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Aufsatz

Jürgen Angelow

Der »Kriegsfall Serbien« als Willenstherapie. Operative Planung, politische Mentalitäten und Visionen vor und zu Beginn des Ersten Weltkrieges

Obwohl die Literatur zu den Ursachen des Ersten Weltkrieges einschließlich der be- reits im Frieden vorbereiteten operativen Eröffnungszüge inzwischen Legion ist1, sind schwerwiegende Defizite der historischen Deutung geblieben. Insbesondere hat der Versuch einer Rekonstruktion des angeblich rationalen militärischen Ent- scheidungshandelns ans Licht gebracht, daß in den militärischen Planungsstäben offenbar viel weniger nach vernunftgemäßen Kriterien entschieden würde als an- genommen. Nun nimmt aber weder die chronologisch-narrative Darstellungsform, jene im angelsächsischen Sprachraum mit den Worten »to tell a true story« be- schriebene Erzählung von Geschichte in ihrer zeitlichen Abfolge, und schon gar nicht der ausschließlich systematisch-analytische Zugriff mit seiner vorherrschen- den strukturgeschichtlichen Betrachtung - der stets rationales, interessengeleite- tes Handeln als Prämisse zugrunde legt - mentale und psychologische Disposi- tionen, mithin irrationale Faktoren ausreichend zur Kenntnis. Indes setzt die Psy- choanalyse längst voraus, daß unter der Oberfläche scheinbar rationaler Bewußt- seinslagen von handelnden Personen oder Eliten unbekannte und unbewußte Motive und Affekte wirken. Und obwohl die Unmöglichkeit einer Übertragung von psychoanalytischen Therapiesituationen auf historische Untersuchungsge- genstände auf der Hand liegt, können tiefenpsychologische Betrachtungen durch- aus zu einer Klärung irrationalen Verhaltens beitragen, wobei fraglich bleibt, wo die Grenze zwischen rationalem und irrationalem Handeln verläuft. So haben neue- re psychohistorische Ansätze Irrationalität dort verortet, wo das Verhalten einer Person den von ihr angegebenen Zwecken widersprach oder nicht mit den gesell- schaftlichen Normen in Einklang gebracht werden konnte2. Das Kriterium für die Erklärung individueller Abweichungen würde demnach in der Erkenntnis des je- weils gültigen gesellschaftlichen Wertesystems liegen. Doch auch gesellschaftliche Normen und Wertesysteme können, wie dagegen zu Recht moniert worden ist, ir- rational im Sinne ihrer Unvereinbarkeit mit idealen ethischen Maßstäben sein3, was

1 Zum Ersten Weltkrieg als Problem der Forschung: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahr- nehmung, Analyse. Im Auftr. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Wolfgang Michalka, München, Zürich 1994, S. 911-1043. Aktuell aus operationsge- schichtlichem Blickwinkel: Hew Strachan, The First World War. Vol. 1: To Arms, Oxford 2001. 2 Gerald Izenberg, Psychohistory and Intellectual History, in: History and Theory, 14 (May 1975), S. 139-155. 3 Allan R. Buss, Critical Notice of Izenberg's >Psychohistory and Intellectual History<, in: History and Theory, 17 (February 1978), S. 94-98, hier: S. 95 f. Zu neueren psychohisto- rischen Ansätzen und Forschungsergebnissen: Ludwig Janus, Psychohistorie. Grup- penphantasien und Krieg, Heidelberg 2000; ders., Psychohistorie - Ansätze und Per- spektiven, Heidelberg 1995.

Militärgeschichtliche Zeitschrift 61 (2002), S. 315-336 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 316 MGZ 61 (2002) Jürgen Angelow

. im vorliegenden Falle wohl zutrifft und daher näher in den Blick genommen wer- den soll. Für die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges jedenfalls waren und sind - gerade aufgrund scheinbar irrationalen Handelns der Machteliten - beachtliche Restun- schärfen der historischen Deutung zu konstatieren, worauf Stig Förster nament- lich anhand der durch »absurde Züge« geprägten Kriegsursachen von 1914 hin- gewiesen hat4. Offenbar ist es notwendig, die methodischen Verfahren zu erweitern und traditionelle Ansätze mit neuen Techniken unbefangener als bisher zu ver- flechten, um differenzierteren Phänomenen wie im vorliegenden Falle gerecht zu werden: das Handeln der politisch Verantwortlichen sowie der militärischen Pla- nungsstäbe in ihrem gesellschaftlichen Umfeld auch dann einigermaßen plausibel zu erklären, wenn es nach rationalen Gesichtspunkten eigentlich nicht mehr zu deuten ist. Unter diesen Voraussetzungen könnte eine kombinierte Analyse von Struktu- ren, Zwängen und rational erklärbaren Motiven einerseits, von individuellen Af- fekten und Visionen, subjektiven Wahrnehmungsmustern und Bildern anderer- seits zu dichteren und überzeugenderen Erklärungszusammenhängen führen. Da- bei soll das operationsgeschichtliche Beispiel des geplanten und geführten Krie- ges Österreich-Ungarns gegen Serbien im Jahre 1914 nicht als Selbstzweck oder lediglich aus der Perspektive der operativ verantwortlichen Führungsinstanzen angeführt werden, sondern als integrativer Bestandteil einer Gesamtgeschichte5, als Paradigma, um zu generellen Aussagen über den Zustand der österreichisch- ungarischen Gesellschaft sowie die mentalen und psychologischen Hintergründe des politisch-militärischen Handelns ihrer militärischen Elite zu gelangen. Im fol- genden Beitrag werden zunächst die militärische Planung und Kriegführung ge- gen Serbien kritisch betrachtet, damit in einem zweiten Schritt auf die hierfür maß- geblichen Motive, kollektiven inneren Dispositionen und Visionen eingegangen werden kann.

I.

Fraglos lassen sowohl die operative Planung der k.u.k. Armee gegen Serbien und ihr Aufmarsch als auch die erste Phase der Kampfhandlungen gegen den Savestaat, die vom August bis Zum Dezember 1914 reichte, eine Reihe merkwürdiger Fehl- leistungen erkennen, die bei näherer Betrachtung eigentlich hätten vermieden wer- den können und weitergehende Fragen über die Ursachen der ihnen zugrundelie- genden Entscheidungen aufwerfen. Offenbar hatte eine manische Fixierung auf Ser- bien die Wiener Operateure so geblendet, daß sie darüber alle Vorsicht vergaßen.

4 Stig Förster, Im Reich des Absurden. Die Ursachen des Ersten Weltkrieges, in: Wie Krie- ge entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten, hrsg. von Bernd Wegner, Paderborn, München Wien, Zürich 2000, S. 211-252. 5 Zum heuristischen Wert und zu den methodischen Voraussetzungen einer Operations- geschichte: Bernd Wegner, Wozu Operationsgeschichte?, in: Was ist Militärgeschichte? Hrsg. von Thomas Kühne und Benjamin Ziemann, Paderborn, München, Wien, Zürich 2000 (= Krieg in der Geschichte, Bd 6), S. 105-113. Der »Kriegsfall Serbien« als Willenstherapie 317

Die Planung des k.u.k. Generalstabes vor 1914 hatte eine Mindestverteidi- gungsmacht in Galizien gegen Rußland in Stärke von 30 Divisionen (»A-Staffel«) und auf dem Balkan gegen Serbien von zehn Divisionen (»Minimalgruppe Bal- kan«) vorgesehen6. Diese Verteidigungsstreitkräfte konnten durch die Zuführung zusätzlicher zwölf Divisionen (»B-Staffel«) und eine grenznahe Dislokation in Of- fensivstreitkräfte umgewandelt werden. Je nachdem, wo der Schwerpunkt gesetzt werden würde, sollten sie entweder zur Vernichtung Serbiens oder für eine macht- volle Offensive gegen Rußland benutzt werden. Die Mobilisierung dieser drei Staf- feln konnte einzeln oder gemeinsam erfolgen, wobei das Problem darin lag, daß bei einer Teilmobilisierung gegen Serbien und der Konzentration sowohl der »Mini- malgruppe-Balkan« als auch der »B-Staffel« gegen Serbien - aufgrund schlechter Eisenbahnverbindungen - keine schnelle Umgruppierung der »B-Staffel« gegen Rußland in Galizien erfolgen konnte, wenn dieses Serbien beistand. Deshalb muß- te im Falle eines Konflikts mit Serbien die russische Position so schnell wie mög- lich geklärt werden, weil sonst die »Α-Staffel« in exponierter Position dem russi- schen Angriff allein ausgesetzt sein würde. Zwar war der österreichisch-ungarische Generalstabschef Franz Freiherr Con- rad von Hötzendorf bemüht, das Problem zu minimieren, indem er den deutschen Verbündeten für eine sofortige Offensive im Osten zu gewinnen suchte, die ihm auch zugesagt wurde; die Vorstellung aber, im Verein mit deutschen Armeen die Offensive gegen Rußland allein mit der »Α-Staffel» zu beginnen, mußte bereits den Zeitgenossen waghalsig erscheinen, da deren Verbände viel zu schwach für An- griffshandlungen waren. Schließlich brachte die Realität des Aufmarsches vom Ju- li und August 1914 dann an den Tag, daß die Erwartung auf eine deutsche Offen- sive getrogen hatte und die österreichisch-ungarische Armee infolgedessen falsch disloziert worden war. Offensichtlich hatte Conrad den gewünschten Feldzug ge- gen Serbien nicht der notwendigen Mittelbereitstellung gegen Rußland opfern wol- len und deshalb gefährliche Defizite in der Aufmarschplanung zugelassen. Frag- los zählte ihm der innenpolitisch erwünschte und für die Haltung Bulgariens, der Türkei und Rumäniens wichtige frühe Sieg über Serbien mehr als die im Notfall er- forderliche Abwehr einer russischen Offensive auf Galizien7. Doch ist dieser gravierende operative Mangel wohl kaum allein durch innen- und außenpolitische Rücksichten zu erklären, zumal die meisten aus diesem Pro- blem resultierenden Risiken den militärischen Planern bekannt waren: So hatte ein Kriegsspiel, das die realistische Möglichkeit einer gleichzeitigen Auseinanderset- zung mit Rußland und Serbien bei rumänischer Neutralität sondieren sollte, im Winter 1913/14 an den Tag gebracht, daß aus eisenbahntechnischen Gründen ein Abgehen vom einmal eingeleiteten Balkanaufmarsch zugunsten einer veränder- ten Prioritätensetzung gegen Rußland überhaupt nicht möglich war8. Diesem ernüchternden Ergebnis wurde von Seiten des Operationsbureaus bei seinem Neu- entwurf des Aufmarsches gegen Rußland vom 9. März 1914 insofern Rechnung

6 Vgl. Jürgen Angelow, Kalkül und Prestige. Der Zweibünd am Vorabend des Ersten Welt- krieges, Köln, Weimar, Wien 2000, S. 393-395. 7 Zum Motiv der inneren Herrschaftsstabilisierung durch Abwendung der latenten Legi- timationskrise in Österreich-Ungarn sowie zu den außenpolitischen Erfordernissen an- gesichts der Haltung weiterer Balkanstaaten (Bulgarien, Türkei, Rumänien): Angelow, Kal- kül und Prestige (wie Anm. 6), insb. S. 297 f., 305 und 400 f. 8 Rudolf Jeräbek, Potiorek. General im Schatten von , , Wien, Köln 1991, S. 102. 318 MGZ 61 (2002) Jürgen Angelow getragen, als daß es nunmehr von einer deutlichen Beschleunigung des russischen Aufmarsches sowie von der Versammlung der gegnerischen Kräfte viel weiter westlich, als bisher angenommen, ausging. Als Hauptziel der Russen vermutete man richtig die von den Franzosen gewünschte »möglichst baldige Anfassung Deutschlands«9. Ungeachtet dessen ließ man zu Beginn des Krieges - wider besseren Wissens - alle Vorsicht fallen. Noch am 25. Juli 1914 um 21.23 Uhr - also wenige Stunden nach dem völlig überhasteten und unnötigen Abbruch der diplomatischen Bezie- hungen zu Serbien10 - setzte Conrad einen modifizierten Plan »B« in Kraft, der die Mobilmachung und Konzentration der »Minimalgruppe Balkan« sowie der varia- blen »B-Staffel« gegen Serbien und gleichzeitig den Einsatz der geringen Verteidi- gungskräfte der »Α-Staffel« gegen Rußland vorsah, wobei allerdings die »Mini- malgruppe Balkan« durch ein Armeekorps der »B-Staffel« verstärkt wurde11. Of- fenbar genoß die sofortige Niederwerfung Serbiens Priorität, obwohl der Ausbruch eines Krieges mit Rußland zu diesem Zeitpunkt bereits als nahezu sicher gelten konnte. Unter dem Eindruck der erregten Telegramme des deutschen General- stabschefs Helmut von Moltke d.J. vom 30. Juli, in denen Berlin die optimistische Erwartung, Österreich-Ungarn würde mit Serbien »schnell fertig« werden, korri- gierte und auf eine sofortige Schwerpunktsetzung der k.u.k. Armee gegen das viel gefährlichere Rußland bestand, versuchte Conrad noch in der Nacht vom 31. Juli zum 1. August die Bewegungen gegen Serbien in Richtung Rußland umzulenken, allerdings halbherzig, wie sich später herausstellte, und immer noch mit dem Ziel einer schnellen Niederwerfung Serbiens. Möglich wurde der Transport der varia- blen »B-Staffel« nach Galizien ohnehin erst zu einem Zeitpunkt, wenn diese ihre Bestimmungsorte an der Donaugrenze erreicht haben würde. Im Ergebnis dieser Befehle und Gegenbefehle beendeten die variablen Kräfte zunächst ihren Balkan- aufmarsch, um danach, allerdings nur teilweise, vom 6. bis 18. August zurück- beordert zu werden12. Daraus folgte die vernichtende Niederlage der - im Ver- trauen auf einen deutschen Entlastungsschlag - offensiv eingestellten »A-Staffel« bei Lemberg im September 1914, während sich Teile der »B-Staffel« noch im An- marsch befanden. Zwar hat Conrad das Resultat der durch ihn ausgelösten Fehl- entscheidung vom 25. Juli später mit »technischen Unvermeidlichkeiten« ent- schuldigt13/ der tiefere Grund für sein Versagen lag jedoch in der von ihm wie auch von anderen Vertretern der k.u.k. Militärelite geteilten irrationalen Fixierung auf Serbien und dadurch falsch gesetzten Schwerpunkten im operativen Aufmarsch.

9 Entwurf des k.u.k. Operationsbureaus Fall »R«, 9. März 1914, in: Österreichisches Staats- archiv, Kriegsarchiv Wien (KA Wien), B/1450,101, unfol. 10 Möglichkeiten, die politische Krise nach der Ermordung des Thronfolgers und seiner Gattin friedlich beizulegen, hat es viele gegeben. Durch das Einlenken Serbiens in schwe- lenden Konflikten, wie der Frage der Nationalisierung der Orientbahnen, hätten diese aus- geräumt werden können, wodurch das Prestige der Habsburgermonarchie gestärkt wor- den wäre. Vgl. Angelow, Kalkül und Prestige (wie Anm. 6), S. 329. 11 Jeräbek, Potiorek (wie Anm. 8), S. 107 f. 12 Norman Stone, Moltke - Conrad. Relations between the Austro-Hungarian and the Ger- man General Staffs, in: The Historical Journal, 9 (1966), S. 239-241. 13 Zwei Anweisungen Conrads von 1908/09 zum raschen Übergang von der serbischen zur russischen Aufmarschvariante waren offenbar vom Eisenbahnbüro des k.u.k. Ge- neralstabs nicht ausgeführt worden. Diether Degreif, Operative Planungen des k.u.k. Generalstabes für einen Krieg in der Zeit vor 1914 (1880-1914), Diss. Mainz 1983, S. 268 f. Der »Kriegsfall Serbien« als Willenstherapie 319

Die Historiographie hat denn auch diesem Umstand Beachtung geschenkt und bei der Beurteilung des österreichisch-ungarischen Aufmarsches keine falsche Zurückhaltung an den Tag gelegt. In diesem Sinne - aber nicht ganz zutreffend, wie noch gezeigt wird - hat bereits Winston Churchill im Jahre 1931 die falschen Prioritätensetzungen des österreichisch-ungarischen Aufmarsches sarkastisch mit den Worten kommentiert, daß die »B-Staffel« - den Oberkom- mandierenden der Balkanfront - verließ, bevor sie mit ihm einen Sieg gegen die Ser- ben erringen konnte, und rechtzeitig zu Conrad zurückkehrte, um an seiner Nie- derlage teilzuhaben14. Der österreichische Historiker Fritz Fellxier dagegen beharrt zu Recht darauf, daß noch nie ein Krieg dilettantischer vom Zaun gebrochen wor- den sei als der Krieg gegen Serbien im Juli 191415. Auch Günther Kronenbitter schließlich konstatiert bei seinem Versuch einer Enträtselung der Motive Öster- reich-Ungarns im Juli 1914 Vernunftwidrigkeit und einen rational schwer nach- vollziehbaren Rest radikaler Entschlossenheit, Serbien niederzuwerfen, ohne frei- lich eine schlüssige Antwort für dieses Phänomen parat zu haben16. Doch die Kette der Fehlleistungen sollte auch nach dem mißlungenen Auf- marsch nicht abreißen: Obwohl die k.u.k. Armee am 25. Juli gegen Serbien mobil gemacht worden war und Kaiser Franz Joseph I. weitere zwei Tage später, am 27. Juli nach vereinzelten Schüssen vom serbischen Donauufer, die zum »Gefecht von Temes Kubin« hochgespielt worden waren, die offizielle Kriegserklärung un- terzeichnet hatte, die am folgenden Tag um 11 Uhr veröffentlicht wurde, fanden Kampfhandlungen zunächst nicht statt. Sieht man einmal von der militärisch nicht weiter ins Gewicht fallenden Beschießung Belgrads durch die österreichisch-un- garische Donauflottille ab, ließ sich Wien nach der Kriegserklärung sehr viel Zeit, die von seinen Führungseliten offensichtlich lange gewünschte Abrechnung mit Serbien nun wirklich ernst werden zu lassen. Während der Aufmarsch in Bosnien langsam beendet und zwischen dem Balkanbefehlshaber Feldzeugmeister Oskar Potiorek und dem ihm übergeordneten Armeeoberkommando erbittert um die Frage Defensive oder Offensive gestritten wurde, sollten mehr als zwei Wochen vergehen, bis am 12. August erste Verbände des achten Armeekorps, ohne zunächst wesentlichen Widerstand zu finden, serbischen Boden betraten. Erst recht können die sich nun anschließenden Operationen kaum mehr als durch rationale Sachüberlegungen gelenkt angesehen werden. Offensichtlich suchte der Befehlshaber der Balkanfront nicht der eisernen Mathematik des Krieges zu ge- horchen, sondern einer anderen Methode, die auf fixen Ideen und einer sträflichen Unterschätzung des Gegners basierte. Und das, obwohl Potiorek, der unter Gene- ralstabschef Friedrich Graf Beck-Rzikowsky als der »starke Mann« im k.u.k. Gene- ralstab für die Aufmarschplanung verantwortlich war, als militärisches Genie galt17, die Gefährlichkeit Serbiens im Generalstab hinlänglich bekannt war und dem öster-

14 Winston Churchill, The Unknown War, New York 1931, zit. nach Stone, Moltke - Con- rad (wie Anm. 12), S. 242. 15 Fritz Fellner, Die »Mission Hoyos«, in: Ders., Vom Dreibund zum Völkerbund. Studien zur Geschichte der internationalen Beziehungen 1882-1919, hrsg. von Heidrun Maschl und Brigitte Mazohl-Wallnig, München 1994, S. 112-141, hier: S. 131. 16 Günther Kronenbitter, »Nur los lassen«. Österreich-Ungarns Wille zum Krieg, in: Lange und kurze Wege in den Ersten Weltkrieg, hrsg. von Johannes Burkhardt, München 1996, S. 159-187, hier: S. 161 und 175. 17 Theodor Ritter von Zeynek, Das Leben eines österreichisch-ungarischen Generalstabs- offiziers, ms-schriftl., Wien 1940, in: KA Wien, B/151, Nr. 2,'S. 42. 320 MGZ 61 (2002) Jürgen Angelow

reichisch-ungarische bereits während des ersten Balkankrieges zur Kenntnis gegeben worden war, daß man »mit der serbischen Armee, die in diesem Feldzug viele Erfahrungen gesammelt [hatte], und nicht nur moralisch, sondern auch durch die neu erworbenen Gebiete numerisch und durch zahlreiche erbeute- te Waffen und Munition materiell gestärkt [worden war], in Zukunft ernstlich [wer- de] rechnen müssen«18. In seinem Bericht vom 9. Dezember 1912 hatte der k.u.k. Militärattache in Belgrad, Major Gellinek, sogar viele Einzelheiten aufgeführt, die dieses Fazit untermauerten und Potiorek bekannt sein mußten: So hätte bereits der Verlauf der Mobilmachung bewiesen, »daß Serbien imstande sei, in kurzer Zeit gut ausgerüstete und disziplinierte Truppen zu formieren«. Auch der serbische Gene- ralstab habe sich seiner Aufgabe gewachsen gezeigt und die Armee im Felde der- art organisiert, »daß sie selbst bei den schlechten Kommunikations- und Unter- kunftsverhältnissen und zumeist ungünstiger Witterung fähig war, eine wenn auch langsame, so doch nur selten unterbrochene Offensive durchzuführen«19. Gellinek hob in diesem Zusammenhang die Ordnung und Disziplin der serbischen Soldaten hervor, ebenso das gut funktionierende Versorgungs- und Sanitätssystem. Obwohl der serbische Generalstab die Dislokationen der Verbände mit großer Zweck- mäßigkeit vorgenommen habe und die höheren Kommandostäbe stets gut infor- miert gewesen seien, habe die Gefechtsführung bis in den taktischen Bereich hin- ein jedoch Schwächen erkennen lassen. In besonderer Weise hob Gellinek aber die hohe Moral der serbischen Soldaten hervor, die sich motiviert durch den extremen Patriotismus der jungen Offiziere »brav« geschlagen und große Widerstandsfähig- keit gegen Strapazen, Entbehrungen und die schlechte Witterung bewiesen hätten20. Zunächst hatte Potiorek viel Zeit verloren und den Abschluß des Aufmarsches in Bosnien-Herzegowina abgewartet, bevor er sich dazu entschloß, die Offensive ge- gen die zahlenmäßig überlegene serbische Armee zu beginnen. Er verfügte über die zur »Minimalgruppe Balkan« gehörende 5. und ihm direkt unterstellte 6. Armee so- wie über die 2. Armee, die eigentlich als »B-Staffel« zum Abtransport nach Galizien bereitgehalten werden sollte. Conrad hatte jedoch am 1. August bestimmt, daß die Transporte der teilweisen Mobilmachung gegen Serbien Vorrang gegenüber jenen der allgemeinen Mobilisierung behalten sollten, wodurch vorerst alle drei Armeen am Balkan aufmarschieren konnten. Angesichts der wachsenden Bedrohung infol- ge des russischein Aufmarsches korrigierte das Armeeoberkommando jedoch bald seine strategische Schwerpunktsetzung und faßte am 4. August den Entschluß, den Balkan nunmehr als Nebenkriegsschauplatz zu betrachten21. Diese verspätete Ent- scheidimg aber wurde sofort relativiert, denn gleichzeitig schwächte man die für Ga- lizien vorgesehene 2. Armee um etwa zwei Divisionen und starke Artilleriekräfte, die an der Donau verbleiben sollten. Weitere zwei Tage später erst folgte die Ankün- digung des Armeeoberkommandos, die nach Galizien bestimmten Verbände der 2. Armee abzuziehen. Offensichtlich wollte es der Entscheidung Potioreks, mit den Serben Tabula rasa zu machen, nicht im Wege stehen. Unter diesen Voraussetzun- gen begann letzterer am 12. August unter Einschluß von großen Teilen der 2. Armee seine Offensive gegen die serbische Armee unter Stabschef General Radimir Putnik.

18 Bericht des k.u.k. Militärattaches in Belgrad, Major Gellinek, an das Evidenzbureau des k.u.k. Generalstabs, 9.12.1912, in: KA Wien, B/1450,92, S. 1-6, hier: S. 6. 19 Ebd., S. 1. 20 Ebd., S. 2-6. 21 Jeräbek, Potiorek (wie Anm. 8), S. 109 f. Der »Kriegsfall Serbien« als Willenstherapie 321

Die Serben zeigten sich jedoch nicht nur zahlenmäßig, sondern auch taktisch und artilleristisch überlegen. Sie vereitelten vorderhand den Plan Potioreks, ihr Gros durch die 2. und 5. Armee zu binden und mit der 6. Armee einen schnellen und ver- nichtenden Flankenstoß auszuführen. Durch die von Conrad stillschweigend ak- zeptierte Einbeziehung großer Teile der 2. Armee in die Kämpfe war es Potiorek ge- lungen, den Abmarsch der restlichen »B-StaJffel« weiter, und zwar bis zum 24. Au- gust, zu verzögern. Erst zu diesem Termin, als der Kulminationspunkt der Kämp- fe bereits überschritten war, befahl Conrad den endgültigen Abmarsch des 4. Korps der 2. Armee. Sechs Tage zuvor hatte sich die 5. Armee durch wenig massiert vor- genommene Frontalangriffe gegen feste Stellungen derartig abgenutzt, daß sie die Offensive einstellen mußte und sich ab dem 18. August zurückzuziehen begann. Die für den Flankenstoß vorgesehene 6. Armee dagegen hatte beinahe untätig bei- seite gestanden, um sich für die von Potiorek geplante entscheidende operative Bewegung intakt zu halten. Mit derrt Abbruch der Offensive war die heimliche Vorkriegshoffnung, Serbi- en mit einem Schlag »erledigen« zu können, dahin. Damit war eine ungeduldig herbeigesehnte kollektive Erwartung in sich zusammengefallen, die im Lager der Diplomatie, der militärischen Führung und eines Teils der nationalistisch aufge- putschten Öffentlichkeit feste Konturen gewonnen hatte. Der schnelle Erfolg gegen den Savestaat besaß unter den Diplomaten am Ballhausplatz, aber auch unter den neurasthenischen Militärs eine irreale, beinahe mythische Bedeutung, die sich aus Erfahrungen unterschiedlicher Reichweite und eigenen Wunschbildern speiste: Nach dem wirtschaftlichen Durchhalten Serbiens im sogenannten »Schweinekrieg« mit der Donaumonarchie von 1906 bis 1910 war es während der bosnischen An- nexionskrise von 1908/09 sowie der beiden Balkankriege 1912 und 1913, jedesmal zu begrenzten, sehr kostenintensiven und nervenzehrenden Mobilmachungs- maßnahmen der Österreich-ungarischen Armee gekommen, nicht aber zur end- gültigen »Disziplinierung« Serbiens. Aus jeder friedlich beigelegten Krise schien der Savestaat gestärkt hervorgegangen zu sein, was in Wien bitter vermerkt wurde. Alle Bemühungen, die politischen Auswirkungen des Dynastiewechsels vom Ju- ni 1903 zu korrigieren, Belgrad wieder in den eigenen Machtbereich zu ziehen und mit Hilfe verkehrsstruktureller oder wirtschaftlicher Konzessionen an sich zu bin- den, waren erfolglos geblieben oder von Belgrad als »Schikane« zurückgewiesen worden22. Infolge dieser »Unbotmäßigkeit« galt Serbien nicht nur als bedeutendes Hindernis für das österreichisch-ungarische Expansionsbedürfnis in Richtung Sa- loniki, sondern - durch sein Großserbentum - auch als Vorkämpfer des Pansla- wismus, als natürlicher Attraktionspunkt und als Symbol jener südslawischen Ir- redenta, die an die eigene virulente Nationalitätenfrage erinnerte und die Süd- flanke der Monarchie unter Druck geraten ließ. Nach und nach hatten sich gleichermaßen stabile wie bizarre Feindperzeptio- nen aufgebaut, die offensive und defensive Elemente in sich vereinigten und die für möglich gehaltene Regeneration der Donaumonarchie in einem Rachefeldzug anvisierten23. Dies ging mit organologisch-pathologischen Deutungen einher: Hat-"

22 Angelow, Kalkül und Prestige (wie Anm. 6), S. 317-330; Emil Palotäs, Machtpolitik und Wirtschaftsinteressen. Der Balkan und Rußland in der österreichisch-ungarischen Außen- politik 1878-1895, Budapest 1995. 23 Kronenbitter, »Nur los lassen« (wie Anm. 16), S. 165. 322 MGZ 61 (2002) Jürgen Angelow

te Aloys Lexa Graf Aehrenthal im Dezember 1908 noch dem »serbischen Lausbub« eine Lektion erteilen wollen24, war einige Monate später bereits vom »serbischen Geschwür« die Rede, das der Sektionschef im Außenministerium, Karl Freiherr von Macchio, auszuquetschen gedachte, wobei ihm egal war, ob nach innen oder außen25. In der diplomatischen Korrespondenz des Jahres 1913 titulierte man sie als die »serbischen Schweine«26. Im Frühjahr 1914 war es in Wien unstrittig, daß Ser- bien »ausgeschaltet« werden mußte; ob durch Annexion oder auf anderem Wege, blieb zunächst offen. Serbien, so Ottokar Graf Czernin im März 1914, sei der »eu- ropäische Blinddarm«, der operiert werden müsse - nicht um ihn zu verspeisen, sondern um endlich Ruhe zu haben27. Die Militärs haben diese Stereotype nicht nur geteilt, sondern ab 1908 immer wie- der auf eine militärische Lösung hin gedrängt. »Nur los lassen, - das andere be- sorgen wir« - wünschte sich General der Infanterie Michael Edler von Appel, Kom- mandant des XV. Armeekorps in Sarajewo, am 25. Juli, dem Tag der Mobilma- chung28. Mit der Kriegserklärung gegen Serbien wich bei ihnen eine seit Jahren an- gestaute, ungeheure nervliche Anspannung einem äußerst intensiven Gefühl der Erleichterung und Erlösung: »Osterreich«, so triumphierte Oberst Alexander Brosch von Aarenau, der Chef der Tiroler Kaiserjäger, am 29, Juli, habe sich »aus größter Erniedrigung und Schlappheit, aus Indolenz, Leichtsinn und Feigheit [...] zu solch' eiserner Ruhe, Energie und Konsequenz» durchgerungen, »daß man auf einmal auf sein Vaterland und dessen Lenker ganz stolz wird«29! Bevor man sich aller- dings Rußland zuwenden könne, müsse zuerst der »Wurm unten zertreten« wer- den, womit sein Adressat, Edler von Appel, herabsetzend die Serben bezeichnete. »Vor allem«, so letzterer, »müssen wir ihnen den Größenwahn, die Selbstüberhe- bung gründlich abgewöhnen und ihnen den Nimbus in den Augen der Bevölke- rung vernichten - das kann man nur durch schwere und vernichtende Niederla- gen, verbunden mit schweren Verlusten an Mann und Material«30. Nicht nur im Lager der radikalen Nationalisten, hier namentlich im Spektrum der Deutschnationalen, sondern auch unter christlichsozialen und deutschfort- schrittlichen Abgeordneten hatten sich längst stabile antiserbische Feindbilder her- ausgebildet, wie die Parlamentsdebatten während des ersten und zweiten Bal- kankrieges bewiesen31. Aber auch interne Korrespondenzen zwischen Persönlich-

24 Vgl. Aehrenthal gegenüber Berchtold, 29.12.1908, in: Österreichisches Staatsarchiv, Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (HHStA Wien), NL Berchtold, Kt. 1,1. Buch, Bl. 215; Aeh- renthal gegenüber Redlich, 27.3.1909, in: Schicksalsjahre Österreichs, 1908-1919. Das poli- tische Tagebuch Josef Redlichs, bearb. von Fritz Fellner, 2 Bde, Graz, Köln 1953/54 (= Ver- öffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, Bd 39/40), Bd 1, S. 9 f. 25 Gespräch Karl Freiherr von Macchios mit Heinrich Friedjung, 6.2.1909, in: Heinrich Fried- jung, Geschichte in Gesprächen. Aufzeichnungen 1898-1919, hrsg. und eingel. von Franz Adlgasser und Margret Friedrich, 2 Bde, Wien, Köln, Weimar 1997 (= Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, Bd 87), Bd 2, S. 196. 26 Czernin an Berchtold, Winar, 22.10.1913, in: HHStA Wien, NL Berchtold, Kt. 4, Bd 2, Bl. 2. 27 Graf Czernin an Berchtold, Bukarest, 11.3.1914, in: KA Wien, B/1450,101, Bl. 127-131 v. 23 Appel an Brosch, KA Wien, Β 232,11, fol. 79, zit nach Kronenbitter »Nur los lassen« (wie Anm. 16), S. 159. 29 Alexander Brosch von Aarenau an Michael Edler von Appel, (Bozen) 29.7.1914, zit. nach: Angelow, Kalkül und Prestige (wie Anm. 6), S. 464. 30 Appel an Brosch, Sarajewo, 10.8.1914, in: ebd. 31 XLVII. und XLVIII. Session der Delegation des Reichsrates vom 5. bis 22.11.1912 sowie vom 18.11. bis 22.12.1913, in: Stenographische Sitzungsprotokolle der Delegation des Reichsrates, Wien 1913. Der »Kriegsfall Serbien« als Willenstherapie 323

keiten aus dem alldeutschen und deutschnationalen Lager waren angefüllt von antiserbischen Haßtiraden. Insbesondere hatte der Annäherungskurs zwischen reichsdeutschen und österreichischen deutschen Nationalisten zu einer Verstän- digung darüber geführt, daß nur der Weg einer offensiven Außenpolitik und not- falls militärischer Gewaltanwendung den notwendigen inneren Umbau Österreich- Ungarns ermöglichen und die »Grundübel der Zeit« - Demokratie und Parla- mentarismus - wirksam einzudämmen imstande sein würden32. Auch auf wirt- schaftlichem und handelspolitischem Gebiet verschafften sich ab Ende 1912 einflußreiche Imperialisten in Regierungspositionen mehr und mehr Gehör, die der Auffassung waren, eine Vormachtstellung der Habsburgermonarchie auf dem Balkan und im Nahen Osten würde sich notfalls in einem Krieg gegen Serbien und das mit ihm verbündete Montenegro durchsetzen lassen33. Eine Mischung von lange aufgestauten Haßgefühlen und der fatalistischen Uberzeugung, die eigene Bedeutung als Großmacht nur in Auseinandersetzung mit Serbien wahren zu können, hatte den mentalen Hintergrund für den im August 1914 beginnenden Feldzug gebildet. Manisches Vernichtungskalkül und überstei- gerter Tötungswille endlich ließen Potiorek und seine Generale folgerichtig die serbische Armee in Rammbocktaktik anrennen und gleichzeitig einen Rachefeld- zug gegen die serbisch eingestellte Bevölkerung führen. Fliegende Feldgerichte und standrechtliche Erschießungen serbischer Bauern als »Spione« waren an der Tagesordnung34. Offenbar diente diese Art der Kriegführung nicht primär der Er- ringung des Sieges sondern der Uberkompensation jener angestauten, ungeheuren Anspannung in einem rituellen Prozeß des endlich »Abreagieren-Könnens«. Doch vorerst war mit dem Zusammenbruch der 5. Armee die erste Offensive gegen Ser- bien gescheitert. Einen zweiten Anlauf mit geschwächten Kräften hatte Potiorek für den 7. September vorgesehen, wobei er nunmehr, auf sich allein gestellt, nicht mehr an Planungen der Vorkriegszeit gebunden war. Zwar waren die Serben dem Angriff mit dem Übergang über die Save westlich von Belgrad um einen Tag zu- vorgekommen, sie hatten aber ihre Offensive in die Aufmarschräume der k.u.k. Balkanarmee unter großen Verlusten abbrechen müssen. In der sich anschließen- den Gegenoffensive unternahmen die österreichisch-ungarische Truppen wieder Frontalangriffe bis zur Erschöpfung. Aufforderungen, wie diese: »Forcierung der Drina muß solange wiederholt werden, bis sie gelingt« oder »Unbedingt aushar- ren. Dem Feind geht es auch nicht besser, der Zähere wird recht behalten«35 stehen paradigmatisch für eine stereotype Befehlsgebung, die den sinnlosen Tod und die Gefangennahme tausender Soldaten kaltblütig in Kauf nahm, um der fixen Idee willen, daß es nur noch einer letzten kleinen Kraftanstrengung bedürfe, um Serbien zusammenbrechen zu lassen.

32 Vgl. Jürgen Angelow, Alldeutsche, Reichsregierung und Zweibund am Vorabend und zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Zur Ambivalenz von nationalistischer Agitation, au- toritärem Machtstaat und Bündnispolitik, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichi- sche Geschichtsforschung, 106. Bd, Heft 3/4, Wien, München 1998, S. 377-409. 33 Denkschrift des Sektionschefs im k.k. Handelsministerium Richard Riedl, November 1912, in: HHStA Wien, NL Joseph Maria Baernreither, Schachtel 39, Bl. 1-89. Ausführli- che Kommentierung der Riedl-Denkschrift und des imperialistischen Balkanprogramms Österreich-Ungarns: Angelow, Kalkül und Prestige (wie Anm. 6), S. 307-341. 34 Jeräbek, Potiorek (wie Anm. 8), S. 129 und 171. 35 Zit. nach ebd., S. 145 und 149. 324 MGZ 61 (2002) Jürgen Angelow

Das Resultat ist bekannt: Ende September hatten die k.u.k. Truppen auf dem Balkan ihre Offensivkraft eingebüßt. Doch wieder und wieder verwandte sie Po- tiorek für begrenzte Angriffe, wobei der frisch eingetroffene Ersatz ohne die Mög- lichkeit, Erfahrungen zu gewinnen, massenhaft hingeopfert wurde. Zwar gelan- gen noch immer taktische Erfolge, nicht aber ein entscheidender Durchbruch oder gar eine Umfassung der serbischen Kräfte. Operative Fehler des serbischen Gene- ralstabschefs riefen bei Potiorek höchste Erregung, ein beinahe triebhaftes Verlan- gen hervor, wie seinem Tagebuch zu entnehmen ist36. Wie ein Jäger, der ein weid- wundes Wild unbedingt zur Strecke bringen will, suchte er Anfang November die serbische Armee einzukreisen, der es aber immer wieder gelang, sich einer dro- henden Niederlage durch taktische Rückzüge zu entziehen. Mit blindwütigem Ei- fer setzte Potiorek »seinen Feldzug« trotz ungünstiger Wetter- und Straßenver- hältnisse, einer katastrophalen Versorgungslage und dem sprunghaften Anwach- sen der Krankenstände bis Ende November fort. Als die Serben am 2. Dezember völlig unerwartet Belgrad räumten, nahm der Oberkommandierende auf dem Bal- kan an, daß nunmehr ihre Kampfkraft endgültig gebrochen sei. Es regnete bereits Auszeichnungen. Doch nur einen Tag darauf zwang eine gewaltige serbische Ge- genoffensive die k.u.k. Truppen zum überstürzten Rückzug. Den Truppen »sei die Puste ausgegangen« kommentierte Potiorek am 12. Dezember lapidar und zy- nisch37. Mit seiner Wortwahl brachte er jenes technokratische Verständnis von Men- schen- und Kriegführung beispielhaft zum Ausdruck, das unter den Generalstäblern der Mittelmächte offenbar den Ton angab38. Zehn Tage später mußte er, der ge- schlagene Feldherr, der seit dem Attentat vom 28. Juni 1914 nach nicht unwider- sprochener Ansicht Auffenbergs »nicht mehr als normal angesehen« werden konn- te39, aus dem aktiven Dienst ausscheiden40. Damit schien der »Fall Potiorek« ab- geschlossen. Doch standen sein paradoxes Verhalten, seine Phobien, bizarren Vi- sionen und unangemessenen Affekte nicht voraussetzungslos im Raum. Sie waren vielmehr Ausdruck sozialer Konflikte und zeitbedingter Umstände. Deshalb steht der »Fall Potiorek« symptomatisch für die mentalen Befindlichkeiten der öster- reichisch-ungarischen Machteliten, deren Wertesystem offenbar beträchtlich ins Wanken geraten war.

II.

Zunächst zeichneten für die Niederlage der österreichisch-ungarischen Balkanar- mee mehrere, auf der Hand liegende und bereits durch zahlreiche Untersuchun- gen angesprochene Faktoren verantwortlich. Neben der individuellen Dispositi-

36 Ebd., S. 168. 37 Ebd., S. 189. 38 Ihm sei »der aufs äußerste gespannte Frontbogen gebrochen«, wird Erich Ludendorf in ähnlicher Weise die verlustreiche Niederlage des deutschen Westheeres Anfang Okto- ber 1918 gegenüber Mitarbeitern und Pressevertretern kommentieren. 39 Undatierte Charakteristik Potioreks aus der Feder Moritz von Auffenberg(-Komarows), KA Wien, B/677, Kart 1, Nr. 8, Bl. 148. 40 Jeräbek, Potiorek (wie Anm. 8), S. 200-202. Der »Kriegsfall Serbien« als Willenstherapie 325 on des Kommandierenden, die bereits durch Rudolf Jeräbek thematisiert worden ist41, hier nicht Gegenstand der Untersuchung sein soll, aber interessante Rück- schlüsse für eine Typenbildung der militärischen Elite nach mentalitätsgeschicht- lichen Kriterien ermöglichen könnte, waren da erstens die verfehlte Aufmarsch- planung, die an sich bereits ein tödliches Vabanquespiel darstellte, zweitens die sich während des Aufmarsches wandelnden operativen Prioritäten, drittens der Versuch des Oberkommandierenden auf dem Balkan, Verbände zu reservieren, die dringend in den Abwehrkämpfen gegen die Russen in Galizien benötigt wurden, viertens die unzweckmäßige taktische Vorgehensweise der k.u.k. Truppen und fünftens schließlich das reale Kräfteverhältnis an Menschen und Waffen, das ei- nem Erfolg der militärisch unterlegenen k.u.k. Armee von vornherein unrealistisch erscheinen ließ. Dies alles wurde durch historische Untersuchungen längst ans Licht gebracht42. Doch die tieferen Ursachen für die absurden Planungen sowie für die verbohrte und verhärtete Kriegführung lagen noch in anderen Schichten verborgen, sie hat- ten ihren Ursprung bereits in der Vorkriegszeit. Dabei handelt es sich um Bedeu- tungszusammenhänge, die durchaus nicht dem Raster herkömmlicher struktur- geschichtlicher Betrachtungen zugeordnet werden können und auch in chronolo- gisch-narrativer Darstellung bisher kaum der Erwähnung wert gewesen sind: In den Vordergrund rücken nunmehr spezifische Sozialisationserfahrungen, mittel- und längerfristige Lernprozesse sowie tiefe mentale und psychologische Dispositionen. 1. Als ein wichtiges Element des österreichisch-ungarischen Kriegswillens gegen Serbien kommen zunächst besondere Sozialisationserfahrungen in Betracht43. Im Falle der Donaumonarchie ist namentlich jener Umstand gemeint, wonach die jün- geren Offiziere des k.u.k. Heeres ihren sozialen Aufstieg und ihren Ebenbürtig- keitsanspruch gegenüber den vielfach der »besseren Gesellschaft« angehörenden Offizierkameraden durch kriegerischen Aktionismus zu rechtfertigen suchten. Die- se innere Ambivalenz des k.u.k. Offizierkorps resultierte aus einer sich wandeln- den und zaghaft modernisierenden Gesellschaft, die auch unter den Berufsoffi- zieren zu einer Gleichzeitigkeit von feudal-traditionalen und bürgerlich-moder- nen Prägüngen führte. Folgerichtig standen neben dem persönlichen Treuever- hältnis jedes Offiziers zum Herrscher und der Verinnerlichung längst anachronistisch gewordener, aber gesellschaftliche Exklusivität bewahrender Ri- tuale und Normen auch bedeutende Anpassungsleistungen an die moderne Ge- sellschaft. Dieser Gegensatz, der sich vielfach als Generationenkonflikt von Offi-

41 Rudolf Jeräbek hat in seiner brillanten Potiorek-Biographie das Psychogramm eines »Nar- zißten im Generalsrock« entworfen. Abweisende Kälte, Schroffheit, Zynismus, Ver- schlossenheit und Gefühlsarmut - gepaart mit der unreflektierten und übermäßig ehr- geizigen Erfüllung ihm übertragener Aufgaben hätten das Wesen seines Protagonisten ausgemacht. 42 Vgl. Manfried Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers. Österreich-Ungarn und der Erste Weltkrieg 1914-1918, Graz 1993. Speziell zum Serbienfeldzug: Jeräbek, Potiorek (wie Anm. 8). 43 Sozialisationserfahrungen am Beispiel der deutschen Wehrmacht: Bernhard R. Kroener, Generationserfahrung und Elitenwechsel. Strukturveränderungen im deutschen Offi- zierkorps 1933-1945, in: Eliten in Deutschland und Frankreich im 19. und 20. Jahrhun- dert. Strukturen und Beziehungen, Bd 1. Im Auftr. des Deutsch-Französischen Histori- kerkomitees hrsg. von Rainer Hudemann und George-Henri Sotou, München 1994, S. 219-233. 326 MGZ 61 (2002) Jürgen Angelow zieren »von Stand« und solchen aus einfachen Verhältnissen offenbarte, ließ gleich- zeitig die Bruchlinien der österreichisch-ungarischen Gesellschaft deutlich wer- den, galt doch der Status des k.u.k. Offizierkorps durch die bedenkliche Öffnung nach unten, durch eklatante Bildungsmängel, durch Defizite der häuslichen Er- ziehung und ein rapide abnehmendes Sozialprestige als gefährdet. In einer aus der Feder des Generals der Infanterie Moritz Ritter von Auffen- berg44 aus dem Jahre 1910 datierenden Studie über den »Geist und die innere Ver- fassung der Armee« finden sich einige bemerkenswerte Einsichten über das so- ziale Milieu und den Habitus des Offizierkorps. Wegen der ungünstigen Exi- stenzbedingungen der Offiziere - Istvän Deäk spricht zu Recht von einer schwie- rig zu erklimmenden Beförderungspyramide45 - und dem nachlassenden kriegerischen Geist würde der Offizierberuf in der besseren Gesellschaft nicht mehr als sehr ehrenvoll und erstrebenswert angesehen. Dadurch hätten sich Adel und wohlsituierter Mittelstand vom Berufssoldatentum weit zurückgezogen46. Nach ihrem Rückzug würde keiner der gebildeten Berufsstände seinen Ersatz aus so »tiefen Volksschichten« ziehen, als das Berufsoffizierkorps der k.u.k. Armee, des- sen Wurzeln bereits »bis ins Proletariat hinab« reichten. Auffenberg hielt letzteren Umstand für eine »bedenkliche Sache«, deren Folgen »jedem aufmerksamen Au- ge auch schon zu Tage« treten würden. Gewiß könne man nicht sagen, »daß äußerer Glanz und innerer Wert immer Hand in Hand gehen, aber wenn man innerhalb des Offizierskorps ganzer Truppenkörper keine einzige elegante Erscheinung, keinen Mann von Distinktion mehr findet, so kann man über solch ein äußerliches Merkmal nicht mehr so ohne weiteres hinweggehen [...] Immer und immer treffe ich auf Spuren, welche hinweisen, daß man es [...] mit social unzulänglichen Elementen zu tun hat [...] Auch ist zu bemerken, daß vornehmlich die älteren Offiziere besseren Kreisen entstammen, die jüngeren aber, also der eigentliche Nachwuchs und die Zukunft, aus den untersten Schichten kommen47.« Zunächst ist in diesem Kontext die Tatsache, daß sich der einem neuen kriegerischen Geist entspringende Aktionismus der jüngeren Offiziergeneration gerade auf Ser- bien zu konzentrieren begann, wohl eher zufällig. Allerdings lag sie angesichts der politischen Situation auf der Hand, wurden doch milieubedingte Defizite auf ein als lösbar angesehenes Problem projiziert, denn gegen Rußland schienen, wie Con- rad annahm, aufgrund seiner räumlichen Ausdehnung keine schnellen Erfolge möglich. Erst ein Krieg würde nach Auffassung der österreichisch-ungarischen Mi-

44 Auffenberg, der 1911 /12 als k.u.k. Kriegsminister fungierte, setzte sich mit allen Mitteln für eine Verstärkung der bis dahin vernachlässigten Rüstungen ein. Er setzte insbeson- dere eine Vermehrung der Feldartillerie durch und gab ohne Zustimmung der Delega- tionen, sogar gegen den Willen des gemeinsamen Ministerrates 24 schwerstkalibrige Mörser (30,5) bei Skoda in Auftrag, deren Etat erst nach Beginn des ersten Balkankrie- ges nachträglich genehmigt wurde. 45 Istvän Deäk, Der k.(u.)k. Offizier, 1848-1918,2. Aufl., Wien, Köln, Weimar 1991, S. 203. 46 1896 betrug der Anteil des Adels am k.u.k. Berufsoffizierkorps gerade noch 28,6 Prozent. Die Mehrheit dieser Adligen muß allerdings dem Neu- oder Dienstadel zugerechnet werden, so daß man sie nicht zu den Aristokraten zählen kann. Karl Kandelsdorfer, »Der Adel im k.u.k. Offizierskorps«, in: Militärische Zeitschrift (1897), S. 248-249. Vgl. Deäk, Der k.(u.)k. Offizier (wie Anm. 45), S. 191-198. 47 Essay Auffenbergs an Aehrenthal, Sarajewo, Juli 1910, »Geist und innere Verfassung der Armee«, in: KA Wien, B-677, Kart 1, Nr. 4, Bl. 46-78, hier: Bl. 54. Der »Kriegsfall Serbien« als Willenstherapie 327 litarelite die Voraussetzung schaffen, das gesellschaftliche Prestige des Berufssol- datentums zu wahren, würden doch die Offiziere in weiten Teilen des Reiches auf- grund der friedlichen politischen Verhältnisse »direkte feindlich angesehen«48. Und schließlich: erst der Krieg - als der große Veränderer - nicht einmal der womöglich errungene Sieg, galt als Befähigungsnachweis für Ebenbürtigkeit und damit als Vorbedingung für soziale Aufwärtsmobilität. 2. Daneben spielten mittel- und längerfristige Lernprozesse eine nicht unwichtige Rolle bei der »Abdankung« ziviler Entscheidungsträger und der Herausbildung kriegerischer Dispositionen gegenüber Serbien, wie bereits deutlich gemacht wor- den ist49. Namentlich nach der Beendigung der Balkankriege 1913 hatte sich das fatalistische Gefühl verbreitet, daß die Doppelmonarchie durch ihr unkriegerisches Zuwarten eigentlich immer nur geschwächt worden sei. Eine Änderung dieses Ubelstandes schien dringend geboten. Dies sollte insbesondere durch die »Aus- schaltung« Serbiens geschehen, wobei offen blieb, ob man sich auf eine nachhalti- ge Zerstörung seines militärischen Potentials sowie seine politisch-wirtschaftliche Unterordnung beschränken oder darüber hinaus handfeste territoriale Forderun- gen stellen würde50. Gewißheit allerdings bestand in einem Punkt: die finale Ab- rechnung mit Serbien ließ sich nicht vermeiden, sie stand unmittelbar bevor, jede Verzögerung würde als Schwäche ausgelegt, Kompromisse sollte es keine mehr geben51. Da sich die Schicksale der Staaten, der Völker, der Dynastien - nach Auffas- sung Conrad von Hötzendorfs - »nicht am diplomatischen Konferenztisch, son- dern [auf dem] Schlachtfeld entscheiden« würden, dürften diplomatische Beden- ken und Vorsichtigkeiten, innenpolitische Schwierigkeiten oder die Scheu vor fi- nanziellen Opfern niemals zum Anlaß genommen werden, kriegerischen Konse- quenzen aus dem Weg zu gehen52. Auch andere Vertreter der k.u.k. Planungselite haben die »Friedensgaukelei« der politischen Führung angegriffen und die Kas-

48 Ebd., Bl. 61. 49 Kronenbitter, »Nur Los lassen« (wie Aruri. 16); Angelow, Kalkül und Prestige (wie Anm. 6). 50 Einer Annexion serbischer Gebiete standen insbesondere die Ungarn im Wege, da so der Anteil der slawischen Bevölkerung noch weiter verstärkt worden wäre. Deshalb setzte Ministerpräsident Tisza im Juli 1914, noch vor der Absendung des den Krieg auslösen- den Ultimatums an Serbien, im gemeinsamen Ministerrat einen Annexionsverzicht durch. Einen entsprechenden Situationsbericht des Ballhausplatzes, in dem erwogen wurde, den serbischen Besitzstand gegenüber den anderen Mächten zu garantieren, fand die schärfste Zurückweisung durch die Annexionisten. Conrad von Hötzendorf fügte in ei- ner Randbemerkung an: »Wozu das? Unglaublich! Wozu dann Krieg führen (-) das ist offenbar Tisza!« Zit. nach: Kronenbitter, »Nur los lassen« (wie Anm. 16), S. 168. 51 Die Tatsache, daß in der Julikrise noch vorhandene Möglichkeiten einer friedlichen Kon- fliktregulierung leichtfertig verspielt oder bewußt umgangen wurden, läßt sich bei- spielhaft anhand der kompromißlosen Starre der österreichisch-ungarischen Verhand- lungsposition gegenüber Serbien in der Frage der Ausgleichszahlungen für die durch Serbien nationalisierten »Orientalischen Bahnen« ablesen. Hier lag nach dem serbischen Angebot vom 23.7.1914 eine befriedigende Lösung in Reichweite, die sich sogar als Pre- stigeerfolg für Wien hätte verkaufen lassen können. Doch Botschafter Wladimir Freiherr Giesl v. Gieslingen übergab, den serbischen Verständigungsvorschlag zurückweisend, am selben Tag in Belgrad das den Krieg auslösende Ultimatum. Angelow, Kalkül und Pre- stige (wie Anm. 6), S. 329. 52 Immediatvortrag Conrad von Hötzendorfs, 31.10.1910, zit. nach: Gerhard Ritter, Staats- kunst und Kriegshandwerk. Das Problem des »Militarismus« in Deutschland, Bd 2: Die Hauptmächte Europas und das wilhelminische Reich (1890-1914), München 1960, S. 284. 328 MGZ 61 (2002) Jürgen Angelow

sandrarufe der Armeeführung verteidigt53. Da die politisch Verantwortlichen ihre Ziele auf friedlichem Wege offensichtlich nicht zu erreichen vermochten und der Zeitgeist - »würdelose Streberei«, die »Sucht nach materiellem Genuß und Luxus« sowie »Schacher- und Wuchertum« - nach Ansicht Conrads auch den Geist der ' bewaffneten Macht in Mitleidenschaft zu ziehen drohte54, erhielt das alternative Kriegsdrängen der Militärs einen neuen Stellenwert. Dadurch wurde eine Situation herbeigeführt, in der ein erheblicher Druck auf die politische Führung am Ball- hausplatz ausgeübt werden konnte. Am Vorabend des Kriegsausbruchs gab es in dieser Frage jedoch keine nennenswerten Differenzen zwischen den militärischen und den bis dahin glücklos agierenden zivilen Verantwortungsträgern der Habs- burgermonarchie mehr: Im Verlauf der Julikrise 1914 brachte es Alexander Graf Hoyos gegenüber einem Parlamentarier schließlich auf den Punkt: »Wenn unsere Armee nichts taugt, dann ist die Monarchie ohnehin nicht zu halten, denn sie ist heute der einzige Zusammenhalt des Reiches55.« Und auch Kaiser Franz Joseph I. ergab sich dem Fatalismus: »Wenn die Monarchie schon zugrunde gehen soll, so soll sie wenigstens anständig zugrunde gehen56!« Zweifellos hatte die permanen- te Kriegserwartung bei den politischen Entscheidungsträgern der Monarchie zur Abstumpfung und zu einer Bevorzugung simpler Lösungen geführt. Die Erwar- tung des von der militärischen Planungselite ständig als bevorstehend und gera- de noch führbar angesehenen Krieges konnte erst unter dieser Voraussetzung zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. 3. Schließlich ist im mentalitätsgeschichtlichen Kontext insbesondere auf so- zialdarwinistische und rassische Stereotype zu verweisen, die im zeitgenössischen Denken der militärischen Eliten jener Jahre vor dem Ersten Weltkrieg in Europa offenbar Allgemeingut geworden sind und zu einer Idealisierung militärischer Ge- walt geführt haben. Jedoch scheint dieser Befund für Österreich-Ungarn nicht zu- treffend: Aufgrund der multiethnischen Zusammensetzung ihres Berufsoffizier- korps bestand das Ziel der militärischen Sozialisation in Österreich-Ungarn eben umgekehrt in der Hervorbringimg eines ethnisch indifferenten Offizierkorps. Und tatsächlich ist die Tatsache durch Untersuchungen erhärtet worden, daß das über- all gegenwärtige Nationalitätenproblem in der bewaffneten Macht der Monarchie durch eine supranationale Ideologie überlagert gewesen sei, woraus sich die inte- grative Funktion der Armee abgeleitet habe57. Bekanntermaßen hat sich das Re- serveoffizierkorps der Donaumonarchie im Jahre 1910 zu 60,2 Prozent aus Deut- schen zusammengesetzt, obwohl der Anteil der deutschen Nationalität unter den Mannschaftsdienstgraden nur 25,2 Prozent betragen hat, was etwa der allgemei- nen Zusammensetzung der Bevölkerung entsprach58. Unter den Berufsoffizieren standen im Jahre 1910 78,7 Prozent lediglich 25,2 Prozent deutscher Mannschaften

53 Anonymus [Theodor Ritter von Zeynek], Diplomatie und Kriegsvorbereitung. Ein Mahn- wort zu später Stunde, Wien 1912, in: KA Wien, B/151, Nr. 7, Bl. 17. 54 Feldmarschall Conrad [Franz Conrad von Hötzendorf], Aus meiner Dienstzeit 1906-1918, 5 Bde, Wien, Berlin, Leipzig, München 1921-1925, hier: Bd 1, S. 332. 55 Tagebucheintrag Josef Redlichs vom 15.7.1914, in: Schicksalsjahre Österreichs, 1908-1919 (wie Anm. 24), Bd 1, S. 237. 56 Zit. nach: Feldmarschall Conrad, Aus meiner Dienstzeit (wie Anm. 54), Bd 4, S. 162. 57 Deäk, Der k.(u.)k. Offizier (wie Anm. 45). 58 Militärstatistisches Jahrbuch für das Jahr 1910, Wien 1911, S. 143-147, S. 196 f. Vgl. kriti- sche Analyse der Zahlen bei Deäk, Der k.(u.)k. Offizier (wie Anm. 45), S. 216-221. Der »Kriegsfall Serbien« als Willenstherapie 329 gegenüber59. Diese Zahlen verdeutlichen, daß sich nicht nur in der cisleithanischen Reichshälfte, sondern im Reichsmaßstab insgesamt die Vorherrschaft der deut- schen Bevölkerungsminorität nicht nur auf die staatliche Verwaltung und Wirt- schaft, sondern ausdrücklich auch auf das Heer bezog. Doch kann aufgrund der nationalen Zusammensetzung der militärischen Hie- rarchien eines Staates noch nicht auf eine nationalistische Grundeinstellung seines Offizierkorps geschlossen werden. Immer wieder ist im Falle Österreich-Ungarns dagegen geltend gemacht worden, daß die Grundeinstellung der meisten Offiziere schwarz-gelb, also alt-österreichisch, gewesen sei. Im berühmten Bühnenstück von Franz Theodor Csokor »3. November 1918« gibt der einzige Berufsoffizier einer ver- sprengten Einheit an der Italienfront, bei Bekanntwerden des Zusammenbruchs der Monarchie nach seiner Nationalität befragt, sein Regiment an und erschießt sich schließlich60. Hoch war auch der Anteil von Juden am Reserveoffizierkorps des k.u.k. Heeres, die sich dort als Patrioten und Österreicher gefühlt haben61. Dennoch wäre die Annahme naiv, die Nationalitätenkonflikte der Gesellschaft hätten nicht auf das Heer übergegriffen. So hat das verbissene Festhalten an der Dominanz des deut- schen Elements viele deutschstämmige Offiziere empfänglich auch für deutschna- tionales Gedankengut gemacht. Und auch unter der slawischen Bevölkerungs- mehrheit in Cisleithanien hat es sogar vor 1914 vereinzelte Fälle von Gehorsams- verweigerung und Meuterei gegeben62. Doch erst im Krieg haben nationalistische Vorbehalte und Ressentiments tatsächlich desintegrierend und schwächend gewirkt63. Obwohl es im Vergleich zum deutschen Zweibundpartner bei der Gewichtung ethnischer Ressentiments innerhalb der militärischen Führung der Donaumonar- chie charakteristische Unterschiede gab, gehörte sie doch einem multiethnisch zu- sammengesetzten St'aatskörper an und war der Idee eines Großösterreichs ver- pflichtet, bildeten sich auch hier seit der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts, ins- besondere seit der bosnischen Annexionskrise, stabile Feindbilder heraus, die na- mentlich die Südslawen, insbesondere die Serben, betrafen, da man von diesen »Vorkämpfern des panslawischen Gedankens«64 eine destabilisierende Wirkung

59 Deäk, Der k.(u.)k. Offizier (wie Anm. 45), S. 221. Andere zeitgenössische Statistiken wei- chen nur geringfügig ab: Nach Berechnungen des designierten Kriegsministers setzte sich das Berufsoffizierkorps der k.u.k. Armee 1910 zu 76,5 Prozent aus Deutschen zu- sammen. Moritz von Auffenberg, »Geist und innere Verfassung der Armee 1910« (wie Anm. 47), Bl. 58. 60 Franz Theodor Csokor, 3. November 1918, in: Ders., Europäische Trilogie, Wien 1952, S. 5-78. 61 Zwischen 1914 und 1918 dürften ungefähr 25 000 jüdische Offiziere im k.u.k. Heer ge- dient haben. Deäk, Der k.(u.)k. Offizier (wie Anm. 45), S. 207-215, hier: S. 208. 62 So wollten anläßlich der Teilmobilmachung 1908 tschechische Soldaten des Infanterie-Re- giments 36 nicht gegen ihre »russischen und serbischen Brüder« kämpfen und verwei- gerten den Gehorsam. Gewalttätige Ausschreitungen dagegen iief im November 1912 ein Transport tschechischer Reservisten des Dragoner-Regiments 8 von Pardubitz nach Auschwitz hervor, der wegen des ersten Balkankrieges notwendig geworden war. Etwas später meuterten tschechische Reservisten des Infanterie-Regiments 18. Ebd., S. 238 f. 63 Rauchensteiner, Der Tod des Doppeladlers (wie Anm. 42); Deäk, Der k.(u.)k. Offizier (wie Anm. 45), S. 238-240. 64 Der unvermeidliche Zusammenschluß der südslawischen Rasse sollte sich - so Conrad - auf Kosten der Serben im Gebiet der Habsburgermonarchie vollziehen. Vortrag Con- rads vor Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand, 14.12.1912, in: KA Wien, B/1450, 76, Bl. 217-220 v. Vgl. auch die Denkschriften Conrads vom Oktober und November 1912, in: Feldmarschall Conrad, Aus meiner Dienstzeit, Bd 2, S. 314-342. 330 MGZ 61 (2002) Jürgen Angelow

auf die Südflanke der Monarchie ausgehen sah. Militärische Auseinandersetzun- gen aber wurden durchweg als Daseinskampf verinnerlicht. Nicht nur der gegne- rische Staat und seine Armee, sondern auch die fremde Nation oder die kulturell nicht als gleichwertig angesehene ethnische Formation galten als Bedrohungsfak- tor. Dies wurde im serbischen Falle besonders evident, wobei sich Feindbilder und kollektive Phobien gegenseitig aufschaukelten. Denn die Idealisierung militäri- scher Gewalt hatte auch im Savestaat eine lange Tradition. Der serbische Gewaltwillen war seit dem Genozid-Trauma der Schlacht auf dem Amselfeld und der osmanischen Eroberung kollektiv-habituell verfestigt. Sogar der private bewaffnete Kampf erschien unter diesem Vorzeichen als legitime Notwehr zur Abwendung der ewigen Benachteiligung des Serbentums und der Vernich- tungsgefahr, wie Wolfgang Höpken unlängst am Beispiel der jüngeren Jugosla- wienkonflikte veranschaulicht hat65. In der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts er- folgte nun, angesichts des Wirtschaftskrieges mit Österreich-Ungarn und der bos- nischen Annexion, ein Prozeß der Dekontextualisierung aktueller Problemlagen durch Rückgriff auf die hochgradig verzerrte und emotionalisierte Vergangen- heitsdeutung. Daraus resultierte eine innere Gewaltbereitschaft der Serben, die Wien bei der Entfesselung des Konfliktes kühl in Rechnung stellen konnte. Bereits 1908 hatte Aehrenthal gegenüber Berchtold mit dem Gedanken gespielt, Serbien in den Konflikt zu verwickeln und - wieder herabsetzend gemeint - »abzustrafen«. Denn »es sind Südslawen [... und] das Kapital an Nervensubstanz, das sie besitzen, ist bald aufgezehrt. Greifen sie uns an, so soll ihnen die verdiente Züchtigung nicht erspart bleiben66.« Bereits im Mai 1914 war auch Berchtold zu der Erkenntnis ge- langt, daß Serbien nun vollständig dem Prätorianertum verfallen ist, so daß ein Ein- lenken der schwachen serbischen Regierung im gegebenen Fall nicht zu erwarten sei67. Gewiß hat sowohl die Idealisierung des Gewaltmittels als bevorzugtes Stil- mittel der Politik durch beide Kombattanten aber auch die abwertende Stigmati- sierung des serbischen Gegners einer übermäßig brutalisierten Kriegführung Vor- schub geleistet und darüber hinaus das gleichermaßen verhärtete wie erfolglose Vorgehen der österreichisch-ungarischen Balkanarmee mit verursacht. 4. Mentale und psychologische Dispositionen haben im »Zeitalter der Nervosität« auch bei den militärischen Eliten ihre Prägungen hinterlassen, wie Joachim Rad- kau jüngst am deutschen Beispiel gezeigt hat68. Die nervöse Kraftlosigkeit und De- kadenz des »Fin-de-siecle«, Wien schien auf Grund genuiner geschichtlicher und kultureller Umstände in besonderer Weise betroffen, es galt sogar als »Laboratorium für den Weltuntergang«69, aber auch die Unfähigkeit, mit den Mitteln des aufge-

65 Dazu: Wolfgang Höpken, Das Dickicht der Kriege. Ethnischer Konflikt und militärische Gewalt im früheren Jugoslawien 1991-1995, in: Wie Kriege entstehen (wie Anm. 4), S. 319-367, hier: S. 339-356. 66 Aehrenthal an Berchtold, 29.12.1908, in: HHStA Wien, NL Berchtold, Kt. 1,1. Buch, Bl. 215. 67 Eintrag Berchtold, 19.5.1914, in: HHStA Wien, NL Berchtold, Kt. 2, Bd 8, S. 265. 68 Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hit- ler, München 2000. 69 Zum Zeitgeist vor 1914: Volker R. Berghahn, Sarajewo, 28. Juni 1914. Der Untergang des alten Europa, München 1997, S. 32-48. Zum Wiener Fin-de-siecle: Fin de siecle. Erzäh- lungen, Gedichte, Essays, hrsg. von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders, Stuttgart 1993, S. 417-436; Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910, hrsg. von Gotthart Wunberg, Stuttgart 1995; Carl E. Schorske, Wien. Geist und Ge- sellschaft einer Epoche, Frankfurt a.M. 1982; Karl Kraus, Die letzten Tage der Mensch- heit. Tragödie in fünf Akten mit Vorspiel und Epilog, Wien [1921]. Der »Kriegsfall Serbien« als Willenstherapie 331 klärten Absolutismus und eines durch und durch bürokratischen Beamtenstaates der zahlreichen inneren und äußeren Probleme Herr zu werden, hatten in Kreisen der Wiener Gesellschaft und Politik Selbstzweifel und morbide Stimmungen er- zeugt sowie unter den k.u.k. Militärs Versagensängste und eine Anbetung alles Gewalttätigen hervorgerufen, die sich zeitlich beschleunigten und einen präven- tiven militärischen Einsatz immer drängender erscheinen ließen. Robert Musil zog in seinem »Mann ohne Eigenschaften« ein subtiles Resümee der Jahrhundertwende und prangerte ihre Verlogenheit an. Verwirrung und Be- schleunigung hätten sich breitgemacht: Die Zeit würde sich »schnell wie ein Reit- kamel« bewegen, doch niemand wüßte wohin. »Man konnte auch nicht recht un- terscheiden, was oben und unten war, was vor und zurück ging70.« Karl Kraus be- sprach den Hang zur artifiziellen Spiegelung und Selbstanalyse ihrer kulturellen Elite71. Sigmund Freuds Traumdeutung legte ihre Neurosen offen. Symbolistische Stile in der Malerei konfrontierten den Betrachter mit der Darstellung menschli- cher Schattenseiten und dumpfer Triebhaftigkeit. Oskar Kokoschka und Arnold Schönberg schufen neue künstlerische Ausdrucksformen in Malerei und Musik, die auf die Zeitgenossen verstörend, vielfach schockierend und sogar skandal- auslösend wirkten. Doch vor der Folie dieser hier nur angedeuteten kulturellen Begleiterscheinungen, deren politische Folgen durchaus uneindeutig waren, be- gannen sich noch im Fin-de-siecle radikale Gegenbewegungen zu formieren: der Antisemitismus und rassistische Pangermanismus Georg von Schönerers, der an- tisemitisch-christliche Sozialismus Karl Luegers sowie - in Folge dessen - der Zio- nismus Theodor Herzls72. Diese populären, sich weiter differenzierenden Zeitströmungen.beanspruch- ten in den Jahren vor 1914 den öffentlichen Raum und führten zu einer Erosion traditioneller politischer Wertvorstellungen. Insbesondere wurde durch sie die Idee eines nicht vorrangig ethnisch definierten Staatswesens ad absurdum geführt, was zu einer schleichenden Delegitimation altgewachsener Herrschaftsverhältnisse und zu einem Verlust an »schwarz-gelben« Zukunftsperspektiven führte. Der Zerfall der Monarchie schien nur noch eine Frage der Zeit und der Umstände zu sein: »Wir mußten sterben. Die Todesart konnten wir uns wählen, und wir haben uns die schrecklichste gewählt«, wird Ottokar Graf Czernin dazu nachträglich feststellen73. Vor dem Hintergrund der innenpolitisch festgefahrenen Situation hatten sich je- doch bereits in den Monaten unmittelbar vor Kriegsausbruch in der Donaumon- archie jene Stimmen vermehrt, die für ihren »heroischen Abgang« plädierten. Es sei das Beste, so der deutschfortschrittliche Abgeordnete Josef Redlich, »die Kata- strophe dieser planlosen, boshaften und geistlosen Schwächlingspolitik ungehemmt sich vollziehen zu lassen«74. Verbrauchtheit und Insuffizienz der cisleithanischen Regierungen würden bereits auf den bevorstehenden inneren Zusammenbruch hindeuten, »wenn nicht früher die Katastrophe von außen kommt«75. Da die Monarchie aber nach außen jämmerlich agiere, hätte sie bereits »in Europa ihre

70 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften. Roman, Hamburg 1952, S. 13. 71 Karl Kraus, Die demolierte Literatur, Wien 1897, S. 18. 72 Carl E. Schorske, Ein neuer Ton in der Politik: Ein österreichisches Trio, in: Ders., Wien, München 1994, S. 111-168. 73 Ottokar Czernin, Im Weltkriege, Berlin, Wien 1919, S. 41. 74 Eintrag vom 29.4.1913, in: Redlich, Schicksalsjahre (wie Anm. 24), Bd 1, S. 198. 75 Eintrag vom 11.2.1913, ebd., S. 190. 332 MGZ 61 (2002) Jürgen Angelow

Rolle ausgespielt«76. Auch in Regierungskreisen wurde die Mahnung laut, alle Ver- zögerungen bei der Lösung der Schlüsselfrage für das eigene Überleben, des süds- lawischen Problems, zu vermeiden. Eine Duldung der serbischen Aspirationen - so der ungarische Ministerpräsident Lajos Lukas - würde dem Prestige der Mon- archie und ihren »vitalsten Interessen« schaden. In diesem Falle bestünde sogar die Gefahr einer »inneren Verblutung«77. Gewiß hat die militärische Elite das Phänomen, unter Zeitdruck politisch durch- greifende Lösungen für die Habsburgermonarchie zu entwickeln, für sich modifi- ziert: So bildete das Motiv der zeitlichen Pression seit Beginn des Wettrüstens zwi- schen den europäischen Großmächten in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts un- ter den Spitzenmilitärs der Zweibundmächte eine Konstante, infolge derer sie im- mer wieder kriegerisch drängend bei der politischen Führung vorstellig wurden, um Rüstungsvorsprünge oder Mobilmachungsvorteile nicht zu verspielen78. Die po- litisch Verantwortlichen hatten sich dadurch lange Zeit nur wenig beeindruckt ge- zeigt. Doch ihre Fähigkeit, mit diplomatischen Mitteln Erfolge zu erzielen, schien sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Verfestigung der Allianzen, die über- mäßig aufgebauschten russischen Rüstungen und das Abgehen Großbritanniens von seiner traditionellen Rolle als Hüter des Mächtegleichgewichts spürbar zu ver- ringern79. Da Wien seine Existenz als Großmacht dem Gleichgewichtssystem ver- dankte und sich in der Abwehr der kleineren Balkanstaaten in Europa politisch isoliert hatte, machte sich das Gefühl breit, dem heraufziehenden Krieg wie eine Na- turgewalt ausgeliefert zu sein. Seit der bosnischen Annexion im Oktober 1908 bil- dete der Balkan zunehmend den neuralgischen Punkt in den europäischen Mäch- tebeziehungen. Wien, befand sich »politisch in der Defensive«, woran sich nach Auffassung des Kommandierenden Generals in Sarajewo, Moritz Ritter von Auf- fenberg, »nichts ändern« ließ. Doch würde dies nicht automatisch bedeuten, daß man auch militärisch in der Defensive sein. Da die Hoffnung auf Frieden trüge- risch wäre, plädierte der General für einen radikalen Einstellungswandel: »Da wir nun einmal kämpfen müssen, so müssen wir auch kämpfen wollen80!« Infolge des Rückzugs der Pforte und des Vordringens Serbiens entstand für Österreich-Ungarn namentlich im ersten Balkankrieg eine äußerst schwierige La- ge. Von nun ab wurden die Versuche, den Save-Staat mit politischen oder wirt- schaftlichen Mitteln wieder in den Einflußbereich der Habsburgermonarchie zu

76 Ebd. 77 Zit. nach: HHStA Wien, NL Berchtold, Kt. 2, Bd 5, S. 382. 78 Zur Rüstungspolitik vor 1914: Stig Förster, Der doppelte Militarismus. Die deutsche Hee- resrüstungspolitik zwischen Status-quo-Sicherung und Aggression, 1890-1913, Stuttgart 1985; Wilhelm Deist, Rüstung im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik. Grundle- gende Dokumente 1890-1914, hrsg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Düs- seldorf 1988; David G. Herrmann, The Arming of Europe and the Making of the First World War, Princeton, N.J. 1997; Volker R. Berghahn, Rüstung und Machtpolitik. Zur Anatomie des »Kalten Krieges« vor 1914, Düsseldorf 1973. 79 Vgl. Christel Gade, Gleichgewichtspolitik oder Bündnispflege? Maximen britischer Außenpolitik (1909-1914), Göttingen, Zürich 1997 (= Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd 40); neuerdings die ausgezeichnete Studie meines Schülers: Andreas Rose, Auf der Suche nach einer kontinentalen Strategie. Zum Para- digmenwechsel in der englischen Vorkriegspolitik 1906-1909, Magisterarb. Potsdam 2002. 80 Moritz Ritter von Auffenberg, Denkschrift zur militärpolitischen Situation im Jänner 1909, KA Wien, B/677, Kt. 1, Nr. 8, Bl. 2-6, hier: Bl. 6. Der »Kriegsfall Serbien« als Willenstherapie 333 ziehen, erst recht von der militärischen Führung als »Schlappheit« zurückgewie- sen. Alle Uhren und Weichen schienen gegen Wien gestellt zu sein. Darunter litt die moralische Konstitution der Armee, deren Führung wiederholt und vermeintlich unabweisbar auf den letzten militärischen Ausweg aus der Sackgasse wies. Gera- de während der Balkankrise von 1912 deutete Oskar Potiorek als Landeschef in Bosnien-Herzegowina fortgesetzt auf den Umstand hin, daß sich der Wert der öster- reichisch-ungarischen Truppen bei weiterem Zuwarten und einer fortgesetzten Schwächepolitik immer weiter verringern würde81. Einer solchen Lagebeurteilung stimmten auch andere hochrangige Militärs zu. Theodor Ritter von Zeynek, Chef des Generalstabes der 8. Infanteriedivision, plädierte für eine aktive Politik, »die die Lösung der schwebenden Fragen selbst durchführt, wobei die Rüstungen und Kriegsvorbereitungen diesen Zielen angepaßt« werdien müßten. »Wenn das di- plomatische Spiel verloren ist, ist aber die Partie nicht zu Ende [...]«82. Derartige Stimmungen unter den Militärs sollten bis zum Kriegsausbruch nicht mehr abreißen. Nach einer am 3. Juli 1914 geäußerten Ansicht des Wiener Mi- litärattaches in Athen, Tanczos, müßten die Völker der Monarchie für gewisse Zeit auf die Segnungen des Friedens verzichten, um den schwindenden kriegerischen Geist wiederzugewinnen und dabei die Uberzeugung zu stärken, »daß nicht nur das üppige Genußleben, sondern auch der ernste Kampf um die eigenen Interessen seine Reize hat«. Allein der Mut, den Krieg erklärt zu haben, würde ein solches An- sehen verschaffen, daß der Besitzstand der Donaumonarchie »auf Jahrzehnte hin- aus gesichert wäre«83. Edler von Appel vertrat bei Kriegsbeginn die Auffassung, daß in Bosnien »alles morsch« gewesen sei, nur die Armee nicht, konstatierte aller- dings auch erste Anzeichen dafür84. Und auch der österreichisch-ungarische Gene- ralstabschef hatte sich immer dafür eingesetzt, den Aufstieg Serbiens zu einer »nen- nenswerten Militärmacht« schnell und unter allen Umständen zu stoppen. Dies könne, so Conrad im Januar 1913, am besten durch einen Krieg gegen Rußland ge- schehen. Uberhaupt wäre es von Vorteil, wenn die Kraftprobe zwischen Dreibund und Tripel-Entente endlich zum Aus trag käme85. In der Julikrise gelang es ihm schließlich, sich sowohl beim Kaiser als auch im Ministerrat Gehör zu verschaffen und die eigene Auffassung als allein praktikabel und damit maßgeblich hinzustel- len. Während das Motiv der legitimen Selbsterhaltung der Habsburgermonarchie am 5. Juli 1914 gegenüber dem Monarchen im Zentrum des Vortrages stand86, riet Con- rad dem Ministerrat am 7. Juli zu einer möglichst raschen Einleitung der Aktion. Einen Tag später bedrängte er Außenminister Leopold Graf Berchtold mit der For- derung: »Lieber heute als morgen!« Vor allem müßten nach Auffassung des Gene- rals alle hinausschiebenden diplomatischen Aktivitäten vermieden werden87.

81 Oskar Potiorek an Conrad von Hötzendorf, 21.12.1912, in: KA Wien, B/1450,76, Bl. 243 f. 82 Anonymus [Theodor Ritter von Zeynek], Diplomatie und Kriegsvorbereitung. Ein Mahn- wort zu später Stunde, Wien 1912, in: KA Wien, B/151, Nr. 7, S. 16 f. 83 Tanczos an Conrad, 3.7.1914, in: KA Wien, B/1450, Kt. 105, Bl. 14, zit. nach Kronenbitter, »Nur los lassen« (wie Anm. 16), S. 186. 84 Michael Edler von Appel an Alexander Brosch von Aarenau, 10.8.1914, in: KA Wien, B/1441, Kt. 4, unfol. 85 Denkschrift Conrads an Außenminister Graf Berchtold, 20.1.1913, in Conrad, Dienstzeit (wie Anm. 54), Bd 3, S. 12-16. 86 Vortragsmanuskript Franz Freiherr Conrad von Hötzendorfs für die Audienz bei Franz Joseph I., Schönbrunn, 5.7.1914,10 Uhr, in: KA Wien, B/1450,109, unfol. Vgl. Angelow, Kalkül und Prestige (wie Anm. 6), S. 423. 87 Angelow, Kalkül und Prestige (wie Anm. 6), S. 423. 334 MGZ 61 (2002) Jürgen Angelow

Die nervöse, beinahe hektische Spannung der militärischen Führung der Habs- burgermonarchie am Vorabend des Krieges führte bei Kriegsbeginn zunächst zu ei- nem stimulierenden Erlösungsgefühl, wie bereits ausgeführt und auch anhand an- derer gesellschaftlicher Schichten, der kulturellen Eliten beispielsweise, nachge- wiesen worden ist88. Im Krieg schließlich erweiterte es sich zu einem Ritual ge- steigerter männlicher Selbstinszenierung89, einem Kraftrausch, einem forschen, unüberlegten Vorgehen, einem krankhaften Festbeißen, das als Überkompensati- on neurotischer Versagensängste gedeutet werden könnte. Aber auch in den Reihen der politischen Führung verbreitete sich der Gedan- ke, die eigene Schwäche endlich durch eine Willenstherapie zu besiegen. Bereits in den Debatten um die Formulierung eines Ultimatums an Serbien im Zusam- menhang mit dem serbischen Vordringen gegen Albanien im zweiten Balkankrieg im Oktober 1913 hatte der ungarische Ministerpräsident Graf Tisza die Frage auf- geworfen, ob man eine »lebensfähige Macht bleiben« oder sich »einer lächerlichen Dekadenz willenlos preisgeben« wolle90. Einige Tage später wiederholte Tisza sei- ne Forderungen mit den Worten: »Eine furchtbare Verantwortung liegt auf uns. Wir würden eine jammervolle Decadence der Monarchie verschulden, wenn wir nicht den einfachen, berechtigten, selbstverständlichen Schritt tun91.« Eine solche Argumentation benannte die Sorgen der politischen Elite Österreich-Ungarns in idealtypischer Weise und sollte ihr Handeln in der Julikrise bestimmen. Denn im Zeitgeist galt es als Makel schlechthin, ein »Schlappi« zu sein. »Eisenköpfige Wil- lensmenschen« mit einem unerschütterlichen Selbstbewußtsein und einem frischen Sportsgeist zählten dagegen als Ideal. Bereits 1902 hatte der deutsche Soziologe Werner Somart das heranwachsende Geschlecht als »einen härteren und gemütsär- meren Menschenschlag« bezeichnet, der die Sentimentalität früherer Generatio- nen als »Gefühlsduselei« verachten würde und die moderne »Rastlosigkeit« be- reits verinnerlicht habe92. Es war verpönt, »Nerven zu zeigen«. Den »Furchtmen- schen« der Vergangenheit hatte Walter Rathenau schon 1904 den »Mutmenschen« der Gegenwart entgegengestellt93. Doch angesichts des realen Kräfteverhältnisses zwischen Mittelmächten und Entente mußte jede wirkliche Risikoabwägung in Resignation enden, schien es im- mer aussichtsloser, jene geforderte, als »männlich« geltende, Willens- und Kraftprobe erfolgreich zu bestehen. Die düsteren Einschätzungen des deutschen General-

88 Volker Ullrich, Kriegsalltag. Zur inneren Revolutionierung der Wilhelminischen Ge- sellschaft, in: Der Erste Weltkrieg (wie Anm. 1), S. 603-621; Reinhard Rürup, Der »Geist von 1914« in Deutschland. Kriegsbegeisterimg und Ideologisierung des Krieges im Er- sten Weltkrieg, in: Ansichten vom Krieg, hrsg. von Bernd Hüppauf, Hanstein 1984, S. 1-30. 89 Zum Forschungsproblem einer Geschlechtergeschichte des Militärs: Christa Hämmer- le, Von den Geschlechtern der Kriege und des Militärs. Forschungseinblicke und Be- merkungen zu einer neuen Debatte, in: Was ist Militärgeschichte (wie Anm. 5), S. 229-262; Ute Frevert, Das Militär als »Schule der Männlichkeit». Erwartungen, Angebote, Erfah- rungen im 19. Jahrhundert, in: Dies.: Militär und Gesellschaft im 19. und 20. Jahrhun- dert, Stuttgart 1997, S. 145-163. Genese, Ausprägung und Wirkungsmächtigkeit hege- monialer Konstrukte militärischer Männlichkeit in der k.u.k. Monarchie untersucht Chri- sta Hämmerle im Rahmen eines Habilitationsprojektes an der Universität Wien. 90 Tisza an Berchtold, 9.10.1913, in: HHStA Wien, NL Berchtold, Kt. 4, Bd 1, Bl. 22. 91 Tisza an Berchtold, 13.10., in: ebd., Bl. 24. 92 Zit. nach: Radkau, Das Zeitalter der Nervosität (wie Anm. 68), S. 424. 93 Ebd., S. 431. Der »Kriegsfall Serbien« als Willenstherapie 335 stabschefs Helmuth von Moltke d.J. vom 28. Juli 1914, seine Worte von der bevor- stehenden »gegenseitige[n] Zerfleischung der europäischen Kulturstaaten«, sind in diesem Zusammenhang bereits bekannt94, Stig Förster hat auf sie unlängst wieder hingewiesen95. Auch in Österreich-Ungarn fanden derartige pessimistische Deu- tungen ein würdiges Pendant: Conrad gab sich am 28. Juni 1914 düsteren Vorah- nungen hin: »Es wird ein aussichtsloser Kampf werden, dennoch er muß geführt werden, da eine solch alte Monarchie und eine so glorreiche Armee nicht ruhmlos untergehen können96.« Das operationsgeschichtliche Paradigma des Serbienfeldzuges von 1914 ver- weist auf einen unlösbaren Widerspruch zwischen dem Kriegswillen und der Kampf' entschlossenheit Österreich-Ungarns einerseits sowie den mangelnden eigenen Ressourcen und unzureichenden operativen Planungen andererseits, zugleich aber auch auf einen schroffen Gegensatz von vorrätiger Tötungsbereitschaft und nicht gleichermaßen vorhandenen effektiven Tötungsmechanismen im Krieg. Planun- gen und Verlauf der Operationen gegen den Savestaat enthalten ausgeprägte irra- tionale Züge, die wiederum auf ein inkonsistent gewordenes gesellschaftliches Normen- und Wertesystem der politischen und militärischen Entscheidungsträ- ger hindeuten. Erklärbar werden diese Phänomene erst, wenn traditionelle histo- rische Deutungen mit mentalitätsgeschichtlichen und psychohistorischen Be- trachtungsweisen verbunden werden. Im Falle der österreichisch-ungarischen Kriegsplanung und der ersten Operationen gegen den Savestaat bis zum Dezem- ber 1914 sind die angesprochenen Mißverhältnisse durch das Streben nach sozia- ler Anerkennung im Kriegseinsatz, durch affektive Feindstereotype und einen im Zeitgeist wurzelnden Kraftrausch geschuldet, die wiederum offenbar latent vor- handene, morbide Versagens- und Üntergangsvisionen der kulturell und politisch tonangebenden Eliten kompensiert haben. Diese irrealen Momente bildeten sich lange vor 1914 heraus. Sie fanden schließlich Eingang in die Persönlichkeitsstruk- tur von Politikern und Militärs. Dort traten sie analytisch begründeten, mittel- und längerfristigen Erfahrungszusammenhängen verstärkend zur Seite. Dies führte da- zu, daß vernünftige Einwände beiseite geschoben wurden und historisches Han- deln nicht mehr durch rationale Sachüberlegungen' geleitet schien.

Abstract

The historical paradigm of military operations in the of 1914 in- dicates an insoluble contradiction between Austria-Hungary's war determination on the one hand, and the lack of resources as well as her lack of operational plan-

94 »Zur Beurteilung der politischen Lage« (geheimes Schreiben Helmuth von Moltke d.J. an Reichskanzler Bethmann Hollweg), 28.7.1914, in: Helmuth von Moltke, Erinnerungen, Briefe, Dokumente, 1877-1916, hrsg. von Eliza von Moltke, Stuttgart 1922, S. 3-7. 95 Stig Förster, Der deutsche Generalstab und die Illusion des kurzen Krieges, 1871-1914. Metakritik eines Mythos, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen, 54 (1995), S. 61-95, hier: S. 89. 96 Conrad von Hötzendorf, 28.6.1914, in: Gina Gräfin Conrad von Hötzendorf, Mein Le- ben mit Conrad von Hötzendorf. Sein geistiges Vermächtnis, Leipzig 1935, S. 114. 336 MGZ 61 (2002) Jürgen Angelow ning on the other. Similarly, there is an apparent contrast between the will to kill and the deficient mechanisms of delivering death in war. Planning and conduct of the operations against Serbia contain decidedly irrational elements which seem to indicate an inconsistent set of social and moral values among political and mili- tary decision makers. An explanation calls for a combination of traditional his- torical explanations with analyses based on mental history and psychology. In the case of Austria-Hungary's planning and conduct of operations against the Save state, such incongruities are due to a quest for social recognition, as well as to an intoxication with power resulting from the Zeitgeist. These, in turn, compensated for the latent, morbid fears of failure and of annihilation among the cultural and political elites of the time. These irrational moments reinforced medium and long term experiential continuities, and they markedly influenced events at the time.