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Leseprobe

Robert Hodonyi

Herwarth Waldens »Sturm« und die Architektur

Eine Analyse zur Konvergenz der Künste in der Berliner Moderne

AISTHESIS VERLAG ––––––––––––––––––––––––––––––––––––––––– Bielefeld 2010 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Aisthesis Verlag Bielefeld 2010 Postfach 10 04 27, D-33504 Bielefeld Satz: Germano Wallmann, www.geisterwort.de Druck: docupoint GmbH, Magdeburg Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-89528-779-4 www.aisthesis.de Inhalt

Vorwort ...... 9

Einleitung ...... 11 1. Quellen- und Forschungsüberblick ...... 14 2. Methodische und theoretische Vorüberlegungen ...... 22 3. Materialität und Medialität der Architektur um 1900. Kontext und Gliederung der Arbeit ...... 29

I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts. Architektur im Verein für Kunst (1904-1911) ...... 46 1. Individualität und Sozialität ...... 46 2. Historische Synopse: Kurze Mediengeschichte des Sturm und seiner Vorläufer ...... 51 2.1 Teloplasma (1901) ...... 58 2.2 Verein für Kunst. Nietzsche-Kult ...... 65 3. Architektur im Verein für Kunst ...... 77 3.1 Henry van de Velde: Die Linie ...... 78 3.2 Hermann Muthesius: Die Einheit der Architektur ...... 84 3.3 Architekturpublizistik in Morgen und Das Theater ...... 96 3.4 »Baumeister Solness«: Ludwig Hoffmann ...... 101 3.5 Einfachheit und Sachlichkeit. Der Wertheim-Bau ...... 107 3.6 Moderne Theaterarchitektur. Richard Wagner als Vorbild ... 114

II Im Zeichen von »Ornament und Verbrechen«. Adolf Loos und ...... 119 1. »Potemkin’sche Stadt«: Wiener Ringstraße ...... 120 1.1 Adolf Loos und Gottfried Semper ...... 120 1.2 Wien um 1900 ...... 123 2. Brückenschläge. Wiener und Berliner Moderne ...... 124 2.1 Publizistische und logistische Kooperationen ...... 124 2.2 Interdisziplinäre Sprachkritik um 1900 ...... 128 2.3 Loos-Referenzen vor 1910: Alfred Döblin ...... 131 2.4 Tradition und kultureller Aufbruch ...... 133 2.5 »Ornament und Verbrechen« im Kontext der Gründung des Sturm ...... 135 3. Irritation und Aneignung. Die Ökonomie der Ornamentik 143 4. Das Haus am Michaelerplatz ...... 146 5. Ins Leere gesprochen? Die 1920er Jahre ...... 156 III Dialog der Künste. Die Glasarchitektur im Sturm ...... 168 1. Phase I: Scheerbart im Verein für Kunst ...... 170 2. Kritik am Städtebau ...... 178 3. Dramatische und lyrische Kunst-Welten: Glas-Theater ...... 180 4. Erkenntnistheoretische Grundlagen ...... 183 4.1 Der Autor in der ästhetischen Moderne um 1900 ...... 183 4.2 Sprachskepsis und das »Kalt-Konstruirende« ...... 184 4.3 Konstruktive Poetik: Lesabéndio. Ein Asteroidenroman (1913) ...... 188 5. Phase II: Scheerbart und Der Sturm ...... 192 5.1 Phantastik, Exotismus und Glaskultur ...... 192 5.2 Kapitän Junker auf der Insel Tamuso (1911): Beschreibung einer phantastischen Lichtstadt ...... 195 5.3 Das Ozeansanatorium für Heukranke. Telegramm-Novelette (1912): Die Utopie der schwimmenden Glasarchitektur ...... 197 5.4 Hymnische Evokationen ...... 199 5.5 Ethik und Ästhetik ...... 204 5.6 Umwandlung von Literatur in Architektur: Bruno Tauts Glashaus ...... 207 5.7 Vermittlung und Rezeption: Die Glasarchitektur und die Künste ...... 218

IV Architektur als Metapher ...... 212 1. Joseph August Lux: Ingenieur-Ästhetik ...... 225 2. Exkurs: Vorüberlegungen zur Funktion von Metaphern ...... 227 3. »Der Wille des neuen Weltalters ist architektonisch, nicht malerisch«: Architektonisches Denken und Avantgarde ...... 231 4. Ikonoklastische Kunstrevolution und Konstruktion ...... 236 4.1 Kraus und Loos ...... 236 4.2 Der italienische Futurismus ...... 242 4.2.1 Phasen der Futurismus-Rezeption ...... 245 4.2.2 Futuristische (Bild-) Architektur ...... 247 5. Kairologisches Zeitbewusstsein ...... 250 6. Architektur und Abstraktion: Wassily Kandinsky ...... 253 7. Das Musikalische in der Architektur ...... 262 8. Der tschechische Kubismus ...... 269 V Architektur und Sturm-Kunsttheorie(n) I ...... 282 1. Allgemeine Vorüberlegungen zum Theoriebegriff ...... 282 2. Adolf Behne und Herwarth Walden: Erste Konturen der Sturm-Kunsttheorien 1912-1914/15 ...... 286 3. Zur neuen Kunst (1915) – »Kunstwende« und »neue Renaissance« ...... 293 4. Konzentrierte und dezentrierte »Wortgebäude«: Architektur und Literatur in der Wortkunsttheorie ...... 304 4.1 Einleitung und Forschungsstand ...... 304 4.2 »Dichtung ist Verdichtung«: Die Entstehung der Wortkunsttheorie und die Bedeutung August Stramms ... 309 4.3 »Wir schmücken nicht aus«: Konstruktive Wortreihen und Architekturanalogien ...... 317 5 »Einwortprosaplan«: Franz Richard Behrens’ konstruktivistische Lyrik ...... 325 5.1 Lied in Lazienki (1917) ...... 326 5.2 Expressionist Artillerist (1915) ...... 329

VI Architektur und Sturm-Kunsttheorie(n) II: Lothar Schreyer 335 1. Dimensionen des Architektonischen ...... 335 2. Mitarbeiter des Sturm 1916-1928, Multifunktionär und Theoretiker ...... 338 3. Das »Menschenhaus« als ekstatischer Kultbau ...... 342 3.1 Schreyer im Kontext der Theaterreform ...... 342 3.2 Keine Stätte bürgerlicher Öffentlichkeit ...... 346 3.3 Das Theater als »Einheitskunstwerk« ...... 348 3.4 Neuer Mensch und »Haus der Ekstase« ...... 352 3.5 Vitalisierung der Architektur ...... 358 3.6 »Menschenhaus« und Bau-Rhetorik im Erneuerungsdiskurs der Künste um 1918 ...... 361 3.7 Max Bergs Breslauer Jahrhunderthalle (1911-1913): Modell des »Menschenhauses« ...... 367 4. Die Totenhäuser ...... 376 4.1 »Kultwert« und/oder »Ausstellungswert« ...... 376 4.2 Die Architektur der Totenhäuser ...... 379 4.3 Das Totenhaus in Briefen an Walden (1920) ...... 380 4.4 Die Verdrängung des »Ausstellungswertes« ...... 382 VII Die Architektur im Sturm zwischen 1919/20 und 1932. Ein Überblick ...... 384 1. Analysekategorien ...... 384 2. Formen absoluter Architektur: »Haus Merz« (1920) im Sturm ...... 386 3. »Zwingburgen des Kapitalismus«: Konstruktive Profanarchitektur und Wirkungsästhetik ...... 402

Zusammenfassung und Ausblick ...... 423

Abkürzungsverzeichnis ...... 434

Literaturverzeichnis ...... 436 1. Quellen ...... 436 1.1 Archivalien ...... 436 1.2 Primärquellen ...... 438 1.3 Kataloge der Galerie Der Sturm (chronologisch, im Original größtenteils ohne Nennung d. Verlags) ...... 452 1.4 Weitere verwendete Ausstellungskataloge ...... 453 1.5 Briefe und Briefwechsel ...... 454 1.6 Quellensammlungen, Anthologien und Autobiografisches 455 2. Sekundärliteratur zum Sturm ...... 457 3. Sonstige verwendete Literatur ...... 458

Abbildungsverzeichnis ...... 475

Personenregister ...... 477 Einleitung

Gegenstand dieser Arbeit ist die exemplarische Analyse der Architektur in der von Herwarth Walden (1878-1941) vor 100 Jahren gegründeten Zeitschrift Der Sturm (1910-1932). Ab März 1910 mit dem Untertitel »Wochenschrift für Kultur und die Künste« in erscheinend, gilt Der Sturm als eines der bedeutsamsten Organe der avancierten euro- päischen Kunstbewegungen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, als entscheidender Wegbereiter und Schrittmacher der ›historischen Avant- garde‹, mit kunst-, medien-, und diskursübergreifendem Charakter. Mit dem Sturm und seinen Institutionen werden bis heute in erster Linie die Durchsetzung verschiedener Strömungen, Bewegungen und Ismen in der bildenden Kunst – Expressionismus, Kubismus, Futurismus und Konst- ruktivismus – assoziiert, und zum anderen die Profilierung und Etablie- rung zahlreicher Autoren der ›literarischen Moderne‹ um 1910 verbun- den; genannt seien stellvertretend für viele andere: Alfred Döblin, Else Lasker-Schüler, und Kurt Schwitters.1 Meine Arbeit wählt einen neuen Zugang. Untersucht wird die Archi- tektur im Sturm, und zwar von der Baumetapher bis zum Gesamtkunst- werk. Die Spannweite dieses Fragehorizonts kann auf den ersten Blick überraschen. Zwar hat sich sowohl die literaturwissenschaftliche als auch die kunst- und baugeschichtliche Forschung vereinzelt mit architektura- len Phänomenen im Sturm auseinandergesetzt. Diese Erkenntnisse und Ergebnisse sind jedoch jeweils auf einzelne Aspekte beschränkt geblieben und nicht in einen gemeinsamen Diskussionsrahmen gebracht worden. Die in dieser Arbeit vorgeschlagene interdisziplinäre Perspektive integ- riert die unterschiedlichen fachlichen Sichtweisen und zeigt unter Ein- beziehung bislang unbeachtet gebliebener Quellen und Archivalien eine neue intermediale Perspektive auf den Sturm auf. Aus dem Sturm soll in dieser Arbeit keine Architekturfachzeitschrift, kein Medium der Architekturpublizistik gemacht werden2, was ein

1 Zu den hier verwendeten Begrifflichkeiten ›historische Avantgarde‹ und ›lite- rarische Moderne‹ vgl. Einleitung, S. 25f. (FN 48 + 49). 2 Einen guten Überblick über die europäischen und amerikanischen Archi- tekturzeitschriften zwischen 1890 und 1970 gibt der Band: Annette Ciré und Haila Ochs (Hgg.), Die Zeitschrift als Manifest. Aufsätze zu architek- tonischen Strömungen im 20. Jahrhundert. Basel-Berlin-Boston: Birkhäu- ser 1991 (Birkhäuser-Architektur-Bibliothek). – Zu Literaturangaben und 12 Einleitung hoffnungsloses, ja fragwürdiges Unterfangen wäre. Ziel kann es auch nicht sein, eine wie auch immer geartete, möglichst kuriose Alternativ- geschichte abzufassen. Stattdessen wird die Historiografie des Sturm ergänzt, korrigiert und eine neue Gegenstandsbestimmung vorgenom- men, die den Stellenwert der Architektur im System der Künste auslo- tet und berücksichtigt. Zur Untersuchung der »Verbindung der Künste untereinander«3, wie sie von Richard Brinkmann angeregt und auch von Hermann Korte im Sinne einer umfassenderen »Kulturgeschichte des Expressionismus«4 als Forschungsdesiderat formuliert wurde, will diese Arbeit einen Teil beitragen. Der sich in jüngster Zeit im Zuge des topographical bzw. spatial turn5 abzeichnende architectonic turn in den Literatur- und Kulturwissenschaf- ten hat, und hieran kann angeknüpft werden, vor allem den Einfluss der Architektur auf Denk- und Empfindungsweisen und ebenso ihre dis- kurs- und vorstellungsprägende Kraft in unterschiedlichen historischen Kontexten und an Epochenschwellen der Modernisierung akzentuiert. Der spatial turn vollzieht eine dezidierte Hinwendung zur Kategorie des geographischen und geopolitischen Raumes, jedoch werden Aspekte des architektonischen Raumes als Figurationen und Strukturation von Wis- sen und Wahrnehmung kaum behandelt. Unter anderem auf Grundlage historischer Landkarten und Reisedarstellungen wird danach geforscht6, wie zu verschiedenen Zeiten ›Umwelt‹ und ›Landschaft‹ »im Sinne

Zitiertechnik: In dieser Arbeit wird bei der ersten Nennung des Titels eine ausführliche bibliographische Angabe gegeben. Bei der Wiederaufnahme eines Titel erfolgt dies nach dem Muster: Nachname des Autors oder Her- ausgebers, Kurztitel, Seitenangabe. Alle Quellenzitate der Arbeit folgen der originalen Rechtschreibung. Kursivsetzungen finden sich, falls nicht anders vermerkt, ebenfalls im Original. 3 Richard Brinkmann, Expressionismus. Internationale Forschung zu einem internationalen Phänomen. Stuttgart: Metzler 1980, S. 282 (Deutsche Vier- teljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte; Sonderbd.). 4 Hermann Korte, Abhandlungen und Studien zum literarischen Expressionis- mus 1980-1990. In: IASL 19 (1994), Sonderheft 6, S. 225-279, hier S. 276. 5 Zum spatial bzw. topographical turn vgl. Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Ham- burg: Rowohlt 2006, S. 284-328; Sigrid Weigel, Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte. Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin. München: Fink 2004, S. 233-247. 6 Vgl. Karl Schlögel, Terror und Traum. Moskau 1937. München: Hanser 2008. Einleitung 13 sozialer und natürlicher Lebensbezüge«7 beobachtet und wahrgenommen werden.8 Als Korrektiv dazu betont und ruft der architectonic turn in das kulturelle Gedächtnis, wie sehr die »Ästhetik des umbauten Raumes«9 als »Dispositiv« und »Ordnungsprinzip« in den ästhetischen Debatten des 19. und 20. Jahrhundert vernachlässigt wurde.10 Rückte in den letzten Jahren zunehmend die fiktionale Präsenz von Architektur in der Litera- tur in den Fokus eines transdisziplinären wissenschaftlichen und kurato- rischen Interesses11, verfährt diese Arbeit in Anschluss an die Postulate des architectonic turn und dessen Bestreben, die Bedeutung und Wirkung der Architektur in der Geschichte der Rhetorik, Poetik und Ästhetik zu rekonstruieren und zu verifizieren, ebenfalls mehrdimensional. Wie unter einem Brennglas wird die Relation zwischen der Architektur und den Künsten in einem eingegrenzten historischen Zeitrahmen und einem empirischen Untersuchungsobjekt von mehreren Seiten her verfolgt.

7 Stefan Jordan, Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Pader- born u. a.: Schöningh 2009, S. 212 (UTB 3104, Geschichte). 8 Vgl. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München-Wien: Hanser 2003. Niels Werber, Die Geopolitik der Literatur. Vermessungen einer medialen Weltraumordnung, München: Hanser 2007. 9 Unter dem Titel »Literatur und Architektur – Zur Ästhetik des umbauten Raumes« fand vom 6. bis 8. Oktober 2005 ein internationales Symposium an der TU Dresden statt, an dem Literaturwissenschaftler, Kunsthistoriker, Soziologen, Politikwissenschaftler und Architekturhistoriker und -theoreti- ker beteiligt waren. Für den Tagungsbericht vgl. Robert Hodonyi, Raum- bilder sind Träume der Gesellschaft. Thomas Bernhards Wohnkegel, Franz Kafkas Schloss oder Wolfgang Koeppens Treibhaus: Wie viel Architektur in der Literatur steckt, fragte ein Symposium in Dresden. In: die tageszeitung, 13.10.2005. 10 Detlev Schöttker, Das Zimmer im Kopf. Wann kommt eigentlich der »archi- tectonic turn«? In: Merkur 59 (2005), H. 12, S. 1191-1195. 11 Vgl. u. a. Carlpeter Braegger, Baustellen. Von Algabal bis Wolkenbügel. Ein Enzyklopädisches Glossarium zur Architektur wie sie im Buche steht. Baden: Müller 1991; Heinz Brüggemann, Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen. Zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform. Frankfurt/M.: Fischer 1989; Winfried Nerdinger (Hg.), Architektur wie sie im Buche steht. Fiktive Bauten und Städte in der Literatur. [Begleitbuch zur gleichnamigen Ausstellung in der Pinakothek der Moderne München vom 8. Dezember 2006 bis 11. März 2007] Salzburg: Pustet 2006; Christian W. Thomsen, LiterArchitektur. Wechselwirkungen zwischen Architektur, Lite- ratur und Kunst im 20. Jahrhundert. Köln: DuMont 1989. 14 Einleitung

Diese Herangehensweise fokussiert, wie die Architektur als gesell- schaftliche Theorie und Praxis in eine kommunikative Spannung mit den bildenden Künsten und der Literatur tritt, und wie multilateral die »revo- lutionären Kunstbewegungen um 1910«12 insgesamt von Architektur und architektonischen Ideen geprägt sind. Beobachtet wird einerseits die pro- duktive Aneignung architektonischer Ideen und Metaphern durch Künst- ler und Schriftsteller und ihre Verschränkung mit anderen Kunst- und Denkbereichen innerhalb der kunstphilosophischen, theatertheoretischen und poetologischen Programmatiken des Sturm bzw. der »veritable[n] Sturm-Ästhetik«13. Andererseits wird auch nach allen Formen der Prä- senz von Architektur im Sturm gefragt und deren visuelle, materielle oder imaginäre Ausformung im Gesamtzusammenhang der Geschichte der Zeitschrift und verschiedener zeitgenössischer ästhetischer, politischer und kultureller Diskursstränge analysiert.

1. Quellen- und Forschungsüberblick

Für die vorliegende Arbeit wurde die Reprint-Ausgabe des Sturm von 1970 herangezogen14, die das empirische Fundament der Untersuchung bildet. Da die Originale im Sturm-Archiv der Handschriftenabteilung der Staats- und Universitätsbibliothek Berlin, Stiftung Preußischer Kulturbe- sitz, in sehr schlechtem Zustand sind, eine Arbeit mit Microfiches sich aus unterschiedlichen Gründen als problematisch herausstellte, scheint der Rückgriff auf den Nachdruck angemessen.15 Weiteres Quellenma- terial wurde im Sturm-Archiv gesichtet, insbesondere die Briefwechsel zwischen Herwarth Walden und Adolf Behne, Adolf Loos, Peter Behrens, Alfred Messel, Lothar Schreyer und Henry van de Velde. Daneben finden ebenfalls die Briefe von Hermann Muthesius an Walden Beachtung, die im Werkbundarchiv – Museum der Dinge (Berlin) aufbewahrt werden. Der Briefwechsel zwischen Walden und Elisabeth Förster-Nietzsche gibt

12 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Hrsg. v. Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. (14. Aufl.) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1998, S. 9. 13 Klaus von Beyme, Das Zeitalter der Avantgarden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955. München: Beck 2005, S. 113. 14 Der Sturm. Hrsg. v. Herwarth Walden. Berlin 1910-1932. Reprint. Nedeln/ Lichtenstein: Kraus 1970. 15 Werden in dieser Arbeit Artikel aus dem Sturm zitiert, erfolgt dies nach der Reihenfolge: Autor, Artikel, Jahrgang, Jahreszahl, Heftnummer und Seiten- angabe. Einleitung 15

Einblicke in neue Aspekte der Vorgeschichte des Sturm, besonders was die Gründungsphase des Vereins für Kunst und die Nietzsche-Rezeption Waldens anbelangt, wie die Briefe im Goethe- und Schiller-Archiv der Klassik Stiftung Weimar belegen. Herangezogen wurden ebenfalls Archivalien aus dem Nachlass Lothar Schreyers im Deutschen Literaturarchiv Marbach, dem Baukunstarchiv der Akademie der Künste Berlin (Paul Scheerbart und Bruno Taut), dem Nachlass des Sturm-Mitarbeiters Kurt Liebmann in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden sowie Teile des Nachlasses Adolf Behnes in der McCormick Library of Special Collection der Northwestern University Library Evanston/Illinois in den USA. Hierbei waren besonders einige der von Behne gesammelten Aus- stellungskataloge der Kunstgalerie Der Sturm von Interesse, welche einen neuen Blick auf die Präsentation von Architektur in der kontinuierlichen Ausstellungsarbeit Waldens ermöglichen. In Bezug auf die äußerst kurz- lebige, erst im Jahre 1921 gegründete Sturm-Bauabteilung, in persona des weitgehend unbekannten Berliner Kunstmalers Walter Krug (1880- 1950), wurden schließlich auch Archivalien aus dem Landesarchiv Berlin berücksichtigt, wobei zu diesem Künstler auch weitere lokalgeschichtli- che Recherchen vor Ort, etwa im Heimatmuseum Berlin-Wilmersdorf, nur wenige verwertbare Erkenntnisse zur Biografie und Wirkung zu Tage förderten. Auch die Nachfrage bei ausgewiesenen Experten expressio- nistischer Architektur oder Sturmforschern wie Wolfgang Pehnt, Volker Pirsich oder Brian Keith-Smith sowie der Abteilung Künstler-Archive der Berlinischen Galerie und dem Universitätsarchiv der Universität der Künste Berlin brachten keine Ergebnisse. Somit wird die Sturm- Bauabteilung und mit ihr Walter Krug nicht separat in einem eigenen Kapitel behandelt, sondern in der Darstellung der allgemeinen Institu- tionalisierungsprozesse bei der Ausdifferenzierung des Sturm lediglich kurz erwähnt und die zu ihr zusammengetragenen Fakten und Befunde präsentiert. Die große Bedeutung des Sturm bei der Durchsetzung, Etablierung und Institutionalisierung ästhetischer Innovationen auf dem Gebiet der avantgardistischen Literatur und Kunst wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Monografien, wissenschaftlichen Aufsätzen, Zeitungsartikeln, Erinnerungsschriften und viel beachteten Ausstellungen gewürdigt. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Sturm reicht dabei bis in die 1920er Jahre zurück. Es ist festzuhal- ten, dass die Architektur seitdem kaum ein Gegenstand der Forschung gewesen ist und dass das Interesse an Literatur, bildender Kunst und den 16 Einleitung

Theaterexperimenten der Zeitschrift und der angegliederten Institutionen überwiegt.16 Im Gegensatz zu anderen literarisch-künstlerischen Zeit- schriften um 1910, wie Die Aktion oder Die Weißen Blätter, fällt aber schon auf den ersten Blick eine Fülle von Beiträgen auf zur Architektur im Sturm bis Ende der 1920er Jahre.17 In einer der ersten kritischen Überblicksdarstellungen zur Geschichte des Sturm von Albert Soergel wird die Ausgrenzung der Architektur schon allein dadurch deutlich, dass wichtige Beiträger zur Architektur- theorie wie der Wiener Architekt Adolf Loos oder der Berliner Architek- tur- und Kunstkritiker Adolf Behne in der Aufzählung der Mitarbeiter keine Erwähnung finden.18 Werner Rittich konstatiert in seiner Disser- tationsschrift Kunsttheorie, Wortkunsttheorie und lyrische Wortkunst im ›Sturm‹ (1933) zwar einen übergreifenden Charakter der ästhetischen Begriffs- und Theoriebildung, der alle einzelnen Disziplinen umschließe.19 Die Architektur wird jedoch in der Untersuchung ausgeklammert. Erst die von Paul Raabe und Ludwig Greve konzipierte und 1960 stattge- fundene Ausstellung des Schiller-Nationalmuseums »Expressionismus. Literatur und Kunst. 1910-1923« widmete sich unter anderem auch in knapper Präsentation der Architektur im Sturm anhand der Beiträger

16 Vgl. u. a. Barbara Alms, Der Sturm – corporate identity eines internationalen Kunstkonzerns. In: »Herwarth Waldens ›Sturm‹ in Berlin«. Ausst.-Kat. Gale- rie Art Focus. Mit Texten von Barbara Alms und Freya Mülhaupt. Zürich: Galerie Art Focus 2002, S. 7-11; Sven Arnold, Das Spektrum des literari- schen Expressionismus in den Zeitschriften Der Sturm und Die Weissen Blät- ter. Frankfurt/M. u. a.: Lang 1998 (Forschungen zur Literatur- und Kultur- geschichte, Bd. 64); Mary Rachel Shields, A Study of the Periodical »Der Sturm« with special reference to its situation within literary . East Anglia: Univ. Diss 1978; Ingo Wasserka, Die Sturm- und Kampfbühne. Kunsttheorie und szenische Wirklichkeit im expressionistischen Theater Lothar Schreyers. Wien: Univ. Diss. 1965; Hans-Maria Wingler (Hg.), Der Sturm. Zeichnungen und Graphiken. Feldafing: Buchheim 1955 (Buchheim- Bücher). 17 Vgl. Paul Raabe, Index Expressionismus. Bibliographie der Beiträge in den Zeitschriften und Jahrbüchern des literarischen Expressionismus. 1910- 1925. 18. Bde. Bd. 5: Serie B. Systematischer Index, 1. Nedeln: Klaus-Thom- son 1972, S. 486-505. 18 Vgl. Albert Soergel, Dichtung und Dichter der Zeit. Neue Folge. Im Banne des Expressionismus. (2. Aufl.) Leipzig: Voigtländer 1926, S. 585-623, hier S. 588. 19 Werner Rittich, Kunsttheorie, Wortkunsttheorie und lyrische Wortkunst im ›Sturm‹. Greifswald: Adler 1933, S. 7 (zgl. Diss.). Einleitung 17

Paul Scheerbart und Bruno Taut.20 Ein Jahr später folgte in der Orange- rie des Charlottenburger Schlosses in Berlin die Ausstellung »Der Sturm. Herwarth Walden und die Europäische Avantgarde. Berlin 1912-1932«. Zum Ausstellungskonzept erklärte Leopold Reidemeister, dass versucht worden sei, der Vielfältigkeit der verschiedenen Künste im Sturm gerecht zu werden.21 Doch überwogen in dieser Ausstellung vor allem musikali- sche Darbietungen, bildende Kunst und Literatur. Hinsichtlich der Archi- tektur wurde, wie schon ein Jahr zuvor in Marbach, lediglich auf die Glasarchitektur (1914) Scheerbarts verwiesen.22 Dies ist fast die einzige ›architektonische Spur‹ geblieben, die von der Forschung zum Sturm weiter verfolgt wurde, so etwa in Malcom S. Jones’ Arbeit Der Sturm. A Focus of Expressionism (1984), die ein ausführliches Kapitel über Scheerbart beinhaltet, jedoch nicht nach der Rezeption der Glasarchitektur im Sturm selbst fragt.23 Ebenso isoliert und punktuell beschränkt wie bei Jones bleibt die Architekturbetrach- tung in Maurice Godés Monografie Der Sturm de Herwarth Walden. L’utopie d’un art autonomie (1990). Erwähnung findet bei Godé in erster Linie Loos, dessen architekturtheoretische Postulate stark verkürzt und ohne eine weitere Prüfung ihrer Relevanz für die Geschichte des Sturm vorgestellt werden.24 In der Arbeit Kurt Mösers Literatur und die »Große Abstraktion«. Kunsttheorien, Poetik und »abstrakte Dichtung« im »Sturm« 1910-1930 (1983), welche die kunsttheoretischen und poetologischen Positionen des

20 Vgl. Expressionismus. Literatur und Kunst 1910-1923. Ausst.-Kat. des Deut- schen Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum Marbach a. N. Hrsg. v. Paul Raabe und Heinz Ludwig Greve. Marbach: Dt. Literaturarchiv 1960, S. 162-165. 21 Vgl. Leopold Reidemeister, Zum Geleit. In: Der Sturm. Herwarth Walden und die Europäische Avantgarde. Berlin 1912-1932. Ausst.-Kat. National- galerie Berlin. Hrsg. v. Leopold Reidemeister. Berlin: Hartmann 1961, S. 5-7, hier S. 6. 22 Ebd., S. 68. 23 Malcom S. Jones, Der Sturm. A Focus of Expressionism. South Carolina: Camden House 1984, S. 104-115. Zu Scheerbarts Glasarchitektur und der Zusammenarbeit mit Bruno Taut liegen umfangreiche kunst- und bauge- schichtliche Untersuchungen vor. Auf diese Arbeiten wird zu Beginn von Kapitel III verwiesen, da sie den Sturm meist nur beiläufig in den Blick neh- men und nicht zur Sturm-Forschung im engeren Sinne zu rechnen sind. 24 Maurice Godé, »Der Sturm« de Herwarth Walden: l’utopie d’un art auto- nome. Nancy: Presses Univ. de Nancy 1990, S. 29-31. 18 Einleitung

Sturm-Kreises zu rekonstruieren sucht, werden architektonische Fragen am Rande erwähnt. So stellt Möser fest, dass es seit Mitte der 1920er Jahre in der Zeitschrift zu einer erhöhten Gewichtung von Architektur, Typografie und Fotografie kommt.25 Doch eine Einordnung und Auswer- tung dieses Umstandes wird nicht vorgenommen, so dass die Thematisie- rung von Architektur in diesen ›späten‹ Sturm-Jahrgängen bei Möser als singuläres Phänomen erscheint und mögliche Kontinuitäten und Kohä- renzen unsichtbar bleiben. In Georg Brühls Monografie Herwarth Walden und »Der Sturm« (1983) wird die Architektur etwas differenzierter betrachtet. Im Abschnitt »›Sturm‹, Architektur und Bauhaus«26 schreibt Brühl, dass der Sturm »zu Fragen der Architektur immer wieder Stellung bezogen«27 habe. In der kurzen Abhandlung geht der Autor aber über eine stichwortartige Aufzählung nicht hinaus, eine inhaltliche Analyse wird nicht geleis- tet. Erwähnt wird neben Scheerbarts Glasarchitektur wiederum Loos. Außerdem merkt Brühl an, dass im Jahr 1914 Architektur-Projekte des tschechischen Kubisten Vlastislav Hofman in der Zeitschrift reproduziert wurden. Hinzu kommt der Hinweis, dass Walden langjährig mit dem Architekten Henry van de Velde befreundet war. Des Weiteren schreibt Brühl ohne Angabe der entsprechenden Quelle, dass während des Ersten Weltkriegs enger Kontakt zwischen Walden und Walter Gropius bestan- den habe. Anschließend schildert der Autor personelle Kontinuitäten und Überschneidungen zwischen Sturm und Bauhaus in der Nachkriegszeit. Es wird ausgeführt, dass sich ein wichtiger Teil der Bauhausmeister aus dem Umfeld des Sturm rekrutierte. Allerdings ist die Aufzählung von Brühl als unvollständig zu betrachten. Lothar Schreyer, der von allen Bauhausmeistern die engste Verbindung zum Sturm hatte, wird von Brühl gar nicht erwähnt.28

25 Kurt Möser, Literatur und die »Große Abstraktion«. Kunsttheorien, Poetik und »abstrakte Dichtung« im »Sturm« 1910-1930. Erlangen: Palm & Enke 1983, S. 140 (Erlanger Studien, Bd. 46). 26 Vgl. Georg Brühl, Herwarth Walden und »Der Sturm«. Köln: DuMont 1983, S. 113-119. 27 Ebd. S. 113. 28 So nennt Brühl Willi Baumeister, Lyonel Feininger, Ludwig Hilberseimer, Johannes Itten, Wassily Kandinsky, , Lászlò Moholy-Nagy, , Oskar Schlemmer. Allerdings kann bei den genannten Persönlich- keiten zum Teil nur (noch) von einer sehr losen Assoziation mit dem Sturm gesprochen werden. Einleitung 19

In seinem Standardwerk Der Sturm. Eine Monographie (1985) er- schließt Volker Pirsich die Geschichte der Zeitschrift und der ihr ange- gliederten Institutionen in ihrem Verhältnis zu den zentralen literarischen und künstlerischen Gruppen und Strömungen der 10er und 20er Jahre des 20. Jahrhunderts. Um Entwicklungsphasen der Zeitschrift und ihrer Institutionen kenntlich zu machen, gliedert der Autor die Geschichte des Sturm in mehrere Phasen, die von der Zeit des Aufstiegs (1910-1912), der Blütezeit (1912-1919), einer Übergangsphase (1919-1921) und dem Abstieg (1921-1932) handeln. Pirsich gesteht der Architektur erst in der letzten Phase eine gewisse Bedeutung zu. Er kann sie aber in der Logik seines entwicklungsgeschichtlichen Modells damit nur noch als Versuch lesen, die Verfallserscheinungen der Zeitschrift aufzuhalten, und zwar als »Modernismus um jeden Preis«29. In seiner Analyse der programmati- schen Auseinandersetzung zwischen Sturm und Bauhaus kommt Pirsich zu dem Ergebnis:

Wesentliche Interessengebiete des Bauhauses, vor allem die Archi- tektur, daneben u. a. die Typographie, rücken in immer stärkerem Maße in das Blickfeld des Sturm-Interesses. Es ist allerdings zumin- dest zweifelhaft, ob (und wenn ja, inwieweit) diese neuen Interes- sengebiete sich in den ›Expressionismus‹-Begriff des Sturm einfügen lassen – von Seiten der Sturm-Künstler wird – und das ist durch- aus symptomatisch – ein derartiger Eingliederungsversuch nicht unternommen.30

Diese grundskeptische Haltung Pirsichs gegenüber der Architektur im Sturm muss bei erneuter Prüfung der Quellen und auf Grundlage bisher unbeachtet gebliebener Archivalien korrigiert werden. Zum einen ist die Auseinandersetzung mit Architektur schon lange vor der Entstehung des Bauhauses ein zentrales Thema im Sturm. Zum anderen gab es dezidierte Versuche, die Architektur in die Sturm-Kunsttheorie(n) zu integrieren. Während Pirsich in seiner Monografie feststellt, dass die Architektur »im Sturm immer ein Schattendasein geführt«31 habe, vertreten Peter Sprengel und Michael Siebenbrodt eine gegenteilige Auffassung.

29 Volker Pirsich, Der Sturm. Eine Monographie. Herzberg: Traugott Bautz 1985, S. 76. 30 Ebd., S. 429. 31 Ebd., S. 76. 20 Einleitung

In dem Aufsatz Von der Baukunst zur Wortkunst: Sachlichkeit und Expressionismus im ›Sturm‹, an den auch Sabina Becker mit ihren Über- legungen zur Sachlichkeit um 1910 anknüpft32, zeigt Sprengel ausgehend von den Bauten und Schriften Alfred Messels und Adolf Loos’, wie die architektonische Ornamentkritik und das Sachlichkeitspostulat von Karl Kraus, Herwarth Walden und Alfred Döblin auf die Ebene der ästhetisch- literarischen Theoriebildung übertragen und in der Gründungsphase der Zeitschrift als Instrument der Kritik gegen das diffuse Pathos des literari- schen Frühexpressionismus’ ins Feld geführt wurde. Im Sturm spiele, so Sprengel, »die Baukunst eine erhebliche Rolle«33. Die vorliegende Arbeit schließt sich Sprengels These an und möchte sie erweitern, denn die Funktion der Architektur im Sturm kann nicht nur auf die Übertragung in poetologische Konzepte begrenzt werden. Sie- benbrodt analysiert in dem Aufsatz STURM und Bauhaus ansatzweise die Gesamtkunstwerkskonzeption beider Institutionen. Dabei versucht Siebenbrodt anhand des Aufbaus der Sturm-Kunstschule nachzuwei- sen, dass Walden entschieden für die Vereinigung und Erneuerung aller Künste eingetreten sei, wie sie später auch im Bauhaus anvisiert wurde. »Bildende Künste und Architektur, Dichtkunst, Musik und Bühne sollten zusammengeführt und einem möglichst breiten Publikum nähergebracht werden. Dieses ganzheitliche Kunstverständnis spiegelte sich auch in der STURM-Schule, die von 1916 bis 1932 bestand.«34 In den folgenden Aus- führungen zur Sturm-Kunstschule erwähnt Siebenbrodt zwar, dass Wal- den Dichtung und Musik unterrichtete, Schreyer für Bühnenkunst und Pantomime verantwortlich war und Georg Muche Malerei und Druck- techniken vermittelte. Bezeichnenderweise bleibt die Architektur aber in Siebenbrodts Aufzählung ausgespart; einfach auch aus dem Grund, weil Baukunst – bei allen organisatorischen Parallelen – im Gegensatz zum späteren Bauhaus im Sturm nie unterrichtet worden ist. Die Frage bleibt also unbeantwortet, auch mit Hinblick auf die skizzierte disparate

32 Vgl. Sabina Becker, Neue Sachlichkeit. 2 Bde. Bd 1: Die Ästhetik der neusach- lichen Literatur (1920-1933). Köln-Weimar-Wien: Böhlau 2000, S. 82-91. 33 Peter Sprengel, Literatur im Kaiserreich. Studien zur Moderne. Berlin: Erich Schmidt 1993 (Philologische Studien und Quellen 125). (Darin: Von der Baukunst zur Wortkunst. Sachlichkeit und Expressionismus im Sturm, S. 179-200, hier S. 179.) 34 Michael Siebenbrodt, STURM und Bauhaus. In: Barbara Alms und Wiebke Steinmetz (Hgg.), Der Sturm im Berlin der zehner Jahre. Chagall, Feininger, Jawlensky, Kandinsky, Klee, Kokoschka, Macke, Marc, Schwitters und viele andere. Delmenhorst-Bremen: Hauschild 2000, S. 76-81, hier S. 77. Einleitung 21

Forschungslage, wo und wie im Kunstverständnis des Sturm die Archi- tektur angesiedelt war, welche Bedeutung ihr zukam und ob es Versuche gab, sie institutionell zu verankern. Der Blick auf die Architektur im Sturm ist durch vereinzelte Analy- sen und Postulate der Erinnerungsliteratur vorstrukturiert. Diese müs- sen kritisch examiniert werden. Besonders Schreyer hat retrospektiv die Bedeutung der Architektur für die europäische »Kunstwende« betont, die in der Baukunst einen prägnanten Ausdruck erfahren habe. Ande- rerseits benennt er in dem von Alfred Döblin herausgegebenen Sammel- band Minotaurus. Dichtung unter den Hufen von Staat und Industrie (1953) nur vereinzelte architektonische Sachverhalte und Phänomene, die für den Sturm Relevanz besessen hätten. Die Architektur im Sturm wird daher in dieser Arbeit mit Schreyer gelesen – ihm ist ein eigenes Kapitel gewidmet –, aber auch in kritischer Distanz und Erweiterung zu dem folgenden postulatorischen Resümee betrachtet:

Herwarth Walden hat im Sturm für die neue Baukunst nur am Rande gewirkt, da er der Ansicht war, die neue Baukunst würde sich ohne Schwierigkeiten rasch durchsetzen im Zuge des sozialen und technischen Umschwungs unserer Zeit. So ist es auch gesche- hen. Selbstverständlich hat sich der Sturm von Anfang an klar zur neuen Baukunst bekannt. Die Zeitschrift Der Sturm bringt schon im ersten Jahrgang sozusagen eine Huldigung an den grossen Architek- ten Adolf Loos. 1914 zeigt die Zeitschrift die bedeutenden Baupro- jekte von Vlatislav Hofman in grossen Holzschnitten des Künstlers. In der Mitte der Sturm-Jahre veröffentlicht Herwarth Walden das berühmt gewordene Buch »Die Glasarchitektur« [sic!] von Paul Scheerbart, dessen Erkenntnisse, Prophetien und Anregungen die zeitgenössischen Baukünstler tief bewegt und noch lange nicht aus- geschöpft sind. Und schließlich war es der Architekt Walter Gro- pius, der mit acht Sturm-Künstlern das Bauhaus schuf.35

Deutlich wird, dass fast die gesamte Forschung nach 1945 in Bezug auf die Architektur nur zu einzelnen Axiomen von Schreyer Stellung bezo- gen hat, ein umfassender Gesamtüberblick hinsichtlich ihrer Bedeutung und Funktion im Sturm jedoch fehlt. Die Anschauung Schreyers, dass

35 Lothar Schreyer, Das war »Der Sturm«. In: Alfred Döblin (Hg.), Minotau- rus. Dichtung unter den Hufen von Staat und Industrie. Wiesbaden: Franz Steiner 1953, S. 112-130, hier S. 127f. 22 Einleitung die Architektur im Sturm und besonders bei Walden als ausgesprochen technische Disziplin verstanden worden sei, deren Neuerungen sich quasi ohne Zutun von außen ihren Weg bahnen würden, war der wissenschaft- lichen Auseinandersetzung mit der Baukunst im Sturm zweifellos nicht förderlich.

2. Methodische und theoretische Vorüberlegungen

Um das breite Spektrum und die Komplexität architekturaler Phänomene im Sturm angemessen beurteilen und interpretieren zu können, nimmt diese Arbeit eine intermediale Perspektive ein. Der Begriff der Interme- dialität, der Wechselwirkungen, Konvergenzen und Komplementaritäten verschiedener Medien und Künste beschreibt36, wird dabei folgerichtig zum archimedischen Punkt, von dem aus sich die Gesamtbetrachtung einrahmen lässt. Bei Intermedialität handelt es sich um kulturelle Phä- nomene, welche Medien- und Kunstgrenzen überschreiten und bei denen wenigstens zwei als distinkt wahrgenommene Ausdrucks- oder Kommu- nikationsmedien involviert sind.37 Oder anders formuliert: Von Inter- medialität kann man dann sprechen, wenn eine multi-mediale Koexis- tenz medialer Zitate und Elemente in ein konzeptionelles Miteinander überführt wird und dessen »(ästhetische) Brechungen und Verwerfungen neue Dimensionen des Erlebens und Erfahrens eröffnen«38. Die Unter- suchungen der Intermedialitätsforschung beschränken sich dabei nicht allein auf technische Medien. Sie begreifen ebenfalls die traditionellen Kunstarten als solche, deren Wechselwirkungen beschrieben und erfasst werden können. Die Debatten um den Begriff der Intermedialität haben deutlich gemacht, dass sich dieser gewissermaßen in eine poetologische Tradition einschreibt, da er – frei nach dem Horazschen ut pictura poe- sis – auf die Rekonstruktion der Interaktion zwischen den Künsten und künstlerischen Produktionsprozessen rekurriert. Zugleich werden die

36 Yvonne Spielmann, Intermedialität: Das System Peter Greenaway. Mün- chen: Fink 1998; Peter V. Zima (Hg.), Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1995. 37 Irina O. Rajewsky, Intermedialität. Tübingen-Basel: Francke 2002, S. 13 [Schema 1] (UTB 2261, Medien- und Kommunikationswissenschaft). 38 Jürgen E. Müller, Intermedialität als poetologisches und medientheoretisches Konzept. Einige Reflexionen zu dessen Geschichte. In: Jörg Helbig (Hg.), Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsge- bietes. Berlin: Schmidt 1998, S. 31-40, hier S. 31f. Einleitung 23

Wechselwirkungen mit und zwischen den analogen technisch-apparati- ven sowie den digitalen Medien berücksichtigt, wobei die Intermediali- tätsforschung auch soziale und technologische Einflüsse, Entwicklungen und Faktoren untersucht.39 Als die drei großen Themenfelder intermedialer Forschung gelten40: (a) die Untersuchung von Phänomenen der Medienkombination, das heißt zum Beispiel der Kopplung von Texten und Bildern (barocke Emb- lematik, Fotoroman), Text und Ton (Hörspiel) und Text, Bild und Ton (Oper und Film); (b) die Untersuchung von Phänomenen des Medien- wechsels, wobei insbesondere alle Aspekte und Prozesse des Medien- transfers und der Medientransformation in den Blick rücken. Erfasst und analysiert werden so zum Beispiel Verfilmungen von Romanen, und zwar unter Berücksichtigung der performativen Umsetzung und Inszenierungs- strategien, die mit neuen Verkörperungsbedingungen des einen Mediums (Literatur) in ein anderes (Film) einhergehen. Außerdem gehört zu den Gegenstandsbereichen der Intermedialitätsforschung – für die Literatur- wissenschaft unter Anbindung an das maßgeblich von Julia Kristeva und Michail Bachtin entwickelte Konzept der Intertextualität von ebensol- chem Interesse41 – (c) die Kategorie der intermedialen Bezüge. In diesen letzten Bereich fallen alle Phänomene, die – ohne das eigene semiotische System zu wechseln oder zu verlassen – auf ein anderes Medium ver- weisen, wie etwa zum Beispiel die »›filmische Schreibweise‹ bzw. ›Fil- misierung der Literatur‹, die ›Literarisierung des Films‹, die ›Musikali- sierung literarischer Texte‹, die ›Narrativisierung der Musik‹«42. Sodann gilt es zunächst, die spezifische Medialität von Architektur zu bestimmen

39 Vgl. Jürgen E. Müller, Intermedialität und Medienhistoriographie. In: Joachim Paech und Jens Schröter (Hgg.), Intermedialität. Analog/Digital. Theorien – Methoden – Analysen. München: Fink 2008, S. 31-46, hier S. 35. 40 Bei der folgenden Gegenstandsabgrenzung beziehe ich mich auf die Überle- gungen von Rajewsky, Intermedialität, S. 15-18 und Uwe Wirth, Intermedi- alität. In: Handbuch Literaturwissenschaft. Gegenstände – Konzepte – Insti- tutionen. 3 Bde. Bd. 1: Gegenstände und Grundbegriffe. Hrsg. v. Thomas Anz. Stuttgart-Weimar: Metzler 2007, S. 254-264, hier S. 255. 41 Julia Kristeva, Probleme der Textstrukturation. In: Heinz Blumensath (Hg.), Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln: Kiepenheuer & Witsch 1972, S. 243-262 (Neue wiss. Bibliothek; 43); Michail Bachtin, Die Ästhetik des Wortes. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979. 42 Rajewsky, Intermedialität, S. 17. 24 Einleitung und den in dieser Arbeit verwendeten Intermedialitätsbegriff näher zu erläutern. Der weitläufige Medien-Begriff in der Intermedialitätsforschung er- laubt es, auch die Architektur als Einzelmedium zu definieren und zu anderen ›Medien‹ wie Literatur, Kunst oder Film in Beziehung zu set- zen. Denn in der Intermedialitätsforschung wird ›Medium‹ weniger im Sinne eines rein technisch-materiell definierten Übertragungskanals von Informationen verstanden, sondern vielmehr als ein konventionell als distinkt angesehenes Kommunikationsdispositiv vorgestellt.43 Das heißt, dass sowohl formale oder informierende inhaltliche Vermittlungsträger als auch konstruierende und aktionale Gegenstandsbereiche als ›Medien‹ gelten. Die letzteren ›Medien‹ erzeugen und beeinflussen, nach einer Defi- nition Manfred Faßlers, verschiedene Arten der Raum-, Gegenstands- und Zeitwahrnehmung, da sie »selbst allmählich gewonnene, gefestigte, verworfene oder differenzierte menschliche Ausdrucksweisen«44 darstel- len. Dies trifft auch auf die Architektur zu, sowohl was die materielle Ausformung gebauter Objekte anbelangt als auch auf alle Formen der imaginären oder literarischen Ausprägungen. Architektur kann in die- ser Lesart selbst als ein ›Medium‹ begriffen werden, welches Wirklich- keit und deren Bedeutung einerseits vermittelt, verarbeitet und speichert, andererseits aber genauso auch hervorbringt oder interpretiert.45 Als eine Kulturtechnik, die zwischen Funktion, Technik und Kunst, zwischen gesellschaftlichem Gebrauchswert und künstlerisch-symboli- schem Ausdrucksmedium oszilliert46, erscheint daher eine Untersuchung der Architektur im Sturm aus intermedialer Perspektive sinnvoll. Wesent- liche Erkenntnisziele einer intermedialen Fragestellung und Analyse

43 Vgl. ebd., S. 7. 44 Manfred Faßler, Was ist Kommunikation? München: Fink 1997, S. 99 (UTB 1960, Soziologie, Medienwissenschaften). 45 Friedrich Rogge, Olaf Weber, Gerd Zimmermann, Architektur als Kom- munikationsmittel. Eine Untersuchung ideeller Aneignung baulich-räumli- cher Umwelt unter informationellem, semantischem und psychologischem Aspekt. Weimar: Inst. f. Städtebau u. Architektur 1973; Renato de Fusco, Architektur als Massenmedium. Anmerkungen zu einer Semiotik der gebau- ten Formen. Gütersloh: Bertelsmann Fachverl. 1972 (Bauwelt-Fundamente; 33). 46 Vgl. Heike Delitz, Architektur, Artefakt, Kreativität. Herausforderungen soziologischer Theorie. In: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), »Die Natur der Gesellschaft«. Verhandlungsband des 33. Kongresses der DGS. Frankfurt/M. 2008, 5827-5836 (CD-Rom), hier S. 5827. Einleitung 25 liegen dabei unter anderem in der Untersuchung von Interferenzen und Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Künsten und der Archi- tektur, der damit einhergehenden Hybridisierung medialer und ästhe- tischer Diskurse und den daraus resultierenden neuen Verfahren von Bedeutungskonstitution. Gefragt wird also, inwiefern die »Vielschichtig- keit der Architektur«47 als umbauter Raum, als Kulturtechnik und als Idee mit anderen Denkbereichen und Künsten fusioniert, und in welchem Maße diese Interdependenzen als Teil des gesamtkulturellen Prozesses der radikalen Erneuerung der Künste um 1910 zu lesen sind. Intermediale Grenzüberschreitungen und Konfigurationen sind da- bei im Zeitalter der ›historischen Avantgarde‹48 und der literarischen Mo- derne, in deren Horizont sich die »expressionistische Avantgarde«49 des

47 Kristiana Hartmann, Neugier auf die Moderne. In: Trotzdem modern. Die wichtigsten Texte zur Architektur in Deutschland 1919-1933. Ausgew. und kommentiert von Kristiana Hartmann. Braunschweig-Wiesbaden: Viehweg 1994, S. 7-49, hier S. 9 (Bauwelt Fundamente; 99). 48 Die hier verwendete Bezeichnung ›historische Avantgarde‹ lehnt sich, trotz notwendiger Einschränkungen hinsichtlich ihrer Praktikabilität in Bezug auf den Sturm und den engeren Sturm-Kreis (s. u.), an Peter Bürgers viel diskutierte Schrift Theorie der Avantgarde an. Kernthese von Bürger ist, dass Futurismus, Dadaismus und Surrealismus eine epochale Sprengung der (bürgerlichen) Institution Kunst anstrebten und Kunst in eine »neue Lebenspraxis« überfüh- ren wollten. Peter Bürger, Theorie der Avantgarde. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1974, S. 67. Anknüpfend an Bürger hat Walter Fähnders den Versuch unter- nommen, vier Bestimmungen der ›historischen Avantgarde‹ herauszuarbeiten und sie gleichsam auch auf andere künstlerische Bewegungen zwischen 1910 und 1930 zu übertragen, da etwa der Expressionismus und Konstruktivismus von Bürger ausgespart blieben. Fähnders betont in seiner Abgrenzung der ›historischen Avantgarde‹ gegenüber der ›selbsternannten Moderne‹ in den intellektuellen Milieus um 1900 deren (a) Gruppen- und Bewegungscharak- ter, (b) die Aufhebung der künstlerischen Autonomie, (c) die Überführung von Kunst in Leben und (d) die tendenzielle Auflösung des Werkbegriffs. Vgl. Walter Fähnders, Avantgarde und Moderne 1890-1933. Stuttgart-Weimar: Metzler 1998, S. 7. Der Sturm besitzt vielfältige Verflechtungen mit der ›histo- rischen Avantgarde‹ in bildender Kunst und Architektur, er stellt sich jedoch auch als ein Podium für heterogene Strömungen der literarischen Moderne um 1910 dar, welche in den Konzepten Bürgers und Fähnders nicht aufgehen, da sie zum Beispiel am Werkbegriff und künstlerischer Autonomie festhalten (vgl. Kapitel V zu den Kunsttheorien des Sturm). 49 In den Thesen zur expressionistischen Moderne hat Thomas Anz den Expres- sionismus auf der einen Seite zur literarischen Moderne, auf der anderen 26 Einleitung

Sturm-Kreises bewegt, auf vielfältige Weise nachweisbar. Man denke etwa an die Verbindung von bildender Kunst und Schrift in der Buch-

Seite zur ›historischen Avantgarde‹ in Beziehung gesetzt. Wie die literari- sche Moderne allgemein, ist auch der Expressionismus als ein Phänomen gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse zu begreifen. Der Expressionis- mus partizipiert, wie die literarische Moderne insgesamt, an Prozessen der Technisierung, Verwissenschaftlichung, Medialisierung, Industrialisierung und Urbanisierung, die inhaltlich und formalästhetisch aufgenommen wer- den. Er ist ein »Phänomen der Ausdifferenzierung und Pluralisierung von Systemen« (330), d. h., er ist Teil einer komplexen, in unterschiedliche Wert- sphären ausdifferenzierten Gesellschaft. Das Kunstsystem selbst ist ebenfalls durch Ausdifferenzierung und ein Nebeneinander bzw. einen simultanen Stil- pluralismus gekennzeichnet, in dem keine verbindlichen Kunstnormen mehr existieren. Durch seinen »Innovationspathos« und die Verwendung von »Metaphern des Kampfes« (332) drückt sich zugleich eine avantgardistische Grundhaltung des Expressionismus aus, die ihr Verhältnis zur Tradition und zur Zukunft mittels ihrer Programme und Werke radikal neu zu bestimmen sucht, was teilweise eine revolutionäre Erneuerung der Lebenspraxis im Sinne Bürgers intendiert. Vgl. Thomas Anz, Thesen zur expressionistischen Moderne. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen. Hrsg. v. Sabina Becker und Helmuth Kiesel unter Mitarbeit von Robert Krause. Berlin-New York: de Gruyter 2007, S. 329-346. In der Selbstbeschreibung und Selbstbe- obachtung zentraler Protagonisten des Sturm wird kenntlich, dass diese sich als ›expressionistische Avantgarde‹ verstanden, da sich Künstler und Schrift- steller wie Herwarth Walden, Adolf Behne, Lothar Schreyer oder Rudolf Blümner bei der Bestimmung expressionistischer Literatur, Kunst und Archi- tektur ganz im Sinne der militärischen Konnotation des Begriffs ›Avantgarde‹ als ›Vorhut« begriffen. Im ›Expressionismus‹ wurde eine epochale Transfor- mation und der Beginn eines neuen Zeitalters in den Künsten erblickt (vgl. Kapitel IV, V und VI), an deren Spitze, so die Selbstwahrnehmung, der Sturm selber stand. Rudolf Blümner schreibt: »Gegenüber dem deutlichen Bestre- ben einiger malerischer und literarischer Kreise, sich die Bezeichnung des siegenden Expressionismus ohne künstlerische Berechtigung anzumassen, liegt es im Interesse einer reinen Scheidung der künstlerischen Werte und der künstlerischen Entwicklung, darauf hinzuweisen, dass alle Künstler, die eine führende Bedeutung für den Expressionismus haben, an einer Stelle vereint sind. Diese ist Der Sturm.« Rudolf Blümner, Der Sturm. Eine Einführung. Berlin: Verlag Der Sturm 1917, S. 1. So wird in dieser Arbeit von histori- scher Avantgarde gesprochen, wenn es um die Repräsentation verschiedener künstlerischer Strömungen im Sturm geht, von expressionistischer Avant- garde hingegen, wenn vom Sturm-Kreis selbst die Rede ist. Einleitung 27 illustration von Verlagen wie Kurt Wolf oder Paul Cassirer50, die neue Zuordnung von Bild und Text in der avantgardistischen Zeitschriften- kultur, an die Bedeutung der Mündlichkeit bzw. der Stimme für die Lese- bühnen des frühexpressionistischen Neopathetischen Cabarets in Ber- lin, der Sturm-Kunstabende oder dem dadaistischen Cabaret Voltaire in Zürich. Zu nennen wäre aber auch die Filmkunst. In Fortsetzung der gesamtkünstlerischen und synästhetischen Bestrebungen auf dem Gebiet des Theaters, zum Beispiel Wassily Kandinskys Bühnenkomposition Der gelbe Klang (1912), wird in Filmen wie Der Golem – wie er in die Welt kam (1920; Regie: Paul Wegener und Carl Boese) eine enge Wechselwir- kung der Künste evident, wie etwa die Filmarchitekturen Hans Poelzigs zeigen.51 Die Spannweite intermedialer Phänomene im Sturm ist im Hinblick auf die Wechselwirkungen der Künste und der Architektur als sehr weit aufzufassen. Es finden sich Phänomene der Medienkombination; so zum Beispiel die Veröffentlichung von Architekturskizzen und -modellen in der Zeitschrift und Kunstgalerie Der Sturm (Kapitel VII), der schon erwähnte Scheerbart arbeitet eng mit dem Architekten Bruno Taut zusam- men, dessen berühmtes Glashaus auf der Kölner Werkbundausstellung im Jahr 1914 emblematisch mit Aphorismen des Dichters ausgestattet wurde (Kapitel III). Auch sind Ideen einer synästhetischen Bühnenkunst bei Lothar Schreyer anzutreffen, die dieser zu einer architektonischen Gesamtkunstwerkskonzeption verdichtete, die in engem Zusammenhang mit der Ikonografie der um 1918 in den Künsten virulenten Sinnbild der gotischen Kathedrale diskutiert wird (Kapitel VI). Ebenso kann die Merz- architektur von Kurt Schwitters im Kontext der Phänomene der Medien- kombination betrachtet werden (Kapitel VII). Zu Phänomenen des Medi- enwechsels sind zum Beispiel die Applikation architekturtheoretischer Annahmen und Prinzipien in die Wortkunst (Kapitel V) oder die Bau- und Konstruktionsmetaphoriken in kunst- und literaturprogrammati- schen Manifesten im Sturm zu zählen (Kapitel IV). Intermediale Bezüge können ebenso nachgewiesen werden, etwa in der expressiven Ekphrasis des Straßburger Münster von John Wolfs und natürlich wiederum in der Literatur Scheerbarts (Kapitel III und IV). Vor allem die Phänomene des Medienwechsels und die intermedialen Bezüge führen im Sturm partiell

50 Vgl. Lothar Lang, Expressionistische Buchillustration in Deutschland 1907- 1927. Frankfurt/M. u. a.: Bucher 1975. 51 Zur Interdependenz der Künste im expressionistischen Film vgl. Thomas Anz, Literatur des Expressionismus. Stuttgart-Weimar: Metzler 2002, S. 153f. 28 Einleitung zu einer ›Architekturalisierung der Künste‹, wie in den erwähnten Kapi- teln dargestellt wird. Im Sinne eines synthetisierenden Vorgehens wird hierbei kein einseitiges Theoriedesign angewandt, sondern ein absichtsvoll praktizierter Metho- denpluralismus, wie er seit einigen Jahren in den Literatur- und Kultur- wissenschaften anzutreffen ist. Dieser legt sich weder ausschließlich auf eine einzige Methode fest noch liegt er intradisziplinären Beschränkun- gen auf.52 Bis heute existieren allerdings auch keine originäre und kano- nisierte Methode und keine operablen Instrumente, auf deren Grund- lage architekturale Phänomene und ihre Wechselwirkungen mit anderen Künsten umfassend beschrieben werden könnten. Um der Gefahr einer einseitigen Lektüre und Interpretation der Quellen und Archivalien zu entgehen, aber auch um architekturale Phänomene im Sturm möglichst umfangreich zu erfassen und dabei für bisher unentdeckte und unerwar- tete Befunde offen zu bleiben, müssen folgerichtig die theoretischen und methodischen Ansätze verschiedener Disziplinen einbezogen werden. So besteht die Notwendigkeit, Überlegungen aus den Bereichen der Architektur-, Technik-, Sozial- und Kulturgeschichte ebenso zu integrie- ren wie Ansätze der hermeneutischen und ikonographischen Interpreta- tionspraxis. Gleiches gilt für rezeptions- und wirkungsästhetische Zugänge, die ebenso Berücksichtigung finden, wie sich die Analyse meta- pherntheoretischen und intertextuellen Betrachtungsweisen nicht ver- schließt. Jedes Kapitel der Arbeit enthält eine kurze Einleitung, in der die erkenntnisleitenden Fragen eingegrenzt sowie auf die entsprechende Sekundärliteratur verwiesen wird. Das methodische und theoretische Vor- gehen der einzelnen Kapitel wird dabei im Folgenden in der allgemeinen Einleitung entwickelt. Nur mit methodischem Pluralismus, so die Über- zeugung, lässt sich das breite Spektrum und die Komplexität architek- turaler Phänomene im Sturm angemessen beurteilen und interpretieren. Die Bedeutung, Wirkung und Rezeption der Architektur im Sturm, ihre intermedialen Verschränkungen mit anderen Kunst- und Denkbereichen, kann nicht getrennt von den sozialen, gesellschaftlichen, historischen, medialen und kulturellen Bedingungen und Umbrüchen sowie urbanen Transformationsprozessen des ausgehenden 19. Jahrhunderts betrachtet

52 Vgl. Sabina Becker, Literatur- und Kulturwissenschaften. Ihre Methoden und Theorien. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2007, S. 16f.; Oliver Jahraus, Literaturtheorie. Theoretische und methodische Grundlagen der Literatur- wissenschaft. Tübingen-Basel: Francke 2004, S. 11f. (UTB 2587, Literatur- wissenschaft). Einleitung 29 werden, wie im nächsten Schritt gezeigt wird, der die Gliederung der Arbeit und ihre einzelnen Kapitel kontextualisiert und in den größeren Zusammenhang der zivilisatorischen und ästhetischen Moderne hebt.

3. Materialität und Medialität der Architektur um 1900. Kontext und Gliederung der Arbeit

Wie oben schon angedeutet wurde, geht es in dieser Arbeit nicht nur um eine Analyse diskursrelevanter gebauter oder geplanter Objekte, die im Sturm abgebildet oder ausgestellt wurden. Vielmehr wird auch der Einfluss von Architektur als ›Medium‹ auf kulturelle Austausch- und Aneignungsprozesse der europäischen Avantgarden im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts untersucht. Denn der kommunikativen Streuung neuer ästhetischer Ideen, Theorien und Auffassung via Architektur kommt im Sturm und seinen institutionellen Vorläufern eine besondere Bedeutung zu, wie die Rezeption, Popularisierung und Verteidigung der Reformar- chitektur im Verein für Kunst und der Architektur der Wiener Moderne in der Gründungsphase der Zeitschrift deutlich machen. Die ersten beiden Kapitel haben somit die Vorgeschichte und die Grün- dungsphase des Sturm zum Gegenstand, wobei immer nach Bezügen zur Architektur gefragt wird. Denn Herwarth Walden konnte bei der Entste- hung des Sturm im Frühjahr 1910 auf ein fast zehnjähriges kultur- und kunstpolitisches Engagement in Berlin zurückblicken. Den wichtigsten institutionellen Vorläufer des Sturm bildet der Verein für Kunst (1904- 1911). Die Geschichte des Vereins für Kunst wird organisations- und gruppensoziologisch skizziert und analysiert. In diesen Verein werden, wenn auch nicht sehr häufig, moderne Architekten zu Vorträgen einge- laden, wie die Aufgliederung und die Rekonstruktion des ›baukünstleri- schen Profils‹ ergibt. Neue Aufschlüsse und erste Ansätze bieten die Brief- wechsel zwischen Walden und modernen Architekten. Sie offenbaren bereits in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts ein spezifisches, wenn auch nicht sehr ausgeprägtes Interesse des späteren Sturm-Gründers an zeitgenössischen Baufragen. Walden stand mit prominenten Vertretern funktionaler Baukunst, Erneuerern des Kunstgewerbes und Reformarchi- tekten in Deutschland und Österreich um 1900 in vielseitigem Austausch und pflegte Kulturbeziehungen, die allerdings oftmals einen sehr spora- dischen und kurzzeitigen Charakter besaßen. Zu Korrespondenzpartnern Waldens oder Referenten im Verein für Kunst zählten: Peter Behrens, Max Berg, Adolf Loos, Alfred Messel, Hermann Muthesius, Bruno Paul 30 Einleitung und Henry van de Velde. Die wichtigsten Ideen zur Architektur dieser Persönlichkeiten, soweit sie im Verein für Kunst zu Wort kamen, wer- den deskriptiv vorgestellt, da sie einen wichtigen Referenzrahmen für die Architektur im Sturm bilden.53 Desgleichen werden diejenigen Zeitschrif- ten einer qualitativen Inhaltsanalyse unterzogen, für die Walden vor dem Sturm als Schriftleiter amtierte, und die parallele Arbeit zum Verein für Kunst in Hinsicht auf veröffentlichte Architekturpublizistik ausgewer- tet. Ausgesucht wurden hierzu die Zeitschriften Morgen. Wochenblatt für deutsche Kultur und Das Theater, weil für diese beiden Blätter eine etwas längerfristige Anstellung Waldens vorliegt und er somit die redak- tionelle Linie inhaltlich am stärksten nach individuellen Vorstellungen und Maßgaben gestalten konnte. Die Inhaltsanalyse wird durch exem- plarisches close reading einzelner Beiträge zur Architektur in den von Walden redaktionell betreuten Zeitschriften ergänzt. Mittels der Inhalts- analyse dieser Beiträge und der daraus ersichtlichen ›Blattpolitik‹ können Prozesse und Diskursstrategien beobachtet werden, die einen Aufschluss über Waldens Positionierung in Hinsicht auf Fragestellungen der zeitge- nössischen Architektur- und Stildebatte kenntlich machen. Deutlich wird immer wieder eines: Walden besaß ein ausgeprägtes Gespür für architek- tonische Aspekte im Zusammenhang mit dem Erneuerungsdiskurs der Künste um 1900. Er selbst äußerte sich ebenfalls sukzessive zu baukünst- lerischen Fragen und Problemstellungen (Kapitel I). Als ein nicht-sprachliches Zeichensystem generiert die Baukunst durch die Verwendung plastischer und räumlicher Bilder Signale, Infor- mationen und Botschaften, die eine große Anzahl von Rezipienten errei- chen. Die Kommunikation zwischen Sendern (Architekten, Künstlern) und Empfängern (Publikum, Gesellschaft) ist um 1910 als ›gestört‹ zu bezeichnen, wie die Debatte um das Haus am Michaelerplatz (1909- 1911) des Wiener Architekten und Kulturtheoretikers Adolf Loos erken- nen lässt, die breiten Eingang in den Sturm gefunden hat. Gerade die Architektur erscheint somit in der Frühphase des Sturm als geeigneter ›Kampfplatz‹ für eine moderne Kunst und Kultur. Denn durch die Situ- ierung im öffentlichen Raum vermag die Baukunst viel stärker als die

53 Peter Behrens und Bruno Paul haben trotz zum Teil mehrfacher Einladung nicht im Verein für Kunst referiert. Zur Bedeutung von Behrens und Loos für den Sturm vgl. Kapitel 2. Max Berg, seit 1909 Stadtbaumeister von Breslau und Architekt der »Jahrhunderthalle«, eines epochemachenden Stahlbeton- baus, nahm 1912 mit Walden Kontakt auf. sollte das neue Breslauer Krematorium mit Fresken ausgestalten. Vgl. Kapitel 6. Einleitung 31 anderen Künste für mediales Aufsehen, Provokationen und Debatten zu sorgen. Auch Sichtbarkeiten neuer ästhetischer Paradigmen kann Archi- tektur ganz anders herstellen als Bilder, Literatur oder Musik. Ein Grund hierfür liegt darin, dass die Formen der Architektur viel augenscheinli- cher in die allgemeinen Lebenszusammenhänge der Menschen inkludiert sind, als es in den übrigen, vom Alltag abgehobenen autonomen Teil- bereichen ästhetischer Praxis der Fall ist.54 »Bilder, Poesie, Musik las- sen sich ignorieren, Raum und Baukörper nicht.«55 Die radikale Orna- mentkritik, die Loos sowohl theoretisch als auch praktisch begründet, wird im Sturm umfassend rezipiert und nicht nur auf programmatischer Ebene produktiv angeeignet. Die Überlegungen in Ornament und Verbrechen (1908) sind einerseits auf poetologische und feuilletonkritische Überlegungen appliziert wor- den. Die Gedanken von Loos lieferten andererseits aber auch der Archi- tektur- und Stadtkritik im Sturm zentrale Stichworte und Theoreme. ›Sachlichkeit‹ und ›Einfachheit‹ wurden zu bedeutsamen ästhetischen Kategorien, die bei Walden noch in den 1920er Jahre nachweisbar sind. Ausgehend von der Kulturtheorie von Loos entwickelte sich im Sturm ein Architekturdiskurs, der in dieser Arbeit in Zusammenhang mit der Grün- dung und Profilierung der Zeitschrift gestellt wird. Viel stärker als bisher angenommen müssen die Gründungsphase des Sturm und die baukünst- lerischen Aktivitäten der Wiener Moderne um 1910 aufeinander bezogen werden. Loos steht dabei für die Überführung von Kunst in eine neue Lebenspraxis. Diese Tendenz im Bereich der Architektur hat Michael Müller in Anschluss an die Kategorien von Peter Bürger analysiert: »In ihrem Versuch, Architektur in Lebenspraxis zu überführen, sie aus der tradierten Vorstellung, Architektur müsse Kunst sein, herauszulösen« 56, entspricht, so Müller, die Architekturavantgarde von ihrer Zielsetzung her – angefangen bei Loos bis zum Neuen Bauen in der Weimarer Repu- blik – der ›historischen Avantgarde‹ in der bildenden Kunst.

54 Vgl. Michael Müller, Architektur als ästhetische Form oder ästhetische Form als lebenspraktische Architektur. In: Werner Martin Lüdke (Hg.), ›Theorie der Avantgarde‹. Antworten auf Peter Bürgers Bestimmung von Kunst und bürgerlicher Gesellschaft. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1976, S. 268-319, hier S. 270. 55 Wolfgang Pehnt, Architektur des Expressionismus. (Vollst. neu bearb. Aufl.) Ostfildern-Ruit: Hatje 1998, S. 8. 56 Michael Müller, Architektur und Avantgarde. Ein vergessenes Projekt der Moderne? Frankfurt/M.: Syndikat Autoren- u. Verl.-Ges. 1984, S. 43. 32 Einleitung

Somit ist auch zu fragen, in welcher Form sich die Protagonisten des Sturm an den Auseinandersetzungen um die Definition einer zeitgemä- ßen respektive modernen urbanen Kultur beteiligten. In Kapitel II wird ebenfalls dokumentiert, inwieweit der öffentliche Raum in der wilhelmi- nischen Ära als konkretes Handlungsfeld verstanden wurde, in dem es galt, nicht mehr nur eine neue Literatur und Kunst zu proklamieren und zu repräsentieren, sondern auch gegen den »Militarismus in der Archi- tektur« (Paul Scheerbart) zu agieren und für eine avancierte Baukunst zu aktivieren. Hierbei geraten besonders die Bauten des Berliner Stadtbaura- tes Ludwig Hoffmann in das Blickfeld der Kritik, die vom Sturm-Kreis als Symbol für Historismus und damit einer zutiefst verachteten künstleri- schen Haltung bekämpft werden. Die Überwindung historistischer Über- zeugungen, wie sie nicht nur von Loos57, sondern auch von Architekten wie Messel, van de Velde, Muthesius aber auch von Kunstkritikern wie Ernst Schur oder Joseph August Lux im Rahmen der kulturpolitischen Aktivitäten Waldens vor der Gründung des Sturm postuliert werden, gewinnen gleichsam eine praktische Qualität, da sie in erster Linie auf Funktionalität und Zweckmäßigkeit ausgerichtet sind. Die Bauten Ludwig Hoffmanns hatten, so die These in dieser Arbeit, für die Berliner Moderne einen ähnlich hohen ästhetischen Reizwert wie die Ringstraße für die Wiener Moderne. Das durch Friedrich Nietzsche geschulte Zeitbewusstsein von Modernisten und Avantgardisten in Berlin und Wien richtet sich gegen die als falsch erkannte Normativität eines aus der Nachahmung von Vorbildern geschöpften Geschichtsverständ- nisses58, wie es insbesondere der Historismus und Eklektizismus des aus- gehenden 19. Jahrhunderts repräsentieren. Die Wiener Ringstraße und die Architektur Hoffmanns wurden so zu symbolischen Zentren dieser intellektuellen Kritik an der bürgerlichen und adligen Kultur und ihren kulturellen und urbanen Repräsentationsformen. Der Architekturdiskurs im Sturm besitzt ebenso ambivalente Züge, wie sie Werner Frick ausführlich für die anderen Künste in der Zeit der klassischen Moderne insgesamt beobachtet hat. Denn so sehr auch die expressionistische Avantgarde den Vergangenheits- und Traditionsbruch inszeniert, kann sie doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie sich

57 Vgl. Dirk Niefanger, Produktiver Historismus. Raum und Landschaft in der Wiener Moderne. Tübingen: Niemeyer 1993, S. 37. 58 Jürgen Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. In: ders., Die Moderne – ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze 1977-1990. Leipzig: Reclam 1990, S. 32-54. Einleitung 33 dabei auf ältere »kulturelle Formationen als Vehikel und Präfiguration zur Etablierung des Allerneusten«59 beruft. Die Tabula-rasa-Szenarien und die Rhetoriken der Überbietung besitzen Anschluss an kanonisierte Prätexte und stellen sich dar als eine »Koalition aus Vorzeitigkeit und Präsenz«60. Die gotische Kathedrale und deren Rezeption und Beschrei- bung bilden beispielsweise einen solchen kulturellen Korpus, auf den die expressionistische Avantgarde zurückgreifen kann. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die rückwärtige Kontinuität auf der einen, der futu- ristische »Blick vom Wolkenkratzer«61 auf der anderen Seite, verschrän- ken sich auf spezifische Art und Weise im Architekturdiskurs des Sturm, wie die Auseinandersetzung mit Ludwig Hoffmann und die Rezeption der gotischen Kathedrale durch unterschiedliche Autoren der Zeitschrift kenntlich macht. Damit ist auch angedeutet, dass sich intermediale architektonische Phänomene im Kontext des Sturm nicht allein auf den Schriftsteller Paul Scheerbart beschränken lassen. Dieser hat die gotische Kathedrale als »Präludium«62 der Glasarchitektur (1914) bezeichnet. In einer rezenten synoptischen Darstellung zur Intermedialität im Expressionismus wird Scheerbart eigens hervorgehoben. Auch wenn Thomas Anz zu Recht schreibt, dass Scheerbart seine »architektonischen Ideen mit erzähleri- schen Mittel« dargestellt habe und die Glasarchitektur »rasch zum Kult- buch der Architekturavantgarde«63 avancierte, sollen die Wechselwir- kungen zwischen der Architektur und den anderen Künsten im Sturm, wie bereits aufgeworfen, weiter gefasst werden – gleichwohl die ›Archi- tekturdichtungen‹ von Scheerbart auch in dieser Arbeit einen wichtigen Gegenstand der Analyse bilden: Denn wenn Walter Benjamin notiert, dass Bauten auf doppelte Art rezipiert werden, nämlich »durch Gebrauch und durch Wahrnehmung«

59 Werner Frick, Avantgarde und longue durée. Überlegungen zum Traditions- verbrauch der klassischen Moderne. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, S. 97-112, hier S. 98. 60 Ebd. S. 99. 61 Vgl. Wolfgang Asholt und Walter Fähnders (Hgg.), Der Blick vom Wolken- kratzer. Avantgarde – Avantgardekritik – Avantgardeforschung. Amsterdam- Atlanta: Rodopi 2000. 62 Paul Scheerbart, Glasarchitektur. Hrsg. v. Helmut Geisert und Fritz Neu- meyer. Mit einem Nachw. zur Neuausgabe von Mechthild Rausch. Berlin: Gebr. Mann 2000, S. 81. 63 Anz, Literatur des Expressionismus, S. 154. 34 Einleitung beziehungsweise »taktil und optisch«64, so kann man hinzufügen, dass im Sturm eine literarisch vermittelte Rezeption von Baukunst eine wich- tige Rolle spielt, eine Buchstäblichkeit der Architektur existiert. Scheer- barts Gedanken zur Glasarchitektur erfahren im Kontext des Sturm viel- fältige Fortschreibungen und eine produktive Anverwandlung, wie die kunstphilosophischen, architekturtheoretischen und poetischen Schriften von wichtigen Beiträgern der Zeitschrift wie Lothar Schreyer, Hermann Essig, Adolf Behne oder Bruno Taut zeigen. Insofern wird herausgear- beitet, welche »Wirkung und Rezeption« die Literatur von Scheerbart im Umfeld des Sturm erlangt und wie sich der kommunikative Prozess zwischen »Autor und Publikum«65 angesichts der historischen Situation – der sozialen, gesellschaftlichen und kulturellen Dynamik vor, wäh- rend und nach dem Ersten Weltkrieg – gestaltet. Besondere Bedeutung kommen dabei unter den gegenwärtigen Modellen in den Methoden der Literatur- und Kulturwissenschaften der Rezeptionstheorie und Wir- kungsästhetik zu, die seit den 1970er Jahren zu zentralen Konzepten der Erzählforschung geworden sind.66 Diese methodischen Verfahren gehen im Gegensatz zur produktionsästhetisch orientierten Ästhetischen Theo- rie (1970) Theodor W. Adornos von der Grundannahme aus67, dass sich ein literarisches Werk hauptsächlich im Rezeptionsprozess realisiert und konstituiert und dass der »Akt des Lesens«68 die vielfältige ästhetische Schichtung eines Textes im Spannungsfeld von Erwartungshorizont und Horizonterweiterung beobachtbar macht.

64 Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu- zierbarkeit (Zweite Fassung). In: ders., Gesammelte Schriften. Unter Mit- wirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem hrsg. v. Rolf Tie- demann und Hermann Schweppenhäuser. Bde. I-VII. 1972-1999. Bd. I/2. Hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 471-508, hier S. 504. 65 Hans-Robert Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 20. 66 Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt/M.: Suhr- kamp 1970; Wolfgang Iser, Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz: Universitätsverl. 1970. 67 Zur Auseinandersetzung von Rezeptionsästhetik mit zentralen Annahmen Adornos vgl. Jauß, Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, S. 44-71. 68 Wolfgang Iser, Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München: Fink 1976 (UTB 636). Einleitung 35

Nicht mehr das Werk eines Autors steht im Mittelpunkt des Interesses der Rezeptionsästhetik. Vielmehr geraten nun Aufnahme und Aneignung eines prinzipiell als offen und polyvalent gedachten literarischen Textes durch die Rezipienten (Leser, Autoren) im Zuge des historischen Wan- dels in den Fokus der literaturwissenschaftlichen Analyse. Der schöpfe- rische Lesevorgang, die Mitarbeit am Text, sorgt, so eine Prämisse der ›Konstanzer Schule‹, für die Entfaltung von unterschiedlichen Ebenen der Bedeutung und Wirkung von Literatur. Scheerbarts Romane und Kurzprosa, aber auch sein Architekturma- nifest, generieren auf literarischem Wege potentielle Möglichkeiten einer konstruktiven Baukunst und einer globalen Glaskultur, deren phantasti- sche und utopische Dimensionen junge Architekten und Architekturthe- oretiker begeistert aufgreifen, welche aber auch von Schriftstellern und Künstlern im Sturm auf verschiedene Art und Weise verarbeitet werden. Zum einen gilt es ausgehend von diesen Beobachtungen zu fragen, welche ästhetisch-programmatische Bedeutung Scheerbart für Walden und den Sturm hatte. Inwieweit bereitet darüber hinaus Scheerbarts Insistenz auf ästhetischen Ideen wie ›Einfachheit‹ und ›Konstruktion‹, die primordial in seinem Œuvre nachweisbar ist, einen Resonanzboden für die amimeti- sche Kunstauffassung des Sturm (Kapitel III)? Auf der einen Seite wurde die großstädtische Urbanität als Produkt und Paradigma der Moderne als ›baulich‹ gestaltbar und formbar erfahren, wie die Beispiele von Loos bis Scheerbart im Sturm deutlich machen. Auf der anderen Seite hatten Urbanität und architektonische Entwicklungen selbst großen Einfluss auf die Herausbildung moderner und avantgardisti- scher Ästhetiken und Poetiken. So entwickelte sich Berlin zwischen 1890 und 1910 in der Wahrnehmung der Zeitgenossen zum symbolischen Ort der Moderne und zum Bild der modernen Großstadt schlechthin.69 Indus- trialisierung, Urbanisierung, motorisierte Verkehrsformen, neue Medien- und Kommunikationsnetze sowie ein enormes Bevölkerungswachstum prägten um die Jahrhundertwende das Gesicht der Metropole.70 Nach dem Deutsch-Französischen Krieg und der Reichsgründung stieg die Einwohnerzahl in den 1870er Jahren auf eine Million Menschen

69 Vgl. Peter Sprengel und Gregor Streim, Berliner und Wiener Moderne. Ver- mittlung und Abgrenzung in Literatur, Theater, Publizistik. Wien-Köln-Wei- mar: Böhlau 1998, S. 24. 70 Vgl. Ulrich Troitzsch, Technik, Naturwissenschaften und Medizin. In: Die- ter Langewiesche (Hg.), Das deutsche Kaiserreich. 1867/71 bis 1918. Bilanz einer Epoche. Freiburg-Würzburg: Ploetz 1984, S. 166-180. 36 Einleitung an und erreichte 1918 die Vier-Millionen-Grenze. Die seit 1871 schnell expandierende Reichshauptstadt übte auf zahlreiche junge Intellektuelle eine hohe Anziehungskraft aus. In Berlin existierten die größten kunstin- teressierten Bevölkerungsschichten, hier gab es die höchste Anzahl Thea- ter, die wichtigsten Galerien, die meisten literarischen Vereinigungen und wichtige Künstlerkolonien wie die in Friedrichshagen, Woltersdorf und Schlachtensee. Die Reichshauptstadt war ebenfalls gekennzeichnet durch ihre extreme soziale Polarisierung, die auch geographisch bestimmt war: auf der einen Seite das Großbürgertum in Berlin-West und auf der anderen Seite die Arbeiterviertel in Berlin-Nord und Berlin-Ost.71 In seinem Prosa- Text Berlin und die Künstler reflektiert Alfred Döblin, einer der eifrigsten Mitarbeiter Waldens, rückblickend aus dem Jahr 1922 die tief greifenden Wandlungs- und Modernisierungsprozesse der Jahrhundertwende:

Berlin ist wundervoll. Die Pferdebahnen gingen ein, über die Stra- ßen wurden elektrische Drähte gezogen, die Stadt lag unter einem schwingenden, geladenen Netz. Dann bohrte man sich in die Erde ein; am Spittelmarkt versoff eine Grube; unter die Spree ging man durch bei Treptow; der Alexanderplatz veränderte sich, der Wit- tenbergplatz wurde anders: das wuchs, wuchs! Am Leipziger Platz der zauberhafte Wertheimbau, eine Straßenfront, wie belanglos ihr gegenüber das Herrenhaus, das Haus der ertrunkenen, schon längst begrabenen Herren. Am Schiffbauerdamm, in der Brunnenstraße, die AEG: eine Lust!72

In der Wahrnehmung der Zeitgenossen veränderten sich Berlin und auch die anderen europäischen Metropolen in einer spürbaren Geschwindig- keit. Die dynamischen Landschaften der urbanisierten Welt, die sich ständig wandelnden Topografien der Großstädte, avancierten dabei zu unabdingbaren Erfahrungs- und Bewegungsräumen der literarischen und künstlerischen Avantgardebewegungen, wie dem italienischen Futuris-

71 Vgl. Jost Hermand, Moderne, Avantgarde, Sezession 1885-1914. In: »Helle Panke« zur Förderung von Politik, Bildung und Kultur e.V. (Hg.), Berliner Moderne im Widerstreit. Politik, Kultur und Kunst zwischen Konservatis- mus und Avantgarde. Berlin: Helle Panke 2002, S. 5-16, hier S. 15f. 72 Alfred Döblin, Berlin und die Künstler. Hemmt oder beeinträchtigt Berlin wirklich das künstlerische Schaffen? In: ders., Schriften zu Leben und Werk. Hrsg. v. Erich Kleinschmidt. Olten-Freiburg i. Br.: Walter 1986, S. 37-39, hier S. 39. Einleitung 37 mus und deutschen Expressionismus, in welchen sich neue Poetiken und Ästhetiken erst konstituieren konnten.73 Industrialisierung, Technisierung und Urbanisierung im 19. Jahrhun- dert führten dazu, dass in der ästhetischen Moderne neue Wahrneh- mungsmuster entstehen. Bereits in E. T. A. Hoffmanns Prosatext Des Vet- ters Eckfensters (1822), aber spätestens seit Charles Baudelaires Essay Der Maler des modernen Lebens (1863) kann ›Urbanität‹ als eine der (Natur-)Landschaft gleichberechtigte Beobachtungssphäre in der Litera- tur gelten74, in der neue Seh- und Betrachtungsweisen der empirischen Wirklichkeit exemplarisch vorgeführt und eingeübt werden. Nirgendwo sonst wird ›Modernität‹75 so intensiv erfahren und reflektiert wie inParis,

73 Vgl. Silvio Vietta, Großstadtwahrnehmung und ihre literarische Darstellung. Expressionistischer Reihungsstil und Collage. In: DVjs 48 (1974), H. 2, S. 354-373. 74 E.T.A. Hoffmann, Des Vetters Eckfenster. In: ders., Poetische Werke in sechs Bänden. Bd. 6: Meister Floh. Briefe aus den Bergen. Letzte Erzählungen. Berlin: Aufbau-Verl. 1958, S. 742-774; Charles Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens. In: ders., Der Künstler und das moderne Leben. Essay, »Salons«, intime Tagebücher. Leipzig: Reclam 1990, S. 290-320. 75 Es kann an dieser Stelle nicht ausführlich auf die Begriffsgeschichte von ›Moderne‹ als neuzeitliche Makroepoche und damit verbundene semantische Ableitungen wie »Modernität, Modernisierung, Modernismus« (Klinger) und auf ästhetische ›Moderne‹ als spezifisch »gegenwärtiges Zeitbewusst- sein« (Gumbrecht) und kontingentes Weltverständnis abgehoben werden, wie es sich etwa in den Querelle des Anciens et des Modernes in Frankreich an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert manifestiert. Vgl. ausführlich dazu Cornelia Klinger, Modern / Moderne / Modernismus. In: Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt u. a. (Hgg.), Ästhetische Grundbe- griffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 4. Stuttgart: Metzler 2002, S. 121-167; Hans Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hgg.), Geschichtli- che Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 4. Stuttgart: Klett-Cotta 1978, S. 93-131; Hervorzuheben ist, dass gesellschaftliche Moderne und ästhetische Moderne nicht kongruent verlaufen und in Letzterer zum Teil konträre ästhetische und poetologische Konzepte ein disparates und ambivalentes Verhältnis zur gesellschaftlichen Moderne aufweisen, das mit dichotomen Vereinfachungen und Gegensatz- paaren wie fortschrittlich vs. rückschrittlich, modern vs. antimodern etc. nur unzureichend beschrieben wäre. In der jüngeren literatur- und kulturwissen- schaftlichen Forschung hat sich die Einsicht durchgesetzt, Moderne nicht mehr ausschließlich an bestimmten Poetiken oder Ästhetiken zu knüpfen, 38 Einleitung der Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, wie Benjamin die französische Kapitale nennt.76 Die großstädtische Topografie markiert einen konkre- ten Erfahrungs- und Bewegungsraum und avanciert zum Symbol des modernen Lebens mit allen psychologischen Konsequenzen. Baudelaires berühmte Figur des Flaneurs lässt sich im Großstadtdschungel treiben. Als passiver Beobachter nimmt der Flaneur die großstädtischen Reize und Entwicklungen auf und verarbeitet sie: Er ist ein »Mann der Menge«, für den es ein Genuss darstellt, »in der Masse zu hausen«, »im Wogenden, in der Bewegung, im Flüchtigen und Unendlichen«77 der großstädtischen Topografie zu verschwinden und irgendwo wieder aufzutauchen. Was mit Baudelaire kenntlich wird, ist, dass die »Kultur der europäi- schen Avantgarde, wie die der Moderne insgesamt, [von Beginn an, R. H.] die Kultur der Großstädte und schließlich die der Metropolen ist«78. Trotz aller Ambivalenz in der Großstadtwahrnehmung, die ästhetischen Refle- xionen beispielsweise der expressionistischen Großstadtlyrik schwanken zwischen »Großstadtverklärung und Großstadtverdammung«79, wurden Metropolen wie Paris, London, Wien oder Berlin und deren urbane Kul- tur und Reize als adäquater und vitaler intellektueller und künstlerischer Lebensbereich und oftmals als unverzichtbarer Handlungs- und Erfah- rungsraum angesehen – in Abgrenzung zu allem Provinziellen. Gleich- wohl darf man nicht vergessen, dass natürlich auch Kleinstädte und Künstlerkolonien wie Bayreuth (Richard Wagner), Worpswede, Dres-

sondern auch die generelle Haltung gegenüber den Prozessen der gesellschaft- lichen Modernisierung in den Blick zu nehmen. »Moderne wäre sodann die kategorische und permanente Hinterfragung von Modernisierungsprozes- sen«, schreiben Sabina Becker und Helmuth Kiesel in: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, S. 9-35, hier S. 13. 76 Walter Benjamin, Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts. In: ders., Das Passagen-Werk. Hrsg. v. Rolf Tiedemann. 2 Bde. Bd. 1. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, S. 45-59. 77 Baudelaire, Der Maler des modernen Lebens, S. 297f. 78 Michael Müller, Einleitung. In: Metropolis. Avant Garde 1. Hrsg. v. Michael Müller, Ben Rebel. Amsterdam: Rodopi 1988, S. 5-10, hier S. 5. 79 Jost Hermand, Das Bilder der ›großen Stadt‹ im Expressionismus. In: Klaus R. Scherpe (Hg.), Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988, S. 61-79, hier S. 73. Einleitung 39 den-Hellerau oder der Monte Verità zentrale Orte und Zentren auf den ›Landkarten‹ der »gefühlten Moderne«80 um 1900 darstellten. Die großstädtische Lebenswelt und die Entstehung urbaner Mentalitä- ten waren dabei eng an Wahrnehmungsphänomene wie die Flüchtigkeit und das Zufällige gekoppelt, die Georg Simmel in seiner stadtsoziolo- gischen Abhandlung Die Großstädte und das Geistesleben (1903) im Zusammenhang mit der Geldwirtschaft und der ›Steigerung des Nerven- lebens‹ bei dem Typus des intellektuellen Großstädters beschrieben hat.81 Die urbanen Wahrnehmungen und neue mediale Erfahrungen in enorm anwachsenden Städten wie Paris, London oder Berlin bringen veränderte literarische Darstellungsformen hervor. Das Simultangedicht oder auch die literarische Montage orientieren sich dabei zum Teil an der Schnitt- technik des Films. Jakob van Hoddis Kinematograph, dass vorletzte Gedicht aus dem Varietè-Zyklus, welcher 1910 im Sturm erschienen war, führt mitten hinein in das Zeitalter der Beschleunigung und den Wandel der Wahrnehmung in der Moderne, von einem ganzheitlichen zu einem zerstückelten, beschleunigten und kollektiven Erfahrungsprozess, der sich hier in einer intermedialen ›Filmisierung der Literatur‹ niederschlägt. Allerdings wird in diesem simultanen Kinogedicht nicht auf ein konventi- onelles umschließendes Reimschema (abba) und 4-versige Strophenform verzichtet und das neue Medium Film ambivalent beurteilt:

Der Saal wird dunkel. Und wir sehn die Schnellen Der Ganga, Palmen, Tempel auch das Brahma, Ein lautlos tobendes Familiendrama Mit Lebemännern dann und Maskenbällen.

Man zückt Revolver, Eifersucht wird rege, Herr Piefke duelliert sich ohne Kopf. Dann zeigt man uns mit Kiepe und mit Kropf Die Älplerin auf mächtig steilem Wege.

80 Georg Bollenbeck, ›Gefühlte Moderne‹ und negativer Resonanzboden. Kein Sonderweg, aber deutsche Besonderheiten. In: Literarische Moderne. Begriff und Phänomen, S. 39-60. 81 Vgl. Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben. In: ders., Gesamt- ausgabe. Hrsg. v. Otthein Rammstedt. 7 Bde. Bd. 1: Aufsätze und Abhand- lungen 1901-1908. Hrsg. v. Rüdiger Kramme, Angela Rammstedt und Ort- hein Rammstedt. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995, S. 116-131. 40 Einleitung

Es zieht ihr Pfad sich bald durch Lärchenwälder, Bald krümmt er sich und dräuend steigt die schiefe Felswand empor. Die Aussicht in der Tiefe Beleben Kühe und Kartoffelfelder.

Und in den dunklen Raum – mir ins Gesicht – Flirrt das hinein, entsetzlich! Nach der Reihe! Die Bogenlampe zischt zum Schluss nach Licht – Wir schieben geil und gähnend uns ins Freie.82

Auch in der Prosa, blickt man zum Beispiel auf Rainer Maria Rilkes Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge (1910), zeigt sich ein enger Konnex zwischen moderner Literatur und Urbanität, eine »urbane Poetik«83, die mit den traditionellen Formen des Bildungsromans, der medialen Leitgattung des Bürgertums im 19. Jahrhunderts, und der Idee des geschlossenen Kunstwerks bricht. Den Prozess der Veränderbarkeit menschlicher Erfahrungs- und Wahrnehmungsformen und den damit ein- hergehenden Wandel formalästhetischer Gestaltung in den Künsten – von der Antike bis zur Moderne –, hat Benjamin im Kunstwerk-Aufsatz in seiner ganzen Historizität beleuchtet:

Innerhalb großer geschichtlicher Zeiträume verändert sich mit der gesamten Daseinsweise der menschlichen Kollektiva auch die Art und Weise ihrer Sinnenswahrnehmung. Die Art und Weise, in der die menschliche Sinneswahrnehmung sich organisiert – das Medium, in dem sie erfolgt – ist nicht nur natürlich sondern auch geschichtlich bedingt.84

Ist der Zusammenhang zwischen urbanen Prozessen und modernen Poe- tiken und Ästhetiken im Anschluss von Benjamins Analysen zur Figur des Flaneurs in Texten wie Das Paris des Second Empire bei Baudelaire in der Literaturwissenschaft ausführlich untersucht worden85, steht Gleiches für

82 Jakob van Hoddis, Varieté. In: Der Sturm 1 (1910/11), H. 47, S. 372f, hier S. 373. 83 Vgl. Sabina Becker, Urbanität und Moderne: Studien zur Großstadtwahrneh- mung in der deutschen Literatur 1900-1930. St. Ingberg: Röhrig 1993, S. 12. 84 Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbar- keit, S. 478. 85 Vgl. u. a. Eckhardt Köhn, Straßenrausch. Flanerie und kleine Form. Versuch einer Literaturgeschichte des Flaneurs bis 1933. Berlin: Das Arsenal 1989 Einleitung 41 die systematische Analyse der Wechselbeziehungen von Architektur und Literatur um 1900 noch aus. Mit einer signifikanten Ausnahme: So reprä- sentiert insbesondere Rudolf Borchardts zuerst 1907 in der Frankfurter Zeitung veröffentlichter Essay Villa eine »formgewordene Urszene«86 der ästhetischen und politischen Auseinandersetzung mit dem prätenti- ösen Gestus der privaten Gründerzeitarchitektur und dem parvenühaf- ten Habitus ihrer Bewohner. Zugleich eröffnet der Text ein diskursives Spannungsfeld der Überblendung von »Kunstform und Lebensform«87. Borchardts Synthese aus Traktat, literarischer Stadtflucht und politi- scher Ökonomie, der evozierte Sog von der Außen- in die Innenwelt der Villa und schließlich die Verschränkung von Subjekt und Objekt, die im Medium der Architektur und ihren Ordnungskategorien gespiegelt wird, war kulturkritisch äußerst wirkungsvoll, wie die Rezeptionsgeschichte des Essays von Hugo von Hofmannsthal bis Adorno belegt. Ohne auf die Tiefendimension der architektonischen Poetik des Villa-Essays88 und dessen kunsthistorischen Implikationen näher eingehen zu können89, soll hier nur angedeutet werden, dass auch bei Borchardt, einem sich dezidiert als konservativ verstehenden Autor, ästhetische Paradigmen aufscheinen, die – trotz aller historischen Rückbindung an die abendländische Tradi- tion – ohne den radikalen Erneuerungsgestus in den Künsten um 1900 schwer vorstellbar sind; etwa wenn die »Einfachheit und Kahlheit«90 der altitalienischen Landhäuser unterstrichen und von der schnörkeligen

(zgl. Diss.); Klaus R. Scherpe (Hg.), Die Unwirklichkeit der Städte. Groß- stadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Reinbek bei Ham- burg: Rowohlt 1988; Klaus Siebenhaar (Hg.), Das poetische Berlin. Metro- polenkultur zwischen Gründerzeit und Nationalsozialismus. Wiesbaden: Dt. Univ.-Verl 1992. 86 Klaus Schuhmacher, Architektur am Rande. Rudolf Borchardts Villa. Dres- den 2009 (unveröff. Typoskript). Ich danke dem Verfasser für die Möglich- keit der Einsichtnahme. 87 Ebd. 88 Vgl. Dieter Burdorf, Poetik der Form. Eine Begriffs- und Problemgeschichte. Stuttgart-Weimar: Metzler 2001. (Darin: Raumerfahrung und Form in Borchardts »Villa«, S. 473-498.) 89 Vgl. Andreas Beyer, »Ist das die Villa?« Rudolf Borchardt in der Villen- Landschaft. In: Rudolf Borchardt und seine Zeitgenossen. Hrsg. v. Ernst Osterkamp, Berlin-New York: de Gruyter 1997, S. 194-209. 90 Rudolf Borchardt, Villa. In: ders., Gesammelte Werke. 12 Bde. 1955-1968. Bd. 3: Prosa III. Hrsg. v. Marie Luise Borchardt und Ernst Zinn. Stuttgart: Klett 1960, S. 38-70, hier S. 44. 42 Einleitung

Prunksucht der deutschen Villenkultur des zweiten deutschen Kaiser- reichs abgehoben wird. Infolgedessen wird in dieser Arbeit auch die Frage aufgeworfen, wel- che Sprachbilder neuen ›urbanen‹ Poetiken und Ästhetiken zugrunde lie- gen. So ist bereits in den Stil-Debatten um 1900 zu beobachten, dass es bevorzugt das konstruktive Prinzip der Ingenieurbaukunst des 19. Jahr- hunderts und die ›Einfachheit‹ und ›Sachlichkeit‹ der Reformarchitektur waren, deren Bauwerke im Kreis um Walden vor Gründung des Sturm kunstübergreifend als Vorboten eines neuen Stils betrachtet wurden. Diese Tendenzen der zeitgenössischen Baukunst bekamen eine wichtige Orientierungs- und Ordnungsfunktion zugesprochen und fungierten als kunstübergreifende Leitbilder. Die Imitation und intermediale Verarbeitung architektonischer Prin- zipien, besonders des konstruktiven Prinzips, wurde in Anschluss an die Fragmentaristik der Frühromantik und ihrer Fortführung durch Nietz- sche im Sinne einer architektonischen Montagetechnik in aphoristische Werkkonzeptionen übertragen, wie nicht nur Scheerbarts Glasarchitek- tur, sondern auch Ludwig Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus (1921), Benjamins Einbahnstraße (1928) oder Paul Valérys Tel quel I und II (1941/43) deutlich machen.91 Der Schriftsteller Theodor Däubler erklärte die moderne Architektur zum nachahmenswerten Muster für die Literatur und die bildende Kunst allgemein, wenn er in seiner Abhand- lung Der neue Standpunkt (1916) mit Rückgriff auf das architektonische Prinzip der ›Einfachheit‹ schreibt:

Stil ist Schicksal: Wir können unsern Stil nicht selber wählen. Frü- her zeichneten die Baumeister ihre Pläne mit freier Hand, heute regiert das Lineal und das Reißbrett: daher wird eine großzügige Einfachheit den Stil, der kommt, bestimmen müssen! Wagner in Wien, Loos in Wien, Peter Behrens, Heinrich Tessenow, Martens in Berlin, Poelzig in Dresden, Franklin Wright in Chicago sind bereits moderne Architekten. Wo ist da unser Stil? Wo ist bei ihnen das Gemeinsame? Im Säuberlichen, in dem, was sie weglassen, in der gemauerten Selbstkritik, die sie uns bringen.92

91 Vgl. Detlev Schöttker, Architektur als Literatur. Zu Geschichte und Theorie eines ästhetischen Dispositivs. In: Urs Meyer, Roberto Simanowski und Chri- stoph Zeller (Hgg.), Transmedialität. Zur Ästhetik paraliterarischer Verfah- ren. Göttingen: Wallstein 2006, S. 131-151, hier S. 144f. 92 Theodor Däubler, Der neue Standpunkt. Dresden: Hellerauer-Verl. 1916, S. 9. Einleitung 43

Der intertextuelle Verweis Däublers auf zeitgenössische Baukünstler und die Forderung einer Übersetzung der Prinzipien der Architektur in die anderen Künste – hier in der Figuration von Einfachheit –, stellen um 1910 keine Seltenheit dar. Diese sprachlich konstituierte ›Architektonik der Avantgarde‹ äußert sich vehement und nachdrücklich auch in meta- phorischen Sprechweisen, in bestimmten Baumetaphern. Demgemäß wird in dieser Arbeit mittels Metaphernanalyse eine weitere architektu- rale Ebene fokussiert. Die Frage nach dem Sinn der Untersuchung der architektonischen Metaphorik im Sturm ist dabei mit Überlegungen zu verknüpfen, welche epistemologische Funktion Metaphern überhaupt zugesprochen werden kann. Rhetorische Analysen zielen in den Geistes- und Sozialwissenschaften in den letzten Jahren verstärkt auf die Frage, wie neues Wissen und neue kulturelle Praktiken generiert und dargestellt werden.93 Der Metapher kommt hierbei unter den rhetorischen Figuren, zu denen etwa Metonymie, Symbol, Beispiel und Vergleich zu rechnen sind, eine besondere Rolle zu, wie neuere Metapherntheorien belegen.94 Dass sich in neuen Metaphern auch neue Denkprozesse manifestieren und kultureller und ästhetischer Wandel sichtbar werden kann, lässt sich mithin bei der theoretisch-begrifflichen Fundierung und rhetorischen Inszenierung abstrakter Kunst beobachten. Die im Sturm nachweisbaren Baumetaphern erhellen dabei den künstlerischen Paradigmenwechsel, der durchaus als signifikant für den metaphorischen Hintergrund der ami- metischen künstlerischen Abstraktionstendenzen und ihrer Definitions- und Legitimationsversuche im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts stehen kann. Das Pathos der Ablösung eines seit der italienischen Renaissance andauernden mimetischen Zeitalters in der Kunst, einer fast 500-jährigen ›impressionistischen‹ Kulturepoche, wird nun durch neue metaphorische Sprechweisen zum Ausdruck gebracht, als deren Kern architektonisch- konstruktive Leitbilder zu erkennen sind, die der Natur als Gegenstand und Vorbild der Kunst eine radikale Absage erteilen (Kapitel IV). Schon Brinkmann hat versucht, eine Zusammenführung der Architek- tur und den anderen Künsten im Zeitalter der historischen Avantgarde

93 Vgl. Jens Ruchatz, Stefan Willer, Nicolas Pethes (Hgg.), Das Beispiel. Epi- stemologie des Exemplarischen. Berlin: Kulturverl. Kadmos 2007 (Litera- turForschung; 4); Herbert W. Simons, The Rhetorical Turn: Invention and Persuasion in the Conduct of Inquiry. Chicago: Univ. of Chicago Pr. 1990. 94 Einen gut strukturierten Überblick über neuere Ansätze der Metaphernfor- schung gibt Eckard Rolf, Metapherntheorien. Typologie – Darstellung – Bibliographie. Berlin-New York: de Gruyter 2005. 44 Einleitung insgesamt anzuregen. Der wesentliche Beitrag der Architektur jener Zeit besteht nach Brinkmann darin, dass sie »ganz und gar, d. h. in den gra- phischen Phantasien und in den rationalistischen Strukturbildung, Kon- struktion und Räumlichkeit«95 gleichsetze. Der Raum werde als etwas aufgefasst, »das mit der Form konstruiert wird, und nicht mehr als etwas, worin die Form konstruiert wird«96. Dies seien Überlegungen, so Brink- mann, die kategorial und anregend für die Literatur des Expressionismus und ihre literaturwissenschaftliche Reflexion wirken könnten. Davon ausgehend wird vor allem im Sinne der intermedialen Ausgangshypo- these einer ›Architekturalisierung der Künste‹ nach der Präsenz konst- ruktiver Prinzipien in den Sturm-Kunsttheorie(n) gesucht. Gerade in der Wortkunsttheorie des Sturm, wie sie von Walden, Schreyer und Blümner modelliert wurde, wird ein vielschichtiges Spiel mit Entmetaphorisierung und Bedeutungsverdichtung kenntlich, das dem Interesse an der ›reinen‹ Materialität des Wortes geschuldet ist. Die auf dem ›Wort‹ basierende Materialästhetik der Wortkunsttheorie des Sturm ist hierbei in Beziehung zu setzen mit den immanenten wortkunsttheoretischen Architekturana- logien in Waldens und Schreyers poetologischen Programmatiken und der damit verbundenen Auseinandersetzung mit konventioneller Syntax, Metrik und poetischen Metaphern (Kapitel V). Neben der Analyse und Kontextualisierung des Architekturkapitels in Schreyers Die neue Kunst (1919/20) und daran anknüpfenden Artikeln zur Baukunst, werden in Kapitel VI ebenso architektonische Aspekte in den mehrteiligen Aufsätzen Schreyers zum Theater untersucht. Eine besondere Bedeutung kommt hierbei dem Theater als »Einheitskunst- werk« und der damit verbundenen Baumetapher vom »Menschenhaus« zu. Dem »Menschenhaus« als Kultbau einer neuen ›Gemeinschaft‹ stellt Schreyer Überlegungen zur Seite, die um die Frage nach angemesse- nen Formen für die Beerdigung von Verstorbenen kreisen. Ein eigener Abschnitt widmet sich den sogenannten »Totenhäusern« (1920-22), die in der Kulturgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts weitge- hend isoliert geblieben sind. Im Architekturkapitel seines Buches Die neue Kunst (1919/20) und weiteren architekturtheoretischen Aufsätzen entwickelt Schreyer des Weiteren Gedanken zur konstruktiven Profanarchitektur und absolu- ten Baukunstwerken. Diese Unterscheidung in zweckmäßige Bauwerke

95 Richard Brinkmann, Expressionismus. Internationale Forschung zu einem internationalen Phänomen, S. 13. 96 Ebd. Einleitung 45 einerseits, und zweckfreie Baukunstwerke andererseits, werden als Analyse- kategorien verstanden, um erstmals an ausgewählten Beispielen disparate Erscheinungen von Architektur (künstlerische Modelle, Skizzen, Foto- grafien etc.) in den Jahrgängen des Sturm der 1920er Jahre und Ausstel- lungen der Kunstgalerie Der Sturm vor dem Hintergrund der Theoriebil- dung der Zeitschrift zu analysieren (Kapitel VII). I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts. Architektur im Verein für Kunst (1904-1911)

1. Individualität und Sozialität

Als Leiter des Berliner Vereins für Kunst machte sich Walden schon vor der Gründung des Sturm im Jahr 1910 einen überregionalen Namen. 1904 gegründet, war es die »kunst- und kulturpolitische Intention« die- ses Vereins, sowohl künstlerische Talente zu entdecken und zu fördern als auch eine »Alternative zur kommerziellen Künstlervermittlung«1 zu praktizieren. Aus den Strukturen des Vereins für Kunst ist der Sturm her- vorgegangen. Während das künstlerische, musikalische und literarische Profil des Vereins für Kunst im Kontext der Berliner Moderne um 1900 von der Forschung rekonstruiert wurde, soll dies für die baukünstleri- sche Ausrichtung und Orientierung des Sturm-Vorläufers ergänzt wer- den. Zugleich wird in einem vorgelagerten Arbeitsschritt die Frage dis- kutiert, inwieweit der Sturm-Kreis um Walden, dessen Mitglieder und Mitarbeiter sich zum Teil lange vor 1910 kennenlernten, in das weite Feld der künstlerischen Gruppenbildungen der Jahrhundertwende einzu- ordnen ist, kommt doch gerade Gruppenformation und ihren Strategien der Konstitution von Öffentlichkeit eine beachtliche Rolle bei der Etab- lierung und Institutionalisierung moderner Kunst und Literatur zu. Um kulturelle und künstlerische Innovationen in soziale Organisa- tionsformen zu überführen und durchsetzungsfähiger zu machen, sind seit der Autonomisierung der Künste im 18. und 19. Jahrhundert ver- stärkt Künstlergruppen gegründet worden. Die europäische Kunst- und Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts kann als wechselvolle Abfolge von Gruppierungen, mehr oder weniger losen Zusammenschlüs- sen, Bewegungen und Gruppenkonstellationen beschrieben werden.2 In Wilhelmis Standardwerk findet der Sturm keine Berücksichtigung.

1 Peter Sprengel, Institutionalisierung der Moderne. Herwarth Walden und Der Sturm. In: ders., Literatur im Kaiserreich, S. 147-178, hier S. 160. 2 Hans Peter Thurn, Die Sozialität der Solitären. Gruppen und Netzwerke in der Bildenden Kunst. In: Friedhelm Neidhart (Hg.), Gruppensoziolo- gie. Opladen: Westdt. Verl. 1983, S. 287-318 (Sonderheft 25 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie); Christoph Wilhelmi, Künstlergruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz seit 1900. Ein Handbuch. Stuttgart: Hauswedell 1996; Jost Hermand, Die deutschen Dich- I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts 47

Hermand hält dagegen fest, dass der »Sturm-Kreis«, zu dem er Blümner, Döblin, Friedlaender, Hardekopf, Lasker-Schüler, Rubiner und Schickele rechnet, zu den wichtigsten literarischen Gruppen um 1910 gehörte und entscheidend zur Durchsetzung »avantgardistischer« Literatur und Kunst beigetragen habe.3 Allerdings bleibt Hermand in seinen Ausführungen zum Gruppencharakter des Sturm-Kreises bei sehr allgemeinen Formu- lierungen stehen. Daher möchte ich in den nachstehenden Überlegungen dem kunstsoziologischen Ansatz Thurns folgen und dessen Analysekate- gorien – mit deren Hilfe generelle gruppen- und organisationsspezifische Prozesse bei der Herausbildung von Künstlergemeinschaften untersucht werden – auf den Kreis um Walden übertragen. »In auffälliger Weise«, schreibt Thurn, »nehmen im 19. Jahrhundert die Versuche zu, die sozialen Nachteile des künstlerischen Solitarismus eigeninitiativ auszugleichen. Inmitten der verunsichernden Innovations- schübe der industriellen Zivilisation, des makrostrukturellen Wandels von Werten, Inhalten und Formen bemühen sich etliche (wenngleich nicht alle) Künstler um eine mikrostrukturelle Konsensbildung.«4 Die »Sozialität der Solitären«, so der programmatische Titel Thurns, mani- festiert sich um 1900 vor allem in einer stark wachsenden Anzahl und immer schnelleren Bildungen und Auflösungen von Künstler-, Dichter- und Bohemègruppierungen, deren Organisations- und Institutionalisie- rungsgrade sehr unterschiedliche Ausformungen annehmen können. Zu nennen wären zum Beispiel die Gründung des Friedrichshagener Dich- terkreises und des George-Kreises (beide um 1890), die »Fauves« (1905) in Paris, »Die Brücke« (1905) in Dresden, »« (1911) in München oder die Kreise um Waldens Sturm und Pfemferts Die Aktion ab 1910/11 in Berlin. Künstler und Schriftsteller erfahren in Gruppen stabilisierende Stüt- zungseffekte, sie führen Meinungsaustausch und arbeiten zum Teil eng zusammen. Der Zuspruch und die Kritik Gleichgesinnter fördern produktive Prozesse. Die Künstler bewegen sich formal und inhaltlich aufeinander zu. Es können sich Gruppenstile herausbilden, denen ein bestimmter ästhetischer Konsens zugrunde liegt. Spannungs- und Auf- lösungsverhältnisse charakterisieren Künstlergruppen dabei ebenso, wie Konkurrenz- und Konfliktsituationen oftmals nicht vermieden werden

terbünde. Von den Meistersingern bis zum PEN-Club. Köln-Weimar-Wien: Böhlau 1998. 3 Hermand, Die deutschen Dichterbünde, S. 192-194. 4 Thurn, Die Sozialität der Solitären, S. 290. 48 I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts können, die in einem komplizierten Geflecht von öffentlicher Aufmerk- samkeit und Anerkennung, Ruhmbildung und persönlicher Emanzipa- tion angesiedelt sind, wie Thurn ausführlich darlegt. Es entsteht eine latente Spannung zwischen Individualität und Sozialität, die besonders konfliktanfällig ist.5 Die »Innenwelt künstlerischer Gemeinschaften«6 ist durch verschie- dene soziologisch bestimmbare Merkmale und Dynamiken gekennzeich- net. Hierzu zählt Thurn (1) die Generierung eines Ursprungsmythos der jeweiligen Gruppe, eine Entscheidungssituation, aus der heraus ein Kol- lektiv Gestalt gewinnt und seine Aktionsfähigkeit postuliert.7 Ein solches Dokument stellt die erste Verlautbarung des Vereins für Kunst dar. Im Einladungsschreiben an potenzielle Autoren und Mitarbeiter zur Konsti- tution des Vereins schreibt Walden:

Eine Anzahl Freunde der Kunst haben sich in Berlin zusammen- gethan, um den sogenannten »Kunstförderungs-Vereinen« so wie den Agenturen entgegenzuarbeiten. Diese Unternehmungen fördern gewöhnlich Mittel- und Publikumstalente, oder erschweren durch hohe Prozente die Annäherung zwischen Künstlern u. Genießenden, statt sie zu erleichtern. Dabei ist der ganze geschäftliche Betrieb kei- neswegs so kostspielig u. kompliziert, wie es den Anschein hat.– Unser Plan ist folgender: Im nächsten Winter werden in 14tägigem Turnus 14 Abende ver- anstaltet, an denen nur wirkliche Künstler mitwirken werden. Jeder Abend ist nur einer Persönlichkeit gewidmet, u. der Autor soll selbst seine Werke vortragen, oder höchstens durch einen von ihm gewählten Rezitator noch unterstützt werden. Auch die Auswahl aus seinen Werken soll dem Dichter oder unter Umständen dem Tondichter selbst überlassen bleiben. Wir können aus den Einnah- men dem Autor ein Honorar von 100 Mk gewähren…8

Sechs Jahre später, im ersten Heft des Sturm, findet sich ebenfalls eine Absichtserklärung, die – im Plural verfasst – unmissverständlich über die

5 Vgl. Wilhelmi, Künstlergruppen, S. 13. 6 Thurn, Die Sozialität der Solitären, S. 295. 7 Vgl. ebd. 8 Alfred Döblin 1878-1978. Ausst.-Kat. des Dt. Literaturarchivs im Schiller- Nationalmuseum Marbach a.N. Ausstellung und Katalog Jochen Meyer in Zsarb. m. Ute Doster. München: Kösel 1978, S. 86-88, hier S. 86f. I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts 49

(noch recht allgemein gehaltenen) Ziele der neu gegründeten Zeitschrift Auskunft erteilt (Abb. 1):

Zum vierten Male treten wir mit einer neuen Zeitschrift in die Öffentlichkeit. Dreimal versuchte man, mit gröbsten Vertragsbrü- chen unsere Tätigkeiten zu verhindern, die von den Vielzuvielen peinlich empfunden wird. Wir haben uns entschlossen, unsere eige- nen Verleger zu sein. Denn wir sind noch immer glücklich, glauben zu können, daß an die Stelle des Journalismus und des Feuilletonis- mus wieder Kultur und die Künste treten können.9

Aus Waldens Einladungsschreiben von 1904 und der programmatischen Erklärung im Sturm von 1910 geht die fortgesetzte Bestrebung hervor, für die ästhetische Moderne in der ersten Dekade des 20. Jahrhunderts einen finanziellen und institutionellen Autonomiestatus zu implementie- ren und in der Ablehnung des wilhelminischen Systems und seiner kul- turellen Repräsentanten, ein eigenes Netzwerk der Literaturpräsentation und -distribution aufzubauen.10 Dabei waren viel Engagement, Eigen- initiative und Kreativität gefragt: »[…] was in der Kunst erreicht ist, wurde erreicht durch Idealismus, Optimismus und Opfereinsichtigkeit. Noch niemals hat ein Kaufmann oder ein Praktiker Etwas für die Kunst getan, wenn nicht erst Andere unter großen Opfern die Initiative ergriffen haben. [unterstrichen im Original; R. H.]«11 Neben einer spezifischen Entscheidungssituation ist mit Thurn ebenso (2) eine bestimmte lokale Situierung anzunehmen, die meist als Voraus- setzung für die Gründung einer Gruppe eine wichtige Rolle spielt. Um 1900 bilden die Metropolen für viele Künstlergruppen Fluchtpunkte. »Der Horizont, aus dem die meisten Künstler-Gemeinschaften erwachsen und auf den hin sie zumindest marktmäßig orientiert sind, ist die städti- sche Kultur. Bevorzugt werden Großstädte, ja Metropolen aufgesucht, in denen sich Kontakte knüpfen, Ausstellungen arrangieren und Wirkungen

9 Die Schriftleitung der Wochenschrift DER STURM, Zwei Worte. In: Der Sturm 1 (1910/11), H. 1, S. 1. 10 Vgl. Stephan Füssel, Das Autor-Verleger-Verhältnis in der Kaiserzeit. In: York-Gothart Mix (Hg.), Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus. 1890-1918. München-Wien: Hanser 2000, S. 137-154 (Hansers Sozialge- schichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Bd. 7). 11 Herwarth Walden an Elisabeth Förster-Nietzsche. Brief vom 25. Juni 1905 (KSW GSA 72/BW 5744, Bl. 14 u. 15). 50 I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts

Abb. 1 I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts 51 aller Art entfalten lassen.«12 Viele Gruppen und Zusammenschlüsse zu Beginn des 20. Jahrhunderts sind durch eine rural-urbane Bi-Lokalität gekennzeichnet13, das heißt, sie besitzen ausgezeichnete Kontakte in die Städte, gelebt wird aber mit Vorliebe auf dem Land. Ein Beispiel hierfür ist die Worpsweder Künstlerkolonie bei Bremen um Heinrich Vogeler und Paula Modersohn-Becker mit ihren zahlreichen Verbindungen nach Ber- lin, Paris oder Prag. In der Erinnerungsliteratur zu Walden wird durch- weg dessen großstädtischer Habitus betont. Er sei, so Nell Walden, voll- kommen unempfindlich gegenüber ›Natur‹ oder ›Landschaft‹ gewesen: »Sich selbst betrachtete er als ganz international. Allenfalls gebrauchte er den Ausdruck ›Europäer‹ von sich. Er hatte kein Verhältnis zu Völkern oder Rassen. Seine Begriffe waren: Kunst und Künstler…! Geborener Berliner […], liebte er seine Stadt, und die drastische, witzige Ausdrucks- weise ihrer Einwohner gefiel ihm sehr.«14 »Berlin ist die Hauptstadt der Vereinigten Staaten von Europa«15, schreibt Walden im Jahr 1923.

2. Historische Synopse: Kurze Mediengeschichte des Sturm und seiner Vorläufer

Versteht man die expressionistische Moderne nicht nur als eine subkultu- relle und intellektuelle Gruppenbewegung16, sondern mit Wilhelm Haefs auch als eine genuine »Medienbewegung«, so kann konstatiert werden, dass die Zeitschriften dabei das Zentrum dieser Avantgardekultur bil- den.17 Zum einen handelt es sich bei den avantgardistischen Zeitschriften um Medien voller Erneuerungspathos und Polemik, deren Zielscheibe

12 Thurn, Die Sozialität der Solitären, S. 296. 13 Ebd. 14 Nell Walden und Lothar Schreyer, Der Sturm. Ein Erinnerungsbuch an Her- warth Walden und die Künstler aus dem Sturmkreis. Baden-Baden: Wolde- mar Klein 1954, S. 46. 15 Herwarth Walden, Neue Reisekopfbücher/1. Berlin. In: Der Sturm 14 (1923), H. 3, S. 46-48. 16 Zur terminologischen und sozialgeschichtlichen Charakterisierung des Expressionismus als heterogener Bewegung, die dem statischen Epochen- Begriff vorzuziehen ist, vgl. Frank Almai, Expressionismus in Dresden. Zen- trenbildung der literarischen Avantgarde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Dresden: Thelem 2005, S. 16f. 17 Vgl. Wilhelm Haefs, Zentren und Zeitschriften des Expressionismus. In: Mix, Naturalismus, Fin de siècle, Expressionismus, S. 437-453, hier S. 437. 52 I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts nicht nur die Autoritäten des kulturellen Establishments des Wilhelmi- nismus darstellen, sondern in denen auch Konflikte untereinander ausge- tragen und ausgehandelt wurden. In diesem Sinne dienten diese Periodika sowohl der Selbstverständigung als auch als Organe für gruppendynami- sche und -strategische Inklusions- und Exklusionsprozesse:

Man kann sich heute beim besten Willen nicht mehr vorstellen, mit welcher Erregung wir abends, im Café des Westens oder auf der Straße vor Gerold an der Gedächtniskirche sitzend und bescheiden abendschoppend, das Erscheinen des Sturm oder der Aktion erwar- teten, nicht so sehr auf den Rausch des Gedrucktseins bedacht als vielmehr scharf nach der Möglichkeit lugend: mit Worten angegrif- fen zu sein, die wie Ätzkalk oder Schwefelsäure wirken konnten. Überall in der Luft lag unheimliche Feindschaft, der wir zu begeg- nen hatten. […] Hatten sich schon wieder neue Fronten ergeben? War ein neuer Überläufer festzunageln? Welches Lager drohte sich zu spalten? Knisterte es nicht irgendwo im Gebälk einer Freund- schaft? Wer stieg? Wer fiel?18

Die expressionistischen Zeitschriften stellten darüber hinaus, wie im Zitat deutlich wird, zusammen mit bestimmten Orten und Treffpunkten wie Cafes, Kabaretts oder Galerien eine alternative Kommunikations- und Interaktionssphäre her, die mit den etablierten Organen und Strukturen der bürgerlichen Öffentlichkeit nicht verschaltet war. Die Zeitschriften bil- den das Zentrum dieses gruppenorientierten Kommunikationssystems.19 Erste Veröffentlichungen junger und unbekannter Autoren, aber auch Beiträge von etablierten Schreibern erschienen im Sturm. Hierzu gehören kurze Prosastücke, Fortsetzungsromane, Dramen, lyrische Experimente, kulturkritische Essays, aber auch architekturtheoretische, soziologische und philosophische Abhandlungen. Neben Satiren und Glossen auf den bürgerlichen Kulturbetrieb und seine Chronisten und Feuilletonisten, ist ein weiteres Merkmal der expressionistischen Zeitschriftenkultur eine intendierte Bi-Medialität, eine Koexistenz von Schrift und Bild. »Mul-

18 Alfred Richard Meyer, Über Alfred Lichtenstein und Gottfried Benn. In: Expressionismus. Aufzeichnungen und Erinnerungen der Zeitgenossen. Hrsg. und mit Anm. vers. v. Paul Raabe. Olten-Freib. i. Br.: Walter 1965, S. 55-58, hier S. 55. 19 Vgl. Haefs, Zentren und Zeitschriften des Expressionismus, S. 438f. I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts 53 timediale Aktivitäten«20 gewinnen in der modernen Zeitschriftenkultur zwischen 1910 und 1920 eine bis dahin nicht gekannte kulturelle Dimen- sion. »Der Expressionismus hob ja die Isolierung der Künste auf«21, schreibt Oskar Maurus Fontana. Zunächst noch ganz auf die Herausgabe der Zeitschrift fixiert, wird die Tätigkeit des Verlages Der Sturm bald ausgeweitet. Die Verlagsarbeit ist ab 1912 von der Herausgabe von Originalholzschnitten als Sonder- auflagen geprägt, die zuvor im Sturm veröffentlicht wurden. Ab 1914 dominiert die Buchproduktion, aber auch Sturm-Künstlerpostkarten und Sturm-Bildbücher zu ausgewählten Künstlern wie Paul Klee und Kurt Schwitters gehören zum Repertoire.22 Es erscheinen in den folgenden Jahren bis zur Auflösung von Zeitschrift und Verlag im Jahr 1932 fast 100 Bücher, größtenteils handelt es sich hierbei um Sturm-Literatur sowie theoretische Schriften von Sturm-Autoren zu Kunst, Literatur, Architek- tur und Theater.23 Parallel zum Auf- und Ausbau des Verlages erfolgt als weiterer Schritt der Institutionalisierung im März 1912 die Eröffnung der Kunstgalerie mit der ersten Sturm-Ausstellung »Der Blaue Reiter / Franz Flaum / Oskar Kokoschka / Expressionisten«24. Kurze Zeit später, im April 1912, werden in einer Kollektivausstellung das erste Mal in Berlin die italienischen Futuristen gezeigt.25 Verbunden mit der Gründung der Kunstgalerie artikuliert sich ab 1912 im Sturm eine Institutionskritik, die sich gegen traditionsvermittelnde Einrichtungen der Kunstpräsentation wie Kunstmuseen und Akademien, aber auch gegen die exklusorische Praxis moderner Ausstellungsvorha- ben wie die des Kölner Sonderbundes oder der Sezessionen richtet. In der Ära des Wilhelminismus »standen sich die Akademien und die Vertreter der neuen Richtung (Impressionisten, Naturalisten etc.) unversöhnlich gegenüber. Im Zuge der Generationsablösung waren um 1910 bereits die Sezessionen wiederum zu Etablierten geworden, welche die Newcomer

20 Anz, Literatur des Expressionismus, S. 40. 21 Oskar Maurus Fontana, Expressionismus in Wien. Erinnerungen. In: Expres- sionismus. Aufzeichnungen und Erinnerungen, S. 186-191, hier S. 186. 22 Vgl. Paul Klee, Sturm-Bilderbuch III. Berlin: Verlag Der Sturm 1924; Kurt Schwitters, Sturm-Bilderbuch IV. Mit einem Vorwort von . Ber- lin: Verlag Der Sturm 1924. 23 Zur Arbeit des Verlages vgl. Pirsich, Der Sturm, S. 369-373. 24 Ausst.-Kat. Der Sturm. Der Blaue Reiter. Franz Flaum. Oskar Kokoschka. Expressionisten. Erste Ausstellung. Berlin 1912. 25 Ausst.-Kat. Der Sturm. Kollektivausstellung: Futuristen. Zweite Ausstellung. Berlin 1912. 54 I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts ausjurierten.«26 Die jungen Künstler steckten um 1910 in einer doppel- ten Zwangslage. Auf der einen Seite war es überaus schwer, überhaupt Zugang zum Ausstellungswesen zu finden, da etwa die Auswahlgremien für die großen Sammlungen von der älteren Künstlergeneration besetzt gehalten wurden, die sich gegen neue Tendenzen sperrten. Auf der ande- ren Seite war es ebenfalls nicht einfach, eine ausstellungswillige Privat- galerie zu finden, die sich den neuesten Kunstströmungen verschrieb und über entsprechende Kontakte zu potentiellen Käufern verfügte. Die Wege in die Privatgalerien scheiterten nicht nur an der geringen Zahl solcher Einrichtungen, sondern oftmals lag auch von den jungen Künstlern noch kein tragfähiges und repräsentatives Œuvre vor.27 Der Sturm veranstaltete in seiner Geschichte mehr als 170 Ausstel- lungen in Berlin28, zwischen 1912 und 1924 werden in mehr als vierzig Städten des Reichsgebietes und in 15 Staaten Sturm-Wanderausstellun- gen präsentiert, unter anderem den USA, England und Japan.29 Die osten- tative Internationalität korrespondierte mit der Mitarbeiterstruktur der Zeitschrift, an der Deutsche, Holländer, Schweden, Russen, Franzosen, Italiener, Kroaten, Tschechen, Rumänen, Polen und Ungarn mitarbeite- ten. Waren die ersten Ausstellungen noch von der Übernahme bereits an anderen Orten zu sehenden Ausstellungen geprägt, offenbart Walden spätestens 1913 mit dem Ersten Deutschen Herbstsalon30, der größ- ten Ausstellung avantgardistischer Kunst vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, ein hohes Maß an Inszenierungsbewusstsein als Ausstel- lungsregisseur für die Kunst des Kubismus, Futurismus und Expressio- nismus. Als Kurator und Galerist ist Walden in Prozesse des Sammelns, Klassifizierens und Zeigens von künstlerischen Arbeiten involviert, die im Vermittlungsprozess nach außen gleichzeitig eine neue Kunst-Öffent- lichkeit konstituieren und kulturelle Bedeutungen hervorbringen.31 Als

26 Wilhelmi, Künstlergruppen, S. 6. 27 Vgl. ebd. 28 Zur Ausstellungschronologie vgl. Pirsich, Der Sturm, S. 671-690. 29 Vgl. Herwarth Walden, Einblick in Kunst. Expressionismus, Futurismus, Kubismus (1917). (3. bis 5. Aufl.) Berlin: Verlag Der Sturm 1924, S. 170f. 30 Zum Programm und den ausgestellten Arbeiten des Ersten Deutschen Herbstsalons vgl. u. a. Mario-Andreas von Lüttichau, Erster Deutscher Herbstsalon. In: Stationen der Moderne. Die bedeutenden Kunstausstellun- gen des 20. Jahrhunderts in Deutschland. Ausst.-Kat. Berlinische Galerie. Berlin: Nicolai 1988, S. 130-153. 31 Zur Entstehung des modernen Kunstmarktes und der Bedeutung des Kura- tors vgl. Marion von Osten, Producing Publics – Making Worlds! Zum I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts 55

Kurator hat Walden die Mittel zu entscheiden, welche einzelnen künstle- rischen Positionen und Künstlergruppen und welche Arbeiten von Künst- lern in den sogenannten »Gesamtschauen« des Sturm präsentiert werden, er allein sitzt am Hebel des Ein- und Ausschlussverfahrens. Die kurato- rische Praxis in den autonom organisierten Räumen des Sturm stellt die Macht der herkömmlichen Kunst-Institutionen in Frage und schafft die Voraussetzungen für eigene Formen der Gegenöffentlichkeit und Sicht- barmachung neuer künstlerischer Ideen. Richtungweisende Stellungnahmen zum Ausstellungsbetrieb, Eröff- nungsreden, etwa zum erwähnten Ersten Deutschen Herbstsalon32, Kom- mentare zu Künstlern und Künstlergruppen und ihrer Rezeption in den bürgerlichen Feuilletons, unzählige Holzschnitte und Werkreproduktio- nen finden selbstverständlich Raum in der Zeitschrift. »Die Gründung der Galerie und die Verschiebung des Schwerpunktes vom literarischen zum bildnerisch-künstlerischen, vom deutschsprachig zum international orientierten Programm bedeuten eine neue Stufe in der Entwicklung. Netzwerk und Wirksamkeit erweitern sich auch für die Zeitschrift.«33 Die Zeitschrift fungiert zum Teil als verlängerter Arm der Galerie und wird für den Ausstellungsbetrieb funktionalisiert. Neben diesen Synergieeffekten stellen die faltblattartigen und durch- gängig nummerierten Sturm-Ausstellungskataloge ab 1912 zugleich eine gegenüber der Zeitschrift weitgehend unabhängig erscheinende Publika- tion dar für die Verbreitung von Inhalten der Galerie, die sich aus histo- rischer Perspektive wie ein Archiv der Galeriearbeit lesen lassen. In den Katalogen werden die Ideen der einzelnen Ausstellungen und Künstler zum Teil durch Begleittexte, Manifeste, dem Abdruck einzelner Arbeiten und Werkverzeichnisse zum Argument gebündelt und so eine zusätzliche öffentliche Wirksamkeit geschaffen. Neben der publizistischen Flankie- rung der ausgestellten Werke dienen sie jedoch auch kommerziellen Zwe- cken und sollen potentiellen Käufern Orientierung verleihen, wie auch abgedruckte Preislisten in den Katalogen verdeutlichen.

Verhältnis von Kunstöffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit. In: Gerald Raunig und Ulf Wuggening, (Hgg.), Publicum. Theorien der Öffentlichkeit. Wien: Turia + Kant 2005, S. 124-139, hier S. 127-129 (Republicart; 5). 32 Herwarth Walden, Erster Deutscher Herbstsalon. Vorrede. In: Der Sturm 4 (1913/14), H. 180/181, S. 106. 33 Alms, Der Sturm – Corporate Identity für die internationale Avantgarde, S. 18. 56 I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts

Die Kunstgalerie Der Sturm stellt darüber hinaus einen sehr konkreten Kommunikations- und Interaktionsraum dar. Ein Blick in die Gästebü- cher Nell und Herwarth Waldens, welche zwischen 1913 und 1924 in den Räumen der Galerie ausliegen, belegen, dass sich hier das who is who der künstlerischen, literarischen und baukünstlerischen Avantgarde der 1910er und der frühen 1920er Jahre die Klinke in die Hand gegeben hat.34 Schließlich bietet die Galerie auch Raum für die ab 1916 halböf- fentlich stattfindendenSturm -Kunstabende, der Fortsetzung der bis 1911 regelmäßig stattgefundenen Veranstaltungen des Vereins für Kunst.35 Nach Schreyers Zählung wurden im Laufe der Jahre etwa 300 Sturm- Kunstabende vor allem in Berlin, aber auch außerhalb der Reichshaupt- stadt durchgeführt36, in deren Zentrum die Rezitation von Wortkunst- werken steht. Der Sturm kann als ein verzweigtes Mediennetzwerk begriffen wer- den, das für die eigenen Inhalte adäquate Orte der Öffentlichkeit schuf. Dazu gehörten in erster Linie natürlich die Zeitschrift und der Verlag, dessen Produkte in der 1917 gegründeten Sturm-Buchhandlung vertrie- ben wurden. Hinzu traten ab 1912 die Kunstgalerie und die erwähnten Ausstellungskataloge, die als Begleitbroschüren und Programmhefte zum Ausstellungsbetrieb konzipiert wurden. Weiterhin sind als Teil der Media­ lisierungsstrategie die Sturm-Kunstabende zu nennen. Neben der Sturm- Kunstschule, die ab 1916 die Lehrbarkeit des im Sturm postulierten

34 Vgl. zu den Gästebüchern Brühl, Der Sturm, S. 331f. 35 Nicht nur die August Stramm-Rezitationen Rudolf Blümners werden hier vorgetragen, sondern in der ersten Vortragssaison 1916/17 kommen auch Sturm-Dichter wie Adolf Knoblauch und Sophie van Leer, aber auch Her- mann Essig zu Wort. Vgl. Sturm-Kunstabende [Selbstanzeige]. In: Der Sturm 7 (1916/17), H. 5, S. 60. 36 Lothar Schreyer schreibt: »Rudolf Blümner sprach wohl an 300 STURM- Abenden im Laufe der Jahre in Berlin, in vielen Städten Deutschlands und manchen des Auslandes. In Berlin sprach er stets in dem kleinen Ausstel- lungssaal des STURM, umgeben von den Bildern der STURM-Künstler. Hier war stets nur ein kleiner Kreis von Zuhörern, 30 bis 100 Menschen, regel- mäßig eine Anzahl von Getreuen, die sich immer wieder dieser großen Kunst hingaben. Zu den auswärtigen STURM-Abenden fanden sich meist mehrere hundert Hörer ein; es war regelmäßig eine Sensation, die wir ertragen muss- ten, viel und meist Unverstand der öffentlichen Meinung.« Lothar Schreyer, Erinnerungen an Sturm und Bauhaus. Mit einer Einleitung von Brian Keith- Smith. Lewinston u. a.: Edwin Mellen Press 2002 S. 45f. (= Lothar Schreyer Edition Vol. 12). I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts 57

Expressionismus-Begriffs kunstübergreifend vor Augen führen soll und die zu einem »Instrument der Verifizierung der Theorie«37 wurde, bilde- ten die Sturm-Bühne zusammen mit der 1918 gegründeten gleichnamigen Zeitschrift einen weiteren Versuch der Pluralisierung des Medien- und Institutionsverbundes. Ebenso ist die Sturm-Bauabteilung als ein Beleg dafür zu werten, dass innerhalb des Sturm für alle Künste adäquate Formen medialer Präsentation gesucht wurden. Anders als alle anderen Institutionen erlangte die Sturm-Bauabteilung jedoch keine Bedeutung in der Geschichte der Zeitschrift oder über sie hinaus. Es findet sich genau genommen nur ein einziger Hinweis auf ihre Existenz: Im Jubiläumskata- log zum zehnjährigen Bestehen der Zeitschrift und der 100. Ausstellung der Kunstgalerie Der Sturm in Berlin im Jahr 1921 heißt es: »Sturm- Bauabteilung/Walter Krug. Ausstellungsräume eines Geschäftshauses (Ausgeführt Mai 1921)« 38. Der in der Forschung weitgehend unbekannte Kunstmaler Walter Krug (1880-1950) war im Jahr 1922 kurzzeitig erster Vorsitzender der 1919 von Walden gegründeten »Internationalen Vereinigung der Expres- sionisten, Kubisten und Futuristen e.V.«39, die sich ab 1926 unter dem Einfluss Oskar Nerlingers neu formierte und nun den Untertitel »Die Abstrakten« trug.40 Diese Tätigkeit gab Krug, der im Sturm einige Arti- kel zu politischen und ökonomischen Fragen publiziert hat41, aus nach- vollziehbaren Gründen bei der nach 1933 geforderten biografischen Selbstauskunft gegenüber den NS-Behörden nicht an. Aus seiner Akte, die sich im Bestand der »Reichskammer der bildenden Künste, Landeslei- tung Berlin« befindet, geht hervor, dass Krug in der Weimarer Republik als Dekorationsmaler, Konstrukteur und Erfinder tätig war. Über seinen

37 Pirsich, Der Sturm, S. 385. 38 Vgl. Ausst.-Kat. 10 Jahre Sturm. Sturm-Gesamtschau. 100. Ausstellung. Ber- lin 1921, S. 14. 39 Zu den Vereinsunterlagen und Sitzungsprotokollen vgl. LArch B. Rep. 042 Nr. 8986, Bl. 21. 40 Zu dieser Künstlergruppe, die aus einer Sturm-Parallelgründung hervorge- gangen ist, vgl. Heidrun Schröder-Kehler, Vom abstrakten zum politischen Konstruktivismus. Oskar Nerlinger und die Berliner Gruppe »Die Abstrak- ten« (1919 bis 1933). Heidelberg: Univ. Diss. 1985. 41 Walter Krug, Hohe Politik. In: Der Sturm 13 (1922), H. 10, S. 156; ders., Hohe Politik. In: Der Sturm 13 (1922), H. 12, S. 188; ders., Kunst-Währung. In: Der Sturm 16 (1925), H. 7/8, S. 119-120; ders., Aktive Handelsbilanz. In: Der Sturm 16 (1925), H. 10, S. 137-140; ders., Von A bis Z. In: Der Sturm 20 (1929), H. 1, S. 1-3. 58 I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts

Bildungsweg schreibt Krug: »Ausbildung als dekorat. Maler 1897-1901. Studium: ehm. Kgl. Kunstschule u Kunstgewerbe-Museum 1901-1908 […] Professoren: Prof. Messel, Baurath Ihne-Geyer-Berben u. a.«42 Von einer Tätigkeit als Architekt ist allerdings nicht die Rede. Für welches Geschäftshaus Krug 1921 die Ausstellungsarchitektur entworfen hat und wie diese aussah, konnte nicht ermittelt werden.

2.1 Teloplasma (1901)

Als ein weiteres signifikantes Merkmal im Rahmen von künstlerischen Gruppenbildungsprozessen, neben einer bestimmten Entscheidungssitu- ation und der lokalen Situierung, nennt Thurn (3) die personelle Zen- trierung. »Die Verbindung von lokaler Sammlungskraft, Initiationsbe- gabung und Präzeptorenrolle verleiht oft einzelnen, seltener zwei oder mehreren Künstlern eine Positionszentralität, die sie zu den eigentlichen Beherrschern, mindestens aber Motoren der Gemeinschaft macht.«43 Oskar Kokoschka schreibt: »Herwarth Walden war eine Zeitlang Kunst- diktator, eine dynamische Persönlichkeit und uneigennützig. Als absolu- ter Vertreter der Moderne hat er es nur für seine Anschauung von Kunst in wenigen Jahren durchgesetzt, daß alle Variationen der ›Ismen‹ in Deutschland ernstgenommen wurden.«44 Walden hatte jedoch nicht nur für den Sturm und den Verein für Kunst eine Positionszentralität inne. Es lohnt sich, sogar noch einen Schritt weiter zurückzugehen: Noch lange vor der Gründung des Sturm und der Gründung des Ver- eins für Kunst startete Walden, der bei Conrad Ansorge Musik studiert hatte, im Jahr 1901 mit Else Lasker-Schüler, Samuel Lublinski und Peter Hille sowie weiteren Mitstreitern ein gemeinsames Projekt, das sich in der Überbrettl-Bewegung verorten lässt: Das »Cabaret für Höhenkunst« in Berlin, das unter dem eigenwilligen Namen »Teloplasma« firmierte, gelangte jedoch über zwei Vorstellungen nicht hinaus.45 Von dieser Kurz-

42 LArch A Rep. 243-04/Film Nr. 089. 43 Thurn, Die Sozialität der Solitären, S. 297. 44 Oskar Kokoschka, Mein Leben. Vorw. und dokumentarische Mitarb. v. Remigius Netzer. München: Bruckmann 1971, S. 109. 45 Besonders Sprengel hat auf die institutionelle Struktur und kulturelle Bedeu- tung von »Teloplasma« und dessen »hohen Signalwert« (S. 152) für spätere Unternehmungen Waldens aufmerksam gemacht. Vgl. Sprengel, Institutiona- lisierung der Moderne, S. 151-156. I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts 59 lebigkeit abgesehen, stand dem Projekt ein »Directorium« vor, dessen »Leitung« bei Walden lag, wie aus dem »Prospect« zur Gründung die- ses Zusammenschlusses hervorgeht. Eine Anschrift der »Leitung« wurde potentiell Interessierten ebenso mitgeteilt wie eine Sprechstunde und die Adresse des Sekretariats auf der Alexanderstraße 28a, was bereits auf einen bestimmten Institutionalisierungsgrad verweist.46 Beide »Teloplasma«-Abende kennzeichnete eine die einzelnen Künste überschreitende Ausrichtung, die für alle weiteren kulturellen Aktivitä- ten Waldens charakteristisch werden sollte. Vor allem die auf Richard Wagner zurückgehende Idee vom Gesamtkunstwerk spielte eine erheb- liche Rolle in den kulturellen Aktivitäten der ›Modernen‹ um 1900.47 In seiner einflussreichen Züricher Schrift Das Kunstwerk der Zukunft (1850) vertritt Wagner die Ansicht, dass das wahre Kunstwerk den ganzen Menschen, das heißt seine Sinne, den Verstand und den Kör- per gleichermaßen ansprechen müsse. Wagners Konzeption besitzt eine gesellschaftlich-politische, eine anthropologische und eine ästheti- sche Dimension. Wie in der antiken Polis müsse das »Kunstwerk der Zukunft« kollektiv produziert wie rezipiert werden. Die griechische Tragödie versteht Wagner als Ausdruck des öffentlichen Bewusstseins der Gemeinschaft über sich selbst, aber auch als Ausdruck des vollkom- menen Menschen und der höchsten Entfaltung der Kunst. Erst wenn im öffentlichen Akt Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst zusammenwirk- ten und eine neue Synthese eingehen würden, so Wagner, könne es zur Vereinigung des Körpers mit dem Verstand und dem Gefühl kommen, wie er es sich für das »Drama der Zukunft«, vorstellte. Wagner pro- klamiert die Entdifferenzierung der einzelnen Künste zu Gunsten der Aufhebung der Autonomie und Selbstständigkeit von Ton-, Tanz-, und Dichtkunst48: »Nur aus gleichem, gemeinschaftlichem Drange aller drei

46 Vgl. Teloplasma. Cabaret für Höhenkunst (LAarch A. Pr. Br. Rep. 030-05/ 1489, Bl. 15). Alle weiteren Blattzitate und Abbildungen zu »Teloplasma« entstammen dieser Akte, die von der »Theaterpolizei« der preußischen Zen- surbehörden angelegt wurde. Die Akte befindet sich heute im Landesarchiv Berlin. 47 Vgl. Frank Trommler, Gesamtkunstwerksideen in Theater und Architek- tur um 1900. In: Hans Richard Brittnacher und Fabia Stoermer (Hgg.), Der schöne Schein der Kunst und seine Schatten. Bielefeld: Aisthesis 2000, S. 109-119. 48 Vgl. ausführlich zu Wagners Konzeption Erika Fischer-Lichte, Bayreuth: Das »Gesamtkunstwerk« – Ein Konzept für die Kunst der achtziger Jahre? In: Maria Moog-Grünewald und Christoph Rodiek (Hgg.), Dialog der Kün- 60 I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts

Kunstarten kann aber ihre Erlösung in das wahre Kunstwerk, somit die- ses Kunstwerk selbst ermöglicht werden.«49 Im Kreis um Walden findet sich ein erster Bezug zu Wagner auf dem Deckblatt des Programmheftes zum »II. Kunstabend«, welcher der »Erotischen Kunst« gewidmet war. Hier ist ein merkwürdiges architektonisches Ensemble abgebildet, das man als eine von abstrakten Naturformen umschlossene Kult- oder Wei- hestätte deuten kann. Diese wird rechts und links durch zwei kleinere obelsikenartige Stützen begrenzt. In der Mitte dieser freistehenden Mau- eranlage befindet sich ein großer vorgelagerter Steinpfeiler. DasAmortis - sement des Pfeilers bildet ein Kelch (Abb. 2). Diese Kelchsymbolik, wie sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts vor allem als Leitmotiv im »Parzi- fal« (1882) ausgeprägt war, dürfte auf den großen Einfluss von Wagner auf Waldens Denken und seine Aktivitäten als Komponist, Musiker und Theaterkritiker im Verein für Kunst verweisen, wobei eine Auseinander- setzung mit Wagners Gedanken in den folgenden Jahren vor allem auf dem Gebiet der Theaterarchitektur stattfand (siehe unten). Zum Programm von »Teloplasma«: Peter Sprengel erkennt hierin ein nicht von der Hand zu weisendes »Ideenchaos der keimenden Moderne«, in dem sich nietzscheanische Gedanken mit »volkspädagogischen, avant- gardistischen und hausbackenen Argumenten«50 verschränken. Es waren vor allem die Bild-, Ton- und Wortkunst, die Walden schon in jenen frü- hen Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer neuen »Höhenkunst« zusam- menführen wollte. Andeutungsweise wird in der Aufzählung der Künste aber auch schon die Architektur erwähnt: »Nur Kunst, echte Kunst wird geboten werden, unsere lebenden und toten, fertigen und werdenden Meister, sollen in Wort und Ton, im Bild und Stein bei uns verlautbar wer- den, und immer bleibt unser Ziel, unser Endziel: Höhenkunst.« (Bl. 13) Hier zeigt sich erstmals ein kunstüberschreitender Charakter, der sig- nifikant für alle weiteren institutionellen und publizistischen Aktivitäten Waldens steht. Die Ausrichtung des Vereins für Kunst und später des Sturm verweist bereits auf das Auftreten zahlreicher interdisziplinär arbei- tender Gruppierungen wie den Blauen Reiter, der Novembergruppe oder das Weimarer Bauhaus. Ohne auf den Inhalt der »Teloplasma«-Abende

ste. Intermediale Fallstudien zur Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Frankfurt/M. u. a: Lang 1989, S. 61-74. 49 Richard Wagner, Das Kunstwerk der Zukunft. In: Sämtliche Schriften und Dichtungen. 12 Bde. Volksausgabe. Bd. 3: Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig: Breitkopf u. Härtel 1911, S. 42-177, hier S. 122. 50 Sprengel, Institutionalisierung der Moderne, S. 154. I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts 61

Abb. 2 62 I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts detailliert eingehen zu wollen51, sind weitere Überlegungen aus dem bereits zitierten »Prospect Teloplasma ›Cabaret für Höhenkunst‹« auf- schlussreich für das kulturelle Verständnis der Gruppe um Walden in den Jahren 1900/01. In einer Mischung aus Pathos und Ironie heißt es:

O heiliger Goethe, wir im modernen Berlin, die wir Ueberbrettl gründen, lassen uns im Traum nicht einfallen, Dir nachzuahmen zu wollen, wir werden unglaublich froh sein, wenn wir auch nur einen bescheidenen Zipfel Deines Mantels zu erhaschen bekommen und schlicht und simpel aus Deinem Faust die unsterbliche Lehre heraus- lesen: Cabaret und Höhenkunst schliessen sich nicht aus. (Bl. 13)

Es soll, so wird einleitend mit Verweis auf das Vorspiel in Goethes Faust ausgeführt, ein »Stück in Stücken« gegeben:

Der Dramatiker kommt zu Wort nicht mit seinem Gesammt- werk: nur mit einigen Scenen, ebenso der Epiker, der Erzähler und Romanschriftsteller: nur das eine oder andere Kapitel; der drama- tische, der symphonische Tondichter mag zufrieden sein, wenn nur einige Sätze seiner Werke zum Austönen gelangen, denn auch der Lyriker begehrt das Wort, auch auf ausgestellte Werke der bilden- den Künste soll hingewiesen werden: alles an einem Abend, freilich auch alles fragmentarisch, alles Stückwerk, ganz gewiss. Dafür aber auch Abwechselung, Fülle, bunter Bildertanz, eben das Prinzip des Cabarets. (Bl. 14)

Ohne diese Ausführungen überzubewerten, bleibt festzuhalten, dass einerseits charakteristische Absichten manifest werden, die eine Tendenz zu Reduktion und Fragment und damit zur Auflösung geschlossener Werkformen erkennen lassen. Andererseits ging es Walden bei diesem »Stilprincip« darum, mittels Montage einzelner Fragmente ein synästhe- tisches Gesamtkunstwerk zu schaffen. »[G]emäss unserem grossen Vor- bild« – man kann ergänzen: Richard Wagner – gelte es »jeden Abend zu einem einheitlichen Kunstwerk zu gestalten, durch die Einheit der

51 Zum kulturellen Programm der »Teloplasma«-Abende vgl. ausführlich ebd. S. 152-154. Dazu auch Sigrid Bauschinger, »Ich bin Krieger mit dem Herzen, er mit dem Kopf«. Else Lasker-Schüler und Herwarth Walden. In: Gislinde Seybert (Hg.), Das literarische Paar. Intertextualität der Geschlechterdis- kurse. Bielefeld: Aisthesis 2003, S. 245-256, hier S. 247f. I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts 63 zu Grunde liegenden Idee und Stimmung« (Bl. 14). Da Waldens Regie vorsah, die einzelnen Szenen auf der Bühne regelrecht zu montieren, führte dies zu einer beschleunigten Darbietung. Der filmische Ablauf von »Teloplasma« blieb auch der zeitgenössischen Kritik nicht verborgen. So spricht ein Rezensent von einer unzumutbaren »kinematographischen Schnelligkeit«52, die den Abend ausgezeichnet habe. Andere Theaterkri- tiker, zum Beispiel Alfred Kerr, setzen sich ebenfalls kritisch mit Waldens Unternehmen auseinander, dessen »Positionszentralität« aber hervorge- hoben wird. Kerrs Artikel evoziert beim Leser zunächst den Eindruck, als habe der Rezensent einem entzückenden Abend beigewohnt, da er in eine Welt mit exotisch gekleideten Gästen, schummriger Atmosphäre und erotischer Literatur eingetaucht sei. Doch dann heißt es:

Leser, es war ganz anders. Der Saal schien unter der Leitung von Herwarth Waldl [sic] schlecht geheizt. Noch niemals an einem ero- tischen Abend war mir so kalt. Waldl, ein Mann in den Zwanzig, mit friedlicher Seminaristenmähne, spielte einen Sonatensatz von Schubert, hinderte dann ein Chopinsches Nachtstück an der Ent- wicklung des Liebesgehalts. Herr Molenar trug aus dem Heinrich von Ofterdingen des frühverstorbenen Novalis ein langes, etwas tumb-schlichtes Märchen vor. […] Rosa Sucher sang. Neben and- rem einen schelmischen Text von Schickaneder. […] Aber schon war das Unglück hereingebrochen. Die Stimmungslosigkeit im Saal hatte den Punkt erreicht, wo plötzlich ein leises Lachgebrüll aufschritt…53

Es ist zu erkennen, dass sich Walden von Beginn an nicht auf eine einzige Kunstsparte festlegte. Grund hierfür war zum einen die Bedeutung, die er im Zuge seiner Wagner- und Nietzsche-Rezeption einer gegenwartsbezo- genen und vielseitigen Künstlerpersönlichkeit zumaß, die den Gegenpol zum Durchschnittsbürger darstellen sollte. »Aber die unbedenkliche Mil- lion deckt ihren Abscheu vor der Wahrheit zu, indem sie den Modernen für verrückt erklärt. Sie alle glühen für die Kunst von vorgestern und halten den für wertvoll, der Anerkanntes und Bekanntes am deutlichsten

52 [wig] , Teloplasma, Kabaret für Höhenkunst. In: Welt am Sonntag, Nr. 39, 29. September 1901. 53 Alfred Kerr, Teloplasma. In: ders., Gesammelte Schriften. Die Welt im Drama. 4 Bde. Bd. 4: Eintagsfliegen oder die Macht der Kritik. Berlin: S. Fischer 1917, S. 346-349, hier S. 348f. 64 I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts gruppiert.«54 Ein weiterer Grund für die thematische Breite der schon frü- hesten Bemühungen, die Kunst der »Modernen« zu institutionalisieren, kann auch auf seine eigenen Mehrfachbegabungen zurückgeführt wer- den, die er im Laufe der Jahre entwickelte und ausbaute. Neben organi- satorischen Talenten, die er zweifelsohne besaß, trat Walden – den Döb- lin ganz im Sinne der Thurnschen Kategorie der »Positionszentralität« einen unermüdlichen »Antreiber, Propagator und Organisator«55 nennt – bis 1909/10 vor allem als Musiker, Komponist und Theaterkritiker in Erscheinung; späterhin als Galerist, Verleger und Lehrer an der Kunst- schule Der Sturm. Er schrieb im Laufe der Jahre auch Dramen, Gedichte, Reiseberichte, kulturkritische Feuilletons und verfasste eine große Anzahl theoretischer Artikel und Abhandlungen zu Literatur- und Kunsttheorie des Expressionismus. Walden hatte die »Präzeptorenrolle« bzw. die »Positionszentralität« sowohl bei »Teloplasma« als auch dem Verein für Kunst und dem Sturm vom Anfang bis zum Ende inne. Selbstbewusst kommuniziert und reprä- sentiert er diese Rolle auch nach außen, etwa gegenüber anderen Akteu- ren des damaligen Kulturbetriebes, wie dem ersten Geschäftsführer des Leipziger Insel-Verlags, Rudolf von Poellnitz. Walden forderte von Poell- nitz geradeheraus auf, die Prüfung und Annahme eines neuen Manu- skriptes zu besorgen, das er – Walden – schon für gut befunden hätte; es handelt sich hierbei um den später in einem anderen Verlag veröffentlich- ten Gedichtband Der siebente Tag (1905) von Lasker-Schüler, auf deren literarische Qualitäten – wie Walden gegenüber von Poellnitz anmerkt – bereits Samuel Lublinski in seinem Buch Die Bilanz der Moderne (1904) aufmerksam gemacht habe:

Meine Frau, Else Lasker-Schüler, dürfte Ihnen als Dichterin viel- leicht schon bekannt sein. Im Jahre 1902 erschien ihr erster Band Gedichte »Styx« im Verlag von Axel Juncker. Sie hat jetzt einen neuen Band fertig, der nach meiner Ansicht den anderen künst- lerisch noch weit überragt. Es sind keine erotischen Gedichte im üblichen Stil der Frauenlyrik, sondern durchaus eigenständige per- sönliche Gedichte, wie ich ganz objektiv sagen muss. S. Lublinski

54 Trust [Herwarth Walden], Glossen. In: Das Theater 1 (1909), H. 2, S. 42. 55 Alfred Döblin, Autobiographische Schriften und letzte Aufzeichnungen. In: ders., Ausgewählte Werke in Einzelbänden. Begr. v. Walter Muschg. In Verb. mit den Söhnen des Dichters hrsg. v. Anthony W. Riley. Hrsg. von Edgar Pässler. Olten: Walter 1980, S. 471. I Die Suche nach dem Stil des 20. Jahrhunderts 65

hat auch in seinem […] soeben erschienen Buch »Die Bilanz der Moderne« meine Frau sehr anerkennend besprochen.56

Nach dem gescheiterten Versuch von »Teloplasma« dauerte es nicht mehr lange, bis Walden mit seinem neuen Projekt, dem Verein für Kunst, wieder in die Öffentlichkeit trat.57 Um Walden herum etabliert sich, beginnend mit der Gründung von »Teloplasma« im Jahr 1901, nach und nach ein enger Zusammenhalt von Personen, die (4) eine regelrechte »Kerngruppe« bilden, um eine weitere Kategorie Thurns zu bemühen. Es sind immer wieder dieselben Namen, die in den kunst- und kulturpo- litischen wie publizistischen Unternehmungen Waldens in Erscheinung treten. Zu nennen wären neben Lublinski und Lasker-Schüler vor allem Rudolf Blümner, (Mynona), Alfred Döblin, Paul Scheerbart; nach der Gründung des Sturm kommen des Weiteren Lothar Schreyer, Adolf Behne und William Wauer hinzu. Sie alle kamen im ers- ten Dezennium des 20. Jahrhunderts neben anderen modernen Litera- ten, Komponisten, Architekten, Künstlern und Wissenschaftlern immer wieder im Verein für Kunst zu Wort, der zwischen 1904 und 1911 fast 100 Veranstaltungen durchführte.58

2.2 Verein für Kunst. Nietzsche-Kult

Die genannten Akteure der »Kerngruppe« bringen unter anderem die Fähigkeit zu programmatisch-theoretischen Ausführungen mit, die Thurn als weitere Voraussetzung nennt, um von einer Gruppe sprechen zu

56 Herwarth Walden an Rudolf von Poellnitz. Brief vom 6. Mai 1904 (KSW GSA 50/32). 57 Vorbild für die Gründung des Berliner Vereins für Kunst dürfte der Wiener Ansorge-Verein (1903-1910) gewesen sein, der sich Verein für Kunst und Kultur nannte. Die Profile des Berliner und Wiener Vereins, die Kombina- tion von Dichterlesungen, Musikdarbietungen, Theateraufführungen und ästhetischen Debatten, gleichen sich stark. Vgl. zum Wiener Verein für Kunst und Kultur auch Eike Rathgeber und Christian Heitler, Der Wiener Ansorge- Verein 1903-1910 (Verein für Kunst und Kultur). In: Heidemarie Uhl (Hg.), Kultur – Urbanität – Moderne. Differenzierung der Moderne in Zentraleur- opa um 1900. Wien: Passagen-Verl. 1999, S. 383-436 (Studien zur Moderne 4). 58 Vgl. Trust, Furchtbar dräut der Erbfeind. In: Der Sturm 2 (1911), H. 63, S. 500.