Kriegsfall Serbien« Als Willenstherapie
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Aufsatz Jürgen Angelow Der »Kriegsfall Serbien« als Willenstherapie. Operative Planung, politische Mentalitäten und Visionen vor und zu Beginn des Ersten Weltkrieges Obwohl die Literatur zu den Ursachen des Ersten Weltkrieges einschließlich der be- reits im Frieden vorbereiteten operativen Eröffnungszüge inzwischen Legion ist1, sind schwerwiegende Defizite der historischen Deutung geblieben. Insbesondere hat der Versuch einer Rekonstruktion des angeblich rationalen militärischen Ent- scheidungshandelns ans Licht gebracht, daß in den militärischen Planungsstäben offenbar viel weniger nach vernunftgemäßen Kriterien entschieden würde als an- genommen. Nun nimmt aber weder die chronologisch-narrative Darstellungsform, jene im angelsächsischen Sprachraum mit den Worten »to tell a true story« be- schriebene Erzählung von Geschichte in ihrer zeitlichen Abfolge, und schon gar nicht der ausschließlich systematisch-analytische Zugriff mit seiner vorherrschen- den strukturgeschichtlichen Betrachtung - der stets rationales, interessengeleite- tes Handeln als Prämisse zugrunde legt - mentale und psychologische Disposi- tionen, mithin irrationale Faktoren ausreichend zur Kenntnis. Indes setzt die Psy- choanalyse längst voraus, daß unter der Oberfläche scheinbar rationaler Bewußt- seinslagen von handelnden Personen oder Eliten unbekannte und unbewußte Motive und Affekte wirken. Und obwohl die Unmöglichkeit einer Übertragung von psychoanalytischen Therapiesituationen auf historische Untersuchungsge- genstände auf der Hand liegt, können tiefenpsychologische Betrachtungen durch- aus zu einer Klärung irrationalen Verhaltens beitragen, wobei fraglich bleibt, wo die Grenze zwischen rationalem und irrationalem Handeln verläuft. So haben neue- re psychohistorische Ansätze Irrationalität dort verortet, wo das Verhalten einer Person den von ihr angegebenen Zwecken widersprach oder nicht mit den gesell- schaftlichen Normen in Einklang gebracht werden konnte2. Das Kriterium für die Erklärung individueller Abweichungen würde demnach in der Erkenntnis des je- weils gültigen gesellschaftlichen Wertesystems liegen. Doch auch gesellschaftliche Normen und Wertesysteme können, wie dagegen zu Recht moniert worden ist, ir- rational im Sinne ihrer Unvereinbarkeit mit idealen ethischen Maßstäben sein3, was 1 Zum Ersten Weltkrieg als Problem der Forschung: Der Erste Weltkrieg. Wirkung, Wahr- nehmung, Analyse. Im Auftr. des Militärgeschichtlichen Forschungsamtes hrsg. von Wolfgang Michalka, München, Zürich 1994, S. 911-1043. Aktuell aus operationsge- schichtlichem Blickwinkel: Hew Strachan, The First World War. Vol. 1: To Arms, Oxford 2001. 2 Gerald Izenberg, Psychohistory and Intellectual History, in: History and Theory, 14 (May 1975), S. 139-155. 3 Allan R. Buss, Critical Notice of Izenberg's >Psychohistory and Intellectual History<, in: History and Theory, 17 (February 1978), S. 94-98, hier: S. 95 f. Zu neueren psychohisto- rischen Ansätzen und Forschungsergebnissen: Ludwig Janus, Psychohistorie. Grup- penphantasien und Krieg, Heidelberg 2000; ders., Psychohistorie - Ansätze und Per- spektiven, Heidelberg 1995. Militärgeschichtliche Zeitschrift 61 (2002), S. 315-336 © Militärgeschichtliches Forschungsamt, Potsdam 316 MGZ 61 (2002) Jürgen Angelow . im vorliegenden Falle wohl zutrifft und daher näher in den Blick genommen wer- den soll. Für die Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges jedenfalls waren und sind - gerade aufgrund scheinbar irrationalen Handelns der Machteliten - beachtliche Restun- schärfen der historischen Deutung zu konstatieren, worauf Stig Förster nament- lich anhand der durch »absurde Züge« geprägten Kriegsursachen von 1914 hin- gewiesen hat4. Offenbar ist es notwendig, die methodischen Verfahren zu erweitern und traditionelle Ansätze mit neuen Techniken unbefangener als bisher zu ver- flechten, um differenzierteren Phänomenen wie im vorliegenden Falle gerecht zu werden: das Handeln der politisch Verantwortlichen sowie der militärischen Pla- nungsstäbe in ihrem gesellschaftlichen Umfeld auch dann einigermaßen plausibel zu erklären, wenn es nach rationalen Gesichtspunkten eigentlich nicht mehr zu deuten ist. Unter diesen Voraussetzungen könnte eine kombinierte Analyse von Struktu- ren, Zwängen und rational erklärbaren Motiven einerseits, von individuellen Af- fekten und Visionen, subjektiven Wahrnehmungsmustern und Bildern anderer- seits zu dichteren und überzeugenderen Erklärungszusammenhängen führen. Da- bei soll das operationsgeschichtliche Beispiel des geplanten und geführten Krie- ges Österreich-Ungarns gegen Serbien im Jahre 1914 nicht als Selbstzweck oder lediglich aus der Perspektive der operativ verantwortlichen Führungsinstanzen angeführt werden, sondern als integrativer Bestandteil einer Gesamtgeschichte5, als Paradigma, um zu generellen Aussagen über den Zustand der österreichisch- ungarischen Gesellschaft sowie die mentalen und psychologischen Hintergründe des politisch-militärischen Handelns ihrer militärischen Elite zu gelangen. Im fol- genden Beitrag werden zunächst die militärische Planung und Kriegführung ge- gen Serbien kritisch betrachtet, damit in einem zweiten Schritt auf die hierfür maß- geblichen Motive, kollektiven inneren Dispositionen und Visionen eingegangen werden kann. I. Fraglos lassen sowohl die operative Planung der k.u.k. Armee gegen Serbien und ihr Aufmarsch als auch die erste Phase der Kampfhandlungen gegen den Savestaat, die vom August bis Zum Dezember 1914 reichte, eine Reihe merkwürdiger Fehl- leistungen erkennen, die bei näherer Betrachtung eigentlich hätten vermieden wer- den können und weitergehende Fragen über die Ursachen der ihnen zugrundelie- genden Entscheidungen aufwerfen. Offenbar hatte eine manische Fixierung auf Ser- bien die Wiener Operateure so geblendet, daß sie darüber alle Vorsicht vergaßen. 4 Stig Förster, Im Reich des Absurden. Die Ursachen des Ersten Weltkrieges, in: Wie Krie- ge entstehen. Zum historischen Hintergrund von Staatenkonflikten, hrsg. von Bernd Wegner, Paderborn, München Wien, Zürich 2000, S. 211-252. 5 Zum heuristischen Wert und zu den methodischen Voraussetzungen einer Operations- geschichte: Bernd Wegner, Wozu Operationsgeschichte?, in: Was ist Militärgeschichte? Hrsg. von Thomas Kühne und Benjamin Ziemann, Paderborn, München, Wien, Zürich 2000 (= Krieg in der Geschichte, Bd 6), S. 105-113. Der »Kriegsfall Serbien« als Willenstherapie 317 Die Planung des k.u.k. Generalstabes vor 1914 hatte eine Mindestverteidi- gungsmacht in Galizien gegen Rußland in Stärke von 30 Divisionen (»A-Staffel«) und auf dem Balkan gegen Serbien von zehn Divisionen (»Minimalgruppe Bal- kan«) vorgesehen6. Diese Verteidigungsstreitkräfte konnten durch die Zuführung zusätzlicher zwölf Divisionen (»B-Staffel«) und eine grenznahe Dislokation in Of- fensivstreitkräfte umgewandelt werden. Je nachdem, wo der Schwerpunkt gesetzt werden würde, sollten sie entweder zur Vernichtung Serbiens oder für eine macht- volle Offensive gegen Rußland benutzt werden. Die Mobilisierung dieser drei Staf- feln konnte einzeln oder gemeinsam erfolgen, wobei das Problem darin lag, daß bei einer Teilmobilisierung gegen Serbien und der Konzentration sowohl der »Mini- malgruppe-Balkan« als auch der »B-Staffel« gegen Serbien - aufgrund schlechter Eisenbahnverbindungen - keine schnelle Umgruppierung der »B-Staffel« gegen Rußland in Galizien erfolgen konnte, wenn dieses Serbien beistand. Deshalb muß- te im Falle eines Konflikts mit Serbien die russische Position so schnell wie mög- lich geklärt werden, weil sonst die »Α-Staffel« in exponierter Position dem russi- schen Angriff allein ausgesetzt sein würde. Zwar war der österreichisch-ungarische Generalstabschef Franz Freiherr Con- rad von Hötzendorf bemüht, das Problem zu minimieren, indem er den deutschen Verbündeten für eine sofortige Offensive im Osten zu gewinnen suchte, die ihm auch zugesagt wurde; die Vorstellung aber, im Verein mit deutschen Armeen die Offensive gegen Rußland allein mit der »Α-Staffel» zu beginnen, mußte bereits den Zeitgenossen waghalsig erscheinen, da deren Verbände viel zu schwach für An- griffshandlungen waren. Schließlich brachte die Realität des Aufmarsches vom Ju- li und August 1914 dann an den Tag, daß die Erwartung auf eine deutsche Offen- sive getrogen hatte und die österreichisch-ungarische Armee infolgedessen falsch disloziert worden war. Offensichtlich hatte Conrad den gewünschten Feldzug ge- gen Serbien nicht der notwendigen Mittelbereitstellung gegen Rußland opfern wol- len und deshalb gefährliche Defizite in der Aufmarschplanung zugelassen. Frag- los zählte ihm der innenpolitisch erwünschte und für die Haltung Bulgariens, der Türkei und Rumäniens wichtige frühe Sieg über Serbien mehr als die im Notfall er- forderliche Abwehr einer russischen Offensive auf Galizien7. Doch ist dieser gravierende operative Mangel wohl kaum allein durch innen- und außenpolitische Rücksichten zu erklären, zumal die meisten aus diesem Pro- blem resultierenden Risiken den militärischen Planern bekannt waren: So hatte ein Kriegsspiel, das die realistische Möglichkeit einer gleichzeitigen Auseinanderset- zung mit Rußland und Serbien bei rumänischer Neutralität sondieren sollte, im Winter 1913/14 an den Tag gebracht, daß aus eisenbahntechnischen Gründen ein Abgehen vom einmal eingeleiteten Balkanaufmarsch zugunsten einer veränder- ten Prioritätensetzung gegen Rußland überhaupt nicht möglich war8. Diesem ernüchternden Ergebnis wurde von Seiten des Operationsbureaus bei seinem Neu- entwurf des Aufmarsches gegen Rußland vom 9. März 1914 insofern Rechnung 6 Vgl. Jürgen