreiten konnte; die Fürsten hätten ihr «den Weg zu zahlreichen Gönnern und damit zum Gedeihen» geebnet13. Die Einbindung Vadians in den auf den kaiserlichen Hof ausgerichteten Wiener Humanistenkreis und die im Poetendiplom gewährten Rechte konnten einen Karrierebruch an der Universität im Herbst 1514 nicht verhindern. Das Verhältnis der gekrönten Dichter zur Universität war generell ambivalent. Sie polemisierten gegen die überkommenen Lehrinhalte und -methoden, beanspruchten aber dennoch eine institutionell gesicherte Stellung im traditionellen Universitätsbetrieb14. Vadian beherrschte neben der Kunst der Verherrlichung auch die gezielte Diffamierung. Er hatte sich durch seine bissige Kritik an der Scholastik viele Feinde geschaffen15, nun scheiterte seine Kandidatur für die Neubesetzung des Lehrstuhls für Poetik. Erst zwei Jahre später erreichte er das Ziel und dankte seinen Protektoren, und Kaiser Maximilian, in einer Dichtung, in der er sein glücklich überwundenes Leid in poetischer Verkleidung schilderte16. Im Wintersemester 1516/17 wurde er Rektor der Universität, schloss im November 1517 sein medizinisches Studium mit dem Doktorat ab, blieb als Dozent aber Dichter und Humanist und strebte kein Hofamt an wie seine Freunde und Förderer Cuspinian und Collimitius17.

HELVETIUS Ende 1513 verband Vadian seinen Humanistennamen mit seiner Herkunft aus der Eidgenossenschaft: Ioachimus Vadianus Helvetius18. Dies blieb bis 1522 die übliche Namensform in den Drucken eigener Werke, bei den Textausgaben wechselten sich Helvetius und Poeta laureatus ab oder wurden gemeinsam verwendet. Eine der Namenserweiterung entsprechende Intensivierung der persönlichen Kontakte zur Heimat lässt sich bis 1517 nicht feststellen19. Vadians Lebenszentrum war die Universität Wien, die in der Korrespondenz fassbaren Kontakte nach aussen führen mehrheitlich nach Deutschland und Österreich, die Kontakte mit der Eidgenossenschaft machen weniger als zehn Prozent aus20. Den Anstoss zur Namenserweiterung gaben Berichte über die überraschenden militärischen Erfolge der Eidgenossen in den Mailänderkriegen und die Vorbereitungen zur Dichterkrönung.

Maximilian I. im Jahre 1512 und seine Helvetiae Descriptio von 1514/1515», Zeitschrift des Breisgau-Geschichtsvereins ‘Schau-ins-Land’, 116, 1997, S. 157–192, hier S. 170–171; Abbildung und Übersetzung des Poetendiploms in W. Näf, Vadian, Bd. 1, nach S. 144 und S. 365–367. Zum Poetendiplom: A. Schirrmeister, Triumph des Dichters, S. 204. 13 Modo quod principum stipendiis alitur, sensim plures sortita patronos melius habet. J. Vadianus, De poetica, Bd. 1, S., 274, Übersetzung Bd. 2, S. 314, ähnlich Bd. 1 S. 63: Iuvantibus optimis principibus, quorum extat caput magnanimus Maximilianus Caesar invictus, multis clarissimis urbibus suscepta publicisque stipendiis ornata est, Übersetzung Bd. 2, S. 74. 14 J.-H. de Boer, Die Gelehrtenwelt ordnen. Zur Genese des hegemonialen Humanismus um 1500, Tübingen, Mohr Siebeck [Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 101], 2017, S. 363 und 367–368. 15 Vor allem in der Weihnachtsrede 1510 und im Theaterstück Gallus pugnans: A. Schirrmeister, «Vadian», Sp. 1198 und 1189–1191. 16 Aecloga Faust: A. Schirrmeister, «Vadian», Sp. 1191–1192. 17 R. Gamper, Joachim Vadian, S. 76–77, 81–83, 88–89, 92–93 und 103. 18 Zuerst in zwei auf den 13. Dezember 1513 datierten Widmungsbriefen: J. Vadian, Die Dedikationsepisteln von und an Vadian, hrsg. v. C. Bonorand und H. Haffter, St. Gallen, Verlagsgemeinschaft, 1983, S. 80–84, Nr. 16– 17; A. Schirrmeister, «Vadian», Sp. 1189–1191 und Sp. 1222, Nr. 17. 19 Auch auf das Erscheinen der Descriptio Helvetiae Glareans, des zentralen Werks für die humanistische Auffassung der Eidgenossenschaft, das Vadian Anfang 1515 erhielt, ist keine Reaktion bekannt. Vadianische Briefsammlung, Bd. 1, hrsg. v. E. Arbenz, St. Gallen [Mitteilungen zur Vaterländischen Geschichte 24], 1890, S. 134, Nr. 47; F.-D. Sauerborn, «Die Krönung», S. 175. Zur Descriptio Helvetiae unten, Anm. 75. 20 Die Angaben beziehen sich auf die rund 135 erhaltenen Briefe von Absendern ausserhalb Wiens bis zur ersten Abreise Vadians im Juni 1518.

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Vadian kannte Norditalien von seiner Reise nach und Venedig im Jahr 150721; die Mailänderkriege beschäftigen ihn von Ende 1511 an. Im Herbst 1511 war Ulrich von Hutten nach Wien gekommen, wo er vier Monate lang bei Vadian und seinen Hausgenossen wohnte. Er hatte ein von patriotischem Furor inspiriertes politisches Gedicht mitgebracht, in dem er mit weit ausholenden Begründungen aus der deutschen Geschichte Kaiser Maximilian anspornte, den Krieg gegen Venedig wieder aufzunehmen und die Lagunenstadt zu vernichten22. Bei seiner Abreise liess Hutten das Gedicht in Wien zurück; Vadian redigierte und publizierte es Anfang 151223. Im einleitenden Gedicht wandte er sich an die Deutschen (Vadianus Germanis). In früheren Zeiten hätten die Germanen siegreich gekämpft, die Erinnerung an die Siege aber verschmäht. Im Gegensatz dazu hätten die Römer ihre Taten verewigt, aber in wenig glaubhafter oder gar manipulierter Form24. Nun aber sei bei den Germanen Besserung eingetreten: Die Nachfahren könnten die Taten des Kaisers erfahren. Huttens Gedicht appelliere an die unerschütterliche Kraft des deutschen Kriegers, dies sei ein Ansporn für die Jugend. Vadian verwendete zentrale Elemente der deutschen Selbstdarstellung im zeitgenössischen Nationendiskurs und unterstützte Huttens politische Botschaft, zählte sich selbst aber nicht zu den Deutschen, die er als Aussenstehender anredete (amor vestri soli, vester ordo – «die Liebe zu euerm Land, euer Stand»)25. Im Briefwechsel mit , damals Kirchherr in Glarus, lässt sich Vadians schrittweise Hinwendung zur Eidgenossenschaft verfolgen. Zwingli hatte 1498/99 bis längstens 1502 an der Wiener Universität studiert, sie hatten Kenntnis voneinander und waren sich vielleicht persönlich begegnet26. Vadian publizierte im Frühjahr 1511 die Dichtungen und Reden seines Freundes Arbogast Strub aus Glarus, der in Wien überraschend verstorben war, mit einer Widmung an Zwingli – ohne einen Hinweis auf die Eidgenossenschaft. Dieser bedankte sich eineinhalb Jahre später und sandte seine Schrift über den Pavierzug vom Sommer 1512 nach Wien27. Sie schildert den glorreichen Feldzug der Eidgenossen, in dem diese als Verbündete von Papst Julius II. das reiche Herzogtum Mailand in drei Wochen eroberten und die Franzosen aus Norditalien vertrieben. Mit dem Sieg wurden die Eidgenossen zur Grossmacht; der Papst pries sie als «Beschützer der Freiheit der Kirche» und verlieh grosszügig Privilegien für die Herstellung von speziellen Fahnen, den Juliusbannern. Vadian liess sich von der Begeisterung anstecken. Im Brief, den er im Mai 1513 an Zwingli schrieb, bekannte er: Amo totam Helvetiorum communitatem et omnium salutem desidero und berichtete, bei einem Tischgespräch habe er neulich, als man auf die Mailänderkriege zu sprechen kam, einen Vierzeiler improvisiert:

Wo ist des Friedens Gewähr, so fragst du, wo ist des Krieges nie besiegte Gewalt? Sieh die Helvetier an! (Respice ad Helvetios!)

21 Die Reise lässt sich nur ungefähr datieren, Näf, Vadian, Bd. 1, S. 135–136; R. Gamper, Joachim Vadian, S. 33. 22 J. Vadian, Die Dedikationsepisteln, S. 72–73 und 199–200, Nr. 12. 23 H. Jaumann, «Hutten, Ulrich von», Deutscher Humanismus 1480–1520. Verfasserlexikon, hrsg. von F. J. Worstbrock, Bd. 1, Berlin, De Gruyter, 2008, Sp. 1185–1237, hier Sp. 1204. Als Redaktor zeichnete Ioachimus Vadianus (A. Schirrmeister, «Vadian», Sp. 1221). In der zweiten Auflage von 1519 wurde der Name aktualisiert: Ioachimus Vadianus Helvetius, poeta et orator laureatus; dazu Vadian, Die Dedikationsepisteln, S. 200, Anm. 1. 24 Zur Einschätzung der römischen Geschichtsschreibung über die Germanen: K. Suter-Meyer, Joachim Vadians Kommentare zu Pomponius Mela (Basel, 1522), Zürich, Chronos, 2020, S. 175. 25 F. Steinbock, Das lyrische Werk, S. 168–172. 26 Vadianische Briefsammlung, Bd. 3 (Nachträge), hrsg. v. E. Arbenz, St. Gallen [Mitteilungen zur Vaterländischen Geschichte 27], 1897, S. 140, Nr. 6. Zum Verhältnis von Vadian zu Zwingli: J. Vadian, Die Dedikationsepisteln, S. 413–415. 27 H. Zwingli, «De gestis inter Gallos et Helvetios relatio», in: H. Zwingli, Sämtliche Werke, Bd. 1, Berlin, Schwetschke [Corpus Reformatorum 88], 1905, S. 30–37.

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Längst ging, an Klippen zerschellt, der Nachen Sankt Petri zugrunde. Wer hat die Rettung vollbracht? Sieh die Helvetier an! (Respice ad Helvetios!)28.

Man kennt die Reaktion von Georg Collimitius, Vadians engstem Freund: Er meinte ironisch: «Ich bin auf mich selbst böse, dass ich dich, einen Eidgenossen, so sehr liebe»29. Man nahm Vadians Patriotismus zur Kenntnis, Auswirkungen sind nicht erkennbar. Aus dem Brief an Zwingli vom Mai 1513 geht auch hervor, dass Vadian als Kandidat für eine Dichterkrönung im Gespräch war: «Mich wundert, dass du dich vom Gerücht über meine Dichterkrönung hast erwischen lassen und das, was noch weit entfernt ist, schon gegenwärtig wähnst»30. Zwingli hatte ihn zweieinhalb Monate zuvor auf die Dichterkrönung Glareans hingewiesen31. Vadian zeigte sich gut orientiert. Er kannte den Panegyricus, den Glarean dem Kaiser in Köln vorgetragen hatte, aus dem kurz darauf erfolgten Druck. Dort trug der Geehrte den Titel Henricus Glareanus Helvetius poeta laureatus32. Auch wenn Vadian die Erwartungen Zwinglis dämpfte, liess er durchblicken, dass er diese Ehrung ebenfalls anstrebte. So ist es nicht überraschend, dass er, als sich Ende 1513 die Möglichkeit seiner Krönung zum Dichter abzeichnete, wie Glarean als Helvetius auftrat, zumal der Kaiser und die Eidgenossen zu dieser Zeit militärische Verbündete waren und gemeinsam kämpften, wenn auch mit unterschiedlichen Zielen. Vadian ging später in seiner Rede anlässlich des Wiener Fürstentreffens vom Sommer 1515 auf das Verhältnis zum Kaiser ein. Er zählte die Helvetii ausdrücklich zu den Deutschen, betonte die Kriegstüchtigkeit der Eidgenossen, räumte ein, dass sie für sich ungewöhnliche Freiheiten beanspruchten, hielt aber sogleich fest, dass sie ausser Maximilian keine Könige oder Fürsten anerkennen würden und immer tatkräftige Vorkämpfer der kaiserlichen Interessen gewesen seien33. Für die Eidgenossen der Gegenwart verwendete Vadian nur den Begriff Helvetii, die ebenfalls gebräuchlichen Bezeichnungen Confoederati und Switenses benutzte er nicht. Auf die antiken Helvetier ging er nicht ein. Im Gebiet der Schweiz waren sie im Mittelalter unbekannt geblieben und wurden erst im ausgehenden 15. Jahrhundert von mehreren, unabhängig voneinander forschenden Gelehrten auf den Ptolemäischen Karten und in Caesars Werk über den Gallischen Krieg entdeckt, waren aber nur in engen Kreisen bekannt34. Eine breitere, öffentlich ausgetragene Kontroverse über die Wohnsitze und die Zugehörigkeit der

28 Arbitrium pacis bellique invicta potestas / Si quaeres ubi sit? Respice ad Helvetios. / Cimba diu Petri scopulis illisa peribat. Quo duce servata est? Respice ad Helvetios. Vadianische Briefsammlung, Bd. 7, S. 5, Nr. 1. Übersetzung W. Näf, Vadian, Bd. 1, S. 249. 29 Irascor mihi quod – te Helvetium – adeo te amo. J. Rütiner, Diarium, hrsg. v. E. G. Rüsch, St. Gallen, Vadianische Sammlung, 1996, Bd. 1, Nr. 345. Die Aussage ist in einer zweiten Fassung überliefert: Piget me quod tantum amoris in Helvetium posui. In posterum parcius impartibo (Es verdriesst mich, dass ich so viel Liebe auf einen Schweizer verwendet habe; in Zukunft werde ich sie sparsamer zuteilen), ibidem, Nr. 958. 30 Miror, te laurae meae fama corripi et ea, quae longissime absunt, ut praesentia imaginari. Vadianische Briefsammlung, Bd. 7, S. 4, Nr. 1. Übersetzung: J. Vadian, Ausgewählte Briefe, S. 20. 31 Zu Glarean: Der Humanist Heinrich Loriti, genannt Glarean. 1488-1563. Beiträge zu seinem Leben und Werk, hrsg. vom Ortsmuseum Mollis, Glarus, Baeschlin, 1983; F.-D. Sauerborn, «Die Krönung»; J.-H. de Boer, Die Gelehrtenwelt ordnen, S. 353–369. 32 In divi Maximiliani Romanorum imperatoris semper Augusti laudem et praeconium Henrici Glareani Helvetii poetae laureati […] carmen panegyricum. F.-D. Sauerborn, «Die Krönung», S. 182–183. 33 J. Vadian, Lateinische Reden, S. 62–63; A. Schirrmeister, Triumph des Dichters, S. 64–66. 34 Die Verwendung des Namens Helvetii für die Eidgenossen lässt sich seit den 1470er Jahren nachweisen. Th. Maissen, «Weshalb die Eidgenossen Helvetier wurden. Die humanistische Definition einer natio», Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, hrsg. v. J. Helmrath, U. Muhlack und G. Walther, Göttingen, Wallstein, 2002, S. 210–249, hier S. 224–228 zur Verwendung der Bezeichnung Elveti, Helvetiae gens u. ä. im diplomatischen Verkehr seit den 1470er Jahren; ausserdem; W. Rüegg, «Humanistische Elitebildung in der Eidgenossenschaft zur Zeit der Renaissance», Die Renaissance im Blick der Nationen Europas, hrsg. von Georg Kauffmann, Wiesbaden, O. Harrassowitz, 1991, S. 95–133, hier S. 118.

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Helvetier begann am Oberrhein zu der Zeit, als Vadian sich zum Studium nach Wien begab35. Es gibt keine Anzeichen, dass er die Kontroverse verfolgte36. Die 1507 in Etterlins Chronik im Druck verbreitete Geschichtskonstruktion, die den Anfang der eidgenössischen Bünde im Kampf gegen die habsburgische Herrschaft in der Innerschweiz lokalisierte37, beachtete er nicht, vielleicht kannte er sie auch nicht. In den rund 60 noch vorhandenen Büchern, die Vadian in Wien benutzte, liess sich bisher nur eine einzige Marginalie nachweisen, die auf die Helvetii hinweist38; sie hebt eine Erwähnung eidgenössischer Söldner und damit die eidgenössische Militärmacht hervor, die Basis von Vadians Patriotismus. Dieser Patriotismus war gegenwartsbezogen und ohne historische Fundierung; er flaute nach der militärischen Niederlage der Eidgenossen bei Marignano im September 1515 ab. Der schriftliche Niederschlag beschränkte sich auf die Namensnennung in den Drucken. In den Adressen der Vadian zugesandten Briefe hinterliess er fast keine Spuren. Dort kommt die Bezeichnung Helvetius nur selten vor, der Titel Poeta laureatus dagegen erscheint in vielen Varianten und bildete einen festen Bestandteil der Adressformel.

GAUDEO IN NOSTROS MONTES MIGRATURAS MUSAS In Vadians Karriere in Wien nahm die gelehrte lateinische Dichtung eine zentrale Stelle ein. Den einzigen Besuch seiner Heimatstadt St. Gallen nutzte er 1509 zur Suche nach unbekannten Gedichten in der Bibliothek der Fürstabtei. Sein älterer Verwandter, der Dekan Hermann Miles, ermunterte ihn 1512, als er einige Publikationen Vadians erhalten hatte, sich in den Dichtungen St. Galler Themen zuzuwenden: den Ortsheiligen und der Geschichte seiner eigenen Familie, der «von Watt». Tatsächlich arbeitete Vadian an einem dreiteiligen Gedicht, in dem er den Ursprung seiner Vaterstadt, ihre Umgebung und ihre Lebensart beschreiben wollte. 1513 stellte er in Aussicht, er werde es in Kürze publizieren39. Daraus wurde nichts. Vadian liess das Werk nicht drucken, erhalten ist nur ein Ausschnitt von 29 Verszeilen über den Bodensee und den Lauf des Rheins, die er einem kleinen geographischen Werk über die antiken Benennungen des Bodensees beigab. Der erhaltene Ausschnitt ist insofern interessant, als er zeigt, dass Vadian sich die geographische Beschreibung der patria, die Celtis mit grossem Nachdruck propagiert hatte, als Aufgabe vorgenommen hatte. Die Verse hinterlassen einen zwiespältigen Eindruck. Die Beschreibung Vadians ist teilweise von bildhafter Anschaulichkeit, aber auch mit akademischer Gelehrsamkeit überladen40.

35 Th. Maissen, «Weshalb die Eidgenossen», S. 227–228. 36 Vadian besass damals keine Werke von Johann Wimpfeling; die Cohortatio Helvetiorum ad obedientiam imperii von Heinrich Bebel, die im Katalog von Vadians Bibliothek verzeichnet ist, erwarb er erst 1535 aus dem Nachlass des Leutkircher Schulmeisters Jakob Gruerius. Sie ist nicht erhalten. Bibliotheca Vadiani. Die Bibliothek des Humanisten Joachim von Watt nach dem Katalog des Josua Kessler von 1553, bearb. v. V. Schenker-Frei, St. Gallen, Fehr'sche Buchhandlung, 1973, S. 85, Nr. 274; zum Verkauf der Bücher von Jakob Gruerius: R. Gamper, Th. Hofmeier, Alchemische Vereinigung. Das Rosarium Philosophorum und sein Besitzer Bartlome Schobinger, Zürich, Chronos, 2014, S. 165–169. 37 P. Etterlin, Kronica von der loblichen Eydtgnoschaft, jr Harkommen und sust seltzam Strittenn und Geschichten, Basel, Michael Furtter, 1507. 38 R. Gamper, Joachim Vadian, S. 107. Anhand der Einbände und der persönlichen Einträge konnten bisher 57 Bände in der Vadianischen Sammlung und anderen Bibliotheken zuverlässig identifiziert werden, dazu kommen einige unsichere Fälle. Die Liste ist nicht publiziert. Mehr als ein Drittel von Vadians Büchern wurde im Laufe der Jahrhunderte als Dubletten veräussert. Man kann die Bibliothek Vadians in Wien auf etwa 80 Bände beziffern. 39 Vadianische Briefsammlung, Bd. 7, S. 4, Nr. 1. Übersetzung: J. Vadian, Ausgewählte Briefe, S. 20. 40 W. Näf, Vadian, Bd. 1, S. 310–311; R. Gamper, Joachim Vadian, S. 40 und 88 mit Anm. 17.

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Vadian kam in seiner Poetik von 1514/1841 mehrfach auf das Verhältnis von wissenschaftlicher Darstellung und gelehrter Dichtung zu sprechen. Dichtung kann alle Bereiche des Wissens beinhalten, zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie sich «durch die eine Gunst der Musen und die Triebkraft der göttlichen Begeisterung von allen anderen Bildungsbereichen abhebt»42. Diese durch Inspiration bereicherte Form des Wissens und Verstehens war mit der Bilderwelt der belebten, von antiken Göttern und Göttinnen bevölkerten Natur verbunden.

Nimm dem Dichter die Ausmalung und die Sprache der Bilder und du hast einen Theologen oder einen Physiker vor dir, wie auch ein Historiker, selbst wenn er etwas zum Genuss schreibt, deshalb noch kein Dichter ist. Denn wie du den Musiker verstummen lässt, wenn du ihm Flöte und Zither nimmst oder den Mund versperrst, dass er nicht singen kann, so kann derjenige kein Dichter sein, dem man die zierliche, anmutige und seit Anfang der Welt geläufige Umschreibung der Dinge in bildhafter Sprache abstreitet43.

In dieser Sprache kann der Dichter mehr ausdrücken als der Maler mit seinen Farben.

Worte […] und sprachliche Äusserungen rühren vom Geist in uns her und sind der Menschheit eigen. Wir haben sie auch immer seit Anbeginn der Welt zur Zierde der gesamten Schöpfung und zur Kundgebung des göttlichen Vorrangs unserer Gattung hervorgebracht44.

Im Vergleich mit dem Redner, der ebenfalls erhabene Gedanken zum Ausdruck bringt, erreicht der Dichter eine höhere Sphäre:

Beim Redner denken wir an seinen Geist und seine Beredsamkeit, beim Dichter darüber hinaus sogar an das Göttliche, denn man glaubt, dass Dichter über die Menschheit erhoben irgendwo zwischen Göttern und Menschen schweben45.

Vadian fühlte sich berufen, die Dichtung als Gottesgabe zur Veredelung des Menschen im helvetischen Vaterland zu verbreiten. In der Poetik nennt Vadian im Abschnitt über die Rezeption des Humanismus zuerst Rudolf Agricola, der die Musen über die Alpen führte46. Im oben zitierten Brief an Zwingli verband er mit der Dichterkrönung Glareans die Hoffnung, dass sich die Musen nun auch

41 W. Näf, «Die Entstehung des Buches ‘De Poetica’», Vadianische Analekten, hrsg. v. W. Näf, St. Gallen, Fehr’sche Buchhandlung [Vadian-Studien 1], 1945, S. 5–20; J.-H. de Boer, Die Gelehrtenwelt ordnen, S. 140–157; Beitrag von Virginie Leroux in diesem Band. 42 Musarum favore et divini furoris impetu a reliquis disciplinis discreta, J. Vadian, De poetica, Bd. 1, S. 74, Übersetzung Bd. 2, S. 86. 43 Tolle a Poeta picturam et schemata, et vel theologum cernes vel physicum, historicum, aut si ad voluptatem aliquid scripsit, omnino nomine poetae privas. Nam ut musicum mutum reddis si fistulam citharamve demis aut fauces quominus canat occludis, ita non esse poeta poterit cuicumque illa suavis, amoena et a saeculorum origine donata rerum per involucra circumscriptio denegabitur. Ibidem, Bd. 1, S. 159, Übersetzung Bd. 2, S. 183. 44 Verba vero et voces efformante eo spiritu qui in nobis est peculiaria humano generi, nos ipsi a mundi primordio in reliquarum rerum orbis ornamentum et nostri ordinis divinitatem atque praestantiam ostendendam semper praestitimus. Ibidem, Bd. 1, S. 16–17, Übersetzung Bd. 2, S. 22. 45 […] in oratore ingenium et eloquentia, in Poetis etiam divinitas spectari solet, qua supra humanam naturam positi medium quendam inter deos et homines cursum tenere crediti sunt. Ibidem, Bd. 1, S. 239, Übersetzung Bd. 2, S. 273. 46 Primus enim fuit qui Musas ingenuas animi candore ultra Alpes illas ut irent provocavit, quae Germaniae antea ius nulllum literas agnoscendi praestiterunt, Ibidem, Bd. 1, S. 58, Übersetzung Bd. 2, S. 69. Vadian übernahm die Redeweise von der Überführung der Musen aus Italien von seinem Lehrer Konrad Celtis. D. Mertens, «Die Dichterkrönung des Konrad Celtis. Ritual und Programm» [2004], Humanismus und Landesgeschichte. Ausgewählte Aufsätze, hrsg. v. D. Speck, B. Studt und Th. Zotz, Stuttgart, W. Kohlhammer Verlag, 2018, Bd. 1, S. 433–450, hier S. 444.

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in der Eidgenossenschaft (in nostros montes) niederliessen47. In den gedruckten Publikationen lässt sich erkennen, dass Vadian sich selbst erst Anfang 1517 der Eidgenossenschaft zuwandte. Von den neunzehn bis dahin den Drucken beigegebenen Widmungsbriefen waren achtzehn an Freunde, Schüler und hochgestellte Persönlichkeiten aus dem Wiener Umfeld gerichtet, nur ein einziger an einen Bekannten in der Eidgenossenschaft. In den Publikationen der Jahre 1517 und 1518 kehrt sich das Verhältnis um: Vadian ehrte fünf eidgenössische Schüler und St. Galler Prominente, aber nur noch einen Diplomaten des kaiserlichen Hofes48. Im Frühjahr 1518 erschienen nach langer Vorbereitungszeit Vadians wohl wichtigste in Wien verfasste Publikationen: der umfangreiche Kommentar zu den Länderbeschreibungen des römischen Geographen Pomponius Mela und die kleinere Poetik. Beide enthalten in den Widmungsbriefen ein Programm für die Verankerung des Humanismus in der Eidgenossenschaft, lassen aber auch erkennen, wie bescheiden Vadians Kenntnisse der Eidgenossenschaft damals waren. Im Melakommentar behandelte er zuerst die Ostschweiz und die Stadt St. Gallen, danach das Land der Helvetii.49 Die Abschnitte sind sehr ungleich. In der Beschreibung der Ostschweiz ging Vadian vom Rhein als bedeutendstem Fluss Deutschlands aus; Katharina Suter spricht vom «Rheinexkurs» oder «Rheinlemma»50. Analog zum Periplus ums Mittelmeer, der Melas Chorographie zugrunde liegt, folgt Vadian dem Ufer des Bodensees, diskutiert den antiken Bericht von Ammianus Marcellinus und konfrontiert ihn mit autoptisch gewonnener Kenntnis der Region. Einen eigenen Abschnitt, ein volles Städtelob, erhält St. Gallen, eingeleitet mit den Worten: Hec dulcis patria nostra est, haec familiae Vadianorum non uno saeculo, benevola et munifica nutrix est 51. Bei der Eidgenossenschaft zwischen Rhein und Rhone, dem Land der Helvetii, stellte Vadian die mit Bildung und Sanftmut vereinte Kriegstüchtigkeit in den Vordergrund52. Die vernichtende Niederlage in der Schlacht bei Marignano (1515) gab ihm Gelegenheit, als Verteidiger der Helvetii aufzutreten53. Die abschliessende Aufzählung der eidgenössischen Städte wirkt unbeholfen und blass. Vadian kannte 1517/18 die Ostschweiz mit dem Bodensee und dem Rheintal, in dem die Weingüter der Familie lagen54; die übrige Eidgenossenschaft war ihm weitgehend unbekannt.

47 Vadianische Briefsammlung, Bd. 7, S. 4, Nr. 1. Zur Musenwanderung: E. Klecker, «Das Reich der Gelehrten. Europa im Blick der Wiener Humanisten um 1500», Wien. 1365. Eine Universität entsteht, hrsg. v. H. Rosenberg und M. V. Schwarz, Wien, Brandstätter, 2015, S. 250–265, hier S. 260–264. 48 J. Vadian, Die Dedikationsepisteln, Crassus (Nr. 10) wird dem Wiener Umfeld zugezählt, Nr. 25, verfasst Ende 1516, gehört ebenfalls zur ersten Gruppe. 49 Pomponius Mela, Libri de situ orbis tres. Adiectis Ioachimi Vadiani Helvetii in eosdem scholiis, Wien, Singriener, 1518, 94r-v; A. Schirrmeister, «Vadian», Sp. 1207–1208. 50 K. Suter-Meyer, «Frühneuzeitliche Landesbeschreibung in einer antiken Geographie. Der Rhein aus persönlicher Perspektive in Vadians Kommentar zu Pomponius Mela (1522)», Transformation of Classics via Early Modern Commentaries, hrsg. v. K. A. E. Enenkel, Leiden, 2014, S. 389–409. 51 Zum Lob der Geburtsstadt im nationalgeschichtlichen Kontext: D. Mertens, «Deutsche Nationalgeschichte um 1500. Soziale formale und materiale Konstituenten», Historiographie – Traditionsbildung, Identitätsstiftung und Raum. Südwestdeutschland als europäische Region, hrsg. v. S. Lorenz, S. Holtz, M. Schmid, Ostfildern, Thorbecke, 2011, S. 1–19, hier S. 17–18. 52 A. Schirrmeister, «Freiheit und Sitten der Schweizer. Politische Semantik in Schriften Joachim Vadians», Acta conventus neo-latini upsaliensis. Proceedings of the fourteenth International Congress of Neo-Latin Studies (Uppsala 2009), hrsg. v. A. Steiner-Weber, Leiden, Brill, 2012, Bd. 2, S. 955–964, hier S. 963. 53 K. Suter-Meyer, «Der Rhein: Fluss der Germanen oder der Helvetier? Patriotismus und Apologie in Vadians Kommentar zu Pomponius Mela (1522)», Latein am Rhein. Zur Kulturtopographie und Literaturgeographie eines europäischen Stroms, hrsg. v. C. Cardelle de Hartmann und U. Eigler unter Mitarbeit v. D. Führer und B. Marti, Berlin/Boston, De Gruyter, 2017, S. 22–52, hier S. 45–46. 54 R. Gamper, Joachim Vadian, S. 245.

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Im Widmungsbrief zum kleineren Werk, der Poetik, wandte sich Vadian an seinen Schüler Johannes von Hinwil, rechtfertigte die pädagogische Ausrichtung seines Buchs und erinnerte an seine Vorlesungen: da «gehörten zu meinem Kreis einige überaus begabte junge Schweizer, die bereits von solchen hervorragenden Lehrern wie Heinrich Glarean, Michael Rubellus, Johannes Xilotectus, Oswald Myconius und Huldrych Zwingli, alle Schweizer und beachtenswerte Gelehrte, vorbereitet worden waren und dann unter meiner Leitung ihre Studien mit unglaublicher Gewissenhaftigkeit fortsetzten»55. Es ging Vadian nicht um einen «schweizerischen Humanismus», sondern um den «Humanismus in der Schweiz»56, dessen Verbreitung er als Gemeinschaftsaufgabe auffasste. Er selbst nahm sich vor, neben der Medizin, seinem neuen Beruf, «die Musen zu ihrem Recht kommen [zu] lassen»57. Den grossen Melakommentar widmete Vadian dem St. Galler Fürstabt Franz Gaisberg (Ad te redeo, providentissime antistes …). Er betonte darin seine enge Verbindung zur eidgenössischen Jugend (iuventus Helvetiae). Es liege ihm daran, dem Kriegsruhm der Eidgenossen den Ruhm in den Wissenschaften hinzuzufügen. Darin stünden ihm Heinrich Glarean und Christoph Crassus, sein erster Schüler aus St. Gallen in Wien, kräftig zur Seite. Er erinnerte an die achthundertjährige monastische Gelehrtentradition und hoffte auf die wohlwollende Hilfe des Abtes, wenn er nun sein Leben bei ihm, dem aufrichtigsten und ehrenhaftesten Klostervorsteher führen wolle58.

STÄDTISCHER HUMANIST Vadian traf im Juni 1518 in St. Gallen ein. Weder die Ankunft noch der Empfang sind dokumentiert59, und eine Reaktion des Fürstabts auf den ehrenden Widmungsbrief im Melakommentar ist nicht bezeugt60. Die Option auf massgebliche Unterstützung durch den Fürstabt oder sogar auf eine Anstellung als humanistischer Politikberater an der Fürstabtei fiel damit dahin. «Humanistische Fähigkeiten sind», wie Harald Müller festhielt, «kein Desiderat der Lebensform Kloster»61. Fürstabt Franz Gaisberg scheute keine Kosten für kirchliche Prachtentfaltung und glanzvolle Gottesdienste, aber die neue humanistische Prestigepflege, die Vadian zu verbreiten versprach, blieb ihm fremd, mehr noch: er verhinderte, dass sie in seinem Kloster Wurzeln schlug62.

55 J. Vadian, De poetica, Bd. 2, S. 8. Eine ähnliche Namenliste hatte Glarean 1514 im Widmungsbrief der Descriptio Helvetiae zusammengestellt. H. Glareanus, Helvetiae descriptio. Panegyricum, hrsg. und übersetzt v. Werner Näf, St. Gallen, Tschudy, 1948, S. 16–17. 56 Die gegenteilige Auffassung vertrat W. Näf, «Schweizerischer Humanismus. Zu Glareans ‘Helvetiae descriptio’», Schweizer Beiträge zur Geschichte, 5, 1948, S. 186-198. Näf überschätzte die Ausstrahlung von Glareans Descriptio mit dem Kommentar von Myconius als Basis für ein von Schweizer Gelehrten getragenes schweizerisches Kulturbewusstsein («eine geistige Gesamtheit», die «als eine vom Ausland unterschiedene Geistesprovinz empfunden wurde», ibidem, S. 186); für Vadian blieb die Mitarbeit am Kommentar eine unbedeutende Episode. Zu Näfs These: Th. Maissen, «Literaturbericht Schweizer Humanismus», Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, 50, 2000, S. 515–544, hier S. 542–544. 57 Ut quandoque Musis officium praestemus suum … J. Vadian, De poetica, S. 4, Übersetzung Bd. 2, S. 8. 58 Kontakte Vadians zur St. Galler Fürstabtei bestanden nach den Forschungen in der Bibliothek von 1509 wohl kaum mehr. Der einzige erhaltene Brief eines Konventualen, ein kurzes Schreiben des Dekans Ludwig Blarer vom 12. Dezember 1516, deutet auf eine wohlwollende künftige Aufnahme hin: Adventum tuum quam libentissime operiar. Vadianische Briefsammlung, Bd. 1, S. 175, Nr. 84. 59 Vadian brachte dazu im Handexemplar der Ephemeriden, in das er besonders wichtige Ereignisse seines Lebens festhielt, keine Notiz an. J. Stöffler, Almanach nova plurimis annis venturis inservientia, Venetiis, Petrus Liechtenstein, 1507, Exemplar: St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Inc 698. 60 Das Widmungsexemplar des Fürstabts ist nicht erhalten. 61 H. Müller, «Nutzen und Nachteil humanistischer Bildung im Kloster», Funktionen des Humanismus. Studien zum Nutzen des Neuen in der humanistischen Kultur, hrsg. v. Th. Maissen und G. Walther, Göttingen, Wallstein, 2006, S. 191–213, hier S. 213. 62 R. Gamper, Joachim Vadian, S. 117–122.

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In der Eidgenossenschaft signalisierte Vadian den Anspruch auf eine angemessene Stellung im Feld der humanistischen Gelehrsamkeit, indem er den wichtigsten Exponenten mit Widmungen versehene Exemplare seines Melakommentars zukommen liess. Sie gingen an Desiderius Erasmus und Beatus Rhenanus in Basel, Huldrych Zwingli in Einsiedeln, Johann Xylotectus in Luzern und Peter Falck in Fribourg; weitere Empfänger sind anzunehmen, lassen sich aber nicht nachweisen. Ausserhalb der Eidgenossenschaft sind nur zwei Adressaten bekannt: der Luzerner Johann Jakob Zurgilgen, der in Paris studierte, und Guillaume Budé, den Vadian besonders schätzte. Wenige Monate später erschien die Poetik. Für deren Zusendung bedankten sich Heinrich Glarean, Konrad Grebel und Oswald Myconius; von einer wohlwollenden Beurteilung durch Erasmus berichtet ein Brief von Myconius63. Persönliche Kontakte ergänzten die brieflichen; mit Konrad Grebel, Oswald Myconius und Johannes Xylotectus erkundete er auf einer Bergwanderung in verbotenem Territorium den sagenumwobenen Pilatussee und stieg weiter auf bis zum Grat, der den Blick auf das Tal Obwalden freigab, was auch der Erweiterung von Vadians bisher bescheidener geographischer Kenntnis der Eidgenossenschaft diente64. Es gelang ihm, innert kurzer Zeit zwischen der Innerschweiz und dem Bodensee ein humanistisches Netzwerk aufzubauen; mit den Baslern dagegen kam kein tragfähiger Kontakt zustande65. Verbindungen mit den Wiener Freunden pflegte er nicht, sie brachen bald ab66. Im Spätsommer 1518 erreichte Vadian die zu Beginn beschriebene städtische Anstellung ohne feste Umschreibung der zu erbringenden Leistung. Wer ihm dazu verhalf, ist nicht bekannt, sicher war ihm die ererbte soziale Stellung nützlich. Er war in eine der führenden Familien der Stadt hineingeboren worden, mehrere seiner Vorfahren waren als Bürgermeister der Stadt vorgestanden, sein Vater gehörte dem Kleinen Rat, der Stadtregierung an. Diese zeigte sich dem Humanismus gegenüber aufgeschlossen und stellte seit einigen Jahren Schulmeister an, die antike Autoren behandelten und die lateinische Dichtung förderten67. Bis sich Vadian endgültig in St. Gallen niederliess, dauerte es nach der Anstellung noch eineinhalb Jahre. Eine halbjährige mit der Erweiterung des persönlichen Netzwerks verbundene Reise nach Norden und Osten diente der Auflösung der universitären Verpflichtungen und des Wiener Haushalts; durch einen halbjährigen Aufenthalt auf dem Lande entzog er sich den Gefahren, die angesichts der Pestepidemie in den Städten lauerte. Die sichtbaren Leistungen, die er in den ersten drei Jahren im Dienst der Stadt St. Gallen erbrachte, waren bescheiden. Man kann die kleine, 1519 in Basel gedruckte Schrift über die Ursachen der Pest, über Vorbeugungsmassnahmen in den Städten und über die Behandlung von Pestkranken dazu zählen68. Früher unterstellte man, das eigentliche Ziel der Anstellung

63 Ibidem, S. 123; zu Budé: Vadianische Briefsammlung, Bd. 7, S. 9–10, Nr. 5; J. Vadian, De poetica, Bd. 1, S. 282– 283, Übersetzung Bd. 2, S. 322–323; Pomponius Mela, De situ orbis libri tres, accuratissime emendati, una cum commentariis Joachimi Vadiani Helvetii castigatioribus, Basel, Cratander, 1522, S. 166. 64 Ibidem, S. 124–125; Text und Übersetzung: R. Frohne, Das Welt- und Menschenbild des St. Galler Humanisten Joachim von Watt / Vadianus, Remscheid, Gardez! Verlag, 2010, S. 68–75; K. Suter-Meyer, Joachim Vadians Kommentare, S. 204–220. 65 Ibidem, S. 123. 66 Vadianische Briefsammlung, Bd. 7, S. 262–266 (chronologisches Verzeichnis der Briefe 1521–1525). 67 R. Gamper, U. L. Gantenbein, F. Jehle, Johannes Kessler. Chronist der Reformation, St. Gallen, Sabon, 2003, S. 29– 30; Ch. Guerra, H. Harich-Schwarzbauer, J. Hindermann (Hrsg.), Johannes Atrocianus. Text, Übersetzung, Kommentar, hrsg. v, Hildesheim, Zürich, New York, Georg Olms Verlag [Noctes Latinae. Neo-Latin Texts and Studies 30], 2018, S. 12–13. 68 J. Vadian, Ein kurtz und trüwlich Underricht wider die sorgklich Kranckeyt der Pestilentz, nach aller Notturfft und Ordnung so in söllichem Fal betracht und gehalten werden mag, neulich ussgangen und zu Nutz gemeyner Lantschafft der Eydgnoschafft zusamen bracht im XV hundert und XIX Jar, Basel, Adam Petri, 1519; B. Milt, Vadian als Arzt, hrsg. v. C. Bonorand, St. Gallen, Fehr'sche Buchhandlung [Vadian-Studien 6], 1959, S. 80–93; A. Schirrmeister, «Vadian», Sp. 1217– 1218.

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sei die medizinische Versorgung der St. Galler Bevölkerung gewesen, er sei gleichsam als Stadtarzt ohne Titel angestellt worden69. Das trifft nicht zu. Die Stadt verpflichtete Vadian nicht für medizinische, sondern für humanistische Dienstleistungen. Dies ergibt sich aus der Formulierung der Ratsbeschlüsse zur Verlängerung der Anstellung in den Jahren 1521 bis 152370. Sie zeigen, dass Vadians Aufgabe in der Politikberatung bestand, zu vermuten ist, dass man von seiner Präsenz neben dem Prestige eher innovative Impulse und rhetorische Unterstützung im politischen Alltag erwartete, etwa im labilen Verhältnis zur Fürstabtei 71. Vadian hatte in den Paratexten zu den Publikationen von 1518 einen Kulturtransfer angekündigt, in dem er sich innerhalb der humanistischen Elite eine führende Stellung zugedacht hatte. In St. Gallen konnte er dies verwirklichen. Er versammelte gut ausgebildete Priester und andere Lateinkundige zu einem lokalen Intellektuellenzirkel, der – wie der Ravensburger Michael Hummelberg meinte – den geheiligten Musen diente72. Gedichte aus diesen geselligen Anlässen sind nicht erhalten; man wird sich unter der «Akademie» keinen humanistischen Gelehrtenkreis vorstellen dürfen73. In der Eidgenossenschaft war die Diffusion des Humanismus bereits weiter fortgeschritten74.Von Myconius angeregt beteiligte sich Vadian, wenn auch nur am Rand, an der Formung des eidgenössischen Landesbewusstseins mit den Mitteln der humanistischen Panegyrik. Die für die Formulierung der nationalen Identität grundlegende Publikation war Glareans Helvetiae descriptio et in laudatissimum Helvetiorum foedus panegyricum, die Anfang 1515 erschien, als das Selbstbewusstsein der Eidgenossenschaft nach den spektakulären militärischen Siegen in den Mailänderkriegen den Höhepunkt erreicht hatte75. In seinem

69 W. Näf, Vadian, Bd. 2, S. 65; B. Milt, Vadian als Arzt, S. 42–44. 70 Die Beschlüsse von 1521 und 1522 lassen Widerstand gegen die Verlängerung der Anstellung erkennen. Der Grosse Rat bewilligte sie nur für jeweils ein Jahr mit dem Zusatz, man solle vor dem Ablauf des Jahres neu darüber befinden. Die Lösung von 1523 beinhaltete eine Kürzung des Jahrgeldes auf 40 Gulden, die möglicherweise die Ratsherrenentschädigung von 10 Gulden berücksichtigte, und die Bestimmung, Vadian müsse nicht regelmässig an den Ratssitzungen teilnehmen, wenn er aber gerufen werde, müsse er erscheinen. Die äusserst knappe Protokollierung der Ratsbeschlüsse gibt keinen Aufschluss über Art und Inhalt der Politikberatung Vadians. St. Gallen, Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde, Ratsprotokolle 1518–1528, fol. 45v, 56v und 67r; W. Näf, Vadian, Bd. 2, S. 83. 71 Zum gesellschaftlichen Nutzen: W. Rüegg, «Humanistische Elitebildung», S. 124–126. Das labile Verhältnis zur Fürstabtei illustriert ein Ratsbeschluss von Anfang Februar 1521: Der kleinen Delegation, die zur Bestätigung der städtischen Freiheiten an den Hof Kaiser Karls V. reiste, wurde ausdrücklich aufgetragen, in Erfahrung zu bringen, ob der Gesandte der Fürstabtei etwas der Stadt oder ihrem (Textil-)Gewerbe Nachteiliges im Schilde führe und dies gegebenenfalls zu verhindern. St. Gallen, Stadtarchiv der Ortsbürgergemeinde, Ratsprotokolle 1518–1528, fol. 37r. 72 Vale feliciter et amiculos tuos, que Musas colunt sacratiores, salvere meis verbis iubeto. Vadianische Briefsammlung, Bd. 2, hrsg. v. E. Arbenz, St. Gallen [Mitteilungen zur Vaterländischen Geschichte 25], 1894, S. 359, Nr. 257, dazu Kesslers Vita Vadiani: J. Kessler, Sabbata mit kleineren Schriften und Briefen, hrsg. v. E. Egli und R. Schoch, St. Gallen, Fehr, 1902, S. 604, J. Kessler, Das Leben Joachims von Watt, übersetzt v. E. Götzinger, St. Gallen, Zollikofer, 1895, S. 18. Einen Eindruck, wie Gedichte an geselligen Treffen in gehobenen Wiener Studentenkreisen eingesetzt wurden, vermittelt: A. Strub, Gedächtnisbüchlein, hrsg v. H. Trümpy, St. Gallen Fehr'sche Buchhandlung [Vadian-Studien 5], 1955, S. 110–113. 73 Akademie nannte der Churer Schulmeister Jakob Salzmann den gesellschaftlichen Freundeskreis: Parochum vestrum una cum aliis de tua academia milies saluta. Vadianische Briefsammlung, Bd. 2, S. 412, Nr. 297. R. Gamper, Joachim Vadian, S. 122. 74 Zum Begriff: J. Helmrath, «Diffusion des Humanismus. Zur Einführung», Diffusion des Humanismus. Studien zur nationalen Geschichtsschreibung europäischer Humanisten, hrsg. v. J. Helmrath, U. Muhlack und G. Walther, Göttingen, Wallstein, 2002, S. 9–29. 75 H. Glareanus, Helvetiae descriptio. Zur Entstehungsgeschichte der Descriptio Helvetiae, die früher irrtümlich auf 1511 datiert wurde: F.-D. Sauerborn, «Die Krönung», S. 165–166 mit Anm. 26 und 174–178. Zur Bedeutung der Helvetierthese: Th. Maissen, «Ein ‘helvetisch Alpenvolck’. Die Formulierung eines gesamteidgenössischen Selbstverständnisses in der Schweizer Historiographie des 16. Jahrhunderts», Historiographie in Polen und in der

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Gedicht verknüpfte Glarean das antike Volk der Helvetier mit den sagenhaften Gründungssagen der Eidgenossen und darüber hinaus mit der Gegenwart; er bot damit «die grosse, befreiende, eigentlich humanistische Lösung der Herkommensfrage» (Max Wehrli)76, eine Neuschreibung der Nationalgeschichte, wie es die Humanisten in den umliegenden Ländern bereits vollbracht hatten77. In je zwölf Versen beschrieb Glarean die einzelnen eidgenössischen Orte und bildete in der Reihenfolge die politische Rangordnung in der Tagsatzung ab78. Es war ein grosser Wurf, gleichzeitig Verteidigung in der gelehrten Polemik um den Vorrang der Nationen79 und Richtschnur zur Erziehung der helvetischen Jugend. Allerdings war der umfangreiche Stoff in der poetischen Verkürzung selbst der kleinen Elite, welche die lateinische Gelehrtensprache beherrschte, nicht leicht zugänglich. Die Descriptio und der Panegyricus seien – schrieb Oswald Myconius 1519 – oft gelesen, aber nur von wenigen verstanden worden. Deshalb erarbeitete er einen Kommentar. Das humanistische Netzwerk nutzte er, um historische Informationen und Interpretationen zu erhalten. Vadians Beitrag beschränkte sich darauf, Auskunft über zwei geographische Namen in der Vita Sancti Galli zu geben, den Kommentar vor dem Druck zu lesen und das Werk durch ein 36zeiliges, an Helvetia gerichtetes Begleitgedicht, in dem er die Bedeutung von Glareans Dichtung hervorhob und die Leistung von Myconius als Kommentator lobte, abzuschliessen80. Eine eigene Beschäftigung mit der Vergangenheit der Eidgenossenschaft ist nicht erkennbar, und auf Bitten, sich an historisch-topographischen Beschreibungen der Eidgenossenschaft zu beteiligen, ging er nicht ein81. Vadians umfangreichste Publikation und zugleich die letzte, in der er auf dem Titelblatt den Beinamen Helvetius trug, war die zweite, stark erweiterte Auflage des Melakommentars. Das Werk erschien Anfang 1522 und sprengte, wie Katharina Suter-Meyer gezeigt hat, die Gattung des didaktisch ausgerichteten Kommentars. Es zeichnete sich dadurch aus, dass er das «Wissen über die Welt aus unterschiedlichen Zeiten mit Vadians persönlichen Erfahrungen, Überzeugungen und seiner Lebenswelt konfrontierte»82. Eine zentrale Kategorie seiner Welterfassung war die mutatio temporum: Die Welt war immer in Veränderung begriffen; nicht nur Völker und Städte entstanden und verschwanden, auch die Erde selbst, die Verteilung von Land und Meer, veränderten sich. So gehörte zum Wissen über die Welt immer auch die zeitliche Einordnung, eine Gegenüberstellung von «früher» und «heute», und

Schweiz, hrsg. v. K. Baczkowski und Ch. Simon, Kraków, Uniwersytet Jagielloński, 1994, S. 69–86, hier S. 74– 78; G. Marchal, «Historiographie in Polen und in der Schweiz», ibidem, S. 111–123, hier S. 116–117. 76 M. Wehrli, «Der Schweizer Humanismus und die Anfänge der Eidgenossenschaft», Schweizer Monatshefte, 47, 1967–1968, S. 127–146, hier S. 141. 77 J. Helmrath, «Die Umprägung von Geschichtsbildern in der Historiographie des europäischen Humanismus» [2003], Wege des Humanismus. Studien zu Techniken und Diffusion der Antike-Leidenschaft im 15. Jahrhundert, hrsg. v. J. Helmrath, Tübingen, Mohr Siebeck, 2013, S. 189–212. 78 Th. Maissen, «Weshalb die Eidgenossen», S. 229–232. 79 Glarean selbst brauchte den Begriff natio nicht für die Eidgenossenschaft; er bezeichnete damit nur die ‘anderen’. A. Schirrmeister, St. Schlelein, «Semantik im Vergleich. Politische Sprache in humanistischen Nationalgeschichten und Landesbeschreibungen», Historiographie des Humanismus. Literarische Verfahren, soziale Praxis, geschichtliche Räume, hrsg. v. J. Helmrath, A. Schirrmeister, St. Schlelein, Berlin, De Gruyter, 2013, S. 9– 47, hier S. 32–33. 80 R. Gamper, Joachim Vadian, S. 128–130; Vadianische Briefsammlung, Bd. 2, S. 208–209, Nr. 137–138; Regesten: O. Myconius, Briefwechsel 1515-1552, Regesten, bearbeitet von R. Henrich, Zürich, Theologischer Verlag, 2017, Bd. 1, S. 117–118, Nr. 13–14. 81 Der Freiburger Schultheiss Peter Falck skizzierte 1519 ziemlich vage ein derartiges Projekt (Vadianische Briefsammlung, Bd. 2, S. 216–219, Nr. 141), vgl. Y. Dahhaoui, Peter Falck - l'humaniste et sa bibliothèque - Peter Falck - der Humanist und seine Bibliothek, Fribourg, Pro Fribourg [Pro Fribourg 196], 2017, S. 48–52; Der Basler Drucker Hieronymus Froben versuchte 1524, Vadian zur Erarbeitung einer eidgenössischen Geschichte zu motivieren (Vadianische Briefsammlung, Bd. 3; S. 55–56, Nr. 380). Vgl. unten, Anm. 105. 82 K. Suter-Meyer, Joachim Vadians Kommentare, S. 248.

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die Erfassung des Wandels, der auch die mores umfasste83. Diese Sichtweise prägte im Abschnitt über die Eidgenossenschaft den Rheinexkurs, in dem die patria, die Stadt St. Gallen, im Zentrum steht, stärker als der Abschnitt mit dem Randtitel Helvetiorum laus84. Darin wies Vadian einleitend auf Glareans Panegyricus mit dem Kommentar von Myconius hin, ging aber weder auf das Gedicht noch auf die historisch-geographischen Erklärungen dazu ein. Er schuf eine andere Verbindung zur Antike. Zusätzlich zur Kampfeskraft und der Kriegslust, die er schon in der ersten Auflage gerühmt hatte, begründete er mit Berufung auf Cicero das Freiheitsstreben und die positive Wertung des bäuerlichen Lebens85. An anderer Stelle verglich er die amphyctiones, die Versammlungen der freien Städte im alten Griechenland, mit der Tagsatzung des freien Volkes (gens libera) der Helvetii, die ihre Angelegenheiten dort zeitig und umsichtig regeln86. So stellte er die Helvetier in ein günstiges Licht, ohne auf ihre Geschichte einzugehen. Als St. Galler war er Angehöriger eines minderberechtigen «Zugewandten Orts» der Eidgenossenschaft, dem die Aufnahme in den Kreis der vollberechtigten Orte kürzlich verwehrt worden war87, und so wahrte er Distanz zur neuen gemeineidgenössischen Geschichtskonstruktion.

DER EINSCHNITT DER REFORMATION Seit 1520 las Vadian Luthers Schriften. In mehreren Abschnitten des erweiterten Melakommentars liess er reformatorische Kritik am Prunkgehabe der Kirchen seiner Zeit einfliessen88. Die Lutherlektüre veränderte Vadians Gelehrtenleben. Bereits in der Wiener Zeit hatte sich der Schwerpunkt seiner Beschäftigung von der Dichtung zur Geographie und zur Medizin verschoben. Diese Fächer standen auch in den ersten Jahren nach seiner Rückkehr aus Wien nach St. Gallen im Vordergrund; die Dichtung verlor an Bedeutung, das letzte lateinische Gedicht Vadians erschien 1519 im Druck. Auch in Vadians Umgebung nahm das Interesse an der Dichtung ab. Bis 1522 wurden die Musen im Briefwechsel immer erwähnt, danach verschwanden sie aus der brieflichen Kommunikation89, die Vadian ohne Unterbruch weiterführte. Gleichzeitig änderte sich seine Beschäftigung mit der Astrologie90. In der Poetik hatte er 1518 festgehalten, dass die Sterne die künstlerische Begabung der Menschen beeinflussten91. Auch im eigenen Leben beachtete er den Einfluss der Gestirne, so im Sommer 1519 in der Planung seiner Heirat92. Ab 1521 lässt sich im Handexemplar der

83 Ibidem, S. 164–183. 84 Pomponius Mela, De situ orbis, 1522, S. 169–170; A. Schirrmeister, «Vadian», Sp. 1207–1209. 85 Suter-Meyer, «Der Rhein», S. 50–51. 86 Servant hunc morem hodie prope peculiariter Helvetii, gens libera, missis e foederatis civitatibus, pagisque gnaris, qui de rebus communibus mature simul, et circumspecte consultent. Pomponius Mela, De situ orbis, 1522, S. 75. 87 R. Gamper, «‘... dieselb statt kain Rystatt nie gesin ist.’ Politische Argumentation der Fürstabtei und der Reichsstadt St. Gallen im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit», Reichsstadt als Argument. 6. Tagung des Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte, Mühlhausen, 12. bis 14. Februar 2018, hrsg. v. M. Kälble und H. Wittmann, Petersberg, Michael Imhof Verlag, 2019, S. 109–128, hier S. 121–122. 88 Johannes Kessler stellte die einschlägigen Stellen in seiner Vita Vadiani zusammen: J. Kessler, Sabbata, S. 604. 89 Die wenigen Briefe, in denen Musen angesprochen werden, stammten mit einer Ausnahme (Zwinglis Brief vom 24. Februar 1524, Vadianische Briefsammlung, Bd. 3, S. 57, Nr. 382) aus Süddeutschland und Österreich. 90 Das Fach hatte in Wien zur medizinischen Ausbildung gehört, Vadians Freund Georg Collimitius hatte als angesehener Astrologe eine Vorlesung über den Gebrauch der Ephemeriden gehalten, die Vadian im Druck herauszugeben beabsichtigte. R. Gamper, Joachim Vadian, S. 70. 91 J. Vadian, De poetica, S. 96, 103, 153–154, Übersetzung Bd. 2, S. 111, 120, 177. 92 Die Ansetzung des Hochzeitstages auf ein astrologisch günstiges Datum war im habsburgischen Umfeld nicht ungewöhnlich. H. Grössing, F. Stuhlhofer, «Versuch einer Deutung der Rolle der Astrologie in den persönlichen Entscheidungen einiger Habsburger des Spätmittelalters», Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Mathematik, Naturwissenschaften und Medizin, 31, Wien, Akademie der Wissenschaften, 1981, S. 275– 283. Vadians Hochzeitstag stand unter guten Sternen: Jupiter, Venus und Mars standen am 18. August 1519 in Konjunktion in der Waage und im Trigon zum Mond in den Zwillingen. Diese Konstellation verhiess Glück,

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Ephemeriden, das ihm zur Bestimmung der täglichen Sternenkonstellation diente, eine auffällige Hinwendung zum christlich bestimmten Jahreslauf beobachten: Vadian notierte am Rand neben den Kalenderdaten die beweglichen Feste von Septuagesima bis Corpus Christi und Advent93. Die gesellige «Akademie» der St. Galler Lateinkundigen wandelte sich zum Forum für theologische Diskussionen, in denen Vadian als Dozent und in späteren Kontroversen über die Einführung neuer Formen in Liturgie und Predigt als gelehrter Gutachter für den städtischen Rat amtete94. Als Gutachter wechselte er von Latein zur Umgangssprache und schrieb erstmals längere deutsche Texte für ein Laienpublikum. Schriften über aktuelle Glaubensfragen und über lokalhistorische Themen verfasste er von nun an in Deutsch, Briefe und Inhalte, die sich an ein überregionales gelehrtes Publikum richteten, weiterhin in Latein. Gleichzeitig übernahm Vadian in der Stadt St. Gallen neue Rollen. Die Anstellung als humanistischer Berater wurde in eine Anstellung als Stadtarzt umgedeutet95. Nach dem Tod seines Vaters trat Vadian 1521 als sein Nachfolger in den Kleinen Rat, die Stadtregierung, ein und lernte als Tagsatzungsgesandter die eidgenössische Politik in ihren konkreten Abläufen kennen, äusserte sich aber nicht öffentlich dazu. 1526 stieg er zum Bürgermeister auf. In diesem Amt wechselten sich in St. Gallen drei faktisch auf Lebenszeit gewählte Bürgermeister ab und führten die Regierung jeweils für ein Jahr96. So war Vadian in den konfessionell und machtpolitischen motivierten, mit juristischer Argumentation, politischen Ränken und physischer Gewalt ausgetragenen Auseinandersetzungen mit der Fürstabtei in den Jahren 1529 und 1532 regierender Bürgermeister. Seine wichtigste Leistung als Politiker war die Aushandlung und Stabilisierung des Verhältnisses zwischen der benediktinischen Fürstabtei und der reformierten Reichsstadt nach der Niederlage im Zweiten Kappelerkrieg97.

DAS «GSATZ DER HISTORY» – VADIANS HUMANISTISCHE GESCHICHTSSCHREIBUNG Die Politik führte Vadian 1529 zur Beschäftigung mit der St. Galler Geschichte. Er ging von der Zeitgeschichte aus und führte einerseits ein politisches Tagebuch, erforschte andererseits die Entwicklung des Verhältnisses von Fürstabtei und Stadt St. Gallen aufgrund der archivalischen und chronikalischen Quellen. Dabei begann er, wie der kodikologische Befund des Autographs ergibt, mit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in der die Fürstabtei erstarkt war, und bearbeitete danach die Geschichte in Etappen rückläufig bis ins Jahr 119998. Er beschrieb den Verlauf der Auseinandersetzungen zwischen Fürstabtei und Stadt als zunehmende Verweltlichung des Klosters und folgte ganz dem reformatorischen Geschichtsnarrativ, das auf dem andauernden Niedergang der Kirche seit dem Investiturstreit und ihrer Reformunfähigkeit aufbaute. Das Werk erhielt später den Titel «Grössere Chronik der Äbte»99. Inhaltlich ist es humanistisch geprägt. Neben dem weiten

Liebe, Stärke und Kindersegen. (J. Stöffler, Almanach nova plurimis annis venturis inservientia, Venetiis, Petrus Liechtenstein, 1507, St. Gallen, Kantonsbibliothek, VadSlg Inc 698, fol. L4v). Für die Deutung des Horoskops danke ich dem Medizinhistoriker Urs Leo Gantenbein, Winterthur. 93 J. Stöffler, Almanach, 1520 (ab P4r: Laetare) bis 1527. 94 R. Gamper, Joachim Vadian, S. 158–185. 95 R. Gamper, « und Vadian. Ihre Begegnung in St. Gallen», Paracelsus, Der Komet im Hochgebirg von 1531, Zürich, Chronos, 2006, S. 117–130, hier S. 123–124. 96 R. Gamper, Joachim Vadian, S. 139, 171, 186–189. 97 Ibidem, S. 200–242. 98 R. Gamper, «Vadians Auswertung der spätmittelalterlichen Chroniken zur Landesgeschichte», Vadian als Geschichtsschreiber, hrsg. v. R. Gamper, St. Gallen, Sabon, 2006, S. 21–41, hier S. 22–23. 99 J. Vadian, «Diarium», Deutsche historische Schriften, hrsg. v. E. Götzinger, Bd. 3, St. Gallen 1879, S. 227–528; J. Vadian, Die Grössere Chronik der Äbte. Abtei und Stadt St. Gallen im Hoch- und Spätmittelalter (1199-1491), hrsg. v. B. Stettler, 2 Bde., Zürich, Chronos [St. Galler Kultur und Geschichte 36] 2010, S. 16–19.

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Horizont des intellektuellen Generalisten als Grundlage für die Auswertung auch fremdartiger Quellen war es vor allem das Bewusstsein, dass sich alle Dinge wandeln100, die mutatio temporum, die er bereits im Melakommentar erläutert hatte. In der Einschätzung der Eidgenossenschaft sind keine Anklänge an Glareans Descriptio erkennbar; die für die eidgenössische Geschichtskonstruktion konstitutiven Innerschweizer Einwanderungssagen wischte Vadian mit der ironischen Bemerkung beiseite: «Von diesen dryen lendern sagend vil irens alter und harkomens halb seltzam sachen»101. Die Chronik, Vadians erstes grosses Werk in deutscher Sprache, war als Orientierungshilfe für die lokale Führungsschicht konzipiert. Der Stil ist geradlinig und schnörkellos. Wenn der poetische Schmuck ganz fehlt, entspricht das der expliziten Distanzierung von den frühen Dichtungen und der Ehrung als poeta laureatus. Vadian tat sie nun als jugendliche Torheit (iuvenilis insania) ab102. Während für Vadian als Geschichtsschreiber die lokale patria zentral war, stand in seiner politischen Agenda als Bürgermeister die Sorge um die Erhaltung der Eidgenossenschaft nach der Niederlage der Reformierten im Zweiten Kappelerkrieg von 1531 weit oben. Nach der erzwungenen Auflösung des reformierten «Christlichen Burgrechts» fiel die Stadt St. Gallen auf den Status des «Zugewandten Ortes» zurück und war von der politischen Mitbestimmung weitgehend ausgeschlossen. Zu den politischen Führern der eidgenössischen Orte hatte Vadian nur wenige briefliche Kontakte. Dank des hohen Ansehens, das er als Politiker und Gelehrter genoss, konnte er aber seine Sichtweise in der Korrespondenz mit Heinrich Bullinger und anderen tonangebenden reformierten Pfarrern in die politische Diskussion einbringen. Die konfessionelle Spaltung zeigte sich auch im Gebrauch des Begriffs Helvetii. In den Briefen meinte Vadian, wie Bernhard Stettler gezeigt hat, ab 1531 gelegentlich mit den Helvetii nicht mehr die Eidgenossen zwischen Bodensee und Genfersee, sondern nur noch die katholischen Innerschweizer103. Das Grundlagenwerk zur Positionierung der Eidgenossenschaft als eigenständige Nation präsentierte Johannes Stumpf 1547/48 mit seinem historischen Monumentalwerk mit dem Titel «Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten, Landen und Völckeren Chronick wirdiger Thaaten Beschreybung». Die deutschsprachige historisch-topographische Landesbeschreibung der Eidgenossenschaft zählt rund 1600 Seiten, ist mit 4000 Holzschnitten opulent ausgestattet und wurde in grosser Auflage gedruckt104. Der Stammheimer Pfarrer verfasste sie in mehrjähriger Arbeit mit Hilfe des Zürcher Antistes Heinrich Bullinger und einiger regional verankerter Mitarbeiter und Zuträger aus der ganzen Eidgenossenschaft. Dieses Modell des Gemeinschaftsunternehmens hatte schon Konrad Celtis propagiert, Johannes Aventin hatte 1532 einen konkreten Plan zur Erarbeitung einer Germania illustrata nach diesem Modell vorgelegt, zu dessen Realisierung er auch Vadian beiziehen wollte, allerdings vergeblich105. Auf Bullingers Anfrage hin war Vadian 1544 zur

100 J. Vadian, Die Grössere Chronik, S. 21–23. 101 Ibidem, S. 191. Die Beurteilung der Innerschweizer Migrationstheorien zeigt, dass Vadian zur Zeit der Niederschrift die Rerum Germanicarum libri tres von Beatus Rhenanus von 1531 bereits gelesen hatte. B. Stettler, Überleben in schwieriger Zeit. Die 1530er und 1540er Jahre im Spiegel von Vadians Korrespondenz, Zürich, Chronos, 2014, S. 22–23, Anm. 46. 102 J. Rütiner, Diarium, Bd. 1, Nr. 344 aus dem Jahr 1532. 1537 empfahl Vadian dem St. Galler Schulmeister, er solle kirchliche, nicht heidnische Dichter lesen, «damit er nicht die Jugend mit jener Leichtfertigkeit erfülle», die der heidnischen Literatur eigen sei. R. Gamper, U. L. Gantenbein, F. Jehle, Johannes Kessler, S. 31–32. 103 B. Stettler, Überleben, S. 23, 86, 94 und 97. 104 U. B. Leu, «Reformation als Auftrag. Der Zürcher Drucker Christoph Froschauer d. Ä. (ca. 1490-1564)», Buchdruck und Reformation in der Schweiz, Zürich, TVZ [Zwingliana 45], 2018, S. 1-80, hier S. 37–45. 105 A. Schmid, Johannes Aventinus (1477-1534). Werdegang – Werke – Wirkung. Eine Biographie, Regensburg, Schnell & Steiner, 2019, S. 105–106. Noch 1574 wünschte sich der Zürcher Josias Simler, als er seinen späteren Besteller De republica Helvetiorum libri duo vorbereitete, Vadian hätte eine eidgenössische Geschichte in lateinischer Sprache verfasst: Utinam vero illi viro libuisset res Helvetiorum Latinis literis illustrare; nemo magis instructus omnibus rebus ad tantum

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Mitarbeit an Stumpfs Projekt bereit, wurde zum wichtigsten Beiträger und verfasste die Teile über die Ostschweiz, die in redigierter und gekürzter Form gedruckt wurden. Während Glarean 1514 in seiner Descriptio Helvetien als Land der vier Flüsse Thur, Limmat, Reuss und Aare darstellte106, bildeten für Stumpf die Alpen das Zentrum, um das «die uralten Helvetier, Lepontier, Rhetier, Wallisser und Rauracer» angesiedelt waren107. Der geographische Rahmen für die helvetisch-eidgenössische Geschichte war, seit die Berner 1536 die Waadt erobert hatten, grösser und reichte vom Genfersee bis zum Bodensee. Helvetien erreichte damit wieder die gleiche Ausdehnung wie zur Zeit Julius Caesars, was der Vorstellung einer helvetischen Kontinuität von der Antike bis zur Gegenwart Auftrieb gab108. Stumpf beschrieb den inzwischen bekannten helvetischen Nationalcharakter, in dem sich militärische Stärke mit Selbstbeschränkung, Fleiss und Genügsamkeit verband109, betonte immer wieder die ungebrochene Kontinuität, auch im Gebrauch der deutschen Sprache110, indem er ausdrücklich auf Übereinstimmungen von einst und jetzt hinwies. Er konstruierte damit eine weit in die Zeit der römischen Republik zurückreichende, alle umlaufenden Geschichtserzählungen integrierende Ruhmesgeschichte, die den Helvetiern einen ehrenvollen Platz im humanistischen Nationendiskurs verschaffte und half, die konfessionellen Gegensätze im Innern zu überbrücken111. Die historiographische Konzeption widersprach Vadians Verständnis der Eidgenossenschaft und der helvetischen Frühgeschichte. Er lehnte, gestützt auf Beatus Rhenanus, die Annahme einer ungebrochenen Kontinuität seit 1534 ab: Gentem ipsam Helvetiorum penitus interiisse creditur112. Vom einst mächtigen römischen Reich sei «hütigs tags» nur noch der Name und die Erinnerung vorhanden113. Noch stärker als früher betonte er den Wandel, häufig ausgedrückt in der Gegenüberstellung von «einst» und «jetzt»114. Die geschichtliche Entwicklung zeige den Aufstieg, den Niedergang und das Verschwinden von Völkern und Reichen115. So seien die Eidgenossen keine Helvetier, sondern Nachfahren der über den Rhein eingewanderten Alemannen116. Gegen Glarean und Stumpf vertrat er die opus necessariis id suscipere potuisset et melius pręstare. Brief an Josua Kessler vom 21. Dezember 1574, Kantonsbibliothek St. Gallen, VadSlg Ms 39:68. Für den Hinweis auf den Brief danke ich Clemens Müller, St. Gallen. 106 Zur Parallele mit den vier Paradiesströmen: M. Wehrli, «Der Schweizer Humanismus», S. 135. 107 J. Stumpf, Gemeiner loblicher Eydgnoschafft Stetten, Landen und Völckeren Chronick wirdiger thaaten beschreybung, Zürich, Froschauer, 1548, Bd. 1, fol. *ij. 108 Ibidem, Bd. 1, fol. 259r–332r. Mit der Kontinuitätsthese liess sich auch die oft wiederholte Anklage, die Eidgenossenschaft sei durch Rebellion gegen das Haus Habsburg entstanden, mit dem Verweis auf die althergebrachte Freiheit aus der Zeit, als noch kein Adel bestand, entkräften. Th. Maissen, «Weshalb die Eidgenossen», S. 237. 109 Ibidem, Bd. 1, fol. 264r–265v und 284v. 110 Ibidem, Bd. 1, fol. 276r. 111 H. Müller, Der Geschichtschreiber Johann Stumpf. Eine Untersuchung über sein Weltbild, Rapperswil, Meyer, 1945, S. 43–49 und 117–134. 112 J. Vadian, Epitome trium terrae partium, Zürich, Froschauer, 1534, Folioausgabe S. 14; B. Rhenanus, Rerum Germanicarum libri tres (1531). Ausgabe, Übersetzung, Studien, hrsg. v. F. Mundt, Tübingen, Niemeyer, 2008, S. 158–163; Vadian besass ein Exemplar des Werks von Rhenanus, es ist nicht erhalten, V. Schenker-Frei, Bibliotheca Vadiani, Nr. 438; Th. Maissen, «Weshalb die Eidgenossen», S. 239–240; C. Hirschi, Wettkampf, S. 453–457. 113 J. Vadian, «Fragment einer römischen Kaisergeschichte, Geschichte der fränkischen Könige», in: J. v. Watt (Vadian), Deutsche Historische Schriften, Bd. 3, hrsg. v. E. Götzinger, St. Gallen, Zollikofer, 1879, S. 1–164, hier S. 2. 114 Häufig in eingeschobenen Nebensätzen, die das Ergebnis des Wandels anzeigen, z. B. «dieser zit aber …», oder «die jetzt …», auch in der Gegenüberstellung von «dozumal – nachgender zit», ibidem, S. 5, 6, 25–27 u. ö. 115 Ibidem, S. 1-2, 50–51, 163 und 119: «[Gott] endert und welzet die regierungen aller völker nach sinem willen und gefallen». 116 Ibidem, S. 6 und 50.

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Auffassung, die Helvetier hätten lateinisch gesprochen; die deutsche Sprache habe sich erst mit den Alemannen über den Rhein nach Süden verbreitet117. In seinen St. Galler Chroniken bildete die «tütsche nation» bzw. «teutsche nation» zusammen mit Fürstabtei und Stadt St. Gallen das Rückgrat der Erzählung118. Vadian selbst rechnete sich der deutschen Nation zu119. Eine helvetische Nation kannte er nicht120, was ihn nicht hinderte, die Eidgenossen seiner Zeit weiterhin Helvetii zu nennen und die Eidgenossenschaft als politischen Rahmen des Zusammenlebens hartnäckig zu verteidigen. In Stumpfs Chronik beteiligte er sich denn auch nur als Zuträger von Informationen an der Darstellung der helvetischen Geschichte. In der eigenen Geschichtsforschung beschritt er neue Wege. Vadians wichtigste Beiträge zur grossen Chronik Stumpfs entstanden in den Jahren 1544 bis 1546 und betrafen die alte Landschaft Thurgau mit dem Zentrum St. Gallen; sie wurden später «Kleinere Chronik der Äbte» genannt. Die Grundlage für das Frühmittelalter bildeten einzigartige Quellen, die ihm 1531 die Hände gefallen waren, als das Klosterareal von der Stadt besetzt war: die frühmittelalterlichen Privaturkunden des Klosters St. Gallen. Vadian bewahrte sie im eigenen Hause auf. Diese reichhaltigen Quellen ermöglichten ihm einen völlig neuartigen Zugang zur Welt des Frühmittelalters. Er analysierte von 1537 bis 1539 die Besitzentwicklung des Klosters in der frühmittelalterlichen Gesellschaft. Das Thema war völlig neu, für die Darstellung gab es keine Vorbilder121. Vadian erforschte nicht nur die finanziellen Ressourcen und ihre rechtlichen Grundlagen sowie Elemente der Sachkultur des Klosters, sondern auch die frühmittelalterliche deutsche Sprache, das Althochdeutsch – eine philologische Pionierleistung122. Der Druck des Werks mit dem Titel Farrago de collegiis et monasteriis Germaniae war geplant123, dürfte aber daran gescheitert sein, dass Vadian die Grundlage seines Geschichtswerks, die St. Galler Urkunden, illegal verwahrte, denn sie hätten laut Friedensvertrag dem Kloster restituiert werden müssen. Die Publikation hätte diesen Sachverhalt unweigerlich öffentlich gemacht124. So blieb das innovativste

117 Ibidem, S. 6, 27, 51, 161–163; E. G. Rüsch, «Vadians Schriften über die Stadt St. Gallen und über den oberen Bodensee», Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees und seiner Umgebung, 117, 1999, S. 99–155, hier S. 128. B. Hertenstein, Joachim von Watt (Vadianus), Bartholomäus Schobinger, Melchior Goldast. Die Beschäftigung mit dem Althochdeutschen von St. Gallen in Humanismus und Frühbarock, Berlin, New York, W. de Gruyter [Das Althochdeutsche von St. Gallen 3], 1975, S. 42–48. 118 Die dialektale Form «tütsche nation» gebrauchte Vadian in der «Grösseren Chronik», die sich an eine lokale Leserschaft wandte, die Form «teutsche nation» in den für Stumpf bestimmten und damit für ein breites, überregionales Publikum verfassten Texten. Selten erscheinen auch die Begriffe «burgundische nation» und «welsche nation», vgl. J. Vadian, Die Grössere Chronik, Glossar, S. 815. Für das Konstanzer und das Basler Konzil verwendte Vadian den Begriff «Nation» den Quellen folgend für die korporativen Vertretungen der europäischen Christenheit. 119 J. Vadian, Die Grössere Chronik, Einleitung von B. Stettler, S. 33, Anm. 136. 120 Nur an einer Stelle, in der Vadian die Innerschweizer Einwanderungstheorien als Phantasieprodukte zurückwies, verwendete er den Begriff Nation, um damit die angeblich eingewanderten Völker zu bezeichnen. J. Vadian, Die Grössere Chronik, S. 191. 121 R. Gamper, Joachim Vadian, S. 268–273; P. Erhart, «... und mit alter briefen urkund (dorin gemischlet) bestäht. Der frühmittelalterliche Urkundenschatz des Klosters St. Gallen in den Händen Vadians», Vadian als Geschichtsschreiber, hrsg. von R. Gamper, St. Gallen, Sabon, 2006, S. 69–99. 122 B. Hertenstein, Joachim von Watt, S. 53–86. 123 Zwei Briefe des Zürcher Buchdruckers Christoph Froschauer an Vadian vom 20. und 30. April 1540, Vadianische Briefsammlung, Bd. 5, hrsg. v. E. Arbenz und H. Wartmann, St. Gallen [Mitteilungen zur Vaterländischen Geschichte 29], 1903, S. 619–620 Nr. 1111 und 1112. 124 Die Auswertung der frühmittelalterlichen Urkunden verursachte später Johannes Stumpf einige Unannehmlichkeiten. Dazu: Ch. Sieber, «Begegnungen auf Distanz – Tschudi und Vadian», Aegidius Tschudi und seine Zeit, hrsg. v. K. Koller-Weiss und Ch. Sieber, Basel, Krebs, 2002, S. 107–138, hier S. 118–119 und 133 mit Anm. 86.

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humanistische Geschichtswerk, das in der Eidgenossenschaft verfasst wurde, bis 1606 ungedruckt125. Im Briefwechsel mit Bullinger reflektierte Vadian die Grundlagen seiner historischen Forschungen. In Anlehnung an Tacitus, aber ohne ihn zu nennen, erklärte er, er sei mit den Regeln der Geschichtsschreibung vertraut («dann ich das gsatz [Gesetz] der history wol weiß») und habe so geschrieben, dass ihm niemand Hass oder Feindschaft («hass oder ufsatz» für sine ira et studio) vorwerfen könne, er sei allein der Wahrheit verpflichtet126. Wichtig war ihm die Erfassung des Wandels und die Darstellung der Entwicklung der Herrschaftsformen, der Institutionen und ihrer Beziehungen. Die langjährige Erfahrung mit politischer Entscheidungsfindung, gepaart mit einer erstaunlichen Kenntnis der Quellen schärften seinen kritischen Sinn, der ihn zum Vorläufer der Urkundenlehre und der Quellenkritik machte. Die selbstbewusst vorgetragenen Prinzipien historischer Forschung können nicht verdecken, dass Vadian besonders in der Darstellung kirchlicher Verhältnisse stets dem reformierten Geschichtsnarrativ verpflichtet blieb. Die intensive Beschäftigung mit der Landesgeschichte führte Vadian zurück zu seinen humanistischen Wiener Anfängen. Sichtbar ist dies am Porträt, das er um 1545 in Auftrag gab. Der Maler orientierte sich offensichtlich an einem als Holzschnitt leicht zugänglichen Porträt von Celtis und übernahm die Anordnung der vier auf dem Schnitt beschrifteten Bücher, auf denen die Hand des Gelehrten lag127. Inhaltlich realisierte Vadian mit der «Kleineren Chronik der Äbte», besonders in den abschliessenden Kapiteln über die Stadt St. Gallen und über den Bodensee, eine historisch-topographische Beschreibung, wie sie Celtis propagiert hatte, verwendete aber anstelle der lateinischen Gelehrtensprache deutsche Prosa, wie es die enzyklopädische, an ein breites Publikum gerichtete nationale Selbstdarstellung der Eidgenossenschaft verlangte.128 Vadian legte grossen Wert darauf, dass sein Name im Druck der Chronik Johannes Stumpfs nicht genannt wurde. Man weiss nicht, ob dabei die Gefahr, als Besitzer der frühmittelalterlichen St. Galler Urkunden erkannt zu werden oder die inhaltlichen Differenzen im Nationalitätendiskurs ausschlaggebend waren. Für den kleinen Kreis der städtischen St. Galler Führungsschicht liess er 1549 eine repräsentative Reinschrift herstellen, die seinen Text über die Fürstabtei und Stadt St. Gallen in ganzer Länge und im originalen Wortlaut enthielt und mit ganzseitigen Illustrationen ausgestattet wurde, die wie das Porträt auf Holzschnitten als Grund- und Vorlage basierten129. Es wurde zum Hauptwerk Vadians und galt während mehr als 250 Jahren als massgebende Darstellung der St. Galler Geschichte. In der Illustration auf dem Titelblatt der Chronik erinnerte Vadian unmissverständlich an sein Wirken in Wien, indem er sich als bekränzter poeta laureatus ins Bild setzen liess, das Werk mit deutschen Versen einleitete und damit einen Bogen spannte von den Dichtungen seiner

125 J. Vadian, «Farrago de collegiis et monasteriis Germaniae», Alamannicarum rerum scriptores aliquot vetusti, Teil 3, hrsg. v. M. Goldast, Frankurt, Richter, 1606, S. ††4r–111. 126 Vadianische Briefsammlung, Bd. 6, hrsg. v. E. Arbenz und H. Wartmann, St. Gallen [Mitteilungen zur Vaterländischen Geschichte 30] 1908, S. 414–416, Nr. 1395, Übersetzung: J. Vadian, Ausgewählte Briefe, S. 82– 85, Nr. XXI. Vadian besass eine Werkausgabe von Tacitus, das Exemplar ist nicht mehr vorhanden, V. Schenker-Frei, Bibliotheca Vadiani, Nr. 450. 127 R. Gamper, Joachim Vadian, S. 257–259. 128 E. G. Rüsch, «Vadians Schriften», S. 99–155. Zu Vadians Beziehung zum Projekt der Germania illustrata von Celtis: E. Klecker, «Politik, Wissenstransfer und humanistische Selbstdarstellung. Der Wiener Kongress Von 1515 im Pomponius Mela-Kommentar des Joachim Vadianus (Wien: Singriener 1518)», Das Wiener Fürstentreffen von 1515, hrsg. v. B. Dybaś und I. Tringli, Budapest, Research Center for the Humanities, Hungarian Academy of Sciences, 2019, S. 439–464, hier S. 458–464. 129 R. Gamper, «Repräsentative Chronikreinschriften in der Reformationszeit», Aegidius Tschudi und seine Zeit, hrsg. v. K. Koller-Weiss und Ch. Sieber, Basel, Krebs, 2002, S. 269-286, hier S. 281–283.

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Wiener Humanistenzeit zur St. Galler Stadtgeschichte, seinem letzten Werk, das er seiner Vaterstadt als Vermächtnis hinterliess130.

ZUSAMMENFASSUNG Vadian gehörte der ersten Generation der Schweizer Humanisten an, die in den 1510er Jahren die Helvetier der Antike mit der spätmittelalterlichen eidgenössischen Geschichte verbanden. Zu Beginn seiner Karriere stellte er sich als Wiener Humanist und poeta laureatus ganz in den Dienst der Publizistik Kaiser Maximilians I. Unter dem Eindruck der eidgenössischen Siege in den Mailänderkriegen profilierte er sich als Eidgenosse (Ioachimus Vadianus Helvetius) und setzte sich zum Ziel, die neulateinische Dichtkunst im eidgenössischen Vaterland einzupflanzen. Bei der Rückkehr nach St. Gallen stand vorerst die Heimatstadt, die patria, im Vordergrund. Die Vernetzung mit den Humanisten in der Eidgenossenschaft führte ihn zur Beteiligung an der Aufwertung der Eidgenossenschaft zur helvetischen Nation. Nach der durch die Reformation und die Übernahme politischer Ämter erzwungenen Neuorientierung klärte Vadian in der «Grösseren Chronik der Äbte» das Verhältnis von Stadt und Fürstabtei in seiner historischen Entwicklung. Später arbeitete er an der nationalen Selbstdarstellung der Eidgenossenschaft in der Chronik von Johannes Stumpf als regionaler Zuträger mit; seine Aufarbeitung der Quellen wurde übernommen, nicht aber seine auf der mutatio temporum aufbauende Auffassung der helvetischen Nationalgeschichte. So stellte er der Chronik Stumpfs in der repräsentativen Reinschrift der St. Galler Chronik eine städtische Selbstdarstellung zur Seite, in der er an seine Anfänge in Wien anknüpfte und die seither gewonnenen Erkenntnisse verarbeitete. Diese «Kleinere Chronik der Äbte» zählt im deutschsprachigen Raum zu den bedeutenden humanistischen Geschichtswerken der Zeit.

130 R. Gamper, Joachim Vadian, S. 304–307.

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