18 Sport Samstag, 17. April 2021

Eine, die sich einmischt Die Profi-Radrennfahrerin und Ärztin Marlen Reusser hat einen klaren Blick für die Missstände in ihrem Sport

SEBASTIAN BRÄUER lanciert wurde, deren Finanzierung noch unklar ist, hoffte sie auf öffentlichen Zu- Magersucht ist eines dieser Themen, spruch jener Männer, die in den sozia- die Marlen Reusser umtreiben. In der len Netzwerken ungleich präsenter sind. letzten Saison sorgte sie sich sehr um Passiert sei das bis heute nicht. «Das tut eine Teamkollegin. «So jemand dürfte mir etwas weh.» gar nicht an den Start gehen», sagt die Schweizer Radfahrerin. Wer zu wenig Kampf gegen Klischees auf die Waage bringe, riskiere nicht nur längerfristige Schäden wie Osteoporose. In der Szene dürfte noch nicht jedem Der Blutverlust nach einem Sturz könne bewusst sein, dass Reusser auf jedem tödlich sein. grossen Podium bestehen würde. Sie Reusser weiss, wovon sie spricht. war einst Präsidentin der Jungen Grü- In einem Alter, in dem das Leben der nen im Kanton Bern. Statt von den meisten Leistungssportler längst aus Mächtigen gehört zu werden, muss sie Trainings, Wettkämpfen, Essen und Er- laut eigener Aussage bis heute gegen holung besteht, schloss sie ihr Medizin- Klischees ankämpfen, gerade auch in studium ab. Erst 2019, mit 27 Jahren, der Schweiz. Frauen seien nicht für den kündigte sie ihre Stelle als chirurgische Radsport gemacht, heisse es zum Bei- Assistenzärztin, um Profi zu sein. spiel in aller Offenheit, er sei für sie zu Als Späteinsteigerin hat Reusser hart. Und noch schlimmer, angeblich aus einen offensichtlichen Nachteil: Sie dem Mund eines einflussreichen Funk- muss noch an ihren technischen Fähig- tionärs: Eine Frau sei entweder hübsch keiten feilen. An den WM 2020 in Imola und achte auf ihr Äusseres, dann könne war sie im Zeitfahren ebenbürtig mit sie aber kaum schnell Velo fahren. Oder der Siegerin Anna van der Breggen, so- sie sei erfolgreich, aber ein unansehn- lange es mehr oder weniger geradeaus liches Mannweib. ging, doch in den kurvenreichen Schluss- Reusser sagt: «Ich traue meinen passagen verlor sie die entscheidenden Ohren nicht, so etwas zu hören.» In ei- Sekunden. An der Flandernrundfahrt nigen Bereichen sei der Sport in Gleich- verpasste sie vor einigen Tagen den An- stellungsfragen so rückständig wie die schluss an die Spitze, weil sie vor der gesamte Gesellschaft vor 50 Jahren. Im Schlüsselstelle Oude Kwaremont zu weit Gleichstellungsfragen? Im Radsport sei die Rückständigkeit am extremsten, sagt Marlen Reusser. SIMON TANNER / NZZ Radsport sei es vielleicht am extrems- hinten im Feld platziert war. ten. «Mir fällt es schwer, überhaupt zu Reusser besitzt wegen ihres späten begreifen, wie das möglich ist.» Starts aber auch ein wertvolles Allein- Sie würde sich wünschen, dass der stellungsmerkmal. Sie wurde nicht im Reusser erhielt auf die Briefe laut Regierung und prominenten Funktio- Allerdings stürzen sie sich dann häu- Frauenradsport betrachtet würde wie Spitzensport sozialisiert, der Talente eigener Aussage bis heute keine Ant- nären führten dazu, dass die Bahn-Rad- fig in Debatten, in denen der Sport vor ein Startup-Unternehmen: In der Er- oft schon im Jugendalter vollständig wort. Zu den Missständen und Merk- Weltmeisterschaften im Oktober aus- allem um sich selbst kreist. In dieser Sai- wartung späterer Erträge sollten Inves- einzunehmen pflegt, sondern im «nor- würdigkeiten gehören eben auch Funk- gerechnet in jenem zentralasiatischen son wurden aus Sicherheitsgründen ge- toren Geld in die Hand nehmen, um An- malen Leben», wie sie selbst sagt. Da- tionäre, die entweder allzu bequem sind Land stattfinden sollen, in dem Men- wisse Sitzpositionen auf dem Velo ver- schubfinanzierungen zu leisten. Fern- durch besitzt sie ein besseres Gespür für oder schlicht beratungsresistent. Manch- schenrechte laut Berichten kaum etwas boten, so dürfen sich die Profis in Ab- sehsender sollten Männer- und Frauen- die Missstände und Merkwürdigkeiten mal fällt es der 29-Jährigen schwer, das gelten. «Man kann dem UCI-Präsi- fahrten nicht mehr auf die Rahmen- rennen übertragen, so Reusser, und fügt des Systems. Und sie würde diese nie- zu akzeptieren. «Es nervt», sagt sie denten David Lappartient beinahe ein stange kauern. Ausserdem wurde ihnen auch hier einen konkreten Vorschlag mals schweigend hinnehmen und den- immer wieder. Aber sich wieder aus mafiöses Vorgehen vorwerfen», meint untersagt, Fans während des Rennens an: Die beiden Veranstaltungen sollten ken: Ist halt so. Das widerspräche ihrem dem Spitzensport zu verabschieden, Reusser. Als ähnlich deplatziert emp- Bidons zuzuwerfen. Gegen beides regt parallel laufen, damit der Zuschauer Naturell. Reusser verfügt nicht nur über steht keinesfalls mehr zur Debatte. Dazu findet sie, dass die Bahn-Rad-Europa- sich energischer Protest. Manche Fahrer auf halbierten Bildschirmen zwei Ren- einen klaren Blick fürs grosse Ganze, liebt sie die Emotionen in den Rennen meisterschaften vorher in Weissruss- erwecken in diesen Tagen den Eindruck, nen gleichzeitig verfolgen könne. Werde sondern auch über die Bereitschaft, sich viel zu sehr, zumal sie Fähigkeiten mit- land geplant sind. «Ein absolutes No- sie hätten ausschliesslich mit dem Rad- in einem Rennen attackiert, sollte der einzumischen. bringt, die sie noch weit bringen können. Go», sagt sie. sport begonnen, weil sie als Kind einmal Sender auf dieses zoomen, dann wieder Dieses Jahr kann Reusser im Zeitfahren Die Strukturen der UCI seien ver- selbst ein Bidon auffingen. auf das andere. So würden ereignisarme «Mafiöses Vorgehen» an den Olympischen Spielen sowie an altet, so Reusser, es brauche Innovatio- Reusser sagt zu alldem: «Ich will Zwischenphasen überbrückt, ohne dass den WM mit realistischen Aussichten nen, vielleicht Wechsel auf Spitzenposi- meine Kollegen nicht nerven und schätze der Moderator die Kirchen am Stre- Wegen ihrer abgemagerten Teamkolle- um Gold kämpfen. Auf jemanden mit tionen. Sie steht voll hinter den Erwä- sie sehr. Und mir gefällt ihr Argument, ckenrand vorstellen muss. gin schickte Reusser Briefe an verschie- ihrem Potenzial hat der Schweizer Rad- gungen von Swiss Cycling, die umstritte- dass der Velosport auch von Momen- Zeitweise sagte Reusser zu Weg- dene Verantwortliche im Weltverband sport lange gewartet. nen Anlässe zu boykottieren. Und doch ten lebt, in denen ein Kind wegen eines begleitern, sie höre 2020 schon wieder UCI. Sie formulierte sogar einen kon- Ruhig wird es mit ihr jedoch nie sein. zweifelt sie generell, ob Boykotte der Bidons glänzende Augen bekommt.Aber auf. Davon ist heute keine Rede mehr. kreten Vorschlag:Wer eine Untergrenze Zuletzt wurde sie etwa ein halbes Jahr richtige Weg sind. Mit diesen würden gleichzeitig wünsche ich mir, dass wir uns Mittlerweile fürchtet sie eher, ihre beim Body-Mass-Index (BMI) unter- lang zu Hause nicht auf Doping kontrol- einzelne Athleten ihrer Chancen be- nicht in solchen Details verlieren.» Karriere könnte zu kurz geraten. Am schreite, solle zu Körperfettmessungen liert. Also schrieb sie eine E-Mail: Ob raubt, ohne dass sich vor Ort die Lage Viel lieber hätte sie, wenn männliche 20. September wird sie 30. Es ist der Tag verpflichtet werden. Lösten die Kontrol- man sie vergessen habe? verbessere. «Es liegt am Weltverband, Profis entschieden für die Anerkennung der Zeitfahren-WM, und der Wunsch, len Alarmsignale aus, müsse zum Schutz Über die Zustände bei der UCI kann doch noch einzulenken.» des Frauenradsports eintreten würden. sich selbst einen Titel zu schenken, treibt der Athletin oder des Athleten ein Start- sie sich wortreich entrüsten. Enge Ver- Manchmal erwacht das politische Als vor kurzem eine Kampagne zur Ein- sie an. Reusser ist eben mit Haut und verbot verhängt werden. bindungen zwischen Turkmenistans Denken auch bei anderen Radprofis. führung einer Tour de Suisse für Frauen Haaren Spitzensportlerin, trotz allem.

Wo gehöre ich hin? Die sucht nach ihrem Profil. Das zeigt sich auch im angekündigten Seitenwechsel der beiden kanadischen Topskorer im HC Ajoie

DANIEL GERMANN vergangenen zwanzig Jahren schonungs- lität der Liga ist überdurchschnittlich Antrag aus Basel. Dort leisten der Sport- loser erleben müssen, wohin überrissene gut. Man fühlt sich in ihr wohl. Doch wer chef Olivier Schäublin und der Trainer In oder Ajoie darf man damit Erwartungshaltung und unrealistisches kann, den zieht es trotzdem weg. Das gilt Christian Weber Aufbauarbeit mit dem beginnen, eine Aufstiegsparty zu pla- Geschäftsgebaren führen. Fünf Besitzer für die Spieler ebenso wie für die Klubs. klaren Ziel, möglichst schnell ins pro- nen: Weil in diesem Jahr die Ligaquali- lösten sich am Schluefweg ab; zweimal Wie die Swiss League in zwei, drei fessionelle Eishockey zurückzukehren. fikation wegfällt, wird der Sieger der stand der Klub vor dem Aus. Jahren aussehen wird, steht in den Ster- Entsprechend enttäuscht und wütend ist am Sonntag beginnenden Finalserie in Der Präsident Mike Schälchli sagt nen. In der nächsten Saison wird sie noch man über die abschlägige Antwort, die

der nächsten Saison als 13. Team in der heute: «Wir wollen zurück in die Natio- PD aus elf Teams bestehen.Weil es im kom- dem Klub in einer nüchternen E-Mail

DER kommuniziert wurde. National League spielen. Die Lizenz- nal League. Wir sind das unseren An- BIL menden Frühjahr erneut keinen Abstei- kommission hat die Dossiers der bei- hängern und den Sponsoren schuldig. Jonathan Hazen Philip-M. Devos ger aus der National League geben wird Das Problem mit den Reglemen- den Klubs geprüft und für gut befunden. Doch sollten wir tatsächlich aufsteigen, Goalgetter Goalgetter und die EVZ Academy sich zurückzieht, ten ist hausgemacht. Die Pandemie be- Doch ist es für die beiden Finalis- dann liegt unsere Zukunft irgendwo in HC Ajoie HC Ajoie wird sie weiter schrumpfen. Sollten auch einträchtigte die Meisterschaften nicht ten tatsächlich erstrebenswert, aufzu- der Region zwischen den Plätzen 9 und noch die Ticino Rockets aufgeben, dann überraschend in diesen Winter hinein. steigen? Der EHC Kloten war während 13.» Es ist eine Absage an übertriebene halb haben die Kanadier Philip-Michaël bleiben noch acht Teams übrig. Trotzdem dachte niemand über Szena- Jahrzehnten ein Pfeiler im Schweizer Erwartungen. Devos und Jonathan Hazen im Herbst Der EHC Basel, der EHC Arosa und rien nach, wie ein allfälliges Loch in der Spitzen-Eishockey. In den 1990er Jah- Wenn sich Kloten die Frage nach dem beim EHC Kloten Verträge unterschrie- der HC Valais Chablais aus der My- Swiss League gestopft werden könnte. ren reihte er vier Titel aneinander. Und richtigen Platz gestellt hat, dann müsste ben, die nur im Fall eines Aufstiegs gül- Sports League haben Gesuche gestellt, Basel ist weiterhin bereit zum Auf- doch erlaubte sich der Verwaltungsrat sie sich der HC Ajoie umso mehr stel- tig werden. Das mag unschön sein, weil um ohne sportliche Legitimation sofort steigen. Schäublin sagt: «Bis Mitte Juni im Herbst hinter geschlossenen Türen len. Zweimal sind die Jurassier kurz in nun ausgerechnet Kloten und Ajoie aufzusteigen. Das zuständige Nach- können wir noch reagieren. Die entspre- die Frage: Gehören wir wirklich noch die National League aufgestiegen, beide im Final aufeinandertreffen. Doch es wuchs- und Amateursport-Komitee chenden Budgets sind erstellt. Für eine in die immer kostspieliger werdende Male nahm das Abenteuer weder sport- ist eine Realität, die im Schweizer Eis- lehnte diese ab. Patrick Bloch, der CEO Swiss-League-Mannschaft fehlen uns im National League, oder leben wir nicht lich noch wirtschaftlich einen guten Aus- hockey immer wieder vorkommt. von Swiss , sagt: «Hätten wir Prinzip nur zwei Ausländer.» Die Gross- besser da, wo wir jetzt sind? gang. Die wirtschaftlichen Perspektiven Dass Devos und Hazen gleichzeitig den Anträgen stattgegeben, hätten wir stadt wäre in der Liga herzlich willkom- Hätte die Klotener Führung sich diese sind heute im Jura-Zipfel nicht besser, auch ihre Verträge beim HC Ajoie ver- ein Präjudiz geschaffen. Das wollten wir men. Sie würde helfen, das ambitionierte Frage nicht gestellt, wäre sie ihrer Sorg- die Infrastruktur genügt auch nach der längerten und sie mit einer Ausstiegs- nicht. Wir sind an unsere Statuten und Projekt der Selbstvermarktung voranzu- faltspflicht nicht nachgekommen. Und Sanierung der Eishalle nicht National- klausel für die National League ver- Reglemente gebunden.» treiben. Doch die Bürokratie des Ver- doch stösst der Verwaltungsrat mit ihr bei League-Ansprüchen. sahen, ist Teil des Geschäfts. Die Ab- Doch Arosa und Valais Chablais be- bandes blockiert den Basler Aufstieg. einem Teil des Anhangs auf Unverständ- Im Prinzip ist der HC Ajoie dort, wo sicherung steht sinnbildlich für die Swiss warben sich mehr der Form halber. Auch deshalb will weg aus der Swiss nis. Dabei hat kein anderer Klub in den er heute ist, genau richtig. Auch des- League und ihren Stellenwert: Die Qua- Wirklich ernst zu nehmen war nur der League, wem diese Chance winkt.