Von ästhetischer Praxis und professionellem Pragmatismus

Sandra Czerwonka

Vor Weihnachten wurde ich gebeten, ein paar Worte anlässlich der Diplomverleihung zu sprechen und, das war die notwendige Bedingung, aus der bösen weiten Welt zu berichten. Ich wohne seit einem knappen Jahr in .

Die böse Welt da draußen ist selbstverständlich nicht nur dort zu finden, sondern auch in Düsseldorf, und Bergisch-Gladbach, nur an einem einzigen mir bekannten Ort wird sie von einem immateriellen Schutzschild ferngehalten – hier in .

Nicht, dass hier alles einfach oder gar schön wäre – jeder, der hier hingezogen ist, weiß, dass Andreasturm, Radweg zur Domäne und Fachwerkfassaden massive Täuschungsmanöver sind um der Härte des Hildesheimer Alltags eine Idylle entgegenzusetzen, die man zwar selbst in ihrer Vordergründigkeit auf den ersten Blick durchschaut, wovon man aber, und das ist das Perfide, niemals Eltern überzeugen kann, die das Knochenhaueramtshaus zuzüglich der komplett abgelaufenen Rosenroute auf penetrante Art und Weise schön finden müssen.

Trotzdem denke ich, kaum ein halbes Jahr nach der letzten Prüfung: die Hildesheimer Studenten haben es gut – mit dem Andreasturm, dem Radweg zur Domäne und einer wunderbaren Studienzeit.

Die Tage und Nächte, die im Hörsaal, in der Bibliothek, in den Unterkellerungen des Universitätsgebäudes, im Hofcafé und immer wieder auf dem Weg von der Domäne zurück nach Hause verbracht wurden, schweißen zusammen.

Doch das Studium im Fachbereich II konnte auch zu Zeiten der alten Studienordnung ein Kampf sein. Nicht durch besonders strenge Professoren oder harte Anforderungen für den Scheinerwerb, sondern direkt aus dem Kern der Kuwi-Community durch kollektives Zweifeln. Viele beginnen das Studium ohne konkreten Berufswunsch im Gepäck – der kommt bestimmt irgendwann ganz nebenbei von allein - und an Seminare mit Titeln wie Gender is Burning oder Das Loch muss man sich erst mal gewöhnen. Aber dann beginnt es Spaß zu machen. Und auch einen Sinn.

Ich bin Hildesheim dankbar für alles, was ich dort lernen durfte, für großartige Menschen und Inspiration. Für größere und kleinere Projekte, für Scheitern und Erfolge.

Das mit den Erfolgen ist so eine Sache. In Hildesheim macht man sich schnell einen Namen. Durch irgendetwas fällt jede und jeder auf – man gibt sich jedenfalls Mühe – schnell steckt man in Schubladen und irgendwann ist man die- oder derjenige mit dem Hiwi-Job, dem eigenen Projekt, der fertigen Diplomarbeit, dem publizierten Roman oder dem ersten richtigen Job.

Als Berufseinsteiger außerhalb Hildesheims ist es meist vorbei mit dem schnellen Ruhm. Plötzlich steht nicht die Entwicklung einer Persönlichkeit, sondern die Erfüllung eines Auftrags im Vordergrund. In der Kommunikation geht es weniger um den Diskurs als das richtige Wording, der gutgemeinte Rat der Geschäftsführung vor Entscheidungen drei Minuten nachzudenken erscheint wie ein Sabotageakt gegen den Produktivitätsgedanken und eine fertige Diplomarbeit befähigt anscheinend nicht zum eigenständigen Verfassen einer E-Mail. Die Frage ist nicht mehr: Was ist ein Autor? sondern Wer muss wann ins cc gesetzt werden?

Im vertraulichen Gespräch sagte man mir: der Kulturbetrieb ist voller Haie. Im Hildesheimer Planschbecken gab es immerhin ein paar größere Fische.

Die Strukturen und Prozesse eines Kulturunternehmens ziehen einem unbarmherzig die warme Dunstglocke vom Kopf und öffnen den Blick auf ungeahnte Möglichkeiten und Excel- Tabellen voller Kontakte. Die Sinnfrage stellt sich immer seltener, zumal sich akutere Fragen auftun: Was mache ich in einem vollen Besprechungsraum, wenn der Kaffee noch nicht fertig ist?

Aber manchmal, allein im Dienstwagen zwischen und Gladbeck, stellt sie sich doch: Welche meiner in Hildesheim erworbenen Grundsätze lassen sich außerhalb der Dunstglocke zwischen und in Erfolg umwandeln?

Was die böse Welt da draußen für mich manchmal so anders als Hildesheim erscheinen lässt, ist ihre Zweckgerichtetheit. Die im Studium vielgerühmte Praxis hat im „wahren Leben“ manchmal gar nicht vor, ästhetisch zu sein, sondern schlichtweg nützlich. Und der Nutzenbegriff verhält sich zu Hildesheim wie der Kuwi zur Lehramtsstudentin – die zumindest wird später mal gebraucht.

Wandelt sich diese Ansprache nun vom Lob zum Verdammnis der Hildesheimer Kulturwissenschaften? Nein. Aber zu einem Appell:

Auch nach dem Befreiungsschlag, den die Abgabe der Diplomarbeit immer bedeutet, lohnt es sich nicht zu vergessen, welchen Luxus es bedeutet, wissenschaftliche oder eben künstlerische Arbeit als kreative und in sich legitime Praxis zu betreiben. Nicht um sich von einer imaginären Masse abzugrenzen, sondern um sich stets vor Augen zu halten, warum man dieses Studium am Ende der Welt begonnen und vor allem zu Ende gebracht hat. Dass man eine Menge weiß über die imaginierte Weiblichkeit und die Feedbackschleife. Dass man gleichzeitig und mit gleicher Aufmerksamkeit das Sat1-Frühstücksfernsehen und Bourdieu rezipieren kann. Dass erfolgreiche Kulturvermittlung bedeutet den Kulturbegriff niemals zu Ende zu definieren.

Wenn die Bilanz aus neun bis unendlich Semestern sich nicht auf Anhieb in der sogenannten Realität anwenden lässt, muss dies noch lange nicht gegen das Studium sprechen - und schon gar nicht gegen uns.

Es sollte eine Ermutigung sein, die böse Welt, die uns freudig erwartet, als Chance zu begreifen, dass es da draußen noch eine Menge zu tun gibt.